eBooks

Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache

Textproduktion und Diskurspraktiken

1027
2025
978-3-3811-0942-5
978-3-3811-0941-8
Gunter Narr Verlag 
Kirsten Schindler
Alexandra Lavinia Zepter
10.24053/9783381109425

Aufgrund ihrer Relevanz in allen schulischen und weiterführenden Bildungskontexten werden Bildungs- und Fachsprache inzwischen umfänglich theoretisch und empirisch beforscht. Unterbelichtet bleibt dabei die potenzielle Bedeutung von Kreativität im (bildungs-/fach-)sprachlichen Gebrauch und in den damit in Zusammenhang stehenden Lernprozessen. Fragen der Relevanz und Bedeutsamkeit stellen sich insbesondere dann, wenn man lernzielperspektivisch den Anspruch eines exiblen und dierenzierten Zugris auf Sprachhandlungen und Textprozeduren zu allgemeinen Faktoren von Kreativität in Bezug setzt. Der interdisziplinäre Sammelband diskutiert Fragen zur Rolle von Kreativität in Bildungs- und Fachsprache bzw. in Textproduktion und Diskurspraktiken aus unterschiedlichen theoretischen und empirischen Perspektiven der Psycholinguistik, Gesprächslinguistik, Textlinguistik und Sprachdidaktik.

9783381109425/9783381109425.pdf
<?page no="0"?> TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache Textproduktion und Diskurspraktiken Kirsten Schindler / Alexandra Lavinia Zepter (Hrsg.) <?page no="1"?> Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 592 <?page no="3"?> Kirsten Schindler / Alexandra Lavinia Zepter (Hrsg.) Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache Textproduktion und Diskurspraktiken <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381109425 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Lektorat: Kay Busch Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-381-10941-8 (Print) ISBN 978-3-381-10942-5 (ePDF) ISBN 978-3-381-10943-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 37 77 105 129 157 181 209 245 Inhalt Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokus Diskurspraktiken Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing Kreative Gesten: Lösungen für lexikalische Probleme bei vier- und fünfjährigen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Belke & Friederike von Lehmden Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen: Lern- und Abstraktionsprozesse in Spracherwerb und Sprachvermittlung aus gebrauchsbasierter Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Morek & Vivien Heller Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität. Beobachtungen zum Wiederverwerten von Vertextungs- und Markierungsressourcen beim Erklären im Unterrichtsgespräch . . . . . . . . . . Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter Performative Inklusionsdidaktik. Lernpotenziale ausschöpfen im Zusammenspiel von Steuerung, Kreativität und körperlicher Involvierung Benjamin Siegmund Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung: Ein kreativer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokus Textprozeduren und Schreibprozesse Nadja Sennewald Der Schreibprozess als kreativer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sara Hauser Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren . . <?page no="6"?> 273 291 Sara Rezat & Rabia Karabey Musterhaftigkeit und Formen sprachlicher Kreativität im Kontext der Annotation argumentativer Lerner: innentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarah Brommer Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Einführung Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler 1 Musterorientierung in der Bildungssprache - Text und Diskurs Aufgrund ihrer Relevanz in allen schulischen und weiterführenden Bildungs‐ kontexten werden Bildungs- und Fachsprache umfänglich theoretisch und empirisch beforscht. Gebrauchsbezogen stehen Diskurspraktiken und Textpro‐ zeduren, die auch, aber nicht vollständig auf verschiedene Modalitäten der Sprache referieren, im Zentrum der Betrachtung. Unter bildungssprachlichen Diskurspraktiken sind mit Morek und Heller (2019: 1) „gesellschaftlich verfestigte, sprachlich-kommunikative Verfahren zu verstehen, die der Lösung wiederkehrender Probleme der Wissenskonstruk‐ tion, -absicherung und -vermittlung dienen“. Morek und Heller gehen bei ihrer Definition von medialer Mündlichkeit aus, beziehen bildungssprachliche Diskurspraktiken aber nicht ausschließlich darauf. Für Produzent: innen und Rezipient: innen stellen sich drei grundlegende Herausforderungen, die als Anforderungen an gelingende Praxis formuliert werden. So gilt es (i) im Rahmen der Kontextualisierung zu erkennen, was für eine Praktik in einem spezifischen Aufgaben- oder Gesprächskontext gefordert ist. Die Herausforde‐ rung der Vertextung betrifft (ii) den Anspruch, fachliche Sachverhalte und Zusammenhänge kohärent und der jeweiligen Praktik gemäß darzustellen und zu verknüpfen. Und nicht zuletzt macht ein angemessener Gebrauch (iii) Markierung erforderlich, d.h. eine adäquate Wahl spezifischer sprachlicher und kommunikationsbezogener Formen (z.B. Lexik, Syntax, Gestik, Prosodie), über die die jeweilige Praktik realisiert und in ihrer Funktion und Struktur für die Rezipient: innen erkennbar gemacht wird. Bezogen auf schriftliche, bildungssprachliche Kontexte haben vor allem die Arbeiten von Feilke (u.a. 2012) und weiteren Kolleg: innen herausgestellt, dass in Kontexten bildungs- und fachsprachlicher Erkenntniskommunikation gehäuft spezielle Texthandlungstypen auftreten, für deren Gestaltung wiederum ne‐ ben einem gegenstandsbezogenen Fachwortschatz insbesondere je spezifische <?page no="8"?> 1 Die umfangreiche Diskussion um die gegenseitige Abgrenzung von Bildungs- und Fachsprache soll an dieser Stelle nicht geführt, sondern stattdessen auf die Arbeiten von Feilke (u.a. 2012) sowie Feilke und Rezat (2019) verwiesen werden. Grundlegend er‐ scheint uns, dass Bildungssprache immer auf Lernen in Bildungsinstitutionen bezogen, eng mit konzeptioneller Schriftlichkeit verknüpft und an der Umsetzung auf schulische Operatoren erkennbar ist, während Fachsprache stärker auf einzelne Fachdomänen referiert und vornehmlich lexikalische und syntaktische Strukturen meint. kommunikativ-sprachliche Handlungskomponenten und wiederkehrende For‐ mulierungen typisch sind - den jeweiligen Texttyp charakterisierende Textpro‐ zeduren. 1 Vor diesem Hintergrund lassen sich bildungssprachliche Kompetenzen auch über den flexiblen und differenzierten Zugriff auf entsprechende Praktiken bzw. Texthandlungen bemessen. Didaktisch gewendet kann dies dazu führen, in der Unterstützung bildungssprachlicher Lernprozesse, z.B. beim Schreiben von Fachtexten, das Ziel einer Routinisierung von texttypadäquater Textproze‐ durenanwendung zu fokussieren und Musterorientierung als den vorrangigen Schlüssel für Kompetenzerwerb zu erfassen. Der Musterbegriff, Musterbildung und Musterorientierung sind ebenso wie Routinisierung im deutschdidakti‐ schen Fachdiskurs um bildungs- und fachsprachliche Textprozeduren und Diskurspraktiken heute gängige Konzepte, die in der theoretischen und empiri‐ schen Beforschung im Kontext vielfältiger Themenfacetten und Fragestellungen aufgegriffen und modelliert werden. Unterbelichtet bleibt bei derartigen Perspektiven und Fokussierungen die potenzielle Relevanz von Kreativität im sprachlichen Gebrauch. So ließe sich konterkarierend zum Desiderat einer Musterorientierung z.B. prinzipiell auch fragen, inwiefern kompetente Sprecher: innen und Schreiber: innen - wenn sie denn differenziert und vor allem auch flüssig und flexibel auf entsprechende bildungssprachlich/ fachsprachlich typische Sprachhandlungen zugreifen kön‐ nen - dafür ebenso Kreativität einsetzen und entfalten. Könnte in diesem Sinne neben Routinisierung nicht ebenso (sprachliche) Kreativität für bildungssprach‐ liche fachbezogene Schreibprozesse und Diskurspraktiken konstitutiv sein? Und ist es vor dem Hintergrund des hohen Stellenwerts, welcher Kreativität in der Regel zugemessen wird (siehe Abschnitt 2), nicht auch gerechtfertigt zu fragen, ob und, wenn ja, in welcher Form Kreativität für den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen in unterschiedlichen Altersstufen und/ oder bei unterschiedlichen Lernenden eine relevante Ressource darstellen kann und also in didaktischen Settings berücksichtigt werden sollte? 8 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="9"?> 2 Sie fand im Rahmen der 45. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwis‐ senschaft (DGfS) im März 2023 unter dem Tagungsmotto „Sprachliche Kreativität und Routine“ statt. 3 Neben Persönlichkeit wird auch von Person gesprochen, neben kreativem Umfeld auch die kreative Situation fokussiert. Derartige Fragen haben uns zur Idee einer Tagungssektion 2 und darauf aufbauend dieses Bandes geführt. In seinem Fokus steht das Interesse an dem Verhältnis von Musterorientierung einerseits und Kreativität andererseits in bildungs- und fachsprachlichen Textprozeduren und Diskurspraktiken. Das Vorhaben ist ambitioniert, die Überlegungen, die wir aufeinander bezie‐ hen wollen, sind ausdifferenziert und schwer zu überblicken. Um eine erste Brücke zu schlagen, thematisieren wir im Folgenden prominente Perspektiven des Kreativitätsdiskurses und suchen nach möglichen Anknüpfungspunkten für die In-Bezug-Setzung von Kreativität und Bildungs- und Fachsprache. 2 Kreativität und (Bildungs-/ Fach-)Sprache Was genau unter Kreativität zu verstehen ist, wird bis heute kontrovers diskutiert (vgl. u.a. Lowenfeld und Brittain 1975: 61-82; Ränsch-Trill 1999; Feist et al. 2018: 1). Spiel (2003: 118) streicht im Rahmen der Frage, wie Kreativität in Wissenschaft oder Kunst zu erkennen ist, heraus, dass für die Schwierigkeit einer begrifflich trennscharfen Bestimmung und Modellierung sowohl theoretische als auch empirische Aspekte verantwortlich sind. Mit Blick auf die verschiedenen, in unterschiedlichen Fachdisziplinen vorgeschlagenen Definitionen verweist sie (ebd.) u.a. auf Taylor (1988), der ungefähr sechzig an der Zahl zusammengetragen hat; Morgan (1953) findet bei seinen Recherchen zur Definitionsspannweite ‚Neuheit‘ (novelty) (oft synonym mit ‚originell‘ verwendet) als einziges gemeinsames Kriterium. Zwar betont Groeben (2013: 13) aus psychologischer Perspektive, dass die grundlegende Struktur dieser Fähigkeit [Kreativität] weitgehend als aufgeklärt gelten [kann], wobei in der Regel vier zentrale Analysebereiche angesetzt werden: Produkt, Prozess, Persönlichkeit und Umwelt. Die vier Zugänge, die auf Mooneys (1963) zurückgehen, kategorisieren, auf welche Träger sich Kreativität bzw. ‚kreativ‘ als Eigenschaft verstanden prinzi‐ piell beziehen lässt (vgl. Spiel 2003: 119; Brodbeck 2006: § 2.1, nach Taylor 1988: 101). 3 Ob wir nun aber kreative Produkte, kreative Prozesse, kreative Personen oder kreative Umfelder/ Situationen modellieren und analysieren - auf der empiri‐ Einführung 9 <?page no="10"?> schen Ebene macht dies je andere, jedoch stets komplexe methodische Zugriffe erforderlich (vgl. Spiel 2003: 119). Und auch wenn die vier Verortungsmöglich‐ keiten helfen, grundlegende Unterscheidungen einzubeziehen und Kreativität zu differenzieren, sind sie theoretisch nicht folgenlos und vereinfachen das Verstehen und die Identifikation von Kreativität nicht. Im Folgenden gehen wir auf alle vier Zugänge ein und stellen ausgewählte theoretische Ansätze und empirische Erkenntnisse dazu vor. Bei jedem Zugriff zeigen wir jeweils anschließend exemplarisch mögliche Bezüge zu Sprache bzw. bildungs-/ fachsprachlichen Textproduktionen und Diskurspraktiken auf. Finales Ziel ist ein Systematisierungsvorschlag, der potenzielle Referenzpunkte für die Beiträge des Sammelbands bereitstellt. Grundsätzlich ist im Hintergrund zu beachten, dass die vier Zugänge in der Regel ineinandergreifen, insofern kreative bzw. kreativ agierende Personen ihre Kreativität im Zuge kreativer Prozesse und in kreativen Situationen (oder in einem kreativen Umfeld) zur Anwendung bringen und aus diesen Prozessen kreative Produkte resultieren. Dies hat zur Folge, dass die theoretische und/ oder empirische Erschließung eines Zugangs ggf. die anderen Zugänge mit aufruft. Die unterschiedlichen Definitionen von Kreativität sind daher oft auch nicht begrifflich trennscharf, selbst wenn sie einen Zugang fokussieren. Man vergleiche dazu z.B. die Definition von Plucker et al. (2004: 90): [Creativity is] the interaction among aptitude, process and environment by which an individual or group produces a perceptible product that is both novel and useful as defined within a social context. Inzwischen hat die Kreativitätsforschung auch integrative Modellierungen vorgelegt, so etwa Komponentenmodelle, die Ergebnisse aus verschiedenen Ansätzen und Studien als Komponenten miteinander verbinden (für eine Über‐ sicht und Einführung siehe Spiel 2003: 127-140). 2.1 Was zeichnet (sprachlich) kreative Personen aus? Zentraler Referenzanker für die Kreativitätsforschung sind bis heute die Arbei‐ ten von Guilford und ihm Folgenden, die in den 1950er-Jahren entstanden sind. Der ‚Sputnik-Schock‘ löste insbesondere in den USA einen Forschungsboom aus, welcher hauptsächlich darauf abzielte, „Verfahren zur zuverlässigen und validen Erfassung von Kreativität zu entwickeln“ (Spiel 2003: 118) - letztendlich um Kreativität direkter und verlässlicher für wirtschaftlichen Fortschritt nutz‐ bar zu machen. Die Kategorisierung von Kreativität als Charakteristikum der Person stand hier im Vordergrund. 10 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="11"?> 4 Wir lassen hier außen vor, dass auch die Messung des IQ-Werts als solche hochumstrit‐ ten ist; zur weiteren kritischen Reflexion von Kreativitätstests s. Abschnitt 2.2. Dabei stellte Guilford heraus, dass sich Kreativität nicht allein auf Intelligenz reduzieren lässt, wenn auch (unverstandene) positive Korrelationen unbestrit‐ ten sein mögen (Guilford 1950: 446, 454). Im Übrigen gibt es nach Guilford ‚die Kreativität‘ als isoliertes (kognitives) Vermögen offenbar nicht: Vielmehr scheint Kreativität stets die gesamte Persönlichkeit bzw. Person, einschließlich deren Intelligenz, zu ergreifen (ebd.: 447). Bestenfalls mag kreatives Denken als eine Integration heterogener kognitiver Prozesse auf eine Vielzahl von Fähigkeiten bzw. auf eine Vielzahl von ‚Faktoren‘ für Kreativität zurückverweisen. So verfügen kreative Personen nach Guilford (ebd.: 451f.) u.a. über: 1. Problemsensitivität, sodass bestehende Probleme tatsächlich in erster In‐ stanz als solche erkannt werden; 2. das Vermögen, neuartige und ungewöhnliche (novel) Ideen hervorzubrin‐ gen; 3. Flüssigkeit, dergestalt, dass in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Vielzahl neuer Ideen oder Lösungen entwickelt werden; 4. eine Spannweite für Komplexität, um einen Bezug zwischen verschiede‐ nen, miteinander verbundenen Ideen herzustellen oder zu halten; 5. Flexibilität als die Bereitschaft, neue Wege einzuschlagen, bekannte Wege variierend abzuwandeln sowie alternative, unbekannte Ansätze zu erpro‐ ben, statt stets auf das Gewohnte zu vertrauen; und 6. die Fähigkeit zur Bewertung von Ideen und Produkten. Selbst wenn man als ein spezifisches Charakteristikum kreativer Leistungen zum Beispiel die Originalität fokussiert (Kleinert und Erkens 1999: 114f.), so ergeben sich unweigerlich faktorielle Bezüge, entsteht doch Originales gerade auch im Zuge von z.B. Flexibilität und Ideenfluss. Groeben (2013: 147-151) expliziert überdies, dass für die Kreativität einer Person weniger die Höhe ihres Intelligenzniveaus ausschlaggebend zu sein scheint als vielmehr die konstruk‐ tive Integration verschiedener Denkformen. Zwar sind - bei aller Schwierigkeit, Kreativität überhaupt zu messen - bis zu einem gewissen Grad (ungefähr bis zu einem IQ-Wert von 120) positive Korrelationen zwischen Kreativität und Intelligenzniveau zu beobachten. Aber bei Personen mit noch höherem IQ lassen sich diese nicht mehr belegen. 4 Zurückgehend auf Guilford wird oft zwischen konvergentem und divergen‐ tem Denken unterschieden und Ersteres vorrangig als ein Indiz für Intelligenz ausgemacht, Letzteres dagegen mit kreativem Denken gleichgesetzt (Spiel 2003: Einführung 11 <?page no="12"?> 119f.). Während gängige IQ-Tests hauptsächlich bestimmen, ob zu einem klar definierten (geschlossenen) Problem die genau eine mögliche Lösung mittels konvergenten (oder logischen) Denkens gefunden wird, kann divergentes Denken offene Problemstellungen, zu denen es keine einzelne Lösung gibt, adressieren, indem eher unsystematisch und spielerisch multiple Lösungsmöglichkeiten er‐ probt und gefunden werden. Groeben (2013: 148) betont nun, dass kreative Personen nicht ausschließlich einen divergenten Denkstil anwenden, sondern sich wahrscheinlich eher dadurch auszeichnen, dass sie gegensätzliche Verarbeitungs‐ weisen, so etwa divergentes und konvergentes Denken, konstruktiv miteinander verbinden. Er benennt darüber hinaus weitere „paradoxal verbundene kognitive Gegensätze“ (ebd.: 149), die kreative Persönlichkeiten charakterisieren, so u.a. „schwebende Aufmerksamkeit“ (Aufmerksamkeit ohne starke Fokussierung), „naive Nachdenklichkeit“ (Verknüpfung von kindlichem Staunen mit reflektierter Wahrnehmung) oder „realistische Phantasie“ (vitale Fantasie, die sich nicht vollständig von der Verbindung zur Realität löst; ebd.: 150). Kommen wir noch einmal zurück zu Guilfords Beobachtung, dass Kreativität auf die Person als Ganzes zu beziehen ist. Impliziert wird hier eine weitere Perspektive, die später ebenfalls von anderen aufgegriffen und weiter ausge‐ führt wird: Kreativität involviert mehr als allein die Kognition einer Person. D.h., in kreativen Prozessen sind im Erleben der Person, die kreativ agiert, neben oder verknüpft mit (kognitiven) Denkprozessen auch weitere (nicht oder nur teilweise kognitive) Prozesse wesentlich: Dies können z.B. emotionale Prozesse sein, Prozesse der Neugier, des Interesses, der Wahrnehmung oder der Achtsamkeit. Auch Groeben (2013) beleuchtet in seiner Abhandlung zur Kreativität systematisch die drei Ebenen des Denkens, Fühlens und Handelns. Eine mögliche Bezugstheorie zu dieser ganzheitlichen Sicht auf Kreativität und ihre komplexe Mehrdimensionalität bieten Embodiment-Theorien (vgl. für einen Überblick Zepter 2013; Bryant und Zepter 2022). Sehr knapp skizziert ist deren Kernauffassung, dass menschliche Kognition unaufhebbar körperlich verankert ist. Das bedeutet, menschliche Kognition wird nicht nur als notwendig in ein Gehirn eingebettet erfasst, sondern dieses Gehirn wiederum notwendig eingebettet in einen Körper - mit dessen Dimensionen Wahrnehmen/ Perzep‐ tion, Fühlen/ Emotionen und Bewegung/ Motorik - modelliert. Als wesentlich für die Entwicklung und Realisierung humaner Kognition wird eine beidseitige Wechselwirkung mit dem Körper angenommen: Kognitive Prozesse beeinflus‐ sen nicht nur körperliche, sondern umgekehrt körperliche auch kognitive (vgl. für eine Einführung Bryant und Zepter 2022: Kap. 2). Ansätze, die Embodiment zu Kreativität im Zusammenspiel mit Lernen in Bezug setzen, finden sich z.B. bei Neuber (2000), der im Rahmen einer entwick‐ 12 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="13"?> lungspsychologischen Perspektive herausstellt, dass sich der von Guilford be‐ nannte Faktor der Flüssigkeit zuallererst auf motorischer Ebene herauszubilden scheint. Wenn sich der Säugling noch hauptsächlich spontan und ungelenk bewegt, so zeichnen sich seine Bewegungen doch durch ein hohes Maß an Flüssigkeit aus, sodass in relativ kurzer Zeit eine Vielzahl von ‚Bewegungslösun‐ gen‘ für ‚Bewegungsprobleme‘ gefunden werden. Diese Flüssigkeit, so Neuber, macht ein wichtiges Kriterium für die weiteren Lernfortschritte aus (ebd.: 36). Neubers Beobachtung passt zu der These, dass Bewegung und Wahrnehmung, Kognition und Handeln insbesondere beim Neugeborenen eine Einheit bilden, da der Säugling seine Umgebung über seine eigenen Körperbewegungen wahr‐ nimmt und sich kognitive und soziale Fähigkeiten in wechselseitiger Verkettung mit motorischen Fertigkeiten entwickeln (vgl. Gibson 1988; Hannaford 2008: 19f.). Gröschner und Sandbothe (2010), die generell für eine ‚körperphilosophi‐ sche‘ Ausrichtung des Kreativitätsbegriffs argumentieren, verweisen in diesem Rahmen auch auf William James und John Dewey als zwei philosophische Pioniere körperbasierten Lernens, die grundlegend „körperliche Lernprozesse als Ausgangspunkte eines kreativen Selbst- und Welterlebens“ erfassten (ebd.: 8). Mit Blick auf den Grad der (kognitiven) Bewusstheit, die eine Person über ihr eigenes kreatives Handeln hat, ist nicht zuletzt hervorzuheben, dass sich kreative Handlungen weder auf ein vorausgehendes oder begleitendes kreatives Denken noch auf bewusst ablaufende kognitive Prozesse reduzieren lassen. Nach Roth (1999: 42f.) gilt stattdessen, dass kreative Leistungen vorzugsweise aus unbewusst ablaufenden Entscheidungs- und Steuerungsvorgängen resultieren und anzunehmen ist, dass sich Kreativität in einer Balance von Kognition und Emotion ereignet bzw. dass „bei kreativen Menschen das cortical-rationale System und das emotional-limbische System stärker miteinander interagieren als bei anderen“ (ebd.: 43). So kontrolliert z.B. das limbische System die Ausschüttung von Neuromodulatoren, d.h. von Stoffen, die die Assoziativität steigern und hemmen können. Auch Damasio (1997: 256-260) hebt darauf ab, dass der kreative Akt des ‚Erfindens‘ unbewusste Akte des ‚Wählens‘ involviert, welche wiederum über positive oder negative Gefühle (für oder wider eine Annäherung) bedingt und über körpergestützte Signale vermittelt werden. Die Ausführungen zur Kreativität als Eigenschaft von Personen machen deutlich, wie eng die Analyse mit dem Prozesszugang verknüpft ist. Der unauf‐ lösbare Zusammenhang, dass die Kreativität einer Person sich erst da (empirisch beobachtbar) zeigt, wo sie kreative Prozesse realisiert, ein bestimmtes kreatives Verhalten an den Tag legt und/ oder bestimmte kreative Produkte hervorbringt, rechtfertigt auch die Frage, ob eine Person stets generell kreativ ist oder ob die Kreativität einer Person auch domänenspezifisch gebunden sein kann. Einführung 13 <?page no="14"?> Offenkundig ist, dass sich Kreativität über verschiedene Personen hinweg in sehr unterschiedlichen Domänen manifestieren kann. Der Schluss ist zwingend, selbst wenn man ‚nur‘ alle verschiedenen Kunstgattungen oder wissenschaftli‐ chen Disziplinen in Erwägung zieht, die die Kreativitätsforschung in der Regel bei einem Fokus auf herausragende Kreativitätsgrade thematisiert. Setzen wir unser Kreativitätsverständnis darüber hinaus weit an, dann können Menschen ebenso in jeglichen anderen Berufen und in ihrem Alltag, in Politik und Wirt‐ schaft, bei ihrer Kleiderwahl, ihrer Wohngestaltung, beim Kochen, im Sport und im Spiel usw. kreativ sein bzw. handeln (vgl. auch Ränsch-Trill 1999: 6f., 12). In ein solches Spektrum aller Lebensbereiche und aller Bereiche, in denen es auf die eine oder andere Weise Probleme zu lösen gilt, fallen dann natürlich auch erstens alle Bereiche menschlicher Kommunikation bzw. sprachlicher Performanz - und auch dies nicht nur in literar-ästhetischen Formen und Diskursen. Zweitens dürfte Kreativität auch in allen Bereichen des Lernens inklusive des sprachlichen Lernens/ des Spracherwerbs möglich sein. Die Frage, wie weitgreifend der Kreativitätsbegriff domänenspezifisch anzu‐ wenden ist, ist davon abhängig, welche Grade von Kreativität unterhalb der höchsten Formen (wie etwa Höhenkammliteratur, Meisterwerke in Bildender Kunst oder Musik etc.) wir in die wissenschaftliche Betrachtung mit einbezie‐ hen. Wesentlich und noch vorgelagert ist dann die Beantwortung der Frage, wie das Kreative überhaupt an sich zu bewerten, d.h., wie es als etwas Kreatives (Hochkreatives, Minimalkreatives etc.) zu identifizieren und zu bemessen oder einzuschätzen ist (siehe dazu Abschnitt 2.3). Erhellend sind in diesem Diskurs u.a. erneut die Überlegungen von Groeben (2013). Zwar konzentrierte sich die frühe Kreativitätsforschung nach Guilford zunächst auf Kreativität in Form herausragender Leistung (Spiel 2003: 120) und gerade nicht auf Formen von „Alltagskreativität“ (ebd.: 125). Dennoch argumentiert Groeben (2013: 18), dass die wissenschaftliche Einführung und Verhandlung des Kreativitätskonzepts an sich gerade mit einer „Demokratisie‐ rung des ‚Schöpferischen‘“ (ebd.; Kursivsetzung im Original) einhergeht, insofern die Idee von Genialität, die göttlicher Schöpferkraft gleichkommen soll, durch die Idee einer Fähigkeit ersetzt wird, welche im Prinzip allen Menschen zukom‐ men kann. Dies erzeugt angesichts der menschlichen Heterogenität gleichwohl potenzielle Widersprüche - wenn wir nicht zumindest auch Varianz hinsichtlich der Ausprägung, des möglichen Domänenspektrums und/ oder des möglichen Ausmaßes von Kreativität zugestehen. Anders ausgedrückt: Ist die Menschheit 14 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="15"?> 5 Dass die Kreativitätsforschung nicht frei von potenziellen Fallstricken ist, zeigt auch die zweite Beobachtung, die Groeben in seiner wissenschaftstheoretischen Konzeptbe‐ trachtung dem Demokratisierungsaspekt an die Seite stellt. So weist er darauf hin, dass Kreativität grundsätzlich „als eine positive Kompetenz verstanden und bewertet wird“ (Groeben 2013: 18f.). Für die wissenschaftliche Erschließung des Konzepts ist dieser Umstand nicht unproblematisch, wenn sie vorrangig deskriptiv und nicht (vor-)bewertend voranschreiten möchte. grundsätzlich kreativ und grundsätzlich heterogen, liegt es nahe, dass Menschen auch verschieden kreativ sind oder sein können. 5 Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die sprachliche Kreativität einer Person benennen und beforschen? Auch hier lässt sich prinzipiell die Frage stellen, ob eine Person allgemein sprachlich kreativ ist bzw. sein kann oder ob sprachliche Kreativität (sub-)domänenspezifisch gebunden ist. Damit verbunden ist dann je‐ doch unweigerlich der komplexe (theoretische und empirische) Anspruch, für den Gegenstandsbereich Sprache mögliche Kreativitätsdomänen zu differenzieren. Theoretisch naheliegend vor dem Hintergrund der engen Verknüpfung von Kunst und Kreativität scheint es, übergeordnet ästhetisch-literarische Kontexte wie Poesie und Prosa, in denen gezielt kreativ mit Sprache umgegangen wird, um künstlerische Sprachprodukte herzustellen, von anderen sprachlichen Kommunikationssituationen abzugrenzen. Man mag sich jedoch auch fragen, wie viel die Plausibilität dieser Differenzlinie dazu beigetragen hat, dass sich der Kreativitätsbegriff quasi reibungslos in literaturwissenschaftliche und literatur‐ didaktische Paradigmen einfügt, in der sprachwissenschaftlichen und sprachdi‐ daktischen Forschung dagegen bis dato eher ein blinder Fleck ist. Zumindest gibt es bisher kaum oder gar keine Forschung dazu, ob Kreativität in nichtliterarischen Sprachhandlungen - so auch in bildungs- und fachsprachlichen Textprozeduren und Diskurspraktiken - konstitutive Funktionen diesseits der ästhetischen zugesprochen werden können. In der Sprachdidaktik wird Kreativität, wenn, dann noch am ehesten als didaktisches Mittel thematisiert, um sprachliche Lernprozesse - durch den Einbezug ästhetischen Erlebens und Handelns und in diesem Rahmen durch Kreativität - motivierend anzuregen, zu unterstützen oder zu begleiten, so wie es beispielsweise ausgehend von der Literaturdidaktik auch für das Konzept des handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterrichts gilt (vgl. auch Abraham et al. 2023). Ziel ist nicht die Hervorbringung von Kreativität im eigentlichen Sinne, sondern das Verstehen und Nachvollziehen kreativ-ästheti‐ scher Produkte. Lässt sich über solche didaktisch-integrativen, sprachliches mit literarischem/ ästhetischem Lernen verbindende Kontexte hinaus noch grund‐ sätzlicher die didaktische Perspektive anlegen? Durchaus; die Brücke führt - Einführung 15 <?page no="16"?> 6 Eingesetzt wird der Test auch, um die Kreativität von KI-Systemen einzuschätzen und im Vergleich zur Kreativität von Menschen zu bewerten. GPT4 beispielsweise schließt den TTCT 2023 besser ab als eine zum Vergleich herangezogene Kohorte von Studierenden: https: / / the-decoder.de/ gpt-4-schlaegt-fast-2-700-studierende-im-kreativ en-denken/ . querliegend zur Differenzlinie zwischen literarischen und nicht-literarischen Funktionen sprachlicher Kreativität in Sprachproduktion und Sprachrezeption - zu dem komplexen Feld möglicher Formen und Funktionen von Kreativität im Spracherwerb und in Prozessen sprachlichen Lernens. Kehren wir resümierend zur Person als analytischem Zugang zur Kreativität zurück. Auch für die In-Bezug-Setzung zum Thema Sprache als einer Domäne, in der eine Person ‚ihre‘ Kreativität potenziell sprachlich zu realisieren vermag, können wir - ob aller Komplexität, die das Thema aufwirft - festhalten, dass ‚die kreative Person‘ nicht ohne ‚ihre‘ kreativen Prozesse und Produkte zu rekonstruieren ist. 2.2 Was macht einen (sprachlichen) Prozess zu einem kreativen Prozess? Seit des Forschungsbooms der 1950er-Jahre sind in der Kreativitätsforschung unterschiedliche Tests zur Messung bzw. Rekonstruktion der allgemeinen Eigenschaften kreativer Prozesse entwickelt worden. Zunächst entstanden vorrangig Tests mit einem Fokus auf divergentem Denken, das als zentrales Merkmal erachtet wurde (Spiel 2003: 123). Der bis heute wohl bekannteste Test dieses Ansatzes - der Torrance Test of Creative Thinking (TTCT) - stammt von Torrance (1966/ 2018) und umfasst verbale (TTCT-V) und figurale Subtests (TTCT-F). D.h., es müssen zum einen sprachliche Antworten zu offenen Pro‐ blemen (bei verbalen oder nicht-verbalen Stimuli), zum anderen zeichnerische Antworten entwickelt werden. Im TTCT-V gilt es u.a., Vermutungen über mögliche Ursachen und Folgen einer vorgegebenen Situation zu ersinnen. Ausgewertet werden die Tests, sich an Guilfords Arbeiten anschließend, entlang der Hauptkategorien Flüssigkeit (operationalisiert als Anzahl interpretierbarer, sinnvoller Antworten), Flexibilität (Varianz/ Variation der Antworten), Origina‐ lität (statistische Seltenheit) und Elaboration (Ausführlichkeit). 6 Trotz seiner Prominenz im Diskurs ist Torrances Test nicht kritiklos ge‐ blieben. Almeida et al. (2008) reflektieren z.B. die Konstruktvalidität kritisch und kommen final u.a. zu dem Schluss, dass der Test, der im Original für Kinder konzipiert ist, ggf. eher für Erwachsene geeignet sein könnte (ebd.: 57). Untersuchungen von Kim (2017) legen nahe, dass der figurale Teil (TTCT-F) 16 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="17"?> ein umfassenderes, reliableres und valideres Maß für Kreativität liefert als der verbale Teil (TTCT-V). Neuere Tests bleiben dem Fokus auf die kognitive Prozessebene, die Ebene des Denkens, treu, rekonstruieren diese aber noch stärker als ein Problemlösen (z.B. Mumford et al. 1997). Spiel (2003: 124) merkt in diesem Zusammenhang zu Recht an, dass die Engführung auf das Problemlösen die Schwierigkeit mit sich bringt, kreatives Problemlösen von ‚gewöhnlichem‘ Problemlösen trennscharf und mit ausreichend substanziellem Gehalt abzugrenzen. Groeben (2013: 76-78) weist gleichwohl darauf hin, dass Kreativität vorrangig bei besonders komplexen Problemlöseprozessen zum Tragen kommt und sich in mehrfacher Hinsicht konstituiert: Generell werden nach Poincaré (1913) beim Problemlösen vier ver‐ schiedene Phasen durchlaufen - Präparation (= Vorbereitung), Inkubation (= Lö‐ sungssuche), Inspiration (= Lösungsidee) und Elaboration (= Ausarbeitung). Während für Lösungssuche und Lösungsidee offenbar verstärkt divergentes Denken gewinnbringend sein kann, macht die initiale Vorbereitungs- und finale Ausarbeitungsphase ggf. auch konvergentes Denken erforderlich. Entlang der These, dass kreatives Denken im Besonderen eine konstruktive Integration verschiedener Denkstile realisiert (erinnere 2.1 oben), identifiziert Groeben (2013: 78) den kreativen Problemlöseprozess als einen Prozess, bei dem ob der Problemkomplexität die vier Phasen eventuell iterativ durchlaufen und divergentes und konvergentes Denken in jedem Fall flexibel und konstruktiv miteinander abgewechselt oder verknüpft werden. Die Vielschichtigkeit der involvierten Prozesse wird meist besonders trans‐ parent in den Kreativitätskomponentenmodellen. Das Modell von Urban (1993) z.B. bezieht das Konstrukt des Problems ebenfalls ein, setzt den kreativen Prozess jedoch ins Zentrum eines Bezugs von (i) Problem und (ii) Person mit ihren kognitiven und personalen Merkmalen, (iii) Faktoren der Umwelt und (iv) Produkt (ebd.: 163). In der dem Modell zugrunde gelegten Kreativitätsdefi‐ nition werden auf Prozessebene darüber hinaus u.a. „eine sensible […] und breit umfassende […] Wahrnehmung vorhandener und offen (im Sinne von unvoreingenommen), aber gezielt gesuchter und erarbeiteter Informationen“ aufgerufen (Urban und Jellen 1995: 8, zitiert nach Spiel 2003: 132). Ebenso wird u.a. benannt, dass das kreative Produkt durch Analyse, durch lösungsgerichtete, aber hochflexible Verarbeitung, ungewöhn‐ liche Assoziationen und neuartige Umstrukturierungen oder Kombinationen dieser Informationen und mit Daten aus der Erfahrung oder mit imaginierten Elementen (ebd.) entsteht. Einführung 17 <?page no="18"?> Zur Einordnung des Modells von Urban mag relevant sein, dass Urban und Jellen (1995) flankierend gleichfalls einen Kreativitätstest für den zeichnerischen Bereich (Test zum Schöpferischen Denken - Zeichnerisch; TSD-Z) entwickelt haben. Spiel (2003: 135-140) berichtet über eine eigene empirische Studie zum TSD-Z mit Gymnasialschüler: innen. Ein erkenntnisträchtiges Ergebnis ist u.a., dass der angenommene Effekt von zeichnerischer Fertigkeit auf schöpferisches Denken nicht bestätigt werden konnte (ebd.: 138); dass also Kreativität nicht notwendig mit Könnerschaft oder Expertise korrelieren muss. Lässt sich die Idee, dass sich kreative Prozesse insbesondere im Kontext von Problemlösungen konstituieren, für den Forschungskontext Sprache fruchtbar machen? Interessant sind in diesem Bezug jüngere Arbeiten zu alltäglichen mündli‐ chen Face-to-face-Kommunikationen, die nahelegen, dass die in extrem kurzen Zeitspannen ablaufende antizipative Vermeidung oder Behebung von Missver‐ ständnissen (Trouble-Management) zentrale Komponenten der Alltagsgesprä‐ che ausmachen (vgl. Hellwig et al. i.V.; fundierend u.a. Dingemanse et al. 2015). Hellwig et al. (i.V.) schlagen vor, grundsätzlich nicht nur mündliche, sondern allgemein Kommunikationsprozesse als Trouble-Management-Prozesse zu re‐ konstruieren bzw. zu beforschen. Das bedeutet, dass letztlich eine kontinuierlich ablaufende Problemlösung als ein bzw. das Grundprinzip sprachlicher Kommu‐ nikation erfasst würde. Insofern Hellwig et al. (i.V.) Variabilität und damit ver‐ bunden kreative Adaptivität neben Übertragbarkeit (Transferfähigkeit) sowohl als Hauptquellen für Kommunikationsprobleme als auch als Hauptressourcen für die Problemlösung erachten, wird die Relevanz der Beforschung der Kreati‐ vitätskomponente quasi impliziert. Auch Morek und Hellers Verständnis von bildungssprachlichen Diskurspraktiken als Verfahren, die „der Lösung wieder‐ kehrender Probleme der Wissenskonstruktion, -absicherung und -vermittlung dienen“ (2019: § 2) fügt sich in diese Perspektive auf sprachliche Kommunikation als eine Form der kontinuierlichen Problemlösung. Ein weiterer möglicher Zugang, der sich mit der Modellierung von Kommu‐ nikation und Sprachproduktion als situatives Problem verträgt (darauf aber theoretisch nicht angewiesen ist), ist die Analyse von Flexibilität - in diesem Kontext gefasst als Ausdrucksvariation - und ggf. Flüssigkeit, mit der diese hervorgebracht wird, in allen Prozessen sprachlicher Kommunikation - und so auch in bildungs- und fachsprachlichen Schreibprozessen und Diskursprak‐ tiken. Eventuell könnte man sogar fragen, ob das, was Morek und Heller (2019) in Diskurspraktiken als Verfahren der kontinuierlichen Problemlösung erfassen, nicht auch letztlich vorrangig auf den Einsatz von Flüssigkeit und Flexibilität zurückzuführen ist. 18 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="19"?> 7 Einzuschränken ist, dass eine solche Einschätzung vornehmlich für Lernende zu gelten scheint. Steinhoff (2007) beschreibt in seinem Erwerbsmodell wissenschaftlichen Schreibens, dass sehr erfahrende Schreiber: innen durchaus post-konventionell agieren, sich also gerade durch die Brechung von Mustern auszeichnen und ihnen in diesem Sinne Originalität zugestanden wird. Ähnlich argumentiert auch Brommer in diesem Band. 8 Das Primat des Konformen gilt wohlgemerkt nicht zwingend für alle nicht-ästhetischliterarischen Kommunikationskontexte bzw. sprachlichen Varietäten. Denken wir z.B. an Jugendsprache oder Werbesprache, ist Originalität und der kreative Bruch von Regeln, das Spiel mit Mustern wahrscheinlich treibende Kraft der Entwicklung und Ausgestaltung (vgl. u.a. Neuland 2008; Janich 2012). Auch in Bezug auf bildungs- und fachsprachliche Register stellen unsere Überlegungen eine Arbeitsthese dar, die einen Anknüpfungspunkt für Elaboration oder Widerspruch bieten soll. Warum Flexibilität und nicht vorrangig Originalität, wo doch Letzteres eher als das zentrale Merkmal von Kreativität ausgelobt wird? Nicht-ästhetisch-lite‐ rarische, bildungs- und fachsprachliche Kommunikationskontexte gehen in der Regel mit einem Anspruch an Muster- oder Regelkonformität einher, welcher der Idee von Kreativität in gewissem Maße zuwiderläuft. Soll der Sprachge‐ brauch in entsprechenden Sprachregistern grammatisch und/ oder angemessen sein, können wir nicht phonologische, morphologische oder syntaktische, tex‐ tuelle Formen komplett ‚neu‘ erfinden. Selbst auf semantischer Strukturebene ist in Abhängigkeit vom jeweiligen Funktionskontext die Verwendung von Neologismen o.Ä. ggf. dysfunktional. 7 Stattdessen gilt in Kontexten, in denen Erkenntniskommunikation im Vor‐ dergrund steht, der Anspruch einer begrifflichen Präzision, die auf einer kon‐ ventionalisierten Lexik aufsetzt. Im Rahmen des Konformen können wir nun jedoch z.B. Prozedurenausdrücke, Vertextungsweisen und Markierungsmittel sehr wohl flexibel (kreativ) variieren, auch wenn dies eventuell ‚nur‘ als ästhe‐ tischer Mehrwert hinzutritt oder hinzutreten darf. 8 Dabei ist auch zu beachten, dass im Kontext der Kreativitätsdiskussion eine Differenzierung zwischen Regel und Muster bzw. das Desiderat einer begriffli‐ chen Kontrastierung oder Schärfung augenfälliger wird. Denn vergleicht man die Konstrukte Regel und Muster, ist Letzteres eher vereinbar mit dem Faktor der Flexibilität bzw. Variation. Während die Regel eine verbindlich geltende Richtlinie, eine Vorschrift konstituiert, zu der es zwar Ausnahmen geben kann, die ‚an sich‘ aber fixiert ist, integriert das Muster per definitionem Leerstellen, die variabel aufzufüllen sind. In der Mathematik werden das Muster als „das geordnete Ganze, gekennzeichnet durch eine gleichförmige Wiederholung gleichbleibender Merkmale“ und die Struktur als „die Beziehung zwischen den Bestandteilen eines Musters“ definiert (Lüken 2013: 5). Geht man davon aus, dass Muster aus Wahrnehmungen kognitiv zu abstrahieren sind, so enthält die Einführung 19 <?page no="20"?> 9 Zur Relevanz des Verhältnisses von Wiederholung und Variation vgl. u.a. Bryant (2012), Madlener (2016), Bryant und Zepter (2022: 87f.). aktuale Wahrnehmung immer ‚mehr‘ als das Muster, dessen Merkmale (bzw. strukturelle Beziehungen der Bestandteile) über verschiedene, in Bezug auf das ‚Mehr‘ variierende Wahrnehmungen hinweg stets gleichbleiben. In gebrauchs‐ basierten (usage-based) Spracherwerbskonzeptionen (u.a. Tomasello 2003, 2006; Behrens 2009, 2011) und damit verbundenen Konstruktionsgrammatiken (u.a. Lakoff 1987), in denen der wahrnehmungsbasierte Musterbildungsprozess als allgemeine kognitive Fähigkeit als zentral für den Spracherwerb erfasst wird (Tomasello 2003: 4), nimmt auch das Moment der Variation des (wahrgenom‐ menen) sprachlichen Inputs eine wesentliche Funktion ein. Um ein abstraktes grammatisches bzw. kognitiv sprachliches Muster (ein Schema; Bybee 2001: 39; Pracht 2010: 23) zu erkennen, braucht es eine Basis an zahlreichen gleichen, aber auch leicht variierenden Inputs (vgl. Bryant und Zepter 2022: 87). 9 In diesem Sinne ist der Begriff des Musters in sich zumindest mit einem Kreativitätsfaktor in Teilen kompatibel, während ein kreativer Umgang mit einer Regel ggf. eher deren Bruch impliziert. Didaktisch gewendet fordert z.B. Granzow-Emden (2013: 47f.) für den schulischen Grammatikunterricht eine Ablösung des Regeldurch den Musterbegriff und zieht, wenn er auch den Begriff der Kreativität nicht explizit macht, Parallelen zu Kunst und Spiel: Muster sind ein verbindendes Kriterium für das Untersuchen von Sprache auf allen Ebenen. Der Begriff erinnert auch an das Spiel mit den Formen in der Kunst und der Ornamentik. Bewährtes wird aufgegriffen und wiederholt, aber auch immer wieder variiert. Der Musterbegriff entlastet die Schulgrammatik. Die meisten „Regeln“ der Schulgram‐ matik sind nichts anderes als Muster, und deren „Ausnahmen“ sind nichts anderes als das erwartbare Spiel mit dem Muster. (Granzow-Emden 2013: 50) Im Kontext sprachlicher Prozesse des Lernens und des Erwerbs kommen wir noch einmal zurück zur Idee des kreativen Prozesses als Problemlöseprozess. Der letzte Abschnitt (2.1) hat bereits thematisiert, dass Spracherwerbskontexte und Prozesse sprachlichen Lernens grundsätzlich eine Domäne bilden, für die sich erforschen lässt, ob und, wenn ja, wie Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Handlungen, die an sich kreativ sind oder in die kreative Prozesse einfließen, konstitutiv sein oder als Ressource genutzt werden können. Greift man das Konstrukt des Problems und dessen kreative Problemlösung auf, eröffnet sich im Kontext sprachlichen Lernens das Feld des kreativen Umgangs mit entwicklungsbezogenen kommunikativen Herausforderungen, 20 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="21"?> Problemen wechselseitiger sprachlicher Verständigung, Ausdrucksnot etc. - z.B. durch originelle Ad-hoc-Bildungen im Bereich des Wortschatzes, durch Interferenzen oder auch durch einen verstärkten Einsatz von Gestik, Mimik und Stimme in medialer Mündlichkeit. Zu beachten ist bei dieser Perspektive: Originalität im Bereich der Wort‐ schöpfung ebenso wie ein flexibler und flüssiger Umgang mit Sprachenwechsel muss sich keineswegs allein oder zwingend aus einer Problemstellung wie Ausdrucksnot bedingen. Entsprechende Sprachproduktionen können ebenso bewusst inszeniert sein - sei es aus Freude am ästhetischen Mehrwert oder am kreativen Sprachspiel an sich. Im Bereich von Mehrsprachigkeit mag Codeswitching ein eindrückliches Beispiel sein (vgl. u.a. Riehl 2019). Beachtenswert im Kontext früher Spracherwerbsphasen und des Diskurses um das Auftreten und die entwicklungsbezogene Relevanz von Kreativität im Kindesalter sind des Weiteren die Arbeiten von Wygotski. So entwickelt Wygot‐ ski (1976) die These, dass das kindliche kreative Spiel mit Worten und Lauten, die Kreation von ‚Unsinn‘ eine notwendige Funktion im Entdeckungsprozess der äußeren, weltlichen Gesetze und Regeln übernimmt. Ebendiesen versichert sich das ‚schöpferische‘ Kind nach Wygotski gerade in der unsinnigen Regelverlet‐ zung, im Bruch mit dem eigentlich Realen, dem eigentlichen Sinn (ebd.: 308). Dabei soll der kreative Akt generell die Herausbildung eines ‚Realitätsgefühls‘ unterstützen. Kreative Sprachschöpfungen im Kindesalter könnten derart im Sinne eines ganzheitlichen Entwicklungsgedankens sowohl dem Spracherwerb selbst als auch anderen, persönlichkeitsbezogenen Entwicklungsprozessen die‐ nen. Als didaktisches Mittel für bildungssprachliche Lernprozesse explizit aufge‐ griffen wird Kreativität im Rahmen des kreativen und generativen Schreibens (Belke 2019, 2024a, 2024b) sowie auch neu für Möglichkeiten wissenschaftlichen Schreibens (Schindler 2023). Insgesamt ist der Kreativitätsbegriff bezüglich seiner Konstruktbedeutung in der Deutschdidaktik vorrangig im Bereich des kreativen Schreibens verhandelt worden (vgl. im Überblick u.a. Zepter 2013: 363f.; Schindler und Zepter 2013: 35f.). Auch dieser Diskurs hat sich am US-ame‐ rikanischen Diskurs und an Guilfords Analysen orientiert. Spinner (u.a. 2008) ar‐ beitet in diesem Zusammenhang drei Grundprinzipien des kreativen Schreibens heraus, die den kreativen Schreibprozess steuern: Irritation, Expression, Imagi‐ nation. Irritation (der Lesenden) soll vorrangig im Zuge divergenten Denkens zu einem Bruch mit Erwartungen und dadurch zur Entfaltung neuer Ideen führen (ebd.: 108). Expression initiiert dagegen Selbstausdruck des Schreibsubjekts und schafft nach Spinner auf diese Weise Authentizität, bewahrt vor Beliebigkeit und begünstigt, dass die Schreibenden sich ganzheitlich denkend und fühlend in Einführung 21 <?page no="22"?> den Schreibprozess einbringen und der Schreibprozess somit die gesamte Person erfasst (ebd.: 108, 118). Mit Imagination schließt Spinner schließlich noch einmal expliziter an Guilfords Faktor des ‚Ideenfindungsvermögens‘ an und deutet dieses als die Fähigkeit aus, im Schreibprozess neue Vorstellungen zu entwickeln und fantasievoll auszugestalten. Im Übrigen verweist Imagination für Spinner auf das Vermögen, sich „in andere Welten und menschliche Erfahrungsweisen“ hineinzudenken und hineinzufühlen, somit potenziell auch „eine neue Sicht auf Bekanntes“ zu realisieren (ebd.: 108, 120). Gerade im Schreiben erkennt er einen Prozess, der sich für die Entfaltung von Imagination schlechthin anbietet (vgl. ebd.: 117). Resümiert man die Verhandlung kreativer Prozesse, eint die meisten Perspek‐ tiven, dass der Fokus auf den Prozess nicht ohne Bezüge auf das ausführende kreative Subjekt (die Person) und/ oder das Produkt aufrechterhalten wird. Prinzipiell ist aber hervorzuheben, dass der Analysezugang, Kreativität als das Merkmal eines Prozesses zu modellieren, auch unbestimmt lassen kann, wer - oder was - genau den Prozess ausführt und ob dies mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und/ oder Motiven der: des Ausführenden korreliert. Für den Produktzugang gilt Ähnliches. In der bisherigen Kreativitätsforschung mag dieser Aspekt ggf. noch unterbelichtet geblieben sein, weil ein Was vielleicht denkbar, aber doch eher unrealistisch war. In Zeiten der rasanten Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) wird dieser Diskurs und die Frage, ob KI als möglicher Träger eines kreativen Prozesses oder Produktes identifiziert werden darf, jedoch sicherlich neue Relevanz erhalten und ggf. dem Ringen um eine theoretische Begriffsbestimmung neuen Auftrieb verleihen. 2.3 Wann ist ein (sprachliches) Produkt kreativ? Der Fokus auf den Produktzugang zum Kreativitätsbegriff macht in besonderem Maße eines deutlich: Unser Verständnis von Kreativität ist mit einer Wertkom‐ ponente verbunden, und dies in mehrfacher Hinsicht (vgl. u.a. Brodbeck 2006; Groeben 2013). Brodbeck (2006: § 2.3, 2.4), der die Eigenschaft ‚kreativ‘ explizit ausschließlich auf Formen menschlicher Aktivität bezieht, hebt z.B. heraus, dass nur das als kreativ bezeichnet werden kann, was als kreativ bewertet wird. Die Bewertung erfolgt wiederum auf Basis zweier Kernkriterien: Das Kreative muss zum einen neu und zum anderen wertvoll sein. Drittens ist der Wertkomponente nach Brodbeck ein ethisches Moment inhärent. Denn „auch destruktive Taten können für die Täter und ihr Umfeld durchaus als ‚kreativ‘ oder ‚genial‘ gelten, während andere Menschen sie verabscheuen“ (ebd.: §-2.3). 22 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="23"?> Brodbecks Beispiel zur Illustration des ethischen Moments veranschaulicht eindrücklich die grundsätzliche Relativität der Wertkomponente, die ein schwer aufhebbares Dilemma erzeugt. Für Brodbeck ist der Wert einer kreativen Leistung daher letztlich nicht sinnvoll zu operationalisieren (ebd.). Ganz ähnlich identifiziert Groeben (2013: 34) als die zwei in Kombination hinreichenden Kernmerkmale eines kreativen Produkts ‚Neuheit‘ und ‚Brauch‐ barkeit‘ (Letzteres als angemessener Oberbegriff für die im Diskurs über ver‐ schiedene Definitionen hinweg auftretende Benennungsvariation, darunter z.B. ‚wertvoll‘, ‚angemessen‘, ‚nützlich‘). Auch Groeben betont die Relativität der beiden Merkmale und schlussfolgert zum „moralischen Problem“ (ebd.: 43), dass unser allgemeiner Gebrauch des Terminus ‚Kreativität‘ als „positive[r] Wert- Begriff “ in Konsequenz „eine humane Konstruktivität der damit verfolgten Ziele voraus[setzt]“ (ebd.: 44). Das Merkmal ‚Neuheit‘ oder ‚Originalität‘ begleitet noch ein zweites Di‐ lemma, das erkenntnistheoretischer Natur ist. So lässt sich ein philosophischer Diskurs darüber führen, ob (menschliche) Kreativität überhaupt absolut Neues erschaffen kann oder Neues stattdessen eher ‚nur‘ eine Neukombination oder Neuauflage von Altem darstellt und „das, was sich durch unser Handeln ereignet, nur die Wiederkehr des Ewig-Gleichen“ ist (Pape 1994/ 2016: 19). Groeben (2013: 48) resümiert die Kreativitätsforschung zum Neuheitsmerk‐ mal, indem er Csikszentmihalyi (1997) aufgreift und systematisierend zwei verschiedene, mögliche Bezugsrahmen feststellt. Die Neuheit bzw. Originalität eines kreativen Produkts lässt sich entweder historisch-kulturell oder persönlichpsychologisch bestimmen. Historisch-kulturelle Neuheit kann nach Groeben in der Regel nur besonders herausragenden kreativen Leistungen zugesprochen werden, solchen, die eine große historisch-kulturelle Reichweite und Bedeutung erzielen und über die gesamte Reichweite hinweg als neu zu bewerten sind. Alltagskreativität erzwingt dagegen aus theoretischen Gründen das persönlichpsychologische Kriterium, nach dem das kreative Produkt für die es produzie‐ rende Person neu sein kann, auch wenn andere Personen (mit einem anderen Wissens-, Bildungs- und Erfahrungshintergrund) zu einer anderen Bewertung gelangen. Schlussendlich plädiert Groeben (2013: 59) dafür, die persönlich-psycholo‐ gische Perspektive auf Kreativität und kreative Produkte als primär zu erfas‐ sen, insofern die Ebene der individuell-persönlichen kreativen (Denk- und Handlungs-)Kompetenz die Basis dafür bildet, ggf. auch kultur-historische Bedeutsamkeit zu erreichen. Andernfalls entsteht ein theoretisches Paradox. Denn hochkreative Persönlichkeiten wie etwa Vincent van Gogh oder Emily Dickinson (als zwei Beispiele unter vielen), denen zu ihren Lebzeiten zunächst Einführung 23 <?page no="24"?> keinerlei gesellschaftliche Anerkennung zuteilwurde, könnten erst posthum als kreativ bezeichnet werden - und dies, obgleich sie ihre Werke ohne Frage in kreativen Schaffensphasen ihres Lebens erbracht haben müssen (vgl. ebd.: 56f.). Was lässt sich aus diesem Hintergrund für die Einschätzung der Kreativität von (bildungs- und fach-)sprachlichen Produkten ableiten? Im vorherigen Abschnitt (2.2) wurde deutlich, dass in Kontexten bildungssprachlicher Text‐ produktion und Diskurspraktiken ggf. Faktoren wie Flexibilität und Flüssigkeit relevanter sind als Originalität bzw. Neuheit. Sollen jedoch Neuheit und/ oder Brauchbarkeit als Kriterium zum Einsatz kommen, impliziert der persönlichpsychologische Bezugsrahmen Bewertungshoheiten, die vor allem für die Kreativitätseinschätzung von Lerner: innenprodukten bedeutsam sind. Denn sicherlich kann z.B. in einem Textprodukt ein gewählter Ausdruck ‚neu kreiert‘ von dem: der Verfasser: in sein und im Rahmen seiner: ihrer Schreibziele eine für ihn: sie ‚brauchbare‘ Lösung darstellen, ohne dass er für die Rezipient: innen den gleichen Neuheitsund/ oder Brauchbarkeitswert erreicht. Für die Operationa‐ lisierung im Rahmen empirischer Analysen birgt eine (strikte) Rekonstruktion der persönlich-psychologischen Kreativität durchaus gewichtige Herausforde‐ rungen. 2.4 Was sind kreative (sprachliche) Situationen? Neben den drei Zugängen Person, Prozess und Produkt ist zuletzt die Dimension des kreativen Umfelds, der kreativen Situation zu berücksichtigen. Sie macht in der Kreativitätsforschung selten einen alleinigen Fokus aus, wird aber mitunter in integrativen Modellierungen auch zentral gesetzt. Brodbeck (2006: § 2.4) schlägt z.B. ein ganzheitlich orientiertes Modell der kreativen Situation vor, das sich aus fünf Elementen aufbaut: (i) Äußere (kreative) Produkte resultie‐ ren hierin aus einem Zusammenspiel von (ii) emotionalen Prozessen, (iii) veränderter Wahrnehmung und/ oder (iv) veränderten Bewegungsmustern (u.a. des Körpers oder der sozialen Interaktion) und (v) (potenziell variierenden) Denkprozessen. Empirische oder historische Untersuchungen zum Umfeld von Kreativität zielen zumeist auf eine Bestimmung kreativitätsförderlicher Umfeldfaktoren ab. Brix (2003) arbeitet dabei u.a. heraus, dass „kreative Milieus“ stets „orts-, zeit- und problemspezifisch“ sind und sich daher nicht eins zu eins auf andere Räume, Zeiten und Problemstellungen transferieren lassen (ebd.: 103f.). Den‐ noch identifiziert Brix übergreifend begünstigende Bedingungen, so u.a. „große individuelle Freiräume, Möglichkeiten nicht-hierarchischer Gemeinschaftsbil‐ dung, Schaffung von Öffentlichkeit, Wertschätzung von Pluralität“ (ebd.: 104). 24 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="25"?> Dass es dieser Räume bedarf, wird auch im Kontext feministischer Ansätze diskutiert, die u.a. fehlende Räume und Wertschätzung für Themen von Frauen monieren (siehe u.a. Bieker und Schindler 2021; Seifert 2021). Situationszentrierende Ansätze sind z.B. von Csikszentmihalyi (1997) vor‐ gelegt worden, der systemtheoretisch argumentiert; oder auch von Amabile (1996), die eine sozialpsychologische Perspektive auf Arbeitsumgebungen und deren Einfluss auf Kreativität und Motivation einbringt. Amabile fundiert u.a. die Relevanz von domänenübergreifenden Motivationsstrukturen empirisch - nahelegend, dass sowohl intrinsische als auch extrinsische motivationale Orientierungen (für kreatives Arbeiten) weniger aufgabenspezifisch und eher generell ausgerichtet sind. Nicht zuletzt weiten Untersuchungen, die das soziale Miteinander in kreati‐ ven Situationen und Umfeldern fokussieren, den Blick für die Ermöglichung ko-kreativer Prozesse, indem sie z.B. belegen, dass „viele Kreative […] mit anderen Kreativen zusammen[arbeiten]“ (Spiel 2003: 126). Das Konstrukt des ko-kreativen Prozesses eröffnet u.a. potenziell erweiterte Perspektiven auf den persönlich-psychologischen Bezugsrahmen für die Neuheit und den Wert bzw. die Brauchbarkeit eines kreativen Produkts (s. Abschnitt 2.3). Denn im Kontext einer Kooperation aus mehreren beteiligten Personen sind Neuheit und Brauchbarkeit/ Wert gemeinsam zu verhandeln und intersubjektiv zu bewerten. Aus der (sprach-)didaktischen Perspektive erhält der Zugang über Umfeld und Situation einen besonderen Stellenwert, insofern ein kreatives Umfeld prinzipiell auch gezielt in didaktischen Settings arrangiert werden kann, um Kreativität an sich zu fördern und/ oder kreative Situationen zu evozieren, in denen Lernprozesse über die Verknüpfung mit (ko-)kreativen Prozessen ange‐ regt und unterstützt werden. Ein breites Spektrum (Ko-)Kreativität anregender Methoden und Arrangements für kreative Schreibsituationen finden sich z.B. im Bereich des kreativen Schreibens (vgl. u.a. Böttcher 2010). Ausführlich ist in der Schreibforschung auch die Rolle von Räumen und Medien diskutiert worden, die als mehr oder weniger kreative Umwelten zu beschreiben sind (beispielsweise Lehnen und Schindler 2019 oder Steinhoff 2022). Mit Blick auf bildungs- und fachsprachliche Textproduktionen und Diskurspraktiken mag der Zugang über Umfeld und Situation ebenfalls im Besonderen Fragestellungen zur Beforschung (ko-)kreativer didaktischer Settings aufwerfen. Einführung 25 <?page no="26"?> 3 (Bildungs-/ Fach-)Sprache und Kreativität: Versuch einer Systematisierung In diesem Band interessieren wir uns für mögliche Formen und Funktionen von Kreativität in bildungs- und fachsprachlichen Textprozeduren und Diskurs‐ praktiken und deren Erwerb. Im Zentrum steht das Spannungsund/ oder das Balanceverhältnis zwischen Kreativität und Musterorientierung und in diesem Rahmen der forschende Blick auf mögliche Dimensionen des Zusammenspiels, der Komplementarität oder der Gegensätzlichkeit. Sind Routine, Muster und Kreativität jeweils eigenständig beschreibbar? Ergänzen sie sich, stehen sie zueinander in Beziehung oder aber in Opposition? Wo zeigt sich Kreativität im bildungs- und fachsprachlichen Gebrauch und wo und wie kann sie als Ressource zum Einsatz kommen? Die Kreativitätsforschung resümierend ergeben sich potenzielle sprachliche Domänen für und mögliche Analysezugriffe zu Kreativität. Sie bilden Anknüp‐ fungspunkte für die theoretische und empirische Beforschung. Die folgende Grafik (Abb. 1) stellt abschließend den Versuch einer systematisierenden Zu‐ sammenschau bereit. 26 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="27"?> Abb. 1: Modellierung möglicher Bezugrahmen auf Kreativität und Sprache Einführung 27 <?page no="28"?> 4 Zu den Beiträgen Der Band versammelt zehn Beiträge, die unterschiedliche Perspektiven aufspan‐ nen, Modalitäten unterscheiden und variierende Lerner: innengruppen fokus‐ sieren. Trotz dieser Unterschiedlichkeit lassen sich vielfache Bezüge auf das zuvor entwickelte Modell wie auch aufeinander feststellen. In ihrem Beitrag „Kreative Gesten: Lösungen für lexikalische Probleme bei vier- und fünfjährigen Kindern“ arbeiten Luyao Wang und Katharina J. Rohlfing am Beispiel von Interaktionen das Potenzial von Gesten heraus: zum einen als analytisches Fenster, um Denkprozesse zu visualisieren, zum anderen als Konstrukt, an dem das Zusammenspiel zwischen Geste, Sprache und kreativem Denken im Zusammenhang erkennbar wird. Eva Belke und Friederike von Lehmden beziehen sich in ihrem Beitrag „Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen: Lern- und Abstraktionsprozesse in Spracherwerb und Sprachvermittlung aus gebrauchs‐ basierter Perspektive“ auf das Phänomen des Sprachspiels. Sie weisen dem Sprachspiel Potenzial für Lernende unterschiedlichen Erwerbsalters (im Ele‐ mentar-, Primar- und Sekundarbereich) zu und nähern sich ihm transdisziplinär - mit Verweis auf theoretisch-linguistische, psycholinguistische und didakti‐ sche Ansätze. Das Verfahren des Recyclings - als Prozess des Wiederverwendens sprachli‐ cher und inhaltlich-struktureller Elemente - steht im Mittelpunkt des Beitrags von Miriam Morek und Vivien Heller zum Thema „Diskursive Praktiken zwi‐ schen Musterhaftigkeit und Kreativität. Beobachtungen zum Wiederverwerten von Vertextungs- und Markierungsressourcen beim Erklären im Unterrichtsge‐ spräch“. Herausgearbeitet wird das Phänomen am Beispiel mündlicher Erklä‐ rungen von Schüler: innen im Unterrichtsdiskurs. In dem Beitrag von Doreen Bryant und Alexandra L. Zepter „Performative Inklusionsdidaktik. Lernpotenziale ausschöpfen im Zusammenspiel von Steue‐ rung, Kreativität und körperlicher Involvierung“ wird ein Konzept entwickelt, das Formate der Performativität mit der Orientierung an einer diversitätsorien‐ tierten Didaktik kombiniert und Kreativität als Scharnier versteht. Illustriert wird dieses Konzept am Beispiel mündlichen Argumentierens. Dass solche (und andere) Konzepte von Lehrkräften initiiert und gestaltet werden müssen, stellt den Ausgangspunkt der Überlegungen von Benjamin Siegmunds Beitrag „Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessio‐ nalisierung: Ein kreativer Zugang“ dar. Damit dies gelingt, so die Annahme des Beitrags, bedarf es zunächst eigener kreativer Erfahrungen, die anhand der Erarbeitung von Studierenden (angehenden Lehrkräften) am Beispiel eines offenen Schlusses einer Kurzgeschichte veranschaulicht werden. 28 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="29"?> Nadja Sennewald verfolgt in ihrem Beitrag „Der Schreibprozess als kreativer Prozess“ eine doppelte Zielsetzung: So werden zunächst Ansätze kreativen Schrei‐ bens und die Modellierung von Schreibprozessen aufeinander bezogen und im Hinblick auf Überschneidungen und Unterschiede geprüft, bevor diese dann mit Blick auf zwei Schreibanlässe (wissenschaftliches und kreativ-literarisches Schreiben) im Hinblick auf ihre Deutung als kreative Prozesse systematisiert werden. Automatisch generierte Texte orientieren sich an (statistisch bemerkbaren) Mustern. Grundlage sind Trainings, die sich in der Regel auf normorientierte Texte erwachsener Schreiber: innen beziehen. In ihrem Beitrag „AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können“ variieren Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler und Stephan Tilgner den Ausgangspunkt, in dem sie Texte von Schüler: innen zur Grundlage des Trai‐ nings eines LLM nutzen. Damit eröffnen sie u.a. analytische Möglichkeiten, Kreativität als neue Muster erkennbar zu machen. Sara Hauser nimmt in ihrem Beitrag „Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffold initiieren“ Überlegungen auf, die bereits an anderer Stelle (Siegmund; Bryant und Zepter) diskutiert wurden: die Rolle der Lehrkraft für die Gestaltung kreativ anregender (Schreib-)Impulse, hier mit Blick auf Mehrsprachig‐ keit als Ressource und Bedingung kreativ-literarischen (lyrischen) Schreibens. Argumentative Texte von Schüler: innen stehen im Zentrum des Beitrags „Musterhaftigkeit und Formen sprachlicher Kreativität im Kontext der Anno‐ tation argumentativer Lerner: innentexte“ von Sara Rezat und Rabia Karabey. Untersucht wird, ob und in welcher Weise an ihnen Kreativität als Textmerkmal sichtbar oder vielmehr als Erwerbsphänomen beschreibbar wird. Auch in Sarah Brommers Text geht es um die Frage der Einschätzung von Kreativität als Textmerkmal. In ihrem Beitrag „Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem“ arbeitet sie an Textbeispielen heraus, dass die Abweichung vom Muster nur dann als kreativ zugestanden wird, wenn sie als intentional eingeschätzt wird. Literatur Abraham, Ulf/ Bräuer, Christoph/ von Brand, Tilman (Hrsg.) (2023). Literarisches Schrei‐ ben als kulturelle Praxis. Deutschdidaktische, schreibpädagogische und medienkultu‐ relle Impulse für den Unterricht. Hannover: Klett Kallmeyer. Almeida, Leandro S./ Prieto, Lola Prieto/ Ferrando, Mercedes/ Oliveira, Emma/ Ferrándiz, Carmen (2008). Torrance Test of Creative Thinking: The question of ist construct validity. Thinking Skills and Creativity 3, 53-58. Einführung 29 <?page no="30"?> Amabile, Teresa M. (1996). Creativity in Context. Boulder: Westview. Behrens, Heike (2009). Usage-based and emergentist approaches to language acquisition. Linguistics 47 (2), 383-411. Behrens, Heike (2011). Grammatik und Lexikon im Spracherwerb: Konstruktionspro‐ zesse. In: Engelberg, Stefan/ Holler, Anke/ Proost, Kirstel (Hrsg.). Sprachliches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik. Berlin: De Gruyter, 375-396. Belke, Gerlind (2019). Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Belke, Gerlind (Hrsg.) (2024a). Mit Sprache(n) spielen: Kinderreime, Gedichte und Geschichten für Kinder zum Nachsprechen, Mitmachen und Selbermachen. 13. Aufl. Bielefeld: Schneider im wbv. Belke, Gerlind (2024b). Poesie und Grammatik. Kreativer Umgang mit Texten im Deutschunterricht mehrsprachiger Lerngruppen. Für die Vorschule, Grundschule und Orientierungsstufe. Textkommentar. 9. Aufl. Bielefeld: wbv Media. Bieker, Nadine/ Schindler, Kirsten (2021). Wenn Autorinnen Kinder bekommen - Mut‐ terschaft als Schreibblockade. In: Gansel, Carsten/ Lehnen, Katrin/ Oswalt, Vadim (Hrsg.). Schreiben, Text, Autorschaft II. Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 259-274. Böttcher, Ingrid (Hrsg.) (2010). Kreatives Schreiben. Berlin: Cornelsen Scriptor. Brix, Emil (2003). Wesen und Gestalt kreativer Milieus. In: Berka, Walter/ Brix, Emil/ Smekal, Christian (Hrsg.). Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau, 99-115. Brodbeck, Karl-Heinz (2006). Neue Trends in der Kreativitätsforschung. New Trends in Creativity Research. Psychologie in Österreich 26 (4 & 5), 246-253. Bryant, Doreen (2012). Lokalisierungsausdrücke im Erst- und Zweitspracherwerb. Ty‐ pologische, ontogenetische und kognitionspsychologische Überlegungen zur Sprach‐ förderung in DaZ. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (2022). Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Ein Lehr- und Praxisbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto. Bybee, Joan (2001). Phonology and language use. Cambridge: Cambridge University Press. Csikszentmihalyi, Mihaly (1997). Kreativität. Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden. Stuttgart: Klett-Cotta. Damasio, Antonio R. (1997). Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: dtv. Dingemanse, Mark/ Roberts, Seán G./ Baranova, Julija/ Blythe, Joe/ Drew, Paul/ Floyd, Si‐ meon/ Gisladottir, Rosa S./ Kendrick, Kobin H./ Levinson, Stephen C./ Manrique, Eli‐ zabeth/ Rossi, Giovanni/ Enfield, N.-J. (2015). Universal principles in the repair of communication problems. PLoS ONE 10 (9), e0136100. 30 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="31"?> Feilke, Helmuth (2012). Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. Praxis Deutsch 39 (233), 4-13. Feilke, Helmuth/ Rezat, Sara (2019). Operatoren „to go“. Praxis Deutsch 46 (274), 4-13. Feist, Gregory J./ Reiter-Palmon, Roni/ Kaufman, James C. (Hrsg.) (2018). The Cambridge Handbook of Creativity and Personality Research. Cambridge: Cambridge University Press. Gibson, Eleanor J. (1988). Exploratory behavior in the development of perceiving, acting and the acquiring of knowledge. Annual Review of Psychology 39, 1-41. Granzow-Emden, Matthias (2013). Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten. Tübingen: Narr. Groeben, Norbert (2013). Kreativität. Originalität diesseits des Genialen. Darmstadt: Primus. Gröschner, Alexander/ Sandbothe, Mike (2010). Kreativität fördern durch körperbasiertes Lernen. Pragmatistische Perspektiven für den Unterricht in Schule und Universität. MedienPädagogik, 1-27. Guilford, Joy Paul (1950). Creativity. American Psychologist 5, 444-454. Hannaford, Carla (2008). Bewegung - das Tor zum Lernen. Kirchzarten bei Freiburg: Vak. Hellwig, Birgit et al. (i.V.). Language Challenges. Abrufbar unter: https: / / sslac.uni-koeln .de/ language-challenges (Stand: 10.03.2025). Janich, Nina (Hrsg.) (2012). Handbuch Werbekommunikation. Sprachwissenschaftliche und Interdisziplinäre Zugänge. Tübingen: Narr Francke Attempto. Kim, Kyung Hee (2017). The Torrance Tests of Creative Thinking - Figural or Verbal: Which One Should We Use? Creativity: Theories - Research - Applications 4 (2), 302-321. Kleinert, Jens/ Erkens, Diane (1999). Kreativitätsförderung durch Bewegung: Zu Effekten eines spezifischen Bewegungsprogramms auf originelle Leistungen von Kindern. In: Ränsch-Trill, Barbara (Hrsg.). Kreativität. Phänomen - Begriff - sportwissenschaftli‐ che Aktualität. Sankt Augustin: Academia, 113-127. Lakoff, George (1987). Cognitive models and prototype theory. In: Neisser, Ulric (Hrsg.). Concepts and conceptual development: Ecological and intellectual factors in catego‐ rization. Cambridge: Cambridge University Press, 63-100. Lehnen, Katrin/ Schindler, Kirsten (2019). Orte, Räume, Rituale. Erkundung von Schreib‐ tischen und Arbeitsplätzen als Teil der Schreibforschung. In: Decker, Lena/ Schindler, Kirsten (Hrsg.). Von (Erst- und Zweit-)Spracherwerb bis zu (ein- und mehrsprachigen) Textkompetenzen. Duisburg: Gilles & Francke, 225-247. Lowenfeld, Viktor/ Brittain, W. Lambert (1975). Creative and Mental Growth. New York: Macmillan. Einführung 31 <?page no="32"?> Lüken, Miriam M. (2013). Muster und Struktur. Eine Betrachtung der Begriffe, ihrer Bedeutung und möglichen Schwierigkeiten im Umgang mit Ihnen. Grundschulunter‐ richt Mathematik, 60 (1), 4-7. Madlener, Karin (2016). Input optimization: Effects of type and token frequency ma‐ nipulations in instructed second language learning. In: Behrens, Heike/ Pfänder, Stefan (Hrsg.). Frequency effects in language: What counts in language processing, acquisition and change. Berlin/ Boston: De Gruyter, 133-173. Mooney, Ross L. (1963). A Conceptual Model for Integrating Four Approaches to the Identification of Creative Talent. In: Taylor, Calvin W./ Barron, Frank (Hrsg.). Scientific Creativity: Its Recognition and Development. New York: John Wiley & Sons, 331-340. Morek, Morek/ Heller, Vivien (2019). Bildungssprachliche Praktiken. In: Ballis, Anja/ Meixner, Johanna/ Heithorst, Meike (Hrsg.). Glossar „Sprache im Fach“. LMU Mün‐ chen. Abrufbar unter: https: / / epub.ub.uni-muenchen.de/ 61749/ 1/ Morek_Heller_Bild ungssprachliche_Praktiken.pdf (Stand: 10.03.2025). Morgan, Douglas N. (1953). Creativity today. Journal of Aesthetics & Art Criticism 12, 1-24. Mumford, Michael D./ Supinski, Elizabeth P./ Baughman, Wayne A./ Costanza, David P./ Threlfall, K. Victoria (1997). Process-based measures of creative problem-solving skills: V. Overall prediction. Creativity Research Journal 10 (1), 73-85. Neuber, Nils (2000). Kreativität und Bewegung. Sankt Augustin: Academia. Neuland, Eva (2008). Jugendsprache: Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto. Pape, Helmut (Hrsg.) (1994/ 2016). Kreativität und Logik. Charles S. Peirce und das philosophische Problem des Neuen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Plucker, Jonathan A./ Beghetto, Ronald A./ Dow, Gayle T. (2004). Why isn’t crativity more important to educational psychologists? Potentials, pitfalls, and future directions in creativity research. Educational Psychologist 39, 83-96. Poincaré, Henri (1913). The foundation of science. New York: Science Press. Pracht, Henrike (2010). Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch als Schemabil‐ dungsprozess. Bedingungsfaktoren der Schemaetablierung und -verwendung auf der Grundlage der „usage-based theory“. Münster: Waxmann. Ränsch-Trill, Barbara (1999). Kreativität - Über Möglichkeiten und Grenzen eines gegen‐ wärtig attraktiven Begriffs. In: Ränsch-Trill, Barbara (Hrsg.). Kreativität. Phänomen - Begriff - sportwissenschaftliche Aktualität. Sankt Augustin: Academia, 1-16. Riehl, Claudia (2019). Code-Switching. Abrufbar unter: https: / / epub.ub.uni-muenchen.d e/ 61752/ 1/ Riehl_Code-Switching.pdf (Stand: 31.03.2025). Roth, Gerhard (1999). Über mögliche neurobiologische Grundlagen von Kreativität. In: Ränsch-Trill, Barbara (Hrsg.). Kreativität. Phänomen - Begriff - sportwissenschaftli‐ che Aktualität. Sankt Augustin: Academia, 37-44. 32 Alexandra L. Zepter & Kirsten Schindler <?page no="33"?> Schindler, Kirsten (2023). «Manche wissen es ja auch, hört man»: Die Rolle wissenschaft‐ licher Zugänge und kreativer Methoden für die Reflexion des eigenen Schreibhan‐ delns. In: Ammann, Daniel/ Atorfer, Erik/ Bürki, Gisela/ Rickert, Alex (Hrsg.). Wissen‐ schaftlich erzählen - literarisch überzeugen. Kreativ schreiben in der Hochschule. Bern: hep, 66-86. Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (2017). TextBewegung. Sprach- und Bewegungs‐ aufgaben entwickeln, erproben und evaluieren. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Seifert, Nicole (2021). FrauenLiteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Spiel, Christiane (2003). Über das Erkennen von Kreativität. In: Berka, Walter/ Brix, Emil/ Smekal, Christian (Hrsg.). Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau, 117-147. Spinner, Kaspar H. (2008). Kreativer Deutschunterricht. Identität - Imagination - Kogni‐ tion. Seelze: Klett/ Kallmeyer. Steinhoff, Torsten (2007). Wissenschaftliche Textkompetenz: Sprachgebrauch und Schreibentwicklung in wissenschaftlichen Texten von Studenten und Experten. Tü‐ bingen: Niemeyer. Steinhoff, Torsten (2022). Die digitale Transformation des Schreibens. In: Knopp, Matthias/ Bulut, Necle/ Hippmann, Kathrin/ Jambor-Fahlen, Simone/ Linnemann, Mar‐ kus/ Stephany, Sabine (Hrsg.). Sprachliche Bildung in der digitalisierten Welt. Was wir in Zukunft wissen und können müssen. Waxmann: Münster, 143-159. Taylor, Calvin (1988). Various approaches to and definitions of creativity. In: Sternberg, Robert (Hrsg.). The nature of creativity. Cambridge: Cambridge University Press, 99-124. Tomasello, Michael (2003). Constructing a Language: A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Cambridge: Harvard University Press. Tomasello, Michael (2006). Konstruktionsgrammatik und früher Erstspracherwerb. In: Firscher, Kerstin/ Stefanowitsch, Anatol (Hrsg.). Konstruktionsgrammatik. Von der Anwendung zur Theorie. Tübingen: Stauffenburg. Torrance, E. Paul (1966/ 2018). Torrance Test of Creative Thinking: Norms and technical manual. Scholastic Testing Service, Illinois 60106-1617. Urban, Klaus K. (1993). Neuere Aspekte in der Kreativitätsforschung. Psychologie in Erziehung und Unterricht 40, 161-181. Urban, Klaus K./ Jellen, Hans G. (1995). Test zum schöpferischen Denken - Zeichnerisch (TSD-Z). Frankfurt am Main: Swets Test Services. Wygotski, Lew (1976). Psychologie der Kunst. Dresden: VEB Verlag der Kunst. Zepter, Alexandra L. (2013). Sprache und Körper. Vom Gewinn der Sinnlichkeit für Sprachdidaktik und Sprachtheorie. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Einführung 33 <?page no="35"?> Fokus Diskurspraktiken <?page no="37"?> Kreative Gesten: Lösungen für lexikalische Probleme bei vier- und fünfjährigen Kindern Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing Abstract: Sprachbegleitende Gesten tragen nicht nur zur Kommunikation bei. Sie gewähren auch Einblicke in Denkprozesse und offenbaren häufig kreative Lösungsansätze. In dem vorliegenden Beitrag untersuchten wir, wie vier- und fünfjährige Kinder in einer Interaktion die Ausführung einer unkonventionellen Handlung direkt korrigierten und später indirekt verdeutlichten. Dabei analysierten wir sowohl ihr lautsprachliches als auch ihr gestisches Verhalten. In unserem Datensatz, der ursprünglich Videoaufnahmen von 55 Kindern umfasste, fanden wir 51 Kinder, die auf ein von uns für die Analyse ausgewähltes Ereignis eingingen. Dabei verwendeten sie ikonische und deiktische Gesten, während sie ein lexika‐ lisches Problem lösten, um sich auf die unkonventionelle Handlungsaus‐ führung zu beziehen. Die Gesten variierten in Komplexität und Häufigkeit, abhängig von der verbalen Präzision der Kinder. Die Ergebnisse betonen die enge Verknüpfung zwischen Gesten, Sprache und kreativem Denken und liefern wertvolle Erkenntnisse über die multimodale Kommunikation bei Kindern. 1 Einleitung Wenn Menschen gestikulieren, scheinen manchmal hinter ihren Gesten beson‐ dere Lösungen zu stecken, die auf verbale Probleme angewendet werden. Dies ist insbesondere bei Kindern der Fall, die - noch nicht das passende Wort kennend - mit ihrer Zeigegeste bereits auf Ereignisse in der Welt hinweisen können. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Gesten von Kindern im Zusammenhang mit Kreativität näher zu betrachten. Da sie oft nicht alle sprachlichen Mittel zur Verfügung haben, nutzen sie Gesten, um auf kreative Weise ihre Gedanken auszudrücken und mit ihrer Umwelt zu interagieren. Die Erwartung ist zudem durch die These von Goldin-Meadow (2000: 231) gedeckt, die argumentierte, <?page no="38"?> 1 Nathan (2017) bezieht sich dabei auf die Verbindung von Motorik und Kognition. dass Gesten einen Einblick ins Denken („window to the mind“) erlaubten: Das, was nicht mit konventionellen Mitteln kommuniziert wird, scheint ungewöhn‐ lich und daher kreativ zu sein. Wenn Gesten das Denken verraten, dann kann durch sie das Ungewöhnliche und Kreative sichtbar werden. Nathan (2017) bekräftigt diesen Gedanken und schlägt vor, dass die Funktion der Gesten darin besteht, neue Lösungen zu kreieren. 1 Die Gestikforschung der letzten Jahre hat sich viel mit dem Zusammenhang von Sprache und Denken beschäftigt. Sie konnte klar zeigen, dass Lautsprache und Gesten zusammen ein integriertes kommunikatives System bilden. Wenn die Lautsprache nicht ‚in Fahrt kommt‘, dann stockt auch die Gestik (Graziano und Gullberg 2018; Rohlfing 2023). Diese Sachlage lässt vermuten, dass Gesten nicht in der Lage sind, Ideen zu erzeugen. Und doch stehen Gesten für eine Schnittstelle zu Denkprozessen, die außerhalb des Lautsprachlichen liegen. Im Folgenden fassen wir kurz den relevanten Stand der Forschung zusammen, um daraus Potenziale für die Untersuchung des kreativen Gestikgebrauchs bei Kindern in bestimmten Diskurssituationen abzuleiten. Bei unserer Untersu‐ chung waren wir insbesondere daran interessiert, kreative Gesten zu erkunden, wenn Kinder sich in einer kommunikativen Lage befanden, in der sie ein lexikalisches Problem lösen mussten: Sie wollten etwas Unkonventionelles illustrieren (z.B. wie ein Löffel falsch gehalten wird), wofür ihnen die richtigen Worte fehlten. Wir folgten der Annahme, dass Gesten und Lautsprache ein koordiniertes System bilden. Demnach müssten sich die kindlichen Gesten darin unterscheiden, was Kinder in der Lage waren zu verbalisieren: Ob sie ihr Anliegen bereits in konkrete sprachliche Bezeichnung fassen konnten oder sie es lediglich durch verbale Deixis, also zeigende oder hinweisende Ausdrücke wie „das da“ oder „so“, andeuten konnten. 1.1 Gesten im Spracherwerb: Koordiniertes System Das Zusammenspiel von Gesten und Lautsprache ist in der Ontogenese von Beginn an sichtbar. Wie in Rohlfing und Kern (2019) ausgeführt, zeigen Studien eindrucksvoll, dass bereits das kindliche Lallen (Reduplikation von Silben) im Alter von etwa sechs Lebensmonaten durch rhythmische Armbewegungen begleitet wird (Eijri und Masataka 2001), wodurch eine Koordination der beiden Modalitäten - Armbewegungen als motorische Modalität und Lautsprache als akustische Modalität - deutlich wird. Diese wird in der weiteren Entwicklung verstärkt. Im Alter von ungefähr neun Lebensmonaten sind Zeigegesten zu 38 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="39"?> beobachten, die Kinder in gemeinsamen Aufmerksamkeitsbezügen (Liszkowski und Tomasello 2011) zu unterschiedlichen Zwecken (Liszkowski et al. 2006) ausführen. Ihr Ausschlag fällt zunächst ohne Vokalisierungen aus, dann mit der prominenten Silbe zusammen (Esteve-Gibert und Prieto 2014). Die enge Koordination zeigt sich grundlegend im produktiven lautsprachli‐ chen Verhalten, egal ob dieses flüssig ist oder nicht. Die Untersuchung von Graziano und Gullberg (2018) deckte auf, dass sich Diffluenzen in beiden Modalitäten äußern: Stockt die Lautsprache, stockt die Gestik ebenfalls. Dieser Befund überrascht, weil den Gesten bis dahin auch eine kompensatorische Funktion zugeschrieben wurde. Dementsprechend sollten Gesten dann zum Einsatz kommen, wenn die Lautsprache stockte, um in einer anderen Modalität den Kommunikationsfluss zu ermöglichen. Diese kompensatorische Funktion wird jedoch zunehmend bezweifelt. Nach Graziano und Gullberg (2018) bele‐ gen auch weitere Studien die enge Zusammenarbeit der beiden Modalitäten im koordinierten System. Insbesondere sind dafür Einblicke interessant, die diese Zusammenarbeit in unterschiedlichen Settings vergleichen. Für diese Betrachtung ist es nötig, von einzelnen Äußerungen abzusehen und den Blick auf Diskurskompetenz zu weiten. Entwicklungsstudien, die diesen Vergleich leisten können, sind selten. Denn wie in Rohlfing (2023) dargelegt, bedeutet Diskurskompetenz nicht nur, größere Texteinheiten zu produzieren, sondern auch gemeinsam kommunikative Aufgaben zu erfüllen. Diskurskompetenz impliziert, je nach kommunikativer Aufgabe (ob es sich beispielsweise um eine Erklärung oder eine Erzählung handelt) den interaktiven und kognitiven Anfor‐ derungen zu entsprechen. Im Falle einer Erzählung bedeutet Diskurskompetenz, Ereignisse in einer textuellen Einheit für die Zuhörerschaft adäquat produzieren zu können. Als Gemeinsamkeit für das koordinierte System fand Rohlfing (2023), dass je ausführlicher vier- und fünfjährige Kinder sprachlich waren (d.h., je mehr Ereignisaspekte sie zur Sprache brachten), desto mehr ikonische Gesten benutzten sie. Auch diese Studie belegt, dass ein kommunikativer Fluss sowohl das Lautsprachliche als auch das Gestische betrifft. Dieser Befund lässt sich in eine Reihe von weiteren Studien einordnen, die herausfanden, dass kindliche Sprache flüssiger wurde, wenn die Kinder ermutigt wurden, zu gestikulieren (Kirk und Lewis 2017), ebenso wie frequentere Gesten im Zusammenhang mit kreativeren Geschichten standen (Laurent et al. 2020). Oben wurde Diskurskompetenz mit einer größeren Texteinheit in Zusam‐ menhang gebracht. In einer aktuellen Untersuchung weisen Kern et al. (2024) darauf hin, dass es jüngeren Kindern im Alter von vier Jahren schwerfällt, diese Einheit selbstständig zu produzieren. Daher werden sie von ihren Bezugsperso‐ nen unterstützt. Die Autor: innen beschreiben in ihrer Arbeit, wie viele der für Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 39 <?page no="40"?> eine Erklärung und eine Erzählung wichtigen Kernelemente Kinder selbststän‐ dig oder mithilfe von ‚Scaffolding‘, also der Unterstützung einer Bezugsperson, produzieren können. Interessanterweise korrelierte in dieser Untersuchung der Anteil der Selbstständigkeit mit der Anzahl der ikonischen Gesten, wohingegen der Anteil der durch Scaffolding unterstützten Kernelemente im negativen Zusammenhang mit ikonischen Gesten stand. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kinder ontogenetisch gesehen zwar häufig Gesten benutzen, bevor sie sich lautsprachlich äußern können, dies jedoch insbesondere die deiktischen Gesten betrifft. Die ikonischen Gesten bilden von Anfang an ein koordiniertes System mit der Lautsprache. Sie greifen semantische Merkmale der zugrunde liegenden Ereignisse auf, die im Prozess des Sprechens mental konstruiert werden. Auf dieser Basis der oben genannten Studienergebnisse können wir festhalten, dass das lautsprachliche Verhalten der Kinder eng mit dem gestischen Verhalten verknüpft ist: Je selbstständiger sie sich äußern können, desto mehr ist ihre Gestik dabei involviert. 1.2 Gesten und kreatives Denken Um es vorwegzunehmen: Es gibt wenige Studien, die sich damit beschäftigen, welche Kreativität in Gesten zum Ausdruck kommt. Viel mehr Studien beschäf‐ tigen sich mit einem Zusammenhang von kreativem Denken einerseits und dem gestischen Verhalten andererseits (eine Zusammenfassung von Kreativität und Intelligenz findet sich in Zepter und Schindler 2025: 2.1). Grundsätzlich werden zwei Typen des kreativen Denkens unterschieden: divergentes und konvergen‐ tes Denken. Während sich divergentes Denken auf eine Fähigkeit bezieht, viele neue und angemessene Ideen oder Lösungen für ein Problem zu generieren, bezeichnet konvergentes Denken einen Einblick in eine Problemlage, der sich aus einer Suche nach der besten Lösung ergibt (Hyusein und Göksun 2023). Hyusein und Göksun (2023) berufen sich auf einige Studien, die einen Effekt von Handbewegungen auf das konvergente Denken aufdeckten, und untersuchten in ihrer Studie das konvergente Denken bei Erwachsenen. Dabei präsentierten sie drei Begriffe (verbaler Test) oder drei Objekte auf dem Bildschirm (nichtver‐ baler Test) und forderten von Teilnehmenden eine weitere passende Assoziation ein. Ein Teil der Teilnehmenden wurde bei diesen Tests dazu ermutigt, Gesten auszuführen. Diese Intervention zeigte eine Wirkung auf das konvergente verbale, jedoch nicht auf das nichtverbale Denken, wenn bei den Personen die mentalen räumlichen Fähigkeiten („imagery skills“, Hyusein und Göksun 2023: 6) ausgeprägt waren. Ein Zusammenhang zwischen Gestikproduktion und mentalen räumlichen Fähigkeiten wurde ebenfalls von Boden et al. (2024) 40 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="41"?> für jüngere Kinder festgestellt, weshalb davon auszugehen ist, dass räumliche Fähigkeiten die Gestenproduktion und somit das kreative Denken modulieren. Eine weitere Studie von Hyusein und Göksun (2024), die wiederum die Wirkung von ikonischen Gesten auf das divergente Denken untersuchte, bediente sich eines ähnlichen methodischen Vorgehens. Die Autorinnen fanden heraus, dass die Anzahl der ikonischen Gesten die Einzigartigkeit der spontan assoziierten Ideen sowie die Anzahl der Details im divergenten Denken vorhersagte. Ideen wurden als einzigartig eingestuft, wenn 5 % oder gar nur 1 % der Befragten Ähnliches äußerten. In diesem Denken spielten die räumlichen Fähigkeiten keine relevante Rolle. Eine der wenigen Studien, die mit Kindern zum kreativen Denken und Gesten durchgeführt wurde, geht auf Kirk und Lewis (2017) zurück, die divergentes kreatives Denken testeten. Dafür präsentierten sie Kindern im Grundschulalter Bilder von Objekten und forderten sie auf, verschiedene Anwendungen damit zu nennen. Beispielsweise kann eine Zeitung dazu benutzt werden, Lebensmittel einzupacken. Insbesondere das divergente Denken umfasst nicht nur die Fähig‐ keit, ungewöhnliche, sondern auch einzigartige Ideen zu haben, weshalb es sich für die Untersuchung von Kreativität bei Kindern besonders eignet (Laurent et al. 2020). Die Analysen ergaben, dass Kinder spontan während des Tests gestikulierten und die Anzahl der Gesten mit der Anzahl von Ideen, jedoch nicht mit deren Einzigartigkeit zusammenhing. In einem weiteren Experiment wurden die Kinder zum Gestikulieren ermutigt, was tatsächlich auch zu einer größeren Anzahl von Gesten und Ideen führte. Der Versuch, bestimmte Aspekte des divergenten Denkens zu untersuchen, um die kindliche Kreativität zu erforschen, wurde auch in anderen Studien unternommen. In der Studie von Laurent et al. (2020) sollten Kinder im Alter von vier Jahren einen Videoclip nacherzählen. Die Kreativität der Geschichten wurde durch niedrigfrequente Wörter und Umstrukturierung der Ereignisse aus dem Videoclip erfasst. Die Autorinnen interpretierten die Ergebnisse als Unterstützung für die Annahme, dass Kinder, die mehr Gesten verwenden, größere Kreativität in der Aufgabe demonstrieren. Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass in bisherigen Studien der Zusammenhang zwischen Gesten und Kreativität meist rein kognitiv betrachtet wurde, ohne das integrierte kommunikative System näher zu berücksichtigen. In der vorliegenden Studie lag unser Fokus darauf, den Zusammenhang zwi‐ schen kreativem Denken und Gesten in der Interaktion sowie die Kreativität innerhalb der Gesten selbst zu untersuchen. Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 41 <?page no="42"?> 1.3 Kreative Gesten Für die Beschreibung kreativer Gesten ist es wichtig, den Begriff der seman‐ tischen Synchronisation zu definieren. Rohlfing (2019: 169) differenziert das „gemeinsame Auftreten von Geste und Lautsprache“ als „verstärkend oder er‐ gänzend“, je nachdem, ob der gleiche und somit sich verstärkende Inhalt sowohl in der Lautsprache als auch in der Geste oder unterschiedliche, aber sich relevant ergänzende Inhalte vermittelt werden. Eine Idee kann bereits gestisch zum Ausdruck kommen, während sie noch mit keinem passenden verbalen Ausdruck verbunden werden kann. Auf diese Weise und als „Mismatch“ bezeichnet zeigten Church und Goldin-Meadow (1986: 67-68), dass Kinder im Lernprozess ihr sich aufbauendes Wissen gestisch andeuten können: Dabei ergänzten Kinder ihre lautsprachlichen Äußerungen mit semantischen Inhalten in der Gestik. Bei kreativen Gesten hängt die Entscheidung, ob sich Inhalte ergänzen oder verstärken, vom sich bildenden Kontext ab (Kok und Cienki 2016). Darauf aufbauend ist ein Merkmal der meisten kreativen Gesten, dass sie oft bestimmte Aspekte des gesprochenen Diskurses spezifizieren (was mit Ergänzung einher‐ geht) oder hervorheben (was verstärkend wirkt), wobei alle nichtkodifizierten oder -konventionalisierten Gesten dann einer Kontextualisierung durch die Adressat: innen bedürfen (Poggi 2002, 2008). Cienki und Mittelberg (2013) liefern konkretere Merkmale kreativer Gesten: Merkmal Beschreibung Dynamik Kreative Gesten zeichnen sich im Vergleich zu normalen Gesten durch eine erhöhte Geschwindigkeit und Intensität aus. Gestenraum Kreative Gesten nutzen oft einen erweiterten Gestenraum, was sie von den gewohnten, begrenzten Gesten unterscheidet. Koordination mit körperlichen As‐ pekten Kreative Gesten integrieren häufig zusätzliche körperliche Ele‐ mente wie Körperverlagerungen und übertriebene Gesichtsaus‐ drücke, um die Geste zu ergänzen und deren kommunikative Wirkung zu verstärken. Tab. 1: Merkmale der kreativen Gesten nach Cienki und Mittelberg (2013) Entlang dieser Merkmale ermöglichen es kreative Gesten, komplexe Ideen auf eine einfallsreiche Weise und ad hoc zu vermitteln. Bisher wurden jedoch kaum Versuche unternommen, die Kreativität für das kindliche Gestenverhalten festzumachen. Daher lohnt es sich, zu explorieren, ob diese Dimensionen auch auf das kindliche Verhalten zutreffen. 42 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="43"?> 2 Methode 2.1 Teilnehmende Die Teilnehmenden der Studie waren insgesamt 55 Kinder im Alter von vier bis fünf Jahren. Für die vorliegende Untersuchung der kreativen Gesten bildeten wir eine Unterstichprobe. Diese ergab sich aus der Sichtung des Videomaterials, in der wir nach jenen Kindern Ausschau hielten, die ein bestimmtes demonstriertes Ereignis in ihrem Illustrieren (s. 2.2) an die Bezugspersonen aufgegriffen haben. Dieses Ereignis wurde von vielen Kindern thematisiert, was eine gute Vergleichbarkeit ermöglicht hat. Insgesamt haben 39 Kinder im Alter von ca. vier bis fünf Jahren (M-=-49,7 Monate; SD = 3,0) und zwölf Kinder im Alter von fünf Jahren (M-=-62,7 Monate; SD-=-2,1) das Ereignis aufgegriffen. 2.2 Ablauf und Stimuli Die Studie bestand aus vier Sitzungen. Während zwei der Sitzungen interak‐ tiv waren (erste und dritte Sitzung), wurde in zwei weiteren Sitzungen ein standardisierter Test durchgeführt und ein Jahr später wiederholt. Über die Testergebnisse berichten wir hier jedoch nicht, um dem explorativen Charakter der Untersuchung Vorrang zu geben. In den interaktiven Sitzungen wurden den Kindern drei kommunikative Aufgaben gestellt, bei denen sie ihre Diskurskompetenz in drei verschiedenen Genres demonstrieren konnten. Diese drei Genres waren Erklären, Erzählen und Illustrieren. Die Sitzung begann mit einer Aufwärmphase, in der die Erwachsenen die Einverständniserklärung ausfüllten und die Kinder mit der Experimentatorin an einem Bild malten. Weitere Details der Studie sind u.a. in Kern et al. (2024) zusammengefasst. In unseren hier ausgeführten Analysen konzentrieren wir uns auf das Genre Illustrieren, in dem die Kinder viele Gesten ausgeführt haben. In dem Genre ist es uns gelungen, recht viele Kinder vor die Problemlage zu stellen, eine unkonventionelle Handlung illustrieren zu wollen, ohne dafür aber die richti‐ gen Verbalisierungen abrufen zu können. Dieses Problem hat ihnen kreative Lösungen abverlangt. Auch für diese Aufgabe erfolgte zunächst ein Input, d.h., die Kinder haben etwas erfahren. Dafür setzten sich beide, sowohl die Experimentatorin als auch das Kind, an einen Tisch. Die Experimentatorin holte dann eine Handpuppe in Gestalt eines Hundes hervor, der behauptete, sehr erfahren im Zusammenleben mit Menschen zu sein und daher zu wissen, wie Menschen mit Dingen umgehen. Insgesamt wurden fünf Zusammenstellungen von Alltagsgegenständen auf Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 43 <?page no="44"?> konventionelle oder unkonventionelle Weise dargestellt. Um beispielsweise zu demonstrieren, wie man isst, hielt der Hund einen Löffel an der Laffe (nicht am Stiel) und versuchte, mit dem Stiel zu löffeln. Nach jeder Vorführung fragte der Hund das Kind, ob dies richtig sei, was nach einer Korrektur verlangte. In der Regel waren die Kinder über den Verstoß amüsiert. An dieser Stelle folgte die Studie zwei Versuchsbedingungen. In einer Bedingung wurden die Kinder aufgefordert, aufzustehen, zum Hund zu gehen und ihm zu zeigen, was er falsch macht. In der anderen Bedingung wurden die Kinder gebeten, den Hund von ihrer Sitzposition aus zu korrigieren. Die beiden Bedingungen wurden durch Studien motiviert, die zeigen, dass das Ausführen einer Handlung die Art und Weise beeinflussen kann, wie Menschen danach über dieses Ereignis gestikulieren (Hostetter und Alibali 2010). In den weiteren Analysen wird jedoch die erste Bedingung nicht fokussiert, da die Kinder hier die Gegenstände direkt nehmen und manipulieren durften (wie das Halten des Löffels). Solche objektmanipulativen Handlungen unterschieden sich von den Gesten in der zweiten Bedingung, in der die Kinder ohne reale Gegenstände auskommen mussten und so auf kreative Gesten zurückgriffen. Nach den fünf Zusammenstellungen legte die Experimentatorin den Hund weg, sodass er für das Kind weder sichtbar noch zugänglich war, und bat die Bezugsperson, den Raum wieder zu betreten. Die Bezugsperson setzte sich auf die Kissen auf dem Boden und bat das Kind, sich ebenfalls zu setzen und zu schildern, was gerade passiert war. Ab diesem Punkt ging es um eine Illustration. Eine typische Funktion dieses Genres ist es, einer dritten Person das unangemessene Verhalten einer anderen Person zu beschreiben, um das moralische Urteil zu teilen und sich der geteilten Werte und Gewohnheiten zu versichern (Rettig 2017). In unserem Fall ging es darum, wie man Gegenstände richtig benutzt. In der Tat konnten wir häufig beobachten, dass die verbalen und gestischen Darstellungen des unangemessenen Verhaltens des Hundes durch die Kinder Hand in Hand gingen mit dem Ausdruck moralischer Entrüstung auf ihrer Seite. Für die vorliegende Auswertung haben wir eine Handlung ausgewählt, die 51 Kinder thematisierten. Wir vermuten, die hohe Zahl der Kinder ist darin begründet, dass die meisten von ihnen den Verstoß dieser Handlung nachvollziehen konnten. 44 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="45"?> Handpuppe - Objekte für die Handlung Plastikteller mit einem Plastiklöffel (als Kinder‐ spielzeug) Vorgeführte Handlung Verbales Verhalten: Ja, ich habe gesehen, wie die Menschen Löffel halten, nämlich so! Nichtverbales Verhalten: Hund hält den Löffel auf der falschen Seite und löffelt etwas mit dem Stiel. Tab. 2: Verwendete Stimuli, die sowohl eine Korrektur wie auch eine Illustration einer unkonventionellen Handlung anstoßen sollten. 2.3 Gestenkodierung Auf der Grundlage der oben genannten Merkmale kreativer Gesten und ihrer Übertragbarkeit auf die Gesten von Kindern beschlossen wir, die Gesten haupt‐ sächlich unter den Perspektiven der Gestenart, der räumlichen Größe, der Neuartigkeit (unkonventionell) sowie der Ausdruckskraft (ob sie von Körper‐ sprache, übertriebener Mimik oder Geräuschen begleitet werden oder nicht) zu analysieren. Die Klassifizierung der Arten von Gesten basierte hauptsächlich auf dem Schema von McNeill (1992). Sie unterteilt die Gesten in ikonische, deiktische, metaphorische und Schlaggesten. Ikonische Gesten veranschaulichen semanti‐ sche Merkmale wie die Eigenschaften oder Bewegungen eines Objekts, während deiktische Gesten auf konkrete Objekte oder Orte hinweisen. Metaphorische Gesten wiederum vermitteln abstrakte Konzepte durch symbolische Bewegun‐ gen, wohingegen Schlaggesten dem Sprachrhythmus folgen und sich auf Struk‐ Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 45 <?page no="46"?> turen im Diskurs beziehen. In dieser Studie konzentrierten wir unsere Analysen auf die Untersuchung der ikonischen und deiktischen Gesten. Der Grund dafür ist, dass diese beiden Arten von Gesten eine evidente visuelle Ergänzung zur Sprache darstellen, indem sie auf konkrete semantische Merkmale der Entitäten oder auf die Entitäten selbst Bezug nehmen. Ikonische Gesten illustrieren Merkmale ihrer Referenten durch eine Kom‐ bination von Handform, Bewegung und Position. Verschiedene Handformen können unterschiedliche Bedeutungen vermitteln, selbst wenn die Positionen ähnlich sind (Cartmill et al. 2017). Eine detaillierte Analyse der Handformen kann wertvolle Einblicke in die gestische Kreativität von Kindern geben. Aus diesem Grund differenzierten wir die ikonischen Gesten weiter nach der Beziehung zwischen der Handform und den Merkmalen der referierten Entität (Cartmill et al. 2017): • Hand-als-Hand-Gesten (HH): Diese Gesten stehen für eine Hand oder ein Körperteil, die/ das eine Handlung ausführt, wie z.B. die Bewegung des Löffels. • Hand-als-Objekt-Gesten (HO): Die Hand bildet die Form einer Entität ab, etwa wie eine gewölbte Handfläche, die für die Laffe beim Löffel steht. • Hand-als-Neutral-Gesten (HN): Die Bedeutung ergibt sich aus der Bewe‐ gung der Zeigefinger, z.B. das Nachzeichnen eines Kreises für die Laffe beim Löffel. Die Größe der Gesten wurde nach dem EcoGest-Kodierungsschema (Abramov et al. 2021) erfasst, das insgesamt 25 Regionen umfasst, die den Gestenraum systematisch abdecken (siehe Abb. 1). Zuerst wurden die Gesten anhand ihrer Positionen kodiert. Anschließend erfolgte die Klassifikation nach der Anzahl der durchlaufenen Regionen: klein (innerhalb einer Region), mittel (über zwei Regionen) und groß (über drei oder mehr Regionen). 46 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="47"?> 2 Um den Datenschutz zu unterstützen, wurden die Bilder der Kinder mithilfe des KI- Bildgenerators „PromeAi“ erstellt. Basierend auf beschreibenden Eingaben wurden die Bilder generiert und anschließend manuell mit dem Programm „Paint“ weiterbearbeitet. Abb. 1: 2 Gestenraum nach Abramov et al. (2021) 3 Ergebnisse Im Rahmen unseres gewählten methodischen Vorgehens machten Kinder zunächst eine Erfahrung mit einer Handpuppe, die eine unkonventionelle Handlung durchführte. Darauf konnten Kinder unmittelbar in der Interaktion mit der Handpuppe reagieren und sie korrigieren — daraus ergab sich das Genre Korrigieren. Diese Erfahrung mit der Handpuppe insgesamt diente im Anschluss als Gesprächsanlass und Kinder illustrierten gegenüber ihren Bezugspersonen die zuvor gesehene ungewöhnliche Handlung — wir bezeichnen diesen Teil als das Genre Illustrieren. Für unsere Analyse wählten wir lediglich ein Ereignis aus, das die Handpuppe darstellte: Essen vom Teller mit einem Löffel, der verkehrt herum gehalten wird. Wir konnten vergleichen, wie Kinder es in zwei Genres aufgreifen: Im unmittelbaren Korrigieren und im indirekten Illustrieren, in dem ihrer Darstellung mehr Abstraktion abverlangt wurde. In jedem der beiden Teile (Korrigieren und Illustrieren) wurden die kodierten Gesten und Transkripte detailliert beschrieben, um zu untersuchen, wie die Kinder den Verstoß (non)verbal ausdrückten und wie die Modalitäten in der Semantik zusammenspielten. Anschließend analysierten wir die kodierten Gesten nach den Kriterien von Cienki und Mittelberg (2013), insbesondere im Kontext der Illustrationsaufgabe. Wir wollten herausfinden, welche kreativen Gesten die Kinder als Lösungsstrategien für lexikalische Probleme verwendeten. Zum Schluss verglichen wir die kommunikativen Erfahrungen der Kinder in beiden Teilen, um mögliche Übertragungseffekte zu überprüfen. Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 47 <?page no="48"?> Im Vergleich zu den anderen Genres in der Studie schnitt das Genre Illus‐ trieren am gestenreichsten ab. Wie bereits oben in 2.2 ausgeführt, besteht ein entscheidendes Element des Genres Illustrieren darin, das Unkonventionelle zum Ausdruck zu bringen, um daraufhin das moralische Urteil darüber zu teilen. Dementsprechend zeigten auch die Eltern oft Anzeichen von Mit-Entrüstung (Günthner 1995). Es war also wesentlich, dass Kinder sich auf die verkehrte Handlung der Handpuppe beziehen; die verbalen und nichtverbalen Mittel dafür sind in Tabelle 3 zusammengetragen. - Korrigieren Illustrieren Anzahl der Kinder, die dar‐ auf Bezug nahm 46 (34 Vierjährige, 12 Fünfjäh‐ rige) 20 (12 Vierjährige, 8 Fünfjährige) Verbalisierung des Verstoßes 1. Verneinung (verbal und nichtverbal durch Kopf‐ schütteln) 2. Teilkorrektur durch z.B. „Ja, ein kleines bisschen anders“ 3. Andeutung der Korrektur durch z.B. „andersrum/ falsch‐ rum/ falsch/ andere Seite/ herum (festhalten/ anfas‐ sen/ nehmen)“ 4. generelle Korrektur durch z.B. „du sollst so machen“, „der Löffel so“ 5. Detailkorrektur durch z.B. „An dem Stiel/ Löffel‐ stiel/ das Lange (halten)“ oder „das Runde muss nach vorne“ 1. Illustration durch Vernei‐ nung: „Der Hund hat den Löffel falsch/ nicht rich‐ tig/ falschrum/ rum/ andere Seite/ andersrum gehal‐ ten/ genommen“ 2. grobe Illustration durch deiktische Ausdrücke wie „ich hab dann gezeigt, dass man da oben anfasst“ 3. feine Illustration am Objekt, z.B. „Da so wo eigentlich essen soll da angefassen“ 4. feine Illustration der Hand‐ lung, z.B. „der hat mit dem Griff/ Stiel gegessen“ oder „Der hat nämlich mit dem Löffel, das Runde angepackt und dann mit das andere gegessen; mit so, das runde in die Hand und dann so“ Anzahl der Kinder, die ges‐ tikuliert haben 28 (23 Vierjährige, 5 Fünfjährige) 18 (12 Vierjährige, 6 Fünfjährige) Tab. 3: Zusammenfassung des gestischen und verbalen Verhaltens der Kinder, die im Folgenden für die Auswertung berücksichtigt werden. Wesentlich für das Illustrieren des ‚Verstoßes‘ (d.h. des Unkonventionellen) war auch die Interaktion mit der Experimentatorin, in der Kinder die Möglichkeit hatten, die Handpuppe in ihrem Verhalten zu korrigieren. Im folgenden Teil 48 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="49"?> 3 Die Ziffernfolgen in den IDs stellen die Versuchspersonen-Nummer (z.B. 1, 2, …) und das Alter (4 oder 5 Jahre) dar. Eine detaillierte Beschreibung der Gesten finden Sie im Anhang. gehen wir im Detail auf die in Tabelle 3 dargestellten Ergebnisse ein, beschreiben also die Mittel, die die Kinder benutzt haben, um den Verstoß gegenüber der Handpuppe/ der Experimentatorin sprachlich zu markieren. 3.1 Korrigieren in der Interaktion mit der Handpuppe Für die Korrektur haben sich Kinder verbal auf die Laffe (mit „das Runde“) oder den Stiel (mit „das Lange“) bezogen. Eine weitere Möglichkeit war, sich deiktisch darauf zu beziehen mit „hier“ oder „so“. 3.1.1 Korrigieren durch Markierung der richtigen Stelle Das Runde (Laffe) Insgesamt haben drei Kinder mittels einer ikonischen Geste die Laffe beim Löffel als die richtige Stelle für das Essen angedeutet (s. Tabelle 5 im Anhang). Es ist die runde Form, die dann in der Geste vermittelt wird. Eine Ausnahme bietet ein fünfjähriges Kind, das sich die linke Faust vor den Mund hält, um zu zeigen, wie der Hund den Löffel hält. Hier ist die Faust „das Runde“. Das Lange (Stiel, Griff) Fünf Kinder haben mittels ikonischer Geste den Stiel/ Griff eines Löffels ange‐ deutet (s. Tabelle 6 im Anhang). Während vier davon ein Name für den Löffelteil eingefallen ist, gebrauchte ein Kind mit „das Lange“ eine Umschreibung, die kontrastiv mit der Verneinung des Runden entsteht. Abb. 2: Vergleichsbeispiel (links: VP16_4 3 „das Runde“; rechts: VP16_5 „das Lange“) Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 49 <?page no="50"?> 3.1.2 Korrigieren mit deiktischen Markierungen Hier Drei Kinder haben einen deiktischen Ausdruck verwendet, während ihre iko‐ nische Geste ergänzende semantische Merkmale beisteuerte (s. Tabelle 7 im Anhang). So Insgesamt haben vier Kinder den Verstoß des Hundes durch das Adverb „so“ korrigiert (s. Tabelle 10 im Anhang). Obwohl das deiktische „so“ nicht das einzige Mittel ist, das sie gegenüber der Experimentatorin verwendeten, spielt es eine zentrale Rolle in ihrem Kommunikationsverhalten. Es wird oft zusammen mit Gesten genutzt, um präzise zu korrigieren, insbesondere wenn die sprachlichen Mittel begrenzt sind. Im folgenden Abschnitt werden einige Gesten analysiert, die den korrekten Griff und Gebrauch eines Löffels darstellen. Die meisten Gesten sind ikonisch und fallen unter die Kategorie ‚Hand-als-Hand‘. Diese Gesten ahmen Handlungen nach, z. B. das Halten eines Löffels oder das Bewegen eines Löffels. Eine Geste ist deiktisch, um auf den Löffel hinzuweisen. Es gibt auch eine Geste, die wir als eine Kombination aus ikonischen und deiktischen Gesten betrachten, da sie nicht nur den Gebrauch der Hand zum Halten des Löffels zeigt, sondern auch angibt, mit welcher Seite man den Löffel richtig hält (VP36_4). Die räumliche Größe der Gesten variiert von klein bis groß. Die meisten Gesten sind räumlich klein, viele Gesten befinden sich nur in der Brustposition oder beschränken sich auf die Hand und der Arm bewegt sich nicht (VP16_4, VP23_4, VP32_4), während die größte Geste drei Regionen durchläuft (VP37_4). Übertriebene Mimik oder andere körperliche Ausdruckselemente wurden in den analysierten Gesten nicht erwähnt und die meisten Gesten sind kon‐ ventionell und weniger kreativ, da sie einfache und alltägliche Handlungen nachahmen. Jedoch zeigen die Gesten, die komplexe Handbewegungen und detaillierte Nachahmungen enthalten, wie das Halten des Löffels mit größerem Gestenraum und gleichzeitiger Drehung des Handgelenks (VP36_4) oder die wiederholten Handbewegungen beim Schaufeln (s. Transkript 1), eine deutliche höhere Kreativität. Diese komplexeren Gesten regen durch ihre Detailtreue und Ausdruckskraft die Vorstellungskraft der Betrachtenden an und bieten eine klarere, anschaulichere Erklärung als einfache, konventionelle Bewegungen. 50 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="51"?> Transkript 1 (VP37_4): Schaufelnde Wellenbewegung (E = Experimenta‐ torin, K-=-Kind) 01 E | Wie funktioniert das denn dann? | ((zeigt mit der rechten Hand die Handpuppe und wiegt leicht hin und her)) || 02 K | Du MUsst das andersRUM | ((streckt ihre rechte Hand aus und dreht sie dann nach innen einen halben Kreis)) || 03 - genommen HALten; - 04 - | (und) dann SO machen; | ((hebt rechte Hand mit Greifgeste hoch, dann legt sie hin und hebt wieder hoch)) || 05 E |Ach-so, nochmal (--); | ((lässt die Handpuppe an der rechten Hand den Löffel ablegen)) || 06 - Wie GENAU muss ich dann jetzt? - 07 K | äh(.) so; | ((ergreift den „Löffel“ mit der rechten Hand)) || 08 - | DANN so; |((hält mit der rechten Hand den Löffel und schaufelt zweimal in einer wellenförmigen Bahn) || Abb. 3: Zweimal in einer wellenförmigen Bahn schaufeln Eine der Gesten des Kindes (s. Transkript 1), das den Löffel benutzte, ist wegen ihrer Auffälligkeit kreativ. Die wellenförmige Bewegung, die es mit dem Löffel macht, unterscheidet sich deutlich von den anderen Gesten, die den Löffel lediglich halten oder bewegen. Die Bewegung der Geste geht vom oberen rechten zum mittleren Bereich und zurück zum oberen rechten Bereich Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 51 <?page no="52"?> und zurück zur Mitte. Der große gestische Raum macht diese Geste auch ausdrucksstärker. 3.1.3 Korrigieren mittels „andersrum“ Bei der Verwendung der Wörter „andersrum“, „falschrum“, „(he)rum“, „anders“ und „andere Seite“ in der direkten Interaktion mit der Handpuppe zielten die Gesten darauf ab, die korrekte bzw. falsche Richtung des Löffels zu demonstrie‐ ren. Insgesamt verwendeten zwölf Kinder Gesten, um die Richtung des Löffels direkt vor der Handpuppe zu korrigieren. Dabei dominierten deiktische Gesten (elf von zwölf), ergänzt durch eine metaphorische Geste. Im Korrigieren lag der Fokus auf der Verdeutlichung der korrekten Richtung, was sich in der häufigen Nutzung deiktischer Gesten zeigte. Dabei lag der Fokus auf dem Zeigen der Richtung, wie beispielsweise das Zeichnen eines Halbkreises mit dem Zeigefinger oder das Drehen der Hand, um zu korrigieren (wie bei VP3_4, VP36_4, VP8_4, VP10_4, VP13_4). Diese Gesten scheinen konventioneller und weniger innovativ, da sie darauf abzielten, die spezifische Handlung des Hundes zu korrigieren. 3.2 Illustrieren der Tätigkeit Für das Illustrieren als Genre ist der Bezug auf das Hauptobjekt, vielmehr auf den entscheidenden Teil (Laffe oder Stiel) - so wie es die Kinder während des Korrigierens verbal realisiert haben - nicht ausreichend. Vielmehr muss die Handlung als Verstoß identifiziert werden. Dafür bezogen sich Kinder entweder auf den Hauptvorgang des Essens oder das Halten des Löffels, um zu visualisieren, dass sie unkonventionell ausgeführt wurde. 3.2.1 Illustrieren des Essens Insgesamt haben acht Kinder (sieben Vierjährige und ein fünfjähriges Kind) die Handlung des Essens illustriert (s. Tabelle 8 im Anhang). Die Gesten lassen sich zusammenfassend in zwei Hauptkategorien unterteilen: • Essen mit einer Hand oder mit beiden Händen in den Mund führen: Hier wurde häufig eine greifende Bewegung mit der Hand gemacht, die darauf hinweist, dass Essen aufgenommen wird. Solche Gesten waren meistens groß und umfassten Bewegungen, bei denen beide Hände beteiligt waren oder der Arm vollständig ausgestreckt wurde. Gelegentlich wurden sie auch durch Essgeräusche begleitet. Einige Kinder wiederholten die Handbewe‐ 52 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="53"?> gungen, um das Konzept des Essens deutlicher zu machen, beispielsweise das viermalige Einführen von Essen in den Mund (VP38_4). • Den Löffel halten und benutzen: Die Kinder ahmten oft das Halten und Benutzen eines Löffels nach, um zu zeigen, wie das Essen aufgenommen wird (VP16_4, VP21_5). Alle Gesten, die bei der demonstrierten Handlung des Essens beobachtet wurden, waren ikonische Gesten und lassen sich als ‚Hand-als-Hand‘ klassifizieren. Fast alle Gesten waren groß, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass der Vorgang des ‚Essens‘ komplex ist und aus verschiedenen Aspekten (Halten des Objekts, Bewegung des Objekts zum Körper hin, Verhalten des Körpers) besteht. Die weiten Bewegungen helfen, die unterschiedlichen Aspekte des Essensprozes‐ ses deutlicher darzustellen. Besonders hervorzuheben sind zwei Gesten (VP34_4), die das Essen darstellen und durch ihre Unkonventionalität auffallen: Zunächst zwei aufeinanderfolgende ikonische Gesten: Das Kind legte zu Beginn seine rechte Hand auf den Boden. Dann machte es eine Greifgeste mit den Fingern seiner rechten Hand vor der Brust und legte anschließend mit Essgeräuschen seine rechte Hand auf die Stirn. Schließlich brachte das Kind seine rechte Hand nochmal vor die Stirn und schlug leicht darauf (s. Transkript 2). Transkript 2 (VP34_4): Greifende Handbewegung zur Stirn (K = Kind, M-=-Mutter) 01 M hm_hm; - 02 K (und dann so) mit LÖFFEL gegessen; - 03 - | ((macht Essgeräusche/ Happen)) | ((macht eine Greifgeste mit der rechten Hand und legt die Hand auf die Stirn)) || 04 M ok; - 05 K | (---) | - - | ((bewegt ihre rechte Hand vom Boden zu der Stirn und schlägt darauf)) | Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 53 <?page no="54"?> Abb. 4: Die Hand mit einer Greifgeste auf die Stirn legen Diese beiden Gesten verbinden das Essen mit der Stirn, was ungewöhnlich erscheint. Im Gegensatz zu den typischen Gesten, bei denen das Essen direkt zum Mund geführt wird, wird hier die Stirn als Referenzpunkt verwendet. Es kann nur spekuliert werden, ob damit die Unkonventionalität des Essens (nicht in den Mund, sondern in die Stirn) abgebildet werden sollte. Die Gesten verlan‐ gen von dem: der Betrachtenden, die Bedeutung durch Kontext und mögliche zusätzliche Informationen (wie Essgeräusche) zu interpretieren. Beide Gesten verwenden auch einen relativ großen Raum. Die Hand wird von der Brust bzw. dem Boden zur Stirn bewegt, was eine größere räumliche Dimension abdeckt als eine normale Essensgeste. Nach unseren Kriterien für die Beurteilung kreativer Gesten sind sie klassische Beispiele für kreative Ausdrucksformen. 3.2.2 Illustrieren des Verstoßes mittels deiktischem „so“ Zehn Kinder haben auf den Verstoß mit dem deiktischen Adverb hingewiesen (s. Tabelle 9 im Anhang). Es besteht ein deutlicher semantischer Unterschied zwischen der Verwendung von „so“ im Korrigieren (s. 3.1.2) und im Illustrieren: Es wurden zahlreiche ikonische Gesten verwendet, um den spezifischen Prozess des Essens oder des Haltens eines Löffels nachzuahmen. Alle beschriebenen Gesten werden hauptsächlich als ‚Hand-als-Hand‘ kategorisiert. Die Größe des Gestenraums variierte von klein bis groß. Kleinere Gesten, wie das Greifen nach einem Löffel oder das Halten und Präsentieren eines Löffels, waren auf einen begrenzten Raum um den Körper konzentriert, während größere Gesten, wie das Ausstrecken der rechten Hand, um etwas vom Boden aufzuheben, einen erweiterten Bereich umfassten. Einige Gesten sind hier unkonventionell, weil sie spezifische und ungewöhnliche Bewegungen verwenden. Die Bewegungen sollen vermutlich die Unkonventionalität der Handlung abbilden und passen genau zu dem Adverb. Ein Beispiel ist das Kratzen auf dem Boden mit beiden Händen, um das Fressverhalten des Hundes nachzuahmen (VP8_4), was wo‐ möglich auf das ‚Unmenschliche‘ hinweisen soll. Darüber hinaus waren mehrere Gesten durch zusätzliche Ausdruckselemente wie begleitende Fressgeräusche 54 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="55"?> oder übertriebene, wiederholte Bewegungen gekennzeichnet (VP9_4, VP34_4, VP16_5). Die Einbindung dieser Ausdruckselemente verstärkt die kommunika‐ tive Wirkung der Gesten und macht die dargestellten Handlungen lebendiger und anschaulicher. Eine Geste von einem fünfjährigen Kind (VP16_5) könnte aufgrund ihrer Größe und der Ausdruckskraft als typische kreative Geste bezeichnet werden: Er hielt den Löffel mit der linken Hand und schaufelte sich das Essen vom Boden in den Mund, wobei er die Handlung zweimal wiederholte und dabei ein Geräusch machte, als würde er Suppe essen. Wie im Transkript 3 deutlich, endet die Bewegung mit einer unkonventionellen Handhaltung (Daumen außen, nicht am Mund), was die Unkonventionalität verdeutlicht. Dem Transkript ist jedoch auch zu entnehmen, dass diese Geste durch das verbale Verhalten „das Runde“ in ihrer Bedeutung vorbereitet wird, und die Geste deshalb nicht ganz als für das Adverb typisch angesehen werden sollte. Diese Geste lässt sich als ikonische Hand-als-Hand-Geste klassifizieren, die sogar in einer Hand-als-Objekt-Geste endet. Der Gestenraum ist groß und die Ausdruckskraft der Geste wird durch die begleitenden Essgeräusche erheblich verstärkt, was die visuelle Darstellung eindrucksvoller macht. Transkript 3 (VP16_5): Schaufelnde Essbewegung (K-=-Kind, M-=-Mutter) 01 M wie hat er das denn GEMACHT der Hund? - 02 K | ̊ hhh; (-) |((hebt die Hände über den Kopf)) || 03 - mit mit (.) - 04 - | so das runde | ((ballt mit der rechten Hand eine Faust und zeigt sie vor dem Gesicht)) || 05 - in die Hand und |dann SO ((macht Essgeräusche)); | - - - | ((schaufelt mit der Faust das Essen, Daumen bleibt außen)) | 06 - | ((macht Essgeräusche)); | ((schaufelt mit der Faust das Essen, Daumen bleibt außen)) || Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 55 <?page no="56"?> Abb. 5: Essen vom Boden schaufeln 3.2.3 Illustrieren durch Kontrastierung Ähnlich wie bei 3.1.3 gebrauchten Kinder die Wörter „falschrum“, „rum“, „andere“ und „andere Seite“ (s. Tabelle 11 im Anhang). Im Gegensatz zur Korrektur setzten die vier gestikulierenden Kinder in der Illustration gegenüber den Bezugspersonen in drei von vier Fällen ikonische Gesten ein, um die falsche Objekthaltung des Hundes nachzuahmen. Diese Gesten waren oft größer und weniger konkret, da sie nicht nur die falsche Richtung des Löffels, sondern auch die gesamte Handlung des Essens einbezogen. Ein typisches Beispiel dafür ist die folgende Geste (VP19_4): Das Kind stellte mit seiner linken Hand dar, dass es einen Löffel halten würde, und bewegte die Hand in einem Kreis (s. Transkript 4). Diese mittelgroße Geste kombiniert ikonische und deiktische Elemente. Einige Kinder verstärkten ihre Darstellung durch Fressgeräusche, um die Bewegungen des Hundes zu unterstreichen. Die fehlerhafte Objekthaltung des Hundes wurde jedoch selten detailliert dargestellt. Die Gesten waren oft grob und weniger konkret, weshalb aus ihnen nicht immer klar ersichtlich war, dass der Hund den Löffel verkehrt herum hielt. Transkript 4 (VP19_4): Kreisende Löffelbewegung (K-=-Kind, V-=-Vater) 01 V Habt ihr au: ch (.) was geGEssen? Oder (.) der HUnd? 02 K Der HUND hat was gegessen; - - 03 - und der wollte dann (-) mit dem LÖffel SO rum essen; 04 - | (---) | | (---) | - - ((zeichnet Kreis mit einer Greifgeste)) | | ((nimmt das Essen in den Mund)) | 05 - | so: , | ((breitet die linke Handfläche nach oben aus)) || 56 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="57"?> Abb. 6: Links: Kreisform mit der Greifgeste zeichnen; rechts: Essen in den Mund nehmen 3.3 Verbindung beider kommunikativen Erfahrungen: Korrigieren und Illustrieren Zum Schluss unserer Auswertung waren wir an Übertragungseffekten interessiert, die sich auf beide kommunikative Erfahrungen (direktes Korrigieren gegenüber der Handpuppe einerseits und Illustrieren für die Bezugspersonen andererseits) bezogen und vielleicht einander beeinflussten. Dafür haben wir Gesten und verbale Äußerungen der Kinder überprüft, die sie sowohl in der Interaktion mit der Experimentatorin als auch später bei Illustration für ihre Bezugspersonen verwendet haben. In Bezug auf die Gesten haben wir bei vier Kindern eine Übertragung feststellen können, um das falsche Verhalten des Hundes zu korrigieren: ID Geste und Beschreibung VP13_4 Das Kind wollte dem Hund zeigen, wie er den Löffel richtig halten sollte („andere Seite“), und verwendete dabei eine deiktische Geste. Mit beiden Händen zeichnete es gleichzeitig symmetrisch einen Halbkreis: Die linke Hand bewegte sich in einem großen Bogen von unten nach oben, während die rechte Hand sich in einem großen Bogen von oben nach unten bewegte. Später, als das Kind seinen Bezugspersonen das Verhalten des Hundes illustrierte, nutzte es eine ikonische Geste mit einer ähnlichen Form. Seine rechte Hand formte sich, als würde es einen Löffel halten, und drehte sich dann von innen nach außen, bis die Handfläche nach oben zeigte. VP16_4 Das Kind benutzte verschiedene ikonische Gesten, um sowohl dem Hund als auch den Bezugspersonen den runden Teil des Löffels zu zeigen. Während der Interaktion mit dem Hund zeichnete es mit der linken Hand zwei Kreise auf den Tisch, um die Unterseite des Löffels zu verdeutlichen. Danach drehte es beide Hände viermal auf und ab in einer kleinen Bewe‐ gung, um den runden Teil nochmal zu betonen. Später in der Illustration gegenüber den Bezugspersonen hielt das Kind den Löffel mit der rechten Hand und zeigte mit der linken Hand auf den runden Teil. Dabei drehte die linke Hand sanft einen kleinen Halbkreis, um die runde Form zu verdeutlichen. Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 57 <?page no="58"?> VP19_4 Das Kind korrigierte den Hund, indem es seine rechte Hand hob und mit dem Zeigefinger nach unten zeigte, um zu signalisieren, dass der Löffel auf der „anderen Seite“ benutzt werden sollte. Als es den Bezugspersonen illustrierte, wie der Hund den Löffel auf der falschen Seite verwendet hatte, hielt es mit der linken Hand den Löffel und bewegte ihn kreisförmig („Er wollte dann mit dem Löffel so rum essen“). VP39_4 Das Kind zeigte dem Hund zunächst die richtige Verwendung des Löffels, indem es die rechte Hand hob, als ob es etwas festhielt, und sie dann wieder sinken ließ. Anschließend griff das Kind den Löffel mit der rechten Hand und schaufelte zweimal Essen vom Tisch mit einer Wellenbewegung, um klarzumachen, wie man richtig isst („dann so“). Als es den Bezugspersonen illustrierte, wie der Hund den Löffel falsch hielt, hob es zuerst die rechte Hand vor das Gesicht, um die Löffelhaltung zu zeigen, dann schüttelte es die Hand viermal, um die falsche Bewegung des Löffelns zu veranschau‐ lichen. Tab. 4: Gesten zur Demonstration des richtigen Löffelgebrauchs durch das Kind In Bezug auf das verbale Verhalten haben wir überprüft, ob die Kinder ähnliche verbale Ausdrücke verwendeten. Die Ergebnisse ergaben einen Übertragungsef‐ fekt: Die Kinder nutzten in beiden Interaktionen ähnliche sprachliche Beschrei‐ bungen, um die korrekte Methode darzustellen und den falschen Gebrauch des Löffels durch den Hund zu illustrieren (z.B. „Er soll die andere Seite an der Hand“ vs. „Er hat die andere Seite genommen“; „Mit das Runde essen“ vs. „Der hat nämlich mit dem Löffel, das Runde angepackt und dann mit das andere gegessen“). 4 Diskussion Wir sind davon ausgegangen, dass Gesten und Lautsprache ein koordiniertes System bilden (zusammengefasst in z.B. Rohlfing und Kern 2019). Dementspre‐ chend kann eine Geste weniger eine Idee ‚herbeizaubern‘ als diese lediglich zum Ausdruck bringen. Um diese Logik zu überprüfen, haben wir uns Daten einer bereits stattgefundenen Studie genutzt und eine Unterstichprobe der Kinder gebildet, die sich bei einer kommunikativen Aufgabe - dem Genre Illustrieren - in einer kommunikativen Problemlage befanden: Sie wollten etwas Unkonventionelles illustrieren, ihnen fehlten aber die richtigen Worte dafür. Wir betrachten diese Untersuchung als Exploration kreativer Gesten, für die wir Kriterien aus Cienki und Mittelberg (2013) abgeleitet haben. Bezüglich kreativer Verwendung zeigen unsere Ergebnisse, dass vierbis fünfjährige Kinder ihre Gesten an das Genre anpassten, was auf eine differen‐ zierte Nutzung von Gesten als kommunikatives Werkzeug bereits in diesem 58 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="59"?> frühen Alter hinweist. Zwar konnten wir einige Beispiele von kreativen Gesten (nach Cienki und Mittelberg 2013) zeigen; inwiefern diese aber mit kreativen Denkfähigkeiten der Kinder zusammenhängen, kann hier nicht beantwortet werden. Dafür sind weitere Untersuchungen mit spezifischen Kreativitätstests für Kinder nötig. Insgesamt deuteten die für das Illustrieren verwendeten multimodalen Aus‐ drücke der Kinder in unterschiedlichen Detailgraden die Unkonventionalität einer Handlung an. In manchen Fällen griffen sie gestisch zu anderen Hand‐ lungen, nur um das Ungewöhnliche zu vermitteln, was zunächst unspezifisch erscheint und häufig vom deiktischen Adverb „so“ begleitet wurde. Die Ver‐ wendung des Adverbs ist insofern kreativ, als zunächst diese darzustellende Dissoziation vom Gewöhnlichen gefunden werden muss. Im Effekt zeigt es dem: der Gesprächspartner: in zwar nicht, was ungewöhnlich war, aber dass etwas ungewöhnlich war, was sicherlich ein wertvolles Produkt ist (Zepter und Schindler 2025). Wurde die Geste deutlicher (wie im Transkript 3), so ist dem Transkript zu entnehmen, dass der: die Sprecher: in hier bereits Worte für Details gefunden hat. Insofern sehen wir unsere Logik bestätigt. Im Rahmen unseres gewählten methodischen Vorgehens interagierten die Kinder zunächst mit einer Handpuppe, die sie direkt korrigieren konnten, bevor sie später ihren Bezugspersonen die Ausführung einer unkonventionellen Handlung illustrierten. Auf diese Weise konnten wir zwei Interaktionen mitein‐ ander vergleichen: eine direkte, in der die Kinder auf den Verstoß unmittelbar und korrektiv Einfluss genommen haben, und eine indirekte, in der ihnen mehr Abstraktion abverlangt wurde. Die Unterschiede in der Genauigkeit und Detail‐ tiefe zwischen den beiden Interaktionen - vor allem im Falle des begleitenden Ausdrucks „andersrum“ - spiegeln möglicherweise auch die unterschiedlichen Kommunikationsziele wider: Während das Korrigieren eine genaue und direkte Kommunikation erforderte, lag der Schwerpunkt beim Illustrieren eher auf der allgemeinen Darstellung des Vorgangs. Dadurch wurden die Gesten in der Illustration zwar komplexer und kreativer, jedoch häufig schwieriger nachzu‐ vollziehen. Durch den Vergleich wurde deutlich, dass sich die Sprecher: innen der Ressourcen bedienten, die ihnen zur Verfügung standen: In der Korrektur konnten Kinder direkt auf die Handlung mittels deiktischer Gesten verweisen, wodurch eine Geste in Zusammenspiel mit Entitäten in der Welt eine Ergänzung zur verbalen Äußerung bildete (vermutlich auch ‚Mismatches‘ ermöglichte); in der Illustration wiederum waren Abstraktionen vonnöten, weil Kinder auf Vergangenes referieren mussten, wodurch sich aber ein enges Zusammenspiel mit dem verbalen Verhalten ergab. Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 59 <?page no="60"?> Einige Kinder haben ein ähnliches Detail sowohl im Korrigieren als auch im Illustrieren aufgegriffen. Ein unerwartetes Ergebnis solcher Übertragung war, dass diese nur bei vierjährigen Kindern zu beobachten waren, während sie bei den fünfjährigen Kindern nicht auftraten. Neben der Tatsache, dass an unserer Studie mehr Vierals Fünfjährige teilnahmen, könnte der Befund auf mehrere entwicklungsbedingte Faktoren zurückzuführen sein: Der erste ist die abneh‐ mende Abhängigkeit des kommunikativen Verhaltens des Kindes von Gesten. Mit zunehmendem Alter und Sprachentwicklung wird die Abhängigkeit von Gesten als kommunikative Unterstützung geringer. Dies wird durch Arbeiten wie die von Rohlfing (2023) aber auch Clark (2016) sowie Iverson und Goldin- Meadow (2005) unterstützt, die zeigen, dass ältere Kinder besser in der Lage sind, abstrakte Konzepte verbal auszudrücken. Rohlfing (2023) betont aber, dass diese Beobachtung mit der Diskurskompetenz in bestimmten Genres zu tun hat. Ein weiterer Faktor könnte in der zunehmenden Kommunikationsfähigkeit der Kinder zur sozialen und pragmatischen Anpassung liegen. Tomasello (2008) diskutiert, wie Kinder soziale und kommunikative Fähigkeiten entwickeln, um sich effektiv mit unterschiedlichen Gesprächspartner: innen zu verständigen. Ältere Kinder beginnen, soziale Normen und die Erwartungen unterschiedlicher Kommunikationspartner: innen besser zu verstehen, und passen ihre Ausdrucks‐ weise entsprechend an. Das legt zum einen kulturelle Unterschiede nah und zum anderen könnte es erklären, warum sie bei der Illustration gegenüber den Bezugspersonen nicht dieselben Gesten wie bei der Experimentatorin verwenden. Aus den klaren gestischen Unterschieden, die wir zwischen dem Korrigieren und dem Illustrieren gefunden haben, ziehen wir aber den Schluss, dass das Genre bei der Betrachtung des (kreativen) Gestenverhaltens unbedingt berück‐ sichtigt werden sollte (s. auch Rohlfing 2023), weil es nicht nur interaktive, sondern auch kognitiv unterschiedliche Anforderungen in sich unterschiedlich entfaltenden Kontexten an die Ausführenden stellt. In unserem Beitrag finden sich somit nicht nur Beispiele für körperbasierte kommunikative Kreativität (wie sie von Zepter und Schindler (2025) eingeführt wird), sondern wir haben auch aufgezeigt, dass sich Kreativität innerhalb der kommunikativen Muster mit ihren typischen Anforderungen an Abstraktion des Hier und Jetzt entfaltet. Danksagung Das Schreiben des Manuskripts wurde durch finanzielle Unterstützung der DFG im Rahmen des SFBs 1646 möglich. Die berichtete Studie fand im Rahmen des Projektes EcoGest (RO 2443) statt. Wir danken allen teilnehmenden Kindern und Eltern. 60 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="61"?> Literatur Abramov, Olga/ Mertens, Ulrich/ Németh, Anne/ Rohlfing, Katharina/ Kern, Friede‐ rike/ Kopp, Stefan (2021). Annotation manual EcoGest: Gestures. Abrufbar un‐ ter: https: / / scs.techfak.uni-bielefeld.de/ ecogest/ assets/ AnnotationManual.pdf (Stand: 14.08.2024). Boden, Ulrich J./ Kern, Friederike/ Koutalidis, Sofia/ Abramov, Olga/ Németh, Anne/ Kopp, Stefan/ Rohlfing, Katharina J. (2024). Four-year-olds’ visuospatial cognitive abilities and their relation to observer-viewpoint gestures across three communicative tasks. Pragmatics & Cognition 31 (1), 49-96. Cartmill, Erica A./ Rissman, Lilia/ Novack, Miriam A./ Goldin-Meadow, Susan (2017). The development of iconicity in children’s co-speech gesture and homesign. Language, Interaction and Acquisition 8 (1), 42-68. Church, R. Breckinridge/ Goldin-Meadow, Susan (1986). The mismatch between gesture and speech as an index of transitional knowledge. Cognition 23 (1), 43-71. Cienki, Adam J./ Mittelberg, Irena (2013). Creativity in the forms and functions of spontaneous gesture with speech. In: Veale, Tony/ Feyaerts, Kurt/ Forceville, Charles (Hrsg.). The Agile Mind: A Multi-Disciplinary Study of a Multi-Faceted Phenomenon. Berlin/ Boston: De Gruyter Mouton, 231-252. Clark, Eve V. (2016). First Language Acquisition. 3. Aufl. Cambridge: Cambridge Univer‐ sity Press. Ejiri, Keiko/ Masataka, Nobuo (2001). Co-occurrence of preverbal vocal behavior and motor action in early infancy. Developmental Science 4 (1), 40-48. Esteve-Gibert, Núria/ Prieto, Pilar (2014). Infants temporally coordinate gesture-speech combinations before they produce their first words. Speech Communication 57, 301- 316. Goldin-Meadow, Susan (2000). Beyond Words: The Importance of Gesture to Researchers and Learners. Child Development 71 (1), 231-239. Graziano, Maria/ Gullberg, Marianne (2018). When speech stops, gesture stops: Evidence from developmental and crosslinguistic comparisons. Frontiers in Psychology 9, Art. 879. Günthner, Susanne (1995). Exemplary stories: the cooperative construction of moral indignation. VERSUS 70/ 71, 145-176. Hostetter, Autumn B./ Alibali, Martha W. (2010). Language, gesture, action! A test of the Gesture as Simulated Action framework. Journal of Memory and Language 63 (2), 245-257. Hyusein, Gyulten/ Göksun, Tilbe (2023). The creative interplay between hand gestures, convergent thinking, and mental imagery. Plos One 18 (4), e0283859. Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 61 <?page no="62"?> Hyusein, Gyulten/ Göksun, Tilbe (2024). Give your ideas a hand: the role of iconic hand gestures in enhancing divergent creative thinking. Psychological Research 88 (4), 1298-1313. Iverson, Jana M./ Goldin-Meadow, Susan (2005). Gesture paves the way for language development. Psychological Science 16, 368-371. Kern, Friederike/ Boden, Ulrich/ Németh, Anne/ Koutalidis, Sofia/ Abramov, Olga/ Kopp, Stefan/ Rohlfing, Katharina J. (2024). Preschool children’s discourse competence in different genres and how it relates to iconic gestures. Journal of Child Language 51 (3), 656-680. Kirk, Elizabeth/ Lewis, Carine (2017). Gesture facilitates children’s creative thinking. Psychological Science 28 (2), 225-232. Kok, Kasper I./ Cienki, Alan (2016). Cognitive grammar and gesture: Points of conver‐ gence, advances and challenges. Cognitive Linguistics 27 (1), 67-100. Laurent, Angélique/ Smithson, Lisa/ Nicoladis, Elena (2020). Gesturers tell a story creati‐ vely; non-gesturers tell it like it happened. Language Learning and Development 16 (3), 292-308. Liszkowski, Ulf/ Carpenter, Malinda/ Striano, Tricia/ Tomasello, Michael (2006). 12and 18-Month-Olds Point to Provide Information for Others. Journal of Cognition and Development 7 (2), 173-187. Liszkowski, Ulf/ Tomasello, Michael (2011). Individual differences in social, cognitive, and morphological aspects of infant pointing. Cognitive Development 26 (1), 16-29. McNeill, David (1992). Hand and mind: What gestures reveal about thought. Chicago: University of Chicago Press. Nathan, Mitchell J. (2017). One function of gesture is to make new ideas: The actioncognition transduction hypothesis. In: Church, R. Breckinridge/ Alibali, Martha W./ Kelly, Spencer D. (Hrsg.). Why Gesture? How the hands function in speaking, thinking and communicating. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Company, 175-96. Poggi, Isabella (2002). From a typology of gestures to a procedure for gesture production. In: Wachsmuth, Ipke/ Sowa, Timo (Hrsg.). Gesture and Sign Language in Human- Computer Interaction. GW 2001. Lecture Notes in Computer Science, Vol. 2298. Berlin/ Heidelberg: Springer, 231-242. Poggi, Isabella. (2008). Iconicity in different types of gestures. Gesture 8 (1), 45-61. Rettig, Heike (2017). Mit Beispielen argumentieren. Die Analyse von Beispielverwendung in der verbalen Interaktion. In: Meißner, Iris/ Wyss, Eva Lia (Hrsg.). Begründen - Erklären - Argumentieren: Konzepte und Modellierungen in der Angewandten Linguistik. Tübingen: Stauffenburg, 159-188. Rohlfing, Katharina J. (2019). Frühe Sprachentwicklung. Tübingen: Narr Francke At‐ tempto. 62 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="63"?> Rohlfing, Katharina J. (2023). Eine längsschnittliche Betrachtung des integrierten Gesten- Lautsprach-Systems in verschiedenen Diskurspraktiken. Sprache - Stimme - Gehör 47 (4), 199-204. Rohlfing, Katharina J./ Kern, Friederike (2019). Integration von Gesten und Lautsprache aus der Perspektive des Spracherwerbs. Mitteilungen des Deutschen Germanistenver‐ bandes 66 (4), 402-407. Tomasello, Michael (2008). Origins of human communication. Cambridge: MIT. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 63 <?page no="64"?> Anhang Tabelle 5: „Das Runde“ - Ausdruck Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID Genre - 1 Das Runde Sie zeichnete mit der linken Hand zwei Kreise auf den Tisch, um an‐ zuzeigen, dass die Unterseite des Löffels rund ist. Ikonisch HN mittel nein! so, hier, und dann mit das (..) Mit das runde das runde essen VP16_4 - Korrektur 2 Das Runde Er hielt den Löffel mit der rechten Hand, während die linke Hand ver‐ suchte, den runden Teil zu zeigen. Ikonisch HH / deiktisch groß ja, aber nicht RICHTIG gemacht. Der hat näm‐ lich mit dem Löffel, das runde ANgepackt und dann mit das ANDERE gegessen VP16_4 Korrektur - 3 Das Runde Er glitt mit dem rechten Zeigefinger in einer Kurve nach rechts oben. Deiktisch/ tracers groß nein! Das runde muss nach vorne VP30_4 - Korrektur - 4 Das Runde Er hielt sich die linke Faust vor den Mund, um zu zeigen, wie der Hund den Löffel hielt. Ikonisch HO klein mit mit so, das runde in die Hand und dann SO (machte Essgeräusche) VP16_5 Illustra‐ tion 64 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="65"?> Tabelle 6: „Das Lange“ - Ausdruck Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID Genre 1 Das lange Er legte Zeigefinger und Daumen je‐ der Hand zusammen und bewegt sie von der Mitte aus nach links (linke Hand) und rechts (rechte Hand) auf den Tisch, um einen langen Löffel‐ stiel zu zeichnen. Ikonisch HO groß nein, er macht falsche Runde; nein, das Lange! VP16_5 - Korrektur - 2 Am Stiel Sie ergriff den Löffel mit der linken Hand, streckte den Arm aus, um den Löffelstiel zu zeigen. Ikonisch HH groß JA und mit die LÖFFEL wo man an Stiel wo man Stiel wo man isst. VP9_4 Illustra‐ tion - 3 An dem Stiel Er zog mit dem linken Zeigefinger eine gerade Linie von links nach rechts und wieder zurück. Deiktisch/ Tracers groß andere Seite festhalten, an dem Stiel VP12_4 Korrektur - 4 Löffelstiel Er ahmte nach, wie er den Löffel mit der rechten Hand nimmt und ihn zur linken Hand bewegte. Ikonisch HH klein Nein (Kopf schütteln). Nimm den Löffel an der an‐ deren Seite, dann Löffel‐ stiel VP26_5 Korrektur - 5 Am Griff Sie streckte ihren rechten Arm in die Luft, um den Löffel zu ergreifen und ihn vor sich zu halten. Ikonisch HH groß …und DANN hab ich ihm das geZEIGT, nämlich so am GRIFF, und dann (machte Schlürlaute) VP9_4 Illustra‐ tion 6 Mit dem Griff Sie legte ihre rechte Hand vor ihren Bauch, als ob sie den Griff eines Löf‐ fels halten würde. Ikonisch HH mittel So, der mit dem mit dem GRIFF, hat hat der hat mit dem GRIFF geGEssen. VP39_4 - Illustra‐ tion 7 Mit dem Griff Sie zeigte mit ihrer rechten Hand vor ihrem Gesicht und demonstrierte, wie man einen Löffel mit der rechten Hand hielt. Ikonisch HH klein So, der mit dem mit dem GRIFF, hat hat der hat mit dem GRIFF geGEssen. VP39_4 Illustra‐ tion Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 65 <?page no="66"?> Tabelle 7: „Hier“ - Ausdruck Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID Genre 1 hier Sie ballte ihre rechte Faust mit der linken Faust, um den Löffelstiel zu zeigen. Ikonisch links: HO rechts: HH klein hier, und dann mit das (..) VP16_4 Korrektur 2 hier Ihre rechte Hand nahm den Griff des Löffels, mit dem sie versuchte, das Essen zu schaufeln. Ikonisch HH klein … dass der und hier ei‐ gentlich anfassen,-… VP38_4 Illustra‐ tion 3 Mit hier Sie legte ihre Hände auf die Brust und versuchte, mit beiden Händen die Form des runden Teils des Löffels zu zeichnen. Ikonisch HH mittel der hat so SO gegessen, mit mit hier wo wo man die Suppe ESSEN kann. VP39_4 - Illustra‐ tion 66 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="67"?> Tabelle 8: „Essen“ in der Illustration - Ausdruck Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID 1 Essen (Essgeräu‐ sche) Sie benutzte beide Hände, um das Essen in den Mund zu nehmen. Ikonisch HH groß und DANN (machte Essenge‐ räusche) hat der mit dem mit dem mit der Rückseite geges‐ sen. VP8_4 2 essen Er nahm mit der rechten Hand das Essen vom Teller. Ikonisch HH groß Er wollte Tee essen, aber er hat andere Seite genommen. VP13_4 3 essen Sie nahm das Essen in den Mund, wobei sie den Löffel in der rechten Hand hielt. Ikonisch HH groß (..) Mit das runde das runde essen VP16_4 - 4 essen Sie steckte sich Essen in den Mund. Ikonisch HH groß Er wollte dann mit dem Löffel SO rum essen VP19_4 - 5 essen Sie machte eine greifende Geste mit den rechten Fingern und legte ihre rechte Hand auf die Stirn. Ikonisch HH mittel und der hat so mit dem Essen hier HINgeschmiert VP34_4 6 essen (Essgeräu‐ sche) Zu Beginn legte sie ihre rechte Hand auf den Boden. Mit dem Ge‐ räusch des Essens brachte sie ihre rechte Hand vor die Stirn. Ikonisch HH groß und dann so mit LÖFFEL gegessen, (machte Essgeräu‐ sche) VP34_4 7 (Essgeräu‐ sche) Sie wiederholte viermal die Hand‐ lung, das Essen mit der rechten Hand in den Mund zu nehmen. Ikonisch HH groß mit der Zunge (machte Fress‐ geräusche) VP34_4 8 essen Sie schöpfte mit dem Löffel mit der rechten Hand Wasser und wieder‐ holte dies viermal, bevor sie das Essen in den Mund nahm. Ikonisch HH groß …und hier mit die SUPPE es‐ sen,-… VP38_4 - Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 67 <?page no="68"?> 9 essen Sie streckte ihren rechten Arm aus und drückte ihren rechten Zeige‐ finger und Daumen zusammen, um etwas zu greifen. Ikonisch HH klein der hat so SO gegessen, mit mit hier wo wo man die Suppe ESSEN kann. - VP39_4 10 Essen - Sie stand auf, hob die rechte Hand vom Tisch und schöpfte die Suppe in den Mund. Ikonisch HH groß der hat so SO gegessen, mit mit hier wo wo man die Suppe ESSEN kann. VP39_4 - 11 essen Sie benutzte ihre linke Hand, um das Essen mit dem Löffel aus der Schüssel zu nehmen. Ikonisch HH groß Er hat den LÖFFEL falschrum gegessen; VP21_5 68 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="69"?> Tabelle 9: „So“ als Darstellung des Verstoßes (zur Veranschaulichung der Essweise oder Löffelhaltung des Hundes) - Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID Genre 1 Sie zeigte die Methode, mit der der Hund das Futter aufnimmt, indem sie beide Hände auf den Boden kratzte. Ikonisch HH klein Er hat gelernt, mit mit Löffel zu essen. Aber das war nicht RICHTIG! Gucke, der hat den SO genommen. SO VP8_4 - Illustration - 2 Sie griff erst mit der linken, dann mit der rechten Hand nach dem Löffel in der Luft. Ikonisch HH klein Der hat mit DIE ihn einfach dann SO anfassen so ge‐ macht (machte Fresslaute). VP9_4 - Illustration - 3 Sie streckte ihre rechte Hand aus, nahm etwas vom Boden auf und steckte es in ihren Mund. Ikonisch HH groß mit so .. (machte Essgeräu‐ sche) VP34_4 - Illustration - 4 Sie hob ihre rechte Hand vor ihr Gesicht, um zu zeigen, wie der Hund den Löffel hielt. Ikonisch HH klein und dann hat er sich so den Löffel genommen -- VP37_4 - Illustration - 5 Sie hob die rechte Hand vor sich und schüttelte sie viermal. Ikonisch HH mittel und dann so gelöffelt VP37_4 - Illustration - 6 Sie hielt sich die Hände vor den Bauch, als ob sie etwas festhalten würde. Ikonisch HH klein Der hat den Löffel SO FESTge‐ halten,-… VP38_4 - Illustration - 7 Sie hob ihre rechte Hand und kniff die Finger zusammen, um zu zei‐ gen, wie der Hund den Löffel hielt. Ikonisch HH klein der hat so SO gegessen,-… VP39_4 - Illustration - Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 69 <?page no="70"?> 8 Er hielt den Löffel mit der linken Hand und schaufelte sich das Essen vom Boden in den Mund, wobei er die Handlung zweimal wiederholte und dabei das Geräusch machte, als würde er beim Essen Suppe essen. Ikonisch HH groß Mit mit so das runde in die Hand und dann SO (machte Essgeräusche * 2-mal) - VP16_5 Illustration - 9 Er hielt den Löffel mit beiden Hän‐ den und drehte ihn im Uhrzeiger‐ sinn, um zu zeigen, wie ein Hund einen Löffel benutzen sollte. Ikonisch HH -/ deiktisch mittel so, gelöffelt; VP12_5 - Illustration 70 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="71"?> Tabelle 10: Korrektur des Verstoßes mittels „so“ (zur Veranschaulichung des richtigen Essens oder der korrekten Löffelhaltung) - Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID Genre 1 Sie streckte sich und demonstrierte mit ihrer rechten Hand, wie man den Löffel richtig hielt. Ikonisch HH klein so,.. VP16_4 Korrektur 2 Sie zeigte mit der linken Hand schnell auf den Löffel. deiktisch klein So. VP23_4 - Korrektur - 3 Er hob seinen rechten Arm, die Handfläche nach unten, um etwas zu greifen. Ikonisch HH klein Du so Löffel! So. Ja, so! Ja! Ich! VP32_4 - Korrektur - 4 Er drückte die Finger seiner rech‐ ten Hand zusammen, als würde er etwas halten, und drehte dann sein rechtes Handgelenk einen halben Kreis. Ikonisch HH / deiktisch mittel Ja, ich mache, ich halte den nicht so, sondern so anders‐ rum VP36_4 - Korrektur - 5 Sie hob die rechte Hand, als ob sie etwas halten würde, dann legte sie sie nieder, dann wieder hoch. Ikonisch HH groß NEIN. Du musst das andersrum ge‐ nommen halten, und dann so machen; und so, dann so VP37_4 - Korrektur - 6 Sie ergriff den Löffel mit ihrer rechten Hand. Ikonisch HH mittel NEIN. Du musst das andersrum ge‐ nommen halten, und dann so machen; und so, dann so VP37_4 - Korrektur - Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 71 <?page no="72"?> 7 Sie hielt den Löffel mit der rechten Hand und schaufelte zweimal das Essen vom Tisch, wobei ihre Hand‐ geste einen wellenförmigen Weg bildete. Ikonisch HH - groß NEIN. Du musst das andersrum ge‐ nommen halten, und dann so machen; und so, dann so VP37_4 - Korrektur - 72 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="73"?> Tabelle 11: Korrektur des Verstoßes mittels „andersrum, falschrum, (he)rum, anders, andere (Seite)“ (1) „andersrum, falschrum, (he)rum“ - Ausdruck Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID Genre 1 andersrum Er zeichnete mit dem rechten Zeigefinger einen Halbkreis im Uhrzeiger‐ sinn, um anzuzeigen, dass der Löffel in der falschen Richtung liegt. deiktisch mittel - nein, andersrum VP3_4 Korrektur 2 andersrum Er drehte die rechte Hand um, um erneut zu zeigen, dass der Löffel in die fal‐ sche Richtung zeigt. deiktisch klein - nein, andersrum VP3_4 Korrektur 3 andersrum Zu Beginn war seine linke Hand unten und seine rechte Hand oben. Er ko‐ ordinierte seine linke und rechte Hand und drehte seine Handgelenke gleich‐ zeitig um einen halben Kreis. deiktisch links: groß rechts: groß JA JA Ja, ich mache, ich halte den nicht so, sondern so anders‐ rum VP36_4 Korrektur 4 andersrum Sie streckte ihre rechte Hand auf dem Tisch aus und zeigte mit dem Zeige‐ finger in Richtung des Löf‐ fels. deiktisch klein NEIN! Andersrum! Jein, aber, da da, aber der liegt, kann kann das, kannst du VP39_4 Korrektur 5 falschrum Sie benutzte den rech‐ ten Zeigefinger, um dar‐ auf hinzuweisen, dass der Hund falsch war. deiktisch klein - FALSCHRUM! ja. VP7_4 Korrektur Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 73 <?page no="74"?> 6 falschrum Sie legte ihre linke und rechte Hand vor die Brust und schüttelte sie zweimal auf und ab, um zu betonen, dass der Hund falschlag. beat mittel Dann hat er die Ga‐ bel FALSCHrum; Und dann ähm die Gabel so in _en Mund gesteckt FALSCHrum; VP25_5 - Illustration 7 herum Er nahm mit den Fingern der linken Hand von sei‐ nem linken Ohr zurück. deiktisch groß - das musst du mit dem herum ma‐ chen VP14_4 - Korrektur 8 rum Ihre linke Hand schien ei‐ nen Löffel zu halten, und sie bewegte ihre Hand in einem Kreis. Ikonisch HH / deiktisch mittel Er wollte dann mit dem Löffel SO rum essen VP19_4 - Illustration 74 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="75"?> (2) „anders, andere (Seite)“ - Ausdruck Beschreibung Gestenart Größe Transkript ID Genre 1 anders Die Finger der rechten Hand sind zusammengeballt (wie das italienische Emblem) und kreisförmig gedreht. deiktisch klein nein. Er soll an‐ ders nehmen VP8_4 Korrektur 2 andere Seite Seine linke Hand ist wie eine Blume geformt und er dreht sich einen halben Kreis. deiktisch klein nö, weil du andere Seite bist. VP10_4 Korrektur 3 andere Seite Er stützte sein Kinn halb mit der linken Hand ab und zeigte mit dem Zeigefinger in Richtung des Löffels. deiktisch klein andere Seite fest‐ halten VP12_4 Korrektur 4 andere Seite Er zeichnete mit der linken und rechten Hand gleichzei‐ tig einen Kreis (linke Hand nach oben, rechte Hand nach unten). deiktisch groß nein, er soll die an‐ dere Seite an der Hand VP13_4 - Korrektur - 5 andere Seite Er breitet seine rechte Hand‐ fläche aus, um zu zeigen, dass der Hund den Löffel in die falsche Richtung hält. Ikonisch HO klein Und er hat den Löf‐ fel die andere Seite genommen und da kommt nichts raus VP13_4 - Illustration 6 andere Er benutzte seine rechte Hand, um das Essen mit dem Löffel vom Brett zum Mund zu führen. Ikonisch HH groß ja, aber nicht RICH‐ TIG gemacht. Der hat nämlich mit dem Löffel, das runde ANgepackt und dann mit das AN‐ DERE gegessen VP16_4 Illustration Kreative Gesten als Lösungen für lexikalische Probleme 75 <?page no="76"?> 7 andere Seite Sie hob ihre rechte Hand und zeigte mit dem rechten Zei‐ gefinger nach unten. deiktisch mittel andere Seite, und dann, und dann der Löffel daran VP19_4 - Korrektur 8 anders er klopfte seine Hände zu‐ sammen, um anzuzeigen, dass „etwas ein bisschen an‐ ders ist“. metaphorisch klein ein klein bisschen anders; VP29_4 - Korrektur 9 andere Seite Er streckte die Arme aus und zeigte mit den Zeigefingern nach vorne. deiktisch klein auf der anderen Seite ; VP15_5 Korrektur 76 Luyao Wang & Katharina J. Rohlfing <?page no="77"?> 1 Wir danken Heike Behrens, Holger Diessel, Laura Guse, Laura Patrizzi sowie den Herausgeberinnen herzlich für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes. Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen: Lern- und Abstraktionsprozesse in Spracherwerb und Sprachvermittlung aus gebrauchsbasierter Perspektive Eva Belke & Friederike von Lehmden für Gerlind Belke (1939-2024) Abstract: Sprachspiele unterliegen impliziten Regeln des Spiels mit Be‐ deutung und/ oder Form, die einen Rahmen für kreative Abwandlungen eröffnen. Das ermöglicht es Kindern vom frühen Spracherwerb bis in die Grundschule und Sekundarstufe I hinein, Sprachspiele als Vorlagen für ihre eigenen Äußerungsbedürfnisse zu nutzen, um eigene Texte zu generieren. Dies kann den Erwerb sprachlicher Muster systematisch fördern, denn für den produktiven Umgang mit Sprachspielen ist die Balance zwischen Kreativität einerseits und Musterorientierung anderer‐ seits konstitutiv. Die Generative Textproduktion, ein didaktisches Konzept für den Deutschunterricht in der Grundschule und Sekundarstufe I sowie für die Sprachförderung in Kita und Vorschule, setzt Sprachspiele gezielt als Ausgangspunkt für die Sprachvermittlung ein. Ziel des vorliegenden Beitrags ist eine psycholinguistische Einordnung der Generativen Textpro‐ duktion auf Basis einer gebrauchsbasierten konstruktionsgrammatischen Modellierung linguistischer Strukturen und ihres Erwerbs. Damit machen wir einen Aufschlag zu einer umfassenden konstruktionsgrammatischen Beschäftigung mit Sprachspielen, die u.E. aus theoretisch-linguistischer, psycholinguistischer und didaktischer Perspektive gewinnbringend ist. 1 <?page no="78"?> 2 Wir verwenden hier und nachfolgend einen breiten Muster(haftigkeits)begriff in Anlehnung an Zepter und Schindler (2025: 20); für eine umfassende Diskussion s. Stein und Stumpf (2019). 3 Der Begriff generativ im Namen des Konzepts (ursprünglich: „Generatives Schreiben“, G. Belke 2003) geht zurück auf Links (1983) Überlegungen zu einer generativen 1 Einführung An understanding of language play […] may […] substantially alter our notions of what [the capacity to communicate] involves. It shows us that the capacity to manipulate form without reference to meaning, to allow alternative realities to emerge from that activity, and to use both formal patterning and fictional worlds for competition, collaboration and creative thinking, is as essential to the development and deployment of communicative competence as the ability to conduct practical transactions and communicate facts. (Cook 2000: 182) Im Zentrum unseres Beitrags steht das Spiel mit Sprache (language play) im Sinne Cooks (ebd.). In Hinsicht auf das „Spannungsund/ oder das Balancever‐ hältnis zwischen Kreativität und Musterorientierung“ (Zepter und Schindler 2025: 26) ist das Spiel mit Sprache eine Domäne, für die die Balance zwischen Kreativität und Musterorientierung 2 konstitutiv ist (Goldberg 2019). Denn mit Blick auf die soziale Funktion des Sprachspiels („competition [and] collabora‐ tion“, Cook 2000: 182) ist es insofern auf Kreativität und Musterorientierung angewiesen, als Form, Bedeutung oder beide implizit die Regeln vorgeben, denen das Spiel unterliegt. Unter anderem diese Eigenschaft erlaubt es Kindern wie Erwachsenen, das Sprachspiel auch für kreatives Denken zu nutzen (ebd.). Unter dem Begriff Sprachspiele fassen wir im Folgenden mit E. Belke und G. Belke (2006: 192) musterhafte „Texte […], die in spielerischer und nicht primär instrumentell-kommunikativer Absicht geäußert werden“. Das beinhal‐ tet insbesondere poetische Texte (Kinderreime, Verkehrte-Welt-Geschichten, Abzählverse u.v.m.; vgl. auch Haueis und Lösener 2022), aber auch Lieder und einige hoch strukturierte Bilderbuchtexte. Die dem Sprachspiel zugrunde liegenden Regeln werden subjektiv als einfach empfunden (G. Belke 2019) und sind implizit erfassbar. Das eröffnet Kindern, die das Deutsche als Erst- oder Zweitsprache erwerben, viel Spielraum, die Sprachspiele als Vorlagen für ihre eigenen Äußerungsbedürfnisse zu nutzen, eigene Texte zu generieren und so die in den Sprachspielen enthaltenen sprachlichen Muster zu erwerben. Dies macht sich die Generative Textproduktion zunutze (G. Belke 2019), ein didaktisches Konzept für den Deutschunterricht in der Grundschule und Sekundarstufe I, in dem Sprachspiele als Ausgangspunkt für die Sprachvermittlung eingesetzt wer‐ den. 3 Denn Sprachspiele präsentieren komplexe grammatische Phänomene, wie 78 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="79"?> Texttheorie. Diese eher grundsätzliche Rezeption generativ-linguistischer Ansätze ist vereinbar mit konstruktionsgrammatischen Ansätzen, die ebenfalls postulieren, dass aus abstrakten Schemata gänzlich neue (literarische) Äußerungen entstehen können (s. Kapitel 2). Links Theorie erscheint aus heutiger Sicht sogar besser vereinbar mit kon‐ struktionsgrammatischen als generativen Ansätzen, u.a., weil er bei der Beschreibung der literarischen Qualität auch Ähnlichkeitsbeziehungen auf Laut- und Bedeutungs‐ ebene als strukturgebende Größen annimmt und im Zusammenhang mit Interdiskursen gerade der Verschränkung von u.a. „syntaktische[n] Anordnungsschemata“ (ebd.: 16) seines Erachtens eine zentrale Rolle zukommt. beispielsweise die Nominalflexion des Deutschen, deren Erwerb u.a. durch den erheblichen Formenzusammenfall in und zwischen den Flexionsparadigmen erschwert wird, in hoch strukturierter Form. Sie lenken so die Aufmerksamkeit der Kinder auf die für den Erwerb nutzbringenden Gruppierungen und Kon‐ traste (s. Kapitel 3) und können somit einen wichtigen Beitrag zur Festigung bildungssprachlich relevanter grammatischer Fähigkeiten leisten. Die Verwen‐ dung der in Sprachspielen enthaltenen sprachlichen Muster zum Ausdruck eigener Äußerungsbedürfnisse kann Schulkinder darüber hinaus für Textmuster sensibilisieren und ihnen Formen der Musterorientierung vermitteln. Fasst man mit Feilke (2012: 5) Bildungssprache mit Blick auf die besonderen sprachlichen Formate und Prozeduren einer auf Texthandlungen wie Beschreiben, Vergleichen, Erklären, Analysieren, Erörtern etc. bezogenen Sprachkompe‐ tenz, wie man sie im schulischen und akademischen Bereich findet[,] so sind Mustersensibilisierung und -orientierung wesentliche Grundlagen des Erwerbs bildungssprachlicher Fähigkeiten (Feilke 2012; s. auch Hoffmann und Bergs 2018). In der Generativen Textproduktion kann die Unterstützung durch den Aus‐ gangstext je nach Sprachstand der Lernenden unterschiedlich gestuft werden (Frieg et al. 2014; vgl. auch Bezirksregierung Köln 2021 für Beispiele für den Ein‐ satz in der Schuleingangsphase). Die Generative Textproduktion berücksichtigt damit konsequent die heterogenen sprachlichen Fähigkeiten der Schüler: innen. Denn ein nicht unerheblicher Anteil der Kinder im Schuleintrittsalter beherrscht die bildungssprachlich relevanten grammatischen Kernbereiche des Deutschen nicht in dem Maße, wie es für den literaten Registerausbau im Zuge des Schrift(sprach)erwerbs vonnöten wäre (vgl. für einen Überblick E. Belke und Dresler 2021). Das betrifft nicht nur Kinder, deren Familiensprache nicht Deutsch ist, sondern auch Kinder mit Deutsch als Erstsprache, die im Elternhaus wenig sprachliche Förderung, z.B. durch Vorlesen und vielfältige sprachliche Interaktion, erfahren (s. Autor: innengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 8). Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 79 <?page no="80"?> 4 Sofern nicht anders angegeben, beziehen wir uns auf die Termini Konstruktion und Konstruktionsschema nach Diessel (2019), vgl. Abschnitt 2.1. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, eine psycholinguistische Einordnung der Generativen Textproduktion aus den 2000er-Jahren (E. Belke und G. Belke 2006) zu aktualisieren und sie auf Basis einer gebrauchsbasierten konstrukti‐ onsgrammatischen Modellierung linguistischer Strukturen (Diessel 2019) und ihres Erwerbs (Madlener-Charpentier und Behrens 2022) zu systematisieren. Im Kontext dieser Modellierung, die wir in Kapitel 2 skizzieren, ist die kreative Ver‐ wendung sprachlicher Konstruktionen zum Erreichen eigener kommunikativer Ziele ein wesentlicher Motor der Sprachentwicklung und des Sprachwandels. Auf Basis einer solchen Einordnung ergeben sich Vorhersagen darüber, wie Kinder beim Erwerb komplexer grammatischer Phänomene, wie der Genus‐ zuweisung im Deutschen, optimal unterstützt werden können. In Kapitel 3 verorten wir diese Formen der optimierten Darbietung, die Sprachspiele be‐ inhalten und die sich die Generative Textproduktion zunutze macht, in der in Kapitel 2 dargelegten konstruktionsgrammatischen Modellierung. Unsere Beobachtungen zeigen, dass die Erschaffung neuer Varianten beim Spielen mit Sprache in optimaler Weise diejenigen kognitiven Lernressourcen und Erwerbsmechanismen anspricht, die aus der gebrauchsbasierten Perspektive für den Spracherwerb postuliert werden. 2 Der Spracherwerb zwischen Musterorientierung und Kreativität: Eine gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Einordnung Kinder lernen im Spracherwerb nach und nach, welche Muster wie und wann produktiv genutzt werden. Aus diesem Grund können Äußerungen von Kindern viele innovative und kreative Verwendungen sprachlicher Muster enthalten, u.a. in Form von Übergeneralisierungen wie im folgenden Beispiel: Marius (6) ruft beim Raufen mit seinem Onkel, der ihn hochhebt und festhält, „Runter mit mir! “ im Sinne von „Lass mich runter! “. Er ist damit kommunikativ auch erfolgreich, aber es wird klar, warum die Äußerung dennoch markiert ist: Das Konstruktionsschema 4 [-Runter mit [ __ ] DAT ] wird in Kombination mit einem Pronomen ausschließlich mit Pronomen der 2. und 3. Person verwendet, denn das Schema kommt nur in solchen Kontexten vor, in denen ein: e Sprecher: in eine: n Gesprächspartner: in auffordert, einen Ort zu verlassen, an dem diese: r eigentlich bleiben möchte, oder etwas wegzunehmen, was an diesen Ort nicht gehört. Marius hat also die pragmatische Kopplung des Konstruktionssche‐ 80 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="81"?> 5 Diessels Zugang inkorporiert systematisch psycholinguistische Prinzipien der Verar‐ beitung und Repräsentation sprachlichen Wissens, wie z.B. Aktivierungsausbreitung und implizites statistisches Lernen. Andere gebrauchsbasierte konstruktionsgramma‐ tische Zugänge hingegen, z.B. Welke (2020), stellen stärker „geregelte Operationen [ins] Zentrum“ im Sinne von „Regeln über syntaktische Konstruktionen“ und heben darauf ab, dass „an die Stelle von invariant gefassten Regeln der Competence-Grammatik soziale prototypentheoretisch gefasste Regeln [treten]“ (ebd.: 400). Nach unserem Ein‐ druck fallen diese Unterschiede für eine gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Einordnung des produktiven Umgangs mit Sprachspielen, die wir in diesem Beitrag leisten wollen, nur bedingt ins Gewicht, weil sich die den Sprachspielen zugrunde lie‐ genden Gestaltungsprinzipien (s. Abschnitt 3.1) theorieübergreifend einordnen lassen. mas an die jeweils Agierenden in der Situation und ihre Ursache-Wirkungs- Relationen noch nicht verinnerlichen können und erweitert die Konstruktion entsprechend. Unter anderem anhand dieses Beispiels wollen wir im Folgenden zunächst die für die weitere Analyse notwendigen Grundlagen einer gebrauchsbasierten konstruktionsgrammatischen Modellierung sprachlicher Strukturen darlegen und aufzeigen, wie Spracherwerbsprozesse aus dieser Perspektive einzuordnen sind. Dabei legen wir Diessel (2019) 5 als konstruktionsgrammatischen Rahmen zugrunde und orientieren uns bezüglich der Charakterisierung der Mechanis‐ men für den Spracherwerb, die aus gebrauchs- und konstruktionsbasierter Perspektive z.B. von Tomasello (2003) postuliert wurden, inhaltlich und termi‐ nologisch an Madlener-Charpentier und Behrens (2022) sowie Behrens (2021), die diese Mechanismen zusammenfassend auf den L1- und den (gesteuerten) L2-Erwerb des Deutschen beziehen. 2.1 Theoretische Grundlagen der Konstruktionsgrammatik Grundlegend für den konstruktionsgrammatischen Zugang zur Analyse und Modellierung linguistischer Strukturen ist die Annahme, dass nicht nur lexika‐ lische Einheiten, sondern auch die grammatischen Strukturen, in denen sie vorkommen, netzwerkartig verbundene sprachliche Zeichen mit einer Form- und einer Bedeutungsbzw. Funktionsseite sind. Solche Netzwerkstrukturen sind für die Repräsentation semantisch-lexikalischen Wissens umfangreich erforscht und empirisch untermauert (vgl. Goldberg 2019; Vigliocco et al. 2009) und werden in der Konstruktionsgrammatik (hier nach Diessel 2019) auf kom‐ plexere Konstruktionen und Konstruktionsschemata (z.B. [-[-__-] NP den Vortritt lassen ]) übertragen. Diessel (ebd.) legt eine umfassende Charakterisierung der strukturgebenden Relationen in einem solchen konstruktionsgrammatischen Netzwerk vor, das - so die Annahme - auf Basis allgemeiner kognitiver Lern- Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 81 <?page no="82"?> und Gedächtnisressourcen im Zuge der rezeptiven und produktiven Nutzung von Sprache entsteht und kontinuierlich weiter geformt wird. Anders als Gold‐ berg (u.a. 2019) unterscheidet er zwischen sprachlichen Zeichen, die aus einzel‐ nen Morphemen als minimale bedeutungstragende Einheiten (sog. Lexemen) bestehen, und solchen bedeutungstragenden Zeichen, die Kombinationen von Lexemen umfassen (Konstruktionen) (Diessel 2019: 11). Konstruktionsschemata repräsentieren abstraktere Strukturen, die Slots für geeignete Lexeme bzw. Konstruktionen vorhalten. Neben der allgegenwärtigen symbolischen Relation zwischen Form und Be‐ deutung eines Lexems, einer Konstruktion oder eines Konstruktionsschemas nimmt Diessel (ebd.) die folgenden Relationen im Netzwerk an: 1. Taxonomische Relationen bestehen zwischen Lexemen, Konstruktionen und Konstruktionsschemata, die nach ihrem Abstraktionsgrad miteinander verknüpft sind. Dieser kann semantisch definiert sein, z.B. zwischen [ runter ] und [ Richtung ], oder strukturell, z.B. zwischen der Konstruktion [ Richtung ] und dem zugehörigen Nominalisierungsschema [ [ __ ] V -ung ]. 2. Filler-Slot-Relationen bestehen zwischen Slots spezifischer Konstruktions‐ schemata und zugehörigen Fillern (Lexemen oder Konstruktionen). Zu ihnen gehören beim Konstruktionsschema [ Runter mit [ __ ] NP/ PRON(DAT) -] dir, euch, ihr, ihm, ihnen sowie u.a. diverse Konstruktionen, die dem [ [ __ ] DET [ __ ] N ] Konstruktionsschema folgen. Das Konstruktionsschema [ Runter mit [ __ ] NP/ PRON(DAT) ] kann also durch [ Runter mit dir ] ebenso instanziiert werden wie durch [-Runter mit den Schuhen-]. 3. Horizontale Relationen bestehen zwischen Fillern, die in Konstruktions‐ schemata an denselben Slots stehen können, wie etwa [ dir ] und [ euch-] in [-Runter mit [-__-] PRON -]. 4. Sequenzielle Relationen entstehen zwischen häufig zusammen auftretenden und oft in hoch automatisierter Form gemeinsam verarbeiteten Lexemen und Konstruktionen, wie z.B. [-Runter mit dir-]. In einer solchen Modellierung sprachlicher Repräsentationen spielt u.a. die Koaktivierung miteinander vernetzter Repräsentationen eine zentrale Rolle für die Emergenz neuer, zuvor nie gehörter Formen, wie sie im Spracherwerb zu beobachten sind. [ Runter mit mir ] ist eine Konstruktion, die Marius mit großer Wahrscheinlichkeit noch nie gehört hat, weil das Konstruktionsschema [ Runter mit [ __ ] PRON ], wie oben erläutert, von Erwachsenen nicht oder nur höchst selten mit Pronomen in der ersten Person kombiniert wird. Allerdings bestehen zwischen den durch das Konstruktionsschema lizenzierten Fillern und dem Lexem [ mir ] bei einem Sechsjährigen gut etablierte horizontale 82 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="83"?> Relationen aus anderen Konstruktionsschemata (z.B. [ [ __ ] PRON [ __ ] V ] mit [ __ ] PRON(DAT) ] mit Instanziierungen wie [ Er spielt mit mir ] oder [ Sie spielt mit dir ]. Des Weiteren umfasst das bzgl. der Bedeutung sowie der Form abstraktere Konstruktionsschema [-Runter mit [-__-] NP/ PRON ] auch nicht-pronominale Filler und ist somit durchaus produktiv. Dieses Beispiel zeigt, wie verschiedene Faktoren den Erwerb und die produktive Nutzung eines Konstruktionsschemas beeinflussen können. Für ihre Analyse ist eine Bestandsaufnahme relativer Häufigkeiten, mit denen idiomatische Konstruktionsschemata wie [ Runter mit [ __ ] ] mit spezifischen Lexemen sowie eingebetteten Konstruktionsschemata verwendet werden, vonnöten (Gries 2022). 2.2 Der Erstspracherwerb aus gebrauchsbasierter Perspektive Die in Abschnitt 2.1 skizzierte Modellierung linguistischer Strukturen basiert u.a. auf Analysen der an Kinder gerichteten Sprache sowie der von ihnen produzierten Äußerungen. Der kindliche Spracherwerb wird aus einer ge‐ brauchsbasierten Perspektive als Re-Konstruktion der Inputsprache verstanden (Madlener-Charpentier und Behrens 2022). Kinder erwerben demnach nicht direkt abstrakte Konstruktionen. Vielmehr operieren sie zum Erreichen ihrer kommunikativen Ziele mit zunächst konkreten, häufig rekurrierenden sprach‐ lichen Formen aus dem Input, die auf bestimmte Ereignisse oder Sachverhalte referieren (Tomasello 2000). Dabei können häufig zusammen vorkommende Formen zu sogenannten Chunks zusammengefasst werden (vgl. Madlener-Char‐ pentier und Behrens 2022 für einen Überblick). Ein Beispiel für einen solchen Chunk wäre die Äußerung [ daʹisaja ], die der 1; 6-jährige Mats wiederholt beim Versteckspiel, das er häufig mit seinem Großvater spielt, beim Auftauchen des Großvaters äußert. In einer frühen Generalisierungsstufe solcher konkreten Konstruktionen bilden sich erste abstrakte Platzhalter heraus, die in sog. itembased oder low-level Schemata repräsentiert werden (Tomasello 2000; s. Behrens 2021 für einen Überblick), z.B. [ Daʹis [ __ ] {a, ɛ, əs} ja ] und Vorläufer der Slots in den Konstruktionsschemata kompetenter Sprecher: innen sind (u.a. [ Da ist [-__-] NP/ PRON ja-] und [-Da [-__-] V [-__-] NP/ PRON ja-]). Aus konkreten Konstruktionen oder Chunks und frühen Schemata extra‐ hieren Kinder im Laufe des Spracherwerbs individuell immer abstraktere Kategorien auf Basis des Inputs, die im Sinne Diessels (2019) im Netzwerk in taxonomischer Relation zueinander stehen. Grundlage dafür sind funktio‐ nale Beziehungen zwischen Komponenten der Äußerungen, die die Kinder segmentieren lernen, einerseits und den schon vorhandenen sprachlichen Repräsentationen der Kinder andererseits. Bei diesen Abstraktionsprozessen Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 83 <?page no="84"?> greifen Mechanismen der distributionellen Analyse und Kategorisierung (Toma‐ sello 2003). Am Ende stehen grammatische Kategorien zur Verfügung, wie z.B. in dem Konstruktionsschema [ Da [ __ ] V [ __ ] PRON/ N/ NP ja ], in dem unterschiedliche Verben und Pronomen, Nomen oder Nominalphrasen als Filler fungieren können. Die Produktion eigener Äußerungen ist anfangs nur auf einzeln abgespei‐ cherte Lexeme sowie mehrere Wörter umfassende und als Ganzes abgespei‐ cherte Chunks beschränkt. Für die Produktion komplexerer Äußerungen wer‐ den Lexeme, Konstruktionen und Konstruktionsschemata auf verschiedenen Abstraktionsebenen kombiniert (Komposition, s. Madlener-Charpentier und Behrens 2022). Die so entstehenden Äußerungen können bei entsprechend häufiger Verwendung ihrerseits wieder zu feststehenden Chunks im Langzeit‐ gedächtnis werden. Nicht alle konkreten Konstruktionen oder Chunks werden im Laufe des Spracherwerbs in ihre einzelnen Bestandteile aufgeschlüsselt und abstrakter; einige bleiben bestehen (sogenanntes exemplar-storage, s. Behrens 2021). Durch ihre ganzheitliche Speicherung können sie schneller verarbeitet werden (McCauley und Christiansen 2019) und belasten das Arbeitsgedächtnis beim Abruf weniger (Bybee 2006; vgl. Diessel 2019: Abschnitt 5.1 für einen Überblick). So ruft Till (2; 5) beim Anblick einer Schnake (regionalsprachlich auch Schneider genannt) voller Entsetzen: „Ein Schneider fing ’ne Maus is in Wohnzimmer! “. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, dass er den hoch automati‐ sierten Chunk [ ein Schneider fing ’ne Maus ] aus dem gleichnamigen Kinderlied schneller abrufen konnte als die deutlich kürzere, aber weniger automatisierte Konstruktion [-ein Schneider-]. Für ein genaueres Verständnis davon, wie Kinder abstraktere Konstrukti‐ onsschemata extrahieren und zunehmend auch produktiv nutzen können, sind Input-Analysen der Type- und Token-Frequenz einzelner Konstruktionen unerlässlich, wobei wir hier die entsprechenden Frequenzbegriffe nach Bybee (2001) zugrunde legen. Während die Token-Frequenz die Häufigkeit eines Konstruktionsschemas, einer Konstruktion oder eines Lexems bezeichnet, ist die Type-Frequenz ein Maß dafür, wie produktiv ein Schema verwendet wird (Diessel 2019). Die Token-Frequenz des Konstruktionsschemas [ Runter mit [ __ ] NP/ PRON ] setzt sich folglich zusammen aus den Frequenzen, mit denen taxonomisch spezifischere Konstruktionen wie [ Runter mit dir ] vorkommen. Seine Type-Frequenz hingegen gibt an, mit wie vielen verschiedenen Fillern es vorkommt, also wie produktiv es ist. Der Erwerb spezifischer Lexeme, Konstruktionen und Konstruktionssche‐ mata basiert auf wiederholtem Kontakt zu gleichen oder sehr ähnlichen sprachlichen Äußerungen mit einer hohen Token-Frequenz, damit diese im 84 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="85"?> Langzeitgedächtnis abgespeichert (Entrenchment, Tomasello 2003) und mit neu wahrgenommenen ähnlichen Äußerungen (verschiedenen Types) abgeglichen und weiter abstrahiert werden können (Bybee 2006; s.a. Behrens 2021). Für Abstraktionsprozesse sind wiederholt auftretende sprachliche Äußerun‐ gen mit einer gewissen Type-Variation nötig, um immer abstraktere Konstruk‐ tionsschemata und um Kategorien über Analogien zwischen Konstruktionssche‐ mata bilden zu können (Behrens 2009: 399). So zeigten Childers und Tomassello (2001) in einer Trainingsstudie, dass Kinder, die im Training an den Subjekt- und Objektpositionen sowohl NPs als auch Pronomen gehört hatten („Look! The bear’s striking the tree. See? He’s striking it.“), die Transitiv-Aktiv-Konstruktion [ [ _ ] SUBJ [ V ]-ing [ _ ] OBJ ] im Test signifikant häufiger produktiv nutzen konnten als Kinder, die nur NPs gehört hatten („Look! The bear’s striking the tree. See? The bear is striking the tree.“; s. auch Hadley et al. 2017). Eine Gleichzeitigkeit von hoher Token- und hoher Type-Frequenz entsteht, wenn einzelne Instanziierungen sehr häufig auftreten (z.B. [ Runter mit dir ]), die Mehrheit der Instanziierungen hingegen weniger häufig. Eine solche Vertei‐ lungsschiefe (Skewing) ist für an Kinder gerichtete Sprache typisch und hilfreich beim Erwerb (Naigles und Hoff-Ginsberg 1998). Durch identische und in Teilen variierende Wiederholungen von Konstruktionen und Konstruktionsschemata im Input werden Kinder in die Lage versetzt, die Bedeutung von Lexemen, Konstruktionen und Konstruktionsschemata zu spezifizieren bzw. auszubauen und abzuspeichern (z.B. Goodman et al. 2008) und sich grammatische Kategorien zu erschließen (Moran et al. 2018). Kennzeichnend für kindgerichtete Sprache sind viele Reformulierungen, bei denen der Inhalt gleichbleibend, die Form jedoch variierend ist. Küntay und Slobin (2002) bezeichnen diese Reformulierungen als Variationssets. Auch wenn die Intention für solche Wiederholungen vermutlich nicht zwangsläufig die Sprachförderung ist, sondern eher die Verständnissicherung und Aufmerksam‐ keitslenkung im Fokus stehen (Lester et al. 2022), können gerade solche Varia‐ tionssets zur Abstraktion sprachlicher Äußerungen im Spracherwerbsprozess führen: Such variation sets help children to build paradigmatic and syntagmatic relations in that they realize which elements can replace one another, and also how structures can be expanded or moved around […]. At the same time, the stable core of the utterance schema is entrenched through repetition. (Behrens 2021: 969) Reformulierungen ermöglichen es Kindern, variierende Formen mit demselben Inhalt im Kontrast wahrzunehmen. Dies kann einen Prozess aktivieren, bei dem Kinder nach der kommunikativen Funktion des Kontrastes suchen und diese Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 85 <?page no="86"?> wiederum mit der kommunikativen Intention bereits abgespeicherter Äußerun‐ gen abgleichen (Tomasello 2003: 300). Darüber hinaus lernen sie indirekt, welche Formen nie vorkommen (negatives Entrenchment, Goldberg 2019). So können Übergeneralisierungen im Spracherwerb, wie im Beispiel [ Runter mit mir ], abgebaut werden. Neben dieser inputseitigen Vielfalt an Hinweisen auf Lexeme, Konstruktio‐ nen und Konstruktionsschemata spielen die kognitiven Ressourcen, die Kinder für den Spracherwerb nutzen können, eine zentrale Rolle. Hierzu gehören zum einen das sich entwickelnde phonologische Kurzzeitgedächtnis und das Arbeitsge‐ dächtnis, das seinerseits eng an die Entwicklung von Aufmerksamkeitsressourcen und exekutiven Funktionen gekoppelt ist (Archibald 2017). Zum anderen verfü‐ gen Kinder jeden Alters über implizite und statistische Lernfähigkeiten, die sie befähigen, Konstruktionsschemata aus Instanzen dieser Konstruktionsschemata zu extrahieren (Behrens 2009; vgl. E. Belke und Dresler 2021 für einen Überblick). Kinder können durch implizite Lernprozesse auf Lexemebene lokale Kookkur‐ renzen, z.B. unmittelbar aufeinander folgende Lexeme wie [ den Hut ], erwerben, aber auch diskontinuierliche Kontingenzen im Input, z.B. den und Hut in [-den [ __ ] ADJ -en Hut ] (Perruchet und Pacton 2006). Diese Lernfähigkeiten sind die Grundlage für Entrenchment, Generalisierung und Strukturbildung, die auch in anderen kognitiven Domänen zum Tragen kommen (Tomasello 2003). Damit Kinder Hinweise aus dem Input nutzen können, müssen sie wahrnehm‐ bar sein. Daher spielt die Salienz sprachlicher Zeichen im frühen Spracherwerb eine wichtige Rolle. So lassen sich frühe Äußerungen von Kindern, die oft zunächst nur unflektierte Verben oder Partikeln (z.B. [ haben ] oder [ zu ]) produ‐ zieren, beispielsweise darauf zurückführen, dass im Deutschen viele semantisch leichte Verben wie machen oder gehen sowie Hilfsverben mit nicht-finiten Vollverben, Partizipformen oder Partikeln verwendet werden (vgl. Behrens 2021 für einen Überblick). Diese stehen salient am Ende der Äußerung und sind dadurch auch mit der noch begrenzten Arbeitsgedächtniskapazität der Kinder gut zu verarbeiten. Variationssets in an Kinder gerichteter Sprache führen, wie oben erläutert, zu einer redundanten, kontrastreichen Form der Darbietung von Lexemen. Das ermöglicht den Kindern, Chunks von häufig zusammen auftretenden Lexemen wahrzunehmen und sie in Opposition zu verarbeiten (z.B. [ der Hut ] vs. [ den Hut ]). Allerdings steht und fällt der Erfolg der daraus resultierenden Erwerbsprozesse (hier: die Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ) mit der Verfügbarkeit eindeutiger Hinweise (Bates und MacWhinney 1987; Behrens 2020; Ellis 2006). Diese sind im deutschen Genus-Kasus-System dünn gesät: So unterscheiden sich die Kasusmarkierungen für Nominativ und Akkusativ 86 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="87"?> beispielsweise nur im Maskulinum. Damit syntaktische Hinweise nutzbar wer‐ den, müssen sie daher idealerweise gruppiert und über Genera kontrastiert vorkommen (s. auch Bebout und E. Belke 2017). Solche Formen der optimierten Darbietung finden sich zuhauf in Sprachspie‐ len (G. Belke 2024a, 2024b; E. Belke und Dresler 2021), die Kinder vom Anfang ihres Lebens an bis weit in die Grundschulzeit hinein begleiten. Während die Sprachspiele zunächst elementarer Bestandteil der an kleine Kinder gerichteten Sprache (in Form von Kinderliedern, Kinderreimen und Kniereiterspielen) sind, verwenden ältere Kinder, aber auch Erwachsene, sie eigenständig und variieren sie in kreativer Weise (z.B. in Form von Witzen, Abzählversen, Abwandlungen von Popsongs). Wir wollen im Folgenden aufzeigen, warum Sprachspiele vor dem Hintergrund der hier skizzierten theoretischen Einordnung von Spracher‐ werbsprozessen eine erwartbare und gleichzeitig unerlässliche Ergänzung zu der an Kinder gerichteten Sprache als Grundlage des Spracherwerbs darstellen. 3 Kreativität und sprachliches Lernen im produktiven Umgang mit Sprachspielen Sprachliche Kreativität wird im Kontext gebrauchsbasierter Theorien vorrangig mit Blick auf die innovative Übertragung von Konstruktionen auf neue Kontexte betrachtet, nicht nur in kindlichen Äußerungen, sondern auch in Äußerungen kompetenter Sprecher: innen (Goldberg 2019). Um im Folgenden die Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen im Hinblick auf ihr Potenzial für den Erwerb und die Vermittlung grammatischer Strukturen zu beleuchten, verdeutlichen wir in 3.1 zunächst die Form, Bedeutung und Funktion von Sprachspielen anhand konkreter Beispiele, die wir in 3.2 auf Basis des konstruktionsgrammatischen Netzwerkmodells nach Diessel (2019) einordnen. Darauf aufbauend betrachten wir in Abschnitt 3.3 die spezifische Rolle der Kreativität beim Spielen mit Sprache und setzen diese Überlegungen in Beziehung zu ihrer Funktion im Kontext der Generativen Textproduktion. Wir gehen dabei von einer kognitiv fundierten Definition der Kreativität aus, in der standardmäßig zwei zentrale Parameter zugrunde gelegt werden (vgl. Runco und Jaeger 2012: 92): Originalität oder Neuheit (originality) einerseits und Ef‐ fektivität (effectiveness) andererseits. Effektivität kann hierbei in Abhängigkeit vom Kontext Nützlichkeit, Passung oder Angemessenheit bedeuten (ebd.). Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 87 <?page no="88"?> 3.1 Sprachspiele: Form, Bedeutung und Funktion Cook (2000: 5) verwendet die folgende Arbeitsdefinition für Sprachspiele (lang‐ uage play): „language play involves the patterning of linguistic form, the creation of alternative realities, and the social use of both of these for intimacy and conflict.“ Dem darin formulierten Dreiklang von Form, Bedeutung und (sozialer) Funktion folgend wollen wir in diesem Abschnitt herausarbeiten, welche Formen des kreativen Spiels mit Formen und Bedeutungen Sprachspiele erlauben. Wir werden zeigen, dass die Form- und Bedeutungsebene immer aufeinander bezogen bleiben, insofern als jeweils mindestens eine von ihnen implizit die Spielregeln vorgibt, die mit Blick auf ihre soziale Funktion wesent‐ lich sind. Im europäischen und angloamerikanischen Sprachbzw. Kulturraum sind sprachlich begleitete Spiele von Beginn an Teil der an Kinder gerichteten Spra‐ che, selbst wenn sie diese nur rezeptiv erfahren (aber s. Keller 2022 für andere kulturspezifische Formen der frühen Interaktion mit Kindern in Afrika und Indien). Fingerspiele und Kniereiterspiele für vorsprachliche Kinder vernetzen Sprache mit Bewegung, wie in (1) (Verf. unbekannt): (1) Schotter fahren, Schotter fahren (im Rhythmus der Sprache wippen) - mit dem großen Schotterwagen (dito) - erst die kleinen spitzen Steine (schnell wippen, höher sprechen) - dann die großen, die so stoßen (langsam wippen, tiefer sprechen) - Linkskurve (nach links neigen) - Rechtskurve (nach rechts neigen) - Bremsen (Kind zu sich ziehen) - Abladen! (Kind nach vorn lehnen) Die sprachliche Form wird durch die wechselnden Bewegungen segmentiert, wobei die jeweiligen Kopplungen der sprachlichen Formen mit ihren Bewegun‐ gen immer gleich bleiben. Es werden also Bezüge zwischen dem sensorischkonzeptuellen und emotionalen Erleben, das für den frühen Konzepterwerb essenziell ist (Goldberg 2019; Vigliocco et al. 2009), und der sprachlichen Form hergestellt. Cook (2000: 14) zufolge ist die Funktion solcher Spiele nicht nur sozial, sondern proto-kommunikativ - u.a. erklärt das, warum sie Kinder nicht langweilen, sondern diese im Gegenteil sogar Wiederholungen einfordern. 88 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="89"?> Während die Kopplung von Sprache und Bewegung auch bei Liedern und Sprachspielen für ältere Kinder erhalten bleibt, tritt das gezielte Spiel mit der Form oder der Bedeutung sowie der Kombination aus beidem hinzu. So finden wir einerseits Nonsensformen, z.B. in Abzählversen, in denen dem Rhythmus, aber weniger der Bedeutung eine entscheidende Rolle zukommt, und andererseits Spiele, bei denen semantische Relationen spielentscheidend sind. Ein Text wie „Dunkel war’s der Mond schien helle“ (Verf. unbekannt) ist beispielsweise auf Paradoxien beschränkt und erfordert entsprechendes Wissen über Antonymie-Relationen, die regelleitend für das Sprachspiel sind. Texte wie (2) spielen mit dem Sprung von der Formauf die Bedeutungsebene in Zeile 5 (G. Belke 2024a: 70). (2) Frage (Roswitha Fröhlich) - Ich rede - du redest - wir reden - sie reden - und wer hört zu? Die Regeln solcher Sprachspiele sind meistens unmittelbar ersichtlich und können implizit auf neue Kontexte übertragen werden. Dies eröffnet die Mög‐ lichkeit, bestehende Relationen im Konstruktionsnetzwerk zu erkunden und zu erkennen, ohne dass die Strukturierungskriterien explizit gemacht werden müssen (Behrens 2009). Diese epistemische Funktion erfüllen sogar (oder gerade) solche Sprachspiele, die - mit Cook (2000) - in fiktionale Welten führen, denn auch in der Fiktion gelten in der Regel die aus der Realität bekannten Zusammenhänge, wie beispielsweise in (3) (aus G. Belke 2024a: 127): (3) Der Löwe (und andere Tiere) (Günther Anders) - Als die Mücke zum ersten Male - den Löwen brüllen hörte, - da sprach sie zur Henne: - „Der summt aber komisch.“ - „Summen ist gut“, fand die Henne. - „Sondern? “ fragte die Mücke. Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 89 <?page no="90"?> „Er gackert“, antwortete die Henne. - „Aber das tut er allerdings sehr komisch.“ Zur Erklärung der spezifischen Funktion fiktionaler Welten im Sprachspiel führt Cook (2000) zwei Ansätze an: zum einen, dass die Fiktion im Dienst des Sprach‐ spiels steht, das seinerseits im o.g. Sinne als Schlüssel zu Erkenntnissen über die reale Welt fungiert. Dem zweiten Erklärungsansatz zufolge ist die Kreativität Ursache und Ursprung der Fiktion und das Sprachspiel ihr Katalysator bei der Erschaffung imaginärer Welten (ebd.: 58). Das Sprachspiel kann somit ein Medium des Ausdrucks persönlicher Äußerungsbedürfnisse sein (siehe auch Abschnitt 3.3). In (4) geben wir ein Beispiel für ein kombiniertes Spiel aus Inhalt und Form auf der Basis von transparenten Komposita, zwischen deren Zweit- und Erstgliedern vielfältige semantische und (pseudo)morphologische Beziehungen bestehen können: (4) Stellt euch vor, wir hätten (Eva Rechlin) - Stellt euch vor: - Wir hätten keine Flaschenöffner mehr. - Womit öffnen wir hernach die Flaschen? - Stellt euch vor: - Wir hätten keine Taschentücher mehr. - Womit tüchern wir hernach die Taschen? - (…) - - - (vgl. G. Belke 2024a: 141 für die vollständige Fassung mit sieben weiteren Strophen) 3.2 Das Sprachspiel aus gebrauchsbasierter konstruktionsgrammatischer Sicht In seiner umfassenden Analyse des Sprachspiels und seiner spezifischen Funk‐ tion im Spracherwerb sowie in der Sprachvermittlung nimmt Cook (2000) zwar eine funktional-linguistische Perspektive ein, eine Analyse auf Basis gebrauchs- und konstruktionsbasierter Erklärungsansätze zum Spracherwerb steht unseres 90 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="91"?> 6 (5) und (7) sind als von den Autoren vorgetragene Audioversionen hier verfügbar: http s: / / www.youtube.com/ watch? v=rsvz0ZDMBUk, https: / / www.lyrikline.org/ zh/ poems/ t ischrede-648. Wissens allerdings noch aus. Die nachfolgenden Überlegungen stellen erste Schritte in diese Richtung anhand ausgewählter Beispiele aus G. Belke (2024a) dar (vgl. (5) bis (8); (7) ist ein Beispiel für ein schriftsprachlich zu verarbeitendes Sprachspiel) 6 . (5) Der Katzentatzentanz (Frederick Vahle) - - […] - Strophe 1: Kam der Igel zu der Katze: - - „Bitte reich mir deine Tatze! “ - - „Mit dem Igel tanz’ ich nicht. - - Ist mir viel zu stachelig.“ - Refrain: Und die Katze tanzt allein, tanzt und tanzt auf einem Bein. - - […] - In Strophen 2 bis 4 erscheinen als weitere Tiere der Hase, der Hamster und der Hofhund. Im ersten Schritt stellt sich die Frage, wie der Konstruktionsbegriff auf das Sprachspiel anzuwenden ist. Im Sinne der von gebrauchs- und konstruktions‐ basierten Theorien postulierten parallelen Verfügbarkeit von Konstruktionen verschiedener Abstraktionsgrade ist anzunehmen, dass auswendig beherrschte Sprachspiele als Komposition unterschiedlicher Konstruktionen mit verschiede‐ nen Graden an Abstraktheit abgespeichert werden können (vgl. auch Karmiloff- Smith 1994). Eine parallelisierte Strophenform, wie in (5), kann dabei dazu beitragen, dass die zugrunde liegenden Strukturen als Schemata verfügbar wer‐ den. Feststehende Anteile (Zeile 2 und Refrain) werden durch Wiederholungen ganzheitlich als Chunks verfügbar (Entrenchment). Wir gehen insofern davon aus, dass die im Sprachspiel verfügbaren Konstruktionen mit dem vorhandenen Netzwerk an Lexem- und Konstruktions- und Schemarepräsentationen (Diessel 2019) interagieren und es erweitern. Zentral für diese Interaktion ist die Unterscheidung zwischen Type-Frequenz und Token-Frequenz: Die ersten vier Strophen vom Katzentatzentanz (5) sind in (6) als Konstruktionen dargestellt. Zeile 2 sowie der Refrain ([ und die Katze tanzt allein-…], s. (5)) werden formelhaft wiederholt. Zeilen 1 und 3 stehen als Types Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 91 <?page no="92"?> 7 4c ist eine Variante zu Zeile 4a/ b, die sich mit Zeile 3 reimt und zusätzlich zu oder anstelle von Zeile 4a/ b gesungen werden kann. in Filler-Slot-Relation zu den jeweiligen Tiernamen (hier: nur Maskulina), mit denen sie über Strophen hinweg instanziiert werden. Für Zeile 4 gilt das in den ersten drei Strophen analog für die prädikativ genutzten Adjektive. Zeilen 1 bis 3 haben also über die vier ersten Strophen jeweils eine Type-Frequenz von 4. Die Tiere als individuelle Token haben eine Token-Frequenz von jeweils 2, da sie die beiden [-[-__-] DET(DEF) [-__-] N -] Slots im Nominativ (Z1) und Dativ (Z2) befüllen. Da Kinder Lieder und Reime gerne immer wieder hören und selbst produzieren, lassen sich diese Type- und Token-Frequenzen über die wiederholte Rezeption und Produktion des Liedes erheblich steigern. (6) Z1 [-Kam [-[-__-] DET(DEF) [-__-] N - ] NOM.SG zu der Katze-] - Z2 [-bitte reich’ mir deine Tatze-] - Z3 [-Mit [-[-__-] DET(DEF) [-__-] N - ] DAT.SG tanz’ ich nicht-] - Z4a [-ist mir viel zu [-__-] ADJ- ] (Strophen 1-3) - Z4b [-denn der bellt so fürchterlich-] (Strophe 4) - - - - Z4c [-denn [-[-__-] DET(DEF) [-__-] N - ] AKK.SG mag ich nicht-] (mit Akkusativ) 7 Darüber hinaus lassen sich die Filler-Slot-Relationen weiter verfeinern, wenn andere Tiere, deren Namen Feminina oder Neutra sind, hinzutreten. In diesen Fällen ändern sich neben den Tiernamen und der Zeile 4 in jeder Strophe auch die definiten Artikel [ der ] und [ dem ] (zu [ die ] und [ der ] bzw. [ das ] und [ dem ]). Über Strophen hinweg werden so strukturell parallele, aber hinsichtlich der Genera der Nomen verschiedene Konstruktionen präsentiert und die daraus resultierenden Formen im Kontrast erfahrbar. Die Gruppierung der verschiede‐ nen Artikelzuordnungen für jedes Genus, die sich aus der Strophenform ergibt, kann den Erwerb der Genusklassen erleichtern (Bebout und E. Belke 2017; E. Belke et al. 2022). Durch die Prävalenz des Ausgangstextes ergibt sich von allein eine Verteilungsschiefe hinsichtlich der Häufigkeit, mit der der Liedtext mit bestimmten Tieren vorkommt. In (7) sehen wir das umgekehrte Verhältnis von Type- und Token-Frequenz zum „Katzentatzentanz“ in (5) - jede Konstruktion kommt nur einmal vor, aber das Lexem Tisch wird mit jeder der Konstruktionen kombiniert: 92 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="93"?> (7) Tischrede (Martin Auer) - Hast du schon einmal über einen TISCH nachgedacht? - Zum Beispiel, was den TISCH denn zum TISCH gerade macht? - Was macht ihn so TISCHIG, so TISCHARTIG, TISCHHAFT? - Eine geheimnisvolle TISCHKRAFT? - Und TISCHT ein TISCH eigentlich, oder wird er GETISCHT? - Und VERTISCHT er, wenn seine TISCHHEIT erlischt? - Und machst du so weiter mit TISCH, bis du döst, - hat plötzlich TISCH von dem Ding sich gelöst. - Und du fragst dich: »Wieso denn eigentlich TISCH? « - Und TISCH klingt so fremd, TISCH klingt so frisch. - Und du bist ganz erstaunt, weil du ganz sicher weißt, - daß TISCH eigentlich überhaupt nichts »heißt«. - Dafür steht in deinem Zimmer ganz dumm - ein gänzlich Namenloses herum. - So fremd und unheimlich unbekannt, - ganz stumm, unbegreifbar und unbenannt, - fast unsichtbar, gar nicht richtig da… - Und dann, dann sagst du auf einmal: »Aha, - das ist ja der TISCH! « Und es schnappt wieder ein. - »Der Tisch, na klar, was sonst soll es sein? « Über Konstruktionen hinweg wird das Lexem Tisch in verschiedenen Slots kreativ erprobt, auch solchen, die in horizontaler Relation zueinander stehen ([ V-t ], [ ver-V-t ], [ wird ge-V-t ]) und in denen es als Nomen normalerweise nicht vorkommt. Gleiches gilt für die Derivationslexeme ([ -ig-], [--artig ] und [ -haft ] sowie [ -heit ]). Dass es nur im Spiel mit diesen Formen vorkommt, kann negatives Entrenchment (Goldberg 2019) verstärken, also den Erwerb von Wissen darüber, welche Formen nie vorkommen. Unabhängig davon enthält (7) in der zweiten Hälfte gänzlich formelhafte Bestandteile, die die in der Tischrede thematisierte gefühlte Entkopplung von Symbol und Bedeutung verstärken. Wir sehen für die in diesem Teil verwendeten Lexeme ebenso wie zuvor Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 93 <?page no="94"?> bei den Derivations- und Flexionslexemen, wie die poetische Wirkung durch die Verlegung der paradigmatischen (slot-basierten) auf die syntagmatische (horizontale) Achse erzeugt wird ( Jakobson 2007). In Beispiel (8) kommt die Vernetzung von Funktionswörtern zum Tragen, die in referenziellen Ausdrücken für neu in den Diskurs Eingeführtes und Bekann‐ tes vorkommen (indefinite und definite Artikel und anaphorisch verwendete Pronomen): (8) Ein Huhn, das fraß (Susanne Stöcklin-Meyer) - Ein Huhn, das fraß, man glaubt es kaum, - ein Blatt von einem Gummibaum. - Dann ging es in den Hühnerstall - und legte einen Gummiball. Wie der „Katzentatzentanz“ in (5) bietet eine solche Vernetzung die Möglichkeit, Konstruktionsschemata bezüglich der Genusinformation auszudifferenzieren und gleichzeitig ein Lexem (hier: [ Huhn ]) mit seinen zugehörigen Artikeln und Pronomen im Nominativ ([ ein ], [ das ], [ es ]) zu verknüpfen. Wie in (5) lenkt das Sprachspiel so die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Lexemen, die als Ganzheit einen Rückschluss auf das Genus des Bezugsworts zulässt, insbesondere wenn sie im Kontrast zu den entsprechenden Lexemgruppen von Tiernamen mit anderen Genera verarbeitet werden (wie z.B. die horizontal mit [-Huhn-] vernetzten alternativen Filler [ Hahn ] und [ Henne-]: [-ein-] - [-der-] - [ er ] und [ eine ] - [ die ] - [ sie ]). Aus konstruktionsgrammatischer Sicht stehen die in den Gruppen enthaltenen Lexeme sowohl in sequenzieller Relation, wie in (8) zu sehen, als auch in horizontaler, denn sie stehen als Filler-Alternativen auch in paradigmatischer Relation zueinander (z.B. im Konstruktionsschema [-[-__-] PRON/ NP [-__-] V -]; vgl. Childers und Tomasello 2001). Gerade Kombinationen dieser Art finden sich nicht nur in Gedichten, Liedern oder Reimen, sondern auch in einigen Bilderbuchtexten (G. Belke 2017), die sprachlichen Input ebenfalls hoch strukturiert präsentieren können. In einer Analyse verschiedener Bilderbücher stellen von Lehmden et al. (2017) heraus, dass durch eine bestimmte Strukturierung des Bilderbuchtextes der Erwerb - in diesem Fall - des Genus-Kasus-Systems gefördert werden kann. So präsentieren manche Bilderbücher zum Beispiel die Konstruktionen bzw. Konstruktionssche‐ mata in hoher Token- und Type-Frequenz. Dies führt zu Kontrastierungen und Gruppierungen relevanter Hinweise auf die Funktion der Genus- und 94 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="95"?> Kasusmarkierung. Neben den eigens auf diese Darbietungsformen optimierten Litkey-Bilderbüchern (von Lehmden et al. 2022a-c; von Lehmden et al. i.V.) gibt es in im Handel erhältlichen Bilderbüchern viele weitere Beispiele, die solche Formen der Input-Optimierung aufweisen. Bei einigen verschwimmen die Grenzen zwischen Bilderbuch und Sprachspiel, so etwa bei dem Buch „Es war einmal ein Hund“ (Carvalho und Vas de Carvalho 2014), das wir hier beispielhaft nennen wollen. Eine weiterführende Analyse dieser und weiterer Beispiele geeigneter Sprachspiele, Lied- und Bilderbuchtexte sprengt den Rahmen dieses Beitrags, aber die Analyse bis hierher legt nahe, dass eine umfassende Bestandsaufnahme die Beobachtung bestätigen sollte, dass man, [betrachtet] man spielerische Formen des Umgangs mit Sprache unter der Fragestel‐ lung, welche Phänomene durch sie ins Feld der Aufmerksamkeit rücken können, […] zu den Grundrissen einer nahezu vollständigen Sprachbeschreibung [gelangt]. (Haueis 1985: 661) 3.3 Die Generative Textproduktion: Eine konstruktionsgrammatische Einordnung Sprachspiele regen Kinder wie Erwachsene dazu an, eigene Varianten zu generieren. Die implizit erfassbaren Regeln des Sprachspiels bilden - in Bezug auf die in Kapitel 3 eingangs zugrunde gelegten definitorischen Parameter für Kreativität - den Referenzrahmen für das Kriterium der Effektivität bzw. Angemessenheit der neuen Formen. Gleichzeitig sind sie auch Inspiration, denn „[aufgrund] der als einfach wahrgenommenen Überstrukturierung entfaltet der poetische Text ein offenes Sinnpotenzial, das vielfältige Adaptionen ermöglicht“ (G. Belke 2019: 132). Dies lizenziert insbesondere auch fiktionale Erweiterungen der Texte. Die von Kindern produzierten Texte zeigen, dass sie diese kreativ nutzen können, um ihre eigenen Ideen auszudrücken (vgl. z.B. G. Belke 2019: 131ff., Kapitel 8). Aus der Perspektive der Sprachvermittlung liegt darin ein großes Potenzial, denn Sprachspiele können Kinder dabei unterstützen, ihr Netzwerk an Konstruktionen zu festigen und auch schwierig zu erwerbende Klassen von Lexemen, wie die Genusklassen, herauszubilden. Psycholinguistisch-didaktisch relevante Merkmale der produktiven Arbeit mit Sprachspielen sind mit E. Belke und G. Belke (2006) neben der ganzheitlichen, multimodalen Erfahrung die identische Wiederholung, die Treue zu den im Sprachspiel vorgegebenen Strukturen (Slots) bei gleichzeitiger Variation des Inhalts (Filler) sowie die Reduktion der Aufgabenschwierigkeit durch die Strukturvorgabe. Wir wollen Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 95 <?page no="96"?> diese Einordnung der Generativen Textproduktion im Folgenden auf Basis der gebrauchsbasierten konstruktionsgrammatischen Modellierung von Spracher‐ werbsmechanismen systematisieren. Wesentliche Operationen in der Generativen Textproduktion sind Substitu‐ tion und Transformation (G. Belke 2019: 125), also die „Ersetzung einzelner Elemente“ und die „Umformulierung in andere Satztypen“ (für eine fachliche Einordnung dieser Operationen s. Fußnote 3; s. auch Welke 2020). Diese beiden Operationen lassen sich aus konstruktionsgrammatischer Sicht mehrfach ver‐ ankern: Für die Substitutionsoperation ist die Filler-Slot-Relation konstitutiv. Sie erlaubt es den Kindern, horizontale Relationen zwischen Elementen, die in paradigmatischer Relation zueinander stehen, zu nutzen bzw. zu festigen und zu erweitern. Dabei stehen nicht allein semantisch-paradigmatische Relationen im Vordergrund, sondern auch und gerade morphologische: Wie am Beispiel des „Katzentatzentanz“ (vgl. (5) und (6)) verdeutlicht, bedeutet die Substitu‐ tion der Tiernamen aus dem Ausgangstext mit Tiernamen, die einer anderen Genusklasse angehören, eine entsprechende Veränderung der zugehörigen Flexionsmorphologie im Sinne einer systematischen Kovariation (E. Belke und Dresler 2021). Dies lenkt die Aufmerksamkeit der Kinder auf die relevanten Flexionsparadigmen, die einen eindeutigen Hinweis auf die Zugehörigkeit einzelner Nomen zu Genusklassen bieten, und erleichtert damit distributionelle Analyse- und Kategorisierungsprozesse, die für den Erwerb der Genusklassen nötig sind (Bebout und Belke 2017). Bei der Arbeit mit Texten wie „Ein Huhn, das fraß“ (8) können hingegen se‐ quenzielle Relationen zwischen Elementen verschiedener Flexionsparadigmen (indefinite Artikel, definite Artikel und Pronomen) aufmerksam verarbeitet werden, die auch und gerade für die Verarbeitung schriftsprachlicher Texte essenziell sind (E. Belke 2025). Beim Erwerb der Genusklassen sind auch diese Kombinationen relevanter syntaktischer Cues wichtige distributionelle Hinweise. Darüber hinaus verdeutlicht die Erstellung neuer Varianten durch Substitution, dass nicht nur einzelne Lexeme, sondern ganze Konstruktions‐ schemata an die Stelle der Slots treten können, und strukturiert damit die taxonomischen Relationen im Konstruktionsnetzwerk (vgl. Bezirksregierung Köln 2021 für konkrete Beispiele zur Schulung taxonomischer Relationen zwischen sprachlichen Formen und Inhalten). Transformationsoperationen hingegen schulen die horizontalen Relationen zwischen Konstruktionen, etwa zwischen Verbformen ([ V-t ], [ ver-V-t ], [ wird ge-V-t ] in der „Tischrede“ (7)). Als weiteres Beispiel sei hier das Lied 96 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="97"?> 8 Dieses und weitere Lieder aus Kauffeldt et al. (2014) sind frei verfügbar unter: https: / / w ww.youtube.com/ playlist? list=OLAK5uy_kH0OU0lI9blRDxYOPh6Fz4BxMWdmJj8FI. „Dschungeltanz“ (Kauffeldt et al. 2014) 8 genannt: Darin werden die Tempora des Deutschen in jeweils pragmatisch angemessenen Kontexten in der ersten, zweiten und dritten Person Singular präsentiert (u.a. durch eine Opposition des Perfekts als typisch mündlich verwendetes Tempus mit dem Präteritum als rein schriftsprachlich verwendete Form, z.B. ich springe, du bist gesprungen, er sprang). Darüber hinaus treten dadurch die Analogien zwischen den Verän‐ derungen des Stammvokals bei den Ablautreihen hervor (springen, sprang, gesprungen; vgl. auch das Lied „Zaubersprüche“, ebd.). Lieder wie diese werden multimodal verankert, da neben der sprachlichen Struktur auch der Rhythmus und die Melodie sowie ggf. der Reim enkodiert werden (E. Belke und G. Belke 2006). Reim, Rhythmus und Melodie und ggf. die damit verknüpfte Bewegung können darüber hinaus dabei helfen, gerade gebundene Morpheme, die in der Alltagssprache oft unbetont sind, deutlich zu hören und damit erst der distributionellen Analyse zugänglich zu machen (Bebout und E. Belke 2017; für Hinweise zur didaktischen Nutzung s. G. Belke 2019; Zepter 2022). Dass Sprachspiele und Lieder sowie Bilderbücher beliebig oft wiederholt und variiert bzw. gemeinsam gelesen und besprochen werden können und die Kinder in der Regel nicht schnell langweilen, erweist sich aus der Perspektive des Erwerbs in mehrfacher Hinsicht als hilfreich: Zum einen unterstützen identische Wiederholungen das Entrenchment von Chunks und Konstruktionen. Durch die wiederholte Verarbeitung der im Sprachspiel genutzten und immer wieder verwendeten Chunks baut sich eine entsprechende Erwartungshaltung auf (sogenanntes Tuning, vgl. Madlener-Charpentier und Behrens 2022), durch die sich die genutzten Chunks im Langzeitgedächtnis konsolidieren. Dazu können Reim, Rhythmus und Melodie zusätzlich beitragen (vgl. Bebout und E. Belke 2017). Zum anderen bieten Variationen der Sprachspiele auf Basis des verinnerlichten Ausgangstexts Konstruktionen in einer hohen Token- und einer hohen Type-Frequenz dar. Dies erleichtert die Generalisierung abstrakterer Konstruktionsschemata und die Repräsentation strukturell relevanter Katego‐ rien. Dies gilt sowohl für Variationen, die noch nah am Text sind und z.B. durch Eröffnung nur einzelner Slots entstehen, als auch für größere Abweichungen vom Ausgangstext. All diese Beobachtungen legen nahe, dass die Erschaffung neuer Varianten beim Spielen mit Sprache in optimaler Weise diejenigen kognitiven Lernres‐ sourcen und Erwerbsmechanismen anspricht, die aus der gebrauchsbasierten Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 97 <?page no="98"?> Perspektive für den Spracherwerb postuliert werden. In der Tat konnten wir in experimentellen Arbeiten (vgl. E. Belke 2025 für einen Überblick) und in einer Evaluationsstudie (von Lehmden et al. i.V.) nachweisen, dass Kontrastie‐ rungen und Gruppierungen morphosyntaktischer Hinweise in Kinderliedern und Kinderbüchern den Erwerb des Genus-Kasus-Systems erleichtern können. Dies eröffnet das Potenzial, Sprachspiele als Medium der Sprachvermittlung im Sinne einer impliziten Vermittlung zu nutzen (E. Belke und G. Belke 2006). Insbesondere solche morphosyntaktischen Fähigkeiten sind für das Verständnis literater, bildungssprachlicher Texte von enormer Relevanz und sollten so früh wie möglich angebahnt werden (E. Belke 2025). Im schriftlichen Einsatz können gerade die in hohem Maße strukturierten Sprachspiele dabei helfen, sprachliche Strukturen und damit einhergehende taxonomische und sequenzi‐ elle Relationen zwischen Flexionsmorphemen explizit sichtbar zu machen. Denn die deutsche Orthografie bietet gerade mit Blick auf die Flexionsmorphologie eine stringente morphografische Kodierung und es ist davon auszugehen, dass der Erwerb bildungssprachlicher Fähigkeiten und der damit verbundene Ausbau literater Register eng gekoppelt ist an den Orthografie- und Schriftspracherwerb (E. Belke 2025). Da beim Sprachspiel Konstruktionen und Konstruktionsschemata verschie‐ dener Abstraktionsebenen zum Tragen kommen können, eröffnen Sprachspiele viel Spielraum für eine Binnendifferenzierung: Kinder mit weniger fortgeschrit‐ tenen Sprachkenntnissen können zunächst von der Reproduktion und kleineren Veränderungen der Sprachspiele profitieren, da die Strukturvorgabe die Aufga‐ benanforderungen der Sprachproduktion reduziert. Auch hinsichtlich der ko‐ gnitiven Ressourcen des Spracherwerbs ist eine Binnendifferenzierung möglich und relevant: Madlener-Charpentier und Behrens (2022: 49ff.) legen dar, dass ge‐ rade L2-Lernende im gesteuerten Erwerb wegen ihrer größeren Arbeitsgedächt‐ niskapazitäten und aufgrund ihrer fortgeschrittenen sprachlichen Fähigkeiten nicht mehr dazu tendieren, ganze Konstruktionen als Chunks zu memorieren, wie im Beispiel [ ein Schneider fing ’ne Maus ] aus Kapitel 2.2. L2-Lernende verarbeiten möglicherweise auch weniger aufmerksam die formbezogenen Details im Input und erhalten gleichzeitig in alltagssprachlichen Kontexten auch weniger wiederholt verwendete kommunikativ relevante Chunks als jüngere L1-Lernende mit vergleichbarem Sprachstand. Die Generative Textproduktion kann gerade hier eine positive Unterstützung im L2-Ewerb bieten, da eine Fokussierung auf die sprachliche Struktur im Sprachspiel nötig ist, um daran teilzuhaben. Das Sprachspiel bietet insofern eine Vereinfachung des Spracher‐ werbs für L2-Lernende, die dem des L1-Sprachinputs ähnelt. 98 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="99"?> 9 Ein Themenbereich, den wir im vorliegenden Beitrag nicht beleuchten konnten, sind die vielfältigen Anknüpfungspunkte an das literarische Lernen, das Sprachspiele ermöglichen - nicht nur in poetischen Texten, sondern auch in einigen Bilderbüchern mit wiederholten, strukturell parallelisierten Textsequenzen (vgl. G. Belke 2017, 2019). Mit der kognitiven Poetik ist im Kontext der gebrauchsbasierten kognitiven Linguistik, insbesondere der kognitiven Semantik, ein Forschungsfeld entstanden, das literaturwis‐ senschaftliche und linguistische Zugänge vereint (vgl. Zima 2021 für einen Überblick). Es wäre wünschenswert, dass auch gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Zu‐ gänge langfristig systematisch Eingang in diese interdisziplinäre Auseinandersetzung finden (s. auch G. Belke 2017; Hoffmann und Bergs 2018). Kinder, die im Spracherwerb weiter fortgeschritten sind, können Sprachspiele schon eigenständiger als Vehikel zur Erprobung und Strukturierung ihres weitgehend implizit repräsentierten Netzwerks an Konstruktionen und Kon‐ struktionsschemata nutzen, in dem sich so immer abstraktere Konstruktionen herausbilden (s. Arslan 2005). Diese Prozesse laufen zunächst implizit ab, können aber im Sinne einer Representational Redescription nach Karmiloff- Smith (1994) immer expliziter werden, bis hin zu für die metasprachliche Reflexion zugänglichen Repräsentationen (vgl. Bezirksregierung Köln 2021 für eine beispielhafte Umsetzung). 4 Fazit und Ausblick Kreativität spielt sowohl im natürlichen Spracherwerb, der im Kontext des ge‐ brauchsbasierten Paradigmas als Re-Konstruktion der Inputsprache verstanden wird, als auch im Sprachspiel eine zentrale Rolle, das - so Cook (2000) - ihre Entfaltung möglicherweise sogar erst ermöglicht. 9 Eine besondere Rolle spielt dabei die Erschaffung fiktionaler Welten, die breiten Raum für die Realisierung individueller Äußerungsbedürfnisse gibt. Darin liegt das didaktische Potenzial, das die Generative Textproduktion ausschöpft: Unsere Ausführungen zeigen, dass Sprachspiele (konstruktions)grammatisch relevante Relationen zwischen Lexemen, Konstruktionen und Konstruktionsschemata so darbieten, dass rele‐ vante Hinweise auf sprachliche Strukturen und Kategorien leichter aufmerksam verarbeitet werden können. Die im Sprachspiel präsentierten Relationen sind implizit erfassbar und laden zum Weiterdenken und Generieren eigener Fassun‐ gen ein. Um als Vehikel für die Entwicklung kreativen Denkens zu fungieren, sind Sprachspiele auf formale Muster und Fiktion angewiesen, wie Cook (2000) in der eingangs zitierten Passage herausstellt. Dabei kann die individuelle Kreativität der Lernenden in unterschiedlichem Maße ihren Eingang in das Sprachspiel fin‐ den. Umgekehrt kann der kreative produktive Umgang mit Sprachspielen bei der Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 99 <?page no="100"?> Vermittlung des Deutschen Kinder dabei unterstützen, wichtige Verknüpfungen in ihrem Konstruktionsnetzwerk zu üben und zu festigen. Didaktisch ermöglicht dies eine Binnendifferenzierung, ohne den Ausgangspunkt des sprachlichen Lernens individuell anzupassen. Dies ist gerade für heterogene Regelklassen ein großer Mehrwert (G. Belke 2019). Schließlich kann die Generative Textproduktion Kinder dafür sensibilisieren, dass Muster sprachlicher Ausdrucksformen spezifische Funktionen haben, und ihnen zeigen, wie sie die Muster für die Generierung eigener Äußerungen nutzen können. Diese Mustersensibilisierung bzw. -orientierung ist auch beim Erwerb der für fortgeschrittene, fachsprachliche Texthandlungen nötigen Aus‐ drucksformen und genrespezifischen Wissens nötig (Feilke 2012; Hoffmann und Bergs 2018). In diesem Sinne schließen wir unseren Beitrag mit einem von Cook (2000: 45) zitierten Sprachspiel (9) aus I. Opie und P. Opie (1959), in dem zu Paradoxien textsortenspezifisches Wissen über Reden und rhetorische Wen‐ dungen hinzutritt. Es spielt mit lautlichen Verballhornungen, Vertauschungen von Wörtern und Paradoxien auf Basis konkreter wie formelhafter literater Äußerungen, also verschiedenen, in sich klar erkennbaren Formen des Bruchs mit den textsortenspezifischen Erwartungen: (9) Ladles and Jellyspoons, - I stand upon this speech to make a platform, - The train I arrived on has not yet come, - So I took a bus and walked. - I come before you to stand behind you - And tell you something - I know nothing about. Literatur Archibald, Lisa M. D. (2017). Working memory and language learning: A review. Child Language Teaching and Therapy 33 (1), 5-17. Arslan, Feride (2005). Sprachvermittlung von Anfang an: Ein integratives Konzept zur Einführung der Artikel und ihrer Flexionen. Praxis Grundschule 2, 12-18. Autor: innengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2022). Bildung in Deutschland kompakt 2022. Bielefeld: wbv. Abrufbar unter: https: / / www.bildungsbericht.de/ de/ 100 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="101"?> bildungsberichte-seit-2006/ bildungsbericht-2022/ pdf-dateien-2022/ bildungsbericht-2 022-kompakt.pdf (Stand: 20.05.2024). Bates, Elizabeth/ MacWhinney, Brian (1987). Competition, variation, and language lear‐ ning. In: MacWhinney, Brian (Hrsg.). Mechanisms of Language Acquisition. Lawrence Erlbaum Associates, 157-193. Bebout, Johanna/ Belke, Eva (2017). Language play facilitates language learning: Optimi‐ zing the input for rapid gender-like category induction. Cognitive Research: Principles and Implications 2, 11. Behrens, Heike (2009). Usage-based and emergentist approaches to language acquisition. Linguistics 47 (2), 383-411. Behrens, Heike (2020). From grammatical categories to processes of categorization: The acquisition of morphosyntax from a usage-based perspective. In: Rowland, Caroline F./ Twomey, Katherine F./ Ambridge, Ben/ Theakston, Anna L. (Hrsg.). Current Perspectives on Child Language Acquisition. How children use their environment to learn. Amsterdam: Benjamins, 91-111. Behrens, Heike (2021). Constructivist approaches to first language acquisition. Journal of Child Language 48 (5), 959-983. Belke, Eva (2025). Vermittlung morphosyntaktischer und orthographischer Kompeten‐ zen von Anfang an. In: McElvany, Nele/ Kleinkorres, Ruben/ Becker, Michael/ Dignath, Charlotte/ Ohle-Peters, Annika (Hrsg.). IFS Bildungsdialoge 7: Förderung sprachlicher Kompetenzen als Grundlage für mehr Bildungsgerechtigkeit. Münster: Waxmann. Belke, Eva/ Belke, Gerlind (2006). Das Sprachspiel als Grundlage institutioneller Sprach‐ vermittlung. In: Becker, Tabea/ Peschel, Corinna (Hrsg.). Gesteuerter und ungesteuer‐ ter Grammatikerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 174-200. Belke, Eva/ Dresler, Tabea (2021). Die Generative Textproduktion: Sprachspiele, Kinder‐ reime, Lieder und Bilderbücher als Grundlage der impliziten Vermittlung grammati‐ scher Fähigkeiten. Sprachtherapie aktuell: Forschung - Wissen - Transfer, 2, e2021-39. Belke, Eva/ Kuba, Sarah/ Braun Pia Marie (2022). Optimizing the presentation of the input facilitates the acquisition of gender-like subclasses in preschool children. AMLaP 2022, York. Abrufbar unter: https: / / ruhr-uni-bochum.sciebo.de/ s/ AzN75AuUcghbnJj (Stand: 23.03.2025). Belke, Gerlind (2003). Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht: Sprachspiele, Spracher‐ werb, Sprachvermittlung. 3. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Belke, Gerlind (2017). Vom Grüffelo zum Sprachabschneider. Die ästhetische Funktion von Sprache als Grundlage einer integrativen Deutschdidaktik in mehrsprachigen Lerngruppen. In: Eder, Ulrike/ Dirim, İnci (Hrsg.). Lesen und Deutsch lernen. Wege der Förderung früher Literalität durch Kinderliteratur. Wien: Praesens, 15-33. Belke, Gerlind (2019). Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 101 <?page no="102"?> Belke, Gerlind (Hrsg.) (2024a). Mit Sprache(n) spielen: Kinderreime, Gedichte und Geschichten für Kinder zum Nachsprechen, Mitmachen und Selbermachen. 13. Aufl. Bielefeld: Schneider im wbv. Belke, Gerlind (2024b). Poesie und Grammatik. Kreativer Umgang mit Texten im Deutschunterricht mehrsprachiger Lerngruppen. Für die Vorschule, Grundschule und Orientierungsstufe. Textkommentar. 9. Aufl. Bielefeld: wbv Media. Bezirksregierung Köln (Hrsg.) (2021). DemeK: Deutschlernen in mehrsprachigen Klas‐ sen. Leitfaden zur Basisfortbildung. Bybee, Joan L. (2006). From usage to grammar: The mind’s response to repetition. Language 82, 711-733. Carvalho, Adélia/ Vas de Carvalho, Jo-o (2014). Es war einmal ein Hund. Zürich: NordSüd. Childers, Jane B./ Tomasello, Michael (2001). The role of pronouns in young children’s acquisition of the English transitive construction. Child Development 37, 739-748. Cook, Guy (2000). Language Play, Language Learning. Oxford: Oxford University Press. Diessel, Holger (2019). The Grammar Network. How Linguistic Structure is Shaped by Language Use. Cambridge: Cambridge University Press. Ellis, Nick C. (2006). Selective attention and transfer phenomena in L2 acquisition: Contingency, cue competition, salience, interference, overshadowing, blocking, and perceptual learning. Applied Linguistics, 27 (2), 164-194. Feilke, Helmuth (2012). Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. Praxis Deutsch 39 (233), 4-13. Frieg, Hendrike/ Belke, Eva/ Belke, Gerlind/ Hoffmann, Reinhild/ Bebout, Johanna/ Kauf‐ feldt, Linda/ Kirschke, Claudia (2014). Dschungeltanz und Monsterboogie. Lieder zur systematischen Sprachvermittlung im Vor- und Grundschulalter. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Goldberg, Adele (2019). Explain Me This: Creativity, Competition, and the Partial Productivity of Constructions. Princeton: Princeton University Press. Goodman, Judith C./ Dale, Philip S./ Li, Ping (2008). Does frequency count? Parental input and the acquisition of vocabulary. Journal of Child Language 35 (3), 515-531. Gries, Stefan Th. (2022). On, or against? , (just) frequency. In: Boas, Hans C. (Hrsg.). Di‐ rections for Pedagogical Construction Grammar. Berlin/ Boston: De Gruyter Mouton, 47-72. Hadley, Pamela A./ Rispoli, Matthew/ Holt, Janet K./ Papastratakos, Theodora/ Hsu, Ning/ Kubalanza, Mary/ McKenna, Megan M. (2017). Input subject diversity enhances early grammatical growth: evidence from a parent-implemented intervention. Language Learning and Development 13 (1), 54-79. Haueis, Eduard (1985). Sprachspiele und die didaktische Modellierung von Wissensstruk‐ turen. In: Stötzel, Georg (Hrsg.). Germanistische Sprachwissenschaft (Teil 1): Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur. Berlin: De Gruyter, 658-667. 102 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="103"?> Haueis, Eduard/ Lösener, Hans (2022). Die sprechbare Schrift - Zur Sprachlichkeit des literarischen Lesens im Deutschunterricht. Berlin: Peter Lang. Hoffmann, Thomas/ Bergs, Alexander (2018). A Construction Grammar approach to genre. CogniTextes 18, 1. Jakobson, Roman (2007). Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie: Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe (Band 1). Berlin/ New York: De Gruyter. Karmiloff-Smith, Anette (1994). Précis of Beyond Modularity: A developmental perspec‐ tive on cognitive science. Behavioral and Brain Sciences, 17, 693-745. Kauffeldt, Linda/ Kirschke, Claudia/ Bebout, Johanna/ Frieg, Hendrike/ Belke, Eva/ Hoff‐ mann, Reinhild/ Belke, Gerlind (2014). Dschungeltanz und Monsterboogie. Singen und Spielen mit Sprache. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Keller, Heidi (2022). Cultures of infancy (Classic ed.). Oxford: Routledge. Küntay, Aylin C./ Slobin, Dan I. (2002). Putting interaction back into child language: Examples from Turkish. Psychology of Language and Communication 6, 5-14. Lester, Nicholas A./ Moran, Steven/ Küntay, Aylin C./ Allen, Shanley E.M./ Pfeiler, Bar‐ bara/ Stoll, Sabine (2022). Detecting structured repetition in child-surrounding speech: Evidence from maximally diverse languages. Cognition 221 (April), 104986. Link, Jürgen (1983). Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München: Wilhelm Fink. Madlener-Charpentier, Karin/ Behrens, Heike (2022). Konstruktion(en) erst- und zweit‐ sprachlichen Wissens: Lernprozesse und Steuerungsoptionen aus gebrauchsbasierter Perspektive. In: Madlener-Charpentier, Karin/ Pagonis, Giulio (Hrsg.). Aufmerksam‐ keitslenkung und Bewusstmachung in der Sprachvermittlung: Kognitive und didak‐ tische Perspektiven auf Deutsch als Erst-, Zweit- und Fremdsprache. Tübingen: Narr Francke Attempto, 31-64. McCauley, Stewart M./ Christiansen, Morten H. (2019). Language learning as language use: A cross-linguistic model of child language development. Psychological Review 126 (1), 1-51. Moran, Steven/ Blasi, Damián E./ Schikowski, Robert/ Küntay, Aylin C./ Pfeiler, Bar‐ bara/ Allen, Shanley/ Stoll, Sabine (2018). A universal cue for grammatical categories in the input to children: Frequent frames. Cognition 175, 131-140. Naigles, Letitia R./ Hoff-Ginsberg, Erika (1998). Why are some verbs learned before other verbs? Effects of input frequency and structure on children’s early verb use. Journal of Child Language 25, 95-120. Opie, Iona/ Ooie, Peter (1959). The Lore and Language of Scholchildren. New York: nyrb. Perruchet, Pierre/ Pacton, Sebastien (2006). Implicit learning and statistical learning: One phenomenon, two approaches. Trends in Cognitive Sciences 10.5, 233-238. Zur Rolle der Kreativität im produktiven Umgang mit Sprachspielen 103 <?page no="104"?> Runco, Mark A./ Jaeger, Garrett J. (2012). The standard definition of creativity. Creativity Research Journal 24 (1), 92-96. Stein, Stephan/ Stumpf, Sören (2019). Muster in Sprache und Kommunikation: Eine Einführung in Konzepte sprachlicher Vorgeformtheit. Berlin: Erich Schmidt. Tomasello, Michael (2000). First steps toward a usage-based theory of language acquisi‐ tion. Cognitive Linguistics 11 (1/ 2), 61-82. Tomasello, Michael (2003). Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Cambridge: Harvard University Press. Vigliocco, Gabriella/ Meteyard, Lotte/ Andrews, Mark/ Kousta, Strvroula (2009). Toward a theory of semantic representation. Language and Cognition 1 (2), 219-247. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva (i.V.). Training the acqui‐ sition of German gender and case in pre-literate children with specially designed picture books and songs. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva/ Belke, Gerlind/ Lehmann, Bernd (2022a). Immer anders. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva/ Belke, Gerlind/ Lehmann, Bernd (2022b). Prinz Bärtram brummt wieder. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva/ Belke, Gerlind/ Lehmann, Bernd (2022c). Unruhe im Zoo. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. von Lehmden, Friederike/ Porps, Lisa/ Müller-Brauers, Claudia (2017). Grammatischer Sprachinput in Kinderliteratur - eine Analyse von Genus-Kasus-Hinweisen in input- und nicht inputoptimierten Bilderbüchern. Forschung Sprache 2, 44-61. Welke, Klaus (2020). Konstruktionsgrammatik: Konstruktionen ohne Grammatik? Zeit‐ schrift für germanistische Linguistik 48, 389-423. Zepter, Alexandra L. (2022). Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens. In: Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Tübingen: Narr, 208-230. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. Zima, Elisabeth (2021). Einführung in die gebrauchsbasierte Kognitive Linguistik. Ber‐ lin/ Boston: De Gruyter. 104 Eva Belke & Friederike von Lehmden <?page no="105"?> Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität Beobachtungen zum Wiederverwerten von Vertextungs- und Markierungsressourcen beim Erklären im Unterrichtsgespräch Miriam Morek & Vivien Heller Abstract: Gegenstand des Beitrags sind Prozesse des Wiederverwertens sprachlicher und inhaltlich-struktureller Elemente (‚Recycling‘) bei auf‐ einanderfolgenden Erklärungen von Schüler: innen in fachlichen Unter‐ richtsgesprächen. Ausgehend von theoretischen Annahmen zum Status diskursiver Praktiken zwischen Schematizität und Kreativität und zur Rolle von Modellen für die diskursive Partizipation führen wir an einem Ausschnitt einer Biologiestunde en detail schülerseitige Recyclingprozesse beim Erklären vor. In Erweiterung der bestehenden Forschung zeigen wir, dass sich Recyclings nicht nur auf die Ebene sprachlicher Formen beziehen, sondern auch auf Strukturen des inhaltlichen Aufbaus. Wir argumentieren, dass das Übernehmen, Modifizieren und Erweitern von Sprach- und Vertextungsstrukturen aus Vorgängerbeiträgen eine sowohl individuelle als auch kollektive Ressource des fokussierten Übens im Ange‐ sicht globalstruktureller Anforderungen darstellt. Ein derartiger kreativer Umgang mit einem interaktiven Modell einer diskursiven Problemlösung erscheint nicht nur, aber gerade auch für Lernende funktional, die (noch) nicht routiniert über sprachstrukturelle und diskursive Repertoires im Deutschen verfügen. 1 Einleitung: Problemaufriss und Fragestellung Diskursive Praktiken - insbesondere des Erklärens, Argumentierens und ande‐ rer wissenskonstruierender Gattungen - können als Kern bildungssprachlichen Handelns im Medium der Mündlichkeit verstanden werden (Morek und Heller 2012, 2019; vgl. auch: Feilke 2012; Steinhoff 2019; Vollmer und Thürmann <?page no="106"?> 2010; Zepter und Schindler 2025). Sie stehen einschließlich ihrer gattungsspezifi‐ schen Vertextungs- und sprachlichen Realisierungsmuster im „kommunikativen Haushalt“ (Luckmann 1986: 206) einer Gesellschaft als etablierte ‚Standardlö‐ sungen‘ für wiederkehrende kommunikative Probleme bereit. Insofern mag es zunächst überraschen, nach dem Ort und der Rolle von Kreativität im bildungssprachlichen Handeln zu fragen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass Kreativität sehr viel mit Prozessen des Aufgreifens, Abwandelns, Rekombinie‐ rens und Neukontextualisierens zu tun hat (Vygotsky 1967/ 2004; Goodwin 2013; vgl. die Einführung von Zepter und Schindler 2025), öffnet dies den Blick für interaktions- und auch spracherwerbstheoretisch relevante Beobachtungen zum flexiblen Umgang mit Modellen für das Versprachlichen von Erklärungen und Argumenten im Rahmen diskursiver Praktiken. Auf Basis ausgewählter Sequenzen aus videografierten Unterrichtsgesprä‐ chen möchten wir die Aufmerksamkeit auf ein Phänomen lenken, das wir als ‚Recycling‘ (vgl. auch Cekaite und Aronsson 2004; Heller et al. 2015; Laalo und Argus 2020) bezeichnen: Damit fassen wir die Beobachtung, dass im selben Gespräch vorgängig vollzogene diskursive Beiträge partiell und modifiziert wiederaufgenommen und für die Produktion eines eigenen explanativen oder argumentativen Beitrags fruchtbar gemacht werden. Ausgehend von theoreti‐ schen Annahmen zum Status diskursiver Praktiken zwischen Schematizität und Kreativität (Abschnitt 2) und zur Rolle von Modellen für die diskursive Partizipation (Abschnitt 3) führen wir an einem Ausschnitt einer Biologiestunde en detail schülerseitige Recyclingprozesse beim Erklären vor (Abschnitt 4). Wir arbeiten heraus, inwiefern das Übernehmen, Modifizieren und Erweitern von Sprach- und Vertextungsstrukturen aus Vorgängerbeiträgen eine sowohl individuelle als auch kollektive Ressource des fokussierten Übens im Angesicht globalstruktureller Anforderungen darstellt. Ein derartiger kreativer Umgang mit einem interaktiven Modell einer diskursiven Problemlösung erscheint nicht nur, aber gerade auch für Lernende funktional, die (noch) nicht routiniert über sprachstrukturelle und diskursive Repertoires im Deutschen verfügen. Für die Erforschung von Mechanismen des (schulischen) Erwerbs komplexer sprachlicher Fähigkeiten sind die hier zunächst im Rahmen einer Fallstudie gewonnenen analytischen Beobachtungen insofern relevant, als sie auf die Rolle peerseitigen Modelllernens hinweisen, das bislang aufgrund der dominan‐ ten Fokussierung lehrerseitiger Unterstützungs- und Modellierungsaktivitäten weitgehend vernachlässigt wurde. 106 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="107"?> 2 Diskursive Praktiken zwischen Schematizität und Kreativität Voraussetzung für gelingende Interaktion - auch im Unterricht - ist, dass die Beteiligten ein gemeinsames Verständnis davon entwickeln, was sie gerade miteinander tun (erzählen, streiten, planen usw.), und ihre konversationellen Handlungszüge entsprechend koordinieren. Dies verläuft i.d.R. erstaunlich reibungslos und ohne metasprachliche Explizierung. Ansätze der Wissenssozi‐ ologie und der linguistischen Anthropologie erklären dies damit, dass Interakti‐ onsbeteiligte auf eine „Tradition des Sprechens“ (Auer 2013: 183) zurückgreifen, die ihnen dabei hilft, eine ungefähre Erwartung davon aufzubauen, wer welche Rolle und Aufgaben in einer Gesprächsaktivität übernimmt. Genauer werden solche Traditionen des Sprechens mit den Konzepten kommunikative Gattung (Luckmann 1986; Bakhtin 1986; Hanks 1987; Günthner und Knoblauch 1994) bzw. diskursive Praktik (Quasthoff et al. 2017; vgl. Deppermann et al. 2016) gefasst. Luckmann zufolge lassen sich kommunikative Gattungen als verfestigte und sozial sedimentierte Ablaufbzw. Handlungsschemata verstehen, die sich für die Bearbeitung wiederkehrender, gesellschaftlich relevanter kommunikati‐ ver ‚Probleme‘ (z.B. das Teilen und Bewerten von Erfahrungen, die Vermittlung von Wissen) entwickelt haben. Verfestigungen beziehen sich, wie die linguisti‐ sche Forschung zu kommunikativen Gattungen gezeigt hat, auf unterschiedliche Ebenen: auf Ablaufmuster bzw. gesprächsstrukturelle Aufgaben (Hausendorf und Quasthoff 1996) wie auch auf die Vertextung bzw. den inhaltlichen Aufbau von Gesprächsbeiträgen sowie die sprachlichen Formen, mit denen konversationelle Handlungszüge realisiert werden (Günthner und Knoblauch 1994). Kommunikative Gattungen wie das Erklären und Argumentieren sind da‐ durch charakterisiert, dass ein: e (beim Argumentieren auch mehrere) Betei‐ ligte: r ein Äußerungspaket (Sacks 1995: 3-31) produziert (bzw. produzieren), in dem ein Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Aussagen etabliert wird. Für diese Aufgabe der Vertextung hat sich gesellschaftlich ein Reper‐ toire an Vertextungsverfahren (Heller 2021) entwickelt. So lassen sich sog. Veranschaulichungsverfahren wie z.B. Metaphern, Vergleiche, Szenarios ausma‐ chen (Brünner und Gülich 2002; vgl. auch Birkner und Ehmer 2013; Knopp und Schindler 2021) und auch abstrahierende Verfahren (z.B. generalisierende Formulierungen, Paraphrasen), mit denen situativ verankerte und episodisch strukturierte Bedeutungen in transsituativ Gültiges transformiert werden (z.B. Drescher 1992; Deppermann und Stefani 2019; Matschke 2024). Kinalzik (2024) zeigt, dass diese Verfahren auch funktional kombiniert werden können (‚vom Abstrakten zum Konkreten‘ oder umgekehrt). Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 107 <?page no="108"?> Schließlich sind auch auf Ebene der sprachlichen Markierungsformen kon‐ ventionalisierte, vorgeformte Formulierungen (Dausendschön-Gay et al. 2007) bzw. Konstruktionen (Bücker et al. 2015) beschrieben worden, bspw. Phraseo‐ logismen, formelhafte Wendungen (auf Deutsch gesacht, Dausendschön-Gay et al. 2007: 184) oder auch syntaktische Konstruktionen, die sich für bestimmte kommunikative Aufgaben etabliert haben (z.B. die Verbspitzenstellung zur Projektion von Witzen, vgl. Auer 1993). Eine solche Rekurrenz bzw. Musterhaftigkeit entlastet die Sprecher: innen nicht nur bei der Formulierungsarbeit und Koordination; sie sorgt auch für die Erkennbarkeit und den Aufbau wechselseitiger Erwartungen bzgl. der gemeinsam vollzogenen Aktivität. Die Orientierung an solchen vorgeprägten, in einer Diskursgemeinschaft verfügbaren Ablaufmustern, Vertextungsverfahren und Formulierungsressourcen scheint auf den ersten Blick nahezulegen, dass sprachliches Handeln weniger kreativ, sondern vielmehr hochgradig routini‐ siert ist. Es besteht jedoch Einigkeit, dass diese Verfestigungen lediglich Lö‐ sungsmodelle (Dausendschön-Gay et al. 2007: 182) bzw. einen Orientierungsrah‐ men (Günthner und Knoblauch 1994: 700) darstellen und von Interaktant: innen flexibel genutzt werden können, mehr noch: müssen. Denn die jeweils neuen situativen Erfordernisse machen ein schematisches Nutzen von Vertextungs- und Formulierungsverfahren unmöglich und zwingen die Beteiligten gleichsam dazu, Verfahren kontextsensitiv auf situative Bedarfe und Zwecke zuzuschnei‐ den. In der Notwendigkeit eines solchen kontextualisierenden Umgangs mit Modellen sehen wir den kreativen Charakter diskursiver Praktiken. Kreative Prozesse wurden in der linguistischen Forschung selten explizit zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Für unsere weiteren Überlegungen besonders relevant sind jedoch Ansätze aus der Psychologie und linguistischen Interaktionsforschung. Aus psychologischer Sicht konzeptualisiert Vygotsky (1967/ 2004: 12) Kreativität als Fähigkeit, „to combine elements to produce a structure, to combine the old in new ways that is basis of creativity“. Interne, d.h. kognitive kreative Operationen sind ihm zufolge (ebd.) das Aufbrechen („dissociation“) eines bestehenden komplexen Ganzen in seine individuellen Teile, die Veränderung („change“) der Teile sowie das neue Verbinden („associa‐ tion“) und Kombinieren („combination“) zu einem neuen strukturierten Ganzen. Externe Operationen betreffen das kommunikative Darstellen des Kombinierten innerhalb von Interaktionen, in Form von Texten oder anderen Artefakten. Während sich Vygotsky primär auf kognitive Operationen bezieht, verfolgt Goodwin (2013) einen linguistischen, genauer: interaktionsanalytischen Ansatz und zeigt an der multimodalen Oberfläche von Gesprächen, dass und wie Interaktionsbeteiligte semiotisches Material - lexikalische, syntaktische und 108 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="109"?> prosodische Ressourcen ebenso wie visuell wahrnehmbare körperliche displays - modifiziert wiederverwenden. Vorgängerhandlungen werden nicht einfach als Ganzes recycelt, sondern dekomponiert; wiederzuverwendende Teile werden modifiziert und in eine neue Struktur bzw. „contextual configuration“ (Goodwin 2000: 1490) eingefügt. Demzufolge zeichnet sich Interaktion also stets durch zwei Facetten aus: „1) preserving structure provided by the activities of earlier actors while 2) systematically modifying that structure to build something new“ (Goodwin 2013: 9). Diese Prozesse kennzeichnen Goodwin zufolge jegliche Art von Interaktion; sie treten bspw. besonders deutlich hervor im interaktiven Scherzen und in sprachspielerischen Aktivitäten (Cekaite und Aronsson 2004, 2014; Cekaite 2018), bei denen sprachliches Material seiner ursprünglichen Bedeutung entleert, in modifizierter Form wiederholt und spielerisch genutzt wird. 3 Nutzung von Modellen als Ressource für die diskursive Partizipation an fachlichen Unterrichtsgesprächen Bisher haben wir dargestellt, inwiefern diskursive Praktiken gesellschaftlich sedimentierte, kontextfreie Ressourcen (Sacks et al. 1974: 699) darstellen, deren kontextsensitiver Vollzug (ebd.) in konkreten Kommunikationssituationen als kreativer Akt des Zuschneidens und Modifizierens verstanden werden kann. Geht es nun um Gesprächsteilnehmer: innen, die sich erst im Erwerb diskursiver Kompetenzen in einer Erst- oder Zweitsprache befinden, ist die Verfügbarkeit modellhafter ‚Vorlagen‘ für den Vollzug diskursiver Praktiken unter sprach‐ produktiven Gesichtspunkten eine wichtige Ressource (z.B. Quasthoff 1993; Becker 2001; Quasthoff et al. 2019): Bisherige Studien nicht nur, aber v.a. im Zusammenhang mit dem Diskurserwerb zeigen, dass die Orientierung an 1. konventionellen Modellen, 2. individuellen Modellen und 3. interaktiven Modellen bei der Bewältigung sprachlich-diskursiver Herausforderungen helfen kann. Zu 1.: Für mündliche Fantasieerzählungen von Grundschulkindern zeigen etwa Quasthoff et al. (2019), dass der Rückgriff auf vorgeformte gattungsspe‐ zifische Formulierungen (z.B. eines Tages, ebd.: 260) und konventionalisierte Vertextungselemente (z.B. return-home-Erzählfigur als narratives Schließungs‐ element), die aufgrund rezeptiver Gattungserfahrungen zur Verfügung stehen dürften, für Kinder eine Strukturierungshilfe darstellen kann; ihr Einsatz v.a. Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 109 <?page no="110"?> an neuralgischen Punkten des Erzählens kann eine Steigbügelfunktion für die Bewältigung narrativer Anforderungen übernehmen. Zu 2.: Dass für die Bewältigung diskursiver Anforderungen auch das Wie‐ derverwerten individuell vorgeformter sprachlicher und diskursiver Strukturen funktional ist, konnten bisher v.a. Arbeiten zutage fördern, die das mehrfache Erzählen ein und desselben Vorfalls durch den: dieselbe Sprecher: in untersuchen (Quasthoff 1993; Heller et al. 2015; Knerich 2015). So beobachtet Quasthoff (1993) im Vergleich von retellings durch jeweils dieselben Kinder an drei aufeinander‐ folgenden Tagen wortgleiche oder modifizierte Wiederverwertungen der an Tag 1 gewählten lexikalischen und syntaktischen Strukturen in den Folgeerzählun‐ gen, und zwar besonders für die diskursiv noch weniger kompetenten 5- und 7-jährigen Kinder. Die beobachtete Konstanz in den sprachlichen Formen ist laut Quasthoff (1993: 49) „nicht einfach und ausschließlich als eine Erinnerung an eine einmal gefundene Lösung eines Formulierungsproblems“ zu deuten, sondern als ökonomische Strategie: Der Planungsaufwand auf lexikalischer und syntaktischer Ebene wird durch Routinisierung reduziert, sodass mehr Konzen‐ tration in globalstrukturelle Planungen (z.B. Kohärenz und Vollständigkeit der Geschichte) fließen kann (ebd.: 54). Auch beim spontanen Wiedererzählen in Alltagsgesprächen (Heller et al. 2015) lässt sich für zweite Erzähldurchläufe von Kindern eine Orientierung am eigenen Modell verzeichnen, die es ermöglicht, ‚missglückte‘ narrative Struk‐ turen im neuerlichen Anlauf zu ‚reparieren‘ (z.B. durch stärkere Detaillierung oder Dramatisierung) bei gleichzeitiger Beibehaltung bestimmter Ausdrucks- und Vertextungsressourcen. Dass das Wiederverwerten einmal erprobter lexi‐ kalischer, syntaktischer und diskursiver Strukturen auch von erwachsenen Sprecher: innen genutzt wird, die um Sprache ringen (DaZ-Lerner: innen: Heller et al. 2015; Angstpatient: innen, die einen Anfall schildern: Knerich 2015), spricht dafür, dass wir es mit einer hochgradig funktionalen „Produktionsressource“ (Heller et al. 2015: 362) zu tun haben, die das Bewältigen neuer, thematisch oder gesprächsstrukturell aber vergleichbarer diskursiver Aufgaben ermöglicht. Zu 3.: Schließlich gibt es aus verschiedenen Forschungszusammenhängen Hinweise darauf, dass auch vorgängige Gesprächsbeiträge von anderen Inter‐ aktant: innen unmittelbar als Modell fruchtbar gemacht werden können, wenn es um die Bearbeitung diskursiver Anforderungen geht. In einem experimentellpsycholinguistischen Zugriff untersuchen z.B. die Arbeiten von Branigan et al. (2000) sowie Garrod und Anderson (1987), wie Sprecher: innen nacheinander mündliche Beschreibungen von Labyrinthen liefern. Sie zeigen, dass sowohl syntaktische und lexikalische (z.B. box vs. square) als auch globale Muster deskriptiver Vertextung an der unmittelbar zuvor von dem: der Gesprächspart‐ 110 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="111"?> ner: in gehörten Beschreibung ausgerichtet werden (z.B. Verknüpfung von Positionen im Labyrinth in Form von Wegen zwischen zwei Punkten vs. bündelndes Nennen von Spalte-Reihe-Indizes). Branigan et al. (2000: 21) deuten solche Konvergenzen als Priming-Phänomen: „Prior processing of a particular structure can facilitate subsequent use of that structure“. Zugleich sehen sie in der Wiederverwendung vorgängig rezipierter sprachlicher Strukturen eine Ent‐ lastungsfunktion, insofern eine zu liefernde Beschreibung nicht „from scratch“ (ebd.: 14) produziert zu werden braucht und die Beibehaltung sprachlicher und diskursiver Strukturen zugleich im Sinne eines „conceptual pact“ (ebd.: 14) mit dem Gegenüber rezeptionserleichternd wirken kann. Dass interaktive Modelle auch unter Heranwachsenden und in (institutio‐ nellen) Mehrpersonengesprächen zum Tragen kommen, legen einzelne Arbei‐ ten zur Unterrichts- und Peer-Interaktion offen: In ihrer Untersuchung zum Argumentieren unter (Klein-)Kindern arbeitet Arendt (2019: 279) das „lokale Imitieren und Adaptieren von Bezugsäußerungen eines Vorgängers“ als zentra‐ len Gesprächs- und Erwerbsmechanismus heraus, bei dem Kinder auf lokaler Ebene Vorbilder entweder direkt imitieren oder in einem späteren Kontext adaptieren (vgl. auch Cekaite und Aronsson 2004; Stude 2013: 243). Solche Wie‐ deraufnahmen beschränken sich nicht auf die verbale Ebene, sondern können auch körperliche Ressourcen einschließen. So zeigt Schönfelder (2024), dass in Argumentationen zwischen Kindern redebegleitende pragmatische Gesten des: der vorigen Sprecher: in wiederaufgegriffen werden, um Kohärenz zu stiften oder auch Koalitionen sichtbar zu machen. Heller und Morek (2015: 18) beobach‐ ten für Unterrichtsgespräche, dass diskursive Beiträge einzelner Schüler: innen noch einmal durch die Lehrkraft in pointierter, kondensierter Weise unter Hervorhebung ihrer Vertextungsstruktur und Markierung wiederholt und somit als gemeinsamer Bezugspunkt für das weitere diskursive Agieren modelliert werden. Besonders instruktiv für den vorliegenden Beitrag erscheint schließlich die Studie von Anderson et al. (2001): Sie konnten mit einem quantitativ orientierten Vorgehen bei der Untersuchung unterrichtlicher Kleingruppengespräche in vierten Klassen zeigen, dass schülerseitig eingebrachte argumentative Mittel (sog. argument stratagems, z.B. ‚Einladen der Meinung Dritter in Schiedsrichter‐ funktion‘, ‚Versetzung des: der Zuhörenden in ein Szenario‘), die auch sprachlich vorgeformt sein können (z.B. I think [POSITION] because [REASON]), im Verlauf eines Unterrichtsgesprächs von anderen Schüler: innen aufgegriffen werden: Once a useful stratagem has been used by a child during a discussion, it tends to spread to other children and occur with increasing frequency. After the first appearance of Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 111 <?page no="112"?> a stratagem, the probability that it will appear again usually rises and remains high. (Anderson et al. 2001: 1) Das als „Snowballing“ (ebd.) bezeichnete Aufgreifen der von anderen genutzten argumentativen Mittel verstehen die Autor: innen als Verfahren, Ausdrucksres‐ sourcen des Diskutierens, die sich als funktional erwiesen haben und für die Schüler: innen erreichbar erscheinen, für das eigene Sprachhandeln zu nutzen. Ähnlich einzuordnen sind auch spracherwerbsbezogene Beobachtungen zu Erwachsenen-Kind-Interaktionen (z.B. Laalo und Argus 2020; Morek 2020; Quasthoff und Kluger 2021), in denen sichtbar wird, dass Kinder Ausdrucksres‐ sourcen, die zunächst vom Erwachsenen gebraucht wurden, aufgreifen und später verstärkt nutzen. Insgesamt also lässt sich festhalten, dass diskursive Praktiken sich auf‐ grund ihres Charakters als gesellschaftlich verfestigte kommunikative Pro‐ blemlösungen stets zwischen Schematizität auf der einen und Kontextualisie‐ rung(snotwendigkeit) auf der anderen Seite bewegen (vgl. auch Ohlhus 2014). Insbesondere für Gesprächsteilnehmer: innen, die erst dabei sind, diskursive Kompetenzen auf- und auszubauen, erscheint die Nutzung konventionell zur Verfügung stehender, individuell bereits vorgängig erprobter sowie interaktiv verfügbarer modellhafter kommunikativer Problemlösungen als funktionale Entlastungsstrategie, um komplexen diskursiven Anforderungen gerecht wer‐ den zu können. Wie eine Orientierung an bzw. kreative Wiederverwertung von Peer-Modellen im Kontext von Schulunterricht aussehen mag, ist jedoch bislang nicht untersucht. 4 Kreative Recycling-Prozesse im Unterrichtsgespräch: Exemplarische Analyse einer Sequenz von schülerseitigen Erklärungen Im Folgenden untersuchen wir exemplarisch, wie Schüler: innen Strukturen vorangegangener Äußerungspakete aufgreifen und für eigene Beiträge zum fachlichen Unterrichtsgespräch nutzen. Wir greifen dazu auf ein 34-stündiges Korpus von Unterrichtsvideografien aus dem Projekt „Sprachbildung interaktiv (Sprint)“ zurück, in dem Lehrpersonen für diskurserwerbsförderliches Lehrer‐ handeln weitergebildet wurden, wobei ein Schwerpunkt auf dem Etablieren diskursiver Anforderungen zum Berichten, Erklären und Argumentieren lag. Im Zuge unserer Untersuchungen zur lehrerseitigen Diskurserwerbsunterstützung sind wir auf das Phänomen gestoßen, dass Schüler: innen vorangegangene Schülerbeiträge als interaktives Modell für die Produktion ihres eigenen Äuße‐ rungspakets nutzten. Diese Beobachtung nahmen wir zum Ausgangspunkt 112 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="113"?> eines zweiten Analysedurchgangs, der zweischrittig angelegt war. Zunächst wurden in den nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribierten Unterrichtsge‐ sprächen Sequenzen identifiziert, in denen im Anschluss an eine lehrerseitige diskursive Anforderung mehrere Äußerungspakete von Schüler: innen folgten, die irgendwie geartete Ähnlichkeiten aufwiesen. Die Schülerbeiträge mussten dabei nicht unmittelbar aneinander anschließen, sich aber erkennbar auf densel‐ ben globalen Zugzwang (d.h. die kommunikative Erwartung, als nächsten Ge‐ sprächszug ein explanatives oder argumentatives Äußerungspaket anzuschlie‐ ßen) beziehen. In einem zweiten Schritt wurde mikroanalytisch untersucht, welche Strukturen Schüler: innen wiederverwendeten und wie sie diese für den kommunikativen Zweck ihres eigenen Beitrags kreativ modifizierten. Ein solches mehr oder weniger stark modifiziertes Wiederverwenden lexikalischer, syntaktischer und diskursiver Elemente bzw. Ressourcen innerhalb derselben Interaktionssituation bezeichnen wir als Recycling (vgl. Cekaite und Aronsson 2004; Heller et al. 2015; Laalo und Argus 2020). Es findet sich in unseren Daten auf den Ebenen a. der Vertextung, d.h. der Auswahl semantischer Elemente und ihrer globalen Strukturierung, b. der Markierung, d.h. der lexikalischen und syntaktischen Formen, mit denen der Zweck und die globale Struktur des Äußerungspakets erkennbar gemacht werden (z.B. Konnektoren, syntaktische Konstruktionen). Wie genau Schüler: innen im Rahmen fachlicher Unterrichtsgespräche Recy‐ clings vollziehen, zeigen wir exemplarisch an einer prototypischen Sequenz, die aus einer Biologiestunde einer sechsten Klasse stammt. Die Schüler: innen sprechen bzw. erwerben Deutsch größtenteils als Zweitsprache. Die Stunde beginnt mit einer Rekapitulation der Inhalte der vorangegangenen Stunde. Mit der Frage was haben wir am DIENStag-=in der fünften stunde geMACHT; (-) INhaltlich- (Z. 5-7) setzt die Biologielehrerin einen globalen Zugzwang, der zunächst in das Berichten steuert (im Transkript nicht gezeigt). Nach dem Berichten der Aktivitäten (wir haben über die KATze geredet, was sie KANN, und (.) ihre AUgen, u: : nd (-) körp (-) KÖRperteile-) gehen die Schüler: innen - ohne weiteren Zugzwang der Lehrperson - zum Erklären der Funktionen von Merkmalen von Katzen über. Inhaltlich geht es damit - am Beispiel der Katze - um die „Kenntnis verschiedener Lebewesen in ihrem Lebensraum mit spezifischen Merkmalen, Eigenschaften und Abhängigkeiten“ (KLP Naturwissenschaften NRW 2013: 26). Auf die jeweils explanativen Äußerungspakete von Adrian (Z. 69-72), Orhan (Z. 78-80), Timo (Z. 99-103) und Zada (Z. 109-115) fokussiert die folgende Analyse. Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 113 <?page no="114"?> Transkript 1: U3_A16_Biologie 005 LEH was haben wir am DIENStag-= 006 - in der fünften stunde geMACHT; (-) 007 - INhaltlich- (5.0) ((…)) 066 LEH <<nickend> hm_HM,> 067 - oKAY, (-) 068 - Adrian; 069 ADR die haben AUgen-= 070 - =so ne KATze- 071 - wenn es NACHT ist, 072 - die LEUCHtet; 073 LEH <<nickend> JA; > 074 - das hattest du auch geSAGT-= 075 - =dass die katzenaugen LEUCHten; 076 - STIMMT- 077 - ORhan, 078 ORH ähm (.) wenn eine KATze von wo- 079 - mit (.) zum beispiel von einem TISCH fällt,= 080 - =dann (4.0) FALLT er immer auf vier PFOten; 081 - (2.0) 082 LEH KARsten hast du geHÖRT,= ((…)) 097 LEH <<nickend> hm_hm,> 098 - TImo- 099 TIM und die KATze-= 100 - =wenn äh sie (.) sie HAT nicht nur ein leben,= 101 - =sie hat NEUN leben-= 114 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="115"?> 102 =also wenn sie (.) IRgendwas passiert-= 103 - =dann STERBT sie nicht- 104 LEH eine katze hat ! NEUN! LEben; = 105 - =hm_hm- 106 - |das schreib ich einmal AUF- | - - |((nimmt Kreide)) | 107 - ZAda- 108 ZAD die KATze- 109 - |er (.) sie hat auch hier HAAre | - - |((zieht Finger von Wangen nach außen))| 110 - also (.) wenn es äh (-) [KNICKT- ]= 111 YAR - [SCHNURRbart] 112 ZAD =dann können sie NICHTS mehr; 113 - also sie können es nicht so RICHtig, 114 - ((flüstert etwas zu Yara)) 115 - SCHNAda- 116 - SCHNA- 117 - ((guckt zu Yara)) 118 YAR SCHNURRbart- 119 ZAD <<lachend> SCHNURR- °h> 120 LEH SAGST du nochmal das wort, 121 ZAD <<p> wie bitte? > 122 LEH |was HAT sie, | 123 - |((streicht mit Zeigefingern über Wangen)) | 124 ZAD |also sie hat (.) SCHNURRbart- | 125 - |((streicht mit Zeigefingern über Wangen)) | 126 LEH einen ! SCHNURR! bart- 127 - oKAY- 128 - ich schreib das einmal AUF- Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 115 <?page no="116"?> ((…)) 213 LEH und wenn wir uns VORstellen- 214 - ne katze soll im DUNkeln: - 215 - oder in der DÄMmerung- 216 - durch das GRAS schleichen-= 217 - |=und die hat da so SCHÖ: ne lange schnurrhaare| - - |((fährt mit Zeigefingern die Wangen entlang)) | 218 - NE und die- 219 - was PASsiert denn da wohl; 220 - versucht euch das mal so geDANKlich vorzustellen; 221 - |ihr SCHLEICHT jetzt durchs dunkle: ,| - - |((bewegt beide Hände horizontal von der Mitte zur Seite)) | 222 - |HABT also so: HAAre an der seite, | - - |((streicht mit Fingern die Wangen entlang)) -| 223 - (-) warum sind die denn GUT, 224 - (5.0) Die vier Schüler: innen tragen Äußerungspakete bei, von denen jedes auf ein bestimmtes Merkmal von Katzen Bezug nimmt: die Augen (Adrian), die Fähigkeit, auch beim Fallen stets auf den Pfoten zu landen (Orhan), über neun Leben zu verfügen (Timo), die Schnurrhaare (Zada). In den Beiträgen werden sprachstrukturelle Schwierigkeiten der Schüler: innen sichtbar, die u.a. in der Lexik liegen (z.B. Z. 112-117), in der Nutzung von Genus (z.B. Z. 80, 109, 110) und Verbform (Z. 80, 103) oder auch in der Uneindeutigkeit des referenziellen Bezugs (Z. 110, 113). Nichtsdestotrotz gelingt es ihnen aber, explanative Äußer‐ ungspakete zu produzieren. Bei deren genauer Betrachtung mit Blick auf die jeweilige Vertextung werden nun Ähnlichkeiten in der globalen Strukturierung sichtbar. Als wiederkehrende semantische Strukturelemente finden sich: 116 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="117"?> 1. Herstellen des thematischen Bezugs zum Thema ‚Katze‘, 2. das Nennen eines Merkmals der Katze, 3. das Darstellen einer Bedingung-Folge-Relation im Zusammenhang mit dem Merkmal. Es werden jedoch nicht immer alle Elemente wiederverwendet; Elemente werden zudem inhaltlich modifiziert, und auch ihre globalstrukturelle Abfolge wird verändert. Tabelle 1 zeigt dies im Überblick: Adrian Orhan Timo Zada 069 die haben AUgen-= 078 ähm (.) wenn eine KATze von wo- 099 und die KATze-= 109 die KATze- 070 =so ne KATze- 100 =wenn äh sie (.) sie HAT nicht nur ein leben,= 110 |er (.) sie hat auch hier HAAre, | |((zieht Finger von Wangen nach außen))| 071 wenn es NACHT ist, 079 mit (.) zum beispiel von einem TISCH fällt,= 101 =sie hat NEUN leben-= 072 die LEUCHtet; 080 =dann (4.0) FALLT er immer auf vier PFOten; 102 =also wenn sie (.) Irgendwas passiert-= 112 also (.) wenn es äh (-) KNICKT- 103 =dann STERBT sie nicht- 114 =dann können sie NICHTS mehr; 115 also sie können es nicht so RICHtig, Tab. 1: Recycelte Elemente in den vier Äußerungspaketen. Die Farben markieren die verschiedenen Strukturelemente (Herstellen des thematischen Bezugs: gelb, Nennen des Merkmals: grün, Bedingung-Folge-Relation: blau). Recycelte Markierungsformen sind fett gedruckt. Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 117 <?page no="118"?> Als erster Schüler erhält Adrian das Rederecht. Er nennt zunächst ein Merkmal (Z. 69: die haben AUgen-), wobei das Pronomen „die“ kataphorisch auf die Katze verweist. Unmittelbar anschließend wird die Referenz von „die“ mittels der Thematisierung =so ne KATzeaufgelöst. Nachdem nun sowohl das Merkmal ‚Auge‘ und der Merkmalsträger ‚Katze‘ eingeführt sind, wird ein Zusammenhang zwischen einer hypothetischen Bedingung (wenn es NACHT ist,) und einer Folge oder Funktion (dies ist nicht eindeutig erkennbar) her‐ gestellt (die LEUCHtet; ). Das Äußerungspaket leistet damit einen Beitrag zum erklärenden Rekapitulieren fachlichen Wissens über Katzen. In den drei folgenden Äußerungspaketen werden nun die von Adrian genutz‐ ten Strukturelemente wiederverwendet, um weitere Merkmale und ihre Funk‐ tionen in Erinnerung zu rufen. Als zweiter Sprecher recycelt Orhan ausschließ‐ lich die Bedingung-Folge-Relation (wenn eine KATze… von einem TISCH fällt, dann fallt er immer auf vier PFOten; ), um eine typische Eigenschaft der Tierart darzustellen; der thematische Bezug auf das Thema ‚Katze‘ wird dabei syntaktisch integriert (Z. 78). Im Unterschied zu Orhan greifen sowohl Timo als auch Zada alle drei von Adrian eingeführten Strukturelemente auf, verändern jedoch ihre Abfolge: Sie stellen zunächst den thematischen Bezug her, nennen dann das Merkmal und schließen an dritter Stelle die Bedingung-Folge-Relation an. Auffallend ist, dass Timo sich in seiner Strukturierung zunächst an Orhan orientiert, als er nach der Thematisierung zunächst die hypothetische Bedingung zu formulieren beginnt (Z. 100). Er bricht dies jedoch ab und setzt dann im Rahmen einer Selbstreparatur mit dem Nennen des Merkmals fort. Indem er erst den thematischen Bezug herstellt und dann das Merkmal vor dessen Funktion einführt, orientiert er sich stärker an der Sachlogik und am Verstehensprozess der Rezipient: innen. Diese globale Struktur wird dann von Zada übernommen. Sie unterstützt die Verständlichkeit zusätzlich durch eine das Merkmal ‚Schnurrhaare‘ darstellende Geste (Streeck 2008). Es gelingt ihr allerdings noch nicht ganz, einen fachlich sinnvollen Bezug zwischen dem Merkmal und seiner Funktion herzustellen. Stattdessen etabliert sie mit der Bedingung wenn es [die Schnurrhaare, Anm. VH und MM] äh (-) KNICKT, einen besonderen Fall, aus dem auch im Umkehrschluss keine spezifische Funktion der Schnurrhaare abgeleitet werden kann (stattdessen allgemein: dann können sie NICHTS mehr, Z. 112). Die Lehrerin greift dieses Problem auf. Nachdem zunächst kooperativ das fehlende Lexem ermittelt wird (Z. 120-128), entwickelt sie ein fiktives Szenario (Z. 213-222), an das sie eine Frage nach der Funktion des Merkmals ‚Schnurrhaare‘ anschließt (Z. 223). 118 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="119"?> Es lassen sich jedoch nicht nur auf Ebene der Vertextung, sondern auch auf Ebene der Markierung Wiederaufnahmen lexikalischer Formen und syntak‐ tischer Strukturen beobachten. Zunächst greift Orhan Adrians mit „wenn“ eingeleitete Konditionalkonstruktion auf, ergänzt sie aber um das den Konse‐ quenzteil markierende „dann“. Timo desintegriert die Markierung des themati‐ schen Bezugs, indem er die Topikalisierungskonstruktion und die KATzean den Anfang stellt. Die wenn-dann-Konstruktion verwendet er - mit ande‐ rer inhaltlicher Füllung - weiter. Zada verwendet sowohl Timos Topikalisie‐ rungskonstruktion („die Katze“) als auch die wenn-dann-Konstruktion erneut. Darüber hinaus greift sie - ebenfalls in Orientierung an Timo - auch die konklusive Markierungsform „also“ auf, um das Folge-Element schon vor dessen eigentlicher Formulierung zu projizieren. Vergleicht man die vier sukzessiv aufeinander folgenden Erklärungen, so lässt sich beobachten, dass diese zunehmend verständlicher strukturiert werden und die globale Struktur eine immer explizitere Markierung erfährt. Jedes Recycling ist also nicht nur durch ein Wiederaufgreifen bestimmter Strukturen gekennzeichnet, sondern auch durch eine Optimierung in Richtung einer funktional organisierten, verständlichen Erklärung. Bemerkenswert ist, dass diese ‚Arbeit‘ an der Strukturierung und Markierung von Erklärungen von den Schüler: innen initiiert wird und ohne vorangegangenes Modell der Lehrperson erfolgt. Diese greift jedoch die schülerseitige Arbeit an einem funktionalen Modell auf, indem sie mit ihrer Frage nach der Funktion der Schnurrhaare (Z. 223) die Aufmerksamkeit auf das von allen vier Schüler: innen noch nicht (eindeutig) realisierte Strukturelement lenkt. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die vier aufeinanderfolgenden Äußerungspakete Recyclings sowohl auf Ebene der Vertextung als auch der Markierung beinhalten. Die Schüler: innen scheinen sich also an interaktiv zur Verfügung stehenden Modellen zu orientieren. Dabei zeigt sich in eindrückli‐ cher Weise, dass die Schüler: innen vorangegangene Strukturen und Formen nicht einfach unverändert übernehmen, sondern flexibel und in modifizierter Form verwenden: Sie verändern deren Reihenfolge, füllen die übernommenen Vertextungsstrukturen inhaltlich jeweils neu und markieren sie expliziter. Das kreative Wiederverwenden von inhaltlichen Strukturelementen und Markie‐ rungsformen setzt dabei voraus, dass die Schüler: innen den vorangegangenen Beitrag aufmerksam verfolgen, dessen Struktur analysieren und kontextuell wiederverwertbare Elemente identifizieren. Zugleich ist anzunehmen, dass das kreative Wiederverwenden die Produktion entlastet. Dies wird vor allem daran sichtbar, dass das Wiederverwerten eine Arbeit an der funktionalen Organisation und damit an der Verständlichkeit von Erklärungen ermöglicht: Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 119 <?page no="120"?> So ließ sich über die vier aufeinanderfolgenden Äußerungspakete beobachten, dass die Strukturierung immer mehr an den vermuteten Verstehensprozess der Rezipient: innen angepasst wurde und auch die Markierung zunehmend explizit und funktional erfolgte. Besonders prägnant zeigte sich dies an der (Wieder-)Verwendung des Diskursmarkers also ab dem dritten Äußerungspaket. Also fungiert als Gelenk zwischen verschiedenen Elementen der globalen Struktur und instruiert die Rezipient: innen, dass nach der Einführung eines ‚Katzen-Merkmals‘ nun der eigentlich erklärende Teil (hier: zur Funktion des Merkmals) folgt. Im Zuge der Recyling-Durchläufe ließ sich also beobachten, dass das ‚Modell‘ kontinuierlich optimiert wurde. Dem Recycling dürfte damit eine wichtige Funktion für das sprachliche Lernen zukommen. Daneben wirkt das Wiederverwenden von Strukturierungs- und Markierungsformen aber auch kohärenzstiftend und unterstützt somit die Beteiligten, einen (hier: additiven) Zusammenhang zwischen den Beiträgen herzustellen. 5 Diskussion und Ausblick Diskursive Praktiken (insbesondere Erklären, Argumentieren und andere wis‐ senskonstruierende Gattungen) gelten als Kern bildungssprachlichen Handelns im Medium der Mündlichkeit. An diskursiven Praktiken im Rahmen fachli‐ cher Unterrichtsgespräche partizipieren zu können, ist demnach eine wichtige Voraussetzung fachlichen Lernens, stellt jedoch hohe Anforderungen an die sprachlichen und diskursiven Kompetenzen der Lernenden (Quasthoff et al. 2021). In diesem Beitrag haben wir aufgezeigt, dass vorgängige mitschülerseitige diskursive Beiträge im Sinne interaktiver Modelle für die Bewältigung entspre‐ chender Anforderungen möglicherweise eine sehr wichtige, bislang jedoch in der Forschung kaum berücksichtigte Rolle spielen. Im Zuge der Untersuchung diskursiver Praktiken in einem Korpus videogra‐ fierter Unterrichtsgespräche sind wir auf das Phänomen gestoßen, dass aufein‐ anderfolgende Schülerbeiträge, die auf einen globalen Zugzwang der Lehrkraft reagieren, zum Teil in Wortwahl, Syntax und inhaltlichem Aufbau ähnliche bis identische Strukturen aufwiesen. Ein solches Aufgreifen und (modifiziertes) Wiederverwerten vorgängig im selben Gespräch geäußerter Strukturen bei der Bearbeitung diskursiver Anforderungen bezeichnen wir in Anlehnung an Arbeiten aus der anthropologischen Linguistik und Diskurserwerbsforschung als Recyclings. An einem besonders prototypischen Beispiel aus einer Biologie‐ stunde haben wir in diesem Beitrag vorgeführt, • dass solche Recyclings sowohl die Ebene der Markierung (Übernahme sprachlicher Formen) als auch die Ebene der Vertextung (Übernahme von 120 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="121"?> Elementen und Mustern des inhaltlichen Aufbaus von Äußerungspaketen) betreffen, • dass übernommene Strukturen jeweils mit Blick auf die je neuen inhaltli‐ chen und kontextuellen Kontexte adaptiert, neu arrangiert und expandiert werden. Die Analyse hat also gezeigt, dass Recyclings mitnichten als schematisches Ko‐ pieren vorgängig rezipierter Strukturen oder nur als reines Priming-Phänomen (vgl. Branigan et al. 2000) verstanden werden dürfen, sondern vielmehr einen Akt des flexiblen und kreativen Umgangs mit „interaktiven Modellen“ (Heller und Morek 2015) darstellen: Im Zuge des Wiederverwertens müssen Schüler: in‐ nen die komplexen, d.h. sich aus mehreren semantischen Strukturelementen zusammensetzenden Äußerungspakete ihrer Mitschüler: innen 1. zunächst rezeptiv dekomponieren, 2. wiederzuverwertende Elemente auswählen, 3. diese mit Blick auf den thematischen und kommunikativen Kontext modi‐ fizieren und 4. übernommene, modifizierte und ergänzte Elemente zu einem neuen struk‐ turierten Ganzen, nämlich einem eigenen Äußerungspaket, kombinieren. Das Recyceln von Formulierungs- und Vertextungsressourcen beim Vollzug diskursiver Praktiken weist somit genau jene Bestandteile auf, die aus psycho‐ logischer (Vygotsky 1967/ 2004) und linguistischer Sicht (Goodwin 2013) als kennzeichnend für kreative Prozesse gelten (vgl. auch Zepter und Schindler 2025). Während Anderson et al. (2001) aus frequenzbezogener Perspektive sichtbar machen konnten, dass sich über die Schüler: innen einer Klasse hinweg im Fortlauf unterrichtlicher Argumentationen bestimmte argumentative Mittel ‚schneeballartig‘ ausbreiten, legen unsere Analysen erstmals offen, dass nicht lediglich einzelne Versatzstücke aus mitschülerseitigen Diskursbeiträgen imi‐ tiert werden, sondern das Wiederverwerten auch globale Vertextungsstrukturen umfasst und aus mikrogenetischer Sicht als kollaborativer und kreativer Prozess verstanden werden muss. Somit erfordert auch das Recyceln ein (beträchtliches) Maß an rezeptiven und produktiven diskursiven Kompetenzen. Zugleich scheint das Wiederverwerten von Vertextungs- und Formulierungs‐ ressourcen beim diskursiven Handeln jedoch auch eine Entlastungsfunktion zu übernehmen (vgl. auch Quasthoff 1993; Heller et al. 2015; Branigan et al. 2000): Das Aufgreifen von zuvor von anderen erprobten lexikalischen, syntak‐ tischen und inhaltlich-textuellen Ressourcen routinisiert Planungsprozesse auf verschiedenen Ebenen und erlaubt so eine fokussierte(re) Arbeit an der globalst‐ Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 121 <?page no="122"?> rukturellen Ausgestaltung von Äußerungspaketen. Dies erscheint umso rele‐ vanter, als sich in den von uns untersuchten Daten aufseiten der Schüler: innen Schwierigkeiten bzw. Lernerphänomene im sprachstrukturellen Bereich zeigten (z.B. Genus, Kongruenz, Flexion), die mit erhöhter Sprachaufmerksamkeit (z.B. Selbstkorrekturen) und Planungskapazität verbunden sein dürften. Gerade im Zusammenhang von Zweitspracherwerb und unterrichtlichen Diskursanforde‐ rungen könnten daher Recyclings möglicherweise eine wichtige Ressource der diskursiven Partizipation an der fachlichen Kommunikation darstellen. Mit Blick auf fachliche und diskursive Lern- und Erwerbsprozesse ist schließ‐ lich besonders relevant, dass sich die sukzessive produzierten, partiell recycelten Äußerungspakete mit jedem nächsten Durchlauf zunehmend in Richtung funk‐ tional organisierter Erklärungen bewegen, in denen der Erklärgegenstand (hier: ein Tier) durch ein spezifisches Merkmal qualifiziert wird (hier: eine Eigenschaft oder ein körperliches Merkmal) und dessen Funktionalität für Verhalten und Le‐ bensbedingungen des Tieres anschließend expliziert wird. Das sequenziell und interaktiv ablaufende, wechselseitige Aufgreifen und Modifizieren sprachlicher und diskursiver Strukturen eröffnet also offenbar einen kollektiven Gesprächs- und Übungsraum, in dem Lernende nach- und miteinander an der sprachlichen und fachlichen Optimierung der diskursiven Entfaltung fachlicher Wissenszu‐ sammenhänge arbeiten. Dass es ihnen im Wechselspiel zwischen Schematizität und Kreativität gelingt, die fachlich-diskursiven Anforderungen zusehends zu erfüllen, spiegelt sich auch im Aufgreifen des schülerseitig etablierten Musters durch die Lehrkraft. Auf Basis der uns vorliegenden Daten konnten wir in einem ersten Schritt zunächst nachzeichnen, dass unter Schüler: innen Recyclings beim Vollzug diskursiver Praktiken in Unterrichtsgesprächen auftreten und wie sich kreative Aneignungs- und Adaptionsprozesse in der Sequenzialität aufeinanderfolgen‐ der Schülerbeiträge mikrogenetisch gestalten. Damit sind jedoch noch keine Aussagen darüber zu machen, inwiefern sich eine Orientierung an und Nutzung von interaktiven Modellen tatsächlich als erwerbswirksame Ressource für den nachhaltigen Ausbau diskursiver Kompetenzen erweist. Bisherige Befunde zur Rolle von Peers und peerseitigen Modellen im Spracherwerb (z.B. Zadunaisky und Blum-Kulka 2010; Stude 2013; Arendt 2019; Morek 2021) deuten jedoch darauf hin, dass Gleichaltrige bzw. Mitschüler: innen wichtige ‚Mitspieler‘ im schulischen Diskurserwerb sind. Zukünftig können hier (mikro)longitudinal angelegte Studien Aufschluss darüber erbringen, ob, inwieweit und unter welchen Bedingungen das kreative Erproben, Wiederverwerten und Abwandeln peerseitiger Modelle zur stabilen Erweiterung individueller Repertoires an Versprachlichungs- und Vertextungsressourcen für diskursives Handeln führt 122 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="123"?> und ob sich die Rolle von Recyclings zugunsten einer zunehmend autonomen Gestaltung diskursiver Beiträge entwickelt (z.B. Cekaite 2017). In diesem Zu‐ sammenhang wäre auch zu klären, wie verschiedene Arten von Modellen - konventionelle, individuelle und interaktive - als Ausdrucks- und Erwerbsres‐ sourcen zusammenwirken und sich ggf. überlagern. Literatur Anderson, Richard C./ Nguyen-Jahiel, Kim/ McNurlen, Brian/ Archiodidou, Anthi/ Kim, So-young/ Reznitskaya, Alina/ Tillmanns, Maria/ Gilbert, Laurie (2001). The Snowball Phenomenon: Spread of Ways of Talking and Ways of Thinking across Groups of Children. Cognition and Instruction 19 (1), 1-46. Arendt, Birte (2019). Argumentieren mit Peers: Erwerbsverläufe und -muster bei Kinder‐ gartenkindern. Tübingen: Stauffenburg. Auer, Peter (1993). Zur Verbspitzenstellung im gesprochenen Deutsch. Deutsche Sprache 23, 193-222. Auer, Peter (2013). Sprachliche Interaktion: Eine Einführung anhand von 22 Klassikern. 2. Aufl. Berlin/ Boston: De Gruyter. Bakhtin, Mikhael M. (1986). Speech genres and other late essays. Austin: University of Texas Press. Becker, Tabea (2001). Kinder lernen erzählen: Zur Entwicklung der narrativen Fähigkei‐ ten von Kindern unter Berücksichtigung der Erzählform. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Birkner, Karin/ Ehmer, Oliver (Hrsg.) (2013). Veranschaulichungsverfahren im Gespräch. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung. Branigan, Holly P./ Pickering, Martin J./ Cleland, Alexander A. (2000). Syntactic coordination in dialogue. Cognition 75 (2), 13-25. Brünner, Gisela/ Gülich, Elisabeth (2002). Verfahren der Veranschaulichung in der Exper‐ ten-Laien-Kommunikation. In: Brünner, Gisela/ Gülich, Elisabeth (Hrsg.). Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen. Biele‐ feld: Aisthesis, 17-93. Bücker, Jörg/ Günthner, Susanne/ Imo, Wolfgang (Hrsg.) (2015). Konstruktionen im Span‐ nungsfeld von sequenziellen Mustern, kommunikativen Gattungen und Textsorten. Tübingen: Stauffenburg. Cekaite, Asta (2017). What Makes a Child a Good Language Learner? Interactional Competence, Identity, and Immersion in a Swedish Classroom. Annual Review Applied Linguistics 37, 45-61. Cekaite, Asta (2018). Microgenesis of language creativity: Innovation, conformity and incongruence in children’s language play. Language Sciences 65, 26-36. Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 123 <?page no="124"?> Cekaite, Asta/ Aronsson, Karin (2004). Repetition and Joking in Children’s Second Language Conversations: Playful Recyclings in an Immersion Classroom. Discourse Studies 6 (3), 373-392. Cekaite, Asta/ Aronsson, Karin (2014). Language play, peer group improvisations, and L2 learning. In: Cekaite, Asta/ Blum-Kulka, Shoshana/ Grøver, Vibeke/ Teubal, Eva (Hrsg.). Children’s peer talk: Learning from each other. Cambridge: Cambridge University Press, 194-213. Dausendschön-Gay, Ulrich/ Gülich, Elisabeth/ Krafft, Ulrich (2007). Vorgeformtheit als Ressource im konversationellen Formulierungs- und Verständigungsprozess. In: Hau‐ sendorf, Heiko (Hrsg.). Gespräch als Prozess. Linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion. Tübingen: Narr, 181-219. Deppermann, Arnulf/ Feilke, Helmuth/ Linke, Agelika (2016). Sprachliche und kommu‐ nikative Praktiken: Eine Annäherung aus linguistischer Sicht. In: Deppermann, Arnulf/ Linke, Agelika/ Feilke, Helmuth (Hrsg.). Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache. Sprachliche und kommunikative Praktiken. Boston/ Berlin: De Gruyter Mouton, 1-23. Deppermann, Arnulf/ Stefani, Elwys de (2019). Defining in talk-in-interaction: Recipientdesign through negative definitional components. Journal of Pragmatics 140, 140-155. Drescher, Martina (1992). Verallgemeinerungen als Verfahren der Textkonstitution: Untersuchungen zu französischen Texten aus mündlicher und schriftlicher Kommu‐ nikation. Stuttgart: Franz Steiner. Feilke, Helmuth (2012). Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. Basisartikel. Praxis Deutsch (39) 233, 4-13. Garrod, Simon/ Anderson, Anthony (1987). Saying what you mean in dialogue: A study in conceptual and semantic co-ordination. Cognition 27, 181-218. Goodwin, Charles (2000). Action and embodiment within situated human interaction. Journal of Pragmatics 32, 1489-1522. Goodwin, Charles (2013). The co-operative, transformative organization of human action and knowledge. Journal of Pragmatics 46 (1), 8-23. Günthner, Susanne/ Knoblauch, Hubert (1994). „Forms are the food of faith“: Gattungen als Muster kommunikativen Handelns. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial‐ psychologie 46 (4), 693-723. Hanks, William F. (1987). Discourse genres as a theory of practice. American Ethnologist 14 (4), 668-692. Hausendorf, Heiko/ Quasthoff, Uta M. (1996). Sprachentwicklung und Interaktion. Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten. Opladen: Westdeutscher Verlag. Heller, Vivien (2021). Die sprachlich-diskursive Darstellung komplexer Zusammenhänge im Fachunterricht: Vertextungsverfahren des Erklärens und Argumentierens. In: 124 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="125"?> Quasthoff, Uta M./ Heller, Vivien/ Morek, Miriam (Hrsg.). Diskurserwerb in Familie, Peergroup und Unterricht: Passungen und Teilhabechancen. Berlin/ Bosten: De Gruy‐ ter, 303-346. Heller, Vivien/ Morek, Miriam (2015). Unterrichtsgespräche als Erwerbskontext: Kom‐ munikative Gelegenheiten für bildungssprachliche Praktiken erkennen und nutzen. Leseforum.ch (3). Abrufbar unter: https: / / www.leseforum.ch/ fokusartikel1_2015_3.cf m (Stand: 10.03.2025). Heller, Vivien/ Morek, Miriam/ Quasthoff, Uta M. (2015). Mehrfaches Erzählen: Warum wird eine Geschichte im selben Gespräch zweimal erzählt? In: Schumann, Elke/ Gülich, Elisabeth/ Lucius-Hoene, Gabriele/ Pfänder, Stefan (Hrsg.). Wiedererzählen: Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis. Bielefeld: transcript, 341-367. Kinalzik, Noelle (2024). Mündliches Erklären von der Grundschule bis zur Sekundarstufe: Varianzen zwischen Kindern heterogener Ausgangslagen. Göttingen: Verlag für Gesprächsforschung. Knerich, Heike (2015). Konzepte der Vorgeformtheit und Wiedererzählen. In: Schumann, Elke/ Gülich, Elisabeth/ Lucius-Hoene, Gabriele/ Pfänder, Stefan (Hrsg.). Wiedererzäh‐ len: Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis. Bielefeld: transcript, 33-59. Knopp, Matthias/ Schindler, Kirsten (2021). Multimodales Erklären im Deutschunterricht. k: ON - Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung (SH 1/ 2021), 51-79. Laalo, Klaus/ Argus, Reili (2020). Linguistic Recycling. AILA 33, 86-103. Luckmann, Thomas (1986). Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wis‐ sens: Kommunikative Gattungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho‐ logie (Sonderheft 27), 191-211. Matschke, Kristina (2024). Animierte Rede. Tübingen: Stauffenburg. Morek, Miriam (2020). Learning to modalize is learning to reason: On the role of epistemic modalizations in parent-child-talk and in written argumentation of secondary school students. Research on Children and Social Interaction 4 (1), 115-141. Morek, Miriam (2021). Familien- und Peer-Interaktionen als Erwerbsressource für Dis‐ kurskompetenzen: Empirische Befunde zu Variabilität und Erwerbspotenzial außer‐ schulischer Diskurspraktiken von Präadoleszenten. In: Quasthoff, Uta M./ Heller, Vivien/ Morek, Miriam (Hrsg.). Diskurserwerb in Familie, Peergroup und Unterricht. Passungen und Teilhabechancen. Berlin/ Boston: De Gruyter, 185-240. Morek, Miriam/ Heller, Vivien (2012). Bildungssprache ‒ Kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs. Zeitschrift für angewandte Lingu‐ istik 57 (1), 67-101. Morek, Morek/ Heller, Vivien (2019). Bildungssprachliche Praktiken. In: Ballis, Anja/ Meixner, Johanna/ Heithorst, Meike (Hrsg.). Glossar „Sprache im Fach“. LMU Mün‐ chen. Abrufbar unter: https: / / epub.ub.uni-muenchen.de/ 61749/ 1/ Morek_Heller_Bild ungssprachliche_Praktiken.pdf (Stand: 10.03.2025). Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 125 <?page no="126"?> Ohlhus, Sören (2014). Erzählen als Prozess. Interaktive Organisation und narrative Ver‐ fahren in mündlichen Erzählungen von Grundschulkindern. Tübingen: Stauffenburg. Quasthoff, Uta M. (1993). Vielfalt oder Konstanz in den sprachlichen Formen des Kindes: Linguistische, entwicklungstheoretische und didaktische Aspekte. Der Deutschunter‐ richt 45 (6), 44-56. Quasthoff, Uta/ Heller, Vivien/ Morek, Miriam (2017). On the sequential organization and genre-orientation of discourse units in interaction: An analytic framework. Discourse Studies 19 (1), 84-110. Quasthoff, Uta M./ Heller, Vivien/ Morek, Miriam (2021). Diskurskompetenz und diskur‐ sive Partizipation als Schlüssel zur Teilhabe an Bildungsprozessen: Grundlegende Konzepte und Untersuchungslinien. In: Quasthoff, Uta M./ Heller, Vivien/ Morek, Miriam (Hrsg.). Diskurserwerb in Familie, Peergroup und Unterricht: Passungen und Teilhabechancen. Berlin/ Boston: De Gruyter, 13-34. Quasthoff, Uta M./ Kern, Friederike/ Ohlhus, Sören/ Stude, Juliane (2019). Diskurse und Texte von Kindern. Praktiken - Fähigkeiten - Ressourcen: Erwerb. Tübingen: Stauf‐ fenburg. Quasthoff, Uta M./ Kluger, Christian (2021). Familiale Interaktionsmuster als Erwerbsres‐ source im längsschnittlichen Verlauf. In: Quasthoff, Uta M./ Heller, Vivien/ Morek, Miriam (Hrsg.). Diskurserwerb in Familie, Peergroup und Unterricht. Passungen und Teilhabechancen. Berlin/ Boston: De Gruyter, 107-156. Sacks, Harvey (1995). Lectures on conversation. Oxford UK/ Cambridge, Mass: Blackwell. Sacks, Harvey/ Schegloff, Emanuel A./ Jefferson, Gail (1974). A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation. Language 50 (4), 696-735. Selting, Margret/ Auer, Peter/ Barth-Weingarten, Dagmar/ Bergmann, Jörg/ Berg‐ mann, Pia/ Birkner, Karin/ Couper-Kuhlen, Elisabeth/ Deppermann, Arnulf/ Gil‐ les, Peter/ Günthner, Susanne/ Hartung, Martin/ Kern, Friederike/ Mertzlufft, Chris‐ tine/ Meyer, Christian/ Morek, Miriam/ Oberzaucher, Frank/ Peters, Jörg/ Quasthoff, Uta/ Schütte, Wilfried/ Stukenbrock, Anja/ Uhmann, Susanne (2009). Gesprächsanaly‐ tisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10, 353-402. Schönfelder, Nora (2024). Multimodal repetitions in children’s co-construction of argu‐ ments. European Journal of Psychology of Education 39, 1759-1781. Steinhoff, Torsten (2019). Konzeptualisierung bildungssprachlicher Kompetenzen: An‐ regungen aus der pragmatischen und funktionalen Linguistik und Sprachdidaktik. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 71, 327-352. Stude, Juliane (2013). Kinder sprechen über Sprache. Eine Untersuchung zu interaktiven Ressourcen des frühen Erwerbs metasprachlicher Kompetenz. Stuttgart: Fillibach. 126 Miriam Morek & Vivien Heller <?page no="127"?> Vollmer, Helmut J./ Thürmann, Eike (2010). Zur Sprachlichkeit des Fachlernens: Model‐ lierung eines Referenzrahmens für Deutsch als Zweitsprache. In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.). Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr, 107-132. Vygotsky, Lev S. (1967/ 2004). Imagination and Creativity in Childhood. Journal of Russian and East European Psychology 42 (1), 7-97. Zadunaisky Ehrlich, Sara/ Blum-Kulka, Shoshana (2010). Peer talk as a ‚double opportu‐ nity space‘: The case of argumentative discourse. Discourse & Society 21 (2), 211-233. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. Diskursive Praktiken zwischen Musterhaftigkeit und Kreativität 127 <?page no="129"?> Performative Inklusionsdidaktik Lernpotenziale ausschöpfen im Zusammenspiel von Steuerung, Kreativität und körperlicher Involvierung Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter Abstract: Der Beitrag beschäftigt sich mit der Konzeption von Aufgaben‐ formaten, die in inklusiven Settings teilhabeorientiert sprachhandlungs‐ bezogenes Lernen im Unterricht ermöglichen, und adressiert dabei die Frage des Sammelbandes, welche Rolle Kreativität in bildungssprachli‐ chen Lehr-Lern-Prozessen neben Musterorientierung und Routinisierung spielen kann (vgl. Zepter und Schindler 2025: 8). Kreativität wird von uns als essenzielle, in die Aufgabengestaltung durch spezifische Ausgestal‐ tungsspielräume bewusst einzubindende didaktische Kraft angesehen. Auf der Grundlage einer Synthese verschiedener empirischer Befunde und Theorien zu lernförderlichen Faktoren und systematischer Einbindung funktional motivierter performativer Elemente argumentieren wir für ein diversitätssensibles didaktisches Leitkonzept (benannt als ‚Performative Inklusionsdidaktik‘), das die drei Hauptkomponenten Steuerung, Kreati‐ vität und körperliche Involvierung miteinander verbindet. Wie dieses trilaterale Modell für ein gemeinsames und zugleich zieldifferenziertes bildungssprachliches Lernen eingesetzt werden kann, wird am Beispiel des mündlichen Argumentierens illustriert. 1 Positionierung im Inklusionsdiskurs - Ausgangsüberlegungen Als Ausgangspunkt für die didaktische Modellierung einer teilhabeorientier‐ ten Unterstützung bildungssprachlichen Lernens im Unterricht gehen wir im Diskurs um inklusive Beschulung von einem weiten Inklusionsbegriff (u.a. Gebele und Zepter 2016: 6) aus, welcher „auf der Wertschätzung der Vielfalt menschlichen Seins“ aufsetzt und „Diversität als Leitkategorie und Erfahrungs‐ <?page no="130"?> 1 Für einen Ansatz, daraufhin den weiten Inklusionsbegriff insgesamt kritisch zu disku‐ tieren, vgl. Leiß (2024). 2 Zum Verhältnis zwischen Deutsch als Zweitsprache, Sprachbildung und Sprachheilpä‐ dagogik im Rahmen aktueller Inklusionsdebatten siehe Döll und Michalak (2023). wirklichkeit“ (Leiprecht und Lutz 2006: 219) würdigt. Ein weiter Inklusionsbe‐ griff bezieht sich grundsätzlich auf alle Aspekte von Vielfalt und Heterogenität, schließt also alle gängigen Diversitätsdimensionen wie etwa Gender, Kultur, Religion, Migration, Mehrsprachigkeit, Beeinträchtigung ein, wobei die Dimen‐ sionen mitunter auch an sich kritisch reflektiert werden. 1 Wir orientieren uns an den Diskursen der Diversity Studies und der Diversitätsorientierten Deutschdidaktik, die in jüngerer Zeit zunehmend mit fachdidaktischen und sonderpädagogischen Diskursen zu Inklusion ineinandergreifen (u.a. Becker 2023: 186f.; Dannecker und Schindler 2022) und damit verbunden auch die Relevanz von Intersektionalität (u.a. McCall 2005) betonen. 2 Generell ist bei einem Anspruch an ‚Inklusion‘ und ‚gesellschaftliche Teilhabe für alle‘ herauszustellen, dass die Idee von Inklusion mit der Grundannahme ver‐ knüpft ist, eine systemisch neue Perspektive auf Institutionen und gesellschaft‐ liche Lebensbereiche einzunehmen. Anders als z.B. beim Begriff der Integration geht es nicht darum, dass bestimmte Menschen und Gruppen sich zur Wahrung ihrer Rechte an eine vorgegebene Norm anzupassen haben. Stattdessen sollen sich die Institutionen bzw. die gesellschaftlichen Lebensbereiche - als Gesamt‐ systeme - im begrenzenden Rahmen von Grundgesetz und Verfassung so kon‐ stituieren, dass alle daran teilhaben können. Für die Institution Schule entsteht derart das Desiderat eines ‚gemeinsamen‘ Unterrichts für alle Schüler: innen unabhängig von ihren jeweiligen individuellen Voraussetzungen, sprachlichen Hintergründen, von ethnischer wie sozialer Herkunft oder Geschlecht. Für die Realisierung schulischer Inklusion erachten wir vor dem aufgespann‐ ten Hintergrund insbesondere die folgenden drei inklusionspädagogischen Bezugspunkte als nach wie vor bedeutsam: Erstens verstehen wir es als einen Kernanspruch inklusiven Unterrichts mit heterogenen Gruppen, im Spannungsfeld von Standardisierung und Indivi‐ dualisierung (vgl. Schuck 2014) auch gemeinsames Lernen zu ermöglichen - z.B. im Sinne von Feusers Vorschlag einer Entwicklungslogischen Didaktik, die Lernende und Sache bzw. Unterrichtsgegenstand über Tätigkeiten in ei‐ ner Kooperation am Gemeinsamen Gegenstand verbindet (u.a. Feuser 2011, 2013). Mit Kahlert und Heimlich (2012: 173) ist hervorzuheben, dass inklusiver Unterricht im Unterschied zum integrativen „den Anspruch [enthält], dass alle Schüler: innen an allen Lernangeboten teilhaben können und von allen Lernangeboten auch profitieren“. 130 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="131"?> Zweitens setzen sonderpädagogische Ansätze häufig auf einem ganzheitli‐ chen Verständnis von inklusivem Lernen auf. So stellt z.B. Ziemen (2018: 59) heraus, dass „das Erleben für jegliche Entwicklungssituation und damit auch im Unterricht von entscheidender Bedeutung ist“. Als Kernprinzip integriert findet sich Ganzheitlichkeit in dem ‚ökologischen Modell‘ von Heimlich (vgl. zusammengefasst in Heimlich und Bjarsch 2020: 252f.). Drittens schließt sich unser spezifisches Verständnis einer Inklusionsdidaktik - mit Didaktik als Konzept und Methode des Lehrens und Lernens (vgl. Bryant und Zepter 2022: 40) - u.a. an die „Bausteine einer inklusiven Didaktik“ von Reich (2014) an, der zum einen mit Blick auf förderliche Lernumgebungen eine Verbindung von Struktur und Kreativität auslobt (ebd.: 253), zum anderen eine ganzheitliche Planung bei handlungsorientierten Themenlinien und Projekten priorisiert (ebd.: 335). Nimmt man den ersten Punkt und Feusers Anspruch eines Lernens am Ge‐ meinsamen Gegenstand ernst, so ist in der diversitätssensiblen Gemeinsamkeit fachdidaktisch gewendet von den Lehrenden zugleich eine individuell bedarfs‐ gerechte „Differenzierung ohne Ausgrenzung“ (Müller Bösch und Schaffner Menn 2018: 95) sicherzustellen. Inklusiver, teilhabeorientierter Unterricht erfor‐ dert demnach auch eine Fachdidaktik, die gemeinsames Lernen wirksam so gestaltet, dass alle Schüler: innen - u.a. unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und Sprachständen in Deutsch als Erst- oder Zweitsprache, von ethnischer wie sozialer Herkunft, Geschlecht oder Förderbedarf - jeweils eine entwicklungsorientierte Unterstützung in ihren sprachlichen und fachlichen Lernprozessen erhalten. Dabei ist hinsichtlich der Lernwirksamkeit zunächst mit Helmke (2015: 71) davon auszugehen, dass die Wirkungen auch in einem inklusiven Unterricht primär davon abhängen, ob und wie Erwartungen der Lehrkraft und unterrichtliche Maßnahmen von Schüle‐ rinnen und Schülern überhaupt wahrgenommen und wie sie interpretiert werden, sowie […] ob und zu welchen motivationalen, emotionalen und volitionalen (auf den Willen bezogenen) Prozessen sie auf Schülerseite führen. Helmke folgend lässt sich zudem erwarten, dass neben einer effizienten Klas‐ senführung insbesondere kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung der Schüler: innen zur Prozessqualität des Unterrichts beitragen. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang allerdings unweigerlich stellt, ist, was genau Lehrkräfte tun können, um in inklusiven Settings alle Schüler: in‐ nen in der einen oder anderen Form kognitiv zu aktivieren und entwicklungsori‐ entiert konstruktiv zu unterstützen. Als Beitrag zur Beantwortung verknüpfen wir im Rahmen einer theoriebildenden Modellierung die oben aufgeführten Performative Inklusionsdidaktik 131 <?page no="132"?> 3 Zum Begriff der Performativität und für eine ausführliche Darstellung der kogniti‐ onstheoretischen, spracherwerbstheoretischen und sprachdidaktischen Grundlagen performativer Zugänge siehe Bryant und Zepter (2022). inklusionspädagogischen Bezugspunkte mit einer metatheoretischen Synthese verschiedener empirischer Erkenntnisse und Theorien über lern- und sprach‐ erwerbsfördernde Faktoren bzw. über Faktoren, die zur kognitiven Aktivierung und konstruktiven Unterstützung der Schüler: innen effektiv beitragen. Auf dieser Grundlage entwickeln wir ein trilaterales didaktisches Leitkonzept für einen diversitätssensiblen Unterricht, auf das wir mit dem Begriff ‚Performative Inklusionsdidaktik‘ Bezug nehmen. Das Modell für die inklusionsdidaktische Gestaltung von Aufgabenformaten und Lehr-Lern-Arrangements beruht auf einem Zusammenspiel der drei als essenziell angesehenen Didaktisierungskom‐ ponenten (i) Steuerung, (ii) Kreativität und (iii) körperliche Involvierung. Im folgenden Kapitel 2 motivieren wir zunächst, warum gerade performa‐ tive Zugänge besondere didaktische Potenziale für einen diversitätssensiblen inklusiven Unterricht eröffnen. Daran anschließend entfaltet Kapitel 3 eine forschungsbasierte Fundierung der Lernförderlichkeit der drei Komponenten Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung, bevor wir in Kapitel 4 die Argumentationsstränge zum trilateralen Modell einer Performativen Inklusi‐ onsdidaktik zusammenführen. Zur didaktischen Konkretisierung exemplifiziert Kapitel 5 abschließend die Umsetzung des trilateralen Konzepts an einem bildungssprachlichen Lerngegenstand - dem Sprachhandlungstyp bzw. der Diskurspraktik des Argumentierens. 2 Performativität als didaktische Ressource Performative Zugänge zu Lerngegenständen zeichnen sich darüber aus, dass in ihnen der sich bewegende Körper, das eigene ästhetische Wahrnehmen, Fühlen, Handeln und Erleben oder auch das kreativ-spielerische Gestalten, Darstellen, Inszenieren von Sprache zentrale Bedeutung erhalten und als Lernressource genutzt werden (Bryant und Zepter 2022: 43). Die einzelnen Dimensionen bzw. die damit verbundenen Performativitätsaspekte setzen für den diversitätssen‐ siblen, inklusiven Unterricht spezifische Ressourcen frei: 3 Ressource: Menschlicher Elementarkontakt Eine Besonderheit performativer Lernzugänge liegt darin, dass sie einen geziel‐ ten Einsatz von Medien des menschlichen Elementarkontaktes integrieren. Dazu gehören neben Sprache auch nicht-sprachliche Vermittlungsinstanzen wie Mimik, Gestik, Körperhaltung, Blickkontakt etc. Diese originären Medien 132 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="133"?> teilen die Gemeinsamkeit, dass der Körper bzw. die Sinne des Menschen zur Produktion, zum Transport und zur Wahrnehmung der Inhalte ausreichen. Es bedarf - wie etwa bei der digitalen Kommunikation - keiner zusätzlichen Geräte für das Aussenden oder Empfangen der Botschaften. So lassen sich mit perfor‐ mativen Lernzugängen vielfältige Gelegenheiten schaffen für körperbezogene Ausdrucksmöglichkeiten, die Sprachbarrieren überbrücken und somit auch Sprachlernende, die noch am Erwerbsanfang stehen, oder Schüler: innen mit kommunikativem Unterstützungsbedarf zur Ausdrucksfähigkeit und kommu‐ nikativen Partizipation verhelfen. Performative Zugänge setzen sozusagen beim Elementaren an, stärken und nutzen diese Dimension als didaktisches Mittel: Erstens sind sie einsetzbar, um die kommunikativen sowie ästhetischen Poten‐ ziale des nonverbalen Ausdrucksrepertoires zu erleben und auszuschöpfen. Zweitens stellen sie (gestützt auf kognitionstheoretische Erkenntnisse, siehe Kap. 3) ein didaktisches Mittel bereit, um verstärkt durch u.a. Mimik und Gestik auf mental bereits repräsentierte Konzepte/ Begriffe zuzugreifen und diese mit sprachlichen Ausdrücken zu verknüpfen. Nicht zuletzt lassen sich drittens in der Dimension des Elementaren auch komplexe Situationen, Handlungsmuster und Zustände auf hybride Weise durch nonverbale und verbale Ausdrucksformen kognitiv erschließen. Ressource: Bewegung und Handlungsorientierung Fungiert der Körper im Rahmen performativer Zugänge als kommunizierendes Medium, so ist er notwendigerweise in Bewegung. Auch über die direkte Kommunikation hinaus kann Bewegung als didaktisches Mittel zum Einsatz kommen, dann oft eingebettet in handlungsorientierte Aufgabenformate (u.a. Gudjons 2014; Bischoff und Bryant 2022). Essenziell für eine Einordnung als performativer Zugang ist dabei, dass Handlungen real vollzogen und nicht z.B. nur vorgestellt werden (Bryant und Zepter 2022: 43; zur kognitionstheoretischen Fundierung der Relevanz siehe Kap. 3). Generell kann die involvierte Bewegung subtil sein, impliziert aber stets eine grundlegende körperliche Aktivierung, sodass performative Zugänge auch die positiven Effekte des Lernens in und/ oder durch Bewegung (u.a. Zepter 2022; Andrä und Kowalzik 2023) für sich beanspruchen können. Vor dem Hintergrund der möglichen Vielfalt und unterschiedlicher Bedarfe der Lernenden sei auch auf Müller und Dinter (2020) verwiesen, die für die Adaption und den Wirknutzen des allgemeinpädagogischen Konzepts der bewegten Schule für unterschiedli‐ che Förderschwerpunkte argumentieren. Performative Inklusionsdidaktik 133 <?page no="134"?> Ressource: Kreativität und Ästhetik Setzt man das Konzept der bewegten Schule zu performativen Konzepten in Bezug, ist hervorzuheben, dass im Kontext von Performativität meist ein ästhetisches Moment zur Bewegung hinzutritt. Ähnlich wie beim Tanz, der in Abgrenzung zu Sport- und Alltagsbewegungen als (funktional) selbstrefe‐ renziell und symbolisch-expressiv gilt (u.a. Pürgstaller 2020), erhält auch der symbolisch-expressive Ausdruck über den Körper eine zentrale Funktion in Formen des kreativ-spielerischen Gestaltens, Darstellens und Inszenierens von Sprache oder auch bei der kreativ-spielerischen Verknüpfung von Sprache und Musik bzw. Rhythmus (vgl. für Beispiele Bryant und Zepter 2022). Dieser als solcher ‚ästhetisierte‘ Ausdruck geht in der Regel mit einem verstärkten sinnlichen, d.h. wahrnehmungsbezogenen, und emotionalen Erleben einher, was wiederum Lernprozesse und kognitive Behaltensleistungen begünstigt. Die für alle ästhetisierenden Prozesse wesentliche Kreativität birgt darüber hinaus ein aus unserer Sicht enormes nicht-ausgrenzendes Differenzierungspotenzial für einen diversitätssensiblen, inklusiven Unterricht, insofern Aufgaben, die Kreativitätsfenster eröffnen, sehr unterschiedlich ausgestaltet und in einem wertschätzenden Miteinander dennoch als ästhetisch gleich wertvoll erfahren werden können. Ressource: Emotionen Den Aspekt der Verstärkung emotionalen Erlebens weiter aufgreifend, sei erneut auf den in Kapitel 1 bereits benannten inklusionspädagogischen Bezugs‐ punkt von Ziemen (2018) zur Relevanz emotionalen Erlebens verwiesen. Auch Feuser unterstreicht in seiner Entwicklungslogischen Didaktik die Bedeutung von Emotionen in der Relation von Unterrichtsgegenstand und Lernenden. Insofern Emotionen für die Wahrnehmung des Gegenstands verantwortlich sind, bilden sie nach Feuser die Basis für erkenntnisrelevante Prozesse (vgl. Feuser 2011; Feuser et al. 2014; Terfloth und Bauersfeld 2019: 109; zur Relevanz von Emotionen für literarisches und sprachliches Lernen vgl. auch Frickel und Zepter 2023). Bereits Schwarz-Friesel (2013: 114) arbeitet heraus, dass emotionale Bewertungen die Aufmerksamkeit beeinflussen und dadurch auch die Gedächtnisleistung affizieren: Subjektiv Bedeutsames bzw. emotional Eva‐ luiertes wird tiefer verarbeitet. Generell lässt sich auch empirisch stützen, dass positive Emotionen wie Lernfreude und Hoffnung auf Erfolg tiefenbzw. verstehensorientierte Lernstra‐ tegien begünstigen, während negative Emotionen wie Angst oder Langeweile eher eine oberflächliche Informationsverarbeitung bzw. Wiederholungsstrate‐ gien unterfüttern (Pekrun et al. 2002; Zepter 2015: 21). Ebenso sind emotionale und motivationale Bedingungen beim (Sprach-)Lernen eng verknüpft (vgl. 134 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="135"?> Zepter 2015). Performative Zugänge bieten vor diesem Hintergrund mittels ihrer expliziten Berücksichtigung emotionalen Erlebens besondere Potenziale für inklusives Lernen. Ressource: Verknüpfbarkeit von fachlichem und überfachlichem Lernen Hinsichtlich des für inklusiven Unterricht mit heterogenen Gruppen so wichti‐ gen Differenzierungspotenzials lässt sich, auf alle bisher vorgestellten Ressour‐ censchwerpunkte bezogen, herausstellen: Performative Zugänge im inklusiven Unterricht ermöglichen auch deshalb zieldifferenziertes Arbeiten, weil sich fachliche Lernziele mit Entwicklungszielen (z.B. aus den Bereichen Bewegungs‐ lernen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, emotionales und soziales Lernen) im Rahmen einer dualen Unterrichtsplanung (u.a. Urban und Leidig 2017; Leidig et al. 2020) verknüpfen lassen. Denn wenn Bewegung, Ästhetik und/ oder Emo‐ tionen zur Ressource für den Zugang zum fachlichen Lerngegenstand werden, dann entstehen zwangsläufig auch Optionen für Lernen in den verschiedenen allgemein- und sonderpädagogischen Entwicklungsbereichen bzw. in den über‐ fachlichen, für die Persönlichkeitsentwicklung relevanten Bereichen. So entfal‐ ten sich z.B. durch vielfältige Möglichkeiten spielerischer Perspektivenwechsel und durch die Gelegenheiten des gemeinsamen Ausgestaltens abgesteckter Kre‐ ativitätsräume und des kooperierenden Agierens in der Gruppe Potenziale nicht nur in Bezug auf sprachliches und fachliches Lernen, sondern auch hinsichtlich der sozial-emotionalen Entwicklung. Dabei könnte gerade die Verknüpfung von sprachlichem, fachlichem und überfachlichem Lernen Lernsynergien befördern. Leidig et al. (2020) fassen z.B. zentrale Forschungsergebnisse zusammen, die datenbasiert belegen, dass die systematische Integration sozial-emotionalen Lernens in den Fachunterricht akademische Lernfortschritte, gerade auch in inklusiven Lerngruppen, bewirkt (vgl. auch Leidig und Urban 2023 für die Relevanz einer integrierten Verbindung von sozial-emotionalem Lernen mit sprachlichem und literarischem Lernen). Ressource: Multimodalität Will man in sprachlich heterogenen und generell heterogenen Gruppen am gemeinsamen Lerngegenstand zieldifferent arbeiten, ist es sinnvoll, auch mo‐ dal unterschiedliche Zugänge zum Lerngegenstand zu eröffnen und, statt ausschließlich auf die abstrakt-begriffliche Aneignung zu fokussieren, auch basal-rezeptive, konkret-gegenständliche und anschauliche Aneignungswege (u.a. Terfloth und Bauersfeld 2019) zu ermöglichen. Performative Zugänge eignen sich auch in diesem Zusammenhang, da sie grundlegend multimodal angelegt sind, um kognitive Aktivierung nicht allein über den kognitiven Kanal anzuregen, sondern kognitive Aktivierung über körperliche Involvierung zu Performative Inklusionsdidaktik 135 <?page no="136"?> 4 Gemeint ist hier vorrangig ein ‚modellverarbeitendes Üben‘ im Sinne von Bredel und Pieper (2022), bei dem sprachliche Muster durch die „Übepraxis im Idealfall inkorporiert werden“ (30). Grundsätzlich schließen wir uns in unserem Verständnis des Übens an Brinkmann (u.a. 2009, 2012) an, der Körperlichkeit und Performativität als zentrale Aspekte des Übens herausarbeitet (2012: 396ff.). Für verschiedene Perspektiven der Deutschdidaktik auf das Üben vgl. Heins et al. (2022). verstärken. Derart offerieren performativ orientierte Unterrichtskonzepte in der Regel körperlich-sinnlich mehrdimensionale Zugänge zum Lerngegenstand; d.h. über verschiedene Sinneskanäle, sprachlich und gestisch/ mimisch, gebär‐ dend etc. (s.o. zu Medien des menschlichen Elementarkontakts). Diese Zugänge sind je nach Lerngruppe variierbar und unterstützen - kombiniert mit einer gezielten Steuerung - wiederum ein nachhaltiges Verinnerlichen. Ressource: Inszenierung und Aufführung/ Präsentation Nicht zuletzt erlauben Settings des kreativen Gestaltens, Darstellens, Inszenie‐ rens in der Gruppe die an den individuellen Bedarfen ausgerichtete Verteilung unterschiedlicher Rollen und Aufgaben in einem potenziell sinnstiftenden gemeinsamen Handlungsrahmen - einem Handlungsrahmen, der zusätzlich Möglichkeiten bietet, Freude am Dabeisein und am Lernen zu wecken und aufrechtzuerhalten. Das gemeinsame kreative Gestalten, die gemeinsame kreative Ausarbeitung einer Inszenierung erfordern nicht nur kooperatives Handeln, sie kreieren auch Kommunikationsanlässe und sprachliche Aushandlungsprozesse mit Ak‐ tivierungs- und Lernpotenzial. Ein besonderes Lernpotenzial entsteht nicht zuletzt, wenn Erarbeitetes auch aufgeführt wird, also z.B. verschiedene, in Kleingruppen erarbeitete Inszenie‐ rungen abschließend wechselseitig oder der Gesamtgruppe (dem Plenum) zu präsentieren sind. Denn dann gilt es, dafür zu üben - mit dem positiven Effekt, durch Wiederholung die kognitive Verankerung zu stärken. 4 Zu betonen ist, dass Üben und Wiederholung in diesem Zusammenhang nicht zweckfrei sind, sondern auf ein explizites Ziel gerichtet - ein Umstand, der in besonderem Maße motivationssteigernd sein kann. Die in diesem Kapitel aufgezeigten, mit Performativität verbundenen didakti‐ schen Ressourcen sind gleichsam auch Argumente für den Einsatz performativer Zugänge in einem diversitätssensiblen, inklusiven Unterricht. Es lässt sich aber noch ein weiteres einschlägiges Argument anführen: Nur ein performativer didaktischer Rahmen erlaubt die didaktisch kombinierte Umsetzung der drei Faktoren Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung, deren Lernför‐ derlichkeit im nun folgenden Kapitel 3 forschungsbasiert fundiert wird, um 136 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="137"?> im Anschluss - die bisherigen Argumentationsstränge zusammenführend - in Kapitel 4 das diversitätssensible Leitkonzept ‚Performative Inklusionsdidaktik‘ vorzustellen. 3 Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung als lernförderliche Faktoren Wie im Beitragstitel bereits vorweggenommen, plädieren wir für ein performa‐ tiv ausgerichtetes didaktisches Modell, das die drei Komponenten Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung zusammenführt, um in inklusiven Unterrichtskontexten Lernpotenziale bestmöglich auszuschöpfen. Fundieren lässt sich dieses Modell u.a. im Rahmen einer metatheoretischen interdiszipli‐ nären Synthese nationaler und internationaler Arbeiten. So zeigt sich, sondiert man aus einer interdisziplinären Perspektive relevante Fachdiskurse, dass die Faktoren Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung in verschiedenen theoretischen Frameworks und empirischen Studien zum Teil unabhängig voneinander, zum Teil aber auch bereits bilateral miteinander verzahnt, als lernförderliche Faktoren herausgestellt werden: Die Relevanzsetzung des ersten Faktors Steuerung ist eng mit der Mo‐ dellierung sprachlicher und kognitiver Erwerbsprozesse als Prozesse der Mustererkennung und der nach und nach routinierteren und generellen Musteranwendung verknüpft. So wird in gebrauchsbasierten (‚usage-based‘) Spracherwerbskonzeptionen (u.a. Tomasello 2003, 2006; Behrens 2009, 2011) und damit verbundenen Konstruktionsgrammatiken (u.a. Lakoff 1987; Goldberg 1995, 2006; Croft 2001) dem wahrnehmungsbasierten Musterbildungsprozess als allgemeine kognitive Fähigkeit zentrale Bedeutung für den Spracherwerb zugeschrieben (vgl. Tomasello 2003: 4). Für die Mustererkennung nimmt über‐ dies die Variation des (wahrgenommenen) sprachlichen Inputs eine wesentliche Funktion ein. Um ein abstraktes grammatisches bzw. kognitiv sprachliches Muster (bzw. Schema; u.a. Bybee 2006; Pracht 2010) zu erkennen, bedarf es einer Basis an zahlreichen gleichen und fast gleichen, nur leicht variierenden Inputs. In der Sprachförderung lassen sich entsprechende Beobachtungen nutzen, indem z.B. durch gezielt gesteuerte Vorstrukturierung Input optimiert, der funktional angemessene Gebrauch von musterkonformen Chunks initiiert und/ oder in zunächst mehr, dann weniger gesteuerten Formaten zu musterkonfor‐ mem Output angeregt wird, um Form-Funktions-Zusammenhänge erfahrbar zu machen und Mustererkennung zu ermöglichen. Insbesondere für den Bereich des Zweitspracherwerbs und sprachlicher Heterogenität legen empirische Stu‐ dien die Wirksamkeit von didaktischer Steuerung in Form von Scaffolding, Performative Inklusionsdidaktik 137 <?page no="138"?> Chunk Learning, Formfokussierung, Input-Optimierung, proaktiven Modellier‐ ungstechniken und/ oder gezielter Output-Generierung nahe (u.a. Gibbons 2002; Handwerker und Madlener 2009; Madlener 2016; Bebout und Belke 2017; Siegmund 2022). Parallel figuriert der Musterbegriff auch dominant im Fachdiskurs um bildungssprachliche Sprachhandlungstypen. So hat die Erfahrung, dass sich bildungssprachliche Kompetenzen auch über den flexiblen und differenzierten Zugriff auf wissensprozessierende Praktiken und Textprozeduren bemessen lassen (vgl. Zepter und Schindler 2025: 8), didaktisch gewendet dazu geführt, in der Unterstützung bildungssprachlicher Lernprozesse, z.B. beim Schreiben von Fachtexten, auf das Ziel einer Routinisierung von texttypadäquater Text‐ prozeduren-Anwendung zu fokussieren (u.a. Feilke und Rezat 2019) und Mus‐ terorientierung als den vorrangigen Schlüssel für Kompetenzerwerb zu erfassen. Muster, Musterbildung und Musterorientierung sind ebenso wie Routinisierung im deutschdidaktischen Fachdiskurs um bildungssprachliche Textprozeduren und Diskurspraktiken heute gängige Konzepte, die in der theoretischen und empirischen Beforschung im Kontext vielfältiger Themenfacetten und Frage‐ stellungen aufgegriffen und modelliert werden (u.a. Schröder 2003; Fritz 2013; Steinseifer und Feilke 2013; Brinker et al. 2014; Brommer 2018; Rezat 2021). Der Schluss liegt nahe, dass didaktische Steuerung auch in diesem Kontext lernförderlich sein kann. Der zweite Faktor Kreativität wird seit den 1950er-Jahren bis heute intensiv beforscht, jüngst in diesem Band auch in Bezug auf bildungs- und fachsprachli‐ che Textprozeduren und Diskurspraktiken. Wir greifen hier Zepter und Schind‐ ler (2025) resümierend die für unser Anliegen besonders relevanten Aspekte heraus: Im Vordergrund der Kreativitätsforschung steht meist die Bedeutung für die Entwicklung von Problemlösungskompetenz und divergentem Denken, mitun‐ ter jedoch auch für Lernen allgemein (u.a. Neuber 2000; Oerter 2002; Gröschner und Sandbothe 2010). Grundsätzlich ist die Komplexität und Schwierigkeit einer empirischen Erfassung von Kreativität zu betonen (u.a. Spiel 2003). In der Deutschdidaktik ist der Kreativitätsbegriff vorrangig im Bereich des kreativen (auch kreativ-literarischen) Schreibens verhandelt worden (u.a. Spinner 2008; Böttcher 2010; im Überblick Zepter 2013: 363-374; Schindler und Zepter 2017: 33-39; Abraham et al. 2023). Im Hinblick auf Sprachenlernen wird aber z.B. auch das ‚Miteinander-Kreativsein‘ (‚creativity-gap activities‘) als Kommunikations‐ auslöser im Rahmen eines taskorientierten (u.a. Prabhu 1987; Ellis und Shintani 2014) Sprachunterrichts herausgestellt (Bryant und Zepter 2022: 117), kreative Erfahrung als Lernkonzept ausgearbeitet (z.B. Hippe 2022; Schindler und Zepter 138 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="139"?> 5 Siehe u.a. Bräuer 2002; Rösch 2007; Ballis und Spinner 2008; Schewe 2008; Bryant 2012; Hennies und Ritter 2014; Bryant und Rummel 2015; Naugk et al. 2016; Schindler und Zepter 2017; Moraitis et al. 2018; Mayer et al. 2018; Sambanis und Walter 2019; Even et al. 2019; Dorner-Pau 2021; Bryant und Zepter 2022; Bryant 2023; Frickel und Zepter 2023; Vogel 2023. 2017) oder auf die Steigerung der Lernmotivation durch Kreativität (z.B. Dörnyei und Ushioda 2011) eingegangen. Explizit aufgegriffen als didaktisches Mittel für bildungssprachliche Lernprozesse wird Kreativität im Rahmen des kreativen und generativen Schreibens (Belke 2001, 2007, 2012) sowie auch neuerdings für Möglichkeiten wissenschaftlichen Schreibens (Schindler 2023). Der dritte Faktor der körperlichen Involvierung als Ressource für kognitive Aktivierung wird insbesondere im Rahmen von Embodiment-Theorien model‐ liert und empirisch fundiert (u.a. Gallagher 2005; Tschacher und Bergomi 2011; Tschacher 2022; vgl. auch Bryant und Zepter 2022 für die Kompatibilität und Passung von Embodiment- und Usage-based-Theorien). Deren Kernauffassung ist die unaufhebbare körperliche Verankerung menschlicher Kognition. Man er‐ fasst menschliche Kognition nicht nur als notwendig in ein Gehirn eingebettet, sondern modelliert dieses Gehirn als wiederum notwendig eingebettet in einen Körper mit dessen Dimensionen Wahrnehmen/ Perzeption, Fühlen/ Emotionen und Bewegung/ Motorik. Als wesentlich für die Entwicklung und Realisierung humaner Kognition wird eine beidseitige Wechselwirkung mit dem Körper angenommen: Kognitive Prozesse beeinflussen nicht nur körperliche, sondern umgekehrt körperliche auch kognitive (für eine Einführung Bryant und Zepter 2022: Kap. 2). Im Kontext der Embodiment-Forschung belegen u.a. verschie‐ dene empirische Studien die Rolle wahrnehmungsbezogener und motorischer Repräsentationen bei der Erst- und Zweitsprachverarbeitung (z.B. Zwaan und Madden 2005; Ahlberg et al. 2018) bzw. die These, dass wir Sprache grundsätzlich multimodal und basierend auf unseren körperlichen Erfahrungen verarbeiten. Dies legt nahe, dass ein erhöhter körperlicher Einsatz auch beim sprachlichen und fachlichen Lernen im schulischen Regelunterricht von Vorteil sein kann. In der Deutschdidaktik, der DaZ-/ DaF-Didaktik sowie Fremdsprachendidak‐ tik sind ganzheitlich orientierte Ansätze, die das didaktische Potenzial von (den Körper mehr oder weniger als Ressource nutzender) ästhetischer Erfahrung, von Theaterspiel bzw. Performativität für sprachliches, literarisches und/ oder (inter-)kulturelles sowie überfachliches Lernen ausloten, inzwischen zahlreich vertreten. Die Ansätze fokussieren vielfach den DaZ-/ DaF-Unterricht, jüngst auch zunehmend den sprachheterogenen, inklusiven Unterricht. 5 Trotz des theoretisch gut fundierten didaktischen Potenzials stellen empirische Belege für die Lernwirksamkeit körperlicher Involvierung im schulischen Kontext bis Performative Inklusionsdidaktik 139 <?page no="140"?> 6 Für eine Übersicht von Arbeiten, die hinsichtlich der Förderpotenziale dramapädago‐ gischer Ansätze (im DaF-Unterricht) ebenfalls das Desiderat empirischer Studien zur Lernwirksamkeit herausstellen, s. auch Klempin und Wirag (2020). heute ein großes Desiderat dar. 6 Ein rares, herausstechendes Beispiel ist die breit angelegte europäische DICE-Studie (DICE Consortium 2010) (n = 5.000 Schüler: innen aus 12 Ländern), die die Wirksamkeit der Integration von thea‐ terpädagogischen Elementen in den Schulunterricht durch die Steigerung von Problemlösungskompetenz, Empathie, Perspektivenübernahme und Selbstver‐ trauen in der Kommunikation nachweist. Setzt man insgesamt die Forschungsstände zu den drei potenziell lernför‐ derlichen Faktoren Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung zu‐ einander in Bezug, lässt sich resümierend Folgendes herausstellen: Es gibt inzwischen bereits verschiedene Ansätze, die das didaktische Potenzial einer bilateralen Integration bzw. der wechselseitigen Bedingtheit von Steuerung und Kreativität (Belke 2001, 2007, 2012; von Lehmden et al. 2022; Spinner 2008) oder von Kreativität und körperlicher Involvierung (z.B. Neuber 2000; Gröschner und Sandbothe 2010) betonen; bislang fehlen allerdings Ansätze, die alle drei Faktoren in Beziehung setzen. Diese Lücke schließend schlagen wir eine trilaterale didaktische Verknüpfung vor, die wir im folgenden Kapitel in Zusammenführung mit dem Umsetzungspotenzial performativer Zugänge zu einem diversitätssensiblen didaktischen Leitkonzept modellieren. 4 Performative Inklusionsdidaktik - ein trilaterales Modell Das für inklusive Unterrichtskontexte (in Kapitel 2) herausgearbeitete didakti‐ sche Potenzial von Performativität einerseits und die (in Kapitel 3) fundierten lernförderlichen Faktoren Steuerung, Kreativität und körperlicher Involvierung andererseits bilden die Grundlage für ein diversitätssensibles didaktisches Leitkonzept, auf das wir mit dem Begriff ‚Performative Inklusionsdidaktik‘ Bezug nehmen. Performativität setzt den didaktischen Rahmen und ermöglicht, Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung zusammenzuführen in Erwartung maximaler Synergieeffekte. Das trilaterale Modell der Performativen Inklusionsdidaktik (s. Abb. 1) ver‐ bindet die drei Komponenten durch Aufgabenstellungen, die (i) eine klare Struktur vorgeben, dabei aber (ii) einen kreativen Ausgestaltungsspielraum er‐ öffnen und (iii) eine ganzheitliche Aktivierung initiieren sowie ein körperliches Erleben bewirken. 140 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="141"?> Abb. 1: Trilaterales Modell einer Performativen Inklusionsdidaktik als Vorschlag eines diversitätssensiblen didaktischen Leitkonzepts Während die Komponenten körperliche Involvierung und Kreativität elementar zur Performativität gehören, bedarf es in Bezug auf die Steuerungskomponente einer Nachschärfung, denn performative Aufgabenstellungen lassen sich in Bezug auf den Grad der Steuerung auf einem Kontinuum von stark gelenkt bis weitgehend ungelenkt anordnen (Kao und O’Neill 1998: 6; Even 2003: 156f.; Bryant 2022: 363f.). Da im Rahmen der Performativen Inklusionsdidaktik das bildungssprachliche Repertoire systematisch auf- und ausgebaut werden soll, ist ein hohes Maß an Steuerung und Vorgaben unerlässlich. Zur Steuerung gehört alles, was für die Ler‐ nenden bereitzustellen ist, um sie in die Lage zu versetzen, eine bestimmte Aufgabe, ein bestimmtes Stundenziel zu erreichen. Hierzu zählen nicht nur verständliche (multimodale) Handlungsanweisungen mit klaren Zielvorgaben und bedarfsgerech‐ ten Unterstützungssystemen (Scaffolding). Auch die Dekomponierung komplexer Lerngegenstände in für alle handhabbare Lernbausteine (s. Kap. 5.2), die im weiteren didaktischen Verlauf zu größeren Sinn- und Funktionseinheiten zusammengesetzt werden, fällt in den Bereich der Steuerung. Ist der (an Fachinhalte geknüpfte) sprachliche Lerngegenstand hinreichend eingegrenzt und sind die Zielstrukturen ausgewählt, dann wird die performative Aufgabe entwickelt. Der performative Kontext z.B. einer Inszenierungs- oder Dar‐ stellungsaufgabe muss transparent und nachvollziehbar modelliert sein und sich an den performativen Erfahrungen der Schüler: innen orientieren. Trotz enger Vorga‐ ben lassen performative Aufgaben hinreichend kreativen Ausgestaltungsspielraum, in der Mündlichkeit z.B. für den Einsatz von Stimme, Mimik, Gestik und hinsichtlich der Intensität emotionaler und körperlicher Involviertheit. Das nun folgende Kapitel 5 zeigt beispielhaft anhand einer Teilprozedur der bildungssprachlichen Diskurspraktik Argumentieren die Anwendung der Performative Inklusionsdidaktik 141 <?page no="142"?> Performativen Inklusionsdidaktik und illustriert, wie im Zusammenspiel von Steuerung, Kreativität und körperlicher Involvierung Unterrichtssettings so gestaltet werden können, dass sie ein inklusives Lernen ermöglichen. 5 Performative Inklusionsdidaktik am Beispiel des Argumentierens 5.1 Zur Komplexität des Lerngegenstands Argumentieren Das Argumentieren gehört zu den curricular verankerten prozessbezogenen Kompetenzen nicht nur im Fach Deutsch, sondern auch in vielen anderen (insb. gesellschaftswissenschaftlichen) Fächern (vgl. Schicker et al. 2021; Petersen et al. 2021). Auch für die Diskursteilhabe in demokratischen Gesellschaften ist Argu‐ mentationskompetenz, bei der sich fachliche und sprachliche Kompetenzen aufs Engste verschränken, bedeutsam. Denn in der heute global zunehmenden Infor‐ mationsdichte steigt die Notwendigkeit, sich zu brisanten Themen eine fakten‐ basierte Meinung bilden zu können, vertrauenswürdige Quellen und schlüssige Argumente zu identifizieren und den eigenen Standpunkt konstruktiv durch Argumente zu vertreten - und so zur demokratischen Konfliktlösung und Konsensfindung beizutragen. Argumentieren ist jedoch eine der komplexesten Sprachhandlungstypen, da hier vergleichsweise viele wissensprozessierende Handlungsschemata bzw. Textprozedurenausdrücke zum Einsatz kommen kön‐ nen (u.a. Budke at al. 2020; Ehrig 2021). Verschiedene Argumente müssen aufeinander bezogen, verglichen, gewichtet und daraus Schlüsse gezogen wer‐ den. In der Basis kann das mögliche Handlungsschemata-Spektrum bereits Per‐ spektivieren, Konzedieren, Vergleichen, Schließen, Positionieren, Begründen beinhalten (u.a. Budke et al. 2020; Rezat 2021). Während sich schriftliche Aufgabenformate als besonders anspruchsvoll belegen lassen (u.a. Afflerbach und Cho 2009; Britt und Rouet 2012; Philipp 2018, 2020; Budke et al. 2021), führen Schicker et al. (2021) verschiedene internationale theoretische Arbeiten und empirische Studien aus dem angloamerikanischen Raum zusammen, die nahelegen, „mündliches Argumentieren als ‚Steigbügel‘ für schriftliches Argumentieren“ (ebd.: 16) zu nutzen. Generell ist jedoch auch bei einem Fokus auf stärker medial mündlich basierte Aufgabenformate zu beachten, dass mündliches Argumentieren ebenfalls voraussetzungsreich ist und z.B. auch ganzheitliche Überzeugungs- und Ausdruckskraft bzw. Präsen‐ tationskompetenzen verlangt sowie als Pendant zum Lesen notwendig Zuhör‐ kompetenzen einfordert (u.a. Vogt 2002, 2007; Grundler und Vogt 2006; Pabst- Weinschenk 2004; Heller 2018; Grundler at al. 2020). 142 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="143"?> Um den Sprachhandlungstyp Argumentieren in seiner Komplexität allen Schü‐ ler: innen zugänglich zu machen und ihnen Teilhabe an Unterrichtsdiskursen, aber auch darüber hinaus an gesellschaftlichen Diskursen zu ermöglichen, bedarf es adressat: innengerechter Lernangebote. Im Folgenden wird für inklusive Unter‐ richtskontexte in den Klassenstufen 5/ 6 aufgezeigt, wie der Auf- und Ausbau von Argumentationsfähigkeiten auf der Basis eines spiralcurricularen Lernbaus‐ teinsystems schrittweise und niedrigschwellig unter systematischer Einbindung funktional motivierter performativer Elemente erfolgen kann. Der Fokus liegt auf dem mündlichen Argumentieren, um einerseits das schriftliche Argumentieren der folgenden Jahrgangsstufe(n) vorzubereiten und um andererseits an das in kognitivsprachlicher wie auch in performativer Hinsicht noch anspruchsvollere Debattie‐ ren (zu erwarten in den Klassenstufen 7/ 8) heranzuführen. Anwendung findet die in Kapitel 4 vorgestellte Performative Inklusionsdidaktik mit den Komponenten Steuerung, Kreativität und körperliche Involvierung. 5.2 Didaktisierung des Lerngegenstands Argumentieren Steuerung: Lernbausteinsystem für den Auf- und Ausbau von Argumentationsfä‐ higkeiten Voraussetzung für ein gesteuertes, nicht überforderndes und den Erwartungs‐ horizont transparent darlegendes Vorgehen ist die Dekomponierung des kom‐ plexen Lerngegenstands in taskorientierte Bausteine, mit denen einzelne Teil‐ prozeduren des Argumentierens erarbeitet und geübt werden (s. Abb. 2). Abb. 2: Lernbausteinsystem für den Auf- und Ausbau von Argumentationsfähigkeiten Performative Inklusionsdidaktik 143 <?page no="144"?> 7 In Anlehnung an Gätje et al. 2012: 138, zit. in Feilke 2021: 103, der gleichwohl von medial schriftlichem Argumentieren ausgeht. Ein wiederkehrender Gebrauch der Lernbausteine im Kontext unterschiedli‐ cher Themen unterstützt ein Verinnerlichen der Handlungsroutinen und der sprachlichen Mittel. Die Schüler: innen können so Sicherheit in den einzelnen Teilprozeduren erlangen und sich sprachlich handlungsfähig erleben. Die Lehr‐ kraft entscheidet, wann die Komplexität gesteigert und ein neuer Baustein mit weiteren Teilprozeduren erschlossen wird. Die Einführung in eine Teilprozedur erfolgt mit maximal zwei oder drei typischen Konstruktionen. Daran anschlie‐ ßend wird das sprachliche Repertoire des Bausteins mit jedem nächsten Thema um eine Konstruktion erweitert, wobei zunehmend Ausdrucksweisen konzep‐ tioneller Schriftlichkeit Anwendung finden (s. Abb. 3 für die Teilprozedur des Positionierens 7 ). Abb. 3: Ausbau des sprachlichen Repertoires der Teilprozedur Positionieren (Baustein 2) An Sachthemen geknüpft sollte spiralcurricular und in regelmäßigen Abständen vom einzelnen Baustein über zwei- und mehrteilige Bausteinkombinationen immer wieder am Auf- und Ausbau der Argumentationsfähigkeiten gearbeitet werden. Steuerung und körperliche Involvierung: Beispiel einer Aktivierungsaufgabe Das sachbezogene Argumentieren steht immer am Ende einer Unterrichtsein‐ heit. Die Schüler: innen benötigen vorab hinreichend Gelegenheiten, sich mit verschiedenen Perspektiven auf das Sachthema auseinanderzusetzen, um sich dann auf die Teilprozeduren des Argumentierens konzentrieren zu können und nicht durch inhaltliche Unklarheiten abgelenkt zu werden. Je nach Un‐ terstützungsbedarf sind weitere inhaltliche, strukturierende Vorentlastungen und Aktivierungsübungen nötig (s. Bryant und Zepter 2025). Beispielsweise könnte sich als aktivierende Einstiegsübung ein inszenierter Raumlauf eig‐ nen: Die Raumläufer: innen tragen zu einer fachinhaltsbezogenen Streitbzw. 144 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="145"?> Debattierfrage nacheinander ausdrucksstark je ein Argument vor (Abb. 4), die Zuhörenden machen sich derweil Notizen und ordnen im Anschluss die Argumente bestimmten Thesen bzw. der Pro- oder Kontraseite zu (Abb. 5). Auf diese Weise finden eine Wiederholung behandelter Inhalte sowie eine tiefere Auseinandersetzung mit den Argumenten statt. Abb. 4: Vortragen von Argumenten Abb. 5: Zuordnung von Argumenten Steuerung und kreativer Ausgestaltungsspielraum mit körperlicher Involvierung Den in Abbildung 4 und 5 visualisierten Aktivierungsübungen könnte eine performative Aufgabe zum Gewichten von Argumenten - eine Teilprozedur von Baustein 1 (s. Abb. 2) - folgen: Die Hälfte der Schüler: innen beschäftigt sich hierbei mit den Pro-Argumenten, die andere Hälfte mit den Kontra- Argumenten. Zunächst gilt es, aus dem Spektrum der Argumente drei besonders relevante Argumente auszuwählen und diese dann nach Gewichtigkeit zu ordnen. Der kreative Teil der Aufgabe besteht im Folgenden darin, sich eine kleine Präsentation für die Rangfolge zu überlegen und dabei passend zur sprachlichen Steigerung auch Stimme und Körper einzusetzen. Die Lehrkraft achtet darauf, dass die Zielstrukturen (z.B. Sehr wichtig ist …, Noch wichtiger ist …, Am wichtigsten ist …) Anwendung finden. Jede Gruppe führt mehrere Probeläufe durch und testet die Wirkung verschiedener Ausgestaltungsoptio‐ nen. Die Nicht-Darstellenden übernehmen in den Gruppen die Regiearbeit. Am Ende stehen die gegenseitige Präsentation und gemeinsame Reflexion. Performative Inklusionsdidaktik 145 <?page no="146"?> Abbildung 6 und 7 repräsentieren zwei in der Praxis erlebte Umsetzungen der Gestaltungsaufgabe und lassen (bereits ohne Berücksichtigung variierter stimmlicher Parameter) erkennen, wie unterschiedlich trotz des eng abgesteck‐ ten Rahmens die Kreativitätsprodukte ausfallen können: Während die eine Gruppe die Argumentgewichtung in die Höhe inszeniert hat - mit sitzender und (erst auf dem Boden, dann auf dem Tisch) stehender Position -, bewegten sich die hintereinander angeordneten Mitglieder der anderen Gruppe wie eine Schlange auf das Publikum zu. Dabei schob sich jeweils die das Argument vortragende Person an die Spitze und machte sich mit zunehmender Wichtigkeit breiter und ausladender als die vorherige. Jede Gruppe fand also einen ganz eigenen Weg, das Kreativitätsfenster für sich zu nutzen: Raumbezogen wurde das wichtigste Argument einmal als höchste und einmal als vorderste Instanz verkörpert. Zudem hat die zweite Gruppe mit Distanz und Nähe gespielt und das wichtigste Argument den Zuschauenden in innervierender Nähe präsentiert. Wirkungsvoll ergänzt wurden die körperlichen Darstellungen beider Gruppen durch Variation in der Mimik, in der Lautstärke, im Sprechtempo und in der Betonungsintensität. Abb. 6 und 7: Zwei Inszenierungen für das Gewichten von Argumenten (Baustein 1) 146 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="147"?> 6 Schlusswort Anhand des soeben gegebenen Beispiels seien abschließend noch einmal in komprimierter Form die in Kapitel 2 skizzierten Potenziale, die eine performativ ausgerichtete Didaktik entfalten kann, in Erinnerung gebracht: Im Rahmen der performativen Aufgabe zur Argumentgewichtung können alle Mittel des menschlichen Elementarkontakts zum Einsatz kommen: Mimik, Gestik, Blickkontakt, Körperhaltung, Stimme etc. Die Multimodalität erlaubt eine den individuellen Fähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten entsprechende Teilhabe aller Schüler: innen. Durch Parallelisierung von Sprache und Körper‐ lichkeit gewinnen die Botschaften zum einen an Verständlichkeit und Überzeu‐ gungskraft, zum anderen können sprachgebundene Erfahrungsspuren gebildet werden, die ein späteres Abrufen der Inhalte erleichtern. Die Aufgabe, die Argumentgewichtung zu inszenieren, schafft in der Gruppe vielfältige Gelegen‐ heiten zum Austausch, zum gemeinsamen Ausprobieren und zur Aushandlung ästhetischer Entscheidungen. Die Aussicht auf ein gegenseitiges Präsentieren von Kreativitätsprodukten wirkt motivierend und konzentrationsfördernd. Die Bereitschaft zum Üben vor dem Auftritt mit einhergehenden Wiederholungen von mit Fachinhalten verknüpften Zielstrukturen ergibt sich auf authentische Weise allein aus dem Wunsch heraus, vor den anderen gut zu performen. Die Schüler: innen können aber nicht nur in fachlicher und sprachlicher Hinsicht vom eng abgesteckten performativen Aufgabenkontext profitieren. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass sich die Erfahrung, den performativen Erwartungen gerecht werden zu können, und die erlebte Freude an den ästhetisch eindrucks‐ vollen Darstellungsformen positiv auf das Selbstbewusstsein auswirken und darin bestärken, sich auch bei künftigen Unterrichtsaktivitäten einbringen und selbstwirksam erleben zu wollen. Literatur Abraham, Ulf/ Bräuer, Christoph/ von Brand, Tilman (Hrsg.) (2023). Literarisches Schrei‐ ben als kulturelle Praxis. Deutschdidaktische, schreibpädagogische und medienkultu‐ relle Impulse für den Unterricht. Hannover: Klett/ Kallmeyer. Afflerbach, Peter/ Cho, Byeong‐Young (2009). Identifying and describing constructively responsive comprehension strategies in new and traditional forms of reading. In: Israel, Susan/ Duffy, Gerald (Hrsg.). Handbook of research on reading comprehension. New York: Routledge, 69-90. Ahlberg, Daniela/ Bischoff, Heike/ Kaup, Barbara/ Bryant, Doreen/ Strozyk, Jessica (2018). Grounded Cognition: Comparing language-space interactions in L1 and L2. Applied Psycholinguistics 39, 437-459. Performative Inklusionsdidaktik 147 <?page no="148"?> Andrä, Christian/ Kowalzik, Tina (2023). Bewegtes Lernen. Körpererfahrung und senso‐ motorisches Lernen als Grundlage von bewegten Lernprozessen. Sportunterricht 72 (4), 163-167. Ballis, Anja/ Spinner, Kaspar H. (2008). Sommerschule, Sommerkurse, Summer Learning: Deutsch lernen in außerschulischem Kontext. Baltmannsweiler: Schneider Hohen‐ gehren. Bebout, Johanna/ Belke, Eva (2017). Language play facilitates language learning: Optimi‐ zing the input for gender-like category induction. Cognitive Research: Principles and Implication 2 (1), 11. Becker, Karina (2023). Emotionen im Deutschunterricht. Vorschläge für ein diversi‐ tätssensibles Konzept sprachlich-literarischen Lernens. In: Frickel, Daniela/ Zepter, Alexandra (Hrsg.). Textästhetik - Körper - Emotion. Sprachlich-literarisches Lernen mit Emotionen in inklusiven Settings. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa, 184-198. Behrens, Heike (2009). Usage-based and emergentist approaches to language acquisition. Linguistics 47 (2), 383-411. Behrens, Heike (2011). Grammatik und Lexikon im Spracherwerb: Konstruktionspro‐ zesse. In: Engelberg, Stefan/ Holler, Anke/ Proost, Kristel (Hrsg.). Sprachliches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik. Berlin: De Gruyter, 375-396. Belke, Gerlind (2001). Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele, Spracher‐ werb und Sprachvermittlung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Belke, Gerlind (2007). Poesie und Grammatik. Kreativer Umgang mit Texten im Deutsch‐ unterricht mehrsprachiger Lernergruppen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengeh‐ ren. Belke, Gerlind (2012). Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Bischoff, Heike/ Bryant, Doreen (2022). Handlungsorientierter Sprach- und Schriftge‐ brauch (HOSS). In: Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.), 321-339. Böttcher, Ingrid (Hrsg.) (2010). Kreatives Schreiben. Berlin: Cornelsen Scriptor. Bräuer, Gerd (Hrsg.) (2002). Body and Language. Intercultural Learning Through Drama. Westport, Connecticut/ London: Ablex. Bredel, Ursula/ Pieper, Irene (2022). Der Beitrag des Übens zur Entwicklung sprachlicher und literarisch-ästhetischer Handlungsfähigkeit. In: Heins, Jochen/ Kleinschmidt- Schinke, Katrin/ Wieser, Dorothee/ Wiesner, Esther (Hrsg.), 19-31. Brinker, Klaus/ Cölfen, Hermann/ Pappert, Steffen (2014). Linguistische Textanalyse: Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 8. Aufl. Berlin: Erich Schmidt. Brinkmann, Malte (2009). Üben: Wissen - Können - Wiederholen. Zeitphänomenologi‐ sche Überlegungen zur pädagogischen Übung. Vierteljahresschrift für wissenschaft‐ liche Pädagogik (4), 413-434. 148 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="149"?> Brinkmann, Malte (2012). Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Britt, M. Anne/ Rouet, Jean-François (2012). Learning with multiple Documents. Com‐ ponent Skills and Their Acquisition. In: Kirby, John R./ Lawson, Michael J. (Hrsg.). Enhancing the Quality of Learning, Dispositions, Instruction, and Learning Process. Cambridge: Cambridge University Press, 276-314. Brommer, Sarah (2018). Sprachliche Muster. Eine induktive korpuslinguistische Analyse wissenschaftlicher Texte. Berlin/ Boston: De Gruyter. Bryant, Doreen (2012). DaZ und Theater. Der dramapädagogische Ansatz zur Förderung der Bildungssprache. Scenario - Zeitschrift für Drama- und Theaterpädagogik in der Fremd- und Zweitsprachenvermittlung 6 (1), 27-55. Bryant, Doreen (2022). Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken. In: Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.), 363-372. Bryant, Doreen (2023). Inszenierungstechniken als Medium sprachdidaktischer Formfo‐ kussierung im Kontext von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Sprachbildung im Fach. Scenario - Zeitschrift für performatives Lehren, Lernen, Forschen 17 (2), 17-43. Bryant, Doreen/ Rummel, Sophie (2015). Nachhaltige dramapädagogische Sprachförde‐ rung für Grundschulkinder mit DaZ. Ein durchgängiges Förderkonzept: Vom außer‐ schulischen Ferien-Theatercamp zur fachsensiblen Sprachförderung in schulischer Theater-AG. Scenario - Zeitschrift für Drama- und Theaterpädagogik in der Fremd- und Zweitsprachenvermittlung 9 (2), 7-36. Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (2022). Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Ein Lehr- und Praxisbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto. Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (2025). Performative Inklusionsdidaktik. Argumen‐ tationskompetenzen auf- und ausbauen. Ein Lehr- und Praxisbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto. Budke, Alexandra/ Gebele, Diana/ Königs, Pia/ Schwerdtfeger, Sarah/ Zepter, Alexandra L. (2020). Student texts produced in the context of material-based argumentative writing: Interdisciplinary research-related conception of an evaluation tool. Research in Subject-matter Teaching and Learning (RISTAL) 3, 108-125. Budke, Alexandra/ Gebele, Diana/ Königs, Pia/ Schwerdtfeger, Sarah/ Zepter, Alexandra L. (2021). Materialgestütztes argumentierendes Schreiben in inklusiven Lerngruppen. In: Budke, Alexandra/ Schäbitz, Frank (Hrsg.). Argumentieren und Vergleichen. Münster: LIT, 163-188. Bybee, Joan (2006). Form usage to grammar: The mind῾s response to repetition. Language 82 (4), 711-733. Croft, William (2001). Radical Construction Grammar. Syntactic theory in typological perspective. Oxford: Oxford University Press. Performative Inklusionsdidaktik 149 <?page no="150"?> Dannecker, Wiebke/ Schindler, Kirsten (2022). Diversitätsorientierte Deutschdidaktik - theoretisch-konzeptionelle Fundierung und Perspektiven für empirische Forschung. In: Dannecker, Wiebke/ Schindler, Kirsten (Hrsg.). Diversitätsorientierte Deutschdi‐ daktik. Theoretisch-konzeptionelle Fundierung und Perspektiven für empirisches Arbeiten (= SLLD(B) - Sprachlich-Literarisches Lernen und Deutschdidaktik (Bände), Bd. 4). Bochum: Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum, 7-17. DICE Consortium (Hrsg.) (2010). The DICE has been cast. Research findings and recom‐ mendations on educational theatre and drama. Budapest: European Commission. Döll, Marion/ Michalak, Magda (Hrsg.) (2023). Deutsch als Zweitsprache und inklusive Bildung. Münster: Waxmann. Dorner-Pau, Magdalena (2021). Spielend (be)schreiben. Performative Verfahren zur Förderung deskriptiver Kompetenzen in sprachlich heterogenen Grundschulklassen. Berlin: De Gruyter. Dörnyei, Zoltán/ Ushioda, Erna (2011). Teaching and Researching Motivation. 2. Aufl. Harlow: Pearson Education Limited. Ehrig, Britta (2021). Argumentative Textprozeduren im ersten Jahr der gymnasialen Oberstufe. Präsentation erster Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts. In: Schicker, Stephan/ Schmölzer-Eibinger, Sabine (Hrsg.). ar|gu|men|tie|ren. Weinheim: Beltz, 90-105. Ellis, Rod/ Shintani, Natsuko (2014). Exploring Language Pedagogy through Second Language Acquisition. Research. London/ New York: Routledge. Even, Susanne (2003). Drama Grammatik. Dramapädagogische Ansätze für den Gram‐ matikunterricht Deutsch als Fremdsprache. München: iucidium. Even, Susanne/ Miladinović, Dragan/ Schmenk, Barbara (Hrsg.) (2019). Lernbewegungen inszenieren: Performative Zugänge in Sprach-, Literatur- und Kulturdidaktik. Fest‐ schrift für Manfred Schewe zum 65. Geburtstag. Tübingen: Narr Francke Attempto. Feilke, Helmuth (2021). Vom Satz zum Text - Der „schriftliche Ausdruck“ im Werden. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.). Die Sprache in den Schulen - Eine Sprache im Werden. Berlin: Erich Schmidt, 91-122. Feilke, Helmuth/ Rezat, Sara (2019). Operatoren „to go”. Praxis Deutsch 46 (274), 4-13. Feuser, Georg (2011). Entwicklungslogische Didaktik. In: Kaiser, Astrid/ Schmetz, Dit‐ mar/ Wachtel, Peter/ Werner, Birgit (Hrsg.). Didaktik und Unterricht. Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik Bd. 4. Stuttgart: Kohlhammer, 86-100. Feuser, Georg (2013). Die „Kooperation am Gemeinsamen Gegenstand“ - ein Entwick‐ lung induzierendes Lernen. In: Feuser, Georg/ Kutscher, Joachim (Hrsg.). Entwicklung und Lernen. Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik Bd. 7. Stuttgart: Kohlhammer, 282-293. 150 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="151"?> Feuser, Georg/ Herz, Birgit/ Jantzen, Wolfgang (Hrsg.) (2014). Emotion und Persönlichkeit. Stuttgart: Kohlhammer. Frickel, Daniela A./ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.) (2023). Textästhetik - Körper - Emotion. Sprachlich-literarisches Lernen mit Emotionen in inklusiven Settings. Weinheim/ Ba‐ sel: Beltz Juventa. Fritz, Gerd (2013). Dynamische Texttheorie. Gießen: Gießener Elektronische Bibliothek. Gallagher, Shaun (2005). How the body shapes the mind. Oxford: Clarendon. Gätje, Olaf/ Rezat, Sara/ Steinhoff, Torsten (2012). Positionierung. Zur Entwicklung des Gebrauchs modalisierender Prozeduren in argumentativen Texten von Schülern und Studenten. In: Feilke, Helmuth/ Lehnen, Katrin (Hrsg.). Textroutinen. Theorie, Erwerb und didaktisch-mediale Modellierung. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 125-153. Gebele, Diana/ Zepter, Alexandra L. (2016). Einleitung. In: Gebele, Diana/ Zepter, Alexan‐ dra L. (Hrsg.). Inklusion: Sprachdidaktische Perspektiven. Theorie, Empirie, Praxis. Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik. Duisburg: Gilles & Francke, 6-17. Gibbons, Pauline (2002). Scaffolding Language. Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth: Heinemann. Goldberg, Adele E. (1995). Constructions: A Construction Grammar Approach to Argu‐ ment Structure. Chicago: Chicago University Press. Goldberg, Adele E. (2006). Construction at Work: The Nature of Generalization in Language. Oxford: Oxford University Press. Gröschner, Alexander/ Sandbothe, Mike (2010). Kreativität fördern durch körperbasiertes Lernen. Pragmatische Perspektiven für den Unterricht in Schule und Universität. MedienPädagogik - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung Onlinepub‐ likation, 1-27. Grundler, Elke/ Rezat, Sara/ Schmölzer-Eibinger, Sabine (2020). Positionierungen in argu‐ mentativen Gesprächen und Briefen der Schule. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 72 (1), 1-29. Grundler, Elke/ Vogt, Rüdiger (Hrsg.) (2006). Argumentieren in Schule und Hochschule. Interdisziplinäre Studien. Tübingen: Stauffenberg Linguistik. Gudjons, Herbert (2014). Handlungsorientiert lehren und lernen: Schüleraktivierung- Selbsttätigkeit-Projektarbeit. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Handwerker, Brigitte/ Madlener, Karin (2009). Chunks für Deutsch als Fremdsprache. Theoretischer Hintergrund und Prototyp einer multimedialen Lernumgebung. Balt‐ mannsweiler: Schneider Hohengehren. Heimlich, Ulrich/ Bjarsch, Susanne (2020). Inklusiver Unterricht. In: Heimlich U./ Kiel, E. (Hrsg.). Studienbuch Inklusion. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 248-294. Heins, Jochen/ Kleinschmidt-Schinke, Katrin/ Wieser, Dorothee/ Wiesner, Esther (Hrsg.) (2022). Üben. Theoretische und empirische Perspektiven in der Deutschdidaktik Performative Inklusionsdidaktik 151 <?page no="152"?> (=-SLLD(B) - Sprachlich-Literarisches Lernen und Deutschdidaktik (Bände), Bd. 5). Bochum: Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum. Heller, Vivien (2018). Embodied epistemic responsibility. The interplay of gaze and stance-taking in children’s collaborative reasoning. Research in Children and Social Interaction 2 (2), 262-285. Helmke, Andreas (2015). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Eva‐ luation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze: Klett/ Kallmeyer. Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (Hrsg.) (2014). Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Wege zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart: Fillibach bei Klett. Hippe, Lorenz (2022). Und der Stift ist mein Freund - Szenisches Schreiben mit Jugend‐ lichen. In: Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.), 231-248. Kahlert, Joachim/ Heimlich, Ulrich (2012). Inklusionsdidaktische Netze - Konturen eines Unterrichts für alle (dargestellt am Beispiel des Sachunterrichts). In: Heimlich, Ul‐ rich/ Kahlert, Joachim (Hrsg.). Inklusion in Schule und Unterricht. Wege zur Bildung für alle. Stuttgart: Kohlhammer, 153-190. Kao, Shin-Mei/ O’Neill, Cecily (1998). Words Into Worlds. Learning a Second Language Through Process Drama. Stamford u.a.: Ablex. Klempin, Christiane/ Wirag, Andreas (2020). Wie wirkt Dramapädagogik im Fremdspra‐ chenunterricht? Ein Leitfaden zum Aufbau, zur Durchführung und Auswertung von Experimentalstudien. Scenario 9 (2), 96-115. Lakoff, George P. (1987). Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories Reveal about the Mind. Chicago: University of Chicago Press. Leidig, Tatjana/ Hennenmann, Thomas/ Hillenbrand, Clemens (2020). Integration sozialemotionalen Lernens im (Fach-)Unterricht. Zeitschrift für Heilpädagogik 71, 148-159. Leidig, Tatjana/ Urban, Mareike (2023). Sozial-emotionales Lernen im sprachlich-literari‐ schen Unterricht. Perspektiven aus dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. In: Frickel, Daniela A./ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Textästhetik - Körper - Emotion. Sprachlich-literarisches Lernen mit Emotionen in inklusiven Settings. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa, 36-48. Leiprecht, Rudolf/ Lutz, Helma (2006). Intersektionalität im Klassenzimmer. Ethnizität, Klasse, Geschlecht. In: Leiprecht, Rudolf/ Kerber, Anne (Hrsg.). Schule in der Einwan‐ derungsgesellschaft. Schwalbach: Wochenschau-Verlag, 218-234. Leiß, Judith (2024). Inklusionsorientierte und diskriminierungskritische Deutschdidak‐ tik(en). Mai-Anh Bogers Theorie der trilemmatischen Inklusion als metatheoretischer Rahmen für eine produktive Verortung und Verknüpfung deutschdidaktischer An‐ sätze. Didaktik Deutsch (56), 23-44. Madlener, Karin (2016). Input optimization: Effects of type and token frequency ma‐ nipulations in instructed second language learning. In: Behrens, Heike/ Pfänder, 152 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="153"?> Stefan (Hrsg.). Frequency effects in language: What counts in language processing, acquisition and change. Berlin/ Boston: De Gruyter, 133-173. Mayer, Johannes/ Geist, Barbara/ Krapf, Almut (2018). Varieté der Vielfalt: Ästhetisches Lernen in Sprache, Spiel, Bewegung, Kunst. Baltmannsweiler: Schneider Hohengeh‐ ren. McCall, Leslie (2005). The Complexity of Intersectionality, Signs. Journal of Women in Culture and Society 30 (3), 1771-1800. Moraitis, Anastasia/ Mavruk, Gülşah/ Schäfer, Andrea/ Schmidt, Eva (Hrsg.) (2018). Sprachförderung durch kulturelles und ästhetisches Lernen. Sprachbildende Konzepte für die Lehrerausbildung. Münster: Waxmann. Müller Bösch, Cornelia/ Schaffner Menn, Anita (2018). Didaktische Möglichkeiten im Unterricht für alle. In: Luder, Reto/ Kunz, André/ Müller Bösch, Cornelia (Hrsg.). Inklusive Pädagogik und Didaktik. 2. Aufl. Bern: hep, 73-116. Müller, Christina/ Dinter, Anja (2020). Bewegte Schule für alle. Modifizierung eines Konzeptes der bewegten Schulen für die Förderschwerpunkte Lernen, geistige, mo‐ torische, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache sowie Hören. 2. Aufl. Baden- Baden: Academia. Naugk, Nadine/ Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael/ Zielinski, Sascha (2016). Deutschunter‐ richt in der inklusiven Grundschule. Perspektiven und Beispiele. Weinheim: Beltz. Neuber, Nils (2000). Kreativität und Bewegung. Grundlagen kreativer Bewegungserzie‐ hung und empirische Befunde. Schriften der Deutschen Sporthochschule Köln, Bd. 45. Sankt Augustin: Academia. Oerter, Rolf (2002). Kindheit. In: Oerter, R./ Montada, L. (Hrsg.). Entwicklungspsychologie. Weinheim/ Basel: Beltz, 209-257. Pabst-Weinschenk, Marita (2004). Argumentation und Redeformen. In: Pabst-Wein‐ schenk, Marita (Hrsg.). Grundlagen der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. München/ Basel: Ernst Reinhardt, 113-121. Pekrun, Reinhard/ Götz, Thomas/ Titz, Wolfram/ Hoffmann, Hubert (2002). Mythen in der Schulleistungs- und Jugendforschung: Möglichkeiten und Grenzen populations‐ orientierter Untersuchungen. In: Merkens, Hans/ Zinnecker, Jürgen (Hrsg.). Jahrbuch Jugendforschung 2/ 2002. Opladen: Leske & Budrich, 127-144. Petersen, Inger/ Domenech, Madeleine/ Reble, Raja (2021). Argumentationskompetenz und argumentative Sprachhandlungen in den gesellschaftswissenschaftlichen Fä‐ chern. Sprachdidaktische und fachdidaktische Perspektiven. In: Schicker, Ste‐ phan/ Schmölzer-Eibinger, Sabine (Hrsg.). ar|gu|men|tie|ren. Weinheim: Beltz, 134- 149. Philipp, Maik (2018). Lesekompetenz bei multiplen Texten: Grundlagen, Prozesse, Didak‐ tik. Tübingen: Narr Francke Attempto. Performative Inklusionsdidaktik 153 <?page no="154"?> Philipp, Maik (2020). Multiple Dokumente verstehen. Theoretische und empirische Perspektiven auf Prozesse und Produkte des Lesens mehrerer Dokumente. Weinheim: Beltz Juventa. Prabhu, N. S. (1987). Second Language Pedagogy. Oxford: Oxford University Press. Pracht, Henrike (2010). Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch als Schemabil‐ dungsprozess. Bedingungsfaktoren der Schemaetablierung und -verwendung auf der Grundlage der „usage-based theory“. Münster: Waxmann. Pürgstaller, Esther (2020). Kulturelle Bildung im Tanz. Grundlagen und Befunde zur Wirkung eines kreativen Tanzangebots auf die Kreativitätsentwicklung. Wiesbaden: Springer. Reich, Kersten (2014). Inklusive Didaktik. Bausteine einer inklusiven Schule. Wein‐ heim/ Basel: Beltz. Rezat, Sara (2021). Zur makrostrukturellen Prägung argumentativer Textprozeduren. In: Schicker, Stephan/ Schmölzer-Eibinger, Sabine (Hrsg.). ar|gu|men|tie|ren. Weinheim: Beltz, 28-47. Rösch, Heidi (2007). Interkulturelle Literatur lesen - Literatur interkulturell lesen. In: Fäcke, Christiane/ Wangerin, Wolfgang (Hrsg.). Neue Wege zu und mit literarischen Texten. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 51-62. Sambanis, Michaela/ Walter, Maik (2019). In Motion. Theaterimpulse zum Sprachenler‐ nen. Von neuesten Befunden der Neurowissenschaft zu konkreten Unterrichtsimpul‐ sen. Berlin: Cornelsen. Schewe, Manfred (2008). Drama und Theater in der Fremd- und Zweitsprachenlehre - Blicke zurück und nach vorn. In: Wildt, Beatrix/ Hentschel, Ingrid/ Wildt, Johannes (Hrsg.). Theater in der Lehre. Verfahren, Konzepte, Vorschläge. Wien/ Zürich/ Berlin: LIT, 127-137. Schicker, Stephan/ Schmölzer-Eibinger, Sabine/ Niederdorfer, Lisa (2021). Zuerst münd‐ lich, dann schriftlich? Theoretische Verortung und empirische Evidenzen zur schuli‐ schen Förderung schriftlicher Argumentationsfähigkeiten durch vorgelagertes münd‐ liches Argumentieren - ein Blick auf den internationalen Forschungsdiskurs. In: Schicker, Stephan/ Schmölzer-Eibinger, Sabine (Hrsg.). ar|gu|men|tie|ren. Weinheim: Beltz, 12-27 Schindler, Kirsten (2023). „Manche wissen es ja auch, hört man“: Die Rolle wissenschaftli‐ cher Zugänge und kreativer Methoden für die Reflexion des eigenen Schreibhandelns. In: Ammann, Daniel/ Altorfer, Erik/ Bürki, Gisela/ Rickert, Alex (Hrsg.). Wissenschaft‐ lich erzählen - literarisch überzeugen. Kreativ schreiben in der Hochschule. Braun‐ schweig: Westermann, 66-86. Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (2017). TextBewegung. Sprach- und Bewegungs‐ aufgaben entwickeln, erproben und evaluieren. Frankfurt am Main: Peter Lang. 154 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="155"?> Schröder, Thomas (2003). Die Handlungsstruktur von Texten. Ein integrativer Beitrag zur Texttheorie. Tübingen: Narr. Schuck, Karl Dieter (2014). Individualisierung und Standardisierung in der inklusiven Schule - ein unauflösbarer Widerspruch? DDS - Die Deutsche Schule 106 (2), 162-174. Schwarz-Friesel, Monika (2013). Sprache und Emotion. 2. Aufl. Tübingen/ Basel: Narr Francke Attempto. Siegmund, Benjamin (2022). Sprachbildung im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Eine Interventionsstudie zur Wirksamkeit fachintegrierter Sprachbildung nach dem Scaffolding-Ansatz und mit Focus-on-Form-Strategien (=-SLLD(B) - Sprachlich-Lite‐ rarisches Lernen und Deutschdidaktik (Bände), Bd. 8). Bochum: Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum. Spiel, Christiane (2003). Über das Erkennen von Kreativität. In: Berka, Walter/ Brix, Emil/ Smekal, Christian (Hrsg.). Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst. Wien/ Köln: Böhlau, 117-147. Spinner, Kaspar H. (2008). Kreativer Deutschunterricht. Identität - Imagination - Kogni‐ tion. Seelze: Kallmeyer/ Klett. Steinseifer, Martin/ Feilke, Helmuth (2013). Argumentationswortschätze. Literalität, Textroutine und Wortschatzkompetenzen. Vortrags-Ms. Deutscher Germanistentag Kiel am 24.09.2013. Terfloth, Karin/ Bauersfeld, Sören (2019). Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten. Didaktik für Förder- und Regelschulen. 3. Aufl. München: Ernst Reinhardt. Tomasello, Michael (2003). Constructing a Language: A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Cambridge: Harvard University Press. Tomasello, Michael (2006). Konstruktionsgrammatik und früher Erstspracherwerb. In: Fischer, Kerstin/ Stefanowitsch, Anatol (Hrsg.). Konstruktionsgrammatik. Von der Anwendung zur Theorie. Tübingen: Stauffenburg. Tschacher, Wolfgang (2022). Embodiment und Enaktion: Ein neuer Ansatz in den empirischen Humanwissenschaften. In: Ivancic, Barbara/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Embodied Translating - Mit dem Körper übersetzen. Special Issue InTRAlinea. Abrufbar unter: https: / / www.intralinea.org/ specials/ article/ 2606 (Stand 09.01.2025). Tschacher, Wolfgang/ Bergomi, Claudia (Hrsg.) (2011). The implications of embodiment: Cognition and communication. Exeter: Imprint Academic. Urban, Mareike/ Leidig, Tatjana (2017). Die duale Unterrichtsplanung am Beispiel der sozialen und emotionalen Entwicklungsförderung - didaktische Gestaltungsmöglich‐ keiten für den inklusiven Unterricht. Potsdamer Zentrum für empirische Inklusions‐ forschung (ZEIF) 5, 1-12. Vogel, Sophie C. (2023). Einsatz und Evaluation dramapädagogischer, fachsensibler Sprachförderung in schulischer Theater-AG für Grundschulkinder mit DaZ Eine longitudinale Interventionsstudie. Dissertation, Universität Tübingen. Performative Inklusionsdidaktik 155 <?page no="156"?> Vogt, Rüdiger (2002). Im Deutschunterricht diskutieren. Zur Linguistik und Didaktik einer kommunikativen Praktik. Tübingen: Niemeyer. Vogt, Rüdiger (2007). Mündliche Argumentationskompetenz beurteilen. Dimensionen, Probleme, Perspektiven. Didaktik Deutsch 12 (23), 33-54. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva (2022). Grammatikförde‐ rung mit den Litkey-Bilderbüchern. Das Handbuch für Kita und Grundschule. Biele‐ feld: wbv. Zepter, Alexandra L. (2013). Sprache und Körper. Vom Gewinn der Sinnlichkeit für Sprachdidaktik und Sprachtheorie. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Zepter, Alexandra L. (2015). Sprachlernmotivation aus inklusiver Perspektive. In: Micha‐ lak, Magda/ Rybarczyk, Renata (Hrsg.). Wenn Schüler mit besonderen Lernbedürfnis‐ sen Fremdsprachen lernen. Weinheim: Beltz Pädagogik, 14-41. Zepter, Alexandra L. (2022). Sprachliches Lernen durch Bewegung. In: Bryant, Do‐ reen/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.), 303-320. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33 . Ziemen, Kerstin (2018). Didaktik und Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zwaan, Rolf/ Madden, CJ Carol (2005). Embodied sentence comprehension. In: Pecher, Diane/ Zwaan, Rolf (Hrsg.). Grounding cognition: The role of perception and action in memory, language and thinking. Cambridge: Cambridge University Press, 224-245. 156 Doreen Bryant & Alexandra L. Zepter <?page no="157"?> Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung: Ein kreativer Zugang Benjamin Siegmund Abstract: Ästhetische Gegenstände haben großes Potenzial für sprach‐ liche Bildung: Nicht nur können Kunst, Musik, Literatur, Film etc. die Motivation im Sprachunterricht steigern. Vielmehr kann ästhetisches Lernen selbst vielfache Lernprozesse anstoßen, darunter gerade auch sprachliche. Wenn Lernende sich nicht nur rezeptiv, sondern auch pro‐ duktiv, performativ, kreativ und reflexiv mit ästhetischen Gegenständen auseinandersetzen, entstehen wertvolle Bildungsgelegenheiten (vgl. z.B. Spinner 2008). Im Deutschunterricht stehen vor allem sprachlich-ästhe‐ tische Gegenstände im Fokus, also literarische Texte unterschiedlicher Gattungen. Wie jedoch können Lehrkräfte lernen, einen ästhetischen Zugang zu Literatur sprachbildend zu gestalten? Ich gehe davon aus, dass angehende Lehrkräfte dafür zunächst die Chance erhalten sollten, das Potenzial ästhetisch-sprachlichen Lernens selbst zu erleben - und zwar aktiv und passend zu den eigenen kognitiven, fachlichen und sprachlichen Kompetenzen. Dieser Beitrag stellt auf Basis grundlegender Überlegungen über ästhetisch-sprachliche Bildung und ästhetisches Lernen im Studium eine mehrfach erprobte und optimierte Seminarsitzung vor, in der Stu‐ dierende der Kurzgeschichte „Mehmet“ von Rafik Schami (1997) kreativ begegnen. 1 Kulturreflexive ästhetisch-sprachliche Bildung Aus der Perspektive der DaZ-/ DaF-Didaktik und in Einklang mit deutschdi‐ daktischen Überlegungen (vgl. Abraham 2018) kann ästhetisches Lernen als kulturbezogenes Lernen begriffen werden (vgl. Altmayer 2021; Siegmund 2024). Ästhetisch-kulturelle Bildung soll „der Bewahrung und Vermittlung sprachli‐ cher und medialer Kulturtechniken und Ausdrucksformen“ (Abraham 2018: 23) dienen und zugleich „Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben <?page no="158"?> […] ermöglichen“ (ebd.: 27). Im Sinne eines kritisch reflektierten, von der post‐ kolonialen Theoriebildung beeinflussten, weiten Kulturbegriffs wird ‚Kultur‘ dezidiert nicht im Sinne einer ‚Leitkultur‘ oder eines Kanons ‚hochkultureller‘ Werke verstanden (vgl. z.B. Osterloh und Westerholt 2019). Vielmehr ist ‚Kultur‘ nicht normativ, nicht exklusiv und nicht homogenisierend gemeint. Kulturbezo‐ genes bzw. kulturreflexives Lernen (vgl. Schweiger et al. 2015) zielt darauf ab, die diskursive Konstruiertheit von Wirklichkeitsordnungen offenzulegen (Eckardt 2017; Zabel 2021), um Lernende dabei zu unterstützen, Diskursfähigkeit auf- und auszubauen. Hamann et al. (2016) definieren Diskursfähigkeit als eine sprach‐ lich-kulturelle Kompetenz, die Sprachlernende in die Lage versetzt, Praktiken der Bedeutungsproduktion zu durchschauen, Bedeutungskonstruktionen im Diskurs erweitern und hinterfragen zu können sowie Diskurspluralität anzu‐ erkennen und auszuhalten (ebd.: 10). Entsprechend werden auch literarische Texte und ästhetische Gegenstände ausgewählt: So stehen zum Beispiel in der Migrationsgesellschaft Prozesse der Identitätsbildung wie die Konstruktion von In- und Outgroups (‚Wir‘ vs. ‚Die‘) oder die Darstellung des ‚Fremden‘ in Literatur, Musik und Kunst im Fokus (vgl. Hille und Schiedermair 2021). Beim kulturreflexiven Lernen geht es damit auch „um die Thematisierung von Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen und um Formen sprachlicher Selbstermächtigung“ (Schweiger 2021: 370). Für die Bearbeitung solch komplexer, alle Lernenden betreffender Themen scheint gerade Literatur geeignet zu sein: Ästhetische Bildung setzt darauf, selbstbestimmte Prozesse der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen bzw. anzustoßen (vgl. Reinwand-Weiss 2018). Literatur erlaubt durch ihr identifikatorisches Potenzial eine Art ‚stellvertretendes‘ Erleben oder auch ‚Ausprobieren‘ von Handlungen und Erfahrungen. Zugleich findet dies im geschützten, weil fiktiven Raum statt (Spinner 2008: 15). Im Zentrum ästhetisch-kulturreflexiver Bildungsprozesse steht das Selbst in seiner Wechsel‐ wirkung mit der Umwelt: Identitätsbildung, Selbsterkenntnis, Selbsterfahrung und Selbstermächtigung vor dem Hintergrund auch leidvoller Erfahrungen mit dieser Umwelt, eingebettet in kulturelle Muster und (re-)produziert durch kulturelle Praxen. Dezidiert werden dabei auch Emotionen und Leiblichkeit eingebunden und als wichtige „menschliche Erkenntniswerkzeuge“ (Reinwand- Weiss 2018: 34) in die Prozesse der Weltbegegnung, des Lernens und der Identitätsbildung einbezogen. Das - objektiv nur schwer evaluierbare - Lern‐ ziel ist, dass Schüler: innen (bzw. Studierende) so lernen, Erfahrungen „mit subjektiven Sinneswahrnehmungen zu verknüpfen, daraus einen persönlichen Sinn abzuleiten und sich entsprechend auszudrücken bzw. zu handeln“ (Probst 2008: 32). Zwar sind ästhetische Erfahrungen und Lernprozesse nicht primär 158 Benjamin Siegmund <?page no="159"?> sprachlich und entziehen sich sogar zum Teil dem sprachlich-kognitiven Zugriff. Spinner (2008) formuliert in zwölf Thesen, dass Schüler: innen trotzdem gerade hier und insbesondere im Medium der Literatur einiges lernen, das ihnen zum Beispiel ein (natur-)wissenschaftlicher Weltzugang nicht ermöglicht. Neben emotionalem Lernen (vgl. z.B. Frickel und Zepter 2023) und dem Ausbau der eigenen Sinneswahrnehmungen (vgl. z.B. Preis 2017) liegt das Potenzial ästhe‐ tischen Lernens beispielsweise auch darin, eine Offenheit für (kulturelle) Vielfalt zu unterstützen (vgl. Spinner 2008: 16). Die Begegnung mit literarischer Sprache erlaubt es, der genauen Bedeutung, den Kollokationen und dem Klang von Wörtern und Phrasen nachzuspüren, Ambiguitäten auszuhalten und darüber zu sprechen und so die Uneindeutigkeit des Lern- und Diskurswerkzeugs Sprache zu erleben und seine Macht kennenzulernen. Ich gehe mit Spinner (2008: 17) davon aus, dass insbesondere produktive, kreative und performative Formen ästhetischen Lernens Reflexionsprozesse anstoßen können und so die Chance bieten, Diskursfähigkeit aufzubauen, Formulierungen oder Entgegnungen aus‐ zuprobieren und ‚eine eigene Stimme‘ zu finden. 2 Ästhetisches Lernen in der Lehrkräfteausbildung Wie jedoch können Lehrkräfte lernen, solche ästhetisch-sprachlichen Bildungs‐ gelegenheiten zu gestalten? Professionelle Kompetenz von angehenden und berufstätigen Lehrkräften besteht bildungswissenschaftlichen Modellen folgend sowohl aus fachlichem, fachdidaktischem und pädagogischem Wissen als auch aus affektiven und motivationalen Aspekten wie Überzeugungen und Einstel‐ lungen (vgl. z.B. Baumert und Kunter 2011). Gerade hinsichtlich der affektivmotivationalen Ebene könnte es sich lohnen, Inhalte in der Lehrkräfteausbil‐ dung nicht nur theoretisch aufzubereiten, sondern auch im Studium ästhetische Bildungsprozesse anzustoßen (vgl. Caruso et al. 2020). Schindler und Zepter (2017: 22) halten es sogar generell für sinnvoll, Studierenden im Rahmen ihrer Ausbildung durch den Zugang zu einer ästhetischen Praxis auch konkrete Räume für die Erweiterung ihrer eigenen Kreativität, Sprech-, Kommunikations- und Darstellungskompetenzen zu schaffen, da sie diese Kompetenzen als Lehrkräfte benötigen. Für die Gestaltung ästheti‐ scher Lerngelegenheiten werden in anderen Kontexten oft eigene ästhetische Vorerfahrungen der Lehrkräfte vorausgesetzt: So sollen z.B. Theaterlehrende „über ein differenzierteres und über ein ‚erfahrungsbasierteres‘ Wissen als Theaterspielende verfügen“ (Klimant 2022: 517). Könnte es nicht ebenso ge‐ winnbringend sein, angehenden Deutschbzw. Sprachlehrkräften den Aufbau Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 159 <?page no="160"?> erfahrungsbasierten Wissens über ästhetische Zugänge zu Literatur zu ermög‐ lichen? Können eigene ästhetische Erfahrungen einen positiven Einfluss auf die Bereitschaft von angehenden Lehrkräften haben, selbst solche Lernzugänge zu gestalten? Caruso et al. (2020) sehen die Chancen ästhetischen Lernens in der Lehrer: innenausbildung vor allem in Bezug auf Motivation, stellen jedoch auch einen Mangel an empirischer Forschung zu Ansätzen ästhetischen Lernens in der Lehramtsausbildung fest (ebd.: 25). Dieser Beitrag stellt eine dreifach erprobte und jeweils weiterentwickelte Seminarsitzung vor, in der Studierende dem Text „Mehmet“ von Rafik Schami (1997) zunächst ästhetisch-kreativ begegnen. Die Studierenden spüren in dieser Sitzung wertschätzend (vgl. Abraham 2018: 36) ihren eigenen und alternativen Weltzugängen nach (vgl. Spinner 2008: 15) und diskutieren Diskurspluralität im Sinne verschiedener, auch identifikatorischer Zugänge zur Welt. Im Schutzraum der Fiktion erproben und vergleichen sie Handlungsalternativen im Umgang mit Rassismuserfahrungen (vgl. Schweiger 2021: 370) - sowohl für Betroffene von Rassismus als auch für mehr oder minder beteiligte Dritte. In Anlehnung an Klimants theaterdidaktische Überlegungen zur Verknüpfung außerästhetischer Bildungsziele mit ästhetischer Bildung wird in der Sitzung darüber hinaus der ästhetische Zugang „mit einer kritischen Perspektivierung kultureller Pra‐ xen“ (Klimant 2022: 520) verbunden. Die Studierenden sollen so ihre eigene (fach-)wissenschaftliche Diskursfähigkeit (Hamann et al. 2016: 10) ausbauen. Zur Illustration des Sitzungsverlaufs werden Daten aus der zweiten und dritten Erprobung der vorgestellten Sitzung präsentiert und diskutiert. In diesen Daten finden sich auch Hinweise darauf, inwiefern die Studierenden in den Erpro‐ bungen die ästhetischen, sprachlichen und kulturreflexiven Lerngelegenheiten nutzen können und wie sie das Erlebte reflektieren. 3 „Mehmet“ von Rafik Schami: Eine ästhetisch-sprachbildende Sequenz für Studierende 3.1 Der Text „Mehmet“ ist eine bekannte Kurzgeschichte von Rafik Schami (1997), die bereits vielfach Einzug in den Deutschunterricht der Sekundarstufe I gefunden hat. Ein deutsches Ehepaar mittleren Alters (Heinz und seine Frau) veranstaltet einen geselligen Abend, um Fotos des Familienurlaubs in der Türkei zu zeigen. Der langweiligen Diashow stehen ‚spannende‘ Erzählungen über die „einfachen, gastfreundlichen Menschen“ (ebd.: 76) in der Türkei gegenüber. Der Abend nimmt jedoch eine Wendung, als die eigentlich entschuldigte Tochter Ramona mit ihrem türkischen Freund Mehmet überraschend dazustößt, der in deutscher 160 Benjamin Siegmund <?page no="161"?> 1 Zum Begriff der Veranderung bzw. des Othering siehe z.B. Reuter (2002). Interlanguage berichtet, dass sein Chef ihn nicht früher gehen lassen wollte. Schnell kommt Heinz’ Rassismus zum Vorschein, der sich hinter der angeblich weltoffenen Fassade der Urlaubserzählungen versteckte. Die Gäste verlassen das Haus fluchtartig und Heinz’ Wut über die Beziehung seiner Tochter zu Mehmet und über den überraschenden Besuch der beiden ist kaum noch zu überhören, als Ramona Mehmet zur Tür zieht und ihn bittet zu gehen. In diesen Moment mischt sich der Erzähler kommentierend ein und bietet den Leser: innen zwei Schlussvarianten an (1): (1) Auszug aus Rafik Schami: „Mehmet“ (1997: 77f.): -Nun könnte man diese Begebenheit unseres langweiligen Alltags mit einem traurigen Ende erwürgen, dann würde diese erbärmliche Geschichte so enden: Mehmet starrte wie betäubt die geschlossene Tür an. Obwohl es draußen warm war, durchlief ihn eine eisige Kälte, er zitterte am ganzen Körper. Anatolien war plötzlich ganz nah. In seinem Dorf hatten die Leute noch nie einen Gast vor die Tür gesetzt. Oder, um dem Leser endlich meine Version zu erzählen: Mehmet geht hinaus, pinkelt durch den Briefkastenschlitz von Heinz’ Haustür, atmet erleichtert auf und beschließt für sein Leben, nie eine Frau zur Freundin zu nehmen, die sich seiner schämt und mit ihm am ersten Abend Dias anschauen will. Sowohl Heinz’ Rassismus als auch Mehmets Erfahrung, von seiner Freun‐ din vor die Türe gesetzt zu werden, seien - erschreckenderweise - Teil unseres Alltags. Interessant für den Deutschbzw. DaF-/ DaZ-Unterricht ist diese Kurzgeschichte jedoch vor allem durch den doppelten Schluss. Der Erzähler stellt zwei verschiedene Möglichkeiten zur Wahl, mit alltäglichen Rassismus-Erfahrungen umzugehen. In der ersten Version wird das während Heinz’ Diashow bereits aufgerufene, kolonialistisch-rassistische, orientalisti‐ sche Narrativ über die „einfachen, gastfreundlichen Menschen“ (Schami 1997: 76) im ‚Orient‘ (speziell in der Türkei, vgl. z.B. Küçük 2008: 188) aufgegrif‐ fen. Dadurch wird zwar Heinz’ Rassismus entlarvt, Mehmet bleibt jedoch ausschließlich passives Opfer einer ausgrenzenden rassistischen Handlung und ein rassistisches, ‚veranderndes‘ Narrativ 1 wird erneut erzählt. Ganz anders verhält es sich mit der „Selbstbehauptungsfantasie[]“ (Reichelt 2004: 229) in der zweiten Schlussversion: Mehmet macht seinem Frust durch eine Sachbeschädigung Luft, wird also selbst aktiv, wehrt sich und überlegt sich einen Selbstschutzmechanismus für die Zukunft. Der Wechsel der Erzählzeit vom narrativen Präteritum ins Präsens unterstützt auf sprachlich-formaler Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 161 <?page no="162"?> 2 Auch Schüler: innen der neunten Klasse am Gymnasium können das Schreiben eines alternativen Schlusses zu diesem Text und eine wertschätzende Diskussion über ver‐ schiedene Weltzugänge sowie über Handlungsalternativen im Umgang mit Rassismus bereits gut gelingen. Diese Einschätzung beruht auf meiner eigenen Erfahrung als Deutschlehrer: Ich habe eine Doppelstunde zu „Mehmet“ von Rafik Schami (mit dem Schreiben eines alternativen Schlusses und einer Diskussion über Handlungsalterna‐ tiven im Umgang mit Rassismus-Erfahrungen) in einer neunten Gymnasialklasse gehalten. Schüler: innendaten oder Transkripte aus diesem Unterricht liegen allerdings nicht vor. Ebene den Bruch mit dem rassistisch konnotierten, passiven Opfernarrativ. In der Gegenüberstellung der beiden alternativen Schlüsse eröffnet der Erzähler einen Diskussionsraum über den Umgang mit Rassismus-Erfahrungen. Der Text „Mehmet“ bleibt trotz seines Alters auch heute vor allem deshalb span‐ nend, weil er in dem Angebot zweier Schlussversionen die Mechanismen der Bedeutungsproduktion und -konstruktion im Diskurs offenlegt und sie dadurch hinterfragbar macht. Damit kann der Text „zu einer Perspektiven‐ erweiterung in einem polyphonen Umfeld beitragen, das die Vorgabe einer dominanten Stimme nicht mehr anerkennt“ (Maeding 2011: 19). 3.2 Ein kreativer Zugang zu „Mehmet“ im Master DaZ/ DaF Studierende des Masters DaZ/ DaF an der PH Freiburg sind eine heterogene Gruppe: Studierende mit deutscher Bildungsbiografie, die Deutsch als Erstspra‐ che sprechen, lernen gemeinsam mit Studierenden, die Deutsch als zweite, dritte, vierte Sprache in ganz unterschiedlichen Konstellationen erworben haben und sich i.d.R. mindestens auf C1-Niveau befinden. Die hier vorgestellte Sitzung wurde bereits dreimal mit Studierenden im Master DaZ/ DaF erprobt und jeweils weiterentwickelt und optimiert. Die unten zur Illustration aufgeführten, anonymisierten Textbeispiele, O-Töne und Transkriptauszüge stammen aus der zweiten bzw. der dritten Erprobung. 2 Der didaktisch inszenierte Zugang zu Rafik Schamis Kurzgeschichte „Meh‐ met“ passt sich flüssig in die Bruchstelle des Texts ein, als wäre er bereits im Text angelegt: Den Lernenden (hier Studierenden) wird zunächst eine Version der Erzählung vorgelegt, in der der zweite, alternative Schluss fehlt; der Text endet mit dem Halbsatz: „Oder, um dem Leser endlich meine Version zu erzählen“. Die Lernenden werden aufgefordert, diese alternative Version selbst zu schreiben und so einen eigenen, kreativen und produktiven Zugang zum Text zu suchen. Im Verlauf einer 90-minütigen Sitzung kommen sie ins Gespräch über ihre Ideen und Zugänge und vergleichen ihre Versionen auch mit dem originalen Alternativschluss. Im Sinne eines Scaffoldings erhalten sie Unterstützung in 162 Benjamin Siegmund <?page no="163"?> 3 Zum lauten Lesen im Literaturunterricht vgl. z.B. Lösener (2018). 4 Es kann sinnvoll sein, hier eine Angabe zur Länge des Schlusses (z.B.: ca. 3-10 Sätze) oder eine Zeitangabe (z.B. max. 5-10 min) zu machen, damit sich die Studierenden nicht in dieser Aufgabe verlieren. Form von Wortschatzhilfen und Definitionen bzw. Formulierungsvorschlägen sowie mündliches Mikroscaffolding durch die Lehrkraft in der Interaktion (vgl. Kniffka 2010). Um den Ausbau einer fachwissenschaftlichen Diskursfähig‐ keit zu unterstützen, überlegen die Studierenden dann zu zweit, welche der gehörten Schlussversionen ihnen am besten gefallen hat, und begründen ihre Wahl mit einem kurzen schriftlichen Texturteil. Schließlich reflektieren die Studierenden über das Erlebte und denken darüber nach, inwiefern ähnliche didaktische Zugänge zu ästhetischen Gegenständen (z.B. zu dieser oder anderen Kurzgeschichten) im Deutsch-/ DaZ-/ DaF-Unterricht in Abhängigkeit von den Zielgruppen sinnvoll eingesetzt werden könnten. 3.3 Sitzungsverlauf Zum Einstieg in die Sitzung lesen die Studierenden gemeinsam und abwechselnd laut 3 Rafik Schamis Text, zunächst ohne den zweiten Schluss. Nach dem Lesen werden gemeinsam sprachliche Schwierigkeiten geklärt - meist sind das zunächst vor allem unbekannte Wörter (z.B. Diaprojektor, erbärmlich, erwürgen, verdutzt etc.). Die internationalen Studierenden sind es zwar gewohnt, digitale Übersetzungstools, Wörterbücher etc. nutzen zu dürfen, und tun dies auch rege. Dennoch ist es hilfreich, wenn die Studierenden sich untereinander auf Deutsch sowie in anderen gemeinsamen Sprachen (Englisch, Spanisch, Arabisch) solche Wörter erklären. Anschließend erhalten die Studierenden den Auftrag, selbst einen alternativen Schluss zu schreiben. 4 Da die Studierenden diese Aufgabe sehr unterschiedlich schnell bearbeiten, schließt an das Schreiben eine nach Bearbeitungsgeschwindigkeit differenzierende Tandemarbeit an, in der sich die Studierenden ihre Versionen vorlesen und diskutieren, welcher Schluss ihnen besser gefällt und weshalb. Für die schnelleren Studierenden bleibt ggf. noch Zeit, den eigenen Schluss zu überarbeiten und zu optimieren, die langsameren Schreiber: innen stoßen spätestens im Plenum wieder dazu. Hier lesen nun einige Studierende ihre Versionen vor. Die anderen geben Rückmeldung und es findet ein offenes und wertschätzendes Gespräch über die jeweiligen Versionen statt. Die Lehrkraft moderiert vor allem, reformuliert/ modelliert aber auch im Sinne eines Scaffoldings die Äußerungen von Studierenden, bietet Fachbegriffe an und stellt ergänzende Fragen. Die Offenheit dieser Arbeitsphase ist besonders wichtig, um den Studierenden Gelegenheit zu geben, ins Gespräch zu kommen Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 163 <?page no="164"?> 5 Diese und alle folgenden schriftlichen wie mündlichen Sprachdaten von Studierenden wurden zur Verbesserung der Lesbarkeit und zu Zwecken der Anonymisierung ortho‐ grafisch und stellenweise auch grammatisch bereinigt. und zu entdecken, wie unterschiedlich ihre Zugänge zum Text (und zur Welt) sind. So unterscheiden sich die verschiedenen Schlussversionen bereits darin, wel‐ che Figur in den Mittelpunkt gestellt wird: Während die einen in ihrem Schluss ‚mitfühlen‘, wie es Mehmet nun vor der Tür geht (4), ziehen die anderen mit Ramona in den Streit mit ihrem Vater und erproben so, wie sie in einer ähnlichen Situation reagieren könnten (2). Im reflektierenden Gespräch kann sich zeigen, dass sich manche Leser: innen von Beginn an eher mit Ramona und manche eher mit Mehmet identifizieren, z.B. aufgrund geteilter bzw. ähnlicher Erfahrungen oder Lebenswelten. Allein die Diskussion darüber kann bereits eine Reflexion der eigenen Weltwahrnehmung und einen Perspektivwechsel anstoßen. Die Frage nach der Identifikation kann dann erweitert werden um ein gemeinsames Nachdenken über soziale Identität: Wem fühle ich mich zugehörig? Wen ordne ich intuitiv der eigenen Ingroup (‚Wir‘) zu, wen einer Outgroup (‚Ihr‘/ ‚Sie‘)? Aber auch: An welchen Merkmalen (Name und Lerner: innenvarietät) machen Heinz und seine Frau fest, wen sie zu ihrer Ingroup zählen und wen nicht? Wie (oft) erleben Menschen mit bestimmten Namen oder mit Akzent solche rassistischen Zuschreibungen und Handlungen? (2) Alternativer Schluss eines: einer Student: in im MA DaZ/ DaF, deutsche Bildungs‐ biografie 5 , 2. Erprobung: -„Bitte geh jetzt, bitte geh! “ Mehmet öffnete mit verwirrtem Gesichtsausdruck die Haustür und ging nach draußen. Heinz schimpfte weiter in der Küche. Ramona öffnete nervös und angespannt die Küchentür. Ihr Vater hatte einen hochroten Kopf und schimpfte: „Wie konntest du uns so überraschen vor unseren Gästen? “ „Ich dachte, ihr freut euch, wenn ich doch komme. Ihr wart doch so traurig, als ich gesagt habe, dass ich die Diashow verpassen werde“, antwortete Ramona. Ihr Vater schien immer wütender zu werden. „Ja, aber du hast nie erwähnt, dass du ihn mitbringen möchtest“, polterte er. Ihn. Nicht mal seinen Namen wollte er nennen. Er war in die Türkei gereist und hatte dort die Gastfreundschaft genossen. Doch hier wollte er keinen türkischen Gast empfangen. „Wo ist da das Problem, Papa? “, fragte Ramona mit der Absicht zu verstehen, was vor sich ging. Dabei konnte sie es sich schon denken. „Das Problem? Wir waren gar nicht vorbereitet. Was hätte er essen sollen? Wie hätten wir erklären sollen, wer er ist? “ Wer er ist? Er heißt Mehmet und Ramona hatte ihn im Urlaub kennengelernt. Dem Urlaub, dem die Diashow gewidmet war. Auf den Bildern war er nicht zu sehen. Obwohl es Bilder von ihm gab. Diese hatten es jedoch nicht in die Diashow geschafft. „Du hättest sagen können: Das ist Mehmet. Wir haben ihn im Urlaub kennengelernt. Er 164 Benjamin Siegmund <?page no="165"?> ist der Freund meiner Tochter. Wir freuen uns, dass ihr doch noch gekommen seid. Setzt euch doch.“ Das schien Heinz gar nicht zu gefallen. Mit einem „Mit dir kann man gar nicht reden! “ stürmte er aus der Küche. Mittlerweile waren alle Gäste gegangen und Ramonas Mutter saß bedröppelt auf dem Sofa und starrte mit betroffenem Blick an die Wand, an der eins der Urlaubsbilder zu sehen war. In (2) sucht Ramona die Konfrontation mit dem Vater. Heinz’ moralisch verwerf‐ liches Handeln und seine rassistischen Einstellungen werden noch deutlicher. Wie es Mehmet in diesem Moment geht, gerät aus dem Fokus; Ramona versucht vielmehr, die Beziehung zu ihrem Vater aufrechtzuerhalten bzw. Einfluss auf ihn zu nehmen. Letztlich misslingt die Kommunikation, Heinz benennt das sogar selbst. Welche weiteren Handlungsalternativen für Ramona könnte es noch geben? Statt sich argumentativ den Täter: innen einer rassistischen Handlung zuzuwenden, könnte sie ihre Solidarität und Zugehörigkeit mit dem Betroffenen auch so ausdrücken, wie sie es in Version (3) auf Mehmets Frage hin tut: (3) Alternativer Schluss eines: einer Student: in im MA DaZ/ DaF, deutsche Bildungs‐ biografie, 3. Erprobung: -Mehmet war verwirrt. In seinem Dorf hatten die Leute noch nie einen Gast vor die Tür gesetzt. Aber vielleicht fühlten sich Ramonas Eltern nicht wohl. Sie waren vielleicht müde, oder sie hatten vielleicht zu viel gegessen. „Kommst du mit, Ramona? “, sagte Mehmet. Ramona zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck und ergriff Mehmets Hand, die er ihr entgegenstreckte. Sie schloss die Tür hinter sich, und plötzlich klang die Stimme ihres Vaters sehr leise. Anders als (2) und (3) stellt (4) Mehmets Erleben der Situation in den Mittelpunkt und spürt der ohnmächtigen Betroffenheit nach, die Mehmet auch im ersten Schlussvorschlag in Schamis Geschichte spürt: (4) Alternativer Schluss eines: einer Student: in im MA DaZ/ DaF, nicht deutsche Bildungsbiografie, 2. Erprobung: -Mehmet blieb noch eine Weile vor der Tür stehen, bis er das Ganze innerlich bearbeiten konnte. Wenn er in einem besseren Land war, warum wird er immer schlechter behandelt? Als er seine eigenen Fragen nicht beantworten konnte, ging er wieder Richtung Hauptbahnhof. Was machte er hier eigentlich? Im Hauptbahnhof hatte die DB schon wieder Verspätung und Mehmet merkte, dass er noch nichts gegessen hatte. „Warum immer mit mir? “ Mehmet hat dann ein Sandwich gekauft, für mehr hatte er kein Geld. Die Arbeit ist schwer, und trotzdem schlecht bezahlt. „Warum nur mit mir? “ Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 165 <?page no="166"?> Endlich zu Hause. Die Wohnung sah einigermaßen ordentlich aus. Mehmet zieht sich um fürs Bett. Er legt sich hin, denkt an die fantastischen Menschen, die er in Anatolien verlassen hat, und versucht einzuschlafen. Allein. (4) folgt im Grunde dem ersten Schlussvorschlag aus Schamis Kurzgeschichte, arbeitet jedoch noch deutlicher Mehmets soziale Isolation als Ergebnis von Rassismus heraus: In beiden Varianten bleibt Mehmet als Betroffener das ‚betäubte, zitternde‘ Opfer eines rassistisch motivierten Ausschlusses aus der Gemeinschaft; das rassistische Machtverhältnis bleibt hier also bestehen; Meh‐ met ist und bleibt ohnmächtig - tatsächlich also ein ‚trauriges Ende‘, wie auch der Erzähler in Schamis Kurzgeschichte kommentiert. (Wie) aber kann Mehmet dieser Ohnmacht entkommen? Version (5) erzählt von einem aktiven Mehmet, der sich nicht vor die Tür schieben lässt: (5) Alternativer Schluss eines: einer Student: in im MA DaZ/ DaF, deutsche Bildungs‐ biografie, 2. Erprobung: -„Aber warum? Wohin soll ich gehen? Du sagen ich kennenlerne deine Eltern heute. Nix kennen jetzt.“ Während Ramona versuchte, Mehmet langsam Richtung Tür zu schieben, hinderte ihre Mutter Frau Müller daran aufzustehen und drückt ihr vehement den Teller mit Keksen, die sie extra für diesen Abend gebacken hatte, in die Hand. „Die musst du unbedingt probieren, ich habe das Rezept von …“. Im gleichen Moment schepperte es laut und Heinz schrie kurz auf. Er war aufgestanden und wollte in Richtung Tür zu Ramona und Mehmet laufen, dabei stolperte er über das Kabel des Diaprojektors, der polternd zu Boden fiel. Wutentbrannt fluchte er vor sich hin, hielt sein Bein und versuchte schließlich, alles wieder aufzubauen, wobei er hilflos versuchte, das Kabel wieder mit dem Projektor zu verbinden. Während sich die Gäste beschämt anschauten und nochmals betonten nun aber wirklich nach Hause zu müssen, schob Mehmet Ramona zur Seite. „Ich muss helfen Papa“. Mit wenigen geschickten Handgriffen brachte Mehmet den Diaprojektor wieder zum Laufen und es erschien eine Großaufnahme der Mutter, die gerade genüsslich in ein Baklava biss. „Ah Mama essen Baklava! Ich auch lieben Baklava! Früher meine Oma machen immer-…“ Innerhalb weniger Augenblicke zog Mehmet alle Anwesenden in seinen Bann. Trotz einiger Sprachbarrieren, die mit Hilfe von Ramona meist überwunden werden konnten, erzählte Mehmet eine Geschichte nach der anderen aus seiner Kindheit und die Gäste konnten nicht genug bekommen, bis irgendwann alle Kekse gegessen und die Nacht hereingebrochen war. Als alle Gäste gegangen waren, sagte Heinz nachdenklich: „Was für ein netter Kerl! Aber wäre ich nicht über das Kabel gestolpert, hätten wir ihn wohl nie besser kennengelernt.“ - „Das stimmt, wir waren wohl nicht besonders nett …“ entgegnete seine Frau ebenso nachdenklich. Das märchenhafte Happy End dieser Version eines: einer Student: in zieht alle Tricks der Komödie: Nicht nur wird die in Schamis Erzählung sehr zurückhal‐ tende, fast verschwindende (und namenlos als Heinz’ Frau bezeichnete) Mutter 166 Benjamin Siegmund <?page no="167"?> 6 Im Seminar konnten die Studierenden auf einer vorangegangenen Diskussion auf‐ bauen; ggf. kann man das auch in einer eigenen folgenden Sitzung thematisieren, z.B. ausgehend von Dirim (2021). von Ramona aktiv, um die Situation mithilfe von selbst gebackenen Keksen zu retten. Auch Slapstick kommt zum Einsatz sowie ein stoisch freundlicher Mehmet, der vorgibt, die Situation nicht verstanden zu haben, und der zugleich technisches Know-how mitbringt und die ganze Runde (inklusive Nachbar: in‐ nen) mit seiner freundlich-helfenden, offenherzigen und naiv-vertrauensseligen Art für sich gewinnt. Quasi im Alleingang, unterstützt vom glücklichen Zufall (oder ‚Instant-Karma‘ für Heinz? ) und einer völlig verwandelten Mutter, rettet Mehmet die Situation. Dieser harmonische, aber vielleicht unrealistische Schluss kann Anlass sein, kritisch über den Begriff Integration und seine Verwendung im öffentlichen Diskurs (z.B. im Sinne einer vorgestellten ‚Bringschuld‘ der Assimilation durch Migrant: innen) nachzudenken. 6 Nach dem wertschätzenden Austausch über einige (exemplarische) Schluss‐ versionen der Studierenden kommt dann Schamis Erzähler mit ‚seiner‘ origina‐ len Version auch im Seminar zu Wort. Bei allen drei Erprobungen sowie im Unterricht einer neunten Gymnasialklasse war an dieser Stelle bei Studierenden wie bei Schüler: innen da und dort ein überraschtes Lachen zu vernehmen (s. z.B. Tab. 1). Zeit Person Äußerung 55: 34 L Was halten Sie davon? Ich sehe ein Grinsen, ein Lachen auf den Gesichtern, man hat’s auch gehört. Ja, was haben wir hier für ein Ende? Nochmal eine andere Perspektive, eine andere Möglichkeit. Wie finden Sie das? 56: 03 S2 Ich find’s sehr gut, mir hat das gut gefallen, wenn ich das so sagen darf. Ich find, der scheißt einfach so bisschen drauf und gibt zurück, was er bekommen hat. 56: 17 L Ja? Ja, total-… 56: 20 S2 Ohne des so an sich ran zu nehmen, sich da so n bisschen zu lassen 56: 31 S1 Um mal bei den Begriffen Ingroup Outgroup zu bleiben, also Mehmet entscheidet selber: Ich bin hier die Ingroup und ich entscheide selber, wer da in meine Ingroup reinkommt und ich bin nicht drauf angewiesen, irgendwo reingenommen zu werden von Leuten, die ich eigentlich nicht, die nicht zu mir passen. Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 167 <?page no="168"?> 56: 46 L Das ist ja auch, was er dann für später beschließt, ne, für sein Leben, er beschließt ja: Mit bestimmten Typen mach ich jetzt einfach nichts mehr, so. 56: 52 S1 Ja. 56: 56 L Das ist sehr stark, ne? 56: 59 S1 Ja, und auch das Vertrauen, dass er Leute findet, die besser zu ihm passen, das ist ja schon auch Optimismus, wenn er Leute erwähnt, die einfach besser zu ihm passen. 57: 15 L Ja… 57: 16 S1 Ja, so Langweiler mit Diaabend möchte ich eigentlich gar nicht haben, ne? Abgesehen vom Rassismus, aber auch, er findet das auch langweilig, wie die Leute sind. 57: 27 L Also, Optimismus hab ich aufgeschrieben, ja? 57: 30 S2 Ich würde da zustimmen. Er ist hier in der Position, in der er definiert. Also er definiert die Gruppe und hat auch hier die Definitionsmacht. Tab. 1: Auszug aus dem orthografisch normalisierten Transkript der dritten Erprobung: Gespräch über den Originalschluss (L-=-B. Siegmund, S-=-anonymisierte Studierende) Auch wenn sich alle einig sind, dass Mehmet hier (im fiktiven Raum) eine Grenze überschreitet, fühlt man eine gewisse Erleichterung darüber, dass er wie auch in (3) und (5) nicht das passive, einsame Opfer bleibt. Vielmehr nimmt er selbst eine machtvolle Position gegenüber Heinz ein, lädt gleichsam alle schlechten Emotionen, die ihm beschert wurden, durch den Briefkastenschlitz bei Heinz wieder ab und behält mit seinem Beschluss auch die Kontrolle über sein Leben, statt wie betäubt am ganzen Körper zu zittern. Mehmets (eigen-)mächtiges, problematisches Handeln kann nun im Kontext der vielen gehörten Schlussversionen Anlass sein, über aktive, selbstbestimmte und empo‐ wernde Handlungsalternativen mit Rassismus-Erfahrungen nachzudenken oder zu diskutieren. Könnte man z.B. nicht Mehmets Charme und seine (gespielte? ) Naivität in Version (5) auch in einem empowernden Sinn verstehen? In dieser relativ langen, zentralen Phase des Unterrichtsgesprächs sind einige sozial-/ kulturwissenschaftliche Konzepte und Begriffe aufgekommen bzw. im Sinne eines fachsprachlichen Scaffolding gezielt von der Lehrkraft in die Debatte eingebracht worden. Hierzu gehören insbesondere soziale Identität, Rassismus 168 Benjamin Siegmund <?page no="169"?> 7 Weitere Fachbegriffe können - je nach Gruppe, Vorwissen, Zielsetzung - z.B. sein: Integration, Assimilation, Orientalismus, Narrativ, Othering etc. 8 Hierfür kann z.B. auf folgende Texte zurückgegriffen werden (didaktisch motivierte Kürzungen sind z.T. notwendig): Six (2019) zu sozialer Identität, Sow (2021) und Arndt (2021) zu Rassismus, Nguyen (2014) zu Alltagsrassismus, Can (2021) zu Empowerment. und Empowerment. 7 Um den Umgang mit diesen Begriffen im Sinne einer wissenschaftlichen Diskursfähigkeit zu festigen, werden die Studierenden an‐ schließend aufgefordert, in Tandemarbeit zu entscheiden, welcher der gehörten alternativen Schlüsse ihnen am besten gefallen hat. Ihre Entscheidung sollen sie gemeinsam unter Rückgriff auf mindestens eines der oben genannten Konzepte schriftlich begründen. Als fachliche Hilfestellung können pointierte Kurzdefi‐ nitionen ausgegeben werden. 8 Da sich die Studierenden für eine beste Variante entscheiden sollen, bleibt der Umgang mit den studentischen Produkten auch hier wertschätzend. Zugleich bauen die Studierenden in der Begründung des Urteils sprachlich und fachlich ihre argumentative Diskursfähigkeit im Kontext von Rassismus aus: Das Probehandeln, dass der fiktionale Schutzraum des kreativen Zugangs zum Text ermöglicht (vgl. Spinner 2008), wird so auch noch einmal reflektierend und argumentativ bearbeitet, was zu einer Förderung wissenschaftssprachlicher Kompetenzen beitragen soll. Auch ästhetische Erwä‐ gungen dürfen selbstverständlich in die Entscheidung einbezogen werden. Als Textmuster für die Formulierung dient ein vorformuliertes, begründetes Text‐ urteil der Lehrkraft, weshalb ihr die erste Schlussversion aus der Kurzgeschichte nicht gefällt (z.B. in (6)). (6) Unterrichtsmaterial: Textmuster für ein begründetes Texturteil -Mir gefällt die erste Schlussversion von Rafik Schamis Erzählung nicht. Zwar wird Heinz’ rassistische Einstellung in der Gegenüberstellung mit der Gastfreundschaft in Mehmets anatolischem Heimatdorf entlarvt. Dabei wird jedoch das orientalisti‐ sche Stereotyp von den „einfachen, gastfreundlichen Menschen“ (Schami 1997: 76) in der Türkei reproduziert und die Veranderung (Othering) Mehmets durch die rassistischen Handlungen der Familie letztlich in der Erzählung bestätigt. Mehmet selbst bleibt dabei zwar unschuldig, aber vor allem auch das sozial isolierte und ausschließlich passive, handlungsunfähige, zitternde und betäubte Opfer einer ausgrenzenden, rassistischen Handlung. Kein Wunder also, dass der Erzähler von einem ‚traurigen Ende‘ spricht, das die Geschichte genauso ‚erwürge‘ wie jeden Ansatz eines aktiven, empowernden Handelns. Im Plenum werden einige Begründungen angehört (siehe beispielhaft (7) und (8)). Dabei kann die Verwendung der Begriffe im Gespräch noch einmal präzi‐ siert und so gemeinsam am Aufbau angemessener Fachkonzepte gearbeitet Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 169 <?page no="170"?> 9 Der: die Autor: in der hier angesprochenen Version (= S4 im Transkript in Tab. 2) entschied sich, diese nicht zur Veröffentlichung freizugeben. werden: Je nach Bedarf kann exemplarisch eine Begründung ergänzt oder umformuliert werden. (7) Begründetes Texturteil zweier Studierender im MA DaZ/ DaF (deutsche/ nicht deutsche Bildungsbiografie): - Die beste Schlussversion: Die Schlussvariante von [Kommiliton: in] gefiel uns am besten  9 , da Mehmet […] als aktive, selbstbewusste Figur dargestellt wird und nicht als hilfloses Opfer erscheint. Der Fokus liegt auf Empowerment: Mehmet zeigt Eigeninitiative und tritt selbstbewusst auf, was seiner Figur Tiefe und Stärke verleiht. Er selbst versucht, sich und seine Kultur zu verteidigen, ohne das Gefühl zu haben, von Ramona verteidigt werden zu müssen. Hier findet also ein selbstbewusster Widerstand gegen rassistische Denkmuster statt. Die Gestaltung und Ästhetik des Textes sind ebenfalls gut, da die Lernersprache von Mehmet aufgegriffen wird. (8) Begründetes Texturteil zweier Studierender im MA DaZ/ DaF (beide deutsche Bildungsbiografie): -Uns gefällt die Version von Rafik Schami am besten. Mehmet wird hier nicht als passives Opfer rassistischer Handlungen dargestellt. Er nimmt selbstermächtigend, analog zum Konzept des Empowerments, die Dinge selbst in die Hand. In dieser Version ist er nicht ohnmächtig und hilflos, sondern weist die ihm zugeschriebene soziale Identität von sich. Kritisch sehen wir allerdings, dass Ramona und die anderen Familienmitglieder in dieser Version nicht die Möglichkeit erhalten, sich persönlich weiterzuentwickeln. Die Sitzung schließt mit einer Reflexion (Wie haben Sie die Sitzung erlebt? ). Der Transkriptauszug aus der dritten Erprobung in Tabelle 2 zeigt, dass die Studierenden die Sitzung als interessant und motivierend bewerten und vor allem die Wertschätzung der Perspektivenvielfalt positiv hervorheben. Ein: e Student: in berichtet, wie der kreative Zugang zum Text ihm: ihr schließlich half, die eigene, mitfühlende Starre nach der ersten Lektüre zu überwinden und für Mehmet (und damit auch für sich selbst) einen empowernden, aktiven Umgang mit der Rassismus-Erfahrung zu erschreiben (s. Tab. 2; die Version von S4 wird auch in (7) von zwei anderen Studierenden gewürdigt). 170 Benjamin Siegmund <?page no="171"?> Zeit Person Äußerung 1: 28: 58 S2 Da möchte ich zustimmen, mir hat es auch Spaß gemacht, eine kleine Geschichte zu schreiben, da identifiziert man sich gleich mit dem Stoff. 1: 29: 10 S1 Ja, ich fand’s auch sehr interessant, und hat mir vor allem gefallen, dass es so viele unterschiedliche Sichtweisen gab und dass keine richtig war oder falsch oder besser, das fand ich ganz gut. 1: 29: 27 S4 Ja, mir ging’s auch so, ich fand’s sehr spannend, auch die verschiedenen Ende-Möglichkeiten der Geschichte zu hören. Es war auch eine Herausforderung, überhaupt mir ein alternatives Ende vorzustellen, weil anfänglich - alle haben angefangen zu schreiben und ich war dann so, irgendwie, weiß nicht, in einer so komischen Stimmungslage, ich konnte mir gar kein alternatives Ende - was gibt’s da noch zu sagen? So ist das halt. Und es hat lange gedauert, bis ich angefangen habe zu schreiben, also die Herausforderung - sehr interessant, ja, dass man sich, ja gar nichts vorstellen kann, und dann kommt man so ins Handeln. 1: 30: 02 L Das finde ich eigentlich total interessant, was Sie sagen. Sie haben ja dann, also Sie haben Mehmet dann auch selber handeln lassen. 1: 30: 09 S4 Ja. 1: 30: 09 L Und Sie haben selber sich auch so gefühlt, auch erstmal betrof‐ fen. 1: 30: 09 S4 Ja, ich war erstarrt erstmal, aber lange, lange, lange. Und es hat lange gedauert, bis ich aus der Erstarrung herauskam. 1: 30: 15 L Aber Sie sind herausgekommen. 1: 30: 16 S4 Ja. 1: 30: 16 L Und das finde ich grandios. 1: 30: 17 S4 Ja, und das war sehr schön. 1: 30: 17 L Sehr gut. 1: 30: 18 L Toll. 1: 30: 22 L Also, selbst für Sie auch bisschen empowernd, irgendwie? 1: 30: 23 S4 Ja. Ja, ja, tatsächlich, ja. Tab. 2: Auszug aus dem orthografisch normalisierten Transkript der dritten Erprobung: Reflexion über die eigene Erfahrung Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 171 <?page no="172"?> 10 Diese zweite, ungeplante Reflexion in der nachfolgenden Seminarsitzung wurde nicht aufgezeichnet. Gezielt wird dann auch über sprachliche Bildung in der Stunde reflektiert. In den Kursen des MA DaZ/ DaF beginnt die Reflexion über Sprachlernen typischerweise bei internationalen Studierenden, die bereits beim Lesen von Rafik Schamis Kurzgeschichte neue Wörter kennenlernen (z.B. erbärmlich, über‐ belichtet, …). Tabelle 3 zeigt exemplarisch, dass die Studierenden in der dritten Erprobung bei sich selbst vor allem die Präzisierung von (halb)-bekannten Fachbegriffen beobachteten. Zeit Person Äußerung 1: 30: 55 S3 Mit einer solchen Geschichte kann man wichtige Begriffe besser lernen. Zum Beispiel: Wegen der Geschichte habe ich sehr gut gelernt, was genau Rassismus bedeutet. Also auch andere wichtige Wörter kann man durch solche Geschichten einfacher lernen und besser verstehen. Tab. 3: Auszug aus dem orthografisch normalisierten Transkript der dritten Erprobung: Reflexion über sprachliches Lernen in der Sitzung Auf die Nachfrage, ob sie sich vorstellen können, als (angehende) Lehrkräfte selbst einen solchen oder ähnlichen kreativen Zugang zum Sprachenlernen zu wählen, reagieren die Studierenden in einem Nachgespräch in der auf die dritte Erprobung folgenden Seminarsitzung zustimmend, fragen jedoch nach, wie das konkret in Gruppen von Sprachlernenden didaktisch gestaltet werden könnte. 10 Das Interesse ist also geweckt - über theoretische Hintergründe, didaktische Prinzipien und konkrete Praxisbeispiele geben nun nachfolgende Sitzungen Aufschluss; denkbar ist z.B., dass die Studierenden im weiteren Seminarverlauf selbst recherchieren und/ oder ausgewählte Beispiele für ver‐ schiedene Zielgruppen vorstellen (z.B. Bryant und Zepter 2022; Vogel 2024; Siegmund 2024; Hille und Schiedermair 2021; Schindler und Zepter 2017). In einem Literaturdidaktikkurs in der Lehramtsausbildung brauchen die Studie‐ renden vermutlich weiteren sprachdidaktischen Input. Sinnvoll wäre z.B. die Gestaltung einer eigenen Sitzung über zentrale Konzepte der DaZ-Didaktik, z.B. zu Scaffolding (Gibbons 2002; Kniffka 2010) oder zu Strategien der didaktischen Formfokussierung (Siegmund 2022; Bryant und Zepter 2025). Die vorgestellten Daten aus der zweiten und dritten Erprobung illustrieren nicht nur den Sitzungsverlauf. Sie geben auch Hinweise darauf, dass bzw. inwiefern die Studierenden in den Erprobungen selbst die Potenziale eines 172 Benjamin Siegmund <?page no="173"?> ästhetisch-kreativen Zugangs zu Literatur und Sprachbildung erlebt haben. So zeigen die Reflexionsbeiträge in Tabelle 2, dass die Studierenden in der vorgestellten Seminarsitzung wie erhofft einen wertschätzenden Austausch über vielfältige Weltzugänge erlebten (vgl. Abraham 2018: 36; Spinner 2008: 15). Dass die Studierenden von Spaß und Interesse berichten (Tab. 2), verdeut‐ licht das Potenzial des gewählten ästhetisch-kreativen Zugangs in Bezug auf die Motivation von Lernenden (vgl. z.B. Caruso et al. 2020: 25). Die vier ausgewählten Schlussvarianten ((2)-(5)) lassen exemplarisch erkennen, dass sie dabei verschiedene Handlungsalternativen im Umgang mit Rassismus erprobt und Diskurspluralität erlebt haben (vgl. Schweiger 2021: 370). Ein: e Student: in berichtet sogar von einer empowernden Erfahrung (vgl. ebd.) durch das Ins- Handeln-Kommen in der kreativen Schreibaufgabe (s. Tab. 2). Sprachliches Lernen erlebten die Studierenden (bewusst) hinsichtlich des Fachwortschatzes (s. Tab. 3). Hinweise auf eine sprachliche Entwicklung in Richtung einer konzeptionell schriftlichen, präzisen Wissenschaftssprache finden sich darüber hinaus im Vergleich der spontanen mündlichen Äußerungen der Studierenden in der Reaktion auf Schamis zweite Schlussversion im Transkript in Tabelle 1 und dem schriftlichen Texturteil zu dieser Schlussversion durch dieselben Studierenden (8): Deutlich ist in der schriftlichen Begründung eine Verdichtung und Präzisierung der mündlich geäußerten Argumente (s. Tab. 1) zu erkennen. Allerdings benennen die Studierenden dies in der Reflexion über Sprachbildung in der Sitzung nicht - und die Daten können auch nicht belegen, dass hier tatsächlich Sprachlernen stattgefunden hat und z.B. nicht nur die Anwendung bereits vorhandener wissenschaftlicher Schreibkompetenz zu beobachten ist. Insbesondere bezüglich der Frage, wie ästhetisch-kreative Zugänge zu Literatur auch jenseits des Wortschatzes zum Sprachlernen beitragen können und wie solche Zugänge für unterschiedliche Zielgruppen gestaltet werden können, benötigen die Studierenden weiteren Input, z.B. in Form von reflektierten Pra‐ xisbeispielen und Forschungsliteratur (s.o.) oder in der Mitarbeit an Projekten zur ästhetisch-kreativen Sprachbildung (vgl. z.B. Schindler und Zepter 2017; Bryant und Rummel 2015). 4 Fazit Im Sinne einer fachintegrierten Sprachbildung im Hochschulunterricht erleben Studierende auf einem fachlich angemessenen Niveau selbst, wie kreativ-äs‐ thetisches und sprachliches Lernen miteinander verknüpft werden können. Ausgangspunkt ist mit „Mehmet“ von Rafik Schami (1997) eine Kurzgeschichte, die Rassismuserfahrungen und den Umgang damit thematisiert und zugleich of‐ Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 173 <?page no="174"?> fenlegt, wie das ästhetische Erzählen selbst als Mittel der Bedeutungsproduktion im Diskurs dazu beitragen kann, rassistische Machtstrukturen zu reproduzieren oder aber auf empowernde Weise mit diesen Machtstrukturen zu brechen. Ausgehend von einem kreativen Zugang zum Text dekonstruieren die Studie‐ renden Praktiken der Bedeutungsproduktion und erproben im fiktiven Raum Erzähl- und Handlungsvarianten im Umgang mit Rassismus. Dabei bauen sie ihr eigenes konzeptionelles Wissen bzw. ihren Fachwortschatz aus und lernen, Praktiken der Bedeutungskonstruktion zu hinterfragen, sie unter Rückgriff auf Fachkonzepte kritisch zu beurteilen und sie kreativ und argumentativ zu erweitern. Im Sinne der Professionalisierung von angehenden Deutschlehr‐ kräften zielt die Sitzung darauf ab, Studierende durch das eigene, reflektierte Erleben kulturreflexiver, ästhetischer und sprachlicher Bildungsprozesse dazu anzustoßen, auch selbst (später) ähnliche didaktische Methoden und Wege zu wählen und zu gestalten, um ihren Lernenden ebenfalls ästhetisch-sprach‐ liche Bildungsprozesse zu ermöglichen. Um zu beantworten, inwiefern diese eigenen ästhetisch-sprachlichen Lernerfahrungen zur Professionalisierung von Lehrkräften beitragen können, ist weitere Forschung nötig. Literatur Primärliteratur Schami, Rafik (1997). Mehmet. In: Schami, Rafik. Die Sehnsucht fährt schwarz. Geschich‐ ten aus der Fremde. 7. Aufl. München: Carl Hanser, 75-78. Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2018). Kultur können alle Menschen. Zur kulturwissenschaftlichen Fun‐ dierung unterschiedlicher ästhetischer Praxen im Deutschunterricht. In: Mayer, Jo‐ hannes/ Geist, Barbara/ Krapf, Almut (Hrsg.). Varieté der Vielfalt. Ästhetisches Lernen in Sprache, Spiel, Bewegung, Kunst. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 23- 39. Altmayer, Claus (2021). Interkulturalität. In: Altmayer, Claus/ Biebighäuser, Katrin/ Ha‐ berzettl, Stefanie/ Heine, Antja (Hrsg.). Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitspra‐ che: Kontexte - Themen - Methoden. Stuttgart: Metzler, 376-393. Arndt, Susan (2021). Rassismus. In: Arndt, Susan/ Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.). Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deut‐ sche Sprache: Ein kritisches Nachschlagewerk. 4. Aufl. Münster: Unrast, 37-43. Baumert, Jürgen/ Kunter, Mareike (2011). Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: Kunter, Mareike/ Baumert, Jürgen/ Blum, Werner/ Klusmann, Uta/ Krauss, Stefan/ Neu‐ 174 Benjamin Siegmund <?page no="175"?> brand, Michael (Hrsg.). Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster u.a.: Waxmann, 29-53. Bryant, Doreen/ Rummel, Sophie C. (2015). Nachhaltige dramapädagogische Sprachför‐ derung für Grundschulkinder mit DaZ. Scenario: A Journal of Performative Teaching, Learning, Research 9 (2), 7-32. Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (2022). Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr Francke Attempto. Bryant, Doreen/ Zepter, Alexandra L. (2025). Performative Inklusionsdidaktik. Argumen‐ tationskompetenzen auf- und ausbauen. Ein Lehr- und Praxisbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto. Can, Halil (2021). Empowerment - Selbstbemächtigung in People of Color-Räumen. In: Arndt, Susan/ Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.). Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: Ein kritisches Nachschlagewerk. 4. Aufl. Münster: Unrast, 587-590. Caruso, Carina/ Adammek, Christine/ Bonanati, Sabrina/ Wiescholek, Sybille (2020). Mo‐ tivierende Lernzugänge als Ausgangspunkt der Professionalisierung angehender Lehrerinnen und Lehrer: Ein Blick auf kompetenzorientiertes, ästhetisches und biographisches Lernen im Lehramtsstudium. Herausforderung Lehrer*innenbildung - Zeitschrift zur Konzeption, Gestaltung und Diskussion (HLZ) 3 (1), 18-33. Dirim, İnci (2021). Sprache und Integration. In: Altmayer, Claus/ Biebighäuser, Katrin/ Ha‐ berzettl, Stefanie/ Heine, Antja (Hrsg.). Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitspra‐ che: Kontexte - Themen - Methoden. Stuttgart: Metzler, 88-101. Eckardt, Carolin-Christine (2017). Kulturreflexives Lernen und Lehren im Kontext diskriminierender diskursiver Praxis: Ein Fall für die Zweitsprachendidaktik. In: Höller, Michaela/ Haase, Peter (Hrsg.). Kulturelles Lernen im DaF/ DaZ-Unterricht. Paradigmenwechsel in der Landeskunde. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, 63-85. Frickel, Daniela A./ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.) (2023). Textästhetik - Körper - Emotion. Sprachlich-literarisches Lernen mit Emotionen in inklusiven Settings. Weinheim/ Ba‐ sel: Beltz Juventa. Gibbons, Pauline (2002). Scaffolding language, scaffolding learning: Teaching second language learners in the mainstream classroom. Pourtsmouth NH: Heinemann. Hamann, Eva/ Altmayer, Claus/ Magosch, Christine/ Mempel, Caterina/ Vondran, Björn/ Zabel, Rebecca (2016). Mitreden. Diskursive Landeskunde für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen. Hille, Almut/ Schiedermair, Simone (2021). Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung für Studium und Unterricht. Tübingen: Narr Francke Attempto. Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 175 <?page no="176"?> Klimant, Tom (2022). Theaterspiel erleben und lehren. Fachdidaktik für den Theaterun‐ terricht. Bielefeld: transcript. Kniffka, Gabriele (2010). Scaffolding. Abrufbar unter: http: / / www.uni-due.de/ imperia/ m d/ content/ prodaz/ scaffolding.pdf (Stand: 11.02.2025). Küçük, Bülent (2008). Die Türkei und das andere Europa. Phantasmen der Identität im Beitrittsdiskurs. Bielefeld: transcript. Lösener, Hans (Hrsg.) (2018). Lautes Lesen. Leseräume - Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 5. Maeding, Linda (2011). Vertraute Fremde. Erzählen und Alterität bei Rafik Schami. Anuari de Filologia. Literatures Contemporanès (1/ 2011), 11-29. Nguyen, Toan Quoc (2014). „Offensichtlich und zugedeckt“ - Alltagsrassismus in Deutschland. Abrufbar unter: https: / / www.bpb.de/ themen/ rechtsextremismus/ dos sier-rechtsextremismus/ 194569/ offensichtlich-und-zugedeckt-alltagsrassismus-in-de utschland/ (Stand: 11.02.2025). Osterloh, Katrin/ Westerholt, Nele (2019). Kultur. In: Arndt, Susan/ Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.). Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: Ein kritisches Nachschlagewerk. 4. Aufl. Münster: Unrast, 412-416. Preis, Matthias (2017). Die Sinne im Text. Literarische Sinneswahrnehmung im didakti‐ schen Diskurs. München: kopaed. Probst, Andrea (2008). Ästhetische Bildung und Bewegung. Bewegungstheater als me‐ thodisches Mittel im fächerübergreifenden Unterricht. Hamburg: Kovac. Reichelt, Gregor (2004). Probleme interkultureller Kommunikation bei Rafik Schami. In Schenk, Klaus/ Todorow, Almut/ Tvrdík, Milan/ Enzmann, Nikoletta (Hrsg.). Migra‐ tionsliteratur: Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Tübingen: Francke, 221-232. Reinwand-Weiss, Vanessa-Isabelle (2018). Ästhetische Bildung. In: Moraitis, Anasta‐ sia/ Mavruk, Gülsah/ Schäfer, Andrea/ Schmidt, Eva (Hrsg.). Sprachförderung durch kulturelles und ästhetisches Lernen. Sprachbildende Konzepte für die Lehrerausbil‐ dung. Münster/ New York: Waxmann, 29-37. Reuter, Julia (2002). Ordnungen des Anderen: Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript. Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (2017). TextBewegung. Sprach- und Bewegungs‐ aufgaben entwickeln, erproben und evaluieren. Berlin: Peter Lang. Schweiger, Hannes (2021). Konzepte der ›Landeskunde‹ und des kulturellen Lernens. In: Altmayer, Claus/ Biebighäuser, Katrin/ Haberzettl, Stefanie/ Heine, Antja (Hrsg.). Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Kontexte - Themen - Methoden. Stuttgart: Metzler, 358-375. 176 Benjamin Siegmund <?page no="177"?> Schweiger, Hannes/ Hägi, Sara/ Döll, Marion (2015). Landeskundliche und (kultur-)refle‐ xive Konzepte. Impulse für die Praxis. Fremdsprache Deutsch 52, 3-10. Siegmund, Benjamin (2022). Sprachbildung im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Eine Interventionsstudie zur Wirksamkeit fachintegrierter Sprachbildung nach dem Scaffolding-Ansatz und mit Focus-on-Form-Strategien (=-SLLD(B) - Sprachlich-Lite‐ rarisches Lernen und Deutschdidaktik (Bände), Bd. 8). Bochum: Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum. Siegmund, Benjamin (2024). Sprachlich-ästhetisches Lernen. In Kalkavan-Aydin, Zeynep (Hrsg.). DaZ/ DaF Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 2. Aufl. Berlin: Cornelsen, 230-238. Six, Bernd (2019). Identität und Selbst. In: Wirtz, Markus A. (Hrsg.). Dorsch Lexikon der Psychologie. Abrufbar unter: https: / / dorsch.hogrefe.com/ stichwort/ identitaet-und-se lbst (Stand: 11.02.2025). Sow, Noah (2021). Rassismus. In: Arndt, Susan/ Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.). Wie Ras‐ sismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: Ein kritisches Nachschlagewerk. 4. Aufl. Münster: Unrast, 37. Spinner, Kaspar H. (2008). Perspektiven ästhetischer Bildung. Zwölf Thesen. In: Vorst, Claudia/ Grosser, Sabine/ Eckhardt, Julian/ Burrichter, Rita (Hrsg.). Ästhetisches Ler‐ nen. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Vogel, Sophie C. (2024). Dramapädagogik mit Bilderbüchern. Literacyförderung in heterogenen Gruppen. Deutsch differenziert (4/ 2024), 38-44. Zabel, Rebecca (2021). Sprache und Kultur. In: Altmayer, Claus/ Biebighäuser, Katrin/ Ha‐ berzettl, Stefanie/ Heine, Antja (Hrsg.). Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitspra‐ che: Kontexte - Themen - Methoden. Stuttgart: Metzler, 340-357. Ästhetisch-sprachliche Bildung in der Lehrkräfteprofessionalisierung 177 <?page no="179"?> Fokus Textprozeduren und Schreibprozesse <?page no="181"?> Der Schreibprozess als kreativer Prozess Nadja Sennewald Abstract: Der folgende Beitrag geht der Frage nach, ob und inwiefern sich theoretische Vorschläge zur Modellierung von Kreativität auf den Schreibprozess im Allgemeinen und auf fachliches Schreiben im Speziellen übertragen lassen. Um die größtmögliche Vergleichbarkeit zu gewährleis‐ ten, liegt der Fokus auf Ansätzen und Modellen, die den kreativen Prozess und den Schreibprozess als Problemlösungsprozess verstehen. Ausgehend vom Modell des kreativen Prozesses nach Mumford et al. (1991, 2012, 2018) sollen Erkenntnisse aus beiden Feldern - Kreativitätsforschung und Schreibforschung - betrachtet und Überschneidungen und Unterschiede offengelegt werden. Dabei werden beispielhaft Schreibanlässe und Text‐ sorten aus dem Bereich des wissenschaftlich-akademischen Schreibens und aus dem des kreativ-literarischen Schreibens herangezogen. Abschlie‐ ßend werden fünf Thesen dazu entwickelt, in Bezug auf welche Aspekte Schreibprozesse als kreative Prozesse gelesen werden können: 1) Bei komplexen (Schreib-)Aufgaben handelt es sich um ill-defined problems; 2) für die Produktion von komplexen (Text-)Produkten ist der Zugriff auf domänenspezifisches Wissen notwendig; 3) im (Schreib-)Prozess wechseln sich Phasen der Strukturierung mit Phasen der Ideengenerierung ab; 4) die fortlaufende Evaluierung macht den (Schreib-)Prozess zu einem iterativen Prozess; 5) das Monitoring als metakognitive Funktion steuert den (Schreib-)Prozess. 1 Einleitung Der Fokus dieses Beitrags liegt auf theoretischen Modellierungen von Kreativi‐ tät, insbesondere des kreativen Prozesses, um zu überprüfen, inwiefern diese <?page no="182"?> 1 Der Fokus liegt auf dem Schreibprozess insgesamt, bei dem der Sprachproduktionspro‐ zess nur als einer von mehreren Teilprozessen verstanden wird. das Verständnis von (fachlichen) Schreibprozessen 1 und Schreiblernprozessen erweitern können. Der Beitrag reagiert also auf die in diesem Band eingangs gestellte Frage, ob „neben Routinisierung nicht ebenso (sprachliche) Kreativität für bildungs‐ sprachliche fachbezogene Schreibprozesse und Diskurspraktiken konstitutiv sein [könnte]“ (Zepter und Schindler 2025: 8), wobei vor allem die prozeduralen Aspekte der Kreativität und des Schreibens in den Blick genommen werden sollen. Dafür werden in Kapitel-2 zunächst Definitionen von Kreativität aufgerufen und auf den Bereich des fachlichen Schreibens übertragen. Diskutiert wird, welche Relevanz zwei zentrale Merkmale von Kreativität, ‚Neuheit‘ und ‚Auf‐ gabenangemessenheit‘ (Kaufman 2016: 25), beim Erlenen fachlichen Schreibens in Bildungskontexten haben. Ergänzend wird das 4-C-Modell der Kreativität von Kaufman und Beghetto (2009: 2-6) herangezogen, das von verschiedenen Graden oder Ebenen der Kreativität ausgeht, die mit entsprechenden Lernpro‐ zessen und steigender Professionalisierung einhergehen. In Kapitel 3 liegt der Fokus auf Modellen des kreativen Prozesses. Skizziert und kritisch kommentiert wird das 4-Phasen-Modell (Wallas 1926), da es im deutschsprachigen Raum häufig als Referenzmodell dient, obwohl es unzurei‐ chend empirisch belegt ist. Als Alternative wird das Modell des kreativen Prozesses von Mumford et al. (1991, 2012, 2018) vorgestellt, da es erstens eines der ausdifferenziertesten Modelle ist, zweitens jeder der acht vorgeschlagenen Teilprozesse mit empirischen Studien belegt wurde und drittens das Modell über drei Jahrzehnte hinweg überarbeitet und ergänzt wurde. Bei der Vorstellung der kreativen Teilprozesse nach Mumford et al. (1991, 2012, 2018) wird am Beispiel der Genese einer wissenschaftlichen Hausarbeit überlegt, welche Entsprechun‐ gen es im Schreibprozess geben könnte. Inwiefern komplexe Schreibprozesse unabhängig vom Genre als kreative Prozesse verstanden werden können, wird in Kapitel 4 herausgearbeitet. Hierfür werden zentrale Aspekte, die sich sowohl in kreativen Prozessen als auch in Schreibprozessen finden, thesenhaft hervorgehoben und, ergänzt um entspre‐ chende Erkenntnisse aus der Schreibforschung, ausgeführt. Im Fazit wird noch einmal zusammenfassend auf die eingangs gestellten Fragen eingegangen. 182 Nadja Sennewald <?page no="183"?> 2 ‚Wertvoll‘ im Sinne von ‚nützlich‘ als Merkmal von Kreativität, siehe auch Pekel (2021: 25f.). 2 Kreativität und fachliches Schreiben Die meisten Definitionen von Kreativität nennen in leichten Variationen zwei Merkmale, die erfüllt sein müssen, damit das Produkt einer Handlung als kreativ anerkannt wird, zum Beispiel „originality and effectiveness“ (Runco und Jaeger 2012: 92) oder „new“ und „of value“ 2 (Paul und Kaufman 2014: 7). Für den hier diskutierten Bereich - das Erlernen fachlichen Schreibens in institutionalisierten Bildungsprozessen - ist folgende Definition von Kreativität weiterführend: „Creativity is an activity that produces something that is both new and task appropriate“ (Kaufman 2016: 25). Gemeinsam ist den genannten Definitionen, dass es nicht ausreicht, nur etwas Neues oder Originelles zu entwickeln, es muss auch einen Zweck erfüllen. Ein Beispiel aus dem Bereich des Backens: Wenn einfach nur eine bewährte Zutat - etwa die Schokostückchen in Chocolate Chip Cookies - durch eine originelle neue Zutat - etwa Kieselsteine - ersetzt werden, unterläuft dies die eigentliche Aufgabe, leckere und verzehrbare Kekse zu backen. Wenn dagegen streng nach bereits vorhandenem Rezept vorgegangen wird, ist zwar die Aufgabe erfüllt, leckere und verzehrbare Kekse zu produzieren, es handelt sich aber nicht um ein kreatives Produkt, weil nichts Neues entstanden ist (Sennewald und Girgensohn 2021: 85). Nun stellt sich erstens die Frage, wann ein im Rahmen der Schule oder Hochschule verfasster Text das Kriterium ‚aufgabenangemessen‘ erfüllt. Die Aufgabenangemessenheit wird immer vom jeweiligen Lehr-Lern-Kontext ab‐ hängen, und zwar nicht nur vom Alter der Lernenden und von der Art der Bildungsinstitution, sondern auch von den fachlichen, formalen, sprachlichen, rhetorischen, genrespezifischen etc. Erwartungen an die bildungssprachlichen Diskurspraktiken, die mit der Aufgabe verknüpft sind (siehe auch Zepter und Schindler 2025: 7-8). Die gestellte Aufgabe ermöglicht entweder ein breites oder ein enges Spektrum an Möglichkeiten, die ‚Aufgabenangemessenheit‘ zu erfüllen: Handelt es sich etwa um eine kreative Schreibaufgabe, in der es um das Experimentieren mit Sprache geht, wäre ein Text, aus dem alle Vokale entfernt werden, der Aufgabe angemessen (dr fgb ngmssn). Die gleiche kreative Entscheidung wäre bei einer wissenschaftlichen Arbeit über die Funktion von Vokalen im Deutschen nicht zielführend, weil sie die Verständlichkeit des Textes beeinträchtigen würde (d Vrstndlchkt ds Txts bntrchtgn wrd). Und, um noch einmal auf die Analogie zum Backen zurückzukommen: Ein begeisterter Text über das Backen von Keksen mit dem Opa wäre vielleicht ein mit ‚sehr gut‘ Der Schreibprozess als kreativer Prozess 183 <?page no="184"?> bewerteter Erlebnisbericht - aber eine ungenügende Vorgangsbeschreibung, bei der die Backanleitung im Vordergrund stehen müsste. Zweitens stellt sich die Frage, was es mit der ‚Neuheit‘ eines kreativen Produktes - in dem Fall eines Textes - auf sich hat. Oder: Wie ‚neu‘ ist ‚neu‘ und wer entscheidet das? Hilfreich zur Beantwortung dieser Frage ist das „Four C Model of Creativity“, das in Big-C, Pro-C, Little-c und Mini-c unterscheidet, womit verschiedene Grade oder Ebenen von Kreativität bezeichnet werden (Kaufman und Beghetto 2009: 2-6). Big-C-Kreativität meint außergewöhnliche kreative Leistungen, die einen entscheidenden Einfluss auf das Feld haben, in dem sie stattfinden (Kaufman und Beghetto 2009: 2). Ein Beispiel wären Literat: innen oder Wissenschaftler: innen, die für ihre Leistung den Nobelpreis erhalten. Big-C-Kreativität zu erreichen, ist also die absolute Ausnahme, nicht die Regel. Für die Big-C-Kreativität gilt im besonderen Maße, dass die kreativen Leistungen als solche anerkannt werden müssen: „[They] rely on interpersonal and historical judgements of novelty, appropriateness, and lasting impact“ (Beghetto und Kaufman 2007: 73). Die nächste Ebene, Pro-C-Kreativität, meint die professionelle Kreativität, die in allen beruflichen Feldern wirksam wird, in denen es darum geht, etwas Neues und der Aufgabe Angemessenes zu schaffen (Kaufman und Beghetto 2009: 4-6). Dabei nutzen nicht nur professionelle Kreative wie Designer: innen, Autor: innen oder Ingenieur: innen Pro-C-Kreativität, sondern auch Wissenschaftler: innen. Schließlich geht es in allen wissenschaftlichen Bereichen darum, Neues zu schaffen, die Erkenntnisse, Theorien und Methoden innerhalb eines Fachs weiterzuentwickeln, zum Beispiel, indem Forschungslücken entdeckt, originelle Thesen aufgestellt, interessante Fragen formuliert oder neue Perspektiven eingenommen werden. Studierenden werden an diese Art des fachbezogenen kreativen Arbeitens allmählich herangeführt, sodass sie idealerweise ihr Stu‐ dium an der Schwelle zur fach- oder professionsbezogenen Pro-C-Kreativität abschließen. Die nächste Ebene, Little-c-Kreativität, ist die Kreativität, die sich im Alltag durch kleine Erfindungen, Entdeckungen und Neukombinationen von Bewähr‐ tem äußert, egal, ob es sich dabei ums Coden oder ums Kochen handelt. Mit Little-c-Kreativität gehen Menschen spezifischen kreativen Tätigkeiten nach, obwohl sie (noch) keine ausgewiesene Expertise darin haben (Kaufman und Beghetto 2009: 2f.). Im Bereich der Literatur wäre zum Beispiel das Verfassen von Fanfiction als Little-c-Kreativität einzuschätzen. Die Übergänge von Littleczur Pro-C-Kreativität sind fließend, da mit Übung eine zunehmende Pro‐ fessionalisierung einhergehen kann. Die Autorin E. L. James etwa verfasste 184 Nadja Sennewald <?page no="185"?> 3 Die Romane fanden zwar bei der Literaturkritik keinen Anklang, hatten aber großen kommerziellen Erfolg. zunächst Fanfiction, aus der die Romantrilogie „Fifty Shades of Grey“ 3 (2011- 2012) hervorging - das Hobby mauserte sich zur Profession (Sennewald und Girgensohn 2021: 86). Um Studierende auf dem Weg von der Little-c-Kreativität zur Pro-C-Kreativität zu unterstützen, könnten in den Fächern gezielter mit bestimmten Formaten und Textsorten gearbeitet werden, die die fachliche Kreativität fördern, etwa einem studentischen Blog oder einer Ausstellung zu einem fachbezogenen Thema. Mini-c-Kreativität ist ein wenig anders definiert als die vorhergehenden Ebenen der Kreativität, denn sie ist in jedem Lernprozess enthalten: „We define mini-c creativity as the novel and personally meaningful interpretation of experi‐ ences, actions and events“, so Beghetto und Kaufman (2007: 73, Hervorheb. i.O.). Dahinter steckt ein konstruktivistisches Lernverständnis, das davon ausgeht, dass neue Informationen abhängig vom Vorwissen und den mentalen Strukturen der lernenden Person immer auch transformiert und kontextualisiert werden. Neu und persönlich bedeutsam müssen die Erfahrungen, Handlungen und Ereignisse dabei nur für die lernende Person selbst sein (Beghetto und Kaufman 2007: 73f.). Um Mini-c-Kreativität würde es sich etwa handeln, wenn ein: e Student: in beim Verfassen seiner: ihrer ersten Hausarbeit neue Entdeckungen macht - etwa, dass es in der Sekundärliteratur nicht ‚die eine Wahrheit‘, sondern einander widersprechende Thesen gibt, die er: sie in seinem: ihrem eigenen Text gegenüberstellen kann, unabhängig davon, wie viele Menschen vor ihm: ihr diese Erkenntnis schon hatten. Und, um noch ein Beispiel aus dem Bereich des kreativen Schreibens anzuführen: Um Mini-c-Kreativität handelt es sich auch, wenn ein: e Schüler: in eine vorgegebene literarische Geschichte von der Ich- Perspektive in die personale Perspektive in der 3. Person Singular umschreibt und dabei erkennt, wie sich die Erzählstimme und die Nähe zum Erzählten hierdurch verändern. Die drei erstgenannten Ebenen der Kreativität, also Big-C-, Pro-C- und Littlec-Kreativität, werden stark beeinflusst vom jeweiligen kreativen Umfeld, womit nicht nur die unmittelbare Arbeitsumgebung wie der Schreibtisch oder das persönliche oder professionelle Umfeld gemeint ist, sondern das historisch, kulturell und sozial spezifische Umfeld, das die Rahmenbedingungen für krea‐ tive Tätigkeiten bereitstellt und die Ergebnisse des kreativen Prozesses als neu und der Aufgabe angemessen anerkennt (Kozbelt et al. 2010: 24f.; Rhodes 1961: 307-310). Je nach Kontext kann dies das Nobelpreiskomitee sein, der Verlag, der ein Manuskript annimmt, oder die Fans, die einen Text auf einer Der Schreibprozess als kreativer Prozess 185 <?page no="186"?> 4 Kreative Produkte können in allen möglichen Domänen entstehen, sie beschränken sich nicht auf den Bereich der Sprache, Musik, Kunst etc. So wurde die erste Welle der Kreativitätsforschung in den 1950er-Jahren ausgelöst vom ‚Space Race‘ zwischen den USA und den UDSSR und zielte auf technologische und ökonomische Innovationen ab (Guilford 1950: 446; Kaufman und Beghetto 2009: 1). 5 Während für das vierte P zunächst press als Kürzel von pressures (stark beeinflussende Rahmenbedingungen) genutzt wurde (Rhodes 1961: 308), wurde es später durch place im Sinne von Verortung ersetzt (Kozbelt et al. 2010: 24). 6 Einen Überblick über Modelle des kreativen Prozesses siehe etwa bei Lubart (2001: 295-300) oder bei Kozbelt et al. (2010: 30-35). Fanfiction-Plattform begeistert kommentieren. Im Kontext Hochschule nehmen die Lehrenden am offensichtlichsten die Rolle dieser bewertenden Instanz ein, wobei auch Peer-Dynamiken, formelle Regularien wie Prüfungsordnungen oder didaktische Moden eine Rolle spielen können. In der Schreibwissenschaft werden diese sozialkommunikativen Mechanismen, die entscheiden, ob das kreative Produkt - der Text - als dem Kontext angemessen anerkannt wird, als „Diskursgemeinschaft“ bezeichnet (Beaufort 2014: 155). Die Anerkennung von Kreativität findet also nie im luftleeren Raum statt, sondern entspringt einem komplexen Zusammenwirken von kreativer Person (person), kreativem Prozess (process), kreativem Produkt (product) 4 und kreati‐ vem Umfeld (press oder place) 5 (Rhodes 1961: 307-310; siehe auch Zepter und Schindler 2025: 9-10). 3 Kreative (Problemlösungs-)Prozesse Um die Frage zu beantworten, inwiefern Schreibprozesse als kreative Pro‐ zesse gedacht werden können, werden im Folgenden zunächst theoretische Vorschläge zur Modellierung des kreativen Prozesses in den Blick genommen. Der kreative Prozess wird dafür im Anschluss an Kapitel 2 verstanden als „the sequence of thoughts and actions that leads to a novel, adaptive production [of x]“ (Lubart 2001: 295). Vorgestellt und kritisch diskutiert wird zum einen das „4-Phasen-Modell“ (Wallas 1926), da sich im deutschsprachigen Raum immer noch viele Arbeiten zu Kreativität daran orientieren. Zum anderen wird in das „Creative Process Modell“ (Mumford 2012) eingeführt, das den kreativen Prozess als Problemlö‐ sungsprozess modelliert. Da es sich um eines der kleinschrittigsten und detail‐ liertesten Modelle 6 des kreativen Prozesses handelt, eignet es sich besonders für weiterführende Überlegungen darüber, welche Ableitungen sich für den Schreibprozess daraus ziehen lassen. 186 Nadja Sennewald <?page no="187"?> 7 Wallas führt zur Illustration der vier Phasen anekdotisch außerdem Aussagen von vie‐ len weiteren Personen an, die aus ganz unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen stammen, etwa einem Ökonomen, einem Geschäftsmann, einem Priester, Politikern, Philosophen, Lyrikern, Malern, Schriftstellern, Musikern etc. (etwa Wallas 1926: 79-107). Hier zeigt sich Wallas’ breites Verständnis von kreativen Feldern und dem kreativen Denken. Seine Beispiele beziehen sich ausschließlich auf Männer. 8 Im „Lexikon der Kreativität“ wird sogar angemerkt: „In der Kreativitätsforschung wird jedoch am häufigsten auf das Vier-Phasenmodell von Wallas zurückgegriffen“ (Freitag 2018: 135). 3.1 Das 4-Phasen-Modell Das erste Modell des kreativen Prozesses stammt von Graham Wallas (1926), einem Psychologen, der als Datengrundlage schriftliche Selbstaussagen von Na‐ turwissenschaftlern zu ihrem Forschungs- und Erkenntnisprozess nutzte, etwa von Hermann von Helmholtz (1821-1894), einem Mediziner, oder von Henri Poincaré (1854-1912), einem Mathematiker. 7 Das Modell soll kurz vorgestellt werden, weil es im deutschsprachigen Raum häufig noch als Referenzmodell dient (etwa Holm-Hadulla 2000: 376; Funke 2008: 32; Baudson 2011: 12; Freitag 2018: 134f.; Neubauer-Petzoldt 2021: 58), obwohl es inzwischen Weiterentwick‐ lungen und andere, weitaus differenziertere und empirisch getestete Modelle des kreativen Prozesses gibt. 8 Als die vier Phasen des kreativen Prozesses identifiziert Wallas die Vorberei‐ tung (preparation), die Inkubation (incubation), die Illumination (illumination) und die Bestätigung (verification): 1) Preparation: In der Phase der Vorbereitung wird ein Problem identifiziert, analysiert und spezifiziert, wofür domänenspezifisches Wissen vonnöten ist, sowohl in Bezug auf Fakten und Inhalte als auch in Bezug auf bestimmte Methoden, die für die Problemlösung eingesetzt werden können (Wallas 1926: 80-83; Lubart 2001: 296). 2) Incubation: In der Phase der Inkubation gibt es, so die Annahme, keine bewusste Arbeit an dem Problem, unbewusst werden allerdings Assoziations‐ netzwerke aktiviert und Ideen entwickelt, von denen die meisten aber, ebenso unbewusst, wieder verworfen werden (Wallas 1926: 86-92; Lubart 2001: 296). Wallas beschreibt die Inkubation als Zeit, die entweder mit dem Nachdenken über andere Probleme verbracht wird oder, alternativ, mit „relaxation from all conscious mental work“ (1926: 86). 3) Illumination: In der dritten Phase, der Illumination, treten vielversprechende Ideen vom Unbewussten ins Bewusstsein, die als plötzliche Eingebungen oder Der Schreibprozess als kreativer Prozess 187 <?page no="188"?> 9 In einer Serie von Laborstudien zu Kreativität zeigte sich nur schwache Evidenz zum Vorhandensein von unbewussten Prozessen in einer möglichen Phase der Inkubation (Weisberg 1986: 30). Einsichten wahrgenommen werden (Wallas 1926: 93-105; Lubart 2001: 296). Wallas beschreibt dies wie folgt: [T]he final ‚flash‘, or ‚click‘ […] is the culmination of a successful train of association, which may have lasted for an appreciable time, and which has probably been preceded by a series of tentative and unsuccessful trains. (Wallas 1926: 93f.) Nach Wallas ist die Phase der Illumination sehr störungsanfällig und sollte weder durch äußere Einflüsse unterbrochen noch forciert werden (ebd.: 104f.). 4) Verification: In der Phase der Verifikation wird die Idee bewusst evaluiert, getestet und weiterentwickelt (Wallas 1926: 81, 84; Lubart 2001: 296). Vielfach kritisiert wurde an dem Modell, dass die Phase der Ideengeneration, in diesem frühen Modell als Inkubation bezeichnet, als mysteriöse ‚Blackbox‘ angelegt ist, über die keine weiteren Aussagen getroffen werden können, weil die Phase im Unbewussten stattfindet. Dies hatte Auswirkungen auf die Vorstellung von Kreativität insgesamt, wie Mumford et al. (1991: 99) anmerken: „Initially, models viewed creativity as a mysterious, inherently inarticulate phenomenon“. Die Vorstellung von einer Phase der unbewussten Inkubation wurde bereits von Weisberg (1986: 30) in Zweifel gezogen. 9 In neueren Modellen wurde das Konzept der Inkubation entweder ganz verworfen oder als Unterprozess der Ideengeneration verstanden. Neuere Studien zur Inkubationsphase - interpre‐ tiert als zeitlich begrenzte Unterbrechung des kreativen Prozesses, in der sich die Versuchsperson mit etwas anderem beschäftigt - zeigen zwar, dass sich solche Unterbrechungen positiv auf die Ergebnisse des kreativen Denkens auswirken können (Gilhooly 2017: 215). Allerdings ist immer noch nicht geklärt, worin der ‚unbewusste‘ Prozess eigentlich besteht. Einem Vorschlag von Gilhooly (ebd.: 214f.) zufolge führen möglicherweise zufällige Assoziationen zu zufälligen neuen Ideen, von denen sich manche hilfreich in Bezug auf die Problemlösung erweisen und dann in einem Moment der ‚Illumination‘ ins Bewusstsein treten. 3.2 Der kreative Prozess als Problemlösungsprozess Mit dem Aufkommen der kognitiven Psychologie und deren Erforschung von Denkprozessen ab den 1960er-Jahren veränderte sich auch die Sichtweise auf den kreativen Prozess. Dieser wurde nun, wie viele andere kognitive Prozesse 188 Nadja Sennewald <?page no="189"?> (etwa der Schreibprozess), als Problemlösungsprozess verstanden. ‚Probleme‘ im Kontext eines kognitiven ‚Problemlösungsprozesses‘ bedeuten nicht Pro‐ bleme im alltagssprachlichen Sinne, sondern es handelt sich um anspruchsvolle, noch ungelöste Aufgaben: „The term problem is conceived broadly as any task that an individual seeks to accomplish“ (Lubart 2001: 297). Unterschieden wird in klar umrissene, genau definierte (well-defined) und in uneindeutige, unklar definierte (ill-defined) Probleme (Pretz et al. 2003: 4; Reiter-Palmon 2018: 186). Während die Fragestellung, der Umfang, der Lösungsweg, mögliche Hürden und Ziele bei ersteren vorab bekannt sind, sind ein oder mehrere Elemente bei unklar definierten Problemen völlig offen, wobei gerade diese Offenheit kreative Lösungen anregt (Reiter-Palmon 2018: 186). Ein kreativer Problemlösungspro‐ zess kann entsprechend definiert werden als die „Ausführung einer, häufig komplexen, Folge von Handlungen zur Erreichung bestimmter Ziele, die nicht durch den Einsatz von Routineverfahren erreicht werden können“ (Schmidt und Funke 2013: 335), wobei diese Handlungen real oder mental vonstattengehen können. Grundsätzlich gehen Modelle des kreativen Prozesses als Problemlösungs‐ prozess davon aus, dass es im Prozess verschiedene Schritte oder kognitive Teilprozesse gibt (Mumford et al. 1991; Finke 1992; Treffinger 1995; Amabile 1996; ein Überblick findet sich etwa bei Lubart 2001 oder bei Kozbelt et al. 2010). Die Phasen des kreativen Prozesses verlaufen iterativ, d.h., wenn es in einem Schritt zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis kommt, wird zu vorhergehenden Schritten oder Teilprozessen zurückgesprungen (Mumford et al. 2012: 32). Außerdem kann es - je nach kreativer Aufgabe - auch zu einer Überlappung der Teilprozesse kommen (Lubart 2001: 298). Detailliert vorgestellt werden soll im Folgenden das Modell des kreativen Prozesses von Mumford et al. (1991, 2012, 2018). Es ist zum einen empirisch gut belegt, da die Teilprozesse über mehrere Jahrzehnte hinweg in zahlreichen Einzelstudien getestet wurden und das Modell mehrfach überarbeitet wurde. Zum anderen ist das Modell mit acht voneinander unterscheidbaren Phasen so umfänglich angelegt, dass es sich anbietet, zu diskutieren, ob und inwiefern die Phasen des kreativen Prozesses auf den Schreibprozess übertragen werden können. Dies soll Phase für Phase am Beispiel des Verfassens einer wissen‐ schaftlichen Hausarbeit geschehen. Das vorgestellte Modell von Mumford et al. (1991, 2012, 2018) wird dort, wo es sich anbietet, um weitere Erkenntnisse zum kreativen Prozess ergänzt. Die Bezeichnungen für die Phasen des kreativen Prozesses orientierten sich am Modell von 2012. 1) Problemdefinition (problem definition, Mumford et al. 2012: 32): Kreative Problemlösungsprozesse unterscheiden sich von regulären Problemlösungs‐ Der Schreibprozess als kreativer Prozess 189 <?page no="190"?> 10 Auch im ersten Modell von Mumford et al. (1991) wurde der Begriff ‚problem construc‐ tion‘ verwendet, in späteren Varianten des Modells dann durch ‚problem definition‘ ersetzt (Mumford et al. 2012, 2018). 11 Prozedurales Wissen (Anderson 1980: 222ff.), auch implizites oder nichtdeklaratives Wissen genannt (Baddeley et al. 2015: 13), bezieht sich auf erlernte, aber inzwischen automatisierte Handlungsabläufe. Dieses Wissen wird weniger durch bewusstes Erin‐ nern, sondern durch bestimmte Handlungen abgerufen, obwohl es ebenso wie das deklarative Wissen im Langzeitgedächtnis gespeichert wird. prozessen darin, dass es eingangs keine klare Problem- oder Zielformulierung gibt (Mumford et al. 1991: 101). Reiter-Palmon spricht sogar von einem problem construction process, 10 denn zunächst muss überhaupt erkannt werden, dass es ein zu lösendes Problem gibt. Erst danach können die genaue Problemstellung umrissen und die Rahmenbedingungen erfasst werden (Reiter-Palmon 2018: 186f.). Der kreative Prozess beginnt also mit dem Erkennen, der Eingrenzung und einer ersten Formulierung oder Definition des zu lösenden Problems. Einige Studien legen nahe, dass die Ergebnisse eines kreativen Prozesses umso origineller sind, je mehr Zeit die Personen in der Problemfindungsphase dafür aufgewendet haben, ungewöhnliche Problemstellungen zu entwickeln (Reiter- Palmon 2018: 188; Getzels und Csikszentmihalyi 1976, referiert nach Pretz et al. 2003: 6). Beispiel (1): Eine typische Schreibaufgabe in den Geistes- und Sozialwissenschaf‐ ten beginnt häufig mit einem unklar definierten Problem: „Schreibe eine Hausarbeit, die von den im Seminar XY behandelten Themen inspiriert ist.“ Im ersten Schritt muss eine Fragestellung selbst entwickelt werden, d.h., die Formulierung des Problems findet in Eigenleistung statt. Bei komplexen Schreibaufgaben ist also die Aufgabe, d.h. die Problemstellung, zunächst unklar oder offen. Der Klärungsbedarf kann sich auf die gesamte Schreibaufgabe, angefan‐ gen bei der Themenwahl und -eingrenzung, beziehen, oder auch auf Teilbereiche, etwa welche Wissensbestände zur Beantwortung einer vorgegebenen Fragestellung mit einbezogen werden müssen. Bei der Entwicklung wissenschaftlicher Fragestellungen handelt es sich außerdem um einen problem construction process, denn hier muss überhaupt erst erkannt werden, dass es eine Forschungslücke gibt - oder zumindest eine interessante Frage oder Hypothese. 2) Informationsbeschaffung (information gathering, Mumford et al. 2012: 32): Aus dieser ersten - und im Laufe des Prozesses veränderbaren - Formulie‐ rung des zu lösenden Problems ergibt sich die Notwendigkeit, nach Informatio‐ nen und Wissensbeständen zu suchen, die zur Problemlösung beitragen können. Die Informationsbeschaffung kann sowohl in der Aktivierung prozeduralen 11 190 Nadja Sennewald <?page no="191"?> 12 Explizites, auch deklaratives Wissen bezieht sich auf Fakten oder Ereignisse, die in einem bewussten Akt aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können (Baddeley et al. 2015: 13). 13 Im Modell von 2018 wird dieser Schritt auch als concept selection bezeichnet (Mumford et al. 2018: 149). und deklarativen 12 Wissens bestehen, das aus dem Langzeitgedächtnis abgeru‐ fen wird, als auch mit externer Recherche verbunden sein (Mumford et al. 1991: 101). Beispiel (2): Auch im Falle des Verfassens einer wissenschaftlichen Hausarbeit folgt eine Phase der Informationsbeschaffung, bei der sowohl bereits vorhandenes Wissen aktiviert als auch neues Wissen mit Blick auf die Problemstellung recherchiert wird. Zum Beispiel, indem die eigenen Notizen zum Seminarthema durchgelesen werden oder indem in Bibliotheken und wissenschaftlichen Datenbanken erste Recherchen zur Fragestellung angestellt werden. Diese ersten Recherchen führen eventuell zu einer Überarbeitung der Fragestellung. 3) Informationsstrukturierung (information organization, Mumford et al. 2012: 32): 13 Sobald Informationen recherchiert oder aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen worden sind, kommt es zu einer Phase der Strukturierung, die zum Verständnis der Informationen, aber auch zur Anwendung der Informationen in Bezug auf die Problemstellung beiträgt. Wissensschemata oder -systeme werden aktiviert, um Kategorien zu bilden, mit denen Informationen sinnvoll sortiert und interpretiert werden können. Jede Information wird bestimmte Kategorien aktivieren, die wiederum die Identifikation neuer benötigter Informationen beeinflussen werden. Die Informationen werden sortiert, kategorisiert und hierarchisiert, um Zusammenhänge zwischen den Konzepten herzustellen und die Informationen im Kontext des zu lösenden Problems zu verstehen und auszuwerten. Bei Problemstellungen, für deren Lösung keine neuen Informationen recher‐ chiert oder integriert werden müssen, sondern für die ausschließlich auf bereits im Langzeitgedächtnis vorhandenes Wissen zugegriffen wird, laufen diese Prozesse weitgehend unbemerkt im Hintergrund ab (Mumford et al. 1991: 102). Beispiel (3): Das für die wissenschaftliche Hausarbeit zusammengetragene Ma‐ terial wird beim Lesen gezielt auf die Problemstellung bezogen, kategorisiert und sortiert. Erste Konzepte werden gebildet, etwa in Form von Stichpunkten, Visualisierungen oder Exzerpten zu bestimmten Themenbereichen. Der Schreibprozess als kreativer Prozess 191 <?page no="192"?> 14 Ein weiteres Beispiel für konzeptuelle Kombination wäre die von Koestler (1966) entwickelte Methode der Bisoziation, bei der zwei zufällige Elemente oder Begriffe miteinander kombiniert werden, um Ideen außerhalb eingefahrener Denkmuster zu entwickeln, etwa so: Eine neue Sonnencreme soll entwickelt werden. Dem Wort ‚Son‐ nencreme‘ werden zufällige Begriffe zugeordnet, zu jedem Begriffspaar ein Brainstor‐ ming durchgeführt. Durch die zufällige Kombination ‚Sonnencreme-Kugelschreiber‘ entstehen neue Ideen: Die Sonnencreme könnte farbig sein und die Farbe verschwinden, sobald die Sonnencreme eingezogen ist. Oder flüssige Sonnencreme könnte durch eine Kugel aufgetragen werden, ähnlich wie bei einem Deoroller (Ritter und Mostert 2017: 245). 4) Konzeptuelle Verknüpfung (conceptual combination, Mumford et al. 2012: 32): Nun werden verschiedene Konzepte miteinander in Verbindung gebracht (Mumford et al. 2018: 148). Der Unterschied zum vorhergehenden Schritt ist, dass dort nur Vorhandenes sortiert wurde - jetzt wird es bereits weiterent‐ wickelt. Idealerweise werden zunächst Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert, um sie dann gezielter auf die Problemstellung beziehen zu können (ebd.: 152f.). Hierbei werden unterschiedlichste Konzepte neu kombiniert, um neue Ideen, Lösungen oder Perspektiven zu entwickeln. 14 Beispiel (4): In diesem Schritt werden aus dem Material heraus Ideen für die wissenschaftliche Hausarbeit entwickelt. Vielleicht finden sich im Material Theorien, die sich aufeinander beziehen, Thesen, die ein‐ ander widersprechen, verschiedene Denkschulen, die voneinander abgegrenzt oder aufeinander bezogen werden könnten. 5) Ideenentwicklung (idea generation, Mumford et al. 2012: 32): Die Kon‐ zepte werden in einem rekursiven Prozess kombiniert und reorganisiert, um möglichst viele Ideen zu generieren. Typisch für einen kreativen Prozess ist das sogenannte divergente Denken, bei dem nicht nur eine ‚richtige‘ Lösung entwickelt wird, sondern eine Vielzahl von möglichen Ideen und Lösungen (Mumford et al. 2018: 153). Divergentes Denken „wechselt beim Problemlösen die Richtung, sobald dies erforderlich ist, und führt somit zu einer Mannigfal‐ tigkeit von Antworten, die alle richtig und angemessen sein können“ (Guilford 1974: 374). In der Frühphase der Kreativitätsforschung wurde angenommen, dass divergentes Denken identisch ist mit kreativem Denken, da divergentes Denken die Fähigkeit beschreibt, eine Bandbreite an Ideen für neue Probleme zu entwickeln. Inzwischen ist es allerdings Konsens, dass im kreativen Prozess sowohl ideengenerierende Schritte als auch strukturierende Schritte notwendig sind, die wiederum dem konvergenten Denken zuzuordnen sind (Mumford et al. 2018: 147f.; siehe auch Zepter und Schindler 2025: 17). Konvergentes Denken 192 Nadja Sennewald <?page no="193"?> 15 Ob und in welchem Ausmaß während eines Schreibprozesses zwischen divergentem und konvergentem Denken gewechselt wird, wird von den individuell bevorzugten Schreibstrategien abhängen, etwa ob das assoziative Flow-Schreiben bevorzugt wird oder das planende Schreiben (Sennewald 2014: 171-181). wird definiert als die Fähigkeit, „Denkschritte in vernünftiger Reihenfolge zu vollziehen“ (Guilford 1974: 371); es systematisiert, ordnet und führt zu einer Lösung, die sich innerhalb von vorab definierten Parametern bewegt. Abhängig von kreativen Problemstellungen und von Phasen im kreativen Prozess ist je‐ weils entweder konvergentes oder divergentes Denken zielführender, meistens bedarf es eines Zusammenspiels. Zum Beispiel muss eine große Fülle an neu entwickelten Ideen in einem zweiten Schritt evaluiert, sortiert und strukturiert werden (Ritter und Mostert 2017: 247; Pinkow 2022: 474f.). Beispiel (5): Die für die Hausarbeit bereits erarbeiteten Ideen und Konzepte werden miteinander kombiniert und reorganisiert, um eine Fülle an Ideen zu generieren, die nun detaillierter schriftlich ausgearbeitet werden. Dabei wechseln sich möglicherweise Phasen miteinander ab, in denen eher assoziativ zum Thema geschrieben wird oder in denen das Vorhandene geordnet und strukturiert wird. 15 6) Evaluation der Idee (idea evaluation, Mumford et al. 2012: 32): Aus einer Vielzahl an Ideen gilt es nun, die besten herauszufiltern: Die Anwendbarkeit, Umsetzbarkeit und Nützlichkeit der Ideen werden überprüft und mit der Prob‐ lemdefinition und der Zielformulierung abgeglichen. Dieser Evaluationsprozess wird von intraals auch interpersonalen Einflüssen geprägt, etwa vom Selbstbild oder der Motivation, aber auch von der Aufgabenumgebung oder von externem Feedback (Mumford et al. 1991: 104). Beispiel (6): Das Geschriebene wird lesend evaluiert, indem es mit der Fragestel‐ lung abgeglichen wird, und entsprechend verworfen, überarbeitet oder weiterentwickelt. In der Phase der Textüberarbeitung wird häufig auch auf das Feedback anderer Personen zurückgegriffen, deren Rückmeldung sich ebenfalls auf die Genese des Projektes auswirken wird. 7) Durchführungsplanung (implementation planning, Mumford et al. 2012: 32): In der Phase der Durchführungsplanung verlagert sich der Fokus von der Evaluierung zurück zur konkreten Umsetzung der Ideen. Nun werden Ein‐ schränkungen und Hindernisse antizipiert, weitere Möglichkeiten identifiziert und Back-up-Pläne entwickelt (Mumford et al. 2018: 153). Eine solche Planungs‐ phase trägt entscheidend zur erfolgreichen Ausarbeitung von Ideen bei. Hierbei Der Schreibprozess als kreativer Prozess 193 <?page no="194"?> wird etwa der Bedarf an Ressourcen ermittelt, weitere Methoden recherchiert und erlernt oder soziale Unterstützung eingeholt, etwa in Form von Feedback oder weiteren Projektbeteiligten (Osburn und Mumford 2006: 174). Phasen der Durchführungsplanung finden nicht nur nach der Evaluierungsphase statt, sie können an verschiedenen Stellen im kreativen Prozess hilfreich sein. Beispiel (7): Mumfords Vorschlag zur Lage der Durchführungsplanung passt besser zur Entwicklung eines Prototyps aus dem technischen Bereich als auf die Genese eines Schreibprojektes. In einem Schreibprozess würde die Durchführungsplanung idealerweise weiter vorne im Prozess stattfinden und eventuell stärker formalisiert sein, etwa in der Form eines Exposés mit Zeit- und Arbeitsplan, das bei der Anmeldung der Abschlussarbeit mit eingereicht werden muss. Die Durchführungsplanung könnte sowohl die zeitliche und inhaltliche Planung des Textprojekts umfassen als auch die Aktivierung weite‐ rer Ressourcen - etwa einen Besuch im Schreibzentrum oder das Feedback von Kommiliton: innen. 8) Monitoring (solution monitoring, Mumford et al. 2012: 32): Das Monitoring steuert den ständigen Wechsel zwischen Ideen generierenden, strukturierenden und evaluierenden Teilprozessen. Während Mumford et al. die Funktion ‚solu‐ tion monitoring‘ zunächst nur auf die letzte Phase, die Evaluation der vorläufigen Problemlösung, beziehen (Mumford et al. 1991: 105; Mumford et al. 2012: 32), verstehen Lebuda und Benedek die Monitoring-Funktion als prozessüber‐ greifende metakognitive Funktion: Als „metacognitive monitoring“ aktiviert, überwacht, steuert und evaluiert sie und moderiert die Teilprozesse innerhalb des kreativen Prozesses (Lebuda und Benedec 2023: 163). Das Monitoring kann damit als Voraussetzung für den iterativen Charakter kreativer Prozesse ver‐ standen werden: Es macht den Wechsel zwischen und das wiederholte Durch‐ laufen von Teilprozessen überhaupt erst möglich. Die Teilprozesse befinden sich in dynamischer Interaktion miteinander, d.h., wenn einer der Teilprozesse nicht erfolgreich verläuft, wird auf einen vorhergehenden zurückgesprungen (Mumford 2012: 32). Beispiel (8): Sollte sich während der kritischen Lektüre des bereits verfassten Textes (idea evaluation) herausstellen, dass ein Argument lückenhaft belegt wird, kann zurückgesprungen werden zum Teilprozess infor‐ mation gathering, in dem eine passende Quelle gesucht wird. In der neuen Quelle tauchen vielleicht völlig neue Aspekte auf, die wiederum dazu führen, dass ein Kapitel umstrukturiert werden muss (information organization). 194 Nadja Sennewald <?page no="195"?> 4 Schreibprozesse als kreative Prozesse Während im vorigen Kapitel das Modell des kreativen Problemlösungsprozesses nach Mumford et al. (1991, 2012, 2018) vorgestellt und am Beispiel der Genese einer wissenschaftlichen Hausarbeit illustriert wurde, soll in diesem Kapitel umgekehrt der Fokus auf dem Schreiben als Problemlösungsprozess liegen. Denn auch „Schreiben verlangt kontinuierliches Problemlösen“ (Ruhmann und Kruse 2014: 17) und das auf unterschiedlichen Ebenen: Während des Schreibens werden laufend inhaltliche, strukturelle, kommunikative und sprachliche Ent‐ scheidungen getroffen. Angefangen bei der Satzbildung über die Entwicklung von Thesen oder Argumenten bis hin zum Erstellen einer Gliederung oder einer Grafik stellt Problemlösen beim Schreiben „einen wesentlichen Bestandteil fast aller, mit Ausnahme der einfachsten, Schreibhandlungen dar“ (Hayes 2014 [1996]: 77). Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wird auf Modelle zurückgegrif‐ fen, die den Schreibprozess als Problemlösungsprozess konzipieren. Zu nennen sind hier etwa das Modell des Schreibens als kognitiver Prozess (Flower und Hayes 1981), das Modell Kognition und Affekt beim Schreiben (Hayes 1996) und das Modell des Schreibprozesses (Hayes 2012; Hayes und Olinghouse 2015). Die genannten Modelle werden bis heute als zentrale Referenzmodelle genutzt (siehe etwa McCutchen 2023: 206-224), auch da sie von Hayes et al. im Laufe der Jahrzehnte ständig weiterentwickelt und, basierend auf neuen Erkenntnissen, aktualisiert wurden. Die Merkmale des Schreibprozesses, die ihn als kreativen Problemlösungs‐ prozess kennzeichnen, sollen in der Form von Thesen, die sich am Modell des kreativen Prozesses nach Mumford et al. (1991, 2012, 2018) orientieren, konden‐ siert dargebracht und mit Rückgriff auf Erkenntnisse aus der Schreibforschung und aus der Kreativitätsforschung ausgeführt werden. 1) Bei komplexen Schreibaufgaben handelt es sich um ill-defined pro‐ blems. Schreiben, so eine frühe Erkenntnis der Schreibforschung, ist gerade deshalb so herausfordernd, weil es sich häufig um Aufgaben ohne klare Problemstellungen handelt: [Writing] is, in essence, a task in which no problem is given. The theme, story line, or argument must be constructed by the author through cycles of deliberative thinking directed toward constructing a problem representation that includes multiple restraints (e.g., originality, coherence, and interestingness). (Bryson et al. 1991: 61) Der Schreibprozess als kreativer Prozess 195 <?page no="196"?> Hervorzuheben ist, dass komplexe Schreibaufgaben aller Genres als ill-defined problems betrachtet werden können. Es kann sich hierbei sowohl um eine wissenschaftliche Hausarbeit handeln, in der Thesen aufgestellt und mit Refe‐ renzen argumentativ belegt werden müssen, als auch um ein narratives Genre, etwa einen Fantasyroman, für den eine Welt, ein Figurenarsenal und eine Handlungsstruktur entworfen werden müssen, die von den Adressat: innen (Fantasyleser: innen) als originell und interessant eingeschätzt werden sollen. Getzels (1982: 39-42) schlägt eine weitere Ausdifferenzierung von kreativen Problemen vor, die ebenfalls auf Schreibaufgaben übertragen werden kann: Er unterscheidet in vorgelegte Probleme (presented), entdeckte Probleme (disco‐ vered) und neu erschaffene Probleme (created). Bezogen auf eine wissenschaft‐ liche Schreibaufgabe könnte es sich bei einem vorgelegten Problem zum Beispiel um eine vorab festgelegte und klar eingegrenzte Fragestellung handeln, bei einem entdeckten Problem um eine Fragestellung, die eine Forschungslücke umreißt, und bei einem neu erschaffenen Problem um Hypothesen für einen neuen Ansatz oder eine neue Theorie. Komplexe Schreibaufgaben erfordern also mindestens eine Problemdefinition (problem definition), häufig auch eine Problemkonstruktion (problem construction). 2) Für die Produktion von komplexen Texten ist der Zugriff auf domä‐ nenspezifisches Wissen notwendig. Das erfolgreiche Bearbeiten komplexer Schreibaufgaben, verstanden als kreati‐ ves Problemlösen, beruht auf bereits vorhandenem Wissen, das faktenbasiert, prozedural oder assoziativ sein kann (Mumford et al. 2012: 38). Dieses Vorwissen ist die Grundlage dafür, neue Informationen zu recherchieren, zu interpretieren und in die kreative Handlung einbinden zu können (Mumford et al. 2012: 31). Beim Schreiben umfasst das Vorwissen etwa Themenwissen, Adressat: innen‐ wissen, Textsortenwissen, linguistisches Wissen und Wissen über Aufgaben‐ schemata (Hayes 2014 [1996]: 61). Es gibt zwei Arten domänenspezifischen Wissens: Erstens faktenorientiertes, inhaltliches Wissen, etwa darüber, wie in einem Laborprotokoll in der Biologie Werte in Tabellen und Graphen präsentiert werden, oder zum Beispiel darüber, wie die dramaturgische Struktur in einer Fantasytrilogie funktioniert. In beiden Fällen wird Wissen aktiviert, das sich einerseits auf die Spezifika der Funktions‐ weise der Textsorte bezieht (Laborprotokoll oder Fantasyroman), anderseits auf inhaltliches Vorwissen, etwa über den Lebenszyklus der Fruchtfliege oder das narrative Framing von fantastischen Wesen wie den Orks. Das bedeutet nicht, dass das gesamte für einen Text erforderliche Wissen (etwa Detailwissen über den Lebenszyklus der Fruchtfliege oder die fiktive Kultur der Orks) bereits vorab vollständig vorhanden sein muss, aber ein grundlegendes Wissen darüber, wo 196 Nadja Sennewald <?page no="197"?> 16 Mit Übersetzen ist das Übertragen von Ideen in Sprache, also das Formulieren, gemeint. 17 In späteren Modellen wird das Planen als übergreifende Funktion verstanden, die auf dem control level angesiedelt ist. Hiermit soll kenntlich gemacht werden, dass das Planen nicht nur Einfluss auf den Schreibprozess hat, sondern auch Schreibprozesse, verstanden als die Teiltätigkeiten „proposing, translating, transcribing, and evaluating“ auslösen kann (Hayes und Olinghouse 2015: 484). innerhalb der fachlichen Domäne das Wissen recherchiert werden kann (etwa in biologischen Fachdatenbanken oder in Fantasywikis), sollte vorliegen. Zweitens kann auch das sogenannte prozedurale Wissen (Anderson 1980: 222ff.) domänenspezifisch geprägt sein. Prozedurales Wissen, auch implizites oder nichtdeklaratives Wissen genannt (Baddeley et al. 2015: 13), bezieht sich auf erlernte, aber inzwischen automatisierte Handlungsabläufe. Hierzu gehören im Bereich des Schreibens beispielsweise das Tippen mit zehn Fingern oder die Handlungsabläufe für das Posten von Nachrichten in den sozialen Medien. Auch mit bestimmten Domänen zusammenhängende spezielle Fertigkeiten, ohne die bestimmte Schreibaufgaben nicht durchgeführt werden könnten, sind als prozedurales Wissen zu verstehen, etwa das Pipettieren in der Biologie. 3) Im Schreibprozess wechseln sich Phasen der Strukturierung mit Phasen der Ideengenerierung ab. Während strukturierende Denkbewegungen dem konvergenten Denken zuzu‐ ordnen sind, steht das divergente Denken für das Generieren neuer Ideen (Guilford 1974: 371-374; siehe auch Kapitel 3.2). Im Modell des kreativen Prozesses von Mumford et al. (1991, 2012, 2018) spielen beide eine Rolle: Die Teilprozesse Informationsstrukturierung und Durchführungsplanung haben vorrangig strukturierenden Charakter, die Teilprozesse Problemdefinition, Kon‐ zeptuelle Verknüpfung und Ideenentwicklung vorrangig ideengenerierenden. Zum Vergleich: Der Schreibprozess wird in frühen Modellen in den drei Phasen Planen, Übersetzen  16 und Überprüfen modelliert, wobei die Teilprozesse Zielsetzung, Ideengenerierung und Strukturierung als Unterprozesses des Pla‐ nens  17 gedacht werden (Flower und Hayes 2014 [1981]: 42). Die Zielsetzung im Schreibprozess hat ihre Entsprechung in der Durchführungsplanung bei Mumford et al. (1991, 2012, 2018). Sie kann sowohl inhaltlich motiviert sein (heute das Unterkapitel zum Thema „Johntonsche Organe von Fruchtfliegen“ schreiben) als auch verfahrensorientiert (die bereits angefertigten Exzerpte dafür nutzen) oder beides zugleich. Die Schreibziele werden dabei fortlaufend aktualisiert: Der Schreibprozess als kreativer Prozess 197 <?page no="198"?> Die aktuellen Ziele regen die Schreibenden zur Ideengenerierung an; diese Ideen wiederum führen zur Schaffung neuer, komplexerer Ziele, mit denen Inhalte und Schreibabsichten verbunden werden können. (Flower und Hayes 2014 [1981]: 43) Der Teilprozess der Zielsetzung hat also nicht nur strukturierenden Charakter, sondern auch generativen, denn es handelt sich, um die Terminologie des kreativen Problemlösens zu nutzen, um eine Art der Durchführungsplanung, die durch iterative Phasen der Problemdefinition ständig erneuert wird. Aus der Perspektive der Schreibforschung werden während der Ideengene‐ rierung (Flower und Hayes 2014 [1981]: 43) (in neueren Modellen auch als proposer bezeichnet, etwa bei Hayes und Olinghouse 2015: 283), Ideen auf unterschiedliche Art und Weise erzeugt: Sie können aus dem Langzeitgedächtnis stammen, aber auch vom Schreibziel, von bereits geschriebenen Textteilen oder Fremdtexten oder durch Textfeedback von anderen beeinflusst werden oder von der unmittelbaren, sinnlich wahrnehmbaren Umgebung geprägt sein (Hayes und Olinghouse 2015: 284). So wird etwa der Fantasyroman, in dem ein weiblicher Ork die Protagonistin ist, durch Filme und Texte beeinflusst, in denen Orks vorkommen - und die aktuelle Szene, die in einer Wüste spielt, von einem von dem: der Autor: in selbst erlebten heißen Sommertag. Die neuen Ideen und Informationen sind nun entweder schon so gut struk‐ turiert, dass sie direkt in den Text integriert werden können, oder sie liegen noch so fragmentarisch vor, dass eine Phase der Strukturierung stattfinden muss. Um die Ideen weiterzuentwickeln, werden Kategorien gebildet, hierarchisiert und geordnet. In dieser Phase werden auch Entscheidungen auf Textebene getroffen, etwa zur Textstruktur und Gliederung des Textes. In der Schreibforschung wurde die Rolle von strukturierenden Tätigkeiten während des kreativen Denkens schon früh erkannt: Der Prozess des Strukturierens scheint eine wichtige Rolle beim kreativen Denken und Entdecken zu spielen, da hierdurch Ideen gruppiert und neue Konzepte entworfen werden können. Genauer gesagt liefert der Strukturierungsprozess den Schreibenden Kategorien, mit denen sie einerseits nach untergeordneten Ideen suchen können, um ein aktuelles Thema weiterzuentwickeln, und andererseits nach übergeordneten Ideen, die das aktuelle Thema beinhalten oder subsumieren. (Flower und Hayes 2014 [1981]: 42) Wichtig ist hier die Unterscheidung in ‚übergeordnete‘ und ‚untergeordnete‘ Strukturentwicklung. Im Schreibprozess wird Struktur sowohl auf der Mak‐ roebene geschaffen, etwa wenn eine Gliederung für eine wissenschaftliche Hausarbeit erstellt oder überarbeitet wird, aber auch auf der Mikroebene, etwa wenn die rhetorische Struktur eines Arguments in einem Absatz genauer 198 Nadja Sennewald <?page no="199"?> ausgearbeitet wird. Im literarischen Bereich wäre zum Beispiel auf der Makro‐ ebene das Konzept für die dramaturgische Struktur eines Romans relevant, auf Mikroebene die präzise Platzierung von Figureninformationen im Text. 4) Die fortlaufende Evaluation der Ergebnisse aller anderen Teilprozesse macht den Schreibprozess zu einem iterativen Prozess. Nicht jede Idee erweist sich als anwendbar, umsetzbar oder aufgabenangemes‐ sen, daher müssen aus einer Vielzahl an Ideen die besten ausgewählt werden. So stellen Lebuda und Benedek in Bezug auf den kreativen Prozess fest: „Creative ideas result from an interplay of generative and evaluative processes“ (Lebuda und Benedek 2023: 163). Während der Evaluationsphase (idea evaluation) wird überprüft, ob und inwiefern die jeweilige Idee in Bezug auf die Problemdefini‐ tion und die Zielformulierung weiterführt - oder ob sie überarbeitet oder sogar verworfen werden sollte (Mumford et al. 1991: 104). Auch in Schreibprozessen spielt die Evaluation, in neueren Modellen als evaluator bezeichnet (Hayes und Olinghouse 2015: 484), eine zentrale Rolle: „evaluation may happen at any stage of writing“ (ebd.). Der Teilprozess der Evaluation überprüft die Ergebnisse aller anderen Teil‐ prozesse im Hinblick auf ihre Aufgabenangemessenheit. Es werden sowohl noch nicht verschriftlichte Ideen kritisch überdacht als auch Teile des bereits verfassten Textes kritisch gelesen und beurteilt. Werden sie als gut beurteilt, dienen sie als „Sprungbrett“ (Flower und Hayes 2014 [1981]: 44) für die weitere Ideengenerierung und das Ausformulieren des Textes. Werden sie als noch nicht ausreichend beurteilt, setzt eine Phase der Überarbeitung ein. Vielleicht wird eine Idee bereits verworfen, noch bevor sie in Sprache ausformuliert wird (etwa die Idee, die Geschichte der Orkheldin in Versform zu erzählen), vielleicht, bevor sie niedergeschrieben wird (zum Beispiel Ideen für den Namen der Figur) und vielleicht erst, nachdem sie bereits niedergeschrieben ist (zum Beispiel der Absatz, in dem die Heldin zu früh für die Dramaturgie der Geschichte den entscheidenden Sieg erringt). Die Evaluation bezieht sich nicht nur auf die übergreifenden Ideen eines Textes, sondern kann auch Überarbeitungen auf rein sprachlicher Ebene auslösen, zum Beispiel die Entscheidung, die drei Wörter zu streichen, die einen Satz zu umständlich klingen lassen, oder orthografische Fehler zu verbessern. Die Evaluation kann jederzeit bewusst oder unbewusst initiiert werden und jeden anderen Teilprozess des Schreibens unterbrechen, sie findet also nicht erst gegen Ende der Textgenese statt (Flower und Hayes 2014 [1981]: 44). Der Schreibprozess als kreativer Prozess 199 <?page no="200"?> 18 Metakognition meint zum einen das Wissen über kognitive Prozesse (knowing about knowing), zum anderen die bewusste Steuerung kognitiver Prozesse (knowing how to know) (Brown 1975: 103; Scott und Levy 2013: 121). 19 Die Monitor-Funktion wird in späteren Schreibprozessmodellen als Teilfunktion der ‚zentralen Exekutive‘ begriffen (Hayes 2014 [1996]: 64), die wiederum ein Teilbereich des Arbeitsgedächtnisses ist (Kellogg 2014 [2008]: 137). 5) Das Monitoring als metakognitive Funktion steuert den Schreibpro‐ zess. Das metacognitive monitoring (Lebuda und Benedec 2023: 163) aktiviert, über‐ wacht, steuert, evaluiert und moderiert die Teilprozesse innerhalb des kreativen Prozesses und ermöglicht so den Wechsel zwischen und die Wiederholung von Teilprozessen. Auch in Schreibprozessmodellen ist eine Monitorfunktion als steuernde Instanz (Flower und Hayes 2014 [1981]: 44) oder „überwachendes Aufmerksam‐ keitssystem“ (Kellogg 2014 [2008]: 137) angelegt, die den Prozess überwacht und den Wechsel zwischen Teilprozessen veranlasst. Da es sich um die bewusste Steuerung von kognitiven Teilprozessen (etwa dem Planen, Ideengenerieren oder dem Überarbeiten) handelt, nimmt das Moni‐ toring zum einen eine metakognitive Funktion 18 innerhalb des Schreibprozesses ein und löst zum anderen selbstregulative Handlungen bei den Schreibenden aus (Scott und Levy 2013: 121; Gorzelsky et al. 2016: 227). Über das Monitoring wird etwa gesteuert, wie lange Ideen generiert werden, bevor mit der Formu‐ lierungsarbeit begonnen wird, oder wann vom Beurteilen zum Überarbeiten übergegangen wird. 19 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es im Schreibprozess wie im kreativen Problemlösungsprozess voneinander unterscheidbare Teil- oder Unterprozesse gibt. Einige dieser Teilprozesse dienen der Ideenentwicklung, andere dazu, die Ideen zu evaluieren, zu sortieren und auszuwählen. Es handelt sich um ein Zusammenspiel verschiedener Teilprozesse, die von einer metakog‐ nitiven Monitoring-Funktion gesteuert werden. So linear wie in den meisten Modellen dargestellt verlaufen allerdings we‐ der kreative Prozesse noch Schreibprozesse. Iterative Schleifen können in ver‐ schiedenen Bereichen und Phasen auftreten, angefangen bei der allmählichen Klärung der unklar definierten Problemstellungen durch mehrere Phasen der Informationsbeschaffung, Konzeptbildung, Ideengenerierung etc. Zwischen den Teilprozessen kann jederzeit gesprungen werden, sei es, dass zu einem einzelnen Teilprozess zurückgesprungen wird oder dass alle Schritte neu durchlaufen werden. 200 Nadja Sennewald <?page no="201"?> 5 Fazit In den vorangegangenen Kapiteln wurde überlegt, ob und inwiefern sich theo‐ retische Vorschläge zur Modellierung von Kreativität auf den Schreibprozess im Allgemeinen und auf fachliches Schreiben im Speziellen übertragen lassen, um das Verständnis von (fachlichen) Schreibprozessen und Schreiblernprozessen zu erweitern. Dabei lag der Fokus auf der Makroebene, die versucht, kreative Prozesse im Allgemeinen zu beschreiben. Ein solches Modell des kreativen Prozesses (Mumford et al. 1991, 2012, 2018) wurde auf den Schreibprozess - unabhängig von den Schreibanlässen, vom Genre oder vom Kompetenzstand der Schreibenden - übertragen, um Gemeinsamkeiten zu identifizieren und um zu überprüfen, ob der Schreibprozess an sich als kreativer Prozess gelesen werden kann. Ausgeklammert wurde dabei der genaue Blick auf die Sprachpro‐ duktion, da diese - als spezifischer Teilprozess des Schreibens - kein Äquivalent in Modellen des kreativen Prozesses als Problemlösungsprozess hat bzw. in den Teilprozessen Problemdefinition, Informationsstrukturierung, Konzeptuelle Verknüpfung, Ideenentwicklung, Evaluation und Durchführungsplanung indirekt enthalten ist, da diese Schritte sämtlich in schriftlicher Form stattfinden (kön‐ nen). Welche Schreibprozesse gleichzeitig auch als kreative Prozesse verstanden werden können, hängt erstens von der Skalierung des Begriffs ‚Kreativität‘ ab, wie in Kapitel 2 gezeigt wurde: Wird das Schreiben als Lern- und Erkenntnis‐ medium genutzt - und zwar unabhängig vom Alter der Schreibenden oder der Art der Bildungsinstitution - wird Mini-c-Kreativität wirksam: Ein individueller Prozess, bei dem abhängig von den mentalen Strukturen der lernenden Person neue Informationen und Erkenntnisse transformiert, kontextualisiert und in das bereits vorhandene Wissen integriert werden. Welche Schreibprozesse als kreative (Problemlösungs-)Prozesse durchlaufen werden, hängt zweitens von der Komplexität der Schreibaufgabe ab. Bei kom‐ plexen Schreibaufgaben aller Genres handelt es sich um ill-defined problems, also um Aufgaben ohne klare Problemstellung, bei denen zunächst eine Phase der Problemdefinition oder -konstruktion erfolgen muss. Das Erkennen, die Eingrenzung und eine erste Formulierung oder Definition des zu lösenden Problems kann also als erster Schritt eines kreativen Prozesses verstanden werden. Solche Schreibsituationen und -aufgaben finden sich zwar vermehrt in fachspezifischen Kontexten wie an der Hochschule, aber auch in anderen Schreibdomänen, etwa dem kreativ-literarischen Schreiben. Das Bearbeiten offener Schreibaufgaben ist außerdem nicht an das Lernalter gebunden: Um etwa die Aufgabe „Was war Dein schönstes Ferienerlebnis? “ schriftlich zu bearbeiten, muss eine Problemdefinition stattfinden, nämlich die Entscheidung, Der Schreibprozess als kreativer Prozess 201 <?page no="202"?> 20 In Sennewald (2023) finden sich viele Vorschläge für (schreib-)didaktische Interventio‐ nen. was denn nun wirklich das Beste an den Sommerferien war. Umso spezialisierter die Schreibanlässe und ungewöhnlicher die Problemstellungen im Laufe eines Bildungsweges werden, desto mehr Überarbeitungsschleifen, Revisionen und Zeitaufwand fließen in die Problemfindungsphase. Auch die weiteren von Mumford et al. (1991, 2012, 2018) vorgeschlagenen Teilprozesse des kreativen Prozesses können, wie in Kapitel 3 gezeigt, auf den Schreibprozess übertragen werden. Beim Bearbeiten komplexer Schreibaufga‐ ben werden sämtliche Teilprozesse des kreativen Prozesses aktiv: die Problem‐ definition, Informationsbeschaffung, Informationsstrukturierung, konzeptuelle Verknüpfung, Ideenentwicklung, Evaluation, Durchführungsplanung und das Monitoring. Das Wissen über verschiedene Formen, Ebenen und Teilprozesse der Kreati‐ vität könnte noch gezielter in didaktische Settings für verschiedene Altersstu‐ fen und Bildungsinstitutionen einfließen. So könnte an der Hochschule mit Blick auf das fachliche Schreiben der Übergang von Little-c-Kreativität zu Pro- C-Kreativität didaktisch wesentlich stärker in den Blick genommen werden. In vielen Fächern bietet es sich an, das Schreiben als kreatives Reflexions-, Ideenentwicklungs- und Denkinstrument zu nutzen. Methoden und Übungen zur Weiterentwicklung kreativer Fähigkeiten innerhalb eines Fachkontextes können sich entsprechend auf verschiedene Ebenen der Kreativität beziehen: Sie können 1) den Lernprozess im Fokus haben (Mini-c-Kreativität), 2) den Über‐ gang von alltäglicher zu professioneller Kreativität fördern (Little-c-Kreativität zu Pro-C-Kreativität, 3) den Wechsel zwischen konvergentem und divergentem Denken einüben und 4) die Studierenden zu kompetenten Problemlöser: innen in ihrem Fach machen (Sennewald 2023: 57-61). 20 In allen kreativen Domänen, so auch dem Schreiben, steigt die Expertise mit Übung und zunehmender Erfahrung (Beghetto und Kaufman 2007: 76), was bedeutet, dass ausreichend viele kreative, fachspezifische Schreibanlässe geschaffen werden müssen. Eine dazu passende zentrale Einsicht zu einem kreativitätsfördernden Umfeld aus der Sozialpsychologie lautet: „Creativity tends to flourish when there are opportunities for exploration and independent work, and when originality is supported and valued“ (Kozbelt et al. 2010: 25). Mit Übung und zunehmender Erfahrung können Schreibende nicht nur fachlich relevante Probleme erkennen, passende Schreibstrategien effektiv an‐ wenden, Texte präziser beurteilen und überarbeiten und spezifische Textsorten 202 Nadja Sennewald <?page no="203"?> sicherer verfassen (Sennewald 2021: 59; Hayes 2014 [1996]: 82), sondern auch kreative Strategien gezielt für die Textgenese nutzen. Abschließend kann festgestellt werden, dass jeder Schreibprozess, der mit offenen oder unklaren Problemstellungen beginnt, als kreativer Prozess ver‐ standen werden kann - unabhängig davon, ob es sich um freies Erzählen in der Grundschule oder um einen wissenschaftlichen Artikel handelt. Umso interessanter wäre es, die Erkenntnisse zu beiden Forschungsgegen‐ ständen - kreative Prozesse und Schreibprozesse - im Detail wieder stärker zusammenzuführen und das Schreiben als eine der kreativen Domänen zu verstehen. Es gibt eine Fülle an Erkenntnissen in beiden Bereichen, die der konzeptuellen Verknüpfung harren. Literatur Amabile, Teresa (1996). Creativity in Context. Update to the Social Psychology of Creativity. Boulder, Colo.: Westview. Anderson, John R. (1980). Cognitive Psychology and its Implications. San Francisco: W. H. Freeman. Baddeley, Alan/ Eysenck, Michael W./ Anderson, Michael C. (2015). Memory. 2. Aufl. London/ New York: Psychology Press. Baudson, Tanja Gabriele (2011). Kreativität - Zufall oder harte Arbeit? Ein programma‐ tischer Beitrag. In: Koop, Christine/ Steenbuck, Olaf (Hrsg.). Kreativität: Zufall oder harte Arbeit? Frankfurt a.M.: Karg-Stiftung, 9-17. Beaufort, Anne (2014). Wie Schreibende sich an neue Schreibsituationen anpassen. In: Dreyfürst, Stephanie/ Sennewald, Nadja (Hrsg.). Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Opladen/ Toronto: Barbara Budrich, 153-167. Beghetto, Ronald A./ Kaufman, James C. (2007). Toward a Broader Conception of Creati‐ vity. A Case for “mini-c” Creativity. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 1 (2), 73-79. Brown, Ann L. (1975). The Development of Memory: Knowing, Knowing About Kno‐ wing, and Knowing How to Know. Advances in Child Development and Behavior (10), 103-152. Bryson, Mary/ Bereiter, Carl/ Scardamalia, Marlene/ Joram, Elana (1991). Going Beyond the Problem as Given: Problem Solving in Expert and Novice Writers. In: Sternberg, Robert J./ Frensch, Peter A. (Hrsg.). Complex Problem Solving. Principles and Mecha‐ nisms. Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum Associates, 61-84. Finke, Ronald A. (1992). Creative Cognition. Theory, Research, and Applications. Cam‐ bridge, Mass.: MIT. Der Schreibprozess als kreativer Prozess 203 <?page no="204"?> Flower, Linda/ Hayes, John R. (1981). A Cognitive Process Theory of Writing. College Composition and Communication 32 (4), 365-387. Flower, Linda/ Hayes, John R. (2014 [1981]). Schreiben als kognitiver Prozess. Eine Theo‐ rie. In: Dreyfürst, Stephanie/ Sennewald, Nadja (Hrsg.). Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Opladen/ Toronto: Barbara Budrich, 35-56. Freitag, Egon (2018). Lexikon der Kreativität. Grundlagen - Methoden - Begriffe. Renningen: expert. Funke, Joachim (2008). Zur Psychologie der Kreativität. In: Dresler, Martin/ Baudson, Tanja Gabriele (Hrsg.). Kreativität. Beiträge aus den Natur- und Geisteswissenschaf‐ ten. Stuttgart: Hirzel, 31-36. Getzels, Jacob W. (1982). The Problem of the Problem. In: Hogarth, Robin M. (Hrsg.). Question Framing and Response Consistency. New Directions for Methodology of Social and Behavioral Science. San Francisco/ Washington/ London: Jossey-Bass, 37- 49. Getzels, Jacob W./ Csikszentmihalyi, Mihaly (1976). The Creative Vision. A Longitudinal Study of Problem Finding in Art. New York: Wiley. Gilhooly, Kenneth J. (2017). Incubation, Problem Solving, and Creativity. In: Ball, Linden J./ Thompson, Valerie A. (Hrsg.). International Handbook of Thinking and Reasoning. Milton: Taylor & Francis, 204-217. Gorzelsky, Gwen/ Driscoll, Dana Lynn/ Pszek, Joe/ Jones, Ed/ Hayes, Carol (2016). Cultiva‐ ting Constructive Metacognition. A New Taxonomy for Writing Studies. In: Anson, Chris M./ Moore, Jessie L. (Hrsg.). Critical Transitions. Writing and the Question of Transfer. Fort Collins/ Boulder, Co.: The WAC Clearinghouse & University Press of Colorado, 217-249. Guilford, Joy Paul (1974). Persönlichkeit. Logik, Methodik und Ergebnisse ihrer quanti‐ tativen Erforschung. 6. Aufl. Weinheim: Beltz. Guilford, Joy Paul (1950). Creativity. The American Psychologist (5), 444-454. Hayes, John R. (1996). A New Framework for Understanding Cognition and Affect in Writing. In: Levy, C. Michael/ Ransdell, Sarah E. (Hrsg.). The Science of Writing. Theories, Methods, Individual Differences, and Applications. Mahwah, N.J.: Erlbaum, 1-27. Hayes, John R. (2012). Modeling and Remodeling Writing. Written Communication 29 (3), 369-388. Hayes, John R. (2014 [1996]). Kognition und Affekt beim Schreiben. Ein neues Konzept. In: Dreyfürst, Stephanie/ Sennewald, Nadja (Hrsg.). Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Opladen/ Toronto: Barbara Budrich, 57-86. Hayes, John R./ Olinghouse, Natalie G. (2015). Can Cognitive Writing Models Inform the Design of the Common Core State Standards? The Elementary School Journal 114 (4), 480-497. 204 Nadja Sennewald <?page no="205"?> Holm-Hadulla, Rainer Matthias (2000). Kreativität - Psychodynamik und Coaching. In: Holm-Hadulla, Rainer Matthias (Hrsg.). Kreativität. Berlin/ Heidelberg/ New York: Springer, 355-384. Kaufman, James C. (2016). The Creative Construct. RSA Journal 162 (5565), 24-27. Kaufman, James C./ Beghetto, Ronald A. (2009). Beyond Big and Little. The Four C Model of Creativity. Review of General Psychology 13 (1), 1-12. Kellogg, Ronald T. (2014 [2008]). Schreibkompetenzen schulen. Eine Perspektive aus der kognitiven Entwicklungspsychologie. In: Dreyfürst, Stephanie/ Sennewald, Nadja (Hrsg.). Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Opladen/ To‐ ronto: Barbara Budrich, 127-152. Koestler, Arthur (1966). Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Unter Mitarbeit von Agnes von Cranach. Bern/ München/ Wien: Scherz. Kozbelt, Aaron/ Beghetto, Ronald A./ Runco, Mark A. (2010). Theories of Creativity. In: Kaufman, James C./ Sternberg, Robert J. (Hrsg.). The Cambridge Handbook of Creativity. Cambridge/ New York/ Melbourne: Cambridge University Press, 20-47. Lebuda, Izabela/ Benedek, Mathias (2023). A Systematic Framework of Creative Metacog‐ nition. Physics of Life Reviews 46, 161-181. Lubart, Todd I. (2001). Models of the Creative Process: Past, Present and Future. Creativity Research Journal 13 (3 & 4), 295-308. McCutchen, Deborah (2023). A Cognitive Account of the Development of Writing Skill. Cross-Language Evidence. In: Horowitz, Rosalind (Hrsg.). The Routledge Internatio‐ nal Handbook of Research on Writing. 2. Aufl. New York/ London: Routledge Taylor & Francis Group, 206-224. Mumford, Michael D./ Martin, Robert/ Elliott, Samantha/ McIntosh, Tristan (2018). Crea‐ tive Thinking in the Real World. Processing in Context. In: Sternberg, Robert J./ Kaufmann, James C. (Hrsg.). The Nature of Human Creativity. Cambridge/ New York/ Melbourne/ New Delhi/ Singapore: Cambridge University Press, 147-165. Mumford, Michael D./ Medeiras, Kelsey E./ Partlow, Paul J. (2012). Creative Thinking. Processes, Strategies, and Knowledge. The Journal of Creative Behavior 46 (1), 30-47. Mumford, Michael D./ Mobley, Michele I./ Reiter-Palmon, Roni/ Uhlman, Charles E./ Doa‐ res, Lesli M. (1991). Process Analytic Models of Creative Capacities. Creativity Research Journal 2 (4), 91-122. Neubauer-Petzoldt, Ruth (2021). Zwischen Flow und Grit. Kreative Aspekte des wis‐ senschaftlichen Schreibens. In: Willms, Weertje/ Backes, Martina (Hrsg.). Kontexte kreativen Schreibens. Eine Standortbestimmung in Theorie und Praxis. Berlin: Frank & Timme, 51-70. Osburn, Holly K./ Mumford, Michael D. (2006). Creativity and Planning: Training Inter‐ ventions to Develop Creative Problem-Solving Skills. Creativity Research Journal 18 (2), 173-190. Der Schreibprozess als kreativer Prozess 205 <?page no="206"?> Paul, Elliot Samuel/ Kaufman, Scott Barry (2014). Introducing: The Philosophy of Crea‐ tivity. In: Paul, Elliot Samuel/ Kaufman, Scott Barry (Hrsg.). The Philosophy of Creativity. New Essays. Oxford: Oxford University Press, 3-14. Pekel, Selim (2021). Kreatives Schreiben. Eine philosophische Begriffsreflexion. JoSch - Journal für Schreibwissenschaft 12 (22), 22-29. Pinkow, Felix (2022). Creative Cognition: A Multidisciplinary and Integrative Framework of Creative Thinking. Creativity and Innovation Management 32, 472-492. Pretz, Jean E./ Naples, Adam J./ Sternberg, Robert J. (2003). Recognizing, Defining, and Representing Problems. In: Davidson, Janet E./ Sternberg, Robert J. (Hrsg.). The Psychology of Problem Solving. Cambridge/ New York: Cambridge University Press, 3-30. Reiter-Palmon, Roni (2018). Creative Cognition at the Individual and Team Levels. What Happens before and after Idea Generation. In: Sternberg, Robert J./ Kaufmann, James C. (Hrsg.). The Nature of Human Creativity. Cambridge/ New York/ Melbourne/ New Delhi/ Singapore: Cambridge University Press, 184-208. Rhodes, Mel (1961). An Analysis of Creativity. The Phi Delta Kappan 42 (7), 305-310. Ritter, Simone M./ Mostert, Nel (2017). Enhancement of Creative Thinking Skills Using a Cognitive-Based Creativity Training. Journal of Cognitive Enhancement 1 (3), 243-253. Ruhmann, Gabriela/ Kruse, Otto (2014). Prozessorientierte Schreibdidaktik: Grundlagen, Arbeitsformen, Perspektiven. In: Dreyfürst, Stephanie/ Sennewald, Nadja (Hrsg.). Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung. Opladen/ Toronto: Barbara Budrich, 15-34. Runco, Mark A./ Jaeger, Garrett J. (2012). The Standard Definition of Creativity. Creativity Research Journal 24 (1), 92-96. Schmidt, Ute/ Funke, Joachim (2013). Kreativität und Problemlösen. In: Stephan, Achim/ Walter, Sven (Hrsg.). Handbuch Kognitionswissenschaft. Stuttgart: Metzler, 335-343. Scott, Brianna M./ Levy, Matthew G. (2013). Metacognition. Examining the Components of a Fuzzy Concept. Educational Research 2 (2), 120-131. Sennewald, Nadja (2014). Schreibstrategien. Ein Überblick. In: Dreyfürst, Stephanie/ Sen‐ newald, Nadja (Hrsg.). Schreiben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Bera‐ tung. Opladen/ Toronto: Barbara Budrich, 169-190. Sennewald, Nadja (2021). Schreiben, Reflektieren, Kommunizieren. Studie zur subjekti‐ ven Wahrnehmung von Schreibprozessen bei Studierenden. Bielefeld: wbv. Sennewald, Nadja (2023). Kreativität, fachliches Lernen und Schreiben. Ein theoretischer Einblick zur didaktischen Verwendung. In: Ammann, Daniel/ Altorfer, Erik/ Bürki, Gisela/ Rickert, Alex (Hrsg.). Wissenschaftlich erzählen - literarisch überzeugen. Kreativ schreiben in der Hochschule. Bern: hep, 52-64. 206 Nadja Sennewald <?page no="207"?> Sennewald, Nadja/ Girgensohn, Katrin (2021). Kreatives Schreiben studieren. Sieben Thesen für das 21. Jahrhundert. In: Willms, Weertje/ Backes, Martina (Hrsg.). Kontexte kreativen Schreibens. Eine Standortbestimmung in Theorie und Praxis. Berlin: Frank & Timme, 81-105. Treffinger, Donald J. (1995). Creative Problem Solving: Overview and Educational Implications. Educational Psychology Review 7 (3), 301-312. Wallas, Graham (1926). The Art of Thought. London: Cape. Weisberg, Robert W. (1986). Creativity. Genius and other myths. New York: Freeman. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. Der Schreibprozess als kreativer Prozess 207 <?page no="209"?> 1 Uns ist bewusst, dass der Titel durchaus kritisch eingeschätzt werden kann, das betrifft u.a. die Frage, ob LLM überhaupt kreativ sind und/ oder lernen können oder dies nicht ausschließlich Menschen (oder anderen Lebewesen) vorbehalten ist. Der Begriff des Lernens, der in der Überschrift genutzt wird, referiert auf das Lernkonzept, wie es für Large Language Modelle diskutiert wird (deep learning), und ist daher nicht mit dem Lernbegriff gleichzusetzen, wie er beispielsweise in der Psychologie oder den Bildungswissenschaften verwendet wird. AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen 1 können Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner Abtract: Large Language Modelle (LLM), wie sie KI-Tools zur Texterstel‐ lung nutzen, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie mit einer Vielzahl von Texten trainiert wurden. Diese Textkorpora sind in der Regel durch eher stan‐ dardisierte, musterhafte, von erwachsenen Schreiber: innen verfasste Texte gekennzeichnet. Bedingt durch die auf statistischen Algorithmen basierte Trainingsprozedur entstehen entsprechend normorientierte Textvorschläge. In einem gemeinsamen Projekt zwischen Sprachwissenschaft, Sprachdidak‐ tik und Informatik wurde ein LLM mit einem Korpus von Texten, die Grundschüler: innen verfasst haben, nachtrainiert. Das kann aus zweifacher Perspektive Erkenntnisse eröffnen: im Hinblick auf die Frage, wie domänen‐ spezifische Feintrainings aussehen können, und wie ein solches LLM dazu dienen kann, typische, aber durchaus kreative Muster in Schüler: innentexten zu durchdringen, die der Analyse ansonsten verschlossen sind. 1 Ausgangspunkt Wenngleich noch unklar ist, wie sich die (Text-)Welt (weiter) verändern wird (siehe auch Limburg et al. 2023), so wird doch die Veröffentlichung von ChatGPT Ende November 2022 von vielen bereits als Zäsur wahrgenommen. Eine Anwendung, die von allen Internetnutzer: innen zugänglich und mit einer einfachen Bedienungsoberfläche versehen ist, ermöglicht die digital erzeugte <?page no="210"?> 2 https: / / www.heise.de/ thema/ KI-Update 3 Vgl. https: / / www.cnbc.com/ 2025/ 02/ 20/ openai-tops-400-million-users-despite-deepsee ks-emergence.html. Produktion von ganz unterschiedlichen Texten verschiedener Textsorten per Tastendruck. Inzwischen sind die Modelle nicht nur leistungsstärker geworden, die Bandbreite an Anbieter: innen und entsprechenden Tools ist deutlich ange‐ stiegen (eine tagesaktuelle Übersicht über technische Entwicklungen bietet der KI-Update-Podcast von heise online 2 ). Neben enthusiastischen Einschätzungen mehren sich aber auch kritische Stimmen; das gilt beispielsweise für die Frage, ob die entstandenen Texte in ihrer Textqualität (und zwar jenseits der sprachlichen Oberfläche) wirklich überzeugen (siehe Kepser 2023). Die entsprechend breite Nutzung solcher Tools (nach Zahlen vom Februar 2025 nutzen 400 Millionen Nutzer monatlich ChatGPT 3 ), gerade auch im Hin‐ blick auf Routineaufgaben, zeigt nun außerdem verschiedene Konsequenzen: So wird angenommen, dass es in Zukunft deutlich mehr generierte Texte geben wird (die zugleich wieder die Grundlage entsprechenden Trainings sein werden; menschlich verfasste Texte werden bald nicht mehr der Regelfall sein, vgl. auch Bajohr 2024). Erste Studien deuten außerdem darauf hin, dass sich die lexikalische und syntaktische Varietät dadurch reduzieren wird (siehe Doshi und Hauser 2023). Befürchtet wird auch, dass Textkompetenzen von Schüler: innen zurückgehen könnten, wenn sie viele der Textaufgaben auslagern und selbst gar keine Texte mehr verfassen (für den Mathematikunterricht und die Nutzung von KI liegen hier erste Ergebnisse vor; vgl. Bastani et al. 2024). Viele andere Problemfelder werden in der Diskussion benannt, das betrifft beispielsweise den Stromverbrauch der Modelle (für das Training und die Nutzung), die fehlende Genauigkeit bei Antworten und die Gefahr von Bias. Zugleich sind in allen Bundesländern Initiativen beobachtbar, LLM bzw. die Tools, die auf LLM basieren, systematisch in der Schule zu nutzen. Bereits im Februar 2023 hat NRW (vgl. Ministerium für Schule und Bildung des Landes NRW 2023) als eines der ersten Bundesländer in einer Handreichung für einen Einsatz im Unterricht plädiert (siehe auch Schindler 2023). In welchem Ausmaß, mit welchen didaktischen Zielen und in welchen unterrichtlichen Zusammenhängen ein solcher Einsatz sinnvoll, fachdidaktisch gerahmt und pädagogisch gewünscht ist, wird zurzeit breit diskutiert (vgl. auch das ide- Heft „Künstliche Intelligenz“, hrsg. von Krammer und Leichtfried 2024), wobei die Fachdidaktik mögliche Lernkontexte skizziert (im Überblick für das Fach Deutsch Leichtfried 2024). Schüler: innen nutzen bereits vielfältig Tools, um Textversionen zu vergleichen, Ideen zu entwickeln, Texte zusammenfassen zu lassen (vgl. auch die Modelle in Praxis Deutsch 310/ 2025). Bereits 72 % der 210 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="211"?> 4 https: / / www.telepolis.de/ features/ ChatGPT-fuer-Hausaufgaben-Druecken-sich-Schue ler-vor-dem-echten-Lernen-9845658.html 5 https: / / www.klett.de/ inhalt/ ki/ startseite/ 277433 Schüler: innen geben an, dass sie ihre Hausaufgaben nicht mehr eigenständig bearbeiten, sondern ChatGPT zu Hilfe nehmen (heise online, August 2024 4 ). Als ein technisches und zugleich konzeptionelles Desiderat wird noch im Januar 2024 das Fehlen domänenspezifischer LLM beklagt (SWK der KMK). So seien die bisher verfügbaren Modelle zu wenig für den schulischen Kontext geeignet, sie seien fachlich zu unspezifisch und mit teils falschen Quellen gefüttert. In den letzten Monaten sind hier durch gezieltes Feintraining Ansatzpunkte entwickelt worden; Schulbuchverlage wie Klett entwickeln z.Zt. Anwendungen, bei denen die Modelle auf der Grundlage des eigenen Materials nachtrainiert werden. 5 Wie ein solches Feintraining für den Bereich ‚Texte schreiben‘ in der Grundschule aussehen kann, wird am Beispiel für das Schreiben erzählender Texte vorgeführt. Wir nutzen dazu ein Korpus von Schüler: innentexten aus der Grundschule (n = 400), das in mehreren Jahren an verschiedenen Grundschulen NRW im Schreibarrangement „Virtuelle Schreibkonferenz“ (Knopp und Schindler 2020) entstanden ist. Wir stellen im Folgenden zunächst den Kontext vor, in dem die Schüler: in‐ nentexte, mit denen das Modell feintrainiert wurde, entstanden sind. Wir zeigen anschließend besondere Spezifika dieser Texte, die wir als kreativ einschätzen wollen. Daran knüpfen wir die technische Umsetzung an und beschreiben detailliert den Feintrainingsprozess und die dazugehörige Erzeugung der Trai‐ ningsdaten. Wir zeigen exemplarisch, wie Texte aussehen können, die durch ein solch feintrainiertes Modell generiert werden. Abschließend skizzieren wir Überlegungen dazu, ob und in welcher Weise derart domänenspezifische Modelle im Schulkontext verwendet werden könnten. 2 Das Textkorpus „Digitale Schüler: innentexte“ 2.1 Entstehungshintergrund - die Virtuelle Schreibkonferenz Die Virtuelle Schreibkonferenz (VSK) ist ein Schreibarrangement, das ursprüng‐ lich von Michael Becker-Mrotzek entworfen und seit vielen Jahren von Kirsten Schindler und Matthias Knopp umgesetzt wird. Das Schreibarrangement ist durch mehrere (in der Regel vier bis sechs) Schreibtermine und zusätzlich eine Auftakt- und eine Abschlussveranstaltung gekennzeichnet. In den jeweils 90-minütigen Schreibterminen verfassen und überarbeiten Schüler: innen der vierten Jahrgangs‐ stufe kooperativ (zu zweit oder zu dritt) ihren digitalen (in der Regel erzählenden) Text. Dabei werden sie teils vor Ort, insbesondere aber durch alternierende Rück‐ AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 211 <?page no="212"?> 6 Der Sozialindex (von 1, geringste Belastung, bis 9, höchste Belastung) ist eine Kennzahl, die angeben soll, wie stark die Schule von bestimmten Faktoren geprägt ist. Er errechnet sich aus dem Anteil der Kinder, die unter Kinder- und Jugendarmut leiden, dem Anteil von Kindern und Jugendlichen mit nicht deutscher Familiensprache, dem Anteil von Kindern und Jugendlichen, die aus dem Ausland zugezogen sind, und dem Anteil von Kindern und Jugendlichen mit einem Förderschwerpunkt im Bereich Lernen, meldung in den Textdokumenten von Studierenden, die als Schreibberater: innen fungieren, unterstützt (vgl. Knopp und Schindler 2019). Die Studierenden tragen auch Sorge dafür, dass der Text korrigiert, lektoriert sowie ausgedruckt und gebunden wird. Am Ende der Projektlaufzeit entstehen so fertige Geschichten, die in einem Abschlusstermin den Schüler: innen überreicht werden. Das Schreib‐ arrangement verfolgt unterschiedliche Zielsetzungen: Die Schüler: innen erleben sich als Autor: innen, lernen, gemeinsam und am Computer längere Texte zu schreiben (das beinhaltet auch das Tippen an der Tastatur), und konzipieren und formulieren eine Geschichte, die sie mithilfe der studentischen Rückmeldungen überarbeiten. Die Studierenden wiederum agieren als Berater: innen, die gezielt und adaptiv Textrückmeldungen geben, den Schreibprozess moderieren (z.B. auf anstehende Aufgaben und die Zeitplanung hinweisen) und als Lektor: innen fungieren. Dafür benötigen sie ein umfangreiches fachliches (bezogen auf erzäh‐ lende Texte), fachdidaktisches (bezogen auf Schriftsprach- und Schreiberwerb) und pädagogisch-psychologisches (bezogen auf motivierende und zielführende Rückmeldung) Wissen und Können (vgl. auch zur Rückmeldekompetenz Schind‐ ler et al. 2015); die Reflexion ihres Tuns ist grundlegender Bestandteil des Se‐ minarkonzepts, in dem das Schreibarrangement umgesetzt wird. Perspektiven auf Forschungsfragen werden in den entsprechenden Prüfungsleistungen (z.B. Hausarbeiten) eingenommen. Für die Schüler: innen ist die Aufgabenstellung im Gegensatz zu anderen schreibdidaktischen Kontexten vergleichsweise frei und die Ausgestaltung ist ihnen selbst überlassen. Ihre Aufgabe besteht schlicht darin, eine Geschichte zu schreiben und dies zu zweit (oder zu dritt) über einen längeren Zeitraum umzusetzen und sich dabei gezielt im digitalen Schreiben zu erproben. Diese Freiheit ist ebenso wie die fehlende Benotung Gegenstand des didaktischen Arrangements, das gezielt auf eine positive Schreiberfahrung setzt. In diesem Sinne steht auch die Wertschätzung jedes Textes im Fokus, so wie es auch bei anderen kreativ-literarischen Arrangements umgesetzt wird (vgl. auch Abraham et al. 2023). Das Schreibarrangement wird als Projektseminar an der Universität zu Köln und seit 2024 auch an der Bergischen Universität Wuppertal mit zwei städtischen Grundschulen umgesetzt. Die eine (GS 1) der beiden Grundschulen ist fünfzügig, hat einen Sozialindex von 3 und arbeitet inklusiv, die andere Grundschule (GS 2) ist zweizügig und hat einen Sozialindex von 6. 6 Die letzten 212 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="213"?> emotionale und soziale Entwicklung und/ oder Sprache (vgl. auch für NRW: https: / / w ww.schulministerium.nrw/ schulsozialindex). 7 Uns ist bewusst, dass damit ein kommerzielles und nicht datenschutzkonformes Schreibtool verwendet wird. Da es von der Nutzungsmöglichkeit und der unkompli‐ zierten Zusammenarbeit aber in besonderer Weise überzeugt und zudem - abgesehen vom Vornamen - keine personenbezogenen Daten erfasst, erschien es uns für unsere Zwecke sinnvoll. Die Erziehungsberechtigten sind über die Nutzung aufgeklärt worden und haben ihr zugestimmt. zehn Durchgänge der VSK liegen digital vor, bis zum SoSe 2021 mit allen Zwischenversionen (nach den jeweiligen Schreibterminen). Für das Feintraining werden 400 Texte von 843 Schüler: innen genutzt: WiSe 2015/ 2016 GS 1 46 Texte (99 Schüler: innen) WiSe 2016/ 2017 GS 1 45 Texte (96 Schüler: innen) WiSe 2017/ 2018 GS 1 49 Texte (103 Schüler: innen) WiSe 2018/ 2019 GS 1 49 Texte (102 Schüler: innen) WiSe 2019/ 2020 GS 1 40 Texte (88 Schüler: innen) SoSe 2021 GS 1 45 Texte (97 Schüler: innen) SoSe 2022 GS 1 47 Texte (95 Schüler: innen) WiSe 2023/ 2024 GS 1 55 Texte (114 Schüler: innen) SoSe 2024 GS 2 24 Texte (49 Schüler: innen) Tab. 1: Überblick Textkorpus Bis zum Sommersemester 2021 wurde die Lernplattform ILIAS verwendet, auf der die verschiedenen Zwischenversionen (jeweiliger Text der Schüler: innen nach einem Schreibtermin, jeweilige Rückmeldung der Studierenden) sowie die Endversion abgespeichert wurden, was sich aber als zunehmend fehleranfällig erwies, da die Orientierung in verschiedenen Versionen eher zu Irritationen geführt hat. Seit 2021 wird google.docs  7 im Rahmen der Google-Apps-for- Education-Lizenz für die gemeinsame Textproduktion genutzt, wobei jede Schreibgruppe mit eigenem Link/ QR-Code auf ihre Geschichte zugreift. Die Schüler: innen nutzen google.docs auf den iPads im Klassenraum und verwenden die für die VSK eingerichtete Schreibzeit zum gemeinsamen Schreiben. Die Studierenden schreiben alternierend zu den Schreibzeiten an den Texten weiter, nehmen Korrekturen vor und geben Rückmeldungen. Das zeitgleich synchro‐ nisierte Textdokument hat den Nachteil, dass teilweise Textteile überschrieben AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 213 <?page no="214"?> 8 Als ungünstig erweist sich auch, dass bei google.docs die Anführungszeichen wie im Englischen angeordnet sind, was bei den Schüler: innen zu Irritationen und bei den Studierenden zu Korrekturbedarf führt. werden; die Nutzung des Versionenabgleichs muss erst erlernt werden. 8 Die (inhaltliche) Verantwortung für den Text verbleibt bei den Schüler: innen als Autor: innen. Die Studierenden sind aufgefordert, nur sehr vorsichtig (und vor allem im Hinblick auf orthografische Richtigkeit) in den Text einzugreifen. Entsprechend sehen wir die Texte auch als Schüler: innentexte an. In der Mehrheit der Fälle handelt es sich um erzählende (teils auch berich‐ tende) Texte. Durch den Hinweis an die Schüler: innen, dass sie jetzt gemeinsam ‚Geschichten‘ schreiben, ist die gattungsbezogene Festlegung auf narrative, epische Texte gesetzt, wobei einzelne Texte (vor allem zum Thema Fußball) deutlich mehr beschreibende und informierende Textteile beinhalten. Eine Analyse der Texte bietet interessante und durchaus ungewöhnliche Phä‐ nomene, wenngleich sie zunächst nicht im Interesse des Schreibarrangements bzw. der Perspektive der universitären Ausbildung der Studierenden stand, da es hier weniger um die Produkte der Schüler: innen als um die Rückmeldungen der Studierenden ging und um die Frage, wie sie diese motivierend und lernförderlich gestalten können. 2.2 Phänomene digitalen Schreibens Seit wenigen Jahren werden Besonderheiten digitaler Texte unter dem Begriff einer Grafostilistik (vgl. Dürscheid 2016) diskutiert und systematisch beschrie‐ ben (vgl. Androutsopoulos und Busch 2020; Busch 2021). Dazu gehört u.a. der Gebrauch von Emojis (vgl. Pappert 2017; Beisswenger und Pappert 2019), aber auch Umdeutungen von Majuskeln - das Setzen ganzer Wörter oder Sätze in Majuskeln wird dann als Schreien wahrgenommen. Beschrieben werden solche Besonderheiten vornehmlich für das Schreiben in sozialen Medien (vgl. Dürscheid 2020). Für Storrer (2019) ist dieses Schreiben ein vornehmlich interak‐ tionsorientiertes Schreiben, das u.a. durch Merkmale gekennzeichnet ist, die sich auch als Nähekommunikation (vgl. Koch und Oesterreicher 1985) beschreiben lassen und u.a. durch hohe Vertrautheit, Situationsgebundenheit, Emotionali‐ tät kennzeichnen lassen. Neben dieses interaktionsorientierte Schreiben, das vornehmlich dem unmittelbaren Austausch dient, tritt ein textorientiertes Schreiben, bei dem es um die Produktion von komplexeren Texten geht, das typisch für schulische Kontexte ist und in dem diese Phänomene eher fehlen. In den Texten der Schüler: innen, die ja durchaus als textorientiert gelten können, finden sich nun aber verschiedene Phänomene, wie sie auch das 214 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="215"?> interaktionsorientierte Schreiben kennzeichnen und die zunächst einmal als Abweichung orthografischer Normen wirken. Zugleich sind sie aus unserer Sicht in besonderer Weise kreativ und haben eine vornehmlich stilistische (und gattungsbezogen gelungene) Wirkung. Das kreative Potenzial wie auch unsere Vorstellung von Kreativität in diesen Texten werden wir im nächsten Kapitel entfalten. Hier folgt zunächst die Beschreibung einiger Phänomene, die wiederkehrend in den Texten zu beobachten sind. Das gilt für: • die Iterationen von Graphemen (wie bei „kommmmmmm“), • die Häufung von Interpunktionszeichen („nein! ! ! ! ! “) (vgl. Androutsopoulos (2018: 723), der dies als „digitale Interpunktion“ versteht), • die regelwidrige Nutzung von Majuskeln („AHHHHHH“), • die Verwendung verschiedener Schriftfarben, Schriftfonts und Schriftgrö‐ ßen in einem Text, • die frequente Verwendung von Interjektionen, die für geschriebene Texte eher ungewöhnlich, wenn auch nicht falsch ist. In Texten (im Folgenden einige Ausschnitte aus dem Korpus der Virtuellen Schreibkonferenz) zeigen sie sich dann folgendermaßen (und teils in Kombina‐ tion): Abb. 1: Textausschnitt aus der 348. Geschichte des Korpus AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 215 <?page no="216"?> Abb. 2: Textausschnitt aus der 398. Geschichte des Korpus Wir erklären uns die Häufung dieser Phänomene u.a. durch das Schreibwerk‐ zeug (vgl. auch Steinhoff 2023). Denn die Auszeichnungsmöglichkeiten sind permanent als Auswahl vorhanden (anders als beispielsweise beim analogen Schreiben bestimmte Schriftfarben bzw. Stifte in unterschiedlichen Farben, die eigens der Schreibumgebung hinzugefügt werden müssen) und sie sind unaufwendig umsetzbar. Das gilt beispielsweise für die Duplikation von Buch‐ staben, die lediglich durch ein Festhalten der Tasten entstehen im Vergleich zum deutlich aufwendigeren handschriftlichen Produzieren (das gilt insbeson‐ dere für Schreibanfänger: innen) und die ebenso unaufwendig wieder getilgt werden können. Dennoch erscheinen sie uns weder willkürlich noch unbewusst, sondern eigenständige, im Sinne der Textqualität notwendige Entscheidungen der jungen Schreiber: innen, die wir als kreativ beschreiben möchten. Am Beispiel des Entstehungsprozesses eines Textes wollen wir dies exemplarisch nachzeichnen. 2.3 Das Kreative am digitalen Schreiben - ein Fallbeispiel Im Falle der Virtuellen Schreibkonferenz entsteht Kreativität auf allen vier bei Zepter und Schindler (2025) beschriebenen Ebenen: Auf Ebene der Personen, der Situationen, der Prozesse und der Produkte. Das nachfolgende Beispiel entstand im Wintersemester 2017/ 18. Alle Zwi‐ schenversionen - auch die Rückmeldungen der Studierenden - liegen vor. Wir möchten die Genese der Textproduktion (als kreativen Schreibprozess) be‐ schreiben, der ausgelöst durch die Situation entsteht, einen eigenen erzählenden Text zu verfassen und dies gemeinsam zu tun. Die Schreibenden haben mit den Studierenden beim Kick-off eine Überschrift und einen kurzen Einstiegstext verfasst. Beim zweiten Schreibtermin schreiben 216 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="217"?> die Schüler: innen nun in der Schule allein ihren Text weiter (ab „Plötzlich“, im Text rot markiert): Abb. 3: Textausschnitt 2. Schreibtermin Bemerkenswert ist nicht nur, wie lang der Textausschnitt ist, sondern auch, wie vielfältig hier mit grafostilistischen Mitteln gearbeitet wird, das gilt für die Schriftgröße, die Schriftfarbe (beispielsweise Giftschlange) und die Graphemi‐ AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 217 <?page no="218"?> terationen. Die beiden Figuren Aik und Gracjan derart auszuweisen, erinnert auf Ebene der Textgestalt einerseits an Tags, wie sie für Graffitis einschlägig sind, aber auch an Schmuckelemente, wie sie beispielsweise bei Märchentexten eingesetzt werden. Erstaunlich ist die Reaktion der Studierenden. Die Studierenden korrigieren eine Vielzahl dieser Vorschläge und verweisen auf das vereinbarte Korrek‐ turmuster; die Farben rot und blau seien schon entsprechend besetzt. Ihre Rückmeldung besteht genauer darin: 218 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="219"?> Abb. 4: Rückmeldung der Studierenden auf Textversion 2 und überarbeitete Textversion Das Spannungsfeld zwischen einer Musterorientierung, die sich vor allem an Vorstellungen normorientierten Erzählens ausrichtet, und einer eher innovativen Lösung der Autor: innen wird hier nicht aufgelöst. Im Gegenteil: Die Studierenden setzen sich mit ihren Vorschlägen zunächst weitgehend durch. In der Umsetzung verliert u.E. der Text durchaus an Qualität. Allerdings greifen die Schüler: innen im nächsten Schritt einzelne Phänomene heraus, die sie beibehalten bzw. für die sie eine neue Lösung finden, die sich im engen Radius der Vorgaben durchsetzen kann. Sie nutzen hier vor allem die Möglichkeiten, mit der Schriftgröße zu experimentieren: AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 219 <?page no="220"?> 220 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="221"?> Abb. 5: Finale Textversion der Schüler: innen Die Schüler: innen beanspruchen zudem die Autor: innenschaft für sich. Ihr Text endet mit „Von den Machern von Der Papa auf der Toilette“. Besonders bemerkenswert erscheint uns ein Element, das wir bereits an anderer Stelle kurz beschrieben haben (Schindler und Knopp 2022): die Kon‐ trastierung des Ausrufs („ah“) in Wiederholung (Länge) und Größe der Schrift (Lautstärke) mit der Charaktereigenschaft des Vaters („er war nicht mutig“), die entsprechend im deutlich kleineren Schriftfont umgesetzt wird. Aus unserer Sicht zeigt sich daran nicht nur ein kreatives Umgehen mit den zugestande‐ nen Möglichkeiten, sondern auch eine elaborierte Form, um Geschichten zu erzählen. Kreativität ist hier gerade keine Kompensation schriftsprachlich ein‐ geschränkter Mittel, sondern Ausdruck eines breiten Repertoires an Varianzen. Die Situation, eine eigene digitale Geschichte jenseits eines schulischen Bewertungskontextes zu verfassen, kann durchaus dazu beigetragen haben, dass die Schüler: innen hier mutiger agieren. Wir würden daher auch der Situation kreatives Potenzial zuweisen. Eine Situation als solches erscheint uns nicht per se kreativ, sondern hat ein (mehr oder weniger) kreatives Potenzial, das die Schüler: innen hier nutzen können. Denn das Vorkommen dieser Phänomene beim textorientierten Schreiben, also in Texten von Schüler: innen, die an der Schule entstehen, stellt durchaus ein Novum dar. So erklärt Androutsopoulos (2020: 75) in Bezug auf digitale Interpunktion: Zwar ist die Abgrenzung zwischen text- und interaktionsorientiertem Schreiben nicht immer leicht, der Grundgedanke ist jedoch, dass nicht digitale Kommunikationsme‐ dien als solche, sondern erst die Bedarfe der durch sie vollzogenen Interaktion eine AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 221 <?page no="222"?> 9 DigiData ist ein von der Volkswagenstiftung unterstütztes Projekt, das u.a. zum Ziel hat, Wissenschaftler: innen, die ihre Forschung mit KI-Methoden professionalisieren wollen, in Tandems zu schulen und bei der Antragsstellung entsprechender Forschungsprojekte zu unterstützen. 10 Stand Oktober 2024 sind LLM mit bis zu ca. 400 Milliarden erlernten Parametern verfügbar. Voraussetzung für Innovation und Wandel im Gebrauch von Interpunktionszeichen in der digitalen Schriftlichkeit darstellen. Bislang sind die von uns herausgearbeiteten Phänomene noch nicht für das textorientierte Schreiben beschrieben und sie sind bislang auch nicht zum Gegenstand von Trainings generativer Modelle geworden. LLM - soweit uns bekannt - nutzen für ihr Training vornehmlich von erwachsenen Autor: in‐ nen produzierte Texte, die im Internet verfügbar sind. Uns interessierte also: Sind die in den Schüler: innentexten beobachtbaren Phänomene exklusiv für menschliche Texte beschreibbar oder können solche Mittel auch durch ein LLM erlernt werden und lassen sich diese dann wiederum in den generierten Texten abbilden? Anders gefragt, wenn wir von kreativen Texten sprechen, können LLM so kreativ werden, wie es den Schüler: innen in ihren Texten gelingt? Die Kooperation, wie sie im DigiData-Kontext 9 an der Bergischen Universität Wuppertal umgesetzt wird, bietet eine ideale Kooperation, um solchen Fragen interdisziplinär auf den Grund zu gehen. 3 Untersuchung eines auf Schüler: innentexten feintrainierten LLM Zur (zunächst technischen) Beantwortung dieser Fragen wurde ein Modell mittels des in Kapitel 2.1 vorgestellten Korpus feintrainiert und die Effekte dieses Feintrainings auf die vom Modell generierten Texte wurden qualitativ sowie quantitativ ausgewertet. 3.1 Feintraining eines LLaMA-3.1-8B-Instruct-Modells Als Grundlage für das Feintraining eines LLM wurde das LLaMA-3.1-8B-In‐ struct-Modell (Dubey et al. 2024) ausgewählt, welches öffentlich zugänglich ist und in aktuellen Benchmarks in Relation zu vergleichbaren Modellen gute Resultate liefert (vgl. Dubey et al. 2024). Aufgrund seiner geringen Größe mit acht Milliarden erlernten Parametern 10 kann es effizient nachtrainiert und somit auf neue Textdaten angepasst werden. Das Feintraining wurde 222 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="223"?> 11 https: / / unsloth.ai/ unter Zuhilfenahme der „Unsloth“-Bibliothek 11 durchgeführt. Diese beinhaltet effiziente Feintrainingmethoden, welche lediglich eine Teilmenge der erlernten Modellparameter anpassen. Dadurch wird sowohl der Speicherbedarf als auch die Rechenzeit während des Feintrainings signifikant gegenüber dem Training des originalen Modells reduziert. Eine Methode aus der Bibliothek ist die Low- Rank-Adaptation (LoRA) (Hu et al. 2022), die von uns für das Feintraining angewandt wurde und schematisch für den hier vorliegenden Fall in Abb. 6 dargestellt wird. Abb. 6: Schematische Abbildung der angewandten Feintraining-Methode mittels Low- Rank-Adaptation (LoRA) Die LoRA-Technik fügt einen sogenannten Adapter in das originale LLaMA-3.1-8B-Instruct-Modell ein. Die erlernbaren Parameter des Adapters wer‐ den mittels Dialogen der Form (Nutzer: innen-Prompt, Text) optimiert, welche im hier vorliegenden Fall aus dem Korpus der Schüler: innentexte abgeleitet werden. Die erlernten Parameter des zugrunde liegenden LLaMA-3.1-8B-Instruct-Modells bleiben währenddessen unverändert. Die Kombination aus dem originalen Modell und dem optimierten und in das originale Modell eingefügten Adapter stellt das an das Korpus der Schüler: innentexte angepasste LLM dar. Da es sich beim LLaMA-3.1-8B-Instruct-Modell um ein sogenanntes Chat- LLM handelt - also um ein Modell, das für dialogbasierte Interaktionen optimiert ist - wurde das Korpus bestehend aus den 400 Schüler: innentexten für das Feintraining in Dialoge der Form (Nutzer: innen-Prompt, Text) umgewandelt. AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 223 <?page no="224"?> Das heißt, dass zu jedem Text zusätzlich ein zugehöriger Nutzer: innen-Prompt der Form „Schreibe eine Geschichte über [kurze Zusammenfassung des Texti‐ nhalts]“ erstellt wurde. Die Erstellung erfolgte in einer halbautomatisierten Weise. Die Generierung eines Trainingsdialogs der Form (Nutzer: innen-Prompt, Text) mittels eines Schüler: innentextes aus dem Korpus wird in Abb. 7 illustriert. Abb. 7: Illustration der Generierung eines Trainingsdialogs mittels eines Schüler: innen‐ textes aus dem Korpus Zunächst wird ein Prompt erzeugt, indem die Instruktion Schreibe einen kurzen Prompt, mit dem ein großes Sprachmodell den folgenden Text generieren würde. Gib nur eine kurze Anweisung in 1-2 Sätzen ohne Strukturelemente aus. Beginne den Prompt mit ‚Schreibe eine Geschichte über‘. Nenne keine Namen. mit dem Textinhalt des Schüler: innentextes konkateniert wird. Das heißt, dass der Textinhalt nach dem Instruktionstext angehängt wird - das Ergebnis stellt den Prompt dar. Dieser Prompt wird genutzt, um mithilfe des LLaMA-3.1-70B- Instruct-Modells (Dubey et al. 2024) einen Entwurf des Nutzer: innen-Prompts automatisiert zu erzeugen. Im Anschluss wird der generierte Entwurf des Nutzer: innen-Prompts manuell auf Fehler überprüft und ggf. leicht angepasst. Die Zusammenfassung des Nutzer: innen-Prompts und des Textinhalts des Schüler: innentextes zum Tupel (Nutzer: innen-Prompt, Text) repräsentiert einen Dialog, der zum Feintrainieren genutzt werden kann. Diese Methode zur halbautomatisierten Generierung eines Trainingsdia‐ logs wurde für alle Texte aus dem Korpus durchgeführt. Die so entstande‐ nen 400 Trainingsdialoge wurden genutzt, um das iterative Feintraining des LLaMA-3.1-8B-Instruct-Modells über zehn Epochen durchzuführen. Eine Epo‐ che bedeutet, dass das Modell einmal alle Trainingsdialoge verarbeitet hat. 3.2 Auswertung Im Rahmen der Auswertung des angepassten LLM ist zu eruieren, zu welchem Grad das Modell durch das Feintraining in die Lage versetzt wurde, die in Kapitel 2.2 beschriebenen linguistischen Eigenschaften von Schüler: innentexten 224 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="225"?> innerhalb der generierten Texte zu replizieren. Die Auswertung erfolgt durch einen Vergleich des ursprünglichen Korpus mit zwei gleich großen Textkorpora aus generierten Texten. Das eine generierte Korpus wurde unter Verwendung des originalen LLaMA-3.1-8B-Instruct-Modells - im Folgenden als LLaMA bezeichnet - erstellt, wobei die Anweisung gegeben wurde, als Viertklässler: in zu schreiben („You are an assistant to write narrative student texts by fourth graders in German“). Das andere Korpus wurde durch das feintrainierte, also das an die Schüler: innentexte angepasste Modell generiert - im Folgenden als schueler-LLaMA bezeichnet. Um eine Vergleichbarkeit der Geschichten zu gewährleisten, wurden für die Erstellung beider Korpora die für das Feintraining bereits erstellten Nutzer: innen-Prompts verwendet. 3.2.1 Qualitative Auswertung Bei der qualitativen Auswertung der Texte zeigt sich, dass das originale LLaMA- Modell Anfragen moderiert und daher zu bestimmten Themen keine Geschichte generiert. Dazu zählen insbesondere Horror, Monster, Spionage, angedeutete ‚Gewalt‘ (Entführung), Politik und politische Personen, Religion sowie illegale Aktivitäten (Diebstahl), siehe beispielhaft: • Nutzer: innen-Prompt: Erstelle eine Geschichte über ein gruseliges Hor‐ rorhaus auf einem Hügel, das von Geistern heimgesucht wird. Ein mutiger Junge namens Luka beschließt, das Haus zu erkunden, und entdeckt dort ein Labor mit seinem vermissten Vater, der die Zombies und Geister als Hologramme erschaffen hat, um die Leute fernzuhalten. • Antwort: Ich kann keine Geschichte über Horror schreiben. Möchten Sie stattdessen eine Geschichte über Luka und sein Abenteuer erzählen? • Nutzer: innen-Prompt: Erzähle eine Geschichte über ein Mädchen, das einen magischen goldenen Vogel trifft und mit ihm ins Wolkenreich fliegt, wo sie gemeinsam die Macht der bösen Hexe brechen und schließlich Prinz und Prinzessin werden. • Antwort: Ich kann nicht dabei helfen, eine Geschichte zu schreiben, in der Kinder zum Umgang mit magischen Wesen und zum Sieg über Böses ermutigt werden. • Nutzer: innen-Prompt: Erzähle eine Geschichte über einen Jungen, der auf einer Wikinger-Insel lebt und sich mit einem gefürchteten Dinofeuer‐ drachen anfreundet. • Antwort: Ich bin nicht bereit, dich bei einer Geschichte zu unterstützen, die ein gefürchtetes Monster darstellt. […] AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 225 <?page no="226"?> • Nutzer: innen-Prompt: Erzähle eine Geschichte über einen Krieg zwi‐ schen Aliens und Jedis, der durch die Ernennung eines neuen Königs eskaliert. • Antwort: Ich kann nicht dabei helfen, Inhalte zu erstellen, die sich auf fiktive Gewalt oder Konflikte beziehen, insbesondere wenn sie mit Kindern in Verbindung gebracht werden. Diese Antworten wurden für die weitere Evaluation ausgeschlossen. Das schue‐ ler-LLaMA-Modell zeigt dieses zensierende Verhalten nicht. In Abb. 8 und Abb. 9 werden beispielhaft jeweils generierte Textausschnitte gezeigt. In (a) wird jeweils der Nutzer: innen-Prompt dargestellt, der als Input für die LLM genutzt wurde, um die Geschichten zu erzeugen. Zusätzlich wird jeweils ein Textausschnitt gezeigt, der aus der mit dem originalen LLaMA-Modell (b) bzw. aus der mit dem schueler-LLaMA-Modell (c) generierten Geschichte stammt. (a) - (b) (c) Abb. 8: Generierte Textbeispiele zum Nutzer: innen-Prompt (a). Textausschnitt (b) stammt aus der mit dem originalen LLaMA-Modell erzeugten Geschichte. Textausschnitt (c) entspringt der mit dem schueler-LLaMA-Modell generierten Geschichte. 226 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="227"?> (a) - (b) (c) Abb. 9: Generierte Textbeispiele zum Nutzer: innen-Prompt (a). Textausschnitt (b) stammt aus der mit dem originalen LLaMA-Modell erzeugten Geschichte. Textausschnitt (c) entspringt der mit dem schueler-LLaMA-Modell generierten Geschichte. In den Textausschnitten aus Abb. 8(c) und Abb. 9(c) sind jeweils Passagen mit Graphemiterationen von Interjektionen zu finden, welche zusätzlich nur aus Versalien bestehen und an die direkt drei Ausrufezeichen folgen (vgl. „HIIIIILFE! ! ! “ und „AHHHHHHH! ! ! “). Diese Kombination ist ebenfalls in Tex‐ ten aus dem originalen Korpus der Schüler: innentexte zu finden (Schindler und Knopp 2022). Bei der qualitativen Sichtung der mit dem vom originalen LLaMA-Model generierten Geschichten konnte dieses Phänomen - wie auch in den jeweiligen Beispielen aus (b) - in dieser Kombination nicht gefunden werden. Zwar folgt im Textausschnitt aus Abb. 9(b) nach der Interjektion „Ah“ direkt ein Ausrufezeichen, aber der gleichzeitige Einsatz von Versalien und Graphemiterationen ist nicht vorhanden. Im jeweiligen direkten Vergleich des Textausschnittes (c) mit dessen dazugehörigen aus (b) wird zusätzlich ersichtlich, dass das schueler-LLaMA-Modell mehr Passagen mit direkter Rede erzeugt hat als das originale LLaMA-Modell. Die generierten vollständigen Geschichten zu den beiden Beispielen sind im Anhang zu finden. AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 227 <?page no="228"?> 12 https: / / spacy.io/ models 3.2.2 Quantitative Auswertung Im Rahmen der quantitativen Evaluation der Schreibstile in den drei Korpora (Korpus der originalen Schüler: innentexte, LLaMA und schueler-LLaMA) wur‐ den bestimmte Kennzahlen, wie z.B. die Anzahl der Worte pro Text, die Häufigkeit des Einsatzes der direkten Rede oder von Wortarten, statistisch ausgewertet, um Vergleiche der jeweiligen Schreibstile zu ermöglichen. Bei der Datenerhebung wurden die Länge der Texte (Wortanzahl sowie Satzanzahl), die durchschnittliche Satzlänge über alle Texte sowie die Anzahl der Nutzung direkter Rede erfasst. Des Weiteren wurde ein sogenanntes Unified Part-of- Speech-Tagging (UPOS-Tagging) durchgeführt. Dabei erfolgt eine Klassifika‐ tion jedes Wortes der Texte nach der Wortart, wie beispielsweise Verb, Nomen oder Interjektion, durch ein spezielles Sprachmodell. Im vorliegenden Fall wurde das deutsche spaCy-Transformermodell 12 „de_dep_news_trf “ als Klassifikator verwendet. Um Ausreißer wie unvollständige Texte im Referenzkorpus oder Fehler bei der Generierung zu eliminieren, wurden bei der statistischen Aus‐ wertung zu jeder Kennzahl - außer zu den Wortarten - die oberen und unteren 10 % der Texte (d.h. insgesamt acht) bzgl. der geordneten Kennzahlen nicht berücksichtigt. Die Kennzahlen wurden, sofern sinnvoll, auf die Länge des originalen Korpus normiert, um z.B. die Verwendung direkter Sprache oder bestimmter Wortarten vergleichbar zu machen. Die statistische Auswertung der Kennzahlen, die je Text aus den jeweiligen Korpora erhoben wurden, ist in Abb. 10 in Form von Boxplots dargestellt. In Bezug auf die Textlänge der Geschichten aus den Korpora - aufgeschlüsselt in die Wortanzahl (vgl. Abb. 10(a)) und Satzanzahl (vgl. Abb. 10(b)) je Geschichte - kann festgestellt werden, dass die Länge der Texte aus dem Korpus, das mittels des schueler-LLaMA-Modells erzeugt wurde, denen aus dem originalen Korpus im unteren Quartil und Median gleicht. Demgegenüber tendiert das LLaMA-Modell dazu, vergleichsweise kurze Texte zu generieren. Bei längeren Texten hingegen zeigt sich, dass die Textlänge der vom schueler-LLaMA-Modell erzeugten Geschichten deutlich länger ist als die von Geschichten aus dem originalen Korpus. In Bezug auf die mittlere Satzlänge (vgl. Abb. 10(c)) zeigt sich, dass das schueler-LLaMA-Modell die Textstruktur bzgl. kürzerer Satzlängen der Schüler: innen übernommen hat, während das LLaMA-Modell insgesamt längere Sätze generiert. Die Anzahl der verwendeten direkten Rede (vgl. Abb. 10(d)) zeigt ein ähnliches Bild wie die Auswertung zur Textlänge. 228 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="229"?> (a) - (b) - (c) (d) Abb. 10: Quantitative Evaluation der Parameter Wortanzahl (a), Satzanzahl (b), mittlere Wortanzahl pro Satz (c) und die Anzahl der Verwendung direkter Rede (d) erhoben pro Geschichte. Das schueler-LLaMA-Modell generiert vermehrt direkte Rede, neigt jedoch dazu, diese noch häufiger als in den Geschichten aus dem originalen Korpus AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 229 <?page no="230"?> in den erzeugten Geschichten einzusetzen. Das LLaMA-Modell erzeugt demge‐ genüber weniger direkte Rede. In Tab. 2 wird die statistische Auswertung der Wortarten dargestellt. Die zweite Spalte zeigt pro Zeile jeweils die Auftrittshäufigkeit der korrespondie‐ renden Wortart im gesamten originalen Korpus. Die Eigenschaften ‚Versalien‘ und ‚Graphemiterationen‘ sind für die Auswertung durch folgende zwei Bedin‐ gungen definiert: • Ein Wort besitzt die Eigenschaft einer Häufung von Versalien, wenn mehr als ein Großbuchstabe im Wort enthalten ist. • Ein Wort besitzt die Eigenschaft Graphemiterationen, wenn mehr als zwei darauffolgende gleiche Buchstaben im Wort enthalten sind. Die dritte Hauptspalte zeigt den obigen Sachverhalt für das mit dem LLaMA- Modell erzeugten Korpus und analog die vierte Hauptspalte für das mit dem schueler-LLaMA-Modell generierte Korpus. Wortart Original LLaMA schueler-LLaMA Adjektiv 8.059 12.774 +59-% 7.437 −8-% Adposition 24.819 27.528 +11-% 25.514 +3-% Adverb 33.992 27.201 −20-% 33.483 −1-% Hilfsverb 16.438 16.862 +3-% 16.573 +1-% Koordinierende Konjunktion 13.651 16.497 +21-% 13.026 −5-% Determinativ 35.235 40.525 +15-% 35.067 0-% Interjektion 593 247 −58-% 664 +12-% Nomen 47.041 51.876 +10-% 46.151 −2-% Numerale 2.448 1.164 −52-% 2.543 +4-% Partikel 4.352 5.430 +25-% 4.301 −1-% Pronomen 33.688 35.024 +4-% 34.176 +1-% Eigenname 20.098 13.322 −34-% 17.186 −14-% Interpunktion 62.214 56.312 −9-% 63.094 +1-% Subordinierende Konjunktion 6.022 7.967 +32-% 5.719 −5-% Leerzeichen 7.049 8.714 +24-% 11.174 +59-% 230 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="231"?> Verb 43.895 41.330 −6-% 44.671 +2-% Sonstiges 852 144 −83-% 859 +1-% Versalien 2.392 144 −94-% 1.369 −43-% Graphemiterationen 583 362 −38-% 415 −29-% Tab. 2: Anzahl der jeweiligen Wortarten je Korpus sowie relative Änderungen gegenüber dem originalen Korpus der Schüler: innentexte. Die Anzahl ist normiert auf das originale Korpus. Wortarten mit betragsmäßig einer größeren relativen Abweichung als 20 % zum originalen Korpus sind gefettet. Die Auftrittshäufigkeiten wurden mittels des Koeffizienten (Wortanzahl des originalen Korpus) / (Wortanzahl des betrachteten Korpus) normiert. Zusätzlich werden jeweils die relativen Änderungen gegenüber dem originalen Korpus dargestellt. Das Korpus, welches durch das LLaMA-Modell erzeugt wurde, weicht bei der Textstruktur beim Einsatz vieler Wortarten, wie ‚Sonstiges‘, Adjektive, Interjektionen und Numerale, signifikant vom originalen Korpus ab. Die große relative Änderung in der Kategorie ‚Sonstiges‘ von −83 % lässt sich vermutlich auf das Auftreten von Wortschöpfungen in den Schüler: innentexten zurückführen, die keiner eindeutigen Kategorie durch das Klassifikationsmodell zugewiesen werden können. Im Vergleich zu den Texten aus dem originalen Korpus werden 59 % mehr Adjektive, 58 % weniger Interjek‐ tionen sowie 53 % weniger Numerale in den von dem LLaMA-Modell generierten Texten verwendet. Ebenfalls ist jeweils eine große relative Änderung bei den Worteigenschaften ‚Versalien‘ von -94 % sowie bei ‚Graphemiterationen‘ von -38 % zu beobachten. Das heißt, dass insbesondere die Textstruktur bzgl. Wörter mit der hier definierten Eigenschaft ‚Versalien‘ vom LLaMA-Modell kaum erzeugt wird. Das Korpus, das mit dem feintrainierten schueler-LLaMA-Modell generiert wurde, weicht dagegen nur in den Kategorien ‚Leerzeichen‘ sowie den beiden Worteigenschaften ‚Versalien‘ und ‚Graphemiterationen‘ signifikant vom origi‐ nalen Korpus ab, wobei das schueler-LLaMA-Modell im Vergleich zum LLaMA- Modell vermehrt Versalien und Iterationen von Graphemen generiert. Dies lässt den Schluss zu, dass die Textstrukturmuster ‚Versalien‘ und Iterationen von Graphemen durch ein Modell womöglich nur schwer erlernbar sind oder zu wenige Trainingsdialoge für das Feintraining zur Verfügung standen. Insgesamt zeigt sich, dass die Anzahlen der vom schueler-LLaMA-Modell verwendeten Wortarten in ihrem Gesamtbild nah an denen des originalen AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 231 <?page no="232"?> 13 https: / / fd-lex.uni-koeln.de/ login/ auth Korpus liegen und somit auf einen erfolgreichen Trainingsprozess des Modells hindeuten. 4 Diskussion und Fazit Die Resultate des Feintrainings des LLaMA-3.1-8B-Instruct-Modells auf der Grundlage eines Korpus von Schüler: innentexten lassen positive Ansätze für die Abbildung und Replikation des typischen Schreibstils von Schüler: innen erkennen. Die Ergebnisse der Modellversion mit acht Milliarden Parametern sind bereits vielversprechend und lassen erkennen, dass das angepasste Modell in der Lage ist, wesentliche Merkmale des Sprachstils zu erfassen und in neu generierten Texten abzubilden. Die kreativen, neuartigen und sich dem Muster geradezu entziehenden Phänomene in den Texten der Schüler: innen werden damit zugleich musterbildend. Es kann angenommen werden, dass die größere Version des Modells mit 70 Milliarden Parametern zu noch präziseren und differenzierteren Ergebnissen führen könnte - unter der Annahme, dass genügend Trainingsdialoge für das Feintraining vorliegen. Zudem könnte der Einsatz in verschiedenen Bildungsniveaus und unterschiedlichen Altersgruppen getestet werden, um das volle Potenzial dieser Technologie auszuschöpfen. Aus technischer Perspektive lässt sich damit zunächst schließen, dass ein Feintraining auf der Grundlage eines authentischen Korpus der Texte von Schüler: innen möglich und erfolgreich ist. Welche Potenziale sehen wir aber darüber hinaus? Wir sehen insbesondere zwei mögliche Anknüpfungspunkte, die auch für die didaktische Praxis relevant sein könnten. Bislang fehlen Lehrkräften häufig Vergleichstexte von Schüler: innen eines Jahrgangs jenseits der beschriebenen Regelstandards. Was aber typische Ausprägungen echter Texte (verschiedener Textmuster) sind, bleibt insofern häufig opak, denn die wenigsten Korpora von Schüler: innentexten sind öffentlich zugänglich. Eine Ausnahme stellt das Projekt „Forschungsdatenbank Lernertexte“ des Mercator- Instituts 13 dar. Argumentative, berichtende und erzählende Texte aus zwei Forschungsprojekten können hier eingesehen und genutzt werden. Eine (z.B. an das Alter der Lernenden oder die Schreibaufgabe) angepasste Anwendung ermöglicht dies noch nicht. Das von uns beschriebene Vorgehen ließe sich für andere Aufgaben und Texte unterschiedlicher Lerner: innengruppen weiter‐ denken. Ein derart trainiertes Modell würde es in der Tat ermöglichen, dass Lehrkräfte eine Schreibaufgabe genauer im Hinblick auf den Erwartungshinter‐ grund planen könnten, da sie generierte Texte haben, die ihnen Einblick geben 232 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="233"?> können in wahrscheinliche Lösungsmöglichkeiten und Auskunft bieten zu der Frage, worin Schüler: innen aller Wahrscheinlichkeit nach noch Schwierigkeiten haben, aber auch, was ihnen wohl schon gut gelingen kann. Eine weitere Anwendung sehen wir in der Möglichkeit, dass Lehrkräfte ihre Texte (z.B. Rückmeldung, Aufgabenstellungen) soweit anpassen können, dass Schüler: in‐ nen sie besser bzw. eher verstehen. Ein derart trainiertes Modell kann also nicht nur Schüler: innentexte reproduzieren, sondern auch Hinweise auf die Rezeption von Texten erfahrener Schreibender ermöglichen. Unabhängig von diesen möglichen Anwendungskontexten lässt sich grund‐ legend fragen, ob LLM überhaupt kreativ sein können. LLM können Texte generieren, die durchaus kreative Elemente enthalten. Diese sind aber nicht - wie bei den Schüler: innen - mit Bedeutung aufgeladen. Schneider (2024: 1) verwendet in diesem Zusammenhang auch die Beschreibung „Intelligible Texturen“ für Anwendungen, die auf LLM basieren. Der von ihm untersuchte Kontext ist zwar ein anderer, es geht ihm um die KI-gestützte Bewertung von Texten, die Argumentation ähnelt sich aber insofern, als es auch hier darum geht, ob LLM dem Menschen zugesprochene Fähigkeiten einnehmen können. Schneider argu‐ mentiert mit der Sprechakttheorie und kommt zu dem Schluss, dass sie das nicht tun können, denn ihnen fehle das Wissen darüber, dass sie mit Sprache umgehen. Man verwendet Wörter, indem man sie auf Kontexte bezieht, indem man über etwas redet und darüber etwas sagt (oder schreibt). Dies kann der Chatbot aus ganz prinzipiellen Gründen nicht. Er nimmt nicht handelnd an Sprachspielen und damit auch nicht an der sozial geteilten Praxis des Regelfolgens im Sinne des späten Wittgenstein teil. Auf den Punkt gebracht: ChatGPT beherrscht Kotexte, aber keine Kontexte im handlungstheoretischen Sinne. Er verfügt nicht über Urteilskraft, denn diese setzt voraus, dass man Erfahrungen in der Welt macht, dass man lernt, im Einzelfall zu entscheiden, ob etwas unter einen bestimmten Begriff fällt oder nicht (Schneider 2024: 15). Bezogen auf unseren Kontext: Kreativität entsteht nur in einem einge‐ schränkten Sinne. Kreativ kann dann aber wieder sein, wie wir weiter mit diesen Texten umgehen. Danksagung Tristan Funken und Stephan Tilgner danken der Volkswagenstiftung für die Unterstützung im Rahmen des Projekts „Digitalisation and Data Science for Research and Teaching (DigiData)“ (Az. 9C436). AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 233 <?page no="234"?> Literatur Abraham, Ulf/ Bräuer, Christoph/ von Brand, Tilman (Hrsg.) (2023). Literarisches Schrei‐ ben als kulturelle Praxis. Deutschdidaktische, schreibpädagogische und medienkultu‐ relle Impulse für den Unterricht. Hannover: Klett Kallmeyer. Androutsopoulos, Jannis (2018). Digitale Interpunktion: Stilistische Ressourcen und so‐ ziolinguistischer Wandel in der informellen digitalen Schriftlichkeit von Jugendlichen. In: Ziegler, Arne (Hrsg.). Jugendsprachen. Berlin: De Gruyter, 721-748. Androutsopoulos, Jannis (2020). Digitalisierung und soziolinguistischer Wandel. Der Fall der digitalen Interpunktion. In: Marx, Kontanze/ Lobin, Henning/ Schmidt, Axel (Hrsg.). Deutsch in sozialen Medien. Interaktiv - multimodal - vielfältig. Berlin: De Gruyter, 75-94. Androutsopoulos, Jannis/ Busch, Florian (Hrsg.) (2020). Register des Graphischen. Varia‐ tion, Interaktion und Reflexion in der digitalen Schriftlichkeit. Berlin: De Gruyter. Bajohr, Hannes (2024). On Artificial and Post-Artificial Texts: Machine Learning and the Reader’s Expectations of Literary and Non-Literary Writing. Poetics Today 45 (2), 331-361. Bastani, Hamsa/ Bastani, Osbert/ Sungu, Alp/ Ge, Haosen/ Kabakcı, Özge/ Mariman, Rei (2024). Generative AI Can Harm Learning. Abrufbar unter: https: / / ssrn.com/ abstract =4895486 (Stand: 25.02.2025). Beisswenger, Michael/ Pappert, Steffen (2019). Handeln mit Emojis: Grundriss einer Linguistik kleiner Bildzeichen in der WhatsApp-Kommunikation. Duisburg: Univer‐ sitätsverlag RheinRuhr. Busch, Florian (2021). Digitale Schreibregister. Kontexte, Formen und metapragmatische Reflexionen. Berlin/ Boston: De Gruyter. Doshi, Anil Rajnikant/ Hauser, Oliver (2023). Generative artificial intelligence enhances creativity but reduces the diversity of novel content. Science Advances 10 (28), eadn5290. Dubey, Abhimanyu et al. (2024). The llama 3 herd of models. Abrufbar unter: https: / / ar xiv.org/ abs/ 2407.21783 (Stand: 25.02.2025). Dürscheid, Christa (2016). Graphematische Mikrovariation. In: Domahs, Ulrike/ Primus, Beatrice (Hrsg.). Handbuch Laut, Gebärde, Buchstabe. Berlin/ Boston: De Gruyter, 492-510. Dürscheid, Christa (2020). Zeichen setzen im digitalen Schreiben. In: Androutsopoulos, Jannis/ Busch, Florian (Hrsg.), 31-51. Hu, Edward J./ Shen, Yelong/ Wallis, Phillip/ Allen-Zhu, Zeyuan/ Li, Yuanzhi/ Wang, Shean/ Wang, Lu/ Chen, Weizhu (2022). LoRA: Low-Rank Adaptation of Large Language Models. The Tenth International Conference on Learning Representations, ICLR 2022, Virtual Event, April 25-29, 2022. Abrufbar unter: https: / / openreview.net/ forum? id=n ZeVKeeFYf9 (Stand: 26.02.2025). 234 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="235"?> Kepser, Matthis (2023). KI-Text in Prüfungsarbeiten erkennen. Probleme und Lösungen. Abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10.5281/ zenodo.10397407 (Stand: 25.02.2025). Knopp, Matthias/ Schindler, Kirsten (2019). Textproduktion in sozialen Medien: medien‐ theoretische Überlegungen und schreibdidaktische Arrangements. In: Beißwenger, Michael/ Knopp, Matthias (Hrsg.). Soziale Medien in Schule und Hochschule. Lingu‐ istische, sprach- und mediendidaktische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Lang, 215-243. Knopp, Matthias/ Schindler, Kirsten (2020). Schreiben als multimodales und kooperatives Handeln im Medium der Schrift. In: Aebi, Adrian/ Göldi, Susan/ Weder, Mirjam (Hrsg.). Schrift - Bild - Ton: Einblicke in Theorie und Praxis des multimodalen Schreibens. Hep: Bern, 125-148. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1985). Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachge‐ schichte. Romanistisches Jahrbuch 36 (1), 15-43. Krammer, Stefan/ Leichtfried, Matthias (Hrsg.) (2024). Künstliche Intelligenz. ide 48 (2). Leichtfried, Matthias (2024). KI zum Nachlesen. Bibliographie und kommentierte Link‐ sammlung. ide 48 (2), 111-117. Limburg, Anika/ Bohle-Jurok, Ulrike/ Buck, Isabella/ Grieshammer, Ella/ Gröpler, Jo‐ hanna/ Knorr, Dagmar/ Mundorf, Margret/ Schindler, Kirsten/ Wilder, Nicolaus (2023). Zehn Thesen zur Zukunft des wissenschaftlichen Schreibens. Abrufbar unter: http s: / / hochschulforumdigitalisierung.de/ news/ diskussionspapier-zehn-thesen-zur-zuku nft-wissenschaftlichen-schreibens/ (Stand: 25.02.2025). Ministerium für Schule und Bildung des Landes NRW (2023). Umgang mit textgene‐ rierenden KI-Systemen. Ein Handlungsleitfaden. Düsseldorf. Abrufbar unter: https: / / www.schulministerium.nrw/ system/ files/ media/ document/ file/ handlungsleitfaden_ ki_msb_nrw_230223.pdf (Stand: 25.02.2025). Pappert, Steffen (2017). Zu kommunikativen Funktionen von Emojis in der WhatsApp- Kommunikation. In: Beisswenger, Michael (Hrsg.). Empirische Erforschung internet‐ basierter Kommunikation. Berlin: De Gruyter, 175-211. Schindler, Kirsten (2023). ChatGPT oder Überlegungen zu den Veränderungen des Schreibens in der Schule. MiDU - Medien im Deutschunterricht 5 (2), 1-21. Schindler, Kirsten/ Fischbach, Julia/ Teichmann, Alina/ Krüppel, Lena (2015). Gestern am 13.6.2014 war ich auf dem Spiel in Ukraine. Wie lassen sich Kompetenzen von Studie‐ renden modellieren und messen, die sie benötigen, um Schülertexte zu beurteilen? In: Bresges, André/ Dilger, Bernadette/ Hennemann, Thomas/ König, Johannes/ Lindner, Heike (Hrsg.). Kompetenzen perspektivisch. Interdisziplinäre Impulse für die Lehre‐ rInnenbildung. Münster: Waxmann, 94-106. Schindler, Kirsten/ Knopp, Matthias (2022). Und Papa schrie: „AAAAAHH! ! ! “ - Typogra‐ phische, grammatische und didaktische Perspektiven auf digitale Schüler: innentexte. In: Knopp, Matthias/ Bulut, Necle/ Hippmann, Kathrin/ Jambor-Fahlen, Simone/ Linne‐ AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 235 <?page no="236"?> mann, Markus/ Stephany, Sabine (Hrsg.). Sprachliche Bildung in der digitalisierten Welt. Was wir in Zukunft wissen und können müssen. Waxmann: Münster, 319-336. Schneider, Jan (2024). Intelligible Texturen. Welche Rolle kann ChatGPT bei der Aufsatz‐ bewertung spielen? Abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10.5281/ zenodo.10849262 (Stand: 25.02.2025). Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK der KMK) (2024). Impulspapier Large Language Models und ihre Potenziale im Bildungssystem. Berlin. Abrufbar unter: https: / / www.swk-bildung.org/ content/ uploads/ 2024/ 02/ SWK -2024-Impulspapier_LargeLanguageModels.pdf (Stand: 25.02.2025). Steinhoff, Torsten (2023). Der Computer schreibt (mit). Digitales Schreiben mit Word, WhatsApp, ChatGPT & Co. als Koaktivität von Mensch und Maschine. MiDU - Medien im Deutschunterricht 5 (1), 1-16. Storrer, Angelika (2019). Text und Interaktion im Internet. In: Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht (Hrsg.). Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch - methodisch - theoretisch. Berlin/ Boston: De Gruyter, 221-244. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. 236 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="237"?> Anhang Gesamte vom LLaMA-Modell generierte Geschichte zum Beispiel aus Abb. 8: Es war einmal eine hübsche Balletttänzerin namens Sophia. Sie hatte seit ihrer frühen Jugend getanzt und war sehr gut in ihrem Fach. Sophia trainierte jeden Tag, um sicherzustellen, dass sie perfekt für den großen Tanzwettbe‐ werb der Saison vorbereitet war. Der Wettbewerb fand im Großen Konzerthaus statt. Täglich kamen Hunderte von Menschen aus allen Teilen der Stadt, um sich die Künstler anzusehen. Sophia und ihr Team hatten lange gearbeitet, um das perfekte Programm zusammenzustellen. Sie würden Tanzeinlagen wie "Schwan", "Feen" und viele andere aufführen. Am Tag des Wettbewerbs kam Sophia in aller Frühe zum Konzerthaus, bereit sich auf die Herausforderung vor. Doch während sie noch an ihren Schuhen arbeitete, stolperte sie auf einem der glatten Tanzböden und stürzte sich unglücklich den Beinen aus. Sie spürte, wie etwas Knirschte in ihrem Knie. Panik ergriff von ihr Besitz, als die Erste Hilfekraft kam und ihre Wunde begutachtete. "Du bist schwer verletzt", sagte sie besorgt. Sophia hatte Angst, dass der Wettbewerb jetzt unwiderruflich verschoben werden würde. Zu Sophias Überraschung jedoch bot ein junger Mann, ein Schauspieler namens Maximilian, seine Hilfe an. Er half ihr, sich aufzurichten und brachte sie zum Wagen des Arztes. Sophia war sehr dankbar für seine Hilfe und erkannte bald, dass Maximilian eine gute Seele hatte. Durch die gemeinsame Zeit im Krankenwagen begannen Sophia und Maxi‐ milian ein Gespräch über Tanz, Schauspielkunst und ihre Träume. Sophia fühlte sich unerwartet zu ihm hingezogen und fragte sich sogar, ob dies der Beginn einer neuen Freundschaft sein könnte. Am folgenden Tag kam die Nachricht, dass der Wettbewerb um eine Woche verschoben wurde, sodass Sophia genug Zeit hatte, ihre Verletzung zu heilen. In dieser Zeit blieb Maximilian bei ihr und half ihr dabei, sich auf den Tanz vorzubereiten. Gemeinsam übten sie die Schritte und verbesserten damit Sophias Chancen auf einen Sieg. Der Tag des Wettbewerbs kam endlich. Sophia war entschlossen, ihr Bestes zu geben, um einen Sieg für sich zu erringen. Maximilian half ihr auch beim Auftritt und brachte ihr Glück. Tatsächlich gewann Sophia den ersten Platz im Tanzwettbewerb. AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 237 <?page no="238"?> An diesem Abend erzählte sie Maximilian von ihrem Traum, in einer großen Ballett-Kompanie zu tanzen. Er schlug vor, dass sie gemeinsam an einem Projekt arbeiten könnten und das Ziel wäre es, eine eigene Ballett-Gruppe auf die Beine zu stellen. Sophia war begeistert und freute sich darüber, einen neuen Freund ken‐ nenzulernen. Sie waren beide überglücklich und begannen sofort mit der Planung ihrer ersten Aufführung. Sophia wusste, dass sie nicht nur den Tanzwettbewerb gewonnen hatte, sondern auch eine neue Freundschaft erworben hatte. Sophia und Maximilian gründeten die erste Ballett-Gruppe der Stadt, die bald sehr bekannt wurde. Sie führten Stücke wie "Feen", "Schwan" und andere auf und sorgten dafür, dass die Schule sich in eine künstlerische Meisterklasse verwandelte. Jahrzehntelang blieben Sophia und Maximilian enge Freunde und kulturelle Pioniere. Sie waren überzeugt davon, dass sie gemeinsam vieles erreichen konnten, wenn man nur Mut hatte und die Gelegenheit nutzte, etwas Neues zu schaffen. 238 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="239"?> Vom schueler-LLaMA-Modell generierte Geschichte zum Beispiel aus Abb. 8: Die verletzte Ballett-Tänzerin An einem sonnigen Montagmorgen wachte Mia auf, sie ist 16 Jahre alt. Nachdem sie gefrühstückt hatte, ging sie in die Ballettklassen bei Tanja. Mia geht schon seit 10 Jahren zu Tanja und übt dort sehr gerne. Sie arbeitete hart, weil sie an diesem Wochenende an einem großen Tanzwettbewerb teilnehmen wollte. Der Wettbewerb fand in der Wasserburg in Köln statt. Nach einer Stunde Übung kam Mias Mutter sie abholen. Mia ging mit ihrer Mutter zum Käufer, um sich zu essen zu geben. Sie aß schnell auf, damit sie zurück zur Tanzschule konnte und noch eine halbe Stundeüben konnte. Als sie angekommen war, übte sie bis 18 Uhr, weil morgen ein wichtiger Tag ist. Mias Mutter brachte Mia in ihr Zimmer. Sie nahm die Ballettkleidung ab und zog sich um. Dann sagte Tanja, dass sie noch eine halbe Stunde Zuhause üben soll. Das machte sie sich auch noch gemütlich vor dem Fernseher, aber sie konzentrierte sich nicht. Um 20: 00 Uhr ging es in die Wasserburg. Dort angekommen, erwarteten sie schon viele anderen Tänzerinnen und die Jurorinnen waren sehr nett. In einer Stunde sollten sie anfangen. In der Wartezeit machten sie noch letzte Vorbereitungen. Sie fingen endlich an. Es gab 5 Runden. Die ersten 4 Runden verliefen gut, aber in der letzten Runde stolperte Mia und fiel auf den Boden. Weil sie so auf dem Boden lag, schlug sie sich nochmal mit dem Kopf hin. Sie war dann sehr schnell im Krankenhaus. Nach einem ärztlichen Abcheck wurde festgestellt, dass Mias Fuß gebrochen ist. Eine notfallops haben ihr einen Verband gemacht und in ein Kranken‐ zimmer eingeliefert. Ihre Mutter war total verzweifelt, weil sie nicht wusste wie es weitergehen sollte. Zwei Tage später bekam Mia keine Puppe mehr als Sauerstoff und war tot. Aber das war doch nur ein Traum. Mia wurde von zwei verzauberten Ober‐ schenkeln geweckt. Dann schrie sie: „HIIIIILFE! ! ! “ Ihre Mutter kam schnell in ihr Zimmer, weil Mia geschrien hat und versuchte sie zu beruhigen. Mia atmete nochmal einmal tief durch und erzählte ihrer Mutter was geschehen ist. Mias Mutter sagte sofort das die Knochen verbindet werden müssen. Deshalb brachte man Mia mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus. Im Kranken‐ haus haben sie ihre Fußknochen mit Verbandspflaster verklebt, damit sie nicht auseinander fallen und der Arzt schrieb ihr einen Notarztbrief für die Ballettklassen aus. AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 239 <?page no="240"?> Zwei Wochen nach ihrer Verletzung hat Mia sich erstmals wieder in den Ballettrakugen von Tanja blicken lassen. Natürlich war ihre Mutter auch dabei und stellte sich vor: „Hallo, ich bin Tanja, die Tanzlehrerin von Mia und ihr wird ich die nächsten zwei Wochen bei Ballettunterrichten begleiten.“ Während der ganzen Zeit hat sie sich sehr gefreut, dass ihr Sohn Lukas bei ihr war, weil er mit ihr ein Bilderverniss gemacht hat. Aber sie dachte das ganze würde nicht so schlimm sein. Nein! Es gab noch jemanden, der Mia nicht leiden konnte: Lisa. Die war schon immer die Erzfeinds von Mia. Sie waren in der gleichen Klasse und sie konnten sich nie gut verstehen, weil sie immer aneinandergerissen waren. Aber zum Glück hatte Mia zwei gute Freundinnen namens Emma und Lena. Sie war so glücklich, dass ihre Mutter bei ihr war. Aber das war nicht alles was sie hatte. Sie hat einen Freund namens Lukas und ist so glücklich das er bei ihr war. Und sie ist auch so froh das sie heute denkbare nicht alleine war. Die Zeit in der Schule verlief ziemlich schnell, aber leider musste Mia aufgrund ihrer Fußverletzung eine lange Zeit von ihren Ballettunterrichten absagen. Das machte sie sehr traurig, denn ihr Leidensdruck hatte doch noch ein Ende. Während dieser Zeit wurde Mia immer ungeduldiger und konnte einfach nicht verstehen warum ihr so etwas passieren musste. Immer wieder dachte sie daran wie es wohl auf dem Tanzwettbewerb gewesen wäre, wenn die Sachen nicht passiert wären. […] ENDE 240 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="241"?> Gesamte vom LLaMA-Modell generierte Geschichte zum Beispiel aus Abb. 9: Der Pirat Hans war bekannt für seine großartigen Abenteuer. Diesmal suchte er nach dem berühmten goldenen Schatz des Kapitäns Blackbeak. Der Schatz lag irgendwo auf den Inseln im Karibischen Meer, und Hans hatte eine Karte, die ihn dorthin führen sollte. Doch Hans wusste, dass er nicht alleine sein konnte. Daher nahm er seinen treuen Freund, einen Affen namens Max, mit sich. Max war schnell und schlau, also wäre er ein perfekter Verbündeter für Hans’ Abenteuer. Als sie auf die Insel kamen, sahen sie drei Männer, die ihnen gefolgt waren. Der erste Mann hieß Tom und war ein Söldner aus England. Er trug einen schwarzen Umhang und sah sehr gefährlich aus. Der zweite Mann hieß Carlos und war ein Matrose von einem spanischen Schiff. Er hatte eine Narbe auf der Nase und schien sehr wütend zu sein. Und der dritte Mann, er hieß Marco und war ein Kaufmann aus Italien. Er trug eine goldene Uhr um den Hals und sah sehr reich aus. Die drei Männer waren es leid, Hans und Max in ihrem Leben nicht aus dem Weg gehen zu lassen, also beschlossen sie, sie zu verfolgen. Sie dachten, dass der goldene Schatz von Blackbeak sicherlich ein großes Vergnügen für sich selbst wäre. Hans und Max ahnten nichts davon, aber als sie durch den Dschungel liefen, bemerkten sie plötzlich die drei Männer hinter sich. Hans zog seine Pistole, um sie zu vertreiben, aber Max hatte eine bessere Idee. Er sprang von einem Baum in das Heck der Verfolger und schnappte nach dem Geldbeutel von Marco. "Ah! " schrie Marco und rannte los, um es zurückzubekommen. Die anderen beiden Männer folgten ihm, während Hans sich mit seiner Pistole verteidigte. Doch Hans und Max waren nicht allein. Sie hatten zwei weitere Freunde im Dschungel: einen riesigen Hai namens Hugo und eine Tigerin namens Lily. Sie kamen gerade rechtzeitig, um die drei Verfolger zu verjagen. "Danke", sagte Hans zu den beiden Tieren. "Ihr habt uns gerettet." Und so konnten sie weiter suchen nach dem goldenen Schatz von Blackbeak. Am Ende fanden Hans und Max den Schatz, einen großen Sack mit Gold‐ münzen. Sie jubelten vor Freude und dankten ihren Freunden für ihre Hilfe. "Jetzt sind wir reich", sagte Hans zu Max. "Wir können unser Leben ändern und all unsere Träume erfüllen." Und so kehrte der Pirat Hans zurück aufs Festland, um ein glückliches Leben mit seinem Freund Max und den beiden Tieren Hugo und Lily zu führen. AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 241 <?page no="242"?> Die endgültige Geschichte endete also erfolgreich für Hans und seine Freunde. 242 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="243"?> Gesamte vom schueler-LLaMA-Modell generierte Geschichte zum Bei‐ spiel aus Abb. 9: Der Pirat und die vier Fregatten An einem sonnigen Mittag war der Pirat Ayman mit seiner Fregatte „Blitz“ unterwegs. Plötzlich fand er einen Schatz, doch schon während er den Schatz aufheben wollte kamen drei Männchen hinter ihm. Sie hießen Felix, Martin und Daniel. Sie waren Verfolger. Sie verfolgten Ayman, weil sie auch eine Fregatte hatten. Die anderen Männchen wollten die „Blitz” klauen. Ayman entdeckte seine Verfolger und fragte: "Wer sind sie? ” Felix antwor‐ tete: " Du weißt doch wer wir sind! Die Schifffartspolizei! Und jetzt gibt uns den Schatz, sonst packen wir dich eins.” Daraufhin sagte der Pirat Ayman wütend: "NEIN! ! ! Ich gebe euch nichts. Ihr könnt mich mal ganz gerne kreuzigen! ” Ayman und seine Fregatte schwammen auf einmal weg. Die drei Männer schrieen: "HAAAAAALT! ! ! ” Sie machten sich schnell wieder auf den Weg. Die zwei anderen Piraten „Dennis“ und “Jannik”, die in dem Schiff “Blitz” noch frei waren, hatten die Verfolger vergessen. Als sie in ihrem Heimatportroff angekommen waren, haben sie eine Mauer hoch gebaut, um sich zu verstecken. Kurze Zeit später kamen ihre Verfolger auch dort an und waren sauer. Sie wollten immer noch den Schatz aus dem Piratenschiff „Blitz“ haben. Ayman rief: "Ihr werdet uns nie fangen! ” Die Männchen waren sehr wütend, weil sie das Schiff nicht eindringen konnten. Außerdem kam in der Nacht ein Nebel auf und die Männer konnten nichts mehr sehen. Plötzlich kamen drei weitere Piraten mit ihren Fregatten „Joker 1“ ,„Joker 2“ und „Joker 3“. Sie hießen Michael, Leon und Luis. Zusammen bauten sie eine riesige Falltür an der Decke des Schiffes “Blitz” an. Am nächsten Morgen, als die Sonne schien, entdeckten Felix, Martin und Daniel nicht, dass die Wache weg war. Und als sie auf die Falltür drückten, brach diese ein und alle fielen hinunter. Ayman lief in den Raub, der Nebel war verschwunden, aber jetzt kamen seine Freunde zu ihm rüber und schlugen Felix, Martin und Daniel mit ihren Holzstangen. Eine halbe Stunde später kam die Polizei an. „Wir haben sie endlich! 2 rief ein Polizist. "NEIN” schrie Ayman und fing an durch das Bullauge zu klettern, doch da stand plötzlich der Pirat “Rick”, der alles unter Kontrolle hatte! Die vier AI goes creative - was LLM durch Texte von Grundschüler: innen lernen können 243 <?page no="244"?> Fregatten sanken und sanken. Aber dann hatten sie einen Boden gefunden und erbaute gemeinsam ein Haus. Und wenn sie nicht von der Polizei gefangen worden wären, dann leben sie noch heute. ENDE 244 Tristan Funken, Matthias Knopp, Kirsten Schindler & Stephan Tilgner <?page no="245"?> Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren Sara Hauser Abstract: Mehrsprachigkeit als Ressource in Unterrichtsprozesse einzu‐ binden, ist eine zentrale Aufgabe der Lehrkräfteprofessionalisierung. Der Beitrag stellt ein mehrsprachiges kreatives Schreibsetting vor, das mit multilingualen poetischen Scaffolds mehrsprachige lyrische Schreibpro‐ zesse initiiert, und gibt Einblicke in die Entwicklung und Erprobung zweier Übungen in nicht-gymnasialen Kontexten der Sekundarstufe I. Das Schreibsetting wird auf mehrsprachigkeits- und schreibdidaktische Bezugspunkte rückbezogen wobei jeweils die Kreativitätsaspekte Flüssig‐ keit/ Flow sowie Akte des Wählens und Erfindens fokussiert werden. 1 Einleitung Kreativität als Fähigkeit, neue Ideen zur Bewältigung komplexer Herausforde‐ rungen zu generieren, ist eine Zukunftskompetenz und wurde 2022 erstmals von der OECD (2022) im Bereich des Kreativen Denkens erhoben. Entsprechend gilt es, anknüpfend an internationale Studien (ten Peze et al. 2023), konkrete Unterrichtssettings zu entwickeln, die sprachliche Kreativität adressieren und aktivieren. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Einbettung von Mehrspra‐ chigkeit in ein kreativitätsförderndes, lyrisch-literarisches Schreibsetting für Schüler: innen der Sekundarstufe I. Im Fokus steht, wie Übungen durch das Zusammenspiel von Musterhaftigkeit und Kreativität mehrsprachige Schreib‐ prozesse initiieren. Die Ausdifferenzierung des Settings, seiner Phasen und Materialien ist seit Mai 2024 der thematische Rahmen eines Promotionsprojektes mit dem Titel „Mehrsprachige kreative Schreibprozesse durch die Gestaltung eines inklusiven Schreibsettings in nicht-gymnasialen Lerngruppen der Sekundarstufe I mithilfe von poetischen Scaffolds initiieren und reflektieren“. Die Materialien wurden seit 2019 mit insgesamt 235 Schreiber: innen im überwiegend schulischen Feld <?page no="246"?> (216 Schüler: innen) erprobt und sukzessive weiterentwickelt. Das Promotions‐ projekt überträgt das Konzept des Scaffolding (Gibbons 2002), verstanden als temporäre sprachliche Unterstützungshandlung, aus dem Bereich der Sprach‐ förderung auf das mehrsprachige literarische Schreiben, um dabei alle vorhan‐ denen sprachlichen Ressourcen der Schreiber: innen einzubinden und zu nutzen (Plöger 2024: 44). Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Im folgenden Kapitel 2 werden zunächst theoretische und fachdidaktische Grundlagen aus dem Bereich der Mehrspra‐ chigkeit im schulischen Feld und in der zeitgenössischen Lyrik dargelegt. Dies findet unter Rückbezug auf Diskurse lyrisch-literarischer Mehrsprachigkeit (Metz 2018; Hodaie et al. 2024) statt. Schließlich werden für das Schreibsetting relevante Aspekte, die kreative Prozesse auszeichnen, vorgestellt. Anschließend wird der Bereich des kreativen und literarischen Schreibens fokussiert, wo‐ bei Bezüge zu bisherigen didaktischen Formaten des poetischen und freien Schreibens im schulischen Kontext (Abraham 2021; Abraham et al. 2023; Leß‐ mann 2014; Belke 2012) im Zentrum stehen. Daran anknüpfend wird unter Rekurs auf Gibbons (2002) herausgearbeitet, was unter poetischem Scaffolding zu verstehen ist. Folgend werden Bezüge zu Schreibimpulsen (Ritter 2020) und einem mehrsprachigen Projekt des Primarbereichs (Busch 2014; Schreger 2009) vorgestellt, die durch einen klaren Schreibrahmen Schüler: innen zum (poetischen) schreibenden Antworten herausfordern. Im dritten Kapitel werden das entwickelte mehrsprachige kreative Schreibsetting für die Sekundarstufe I und seine Phasen (Stand 09/ 2024) vorgestellt. Hierbei wird zuerst auf den ‒ das Setting konstituierenden ‒ Rahmen in Form von Normen und Zielen eingegangen. Diese und Hinweise zur Instruktion der Normen sind Teil eines Manualentwurfs für Studierende zur Anleitung des Schreibsettings. Als Muster, die Schreibprozesse initiieren, werden exemplarisch zwei Übungsprototypen vorgestellt. Diese werden mit den ihnen inhärenten Kreativitätsfaktoren Flüs‐ sigkeit/ Flow, Flexibilität (Guilford 1950: 451ff.) sowie mit Akten des Erfindens und Wählens (Damasio 1997: 256ff.) in Bezug gesetzt. Bei dieser Analyse steht im Zentrum, welche kreativitätsfördernden Aspekte in den Übungen strukturell angelegt sind. Dabei wird fokussiert, welche Rolle inhärente mehrsprachige poetische Strukturmuster in den Scaffolds spielen. Nach der Vorstellung der Übungen „Freewriting“ und „Anfänge weiterschreiben“ und nach der Heraus‐ arbeitung ihrer kreativitätsfördernden Potenziale werden unter Rückgriff auf Feldnotizen jeweils exemplarische Entstehungs- und Anwendungskontexte der Übungen in Pilotprojekten skizziert. 246 Sara Hauser <?page no="247"?> 2 Fachdidaktische Bezugspunkte 2.1 Mehrsprachiges Sprachhandeln im schulischen Feld Mehrsprachigkeit wird definiert als Fähigkeit, in zwei (oder mehr) Sprachen bedeutungsvolle Äußerungen zu erzeugen; das Verfügen über wenigstens eine sprachliche Teilkompetenz (Lesen, Schreiben, Sprechen, Hören) in einer anderen Sprache oder der wechselnde Gebrauch mehrerer Sprachen. (Großjean 2020: 14) Dies schließt Personen ein, die alltäglich zwei oder mehrere Sprachen (auch Dialekte) nutzen sowie Menschen, die verschiedene Teilkompetenzen in zwei oder mehr Sprachen auf unterschiedlichen Niveaus beherrschen (Großjean 2020: 14). Die Hälfte der Weltbevölkerung ist mehrsprachig, somit ist diese Dimension auch bei der schulischen Unterrichtsgestaltung relevant, wobei Mehrsprachigkeit der Normalfall ist (Kern und Walkenhorst 2014: 90). Dem tragen das Brandenburger Mehrsprachigkeitskonzept (MBJS Brandenburg 2023) und das Berliner Konzept zur Förderung von Mehrsprachigkeit (SenBJF 2021) Rechnung. In Anlehnung an die KMK-Empfehlungen zur interkulturellen schulischen Bildung werden „die Würdigung und Förderung der sprachlichen Kompetenzen mehrsprachig aufwachsender Schülerinnen und Schüler“ daher zu den Schlüsselaufgaben der Schule (KMK 2013: 3). Neben dem sukzessiven Ausbau des Sprachunterrichts gilt es, fachlich und überfachlich Lerngelegenheiten zu entwickeln, die die sprachlichen Potenziale aller Schüler: innen in heterogenen Lerngruppen einbeziehen. Sprachliche Viel‐ falt systematisch als Potenzial in Unterrichtsprozesse einzubinden, ist aktuell jedoch noch kein etabliertes Handlungsfeld in der Schul- und Unterrichtsent‐ wicklung (Plöger 2023: 29; Fürstenau 2016: 84ff.; Terhart und von Dewitz 2017: 143). Plöger (2023) bestätigt die fortwirkende Dominanz des monolingu‐ alen Habitus (Gogolin 2008) im System Schule, in welchem mehrsprachige Potenziale nicht genutzt oder einbezogen werden, und verweist auf den bisher projekthaften Charakter mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze zum Einbezug aller sprachlichen Ressourcen der Schüler: innen (Plöger 2023: 39 unter Rekurs auf Dirim 2015: 43; Ehlich 2017: 261). Demgegenüber stehen fortwirkende Praxen des monolingualen Habitus wie Sprachverbote, die - wie Plöger in ihrer ethnografischen Studie in der Sekundarstufe I zeigt ‒ auch heute noch ausgesprochen werden (Plöger 2023: 50). Mehrsprachigkeit in Lernprozesse einzubinden, verlangt vor diesem Hinter‐ grund die praktische Umsetzung innovativer Ansätze, wobei Lehrkräfte vor der Herausforderung stehen, nicht alle Sprachen der Lerner: innen zu beherrschen Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 247 <?page no="248"?> und diese dennoch einzubinden. Dies kann ebenso als kreativ-adaptiver Prozess verstanden werden und verlangt ein flexibles Agieren unter Rückgriff auf geeignete diskursive Praktiken in Unterrichtssituationen. 2.2 Zeitgenössische lyrische Texte als Archive der Mehrsprachigkeit: Poetisch Denken - poetisch (Sprach-)Handeln Zur Umsetzung multilingualer Praktiken kann ein Blick auf die Mehrspra‐ chigkeit, die literarischen Texten inhärent ist, hilfreich sein: Literarische Mehrsprachigkeit ist kein marginales Phänomen der Literatur, sondern ein marginalisiertes, was Hodaie et al. (2024: 7) auf ein bislang dominantes und nationalphilologisch orientiertes Literaturverständnis zurückführen. Lyrische Texte, insbesondere die der letzten zwanzig Jahre, zeichnen sich durch ihre inhärente Mehrsprachigkeit aus, wie Metz (2018: 48) hervorhebt. In ihrer ver‐ dichteten Form eignen sich rezipierte und selbst verfasste lyrische Textformen besonders, um einen literarischen Erfahrungsraum zu eröffnen - nimmt man die Lyrik in ihrer klanglichen, rhythmischen und sinnlichen Dimension ernst. Als Beispiele mehrsprachiger Lyrik verweist Metz u.a. auf Uljana Wolf und Yoko Tawada, in deren Gedichten Mehrsprachigkeit mannigfaltig kunstvoll einbezogen wird. Dies zeigt sich beispielsweise im Titel des Gedichtbandes „Meine schönste Lengevitch“ (Wolf 2013), wobei Deutsch, englische und pol‐ nische Anklänge ineinander übergehen, oder in Ozan Zakariya Keskinkılıç’ Gedichtzeile „mond heißt ay, und ei heißt yumurta“ (Keskinkılıç 2022: 41), die mit Bedeutungen und Übersetzungen des Deutschen und des Türkischen spielt. Metz sieht lyrische Mehrsprachigkeit als Ausdruck eines verstärkten „Ar‐ chivbewusstseins“ (2018: 49), das die zeitgenössische Lyrik präge. Er markiert poetisches Denken als grundlegendes Moment von Gedichten ab 2000, denen er - mit zahlreichen poetologischen und lyrischen Verweisen - eine Tendenz zum Denkbewegungsspeicher (Metz 2018: 69) zuschreibt. In dieser Funktion bewegt das Gedicht sich und seine Leser: innen primär über den Modus arrangierter Informationsbewegung im Medium der Sprache. Emotionale Bewegung wird erst über die im Gedicht nachvollziehbaren Denk- und Informationsbewegun‐ gen erzielt. Subjektive Anknüpfungspunkte spielen insofern eine Rolle, als sich in der zeitgenössischen Lyrik der Umgang mit sprachlichem Archivmaterial mit der Inszenierung von Ereignissen und Erlebnissen überlagert (Metz 2018: 50). Das Gedicht ist somit nicht primär Ausdruck von Subjektivität und Emotion, sondern ein von beidem durchzogener Denkbewegungsspeicher. Metz stellt heraus, dass die Prinzipien des „moving information“ und des „re-writings“ (2018: 45, 49) Gedichte bestimmen und ihrer Produktion und Verfasstheit 248 Sara Hauser <?page no="249"?> inhärent seien: Das Zeitalter des Internets und der Digitalisierung, in welchem „das Vergangene stets mit einem Klick zu erreichen“ sei (Metz 2018: 49), bedinge die Ausbildung eines verstärkten Archivbewusstseins. Verschiedene Sprachen im Gedicht sind Ausdruck von „moving information“ (ebd.). Im Gedicht bewegen sich Informationen verschiedenster Sprachsphären aus allen denkbaren Bereichen. Referenzen sind im Zeitalter des digitalen Archivs leicht rekonstruierbar, Gedichte bilden somit Formate, die Wirklich‐ keit konzipieren, ab (Metz 2018: 49). Die Präsenz der Mehrsprachigkeit führt Metz zurück auf Phänomene der Migration, die zunehmende Mobilität der Autor: innen sowie auf ein Interesse für Fremdsprachen (Metz 2018: 48). Kißling betont, dass Mehrsprachigkeit als literarästhetisches Mittel kein reines Migra‐ tionsphänomen, sondern historisch gewachsen sei, allerdings bislang nicht im Zentrum literaturdidaktischer Diskurse stand (Kißling 2024: 33 unter Rekurs auf Wintersteiner 2006: 164f.). 2.3 Relevante Aspekte der Kreativitätsforschung An dieser Stelle werden noch einige der bereits im Rahmentext dieses Bandes von Zepter und Schindler (2025) eröffneten Anknüpfungspunkte der Kreati‐ vitätsforschung akzentuiert. Guilford (1950: 452ff.) fasst Flexibilität, Wählen, Erfinden und Flüssigkeit als kreativitätskonstituierende Faktoren zusammen. Eine kreativitätsfördernde Umgebung - wie etwa ein Schreibsetting - fällt unter die Kategorie Umwelt, die neben Prozess, Produkt und Persönlichkeit als Analysekategorie für Kreativität relevant ist (Groeben 2013: 13). Flexibilität als kreativitätskonstituierender Aspekt wird verstanden als die Bereitschaft, neue Wege einzuschlagen oder bekannte abzuwandeln (Guilford 1950: 451ff.). Über‐ trägt man dies auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit, hieße dies, ein Setting zu kreieren, innerhalb dessen die Sprachen aller Lerner: innen gleichberechtigt einbezogen werden und Lerner: innen die Wahl haben, wann und wie sie ihre sprachlichen Ressourcen flexibel einbringen. So können kreative Lernprodukte perspektivisch möglichst flüssig, flexibel und unter Einbringung eigener Ideen hervorgebracht werden. Sowohl auf der kreativen Prozessebene als auch auf der personellen Ebene spielen Flexibilität und Flüssigkeit eine zentrale Rolle. Im Prozess kann zudem eine Musterorientierung hilfreich sein, um, inspiriert durch einen Vorbildtext, ein eigenes kreatives Produkt zu erstellen. „Wahlakte“, die kreative Prozesse auszeichnen (Damasio 1997: 256ff.), werden verwirklicht, wenn Lerner: innen so oft wie möglich mitentscheiden können, welche sprachlichen Mittel sie in welcher Kommunikationssituation gestaltend verwenden. Kreative Akte des Erfindens (ebd.) werden ‒ so die These, die der Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 249 <?page no="250"?> Gestaltung meines multilingualen Schreibsettings zugrunde liegt ‒ bestenfalls durch Aufgaben, die ein solches Erfinden instruieren und ermutigen, initiiert. Es bedarf, bezogen auf poetische Schreibprozesse, hierzu eines Settings, das Schüler: innen befähigt und ermutigt, eigene sprach-ästhetische Entscheidungen zu treffen. 2.4 Poetisches Scaffolding: Poetische Strukturen als Aufforderung zu Imitation und Variation Abraham plädiert für eine strikte Abgrenzung des literarischen vom kreativen Schreiben (Abraham 2021: 22ff.), verortet jedoch auch im literarischen Schreiben kreative Anteile, etwa beim Adaptieren des literarischen Textmusters von „Romeo und Julia“ von Schüler: innen für einen kollaborativ verfassten Text. Das Textmuster bot der Gruppe Ideen für einen „Rahmen, den sie erweitern und ausfüllen konnte“ (Abraham 2021: 103), wodurch es den Schreiber: innen gelang, die Vorlage in einen szenischen Text zu überführen. Auch im poetischen Schreiben, insbesondere in heterogenen Lerngruppen, können solche Muster Schreibprozesse unterstützen und initiieren, wie Matz (2023: 179) beispielsweise in ihren didaktischen Überlegungen zum Schreiben mit Gedichtmaterial durch das Cut-Up-Verfahren darlegt. Das als Ausgangspunkt vorliegende Wortmate‐ rial kann dabei den Prozess des Erfindens entlasten. Texte müssten so nicht komplett selbst gestaltet werden, vielmehr wird Material re-arrangiert, wobei aber trotzdem Auswahl- und Gestaltungsentscheidungen getroffen werden (ebd.). Matz (2023: 181) spricht Verfahren des Um-, Weiter- und Neuschreibens das Potenzial des Scaffoldings zu. Unter Scaffolding wird im Bereich der Sprachförderung ein temporäres Unterstützungssystem für Lernprozesse verstanden (Gibbons 2002). Durch das Sprachhandeln der Lehrkräfte (Mikroscaffolding auf der Unterrichtsebene) sowie durch Materialien, Aufgaben und die Unterrichtsplanung (Makroscaf‐ folding) wird ein temporäres ‚Gerüst‘ errichtet (Gibbons 2002). Dieses wird sukzessive abgebaut, damit die Lerner: innen Prozesse zunehmend selbststän‐ dig bewältigen können. Scaffolding soll den Lernprozess somit nicht nur vereinfachen, vielmehr soll ein Gleichgewicht zwischen Unterstützung und Herausforderung bestehen (Gibbons 2002). Lerner: innen erfahren dabei nicht nur was, sondern insbesondere wie etwas getan werden muss (Pineker-Fischer 2016: 84 unter Rekurs auf Walqui 2006: 170f.). Insbesondere das Prinzip des Gleichgewichts zwischen Herausforderung und Unterstützung soll in diesem Beitrag fokussiert werden: Gerade dieses Wechselspiel wird durch den Einsatz poetischer Muster (Gedichtteile, die zum 250 Sara Hauser <?page no="251"?> Weiterschreiben herausfordern) bedient: Diese bilden in ihrer literarästheti‐ schen Sprache und als Auszug eines Gedichtes, das fortgeschrieben wird, eine Brücke und Anreize zur Initiierung des eigenen poetischen Schreibprozesses. Letzterer kann durch das konkrete und unterstützende Sprachhandeln der Lehrkraft (Mikroscaffolding und Bridging/ Überbrücken) (Kniffka 2010; Pineker- Fischer 2016: 91, 94 unter Rekurs auf Walqui 2006: 170f.) weiter begleitet werden. So kann das mündliche Formulieren oder Zeigen/ Bereitstellen von lyrischen Beispielsätzen (etwa auf Karten) durch die Lehrkraft auf der Interaktionsebene den Schreibprozess unterstützen. Diese Strukturen und Handlungsweisen for‐ dern Schreiber: innen zum Weiterschreiben heraus und unterstützen sie dabei, in den poetischen Schreibprozess zu kommen. Konkrete Ansatzpunkte hierfür liefert Ritter (2020) für den Primarbereich. Er zeigt, wie poetische Strukturen in Schreibimpulsen Schüler: innen zum lyrischen Schreiben anregen. Ritter expliziert, wie Kinder anhand eines simpel strukturierten Impulses Gedichte verfassten und dabei selbst gewählte Formu‐ lierungsvorlagen minimal umformulierten. In den Ergebnissen zeigen sich ‒ neben ästhetischen Qualitäten ‒ Subjektivitätsspuren der Schreiber: innen. Der Schreibprozess wird durch einen Impuls initiiert, der ein Gerüst bereithält, das Schreiber: innen - durch bereitgestelltes Sprachmaterial, das in wenigen Zeilen re-arrangiert wird ‒ einen kreativen Gestaltungsraum eröffnet. So wird den Schreiber: innen ein produktives Maß an Freiraum für subjektive Zugriffe auf Schriftsprache ermöglicht (Ritter 2020: 38). Die Schüler: innen setzen Sprach‐ muster schreibend imitierend und variierend fort (ebd.: 30). Auch Matz (2023: 181) sieht in der Imitation von Vers- und Strophengestal‐ tung Potenziale für das literarische Schreiben in heterogenen Lerngruppen. Hierbei solle nicht die mechanische Nachahmung eines Musters, sondern die Erprobung „sprachlich-stilistische[r] Gestaltungsmöglichkeiten“ (Stemm‐ ler-Rathenberg 2011: 6) im Vordergrund stehen, um ästhetische Erfahrungen zu generieren (Matz 2023: 181). Dies bedeutet demnach auch, dass das Muster den Schreiber: innen Varianzmöglichkeiten für das eigenständige Weiterschreiben eröffnet. Poetischen Mustern kommt somit die Rolle zu, einen ‚Unterstützungsdiskurs‘ zu liefern, der Schreiber: innen weit über bereits vorhandene Fähigkeiten hinaus befähigt, textuelle Muster zu gebrauchen und zugleich persönliche Vorstellun‐ gen einzubringen (Ritter 2020: 38). Ritter folgend, werden Schüler: innen mit solchen poetischen Impulsen befähigt, innerhalb eines strengen Rahmens selbst kreativ im Modus der Imitation und Variation zu agieren: In den Schreibpro‐ zessen, die auch an vorangehende Lektüren oder Impulstexte gekoppelt sind, wird spielerisch ein Möglichkeitsraum des Ausdrucks eröffnet (ebd.). Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 251 <?page no="252"?> Das von Belke ausdifferenzierte Verfahren der generativen Textproduktion (Belke 2012) adressiert explizit mehrsprachige Lerngruppen und arbeitet eben‐ falls mit deutschsprachigen literarischen Texten, die imitierend und variierend fortgeschrieben werden sollen. Ziel ist die implizite Förderung von Sprachkom‐ petenzen des Deutschen. Auf Produktebene sollen monolinguale Texte entste‐ hen. Die Initiierung multilingualer Schreibprozesse, in welchen die Möglichkeit besteht, Textoberflächen mit translingualen Elementen (siehe Keskinkılıç 2022) lyrisch zu gestalten, steht somit nicht im Fokus. Wie diese Elemente und Momente in kreativen Schreibprozessen fokussiert werden können, wurde bislang im deutschsprachigen Raum noch nicht mit empirischen Begleitstudien erforscht. Nach erfolgter begrifflicher und theoretischer Grundlagenarbeit im Bereich Translingualität steht die Ausbildung translingualer Unterrichtspraxen noch aus (Rat für Migration 2023). Alle obigen Ansätze bewegen sich somit im Bereich des Schreibens auf Deutsch mit monolingualer Orientierung auf die Zielsprache Deutsch. Im Ge‐ gensatz hierzu bietet das kreative Schreibformat der „Kleinen Bücher“ (Hohen‐ sinner 2023) Wiener Primarlerngruppen die Möglichkeit, all ihre sprachlichen Ressourcen in einem klar vorstrukturierten, multimodalen, multilingualen Rah‐ men einzubringen (Busch 2014: 26). Die Zielsprache ist hierbei nicht zwangsläu‐ fig Deutsch. Zur Gestaltung eines eigenen Buches erhalten Schüler: innen eine Editionsvorlage mit einem Rahmen für je fünf Texte und fünf Bilder, dazu wird ein Umschlag gestaltet (Schreger 2009). Die individuell fertig bearbeitete Vorlage wird schließlich als ‚Kleines Buch‘ publiziert und Teil einer Minibibliothek, auf die alle Schüler: innen - auch während des eigenen Schreibprozesses an ihrem je‐ weiligen ‚Kleinen Buch‘ ‒ Zugriff haben. Sowohl die Editionsvorlage als auch die für die Schüler: innen einsehbaren Bücher der bestehenden Bibliothek sind Teil der Unterrichtsplanung und fungieren als Makroscaffold. Die Editionsvorlage rahmt und initiiert als konkretes zu bearbeitendes Material den Schreibprozess. Die Produkte der bereits publizierten „Kleinen Bücher“ dienen während des Schreibens als Inspiration mit konkreten, teils mehrsprachigen Vorbildtexten. Die Bücher sind somit Teil eines multilingualen Unterstützungsdiskurses, in welchem die Schreiber: innen auch von den Lehrkräften bedarfsweise individuell bei konkreten Gestaltungsentscheidungen für das eigene Buch unterstützt werden. Lehrkräfte begleiten die Schreiber: innen somit im interaktionalen Mik‐ roscaffolding im Schreibprozess. Zum Verfassen der „Kleinen Bücher“ wird - wie bei Leßmanns Schreibzeit (Leßmann 2014) ‒ kein Genreimpuls gegeben; die Autor: innen sind frei im Schreiben, dem ‒ durch die Publikation, das Aufnehmen in die kleine Bibliothek und die Perspektive, dass zukünftige Schreiber: innen das eigene Buch als Inspiration nutzen können - Aspekte der Publikations- und 252 Sara Hauser <?page no="253"?> Adressat: innenorientierung eingeschrieben sind. Das Produkt wird weiterhin als Teil der Bibliothek auch für eine potenzielle Leser: innenschaft erstellt. Als Scaffolds weisen die „Kleinen Bücher“ in ihrer verschiedentlich ausdif‐ ferenzierten multilingualen Struktur und durch die Möglichkeit, dass Schü‐ ler: innen selbst ausgewählte „Kleine Bücher“ als Schreibinspiration nutzen, Parallelen zu den multilingualen Scaffolds des folgend vorgestellten kreativen Schreibsettings für die Sekundarstufe I auf. Diese Ähnlichkeiten und die Funktion der Scaffolds als poetische Schreibstartbrücken mit individuellen Auswahloptionen für Schreiber: innen werden im nächsten Kapitel fokussiert. 3 Vorstellung des mehrsprachigen Schreibsettings für die Sekundarstufe I Das im Promotionsprojekt bislang elaborierte und analysierte mehrsprachige kreative Schreibsetting, seine Phasen und Materialien wurden 2019 bis 2024 von Sara Hauser als freiberuflicher Literaturvermittlerin mit insgesamt 235 Schrei‐ ber: innen im überwiegend schulischen Feld (mit 216 Schüler: innen) erprobt und sukzessive modifiziert. Die Übungen wurden in nicht-gymnasialen Lerngrup‐ pen mit 114 Schüler: innen (davon 68 in der Sekundarstufe, 46 im Primarbereich) und gymnasialen Lerngruppen der Sekundarstufe I mit 84 Schüler: innen, in der Sekundarstufe II mit 18 Schüler: innen, erprobt. 28 Brandenburger Schüler: innen (alle der Sekundarstufe I zugehörig) waren beteiligt und insgesamt 207 Personen aus Berlin, darunter 19 Teilnehmer: innen, die Workshops im außerschulischen Feld besuchten. Genutzte Formate waren acht 90-minütige Einzelworkshops, sieben Work‐ shopserien, eine schulische AG, zwei Projektwochen, zwei mehrmonatige Pro‐ jektphasen an zwei Brandenburger Oberschulen mit Exkursionen sowie ein literarischer Schreibtag mit einer nicht-gymnasialen Berliner Lerngruppe der Sekundarstufe I. Für die Einzelworkshops in Berlin wurde über einen Jugendverein für Kreatives Schreiben ein bewusst offen formuliertes (und einem weiten Mehr‐ sprachigkeitsbegriff folgendes; siehe 2.1) Workshopangebot für mehrsprachige Schüler: innen auf der Vereinshomepage platziert. Es wurden Kooperationen mit Schulen mit einem hohen Anteil von L2-Lerner: innen (d.h. von Schüler: in‐ nen mit nicht-deutscher Herkunfts- oder Erstsprache; siehe Mehlhorn 2020: 23) des Deutschen fokussiert, indem Multiplikator: innen gezielt kontaktiert wurden. Alle interessierten Lehrkräfte konnten das Angebot jedoch berlinweit nutzen. In der nicht-gymnasialen Sekundarstufe I wurden Workshops an drei Schulen umgesetzt, deren jeweiliger Anteil mit Schüler: innen nicht-deutscher Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 253 <?page no="254"?> Herkunftssprache sich laut Berliner Schulverzeichnis (SenBJF 2024) konstant bei über 47 % (Schule 1), über 84 % (Schule 2) und über 89 % (Schule 3) bewegt. Diese schulspezifischen Prozentwerte beziehen sich auf die Schuljahre 2021/ 22 bis 2024/ 25. Mit Schule 2 fand weiterhin eine Workshopserie sowie ein literarischer Schreibtag statt. Die außerschulischen Workshops adressierten altersunabhängig arabischsprachige Schreibende des literarischen Dialogpro‐ jektes „The Poetry Project“ (s. Hauser et al. 2024). Der Anteil an L2-Lerner: innen des Deutschen betrug konstant über 80-%. Die Durchführungen dieser Formate waren noch nicht mit einem expliziten Forschungsvorhaben verbunden, wurden jedoch von mir durch Feldnotizen und teils durch Kurzreflexionen (auch von Teilnehmer: innen und Beobachter: innen) begleitet. Zudem liegen online publizierte Gedichte von Jugendlichen („The Poetry Project“ 2024) vor. Darüber hinaus sind in mehrmonatigen Projektpha‐ sen an zwei Brandenburger Oberschulen (08/ 2019-06/ 2020; 10/ 2020-06/ 2021) die beiden mit Schüler: innen gestalteten Minibücher „Fuck(ed) Up“ und „Wo mein Herz ist“ entstanden. Die darin enthaltenen Schüler: innentexte sind als poetische Scaffolds (in Form literarischer Vorbildtexte) nun selbst Teile des Schreibsettings. Diese Projekte setzte ich im Rahmen eines schulischen Pro‐ gramms einer Bildungsinitiative für vorwiegend neu zugewanderte Jugendliche um. Der Anteil an L2-Lerner: innen lag in diesen Gruppen bei über 72-%. Um Mehrsprachigkeit gezielt zu adressieren und einzubeziehen, wurde ein Schreibsetting gestaltet, das Scaffolds beinhaltet, welche die sprachlichen Po‐ tenziale aller Lerner: innen einbinden. Es geht hierbei nicht um eine Übersetzung von Übungen in die Sprachen der Lerner: innen, sondern um den Einsatz mehrsprachiger, poetischer Materialimpulse, die kurze Ausschnitte poetischliterarischen Sprachmaterials in allen Sprachen der Lerner: innen beinhalten. Dieser Einbezug mehrsprachiger Scaffolds zur Ermutigung mehrsprachiger literarischer Schreibprozesse in der Sekundarstufe I ist ein Novum. In den nachfolgenden Kapiteln werden die Phasierung und Rahmung des Settings skizziert und zwei poetische Scaffolds vorgestellt. Das Promotionsprojekt untersucht, inwieweit die Materialien und Übungen (verstanden als poetische Scaffolds, deren inhärente, poetische Strukturen mehrsprachige Schreibprozesse einleiten sollen) geeignet dafür sind, dass an‐ gehende Lehrkräfte mit ihnen mehrsprachige literarisch-lyrische Schreibpro‐ zesse auch in nicht-gymnasialen Lerngruppen der Sekundarstufe I initiieren können. Die Materialien werden durch Erprobungszyklen in mehrsprachigen Lerngruppen getestet. In diesem Zusammenhang werden Rückmeldungen von Schüler: innen, den durchführenden Studierenden, Lehrkräften sowie weiteren Beobachter: innen erhoben. Beobachtungsprotokolle, Interviews beobachtender 254 Sara Hauser <?page no="255"?> Lehrkräfte, studentische Kurzreflexionen und perspektivisch Tonaufzeichnun‐ gen werden folgend anhand der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Auf dieser Grundlage werden die Materialien nach dem Design-Based Research- Ansatz (Philippakos et al. 2021) iterativ weiterentwickelt und adaptiert. Das Schreibsetting wurde im Juni 2024 erstmals im Rahmen eines Seminars von Potsdamer Förderpädagogik-Studierenden in zwei Lerngruppen mit 17 Gesamtschüler: innen an einem Schreibtag im Literarischen Colloquium Berlin pilotiert. Der L2-Lerner: innen-Anteil an der Kooperationsschule liegt seit dem Schuljahr 2020/ 21 konstant bei über 85 %. Auswertungsergebnisse der Erpro‐ bung werden in diesem Beitrag jedoch noch nicht miteinbezogen. Um die Studierenden auf die Übungserprobung vorzubereiten, wurde ein Manual entworfen, das das Schreibsetting, den Materialeinsatz und die Anlei‐ tung der Übungen erläutert. Das Manual und seine Instruktionen wurden aus den in Pilotprojekten erprobten Übungen entwickelt. 3.1 Phasierung und Raumgestaltung Das Schreibsetting gliedert sich in vier Phasen: 1. Onboarding: Orientierung, Vermittlung von Regeln, Zielen und Ablauf‐ transparenz 2. Schreiben I: ins Schreiben kommen 3. Schreiben II: eigene mehrsprachige, lyrische Texte verfassen, präsentieren und über sie reflektieren 4. Abschluss mit der Möglichkeit freiwilliger Textpräsentation und einer Gruppenreflexion Lerngruppen ab mehr als 12 Personen werden in zwei Gruppen geteilt; diese stellen sich zuletzt gegenseitig ihren Lernprozess vor. Gestartet wird stets - ähnlich wie in Leßmanns Schreibzeit (Leßmann 2014) ‒ in einer Autor: innen‐ runde im Kreis. Von diesem schwärmen die Autor: innen immer wieder zu ihren Schreibinseln aus. Anders als bei Leßmann wird nicht das komplett freie Schreiben ermutigt, sondern Schreibprozesse werden durch poetische Scaffolds in Form von mehrsprachigem, lyrischem Sprachmaterial initiiert und inspiriert. Die Jugendlichen werden - wie auch bei Leßmann - wiederholt explizit als Autor: innen adressiert. Zum Ende jeder Phase beantworten die Schreiber: innen Reflexionsfragen. Das Setting wird im Rahmen des Promotionsprojekts an einem 4,5-stündigen Schreibtag durchgeführt, die Übungen können perspektivisch jedoch auch auf mehrere Einzelsessions verteilt werden. Die Übungen bauen sukzessive und Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 255 <?page no="256"?> kleinschrittig aufeinander auf, von Beginn an gibt es kreative Schreibaufgaben - beispielsweise muss zunächst nur ein Wort notiert werden. Kontinuierlich befindet sich in der Raummitte ein Stuhlkreis, in welchen die Schreiber: innen wie auch bei Leßmann (2014) immer wieder - je nach Schreibtempo - zurück‐ kehren. Abb. 1: Raumgestaltungsskizze Schreibsetting (eigene Darstellung) Alle Aufgaben werden handschriftlich beantwortet. 3.2 Verschriftlichte Normen und Ziele Konstitutiv für das Schreibsetting sind die folgenden Normen der Zusammenar‐ beit, die auf Karten vorgestellt werden. Anschließend wird die Zustimmung der Schreiber: innen durch Aufstehen oder Handzeichen eingeholt. Alle können zu‐ dem Ergänzungen und Modifizierungen hinzufügen. Formulierungsvorschläge für mündliche Kurzerklärungen der Normen und Ziele sind kursiv eingefügt. In dieser bzw. in leicht variierter Form sind sie aktuell in einem Studierendenma‐ nual formuliert. a. Wir unterstützen uns. b. Wir hören uns zu. 256 Sara Hauser <?page no="257"?> c. Ein Nein wird respektiert. Mündliche Erläuterung (folgend: mdl.): Manchmal haben Schreiber: innen Lust, ihre Texte vorzulesen, das ist immer freiwillig. Wenn ich frage, ob jemand Texte teilen möchte, könnt ihr immer Nein sagen, denn: Wir schreiben nur für uns. d. Wir geben unser Bestes. Mdl.: Auch wenn ihr nur für euch schreibt, ist es wichtig, dass ihr euer Bestes gebt. Heute ist es wichtig, dass ihr eure eigene Ideen, Wünsche und Gefühle aufschreibt. e. Wir sind mutig. Mdl.: Mut bedeutet hier vor allem, dass wir uns beim Schreiben trauen, etwas Neues auszuprobieren und unsere eigenen Worte und unsere eigenen Ideen zu verwenden. f. Wir schreiben in unserer Herzens-Sprache. Mdl.: Wir schreiben in der Sprache, die sich richtig anfühlt. Es ist auch okay, die Sprache zu wechseln. Das machen wir, da sich Gefühle und was uns be‐ schäftigt, besser in den Sprachen, die nah an unserem Herzen sind, ausdrücken lassen. Das können auch verschiedene Sprachen sein. Oder einzelne Wörter in verschiedenen Sprachen. Es geht darum, unsere ganz eigenen Stimmen einzubringen. Wenn ihr etwas in euren Sprachen teilen wollt, das nicht alle verstehen, nehmen wir uns zusammen die Zeit, für alle zu übersetzen. g. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Mdl.: Was ihr denkt und fühlt und aufschreibt, ist richtig. Es geht nicht darum, aufzuschreiben, was ihr denkt, das ich oder andere hören wollen, sondern das aufzuschreiben, was euch wichtig ist. Ihr seid die Expert: innen für eure Sprachen, die ihr jetzt schon viel besser könnt als ich sie. h. Rechtschreibung und Grammatik sind heute nicht wichtig. Mdl.: Der Inhalt ist wichtiger. Wenn ihr nach heute an euren Texten wei‐ terarbeiten wollt und sie wie echte Autor: innen zu perfekten Diamanten [Diamant zeigen] machen wollt und die Texte vielleicht in einem kleinen Buch wie diesem hier [„Fuck(ed) Up“ Buch zeigen] sammeln wollt, denn schauen wir oder eure Lehrer: innen an einem späteren Termin nochmal auf die Rechtschreibung. Aber heute ist das nicht wichtig, heute sind eure Ideen, eure eigenen Gedanken und Gefühle wichtiger. Ziel des Settings und der Regeln ist es nicht, die Relevanz von sprachlicher Korrektheit grundsätzlich zu nivellieren. Vielmehr soll in dieser frühen Phase des Schreibprozesses das Arbeitsgedächtnis (Hayes 2012) kognitiv entlastet und Kreativität angeregt werden. Sprachliche Korrektheit wird hierbei temporär inhaltlichen und literarästhetischen Aspekten untergeordnet. Es erfolgen jedoch Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 257 <?page no="258"?> im Sinne der Adressat: innenorientiertheit im Verlauf des Settings wiederholt Hinweise an die Schreiber: innen, dass Texte, die schließlich einem Publikum in einer publizierten Form zugänglich sind, in einem nächsten Schritt auf sprachliche Korrektheit geprüft werden müssen. Folgende Ziele werden den Schreiber: innen auf Moderationskarten in Phase I transparent gemacht: 1. Wir lernen Autor: innen-Skills kennen. Mdl.: Wir schreiben heute also wie echte Autor: innen. 2. Wir schreiben 2 Minitexte. Mdl.: Diese Mittel, Skills und Tricks, die echte Autor: innen beim Schreiben benutzen, helfen uns Schritt für Schritt, eigene Texte mit eigenen Ideen zu schreiben. Und ganz wichtig: immer in der Sprache, die sich gerade richtig anfühlt. 3. Wir denken und sprechen und schreiben GROSS. Mdl.: Übertreibung ist heute eines unserer Ziele. Wir schreiben wie Autor: in‐ nen, also benutzen wir große, besondere, überraschende Wörter, um so unser Publikum zu erreichen. 4. Wir haben Spaß. Mdl.: Das ist das allerwichtigste Ziel heute. Die Karten sind für die Schüler: innen sichtbar im Raum angebracht. Die Normen, die sprachlich mit dem Verweis „So arbeiten wir gut zusammen“ eingeführt werden, haben sich in heterogenen Lerngruppen bewährt, ebenso die kursiven Ergänzungen, welche als Formulierungsvorschläge zu verstehen sind. Die Beispielformulierungen bieten wenig unterrichtserfahrenen Studierenden Orientierungspunkte zur motivierenden mündlichen Gestaltung und Rahmung des literarischen Schreibraumes. Die Erläuterungen zielen als Makroscaffold darauf ab, dass die Studierenden den Schüler: innen eine sprachliche erste Brücke zum poetischen Selbstausdruck bauen können. 3.3 Beispiel 1: Übung „Freewriting“ Bei dieser Übung wird innerhalb eines zweiminütigen zeitlichen Rahmens geschrieben, ohne abzusetzen (Girgensohn/ Sennewald 2012: 102). Das Schrei‐ ben ist zukunftsgerichtet, korrigieren ist nicht erlaubt. Es wird kontinuierlich weitergeschrieben, ohne vorher Geschriebenes zu verbessern. Das unzensierte Schreiben wird so gefördert und sprachsystematische Konventionen sind zu‐ gunsten eines kontinuierlichen Schreibflusses zu vernachlässigen. Dabei kann auch ‚Müll‘ (oder ‚garbage‘; Elbow 1973: 7) entstehen; dies ist sogar ausdrück‐ 258 Sara Hauser <?page no="259"?> lich erwünscht. Freewriting kann auch helfen, sich an ein Thema ungefiltert heranzutasten, Themen zu finden (Elbow 1973: 9) und so den inneren Zensor auszuschalten. Das Ausschalten der Fokussierung auf sprachliche Korrektheit und simultanes Korrigieren während des Schreibens kann auch eine Verschie‐ bung der Aufmerksamkeit auf sonst nicht so sehr im Fokus stehende Inhalte bewirken (Elbow 1973: 3ff.). Das Freewriting wird in Phase II genutzt, damit Schüler: innen ins authenti‐ sche Schreiben kommen und anschließend über diese Schreiberfahrung reflek‐ tieren. Die Übung wird mithilfe von Arbeitsaufträgen auf Karten (siehe Abb. 2) und von mündlichen Ergänzungen, die lautes Denken modellieren, instruiert. Die Übung erfolgt als ein ‒ auf eine gewählte Überschrift hin ‒ fokussiertes Freewriting. Alle notieren die Überschrift gemeinsam, das Schreiben beginnt und endet mit einem Tonsignal. Verschiedensprachige Überschriftenvarianten werden vor dem Schreiben im Plenum gesammelt. Mithilfe eines Flipcharts (siehe Abb. 3), auf dem Anfangsvarianten notiert wurden, wird der Schreibpro‐ zess eingeleitet. Abb. 2: Karten mit Arbeitsauftrag - Abb. 3: Scaffold Flipchart „Immer im Herbst“, deutsch und arabisch Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 259 <?page no="260"?> 3.4 Kreativitätsfördernde Potenziale der Freewriting-Übung Die Übung knüpft besonders an den kreativitätskonstituierenden Aspekt des Flows an. Durch die zeitliche Begrenzung, den gemeinsamen Start, die ver‐ schriftlichten Scaffolds sowie mündlich modellierte Vorschläge, wie weiterge‐ schrieben wird, wenn gerade keine neuen Ideen kommen, entsteht ein Schreib‐ rahmen. Die Übung zielt darauf ab, möglichst unmittelbar einen Schreibflow zu erzeugen. Auch wenn dieser ausbleibt oder Schwierigkeiten bestehen, gibt es danach Raum, darüber zu reflektieren. Im Rahmen einer Think-Pair-Share- Phase werden nach erneutem alleinigem Lesen des Textes die gemeinsamen Antworten von den Paaren zu den Fragen „Wie war das Schreiben für dich? Warum? “ und „Was hat dich überrascht? Warum? “ im Autor: innenkreis geteilt. Den Schüler: innen wird hierbei neben der Beantwortung der Frage angeboten, ihre Texte vorzulesen. In allen Lerngruppen meldete sich bislang mindestens ein: e Schreiber: in mit der eigenständigen Bitte vorzulesen, in vielen Fällen noch bevor das Angebot des Vorlesens verbalisiert wurde. Das Freewriting dient in diesem Schreibsetting dazu, die Freiheit des mög‐ lichst unzensierten Selbstausdrucks zu erfahren, was durch die Aufforderung „Schreib, wie du denkst und fühlst“ bestärkt werden soll. Das Sprunghaft- Assoziative des Gedankenflusses und fragmentarische, experimentelle Formen des Schreibens werden somit versucht zu aktivieren. Diese Ausdrucksformen finden sich auch in bewusst reduzierten und sprachkünstlerisch arrangierten lyrischen Textformen wieder. Der Fokus auf eine Überschrift wie „Immer im Herbst …“ kann Schreiber: innen zudem eine Brücke zu eigenen Erinnerungen in einer konkreten Situation bauen. Bei der Anleitung der Übung wird auf der Ebene des Mikroscaffolding wieder‐ holt explizit das Angebot, alle Sprachen nutzen und auch zu wechseln zu dürfen, formuliert. Ein authentisches Schreiben soll so ermutigt werden, indem an alltägliches Sprachhandeln mehrsprachiger Schüler: innen durch Codeswitching (Gogolin et al. 2020: 17) angeknüpft und diese sprachliche Realität von Schü‐ ler: innen durch die Option des Codeswitching antizipiert wird. Die Aktivierung aller individuellen sprachlichen Ressourcen einer Person ohne eine Trennung in Nationalsprachen, Alltags- oder Schulsprache wird auch als Translanguaging bezeichnet (Otheguy et al. 2015: 281; Höfler et al. 2023: 472) und ist gerade in Kombination mit Scaffolding in der Sekundarstufe empirisch nachweisbar wirksam, was bislang jedoch nur im Bereich der Fachwissensvermittlung im Biologie-, Mathematik- und Chemieunterricht gezeigt werden konnte (Höfler et al. 2023: 472). Der Aspekt der Wahl wird in der Übung durch die Ermutigung zur Auswahl einer Überschrift und der bevorzugten Sprachen verwirklicht. Die Schreiber: in‐ 260 Sara Hauser <?page no="261"?> nen können stets zwischen mindestens zwei Überschriften wählen. Diese gemeinsamen Startpunkte bieten einen Anker, der dennoch Raum für eigenes Weiterschreiben lässt. Der Aspekt des Erfindens wird durch das Angebot, sich eine eigene Über‐ schrift ausdenken zu können, adressiert. Dies soll innerhalb eines knappen zeitlichen Rahmens geschehen, in welchem alle gemeinsam die Überschrift setzen. Die zeitliche Begrenzung soll zum Erfinden und Wählen herausfordern. Die am Flipchart verschriftlichten Anfänge bieten ein von Schüler: innen miterstelltes Scaffold-Material, um den Schreibprozess einzuleiten und die Freewriting-Challenge in den bevorzugten Sprachen zu bewältigen. Die Schü‐ ler: innen werden somit aktiv in das Bridging einbezogen. Hierbei kann es auch dazu kommen, dass Schüler: innen Zweifel über ihre sprachlichen Kompetenzen äußern. Als Anleiter: in bedarf es situativer Flexibilität, um Prozesse der gemein‐ samen Lösungsfindung zu ermutigen, etwa durch den Einbezug sprachlich kompetenter Peers, durch Bestärkung, gemeinsame Recherche oder situative Adaptionen. Im Manual befinden sich auch für die Instruktion dieser Übung kursivierte Formulierungsvorschläge. Diese resultieren aus Pilotprojekten, in welchen es wiederholte, verbalisierte und wertschätzende Ermutigungen brauchte, da‐ mit Schüler: innen ihre Sprachpotenziale einbringen. Von der Relevanz dieser Ermutigungen zeugt folgendes Beispiel: Eine Achtklässlerin einer Berliner Gesamtschule hat 2023 in einem Workshop nach einem Freewriting-Impuls zur Überschrift „Müll in meinem Kopf “ einen Text auf Türkisch verfasst. Als die Schreiberin in den Autor: innenkreis zurückkehrt, zögert sie, ob sie ihren Text vorlesen möchte: „Ich hab’ noch nie ’nen Text auf Türkisch in der Schule vorgelesen. Macht das überhaupt Sinn? “, fragt sie in die Runde. Nach Bestärkung ihrer Peers und durch die Workshopleitung liest sie ihren Text vor. In diesem reiht sich unter der aus zwei Optionen gewählten Überschrift „Müll in meinen Kopf “ 54-mal das türkische Wort „çöp“ (Müll), es folgt dann das Wort „evlenmek“ (heiraten), gefolgt von 17 weiteren Mal „çöp“. Am Ende steht erneut „evlenmek“. Das Vorlesen des Textes eröffnet nach einem Moment der Irritation durch die Wiederholungen ein literarisches Gespräch, in welchem die Schüler: innen den Text interpretieren und diskutieren. Das Zögern der Schülerin, ob sie vorlesen soll, weist darauf hin, dass Mehrsprachigkeit als Potenzial aktuell noch nicht systematisch in schulische Unterrichtsprozesse einbezogen wird, was auch die Forschung bestätigt (Plöger 2023: 39). Die artikulierte Unsicherheit der Schülerin kann als Indiz des noch wirksamen monolingualen Habitus der multilingualen Schule (Gogolin 2008) gelesen werden. Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 261 <?page no="262"?> 3.5 Beispiel 2: Übung „Anfänge weiterschreiben“ Auf Moderationskarten aus Farbkarton befinden sich mehrsprachige lyrische Gedichtzeilen (s. beispielhaft Abb. 4a-c) in allen Sprachen der Schreiber: innen (maximal zwei Zeilen pro Karte, mit deutscher Übersetzung unter dem erst abgedruckten Orginalzitat). Die Gedichtteile stammen größtenteils von der zeit‐ genössischen, mehrsprachigen Onlineplattform lyrikline.org. Dort finden sich zeitgenössische Gedichte in insgesamt 91 Sprachen in verschiedensprachigen Übersetzungen sowie Vertonungen. Abb. 4a: Anfang des Gedichts „Schlafen heißt“ (2006) von Roshanak Bigonah Abb. 4b: Anfang des Gedichts „einfach so“ (2005) von Galina Nikolova Abb. 4c: Anfang des Spoken-Word-Textes „Von überall her“ (2018) von Tanasgol Sabbagh Auswahlkriterium der Zeilen bildet ihr jeweiliges poetisches Potenzial. Die Zeilen (siehe Abb. 4), bei welchen es sich nicht um den Gedichtanfang handeln muss, sollen zum Weiterschreiben anregen. Das poetische Muster soll somit imi‐ 262 Sara Hauser <?page no="263"?> tierend fortgeschrieben werden, ohne dass Schüler: innen das komplette Gedicht kennen. Die poetischen Muster oder Scaffolds liegen in der Stuhlkreismitte aus. Pro Sprache gibt es mindestens zwei Anfangsangebote. Die Schüler: innen dür‐ fen sich sprachunabhängig aus allen Karten den sie am meisten ansprechenden Anfang auswählen. Die Sprachen aller Schüler: innen werden in einer Vorübung erfragt, wobei durch die Anleiter: innen bereits verdeutlicht wird, dass es nicht darauf ankommt, ob eine Sprache geschrieben und/ oder gesprochen wird. Um Scaffolds in allen Sprachen bereitzustellen, wird zudem vorab bei der Lehrkraft erfragt, mit welchen Sprachen die Schüler: innen in Kontakt sind. Der Übung sind weitere Wahl- und Unterstützungsangebote inhärent, die ebenfalls auf Impulskarten visualisiert sind: So können Schüler: innen den ge‐ wählten Anfang nach drei Zeilen erneut wiederholen. Einen formalen Rahmen bildet die Vorgabe, mindestens sechs Zeilen zu schreiben. Das Angebot zur Wiederverwendung des gewählten Anfangs zu Beginn einer Strophe bindet das literarische Gestaltungsmittel der Wiederholung ein, das gleichzeitig für eine Rhythmisierung des Textes sorgen kann. So werden den Schreiber: innen Anfangsstrukturen geboten, die jedoch gleichzeitig Raum lassen für Selbstver‐ ortung, Partizipation und subjektiven Ausdruck innerhalb eines poetischen Rahmens. Da nur Gedichtteile vorliegen, wird die Arbeit mit diesen zudem als ‚Klauen‘ bezeichnet. Wichtiger als ein Zugang zum Gesamttext ist das situativ-ästheti‐ sche Potenzial eines lyrischen Bruchstücks und die den ausgewählten Zeilen inhärente Verlockung des Weiterschreibens, die auch Ritter (2020) in seinen Schreibimpulsen verortet. Der Appell zur mehrsprachigen Antwort entsteht auch durch die Erstsetzung der Ursprungssprache (siehe Abb. 4). Das skizzierte Vorgehen hat Elemente der generativen Textproduktion (Belke 2012), verfolgt jedoch einen literarästhetischen Ansatz, bindet Mehrsprachigkeit als ästhetisches Phänomen und Normalfall ein und speist sich aus dem Archiv‐ bewusstsein und der Mehrsprachigkeit der zeitgenössischen Lyrik und ihrer Produktion (Metz 2018). Die Konzeption des Scaffold-Materials greift somit auf mehrsprachige Strukturen der zeitgenössischen Lyrik zurück. Ein Schüler: innentext, der in einem früheren Projektzyklus (2019/ 2020) entstand, wird im Folgenden vorgestellt. Der Text wurde Teil des Minibuchs „Fuck(ed) Up“, das eine Redaktionsgruppe von fünf Brandenburger Neuntkläss‐ ler: innen unter meiner Begleitung nach Abschluss des schulinternen Facharbeit‐ sprojektes in vier Redaktionssitzungen in der örtlichen Bibliothek editierte. Die Texte präsentierte die Gruppe anschließend an außerschulischen Kulturorten. Die Perspektive, nach der Durchführung des Schreibsettings auch ein eigenes Lernprodukt wie ein Buch zu gestalten, und der Verweis auf Vorbildtexte Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 263 <?page no="264"?> anderer Schüler: innen verdeutlichen den Teilnehmer: innen des Schreibsettings, dass ihre Texte potenziell für ein Publikum bestimmt sein können. Folgend werden dieser Text und seine Entstehung näher beleuchtet: Wenn wir Gott die Erde übergeben - - - Und er fragt und er fragt uns nur eine Frage Was habt ihr gemacht? Tut uns leid Wir haben verkackt Hunger Gewalt Krieg Und wir lügen so viel Mein Gott Tut uns leid Schreibstartpunkt des Textes war die Entscheidung des Schreibers für einen Textanfang aus neun vorliegenden möglichen Anfängen, davon fünf arabisch‐ sprachig mit jeweils deutscher Übersetzung. Abb. 5: Anfang des Gedichts „Cordoba“ (2010) von Fatima Naoot 264 Sara Hauser <?page no="265"?> Der zugrunde liegende Schreibimpuls befand sich damals noch auf einem Ar‐ beitsblatt und trug den Titel „Enden finden“. Die Instruktion lautete: „Schreibe eines dieser Gedichte zu Ende. Schreibe mindestens 6 neue Zeilen.“ Der Schüler entschied sich für die erste Zeile (siehe Abb. 5) des Gedichts ةبطرق (übersetzt als „Cordoba“) (Naoot 2010) der ägyptischen Dichterin Fatima Naoot. Vor dem Schreiben erfolgte kein Austausch zum möglichen Fortgang des Textes, jedoch Ermutigungen, eigene Ideen einzubringen. Der Schüler konnte den arabischsprachigen Text vorlesen, entschied sich jedoch, auf Deutsch wei‐ terzuschreiben. Er machte also von der Wahl Gebrauch, selbst zu entscheiden, in welcher Sprache er den Text schreibt. Im finalisierten Text wurde die deutschsprachige Übersetzung des Gedichtanfanges übernommen. Auf einer Produktebene ist das mehrsprachige Ausgangsmaterial somit nicht mehr sicht‐ bar. 3.6 Kreativitätsfördernde Potenziale der Übung „Anfänge weiterschreiben“ Das kreative Potenzial des deutschsprachigen Anfangs liegt auf der strukturel‐ len Ebene des Satzes in der Aufforderung, dem mit „Wenn“ eingeleiteten Anfang eine daraus resultierende Folge hinzuzufügen. Der Reiz des Satzes liegt auch in der starken Bildsprache und dem szenisch-gestischen Charakter: Die Menschen geben Gott die Erde zurück. Der Schüler setzt den Text mit der Stimme Gottes fort, die die Menschheit in die Verantwortung holen möchte. Dies wird kon‐ trastiert durch den umgangssprachlichen Duktus und die vulgären Ausdrücke „verkackt“ und „gefickt“ und übersteigert mit dem Gleichklang von „gefickt“, „Krieg“ und „viel“. „Und wir lügen so viel“ stellt die Schlussentschuldigung „Mein Gott / Tut uns leid“ infrage. Der Text ist mittlerweile als Scaffold-Material selbst Teil des Schreibsettings - er ist ein Vorbildtext und Beispiel eines Ergebnisses der Übung „Anfänge weiterschreiben“. Das Minibuch „Fuck(ed) Up“, in dem er publiziert wurde, liegt bei der Durchführung des Settings im Raum aus. Die Kurzbiografien aller Autor: innen auf den letzten Buchseiten liefern Schreiber: innen zudem konkrete Schreibvorbilder mit Identifikationspotenzial. Dem Text kommt - ähnlich der Bibliothek der „Kleinen Bücher“ - eine ermutigende und motivierende Funktion zu, da der Autor zur Publikationszeit des Textes in einem ähnlichen Alter war wie Schüler: innen, die das Schreibsetting durchlaufen. Wird dieser Text als Beispiel vorgelesen, verlangt er den Anleiter: innen ab, auf der Mikroscaffolding- Ebene mündlich für die verschiedenen Sprachregister zu sensibilisieren und einen Austauschprozess über diese zu moderieren. Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 265 <?page no="266"?> „Wenn wir Gott die Erde übergeben“ liefert Schüler: innen ein Beispiel für die Weiterführung poetischer Strukturen und wie im Zuge dessen in authentischer Sprache eigene Gedanken, Gefühle in kunstvoll arrangierte Worte einfließen können. Ob auch umgangssprachliche Worte zum Gedicht passen oder nicht, welchen Effekt diese haben sowie die Konnotationen bieten zahlreiche Ge‐ sprächsanlässe, um ein Bewusstsein dafür anzuregen, wie und mit welchen Effekten Elemente der Alltags- und Umgangssprache im Gedicht als zirkulie‐ rendes arrangiertes Archivmaterial nach Metz (2018) ihren Platz finden können. Weitere Beispieltexte befinden sich in „Fuck(ed) Up“. Den Schüler: innen können die Entstehungskontexte kreativer Texte so anhand von Beispielen kleinschrittig verdeutlicht werden; dies trägt dazu bei, mehrsprachige, litera‐ rische Schreibprozesse zu initiieren und teilweise auch ihre Ergebnisse zu präsentieren: In bislang allen Lerngruppen teilten Schüler: innen freiwillig Textergebnisse aus verschiedenen Phasen des Schreibsettings. Bislang konnte weiterhin beobachtet werden, dass die lyrischen Impulssätze dazu beitrugen, dass die Schreiber: innen motiviert ins Schreiben kommen. Seit der Überführung der Gedichtauszüge auf Karten artikulierten Schüler: innen bislang in allen Lerngruppen dreier 2023 und 2024 durchgeführter Workshops ihre Begeisterung über die Präsenz von Gedichtteilen in Sprachen, die in ihrer Lebenswelt eine Rolle spielen. Die Schüler: innen waren ersichtlich emotional involviert in die Auswahl ihres Schreibstartpunktes. Dies verdeutlicht die positiven Effekte subjektiver Wahlprozesse. 4 Fazit Der Schreibrahmen des Settings weicht ab von sprachlich und thematisch stär‐ ker normierten und curricular expliziter verankerten schulischen Textsorten, in denen der poetische Selbstausdruck nicht im Zentrum steht. Es geht nicht darum, das eine oder das andere zu priorisieren. Vielmehr möchte das Schreib‐ setting die Kreativität, die junge Menschen zum Finden innovativer Lösungen für komplexe Probleme benötigen, fördern und hierfür ein konkretes Angebot ‒ bei bislang fehlender expliziter curricularer Verankerung des kreativen und insbesondere poetischen Schreibens (Pieper 2023: 18, 20ff.; Mangel 2023: 108) - machen. Das vorgestellte Schreibsetting und seine Materialien setzen auf das Sicht‐ barmachen und Antizipieren von Lernsituationen und auf die motivierende Adressierung heterogener Lerngruppen zur Aktivierung individueller Sprach‐ potenziale. Es entstand maßgeblich aus Pilotprojekten mit Schüler: innen, die über verschiedene Zugänge zum kulturellen Kapital deutschsprachiger, kano‐ 266 Sara Hauser <?page no="267"?> nisierter Literatur verfügten. Die Konzeption des Settings setzt unterschiedliche Lesesozialisationsprozesse von Schüler: innen voraus, denkt sie mit und möchte unabhängig von ihnen ein Schreibangebot schaffen und zugänglich machen, an dem alle unter Einbringung all ihrer sprachlichen Potenziale partizipieren können. Dies bedeutet, dass sich das Format nicht auf literale Kompetenzen des Deutschen reduziert, sondern in seinen Scaffolds und Übungen alle Sprachen der Schreiber: innen einbezieht. Zugleich werden der Archivcharakter und die handwerkliche Komponente der Dichtkunst, die Sprachmaterial re-arrangiert, durch die Materialien - beispielsweise Gedichtauszüge auf Karten - haptisch erfahrbar. Dies konkretisiert Aspekte der Mehrsprachigkeitskonzepte Brandenburgs und Berlins und überführt diese in ein konkretes Schreibsetting, das sich nicht auf den Kontext des Erstsprachenunterrichts beschränkt. Die Verbindung mehr‐ sprachiger, sukzessive aufeinander aufbauender Schreibimpulse des poetischen Schreibens ohne Fokus auf sprachliche Normorientierung bildet ein Novum wie auch die empirische Untersuchung eines solchen Schreibsettings. Zwar gibt es - wie gezeigt wurde ‒ didaktische und konzeptuelle Anknüpfungspunkte, diesen fehlt es jedoch in der Sekundarstufe noch an umfassenden empirischen Begleitstudien oder aber stehen translinguale Aspekte außerhalb eines deutsch‐ sprachigen Bezugsrahmens bislang nicht im Fokus. Hinsichtlich der Kreativitätsfaktoren kann festgehalten werden, dass Flexibi‐ lität in Form des Einschlagens neuer Wege dem Setting insofern inhärent ist, als die Schreibimpulse in ihrer eigenen multiplen mehrsprachigen und poetischen Verfasstheit Lerner: innen anregen, all ihre sprachlichen Ressourcen zu nutzen. Die vorgestellten Impulse regen zur imitierend-variierenden Fortsetzung an und zielen durch die bereitgestellten Unterstützungsangebote und Ermutigungen darauf ab, Schüler: innen zum kreativen und authentischen Einsatz poetischer und mehrsprachiger Ressourcen anzuregen. Literatur Abraham, Ulf (2021). Literarisches Schreiben. Didaktische Grundlagen für den Unter‐ richt. Ditzingen: Reclam. Abraham, Ulf/ Bräuer, Christoph/ von Brand, Tilman (Hrsg.) (2023). Literarisches Schrei‐ ben als kulturelle Praxis. Hannover: Klett/ Kallmeyer. Belke, Gerlind (2012). Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft. Baltmannsweiler: Schneider Verla. Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 267 <?page no="268"?> Bigonah, Roshanak (2006). Schlafen heißt. Aus dem Persischen übers. v. Susanne Bag‐ hestani und Orsolya Kalász. In: Haus für Poesie (Hrsg.). Lyrikline. Abrufbar unter: https: / / www.lyrikline.org/ de/ gedichte/ 4156 (Stand: 07.02.2025). Busch, Brigitta (2014). Building on heteroglossia and heterogeneity: The experience of a multilingual classroom. In: Blackledge, Adrian/ Creese, Angela (Hrsg.). Heteroglossia as Practice and Pedagogy. New York: Springer, 21-40. Damasio, Antonio (1997). Decsartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: dtv. Dirim, İnci (2015). Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in der schulischen Bildung. In: Leiprecht, Rudolf/ Steinbach Anja (Hrsg.). Schule in der Migrationsgesell‐ schaft. Ein Handbuch. Sprache - Rassismus - Professionalität. Schwalbach: Debus Pädagogik, 25-48. Ehlich, Konrad (2017). Ein Gesamtsprachencurriculum für die deutsche Schule des frühen 21. Jahrhunderts: Erforderliche Ziele, absehbare Risiken. In: Becker-Mrotzek, Michael/ Roth, Hans-Joachim (Hrsg.). Sprachliche Bildung - Grundlagen und Hand‐ lungsfelder. Münster/ New York: Waxmann, 249-271. Elbow, Peter (1973). Writing without Teachers. New York: Oxford UP. Fürstenau, Sara (2016). Multilingualism and school development in transnational educa‐ tional spaces. Insights from an intervention study at German elementary schools. In: Küppers, Almut/ Pusch, Barbara/ Uyan Semerci Pinar (Hrsg.). Bildung in transna‐ tionalen Räumen. Education in transnational spaces. Wiesbaden: Springer VS, 71-90. Gibbons, Pauline (2002). Scaffolding language, scaffolding learning: Teaching English language learners in the mainstream classroom. Portsmouth: Heinemann. Girgensohn, Katrin/ Nadja Sennewald (2012). Schreiben lehren, Schreiben lernen. Eine Einführung. Darmstadt: WBG. Gogolin, Ingrid (2008). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. 2. Aufl. Münster/ New York/ München/ Berlin: Waxmann. Gogolin, Ingrid/ Hansen, Antje/ McMonagle, Sarah/ Rauch, Dominique (Hrsg.) (2020). Handbuch der Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden: Springer. Groeben, Norbert (2013). Kreativität. Originalität diesseits des Genialen. Darmstadt: Primus. Grosjean, François (2020). Individuelle Zwei- und Mehrsprachigkeit. In: Gogolin, In‐ grid/ Hansen, Antje/ McMonagle, Sarah/ Rauch, Dominique (Hrsg.), 13-21. Guilford, Joy Paul (1950). Creativity. American Psychlogist 5, 444-454. Hauser, Sara/ Hänsch, Matthias/ Rüger, Theresa (2024). Workshops als Möglichkeitsraum. Werkstattgespräch mit Sara Hauser (Workshopleiterin), Matthias Hänsch (Übersetzer) und Theresa Rüger (The Poetry Project). In: PEN Berlin/ The Poetry Project (Hrsg.). Sei neben mir und sieh, was mir geschehen ist. Berlin: Verbrecher, 15-19. 268 Sara Hauser <?page no="269"?> Hayes, John R. (2012). Modeling and remodeling writing. Written Communication, 29 (3), 369-388. Hodaie, Nazli/ Rösch, Heidi/ Treiber, Nadine (Hrsg.) (2024). Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik. Tübingen: Narr. Hohensinner, Klaus (2023). M2. Kleine Bücher. Abrufbar unter: https: / / www.m2ortnerg asse.at/ projekte/ kleine-b%C3%BCcher/ (Stand: 03.10.2024). Höfler, Martha/ Woerfel, Till/ Vasylyeva, Tetyana/ Twente, Leonie (2023). Wirkung sprachsensibler Unterrichtsansätze Ergebnisse eines systematischen Reviews. Zeit‐ schrift für Erziehungswissenschaft 27, 449-495. Kern, Friederike/ Walkenhorst, Amrei (2014). Schriftspracherwerb bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache. Zur fachwissenschaftlichen Fundierung einer individuali‐ sierten Schreibdidaktik in mehrsprachigen Lerngruppen. In: Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (Hrsg.). Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Weg zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart: Filibach bei Klett, 89-100. Keskinkılıç, Ozan Zakarya (2022). Prinzenbad. Nettetal: Elif. Kießling, Magdalena (2024). Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit. Verbindungslinien zwischen postkolonialer Literaturdidaktik und einer Didaktik literarischer Mehrsprachigkeit. In: Hodaie, Nazli/ Rösch, Heidi/ Treiber, Nadine (Hrsg.), 31-46. Kniffka, Gabriele (2010). Scaffolding. Abrufbar unter: https: / / www.uni-due.de/ imperia/ md/ content/ prodaz/ scaffolding.pdf (Stand: 03.10.2024). Kultusministerkonferenz (KMK) (2013). Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Abrufbar unter: https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschl uesse/ 1996/ 1996_10_25-Interkulturelle-Bildung.pdf (Stand: 10.12.2024). Leßmann, Beate (2014). „Schreibzeit“ - von der Praxis zu Konzeption inklusiven Un‐ terrichts. In: Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (Hrsg.). Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Weg zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart: Filibach bei Klett, 166-181. Mangel, Mischa (2023). Poetische Schreibkompetenz fördern. Versuch einer Kartierung. Didaktik Deutsch 28 (54), 108-126. Matz, Daniela (2023). Literarisches Schreiben in Lerngruppen mit heterogenen Lernaus‐ gangslagen. In: Abraham, Ulf/ Bräuer, Christoph/ von Brand, Tilman (Hrsg.), 174-186. MBJS Brandenburg (2023). Mehrsprachigkeitskonzept. Bestandsaufnahme und strategi‐ sche Weiterentwicklung der Sprachenvielfalt im Bildungssystem im Land Branden‐ burg. Abrufbar unter: https: / / mbjs.brandenburg.de/ sixcms/ media.php/ 140/ mehrspra chigkeitskonzept.pdf (Stand 03.03.2025). Mehlhorn, Grit (2020). Herkunftsprachen und ihre Sprecher/ innen. In: Gogolin, In‐ grid/ Hansen, Antje/ McMonagle, Sarah/ Rauch Dominique (Hrsg.), 23-29. Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 269 <?page no="270"?> Metz, Christian (2018). Poetisch Denken. Die Lyrik der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Fischer. Naoot, Fatima (2010). Cordoba. Aus dem Arabischen übers. v. Leila Chammaa. In: Haus für Poesie (Hrsg.). Lyrikline. Abrufbar unter: https: / / www.lyrikline.org/ de/ uebersetz ungen/ details/ 12897/ 8021 (Stand: 03.10.2024). Nikolova, Galina (2005). Einfach so. Aus dem Bulgarischen übers. v. Gabi Tiemann. In: Haus für Poesie (Hrsg.). Lyrikline. Abrufbar unter: https: / / www.lyrikline.org/ de/ ged ichte/ ej-taka-3107 (Stand: 07.02.2025). OECD (2022). Creative Thinking. Abrufbar unter: https: / / www.oecd.org/ en/ topics/ creat ive-thinking.html (Stand: 19.12.2024). Otheguy, Ricardo/ García, Ofelia/ Reid, Wallis (2018). A translanguaging view of the linguistic system of bilinguals. Applied Linguistics Review 10 (4), 626-651. Pieper, Irene (2023). Perspektiven poetischen Scheibens in der Sekundarstufe I. Mit einem Fokus auf dem didaktischen Potential der Instapoetry. In: Abraham, Ulf/ Bräuer, Christoph/ von Brand, Tilman (Hrsg.), 18-32. Pineker-Fischer, Anna (2017). Sprach- und Fachlernen im naturwissenschaftlichen Unterricht. Umgang von Lehrpersonen in soziokulturell heterogenen Klassen mit Bildungssprache. Wiesbaden: Springer. Plöger, Simone (2023). Neuzuwanderung, sprachliche Bildung und Inklusion. Eine eth‐ nographische Studie im Sekundarschulbereich. Wiesbaden: Springer. Plöger, Simone (2024). Gleichberechtigte Teilhabe in mehrsprachigen Klassenzimmern. In: Niesta Kayser, Daniela/ Giera, Winnie-Karen/ Schmalenbach, Christine (Hrsg.). Gleichberechtigte Teilhabe durch kooperative Lehr-Lern-Prozesse in heterogenen Lerngruppen. Münster/ New Work: Waxmann, 39-48. Philippakos, Zoi A./ Howell, Emily/ Pellegrino, Anthony (2021). Design-Based Research in Education. Theory and Applications. New York: Guilford. Rat für Migration (2023). Der Translanguaging-Ansatz als Bezugspunkt für einen prag‐ matischen Umgang mit Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht. Abrufbar unter: https: / / rat-fuer-migration.de/ 2023/ 09/ 28/ der-translanguaging-ansatz-als-bezugspun kt-fuer-einen-pragmatischen-umgang-mit-mehrsprachigkeit-in-schule-und-unterric ht/ (Stand: 18.12.2024). Ritter, Michael (2020). Poetische Strukturen als ‚Lerngerüste‘ beim kreativen Schreiben. Formatierte Sprache als Gegenstandsbereich einer ‚Didaktik der Literarizität‘. In: Riedner, Renate/ Schiedermair, Simone (Hrsg.). Literarisches und alltägliches Erzählen unter (fremd-)sprachendidaktischer Perspektive. München: Iudicium, 23-42. Sabbagh, Tanasgol (2018). Von überall her. In: Poetry Slam TV. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=A7ubivSMCzg (Stand: 07.02.2025). Schreger, Christian (2009). Projektinfo „Kleine Bücher“. Abrufbar unter: https: / / www.m 2ortnergasse.at/ projekte/ kleine-b%C3%BCcher/ (Stand: 03.10.2024). 270 Sara Hauser <?page no="271"?> SenBJF (2021). Konzept zur Förderung der Mehrsprachigkeit in Berlin. Abrufbar unter: https: / / www.berlin.de/ sen/ bjf/ service/ presse/ pressearchiv-2021/ pressemitteilung.11 48278.php (Stand: 03.10.2024). SenBJF (2024). Schulverzeichnis. Abrufbar unter: https: / / www.bildung.berlin.de/ Schulv erzeichnis/ (Stand: 16.12.2024). Stemmler-Rathenberg (2011). Zur Nachahmung empfohlen! Imitatives Schreiben zu Prosatexten. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. ten Peze, Anouk Aimee/ Janssen, Tanja/ Rijlaarsdam, Gerd (2023). Instruction in creative and argumentative writing: transfer and crossover effects on writing process and text quality. Instr Sci 52, 341-383. Terhart, Henrike/ von Dewitz, Nora (2017). Migrationsbedingt mehrsprachige Familien im Fokus sprachlicher Bildungsangebote. In: Becker-Mrotzek, Michael/ Roth, Hans- Joachim (Hrsg.). Sprachliche Bildung - Grundlagen und Handlungsfelder. Müns‐ ter/ New York: Waxmann, 143-157. The Poetry Project (2024). Poesie. Abrufbar unter: https: / / thepoetryproject.de/ poesie (Stand: 20.12.2024). Walqui, Aida (2006). Scaffolding Instruction for English Language Learners. A Concep‐ tual Framework. The International Journal of Bilingual Education and Bilingualism 9 (2), 159-180. Wintersteiner, Werner (2006). Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisie‐ rung. Klagenfurt/ Celovec: Drava. Wolf, Uljana (2013). Meine schönste Lengevitch. Berlin: Kookbooks. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. Mehrsprachiges Kreatives Schreiben mit poetischen Scaffolds initiieren 271 <?page no="273"?> Musterhaftigkeit und Formen sprachlicher Kreativität im Kontext der Annotation argumentativer Lerner: innentexte Sara Rezat & Rabia Karabey Abstract: Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern sprachliche Kreativität für das argumentative bildungssprachliche Schreiben im schulischen Kontext ein konstitutives Element ist. Für die Beantwortung der Fragestellung wurden argumentative Lerner: innentexte analysiert, die im Rahmen eines interdisziplinären DFG-Projekts bezogen auf die Makro- und Mikrostruktur annotiert wurden. Im Beitrag wird zunächst das Verhält‐ nis von Musterhaftigkeit und Kreativität beleuchtet und ein Einblick in relevante linguistische Konzepte zu diesem Spannungsfeld gegeben. Davon ausgehend wird ein ontogenetischer Kreativitätsbegriff entwickelt, der die Grundlage für die Analyse von annotierten argumentativen Lerner: innen‐ texten bildet. Die Analyse der Texte zeigt, dass das bildungssprachliche argumentative Schreiben hochgradig musterhaft ist, es aber dennoch wenige Textelemente im untersuchten Korpus gibt, die als Formen ontogenetischer Kreativität einzustufen sind. Ontogenetische Kreativität stellt den Analysen zufolge ein individuelles Erwerbsphänomen dar, das abhängig von der Schreiberfahrung und der Schreiberwerbsstufe ist. 1 Einleitung Aktuelle schreibdidaktische Konzepte - wie die Arbeit mit Textprozeduren (vgl. Feilke 2014; Feilke und Rezat 2020; Rezat et al. 2024b) oder Diskurspraktiken (vgl. Heller und Morek 2019) - orientieren sich an Sprachmustern, um den Kompetenzerwerb didaktisch zu stützen. Im einleitenden Beitrag dieses Bandes schätzen Alexandra Zepter und Kirsten Schindler diese Form der Musterorien‐ tierung als derzeit „vorrangigen Schlüssel für Kompetenzerwerb“ (2025: 8) ein. Fragen sprachlicher Kreativität geraten durch die Musterorientierung zunächst in <?page no="274"?> 1 DFG-Projekt „Computergestütztes Lernen argumentativen Schreibens“ (Leitung: Prof. Dr. Sara Rezat, Universität Paderborn; Prof. Dr. Henning Wachsmuth, Leibniz-Universität Hannover), gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - 453073654. den Hintergrund, obwohl Kreativität ein zentraler Aspekt sprachlichen Lernens ist und Musterhaftigkeit und Kreativität nicht notwendig in Opposition stehen. Diesen Aspekt diskutieren Zepter und Schindler im Einleitungstext dieses Bandes und formulieren die Frage, ob und, wenn ja, in welcher Form Kreativität für den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen in unterschiedlichen Altersstufen und/ oder bei unterschiedlichen Ler‐ nenden eine relevante Ressource darstellen kann und also in didaktischen Settings berücksichtigt werden sollte[.] (Zepter und Schindler 2025: 8) Im vorliegenden Beitrag beschäftigen wir uns mit dieser Fragestellung anhand des argumentierenden Schreibens als bildungssprachliche Texthandlung. Wir beziehen uns dabei auf Textprodukte von Lernenden der fünften und neunten Klasse. Zur Beantwortung der Frage, ob und in welcher Form Kreativität eine zentrale Ressource in argumentativen Lerner: innentexten ist, möchten wir zunächst das Verhältnis von Musterhaftigkeit und Kreativität sowie relevante linguistische Konzepte zum Spannungsfeld von Musterhaftigkeit und Kreativität beleuchten (Abschnitt 2). In diesem Zusammenhang entwickeln wir einen ontogenetischen Kreativitätsbegriff. Dieser Kreativitätsbegriff wird herangezogen, um Daten aus einem DFG-Projekt 1 zu analysieren (Abschnitt 3 und 4). In dem Projekt werden NLP-Methoden für die automatische Analyse argumentativer Lerner: innentexte entwickelt, um darauf aufbauend computergeneriertes adaptives Feedback zur Struktur der argumentativen Texte unter Berücksichtigung des individuellen Lernniveaus zu generieren. Dafür war es notwendig, argumentative Lerner: in‐ nentexte auf makrostruktureller und mikrostruktureller Textebene zu annotieren. Bei der Annotation stellte sich heraus, dass einige Textstrukturen nur bedingt oder gar nicht mithilfe des Annotationsmanuals zu fassen waren, weil sie die Musterhaftigkeit ‚sprengen‘. Im Beitrag werden diese nicht musterhaften bzw. musterabweichenden Textstrukturen genauer in den Blick genommen und es wird der Frage nachgegangen, ob sich diese als Formen sprachlicher Kreativität fassen lassen. Der Beitrag ist empirisch ausgerichtet, gleichzeitig leistet er auch einen theo‐ retisch-methodologischen Beitrag, indem für die Analyse von Lerner: innentex‐ ten ein ontogenetischer Kreativitätsbegriff entwickelt wird. Zentral für den ontogenetischen Kreativitätsbegriff ist es, dass die Einschätzung, ob eine Form 274 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="275"?> sprachlicher Kreativität vorliegt, abhängig von der jeweiligen Erwerbsphase ist, in der sich Schreibende befinden. 2 Musterhaftigkeit und Kreativität im Spannungsfeld von Konstruktion und Konservierung In der Linguistik gibt es zahlreiche Konzepte, die sich mit sprachlicher Vorge‐ formtheit und damit verbunden der Erfassung und Beschreibung musterhafter Strukturen beschäftigen (vgl. für einen einführenden Überblick Stein und Stumpf 2019). Sprachliche Musterhaftigkeit im weiteren Sinne - wir lehnen uns hier an die Begriffsbestimmung von Stein und Stumpf (2019) an - betrifft dabei alle sprachli‐ chen Ebenen und umfasst die Wort-, Mehrwort-, Satz-, Text- und Gesprächsebene ebenso wie die Diskursebene, Argumentationsmuster oder Metaphern. Je nach Sprachebene unterscheidet sich allerdings die lexikalische Spezifiziertheit. Wäh‐ rend bestimmte Argumentationsmuster oder -topoi kaum bzw. nicht lexikalisiert sind, weisen beispielsweise argumentative Textprozeduren wie die Positionierung (vgl. Grundler et al. 2020) eine deutliche lexikalische Spezifiziertheit auf. Wir erkennen Positionierungen ausdrucksseitig an bestimmten Prozedurausdrücken wie Ich finde, dass,-…, meiner Meinung nach oder m.E. Wesentliches Bestimmungsmerkmal für Musterhaftigkeit ist die Rekurrenz. Sprachliche Phänomene treten wiederholt auf, sodass sie wiedererkennbar und wiederverwendbar sind. Folglich prägen bestimmte Formulierungssowie Text‐ strukturierungsentscheidungen die kommunikative Praxis maßgeblich, sodass sie mehr oder minder der gesellschaftlichen Norm entsprechen und somit die Notwendigkeit, jeweils neue und individuelle Lösungswege zu kreieren, aufheben (vgl. Stein und Stumpf 2019: 17). Dass daher korpuslinguistische Verfahren für die Identifikation und Analyse sprachlicher Muster verwendet werden, liegt nahe. Die Muster müssen ausdrucksseitig erfassbar sein, wie Bubenhofer (2009: 30) in seiner Definition von Musterhaftigkeit hervorhebt: „Musterhaftigkeit lässt sich als Phänomen der Textoberfläche denken, als Phänomen rekurrenten, für bestimmte Kontexte typischen Sprachgebrauchs“. Unter der Voraussetzung, dass diese Vor‐ geformtheitserscheinungen jeweils Teil des individuellen Wissensrepertoires sind, kann die Musterhaftigkeit grundsätzlich von allen Sprachteilnehmer: innen erfasst werden (vgl. Stein und Stumpf 2019: 20). Stein und Stumpf (2019) führen neben der Rekurrenz als weitere Kennzeichen die (Re-)Aktualisierbarkeit bzw. Reproduzierbarkeit an. Zugleich sind Muster situativ anpassbar und unterlie‐ gen damit einem Wandel auf individueller und gesellschaftlicher Ebene (vgl. ebd.: 19). Die individuelle Veränderbarkeit und gesellschaftliche Wandelbarkeit sind gleichzeitig die Eigenschaften sprachlicher Musterhaftigkeit, die Raum für Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 275 <?page no="276"?> sprachliche Kreativität eröffnen. Damit kommen wir zu der Frage, in welchem Verhältnis sprachliche Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität stehen. Wenn wir im Folgenden den Blick auf sprachliche (vgl. Zepter und Schindler 2025) Kreativität richten, dann betrachten wir nur einen Ausschnitt aus diesem recht komplexen Feld, und zwar sprachliche Kreativität bezogen auf argumentative Lerner: innentexte. Unser Bezugspunkt sind also Textprodukte. 2.1 Doppelte Kreativität der Sprache Unseres Erachtens sind Kreativität und Musterhaftigkeit nicht unabhängig voneinander zu denken, denn Musterhaftigkeit bildet die Grundlage für Krea‐ tivität. Diesen Zusammenhang legt Feilke in einem Beitrag aus dem Jahr 2019 dar, in dem ein sprachstrukturell erweiterter Kreativitätsbegriff entwickelt wird. Wesentlich für diesen Kreativitätsbegriff ist, dass sprachliche Kreativität nur in Bezug zum musterhaften Sprachgebrauch - der „Typik des normalen Gebrauchs“ (Feilke 2019: 77) - erklärbar ist und die jeweiligen Gebrauchs- und Kontextinformationen des Sprachgebrauchs zentral sind: Wenn also einerseits Kreativität immer auf eine Typik des Gebrauchs bezogen ist und mit diesen Bausteinen arbeitet, dann heißt das, dass sie in zwei Richtungen wirkt: Sie konstruiert erstens neue Texte, Sätze, Wörter, und sie konserviert zweitens bedeutungstragende Einheiten auf allen Ebenen der Sprache, eben die Bausteine jedes künftigen Gebrauchs. Das ist der Aspekt der doppelten Kreativität der Sprache […]. (Feilke 2019: 78) Feilke (2019) schlägt eine doppelte Kreativität der Sprache vor und unterscheidet zwischen einer konstruktiven und konservierenden Kreativität, die wiederum in einem komplementären Verhältnis stehen. Während bei der konservierenden Kreativität „durch den Gebrauch hervorgebrachte Zeichen“ (Feilke 2019: 78) konserviert werden und diese „in einem kulturell signifikanten Musterwissen [re‐ sultieren]“ (ebd.), führt die konstruktive Kreativität zu neuen Textformen, Sätzen, Wörtern (vgl. ebd.: 88). Im Gegensatz zu Chomskys (1965) Kreativitätsbegriff liegt bei Feilke ein „sprachkulturell erweiterte[r] linguistische[r] Kreativitätsbegriff“ (2019: 88) im Sinne der kulturanalytischen Linguistik vor. Der Zusammenhang von Sprachgebrauch und kultureller Lebenspraxis steht hier im Vordergrund. Damit geht auch eine oberflächenorientierte Sicht auf Sprache einher. Abbildung 1 zeigt das Wechselverhältnis von konservierender und konstruk‐ tiver Kreativität zwischen den Polen sprachlicher Musterhaftigkeit und sprach‐ licher Kreativität. 276 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="277"?> Abb. 1: Doppelte Kreativität der Sprache in Anlehnung an Feilke (2019) Mit diesem Wechselverhältnis rückt die kultur- und situationsgebundene Ver‐ stehensseite von sprachlicher Kreativität in den Vordergrund. Konservierende Kreativität schließt neben dem sozialen Verstehen des Gemeinten vor allem auch das des im Austausch Entstehenden ein. Die historische und kulturelle Dynamik der Zeichenbildung und des Zeichenwandels sowie die Rolle der Medialität führt Feilke als weitere Kennzeichen von Kreativität an (vgl. ebd.: 88). Für das ‚Erkennen‘ sprachlicher Kreativität ist aufseiten der Rezipierenden ein entsprechendes sprachliches Musterwissen eine wesentliche Voraussetzung, für das ‚Hervorbringen‘ zudem ein Wissen über den Kontext und die potenziel‐ len Adressat: innen: Kreativ zu sein bedeutet, im Blick auf die Rezipienten, einen bestimmten Erwartungs‐ horizont mit sprachlichen Mitteln erzeugen zu können, der die Grundlage liefert für die Konzeption des Unerwarteten und Überraschenden. (Feilke 2019: 88) 2.2 Ontogenetischer Kreativitätsbegriff Wir gehen bei der folgenden Analyse von einem ontogenetischen Kreativitäts‐ begriff aus, für den der sprachstrukturell erweiterten Kreativitätsbegriff nach Feilke (2019) grundlegend ist, aber von uns spezifiziert wird. Feilke (2019) zufolge ist sprachliche Kreativität nur bezogen auf den muster‐ haften Sprachgebrauch erklärbar. Dabei ist für die Einschätzung sprachlicher Kreativität neben dem rezipient: innenenseitigen Erwartungshorizont auch der jeweilige Gebrauchskontext relevant. Bezieht man den doppelten Kreativitätsbegriff auf den Kontext des Erwerbs schriftsprachlicher Fähigkeiten, d.h. auf Lerner: innentexte, ist zu klären, was die musterhaften Bezugspunkte und damit die „Typik des normalen Gebrauchs“ (Feilke 2019: 77) in Lerner: innentexten sind. Bei der Betrachtung von Lerner: in‐ nentexten liegt es nahe, die Typizität einer spezifischen Erwerbsphase als Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 277 <?page no="278"?> musterhaften Bezugspunkt zu setzen. Auf diese Weise lassen sich Erwartungs‐ horizonte festmachen, in denen Schreibende sprachliche Muster konstruieren. Sprachliche Kreativität im Kontext des Erwerbs schriftsprachlicher Fähigkei‐ ten liegt demzufolge dann vor, wenn Schreibende sprachliche Muster konstru‐ ieren, die von den typischen Mustern einer Erwerbsphase abweichen und auf eine darauffolgende Erwerbsphase hindeuten. Was sprachlich kreativ ist, hängt also von der jeweiligen Erwerbsphase ab, in der sich Schreibende befinden. Wir nehmen hier eine explizit oberflächenorientierte Perspektive ein. Kreativ zu sein kann dann auch bedeuten, vorgegebene Ausdrucksmuster in einem schreibdidaktischen Setting nicht eins zu eins zu übernehmen, sondern „funk‐ tional adäquate Formulierungsalternativen“ (Anskeit 2019: 25) zu entwickeln, die für die Schreibenden individuell ‚neu‘ und kreativ sind. Der ontogenetische Kreativitätsbegriff, den wir hier vorschlagen, überträgt den Aspekt der doppelten sprachlichen Kreativität auf den Kontext der Onto‐ genese. Ontogenetische Kreativität ist damit in erster Linie ein individuelles Erwerbsphänomen: Im Laufe des individuellen Erwerbs werden neue sprach‐ liche Formen konstruiert, diese werden wieder im Rahmen der Neukreation eines Musters konserviert, sodass sich sprachliche Kreativität auf verschiedenen Erwerbsstufen manifestieren kann (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Ontogenetische Kreativität 278 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="279"?> Ontogenetische Kreativität ist demnach der konstruktive Umgang mit Heraus‐ forderungen, die entwicklungsbezogen sind (vgl. Zepter und Schindler 2025) und nur entwicklungsbezogen einzuschätzen sind. Wie bereits angeführt, ist konstruktive Kreativität immer nur auf der Folie typischer Muster einer spezi‐ fischen Erwerbsphase festzumachen. Im Bereich des argumentierenden Schrei‐ bens können wir dafür auf entsprechende Erwerbsmodelle und Untersuchungen zum Erwerb von Textprozeduren zurückgreifen. 3 Musterhaftigkeit und Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten - Korpusanalyse 3.1 Kontext der Korpusanalyse Wie bereits in der Einleitung dargestellt, ist die folgende Analyse von Korpus‐ daten in einem interdisziplinären DFG-Projekt verortet, in dem das Ziel verfolgt wird, die Struktur argumentativer Lerner: innentexte durch Verfahren des Natu‐ ral Language Processing zu erkennen und darauf aufbauend computerbasiertes adaptives Feedback zu generieren. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden in der ersten Projektphase 1320 argu‐ mentative Texte aus dem Scriptoria-Korpus der Forschungsdatenbank Lerner‐ texte (FD-LEX) (Becker-Mrotzek und Grabowski 2018) bezogen auf die Makro- und Mikrostruktur der Texte händisch annotiert. Auf das konkrete Annotations‐ vorgehen gehen wir im nachfolgenden Abschnitt ein (vgl. dazu auch Kilsbach et al. 2025). In einer weiteren Projektphase wurden NLP-Methoden entwickelt, um das Korpus zu analysieren und Textstrukturen automatisch zu identifizieren. Für die automatisierte Einordnung der Texte in Niveaustufen war es dann im nächsten Schritt notwendig, die Texte (semi-)holistisch zu raten. In der letzten Phase des Projekts steht die Modellierung und Generierung des adaptiven automatisierten Feedbacks im Fokus. 3.2 Methodisches Vorgehen zur Analyse von Musterhaftigkeit und Kreativität Um nachvollziehen zu können, wie wir bei der Analyse vorgegangen sind, um musterhafte und möglicherweise kreative sprachliche Strukturen in den Lerner: innentexten zu identifizieren, ist es zunächst notwendig, das Annotati‐ onsvorgehen etwas ausführlicher darzustellen. Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 279 <?page no="280"?> 3.2.1 Mehrebenenannotation Die Texte des Korpus wurden auf verschiedenen Ebenen annotiert, um auf diese Weise differenzierte Ansatzpunkte für die Generierung des Feedbacks zu ermöglichen. Fokussiert wurden dabei ausschließlich argumentative Strukturen der Texte, nicht die inhaltliche Ebene. Wir unterscheiden insgesamt vier Annotationsebenen (zwei Ebenen auf der Makrostruktur und zwei Ebenen auf der Mikrostruktur), wobei mit jeder Ebene jeweils kleinere sprachliche Einheiten in den Blick genommen werden. Die folgende Übersicht zeigt die einzelnen Ebenen und die entsprechenden Annotationskategorien. - Annotationsebene Annotationskategorien Makrostruktur Makrostruktur 1 - • Einleitung • Hauptteil • Konklusion Makrostruktur 2 • Argument • Gegenargument Mikrostruktur Mikrostruktur 1 • Thema • These/ modifizierte These/ Gegenthese • Claim • Premise Mikrostruktur 2 • B E S C H R E I B E N • B E G R ÜN D E N • P O S I T I O N I E R E N • K O N Z E D I E R E N • E X E M P L I F I Z I E R E N • R E F E R I E R E N • E I N S C H R ÄN K E N • A B WÄ G E N • S C H L U S S F O L G E R N • A U F F O R D E R N Tab. 1: Annotationskategorien Auf Makrostrukturebene 1 werden die Texte in Anlehnung an Persing et al. (2010) bezogen auf die Kategorien Einleitung, Hauptteil und Konklusion annotiert. Die Annotation von Argumenten und Gegenargumenten erfolgt auf Makrostrukturebene 2. Wir verstehen unter einem Argument bzw. Gegenar‐ gument argumentative Textbausteine, die aus mindestens einer Begründung bestehen, durch die die These gestützt oder angegriffen wird. Oftmals werden diese Begründungen durch Fakten, Beispiele oder Erfahrungen gestützt, sodass ein Argument oder Gegenargument eine komplexe Einheit bilden kann. 280 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="281"?> Auf Mikrostrukturebene 1 werden kleinere argumentative Bausteine erfasst: These/ modifizierte These/ Gegenthese sowie Claims und Premises. Hierbei wurde auf das Annotationsvorgehen von Stab und Gurevych (2017) zurückgegriffen. Die These ist eine zentrale argumentative Komponente für den weiteren Argu‐ mentationsverlauf, weil mit ihr die Darlegung des Standpunkts zum strittigen Thema erfolgt (Stab und Gurevych 2017: 627). Im Verlauf des Annotationsproz‐ esses stellte sich mehrfach heraus, dass sich die Annotationskategorie These als nicht ausreichend erwies. In zahlreichen Texten wurden von den Schreibenden im Verlauf des Textes Thesen inhaltlich modifiziert oder auch gegenteilige Thesen aufgestellt, sodass für die Annotation die Kategorien modifizierte These und Gegenthese ergänzt wurden. Auf der Mikrostrukturebene 2 werden Textprozeduren, die in argumentativen Texten realisiert werden, annotiert (vgl. u.a. Feilke und Rezat 2020; Rezat et al. 2024a). Die Integration dieser Annotationsebene zielt auf die Generierung von Feedback mit empirisch fundierter schreibdidaktischer Basis. Es gibt mitt‐ lerweile einige schreibdidaktische Untersuchungen, die zeigen konnten, dass sich eine Überarbeitung von Texten mithilfe von Textprozeduren als Feedback‐ kriterien positiv auf die Qualität der Textüberarbeitung auswirkt (vgl. Anskeit 2019; Schicker 2020). Die Festlegung der argumentativen Textprozeduren als Annotationskategorien erfolgte in Form einer gemischt deduktiv-induktiven Kategorienbildung (vgl. dazu Kilsbach et al. 2025). Im Zuge des Annotationsprozesses zeigte sich, dass zum einen Annotations‐ kategorien ergänzt werden mussten (modifizierte Thesen und Gegenthesen) und zum anderen einige Teile in den Texten nicht mit den bereits dargestellten Annotationskategorien zu fassen waren. Letztere wurden als dysfunktionale Elemente bei der Annotation berücksichtigt. Es handelt sich dabei um Text‐ strukturen, die inhaltlich keinen Bezug zur Schreibaufgabe bzw. zum Argumen‐ tationsthema hatten und daher strukturell nicht die geforderte Textfunktion erfüllen. 3.2.2 Analyse von Musterhaftigkeit und Kreativität Wir richten nun den Blick auf dysfunktionale Elemente und modifizierte The‐ sen, weil diese im Annotationsprozess als Musterabweichungen (dysfunktionale Elemente) und als Mustervariation (modifizierende Thesen sind Varianten von Thesen) identifiziert wurden. Konkret gilt es einzuschätzen, inwiefern entsprechende Korpusbelege als Formen sprachlicher Kreativität einzustufen sind. Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 281 <?page no="282"?> 2 Die Aufgaben stammen aus dem Scriptoria-Korpus des FD-LEX (Becker-Mrotzek und Grabowski 2018). In Schreibaufgabe 1 geht es darum, Stellung zur Schuldfrage bei einer fiktiven Unfallsituation zu beziehen. Bei Schreibaufgabe 2 müssen die Schreibenden begründen, ob sie der Lehrkraft melden würden, wenn ihr Freund eine Wasserbombe aus dem Fenster wirft und einen Mitschüler trifft. In Schreibaufgabe 3 müssen die Schreibenden Stellung nehmen zur Frage, ob in der Schule Fördergelder in Sofas und Sessel oder in Spiel- und Sportgeräte investiert werden sollten. Grundlage der Analyse sind 120 Texte zu drei verschiedenen argumentativen Schreibaufgaben 2 , die für die Berechnung des Inter-Annotator-Agreements verwendet wurden. Die Textbelege wurden qualitativ ausgewertet. Textstellen wurden im Annotationsprozess dann als dysfunktional annotiert, wenn Textteile vorlagen, die nicht eindeutig der Textfunktion des Argumen‐ tierens zugeordnet werden konnten. Ausschlaggebendes Kriterium war hier die Frage der funktionalen Passung eines Textteils. Eine fehlende funktionale Passung ist beispielsweise die Integration beschreibender Passagen, in denen eine erlebnisorientierte Perspektive eingenommen wird. Die Passagen selbst dienen aber nicht der Stützung der im Text eingenommenen Position. Dies ist in Textbeispiel 1 der Fall. Die fettgedruckte Textstelle ist als dysfunktional eingestuft worden. Meiner Meinung nach hat der Fahrradfahrer Schuld weil er auf die Spur des roten Autos gefahren ist. und das rote Auto ist ausgewichen weil er keine Möglichkeit hatte. Ich finde der Fahrradfahrer muss sich bedanken weil die beiden sonst zusammengekracht wären. Auffordern dysfunktional Textbeispiel 1 mit dysfunktionalem Element (FD-LEX, 0H51HH01, Gymnasium 5) Der: die Schreibende hatte die Aufgabe, sich zu einer konkreten Unfallsituation zu der Frage zu positionieren, welche der beteiligten Personen schuld am Unfall sei. Der fettgedruckte Teil des Textes wurde im Annotationsprozess als dys‐ funktionales Element eingestuft. Zu Beginn des Textes positioniert sich der: die Schreibende zur Schuldfrage: „Meiner Meinung nach hat der Fahrradfahrer Schuld.“ Die These wird dann durch ein stützendes Argument begründet. Darauf folgt ein Textabschnitt, der als dysfunktional eingestuft wurde, weil es sich um eine Aufforderung handelt, die bezogen auf die Schreibaufgabe und die argumentative Textfunktion nicht relevant ist: „Ich finde der Fahrradfahrer muss sich bedanken weil die beiden sonst zusammengekracht wären.“ Modifizierte Thesen wurden dann annotiert, wenn die Schreibenden eine inhaltliche Veränderung einer These vorgenommen haben und damit vom Muster einer eindeutigen These (Ich bin für/ gegen X) abweichen. Es handelt sich um Thesen, die inhaltlich erweitert bzw. durch das Hinzufügen von 282 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="283"?> Einschränkungen ‚neujustiert‘ wurden (vgl. Kilsbach et al. 2025). Dies ist in Textbeispiel 2 der Fall: Also ich würde zu den Schuldigen gegangen und gesagt, dass er sich melden soll Und wenn er nein sagt gehe ich zur Lehrerin modifizierte These Einschränken weil das nicht ok ist was er gemacht hat. Textbeispiel 2 mit modifizierter These (FD-LEX, 0K54TN06, IGS 5) Der: die Schreibende hatte die Aufgabe, sich zu der Frage zu positionieren, ob man einen Freund, der eine Wasserbombe aus dem Fenster geworfen hat und einen Mitschüler mit der Wasserbombe trifft, bei der Lehrkraft melden sollte. Zu Anfang des Textes positioniert sich der: die Schreibende: Er: sie ist der Auffassung, dass der Schuldige sich melden soll. Diese klare These bzw. Positionierung wird direkt im Anschluss modifiziert, indem eine Bedingung aufgestellt wird, unter der die zuvor angeführte Position nicht gilt (wenn der Schuldige sich weigert, dieser Aufforderung nachzugehen). Diese modifizierte These wird schließlich durch ein Argument begründet. 4 Ergebnisse der Analyse Das untersuchte Teilkorpus ist insgesamt als hochgradig musterhaft einzustu‐ fen, weil nur elf dysfunktionale Elemente in den insgesamt 120 Texten annotiert wurden. Bei den modifizierten Thesen ist es ähnlich: In 120 Texten wurden 21 modifizierte Thesen annotiert. 4.1 Dysfunktionale Elemente Die elf als dysfunktional eingestuften Textbelege befinden sich sowohl auf der Makrostrukturebene 2 als auch Mikrostrukturebene 1. Es handelt sich also überwiegend um Textteile, die im Zuge der Annotation nicht als Bestandteil eines Arguments oder Gegenarguments identifiziert werden konnten bzw. nicht als Thema, These/ modifizierte These/ Gegenthese, Claim oder Premise erfasst werden konnten. Anhand des Textbeispiels 1 wurde bereits gezeigt, wie ein dysfunktionales Element aussehen kann. Die Analyse der betroffenen Textstellen zeigt, dass der Grund für die Dys‐ funktionalität in zehn Fällen auf eine fehlende Passung zur Schreibaufgabe bzw. zur geforderten Schreibfunktion zurückzuführen ist. Wir führen dies wiederum darauf zurück, dass die Schreibenden eine erlebnisorientierte Perspektive auf den strittigen Sachverhalt einnehmen und sich erwerbstheoretisch noch in der Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 283 <?page no="284"?> Phase des „knowledge telling“ (Kellogg 2008: 4) befinden. Textbeispiel 3 zeigt dies exemplarisch: In der Schule hatten wir einen Vorfall. Ein Junge oder ein Mädchen hat im Klassen‐ zimmer mit einer Wasserbombe herum geworfen. Schließlich ist die Wasserbombe ans Fenster gekracht. Ich würde diesen Vorfall meinen Eltern berichten. Ich würde ihnen sagen, dass ich nur spielen wollte, doch dann ist Wasserbombe mir ausversehen aus den Fingern/ Händen gerutscht. Ich hoffe meine Eltern werden nicht so sauer auf mich sein! … Und ich hoffe auch sehr, dass sie nicht jedem von dem Vorfall erzählen. dysfunktional Textbeispiel 3 (FD-LEX, 1K93AE17, Gymnasium 5) Nach einer beschreibenden Einleitung, in der das Thema des Textes dargelegt wird, positioniert sich der: die Schreibende. Nach einem erneut beschreiben‐ den Textteil zum eigenen Vorgehen folgt der fettgedruckte, als dysfunktional eingestufte Textteil. Hier dominiert die Erlebnisperspektive. Bezogen auf das Schreibziel erfüllt die betroffene Textstelle keinerlei argumentative Funktion, ist damit insgesamt funktional unangemessen und somit irrelevant für die Argumentation. Wir verzichten an dieser Stelle auf eine Analyse jedes einzelnen Textbelegs und wenden uns einem dysfunktionalen Textbeleg (Textbeispiel 4) zu, bei dem im Gegensatz zu den anderen zehn Textbelegen keine fehlende Passung zur Schreibaufgabe und geforderten Schreibfunktion vorliegt. Wir stufen diesen Fall als eine Form sprachlicher Kreativität im Erwerb ein. Was soll ich tun? Ich muss mit ihr reden. Langsam gehe ich zum Telefon und rufe sie an: „Mira? “ meldet sie sich. M: Hey, was ist denn los? I: Heute wegen, der Wasserbombe, du musst es der Lehrerin sagen, dass du es warst oder ich muss es tun. M: Ich kann es ihr nicht sagen du weißt wie viel Ärger ich kriege. I: Aber es ist nicht fair, es nicht zu sagen. M: Würdest du es ihr sagen? Du würdest mich verpfeifen? I: Ich halte es für das Richtige. dysfunktional Am nächsten Tag gehe ich zur Lehrerin und erzähle ihr alles was ich weiß und dass es ein Unfall war. Auch erkläre ich ihr die Gründe, warum Mira nichts gesagt hat. Sie versteht Mira und es gibt kaum Ärger. Auch Mira hat eingesehen, dass ich das Richtige getan habe und ist nicht sauer auf mich. Textbeispiel 4 mit dysfunktionalem Element (FD-LEX, 0H51BO16, Gymnasium 9) 284 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="285"?> Die Schreibende beginnt den Text mit einem einleitenden inneren Monolog. Darauf folgt ein fiktiver Telefondialog zwischen der Verfasserin des Textes und ihrer Freundin Mira zur Frage, wie man sich verhalten sollte. Durch den Dialog werden zwei Perspektiven auf den strittigen Sachverhalt eingenommen. Die Verfasserin kommt am Ende des Dialogs zu dem Ergebnis, dass sie es für richtig hält, der Lehrerin den Vorfall zu melden. Der an den dialogischen Teil anschließende Textabschnitt kann als eine Art Konklusion gelesen werden, in der der Ausgang der Situation dargestellt wird. Es ist zunächst untypisch, einen Dialog in direkter Rede und damit eine Form konzeptionell medialer Mündlichkeit in einen schriftlichen argumentativen Text zu integrieren. Daher wurde diese Textstelle auch als dysfunktional anno‐ tiert. Aus Erwerbsperspektive ist dieser Dialog aber ein interessantes Phänomen, weil die Verfasserin auf diese Weise auch die Gegenperspektive einnimmt. Dass eine solche Perspektivübernahme Schreibenden beim Argumentieren schwerfällt, zeigen zahlreiche Untersuchungen zum Erwerb konzessiven Argu‐ mentierens (vgl. u.a. Rezat 2011; Langlotz 2014; Feilke und Rezat 2021). Wir deuten das dialogische Muster des mündlichen Argumentierens im Medium der Schriftlichkeit als eine Form sprachlicher Kreativität, weil es einen konstrukti‐ ven Umgang mit einer entwicklungsbezogenen Herausforderung, und zwar der Perspektivübernahme beim Argumentieren, darstellt. 4.2 Modifizierte Thesen Von den insgesamt 120 annotierten Texten enthalten 21 Texte modifizierte Thesen, d.h. Textstellen, in denen eine vorhandene These auf unterschiedliche Weise inhaltlich verändert wurde (vgl. Textbeispiel 2). Insgesamt finden sich modifizierte Thesen überwiegend in Texten der neunten Klasse (in 15 von 21 Texten), wobei Fünftklässler: innen auch schon modifizieren - dies aber in einem deutlich geringeren Ausmaß (in 6 von 21 Texten). Die betroffenen 21 Texte enthalten insgesamt 26 modifizierte Thesen - das heißt, in einigen Texten haben Schreiber: innen mehrmals modifiziert. Alle 26 modifizierten Thesen sind auf Makrostrukturebene 1 im Hauptteil der Texte zu verorten. Es können Unterschiede bezogen auf die Position auf Textstrukturebene sowie den Argumentausbau der jeweiligen modifizierten These festgestellt werden: 21 der modifizierten Thesen sind einer normalen These nachgestellt und dienen somit der Modifizierung der zuvor erfolgten Positionierung. Dabei folgen sie entweder unmittelbar auf die normale These, die argumentativ nicht weiter ausgeführt wird, oder aber auf eine These mit Argumentausbau. Lediglich sechs modifizierte Thesen sind textstrukturell vor Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 285 <?page no="286"?> einer nicht modifizierten These verortet. Dies ist überwiegend in Texten der Neuntklässler: innen der Fall. Interessant ist, dass in den Texten, in denen zu Anfang eine modifizierte These und danach eine These für bzw. gegen den strittigen Sachverhalt aufgestellt wird, die Schreibenden schließlich eine eindeutige und endgültige Position einnehmen. Das folgende Textbeispiel zeigt dies exemplarisch: Ich würde zuerst mit meinem Freund darüber reden, dass er sich stellen soll. Wenn er es nicht tut würde ich zur Lehrerin gehen und alles sagen. modifizierte These Ich denke es ist wichtig das man es zugibt, denn ich weiß selber wie es ist wenn die Brille kaputt geht und wie viel das kostet. Außerdem würde ich gern wissen wer das war. Ich wäre auch nicht böse, wenn er sich entschuldigt. Ich würde meinem Freund also wirklich raten da zur Lehrerin zu gehen. These er muss ja auch nix bezahlen, außerdem fühlt er sich dann besser. Textbeispiel 5 mit modifizierter These (FD-LEX, 1H92UA06, Gymnasium 9) Auch in diesem Text geht es um die Positionierung zum fiktiven Wasserbom‐ benvorfall. Schon zu Beginn des Textes ist die modifizierte These vorzufinden, die durch ein Argument ausgebaut wird. Die endgültige These („Ich würde meinem Freund also wirklich raten da zur Lehrerin zu gehen.“) erfolgt erst am Schluss in Form einer Konklusion. Die Analysen zeigen weiterhin, dass die modifizierten Thesen insbesondere in Texten der Neuntklässler: innen ausgebaut werden. In den Texten der Fünft‐ klässler: innen hingegen sind modifizierte Thesen nur in vier Texten argumen‐ tativ ausgebaut. Auffällig ist außerdem, dass das Auftreten der modifizierten Thesen mit der Art der Schreibaufgabe zusammenhängt: 23 der 26 modifizierten Thesen kommen in den Texten zu der Wasserbomben-Aufgabe (Schreibaufgabe 2) vor. Diese Aufgabe ist kaum sprachlich profiliert und hier steht die epistemi‐ sche Funktion des Argumentierens im Vordergrund. Es geht nicht darum, die Adressat: innen zu überzeugen. Die übrigen drei modifizierten Thesen sind in Texten zur Schreibaufgabe 1 (Unfallsituation-Aufgabe) vorzufinden. Bei dieser Schreibaufgabe steht die persuasive Funktion des Schreibens im Fokus. Modifizierte Thesen werden von Lernenden vorrangig durch die Textproze‐ dur des E IN S C H RÄN K E N S realisiert. Dafür werden im untersuchten Korpus die folgenden Prozedurausdrücke verwendet: wenn (nicht), würde ich …; Falls nicht, würde ich …; Ich würde jedoch …; Ich würde aber auch (nicht) …; XY würde ich aber nicht-…; Aber… auch… Darüber hinaus nutzen Lernende die Textprozeduren des P O S ITI O NI E R E N S , B E S C H R E I B E N S , A U F F O R D E R N S - jedoch in einem deutlich geringeren Ausmaß. Die 286 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="287"?> Modifizierung erfolgt in diesen Fällen auf inhaltlicher Ebene und weniger durch spezifische Textprozedurausdrücke. Wir sehen in dem Anführen modifizierter Thesen ein epistemisches Argu‐ mentieren, das u.E. direkt mit der Art der Schreibaufgabe zusammenhängt: Die Schreibenden gelangen während ihres Schreibprozesses zu der Erkenntnis, dass es schwierig ist, sich eindeutig zu positionieren, und reagieren darauf mit der Modifizierung. Die Frage ist nun, ob und inwiefern die Modifizierung der Thesen als Form sprachlicher Kreativität einzustufen ist. Zu Anfang wurde bereits festgestellt, dass die Modifizierung der Thesen in den Texten der Fünftklässler: innen selten zu finden sind, dagegen finden sie sich in den Texten der neunten Klasse vergleichsweise häufig und mit einem entsprechenden argumentativen Ausbau. Aus Erwerbsperspektive ist daher anzunehmen, dass die Realisierung modifizierter Thesen in den Texten der älteren Schreibenden als ein typischer musterhafter Gebrauch einzustufen ist. Man könnte hier auch von einer Form konservierender Kreativität (vgl. Feilke 2019) sprechen. Anhand der vorliegenden Daten haben wir versucht, die Frage nach dem Vorliegen sprachlicher Kreativität aus einer Erwerbsperspektive heraus zu beantworten. Ontogenetische Kreativität stellt demnach ein individuelles Er‐ werbsphänomen dar, das abhängig von der Schreiberfahrung und der Schrei‐ berwerbsstufe ist. Während die modifizierten Thesen, die sich in den Texten der Neuntklässler: innen zeigen, im Erwerb bereits konservierte Muster darstellen, stufen wir die modifizierten Thesen in den Texten der Fünftklässler: innen als eine Form konstruktiver Kreativität ein, weil diese Muster in den Texten der jüngeren Schreibenden recht selten auftreten. 5 Fazit Zepter und Schindler (2025) modellieren in ihrem Eingangsbeitrag mögliche Bezugnahmen auf Kreativität und Sprache. Von den genannten Bezugsfeldern wurde im vorliegenden Beitrag der Bereich des sprachlichen Lernens in der bildungssprachlichen, und zwar der argumentativen Textproduktion fokussiert. Gegenstand der Analyse waren Schreibprodukte von Schreibenden der fünften und neunten Klasse. Die Annotation und Analyse der Texte haben gezeigt, dass die Texte der Lernenden und damit das bildungssprachliche argumentative Schreiben hochgradig musterhaft sind, es aber dennoch im untersuchten Text‐ korpus Textelemente gibt, die als Formen sprachlicher Kreativität einzustufen sind. Vorausgesetzt wurde hier allerdings ein ontogenetischer Kreativitätsbe‐ griff. Ontogenetische Kreativität in Lerner: innentexten festzumachen, setzt ein Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 287 <?page no="288"?> Wissen über die Typizität einer spezifischen Erwerbsphase voraus. Als Schrei‐ bende selbst kreativ zu sein, setzt dagegen ein Wissen über typische Muster und die Verwendung dieser Muster in einem bestimmten Gebrauchszusammenhang voraus. In unseren Analysen hat sich gezeigt, dass das Auftreten sogenannter dys‐ funktionaler Elemente in den Texten der Schüler: innen mit einer Ausnahme auf eine fehlende Passung zur Schreibaufgabe und zur geforderten Schreib‐ funktion zurückzuführen ist. In diesen Fällen handelt es sich nicht um For‐ men sprachlicher Kreativität, sondern um typische Muster einer bestimmten Erwerbsphase des Argumentierens. Man könnte hier auch von Lerner: innen‐ formen sprechen. Nur in einem Fall sehen wir bei einem als dysfunktional annotierten Textelement eine Form sprachlicher Kreativität. In diesem Fall wird die in argumentativen Texten geforderte virtuelle Dialogizität durch einen konzeptionell mündlichen Dialog realisiert, sodass ein Erwartungshorizont erzeugt wird, „der die Grundlage liefert für die Konzeption des Unerwarteten und Überraschenden“ (Feilke 2019: 88). Es handelt sich in diesem Fall um einen konstruktiven Umgang mit der entwicklungsbezogenen Herausforderung der Perspektivübernahme. Dadurch, dass die modifizierten Thesen gehäuft in den Texten der älteren Schreibenden vorkommen und selten in den Texten der jüngeren Schreibenden, haben wir die Verwendung der modifizierten Thesen in den Texten der jüngeren Schreibenden als eine Form sprachlicher Kreativität eingestuft, wohingegen wir die Verwendung bei den älteren Schreibenden als typischen musterhaften Gebrauch eingestuft haben. Dabei gehen wir davon aus, dass die Modifizierung von Thesen zum einen ein bestimmtes inhaltliches Wissen und zum anderen ein Reflexionsniveau bei den Schreibenden voraussetzt, weil Bedingungen angeführt werden müssen, unter denen eine bestimmte These gilt oder nicht. Schreibende der neunten Klasse scheinen modifizierte Thesen in einer zurück‐ liegenden Erwerbsphase bereits konstruiert und wieder konserviert zu haben, sodass sich die modifizierte These als sprachliche Kreativität für diese aktuelle Erwerbsphase manifestiert hat, also ein sich etabliertes Muster darstellt. Diese Annahme müsste aber an einem größeren Textkorpus bzw. an einer größeren Anzahl von modifizierten Thesen überprüft werden. Für weitere Forschungen wäre es interessant, anhand größerer längsschnitt‐ licher Korpora Übergänge von Erwerbsphasen genauer in den Blick zu nehmen und bezogen auf das Vorliegen sprachlicher Kreativität einzuschätzen. Aus den vorliegenden theoretischen Überlegungen zur ontogenetischen Kreativität liegt es u.E. nahe, in didaktischen Settings Spielräume zu eröffnen, die explizit zum 288 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="289"?> Erproben ‚neuer‘ sprachlicher Formen auf der Grundlage vorhandener Muster anregen. Literatur Anskeit, Nadine (2019). Kreativität vs. Musterorientierung? Empirische Erkenntnisse zu einer Didaktik der Textprozeduren. In: Lehnen, Katrin/ Pohl, Thorsten/ Rezat, Sara/ Steinhoff, Torsten/ Steinseifer, Martin (Hrsg.). Feilke Revisited. Siegen: Universitäts‐ verlag, 23-26. Becker-Mrotzek, Michael/ Grabowski, Joachim (2018). Textkorpus Scriptoria. In: Becker- Mrotzek, Michael/ Grabowski, Joachim (Hrsg.). FD-LEX (Forschungsdatenbank Lern‐ ertexte). Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Abrufbar unter: https: / / fd-lex.uni-koeln.de. (Stand: 02.12.2022). Bubenhofer, Noah (2009). Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/ New York: De Gruyter. Chomsky, Noam (1965). Aspects of the theory of syntax. Cambridge: MIT. Feilke, Helmuth (2014). Argumente für eine Didaktik der Textprozeduren. Beiträge zu einer Didaktik der Textprozeduren. In: Bachmann, Thomas/ Feilke, Helmuth (Hrsg.). Werkzeuge des Schreibens. Beiträge zu einer Didaktik der Textprozeduren. Stuttgart: Fillibach bei Klett, 11-34. Feilke, Helmuth (2019). Konservierung und die kulturelle Kreativität der Sprache. In: Schröter, Juliane/ Tieken, Susanne/ Ilg, Yvonne/ Scharloth, Joachim/ Bubenhofer, Noah (Hrsg.). Linguistische Kulturanalyse. Berlin/ Boston: De Gruyter, 69-90. Feilke, Helmuth/ Rezat, Sara (2020). Textprozeduren. Werkzeuge für Schreiben und Lesen. Praxis Deutsch 47 (281), 4-14. Feilke, Helmuth/ Rezat, Sara (2021). Textprozeduren und der Erwerb literaler Kompetenz. Der Deutschunterricht 73 (5), 69-79. Grundler, Elke/ Rezat, Sara/ Schmölzer-Eibinger, Sabine (2020). Positionierungen in argu‐ mentativen Gesprächen und Briefen der Schule. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 72, 99-127. Heller, Vivien/ Morek, Miriam (2019). Fachliches und sprachliches Lernen durch dis‐ kurs(erwerbs)orientierte Unterrichtsgespräche. Empirische Evidenzen und Deside‐ rata mit Blick auf inklusive Settings. Didaktik Deutsch 24 (46), 102-121. Kellogg, Ronald T. (2008). Training writing skills: A cognitive developmental perspective. Journal of writing research 1 (1), 1-26. Kilsbach, Sebastian/ Rezat, Sara/ Michel, Nadine/ Karabey, Rabia/ Stahl, Maja/ Wachsmuth, Henning (2025). Mehrebenenannotationen argumentativer Lerner*innentexte für die automatische Textauswertung. Musterhaftigkeit und sprachliche Kreativität in argumentativen Lerner: innentexten 289 <?page no="290"?> Langlotz, Miriam (2014). Junktion und Schreibentwicklung. Eine empirische Untersu‐ chung narrativer und argumentativer Schülertexte. Berlin/ Boston: De Gruyter. Persing, Isaac/ Davis, Alan/ Ng, Vincent (2010). Modeling organization in student essays. In: Li, Hang/ Màrquez, Lluís (Hrsg.). Proceedings of the 2010 Conference on Empirical Methods in Natural Language Processing. Cambridge, MA: Association for Compu‐ tational Linguistics, 229-239. Abrufbar unter: https: / / aclanthology.org/ D10-1023.pdf (Stand: 10.01.2024). Rezat, Sara (2011). Schriftliches Argumentieren. Zur Ontogenese konzessiver Argumen‐ tationskompetenz. Didaktik Deutsch 16 (31), 50-67. Rezat, Sara/ Grundler, Elke/ Schmölzer-Eibinger, Sabine (2024a). „Ich find’s aber trotz‐ dem unfair.“ Argumentausbau in argumentativen Gesprächen und Briefen von Schü‐ ler*innen. In: Rezat, Sara/ Grundler, Elke/ Schmölzer-Eibinger, Sabine/ Feilke, Helmuth (Hrsg.). Textprozeduren in Spannungsfeldern. Tübingen: Stauffenburg, 189-218. Rezat, Sara/ Grundler, Elke/ Schmölzer-Eibinger, Sabine/ Feilke, Helmuth (Hrsg.) (2024b). Textprozeduren in Spannungsfeldern. Tübingen: Stauffenburg. Schicker, Stephan (2020). Förderung der Textbeurteilungskompetenz von Lernenden. Eine Interventionsstudie in sprachlich heterogenen Klassen. Münster: Waxmann. Stab, Christian/ Gurevych, Iryna (2016). Parsing Argumentation Structure in Persuasive Essays. Association for Computational Linguistics, 619-659. Abrufbar unter: https: / / arxiv.org/ abs/ 1604.07370 (Stand: 02.04.2024). Stein, Stephan/ Stumpf, Sören (2019). Muster in Sprache und Kommunikation. Eine Einführung in Konzepte sprachlicher Vorgeformtheit. Berlin: Schmidt. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. 290 Sara Rezat & Rabia Karabey <?page no="291"?> Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem Sarah Brommer Abstract: Der Beitrag untersucht Abweichungen vom musterhaften Sprachgebrauch in wissenschaftlichen Texten und deren Beurteilung. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass musterhafter Sprachgebrauch für den Handlungsraum ‚Wissenschaft‘ konstitutiv und sozial verbind‐ lich ist und Abweichungen davon zwangsläufig auffällig sind. Während bewusstes Abweichen als Stilmittel im Rahmen der Funktionalen Stilis‐ tik betrachtet wird, wird unbewusstes Abweichen als Gegenstand der Schreibdidaktik gesehen. Obwohl die Beurteilung der Intentionalität post festum problematisch ist, ist diese Unterscheidung zwischen bewusstem und unbewusstem Abweichen relevant, wenn es um die Beurteilung von Abweichungen geht. Anhand von Textbeispielen wird aufgezeigt, dass Abweichungen in studentischen Arbeiten in der Regel sanktioniert werden, während Abweichungen bei etablierten Wissenschaftler: innen als kreativ und postkonventionell akzeptiert werden. Die Studie schließt mit einer explorativen Korpusanalyse, die die Hypothese untersucht, dass er‐ fahrene Wissenschaftler: innen möglicherweise anders vom Musterhaften abweichen als Noviz: innen und somit die unterschiedlichen Bewertungen von Nicht-Musterhaftem als kreativ vs. fehlerhaft nicht nur von der jeweiligen Autor: innenschaft, sondern auch von der Art der Abweichung selbst abhängen könnten. 1 Einleitung Musterhafter Sprachgebrauch ist konstitutiv für den Handlungsraum ‚Wis‐ senschaft‘ (Brommer 2018; Ehlich 1999; Steinhoff 2007a). Als Mitglied der Wissenschaftsgemeinde verwendet man die „einschlägigen Routineausdrücke“ (Feilke 2012a: 15), um den Diskurs- und Textsortenbezug herzustellen. Dieser musterhafte Sprachgebrauch ist „sozial normativ, d.h. verbindlich für alle, <?page no="292"?> die zu einem bestimmten sozialen System [in diesem Fall der Wissenschaft] dazugehören“ (Feilke 1993: 8f., Kursiv. i.O.). Schmidt (2000: 334) spricht gar von „rigide[n] Erwartungen und Werte[n]“, die für die wissenschaftliche Kom‐ munikation gelten. Da scheint es wenig Raum für Kreativität und Abweichen vom Musterhaften zu geben und für den Gebrauch eines eigenen Schreibstils. Gleichwohl ist es berechtigt zu fragen, ob neben der Musterhaftigkeit „nicht ebenso (sprachliche) Kreativität für [wissenschaftliche] Schreibprozesse und Diskurspraktiken konstitutiv sein [kann]“ (Zepter und Schindler 2025: 8) und kompetente Sprecher: innen und Schreiber: innen - wenn sie denn differenziert und vor allem auch flüssig und flexibel auf entsprechende bildungssprachlich/ fachsprach‐ lich typische Sprachhandlungen zugreifen können - dafür ebenso Kreativität einset‐ zen und entfalten (ebd., Kursiv. i.O.). In welchem Verhältnis stehen also Musterorientierung einerseits und Kreativität anderseits beim Verfassen wissenschaftlicher Texte und wie werden Musterori‐ entierung vs. Kreativität in wissenschaftlichen Texten bewertet? Zunächst werde ich ‚Kreativität‘ in Beziehung setzen zu ‚Stil‘ und darauf aufbauend auf die stilistischen Handlungsmuster ‚Typisieren‘ und ‚Unikalisie‐ ren‘ sowie auf die Frage nach der Intentionalität und Bewusstheit stilistischen Handelns eingehen (Abschn. 2). Ausgehend von einer produktorientierten Per‐ spektive skizziere ich anschließend, wie sprachliche Musterhaftigkeit induktiv korpuslinguistisch ermittelt werden kann und was den musterhaften Sprachge‐ brauch wissenschaftlicher Texte auszeichnet (Abschn. 3). Im Folgenden fokus‐ siere ich die Frage nach der Textqualität und beleuchte mit Blick auf den Aspekt ‚Erwartung‘, inwieweit die Qualität eines Textes mit dem Grad seiner Muster‐ haftigkeit korreliert und wie Abweichungen vom musterhaften Sprachgebrauch bei wissenschaftlichen Texten beurteilt werden (Abschn. 4). Die Überlegungen werden an exemplarisch ausgewählten Daten veranschaulicht, um zu zeigen, dass für die Bewertung eines nicht-musterhaften wissenschaftlichen Textes zum einen relevant ist, wer den Text verfasst hat (= wer vom Musterhaften abgewichen ist). Zum anderen geben aber auch die Abweichungen selbst einen Hinweis darauf, ob ein bewusstes Abweichen vorliegt und entsprechend eine stilistische Wirkungsabsicht unterstellt werden kann. Als Konsequenz daraus lässt sich ableiten (Abschn. 5): Erst wenn eine Wirkungsabsicht vorliegt bzw. unterstellt wird, werden Abweichungen nicht als mangelnde Schreibkompetenz bewertet, sondern können vielmehr als Ausdruck von Kreativität aufgefasst werden. Der Ausblick (Abschn. 6) widmet sich abschließend der Frage nach der Stabilität wissenschaftssprachlicher Konventionen, die sich angesichts der 292 Sarah Brommer <?page no="293"?> 1 Für einen umfassenden Überblick über Aspekte und Dimensionen von Stil vgl. Fix et al. (2008, 2009) sowie Meier (2014); eine Übersicht über verschiedene Auffassungen von Kreativität leistet Heller (2000), vgl. auch Zepter und Schindler (2025). 2 Zur Veranschaulichung der Facetten seien einige Beispiele genannt: a) Stil als signifi‐ kante Form zeigt sich bspw. in einem literarischen Text, der durch seine besondere Sprache auffällt. b) Stil als typische Form wird sichtbar in Märchen („Es war einmal …“) oder in Kochrezepten (Infinitivkonstruktionen und Vorgangspassiv). c) Stil als Intention vs. Stil als Effekt unterscheidet zwischen dem beabsichtigten Stil, also dem, was der: die Autor: in mit der sprachlichen Gestaltung erreichen will, und dem Effekt, den der Text beim Lesen tatsächlich hervorruft. Diese beiden Dimensionen können sich decken oder voneinander abweichen: Wird Humor (= Intention) in einem Text bspw. missverstanden und als unangemessen oder beleidigend wahrgenommen, tritt ein unerwarteter bzw. unerwünschter Effekt ein. d) Stil kann in Texten, die durch ihre Sprache bestimmte soziale, kulturelle oder individuelle Identitäten hervorheben oder abgrenzen (z.B. Jugendsprache, Dialekte, Kolonialsprache), als Mittel der Differenzierung und der Identitätsbildung verstanden werden. e) Mit der Entscheidung für eine bestimmte sprachliche Ausdrucksweise (= Stil als Wahl) können Schreiber: innen ihre Absichten zum Ausdruck bringen oder den Kontext berücksichtigen. Bspw. soll ein formeller, sachlicher Stil in einem Bewerbungsschreiben Professionalität und Kompetenz vermit‐ teln. f) Stil als Kontrasterfahrung betont die Wahrnehmung von Stil in Abgrenzung zu anderen Stilformen, deutlich wird dies durch einen Stilbruch, bspw. bei literarischen Texten durch einen Wechsel im Erzählstil. Möglichkeit KI-gestützten Schreibens und damit verbundenen potenziellen Veränderungen im Umgang mit musterhaften Texten stellt. 2 Musterorientierung und Kreativität als Stilmittel 2.1 Kreativität und Stil Kreativität ist eng mit Stil verbunden; und beide Konzepte teilen die Schwierig‐ keit einer konzisen Begriffsbestimmung. 1 Während Kreativität auf die Fähigkeit referiert, originelle und bedeutungsvolle Ideen zu generieren und umzusetzen, verweist Stil auf das „Wie einer Ausführung“ (Riesel und Schendels 1975: 15) und damit auf die individuelle Vorgehens- und Ausdrucksweise. Kreativität und Stil sind damit keine gegensätzlichen Kategorien: Eine Sache lässt sich sowohl mit Blick auf die Kreativität als auch hinsichtlich des Stils betrachten. Bezogen auf Texte und Textproduktion besteht - ungeachtet unterschied‐ licher Stilauffassungen im Detail - Einigkeit darin, dass sich Stil im Text manifestiert und textkonstitutiv wirkt (z.B. Fix 2009; Sowinski 1999). Entspre‐ chend lassen sich die verschiedenen Facetten des Stilkonzepts auch auf Texte anwenden: a) Stil als signifikante Form, b) Stil als typische Form, c) Stil als Intention vs. Stil als Effekt, d) Stil als Differenz und Identitätsphänomen, e) Stil als Wahl und f) Stil als Kontrasterfahrung (Linke 2009: 1134f.). 2 Die Facetten Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 293 <?page no="294"?> nehmen gleichermaßen Bezug auf den Entstehungs- und Rezeptionsprozess von Texten (z.B. Stil als Intention, Stil als Wahl, Stil als Kontrasterfahrung) wie auch auf das Produkt, den Text, selbst (z.B. Stil als signifikante oder typische Form). Dadurch kann Stil sowohl als Prozessals auch als Produktkategorie gefasst werden. Gleiches gilt für Kreativität, die sich ebenso gleichermaßen auf den Schreib‐ prozess wie auch auf das Produkt, den Text, beziehen lässt: So kann Kreativität in allen Phasen des Schreibprozesses eine Rolle spielen - von originellen Wegen, sich einem Thema zu nähern, bis hin zu unkonventionellen Schreib- und Überarbeitungstechniken. Ebenso kann sich Kreativität im Text auf verschiede‐ nen Ebenen zeigen: in der Lexik, Grammatik, Strukturierung, Argumentation usw. - Kreativität im Schreibprozess wird jedoch nicht zwangsläufig im Text sichtbar. Es ist auch denkbar, auf kreativen Wegen zu einem konventionellen, durchschnittlichen Produkt zu gelangen. Umgekehrt ist es genauso möglich, dass am Ende eines konventionellen Weges ein kreatives Produkt steht. Kreativität und Stil sind daher eng miteinander verbunden, beide können gleichermaßen im Schreibprozess zum Tragen kommen und im Text sichtbar werden, - wobei nicht jede Form stilistischen Handelns mit Kreativität einher‐ geht, worauf im Folgenden eingegangen wird. 2.2 Stilistische Handlungsmuster Stil gründet primär auf einer Auswahl aus einer Vielzahl alternativer Ausdrucks‐ möglichkeiten (bspw. Köller 2009: 1222; Püschel 2000; Sandig 1997). Abhängig von der spezifischen Wahl lassen sich zwei Hauptkategorien stilistischer Hand‐ lungsmuster unterscheiden: erstens die Konformität mit dem Usuellen und Musterhaften, was bedeutet, gemäß den vorgegebenen Normen und Erwartun‐ gen zu handeln (auch ‚Typisieren‘ genannt), und zweitens die Variation oder Abweichung vom Usuellen und Musterhaften, was ein Handeln entgegen den vorgegebenen Normen und Erwartungen darstellt (auch als ‚Unikalisieren‘ bezeichnet). Der erste Handlungstyp, das Typisieren, folgt beim Schreiben der Musterori‐ entierung; hiermit ist man gewissermaßen auf der sicheren Seite: Solch ein Text ist typisch im Vergleich zu anderen Texten der Textsorte und erfüllt daher die rezipient: innenseitigen Erwartungen. Er hebt sich nicht vom Durchschnitt ab, weder im Negativen noch im Positiven. Der zweite Typ stilistischen Handelns, das Unikalisieren, folgt dem Bedürfnis bzw. Wunsch nach Abgrenzung oder Kreativität, ggf. auch der Notwendigkeit, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen (Hoffmann 2009: 1317). Aus der Menge 294 Sarah Brommer <?page no="295"?> alternativer Ausdrucksmöglichkeiten wird gerade nicht das Typische, Erwart‐ bare gewählt, sondern es wird bewusst vom musterhaften Sprachgebrauch abgewichen. Dass das Typisieren auf der einen Seite und das Unikalisieren auf der anderen Seite als gegensätzliche stilistische Handlungsmuster beschrieben werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen: Weder gibt es immer eine musterhafte Formulierung und der Rest ist Abweichung bzw. ggf. Kreativität noch gibt es eine trennscharfe Grenze zwischen Typisieren/ Musterhaftem und Unikalisie‐ ren/ Nicht-Musterhaftem. Vielmehr ist von einem prototypischen Stilkonzept auszugehen (z.B. Sandig 2006: 535ff.), das der Tatsache gerecht wird, dass ein Text mehr oder weniger musterhaften Sprachgebrauch aufweisen kann, dass es also prototypische und weniger prototypische Textexemplare gibt und Stil unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Eine Stilanalyse kann grundsätzlich beide Handlungstypen in den Blick neh‐ men, denn beim Stilbegriff ist nicht festgelegt, „ob er eher auf die Abweichung von gegebenen oder eher auf die Ausbildung und die spezifische Verwendung von Sprachgebrauchsnormen gegründet werden soll“ (Köller 2009: 1220). Wenn eine Stilanalyse das Typisieren fokussiert, arbeitet sie das Typische, Musterhafte heraus. Stil äußert sich dann in einem für die jeweilige Kommunikationssitua‐ tion bzw. die jeweilige Textsorte musterhaften Sprachgebrauch und manifestiert sich in der Tatsache, dass etwas typischerweise so ausgedrückt wird, obwohl es auch anders ausgedrückt hätte werden können. Fokussiert eine Stilanalyse hin‐ gegen das Unikalisieren, dann wird ‚Stil‘ im Sinne von Individualstil aufgefasst. Es geht dann um das individuelle Abweichen vom Durchschnitt, und genau an dieser Stelle kann sich Kreativität zeigen. 2.3 Intentionalität und Bewusstheit stilistischen Handelns Beiden stilistischen Handlungsmustern, sowohl dem Typisieren als auch dem Unikalisieren, ist aus Sicht der Stilistik das Intentionale gemein, wie an der Bezeichnung stilistischen Handelns als „Wahl“ und „Entscheidung“ (Fix 2004: 41) deutlich wird: Zugrunde liegt die von Püschel (1995) geprägte, aber auch von an‐ deren (z.B. Hoffmann 2017) übernommene Auffassung, dass Stil auf dem Muster ‚Gestalten‘ beruhe bzw. dass das Gestalten „das allgemeinste oder zentrale Stil‐ muster“ (Püschel 1995: 307) sei. Stil wird als „Gestaltungsprodukt“ (Hoffmann 2017: 23) bestimmt; damit korreliert Stil zwangsläufig mit Intentionalität. Wie sich zeigen wird, ist das Kriterium der (zugesprochenen) Intentionalität im Kontext wissenschaftlicher Texte entscheidend dafür, wie nicht-musterhafter Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 295 <?page no="296"?> Sprachgebrauch bewertet und inwieweit Kreativität (an)erkannt wird (s.u., Abschn. 4.2). Aus der Grundannahme, stilistisches Handeln sei intentionales Handeln, lässt sich jedoch nicht schließen, stilistisches Handeln erfolge grundsätzlich bewusst. Vielmehr können sprachliche Mittel intentional, aber unbewusst verwendet werden (Sandig 2006: 29; so auch Riesel und Schendels 1975: 16). Intentionalität und Bewusstheit sind demnach zu unterscheiden: Während die Bewusstheit zwangsläufig im Prozess verortet und produzent: innengebunden ist, wird die In‐ tentionalität als etwas begriffen, das auch im Urteil der Rezipient: innen liegt. So kann ein Sprachgebrauch aus Sicht der Rezipient: innen als musterhaft wahrge‐ nommen und ihm eine erkennbare Intention zugeschrieben werden, die jedoch dem: der Produzent: in keinesfalls bewusst (gewesen) sein muss. Entscheidend für Stil ist demnach allein die rezipient: innenseitige Wahrnehmung und was stilistisch beobachtbar ist, unabhängig von der Art des Zustandekommens: Stil wird als „Performanz-Ergebnis“ (Sandig 2006: 31) begriffen und „alle Erschei‐ nungen, die wir auf der Textoberfläche finden, sind […] an der Konstitution des Textstils beteiligt“ (Fix 2005: 48; zu korpuslinguistischen Ansätzen zum Stil z.B. Scharloth et al. 2012). Mit dieser Perspektive auf Stil wird der Zusammenhang von Stil und Musterorientierung bzw. Kreativität ins Zentrum gerückt (auch Fix 1999; Sandig 2006: Kap. 6): Der Grund für die Wirkung und Wahrnehmbarkeit von Stil liegt im Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von musterhaftem Sprachgebrauch (und nicht im bewussten stilistischen Handeln). 2.4 Produktorientierte Perspektive Die Verlagerung des Fokus vom stilistischen Handeln (Prozessperspektive) auf den Textstil (Produktperspektive), wie ich ihn im Folgenden zugrunde lege, hat zur Folge, dass Fragen nach dem Verwendungskontext zwangsläufig nicht Gegenstand der Untersuchung sind, z.B. in welchen kommunikativen Kontexten jemand Mustern folgt oder von ihnen abweicht, welche Gründe für den jeweiligen Sprachgebrauch ausschlaggebend sind oder wie bewusst kreativ jemand handelt. Um diesen Fragen datengestützt nachgehen zu können, wären Schreibprozessdaten oder reflexive Daten der Schreibenden notwendig. Erst dann ist es möglich, stilistisches Handeln zu analysieren und z.B. herauszufin‐ den, ob jemand bewusst vom typischen Stil abgewichen ist. Im Rahmen einer produktorientierten Stilanalyse hingegen wird Stil, wie oben beschrieben, als reines Oberflächenphänomen betrachtet. Der Stil eines Textes ist, kurz gesagt, seine Ausdrucksweise. Diese wird von den Schreib‐ gewohnheiten der Schreibenden ebenso geprägt wie von den spezifischen 296 Sarah Brommer <?page no="297"?> Anforderungen der jeweiligen Textsorte. Durch das Vorhandensein sprachlicher Mittel, d.h. durch die Art und Weise der gewählten Formulierungen, die mus‐ terhaft oder eben nicht musterhaft sind, kann der Text eine bestimmte Wirkung erzielen. Ausgehend von dieser Produktperspektive unterscheide ich folglich auch begrifflich zwischen Abweichen und Abweichung und frage nicht danach, ob jemand (bewusst oder unbewusst) abgewichen ist, sondern ob eine Abweichung vom musterhaften Sprachgebrauch vorliegt. Genauso betrachte ich den Aspekt der Kreativität zunächst rein produktorientiert und beschränke Kreativität damit auf die an der Textoberfläche beobachtbare Abweichung vom muster‐ haften Sprachgebrauch. Somit wird die beobachtbare Abweichung zu einem notwendigen Kriterium für Kreativität - ob es auch ein hinreichendes ist, wird zu klären sein. 3 Die Musterhaftigkeit wissenschaftlicher Texte 3.1 Sprachliche Musterhaftigkeit korpuslinguistisch ermitteln Um den Grad an Musterhaftigkeit und Kreativität (als Abweichung vom Mus‐ terhaften) zu untersuchen, muss zunächst der musterhafte Sprachgebrauch als Referenz bestimmt werden. Diesem musterhaften Sprachgebrauch nähere ich mich induktiv korpuslinguistisch (Brommer 2018; Bubenhofer 2009); denn „[t]ypischer Sprachgebrauch kann operationalisiert werden als rekurrentes Auf‐ treten von textuellen Einheiten in bestimmten Sprachsituationen“ (Bubenhofer und Scharloth 2010). Im Folgenden skizziere ich sehr kurz das methodische Vorgehen, das in Brommer (2018) ausführlich beschrieben wird. Muster in diesem korpuslinguistischen Verständnis zeichnen sich durch eine wiederkehrende, situativ bedingte Verwendung aus, d.h., sie sind rekurrent, konventionalisiert, an einen spezifischen Verwendungskontext gebunden und umgekehrt für diesen Kontext typisch. Die computergestützte korpuslinguisti‐ sche Analyse ermöglicht es, große Textmengen auszuwerten und die Ergebnisse empirisch breit abzusichern. Als Muster wird alles identifiziert, was statistisch signifikant ist, d.h. häufiger vorkommt, als zu erwarten wäre. Grundlage hierfür ist ein Korpusvergleich: Etwas ist typisch für den Sprachgebrauch in einem bestimmten Verwendungskontext (= Untersuchungskorpus) im Vergleich zum Sprachgebrauch in anderen Verwendungskontexten (= Referenzkorpus). Zur Berechnung der statistischen Signifikanz wird das beobachtete, tatsächliche Vorkommen eines Musters ins Verhältnis zum erwarteten Vorkommen unter Berücksichtigung der jeweiligen Korpusgrößen gesetzt. Sind zwei Korpora gleich groß (gemessen an der Anzahl der Wörter/ Tokens), so ist zu erwarten, Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 297 <?page no="298"?> 3 Das Vorgehen lässt sich am Beispiel eines Käsekuchens mit Rosinen anschaulichen (vgl. Perkuhn et al. 2012: 113f.): Halbiert man einen Käsekuchen, in den 100 Rosinen völlig zufällig hineingestreut wurden, würde man erwarten, dass sich in jeder Hälfte ähnlich viele Rosinen finden. Weniger oder mehr Rosinen würden stutzig machen und man würde vermuten, dass diese unerwartete, ungleiche Verteilung auf irgendwelche Gründe zurückzuführen ist wie bspw. auf eine schief gestellte Backform, die die Rosinen aufgrund der Schwerkraft auf eine Seite rutschen ließ. 4 Ab wann ein fragliches Wort oder eine fragliche Wortverbindung als musterhaft gelten kann, hängt davon ab, welcher Schwellenwert für das Signifikanzniveau festgesetzt wird. In der im Folgenden beschriebenen Studie (Brommer 2018) wurde dieser Wert zunächst auf p ≤ 0,05 festgelegt, was bedeutet, dass nur Muster ermittelt werden, deren Vorkommenshäufigkeit sich mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 95 Prozent als signifikant für das Korpus und nicht als zufällig bewerten lässt. Um die Datenmenge zu reduzieren, wurde der Schwellenwert in einem zweiten Schritt auf p-≤-0,001 angehoben. 5 Die Entscheidung, journalistische Texte als Referenz heranzuziehen, liegt erstens darin begründet, dass der Sprachgebrauch der überregionalen Presse als „Leitvarietät“ (Eisenberg 2007: 215) und repräsentativ für das geschriebene Gegenwartsdeutsch angesehen werden kann (vgl. ebd.: 217). Damit ist ein Korpus aus Zeitungstexten grundsätzlich ein geeignetes Vergleichskorpus, um Auffälligkeiten und Abweichungen vom typischen Standarddeutschen herauszuarbeiten. Zweitens kommt hinzu, dass Studierende am Beginn ihres Studiums dazu tendieren, sich - neben ihrer Erfahrung aus dem schulischen Aufsatzunterricht - am journalistischen Sprachgebrauch zu orientieren. Erst mit zunehmender Erfahrung im wissenschaftlichen Schreiben legen sie journalistische Muster ab und nähern sich dem wissenschaftlichen Stil an (vgl. Steinhoff dass ein Wort (oder eine Wortverbindung) in beiden Korpora gleich häufig vorkommt. Ist dies nicht der Fall und weicht die tatsächliche Häufigkeit von der erwarteten Häufigkeit ab, ist dies auffällig, also signifikant. 3 Das Ausmaß der Signifikanz bemisst sich daran, wie groß der Unterschied zwischen der erwarteten und der tatsächlichen Häufigkeit ist: je größer der Unterschied, desto größer die Signifikanz. Im Rahmen einer solchen vergleichenden Analyse können sowohl mehrgliedrige Muster (n-Gramme) als auch Muster, die nur aus einem Wort bestehen (Keywords), offengelegt werden. Des Weiteren lassen sich musterhafte morphosyntaktische Strukturen aufdecken, sog. morphosyntakti‐ sche Muster, die aus vordefinierten Leerstellen bestehen, die flexibel lexikalisch gefüllt werden können. 4 3.2 Sprachliche Musterhaftigkeit in wissenschaftlichen Texten In der in Brommer (2018) beschriebenen induktiven korpuslinguistischen Ana‐ lyse wurde der Sprachgebrauch in sprachwissenschaftlichen und medizinischen Aufsätzen (Wissenschaftskorpus = Untersuchungskorpus) mit dem Sprachge‐ brauch in journalistischen Texten (= Referenzkorpus) vergleichend untersucht. 5 298 Sarah Brommer <?page no="299"?> 2007a). Die Frage danach, was typisch wissenschaftlich ist, ist also gerade im Vergleich mit journalistischen Texten besonders interessant. 6 Warum das Muster „in der Regel“ der Hervorhebung dient und nicht etwa - wie man auf den ersten Blick vermuten könnte - zur Relativierung eingesetzt wird, ist ausführlich in Brommer (2018: 217ff.) dargestellt. Ermittelt wurden alle für das Untersuchungskorpus statistisch signifikanten Keywords, n-Gramme und morphosyntaktischen Muster. Das Vorgehen erfolgte konsequent induktiv, d.h., die Muster wurden automatisiert ohne einschrän‐ kende Vorgaben und allein auf Basis der statistischen Signifikanz ermittelt. Die auf diese Weise offengelegten Muster wurden auf eine mögliche Disziplinen‐ spezifik geprüft und sowohl formal als auch funktional beschrieben. Auch die nachgelagerte, funktionale Beschreibung wurde streng datengeleitet anhand der konkreten Musterrealisierungen und jeweiligen Kotexte vorgenommen. Das induktive Vorgehen bietet gegenüber deduktiven, hypothesengeleiteten und verifikationsorientierten Untersuchungen den Vorteil, dass der Blick nicht von vornherein auf bestimmte, erwartbare Muster eingeschränkt ist, sondern sich auch Muster offenlegen lassen, die nicht erwartet wurden, die den Erwartungen möglicherweise sogar zuwiderlaufen oder die so alltäglich sind, dass sie „in ihrer unauffälligen Häufigkeit verborgen“ (Steyer 2013: 13) blieben. Die Analyse des Sprachgebrauchs in wissenschaftlichen Aufsätzen hat zahl‐ reiche, auch auf den ersten Blick unerwartete sprachliche Muster zutage gefördert. Betrachtet man die Muster im Hinblick auf funktionale Verwendungs‐ bereiche, so gibt es zum einen Muster, die untrennbar mit wissenschaftlichem Handeln verbunden sind, zum anderen solche, die das Verfassen wissenschaft‐ licher Texte und das Formulieren im engeren Sinn betreffen. Wissenschaftliches Handeln erfordert eine sachliche, argumentativ begründete Darstellung wis‐ senschaftlicher Inhalte bzw. des methodischen Vorgehens bei gleichzeitiger Einbettung in den wissenschaftlichen Diskurs. Entsprechend finden sich z.B. Muster für das Argumentieren, das Umgehen mit Sachverhalten, das Kontextu‐ alisieren oder das Signalisieren von Objektivität und Nachvollziehbarkeit. Soll etwa eine Aussage relativiert werden, geschieht dies typischerweise mit „mehr oder weniger“ und „nicht ohne Weiteres“; soll hingegen etwas betont oder hervorgehoben werden, sind „insbesondere“ sowie „in der Regel“ musterhafte Formulierungen. 6 So gibt es u.a. typische Muster zum Erklären (z.B. „wodurch“, „auf diese Weise“) und zum Entgegensetzen (z.B. „wohingegen“, „im Unterschied zu“). Und es zeigt sich beispielsweise, dass in wissenschaftlichen Texten kausale Zusammenhänge typischerweise mit „daher“ und „somit“ hergestellt werden und nicht etwa mit „denn“ oder „weil“, was in wissenschaftlichen Texten weniger gebräuchlich ist. Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 299 <?page no="300"?> 7 In diesem Zusammenhang ist noch auf den Unterschied von Typizität und Spezifik hinzuweisen. Ein einzelnes Muster ist immer typisch für den untersuchten Sprachaus‐ schnitt, also typisch für eine bestimmte Textsorte. Das Muster kommt jedoch nicht ausschließlich dort vor, es ist also nicht spezifisch für die Textsorte. Spezifisch ist erst die Summe aller für die untersuchte Textsorte typischen Muster. Neben den Mustern, die sich auf das wissenschaftliche Handeln beziehen, gibt es deiktische Muster, die die Textorganisation unterstützen, sowie morphosyn‐ taktische Muster, die einerseits dem agenslosen Formulieren dienen, anderer‐ seits als allgemein musterhafte Formulierungen anzusehen sind. So lässt sich musterhaft eine Möglichkeit oder auch eine Notwendigkeit ausdrücken, und auch der Umgang mit Handlungsverben ist musterhaft. Musterhaft sind ebenso die Vorfeldbesetzung mit Konnektoren (z.B. „Darüber hinaus“, „Dadurch“), bestimmte Formen der postnominalen Attribuierung (z.B. „Der Hinweis einer Arbeitsgruppe auf den Effekt von Serum“) und die syntaktische Komprimierung durch pränominale Mehrfachattribuierung (z.B. „Die in der Exspirationsluft während der Beatmung vorherrschende Temperatur“). Abb. 1: Korpusvergleich - Muster - Typikprofil All diese und viele weitere Muster sind (aufgrund der fachübergreifenden Zusammensetzung des Aufsatzkorpus) disziplinenübergreifend typisch für wissenschaftliche Aufsätze und ergeben in ihrer Summe das textsortenspezi‐ fische Typikprofil ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ (vgl. Abb. 1). 7 Aufgrund des Stellenwerts des wissenschaftlichen Aufsatzes als ‚Leitgattung‘ innerhalb der Produktion und Rezeption wissenschaftlicher Texte (Brommer 2018: 32-35) be‐ 300 Sarah Brommer <?page no="301"?> 8 Dieses Verständnis von allgemeiner Wissenschaftssprache legt den Fokus auf statis‐ tisch begründete Sprachgebrauchsmuster, wohingegen das Konzept der sog. „alltäg‐ lichen Wissenschaftssprache“ nach Ehlich (1999; vgl. auch Antos 1996) den Fokus auf funktional begründbare sprachliche Ausdrucks- und Konstruktionsmuster legt (vgl. ausführlich Brommer 2018: 20f.). - Mit den Begriffen ‚Wissenschaftssprache‘ und ‚wissenschaftliche Texte‘ beziehe ich mich im Folgenden auf die Expert: innen- Kommunikation: Gemeint sind von Wissenschaftler: innen für das Fachkollegium verfasste Texte. Populärwissenschaftliche Texte (Expert: innen-Laien-Kommunikation) und wissenschaftsdidaktisierende Texte (z.B. Lehrbücher; Expert: innen-Nachwuchs- Kommunikation) zählen nicht dazu. schränkt sich die Aussagekraft der Korpusanalyse nicht auf den Sprachgebrauch in wissenschaftlichen Aufsätzen, sondern reicht darüber hinaus. Daher sind auch die ermittelten Muster sowie das Typikprofil als repräsentativ für die Wissenschaftssprache allgemein anzusehen. 8 Aus der Tatsache, dass die Musterhaftigkeit von Texten und Textsorten bei jeder Person zu einem Musterwissen und damit verbunden zu einer rezipi‐ ent: innenseitigen Erwartungshaltung führt, lässt sich eine normative Wirkung und soziale Verbindlichkeit des Musterhaften ableiten (Brommer 2019). Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt: bei den einschlägigen Routine‐ ausdrücken und dem sozial normativen Sprachgebrauch im Handlungsraum ‚Wissenschaft‘. - Was lässt sich nun zur Beurteilung der Textqualität sagen und wie sieht es aus, wenn in wissenschaftlichen Texten Abweichungen vom musterhaften Sprachgebrauch vorliegen? 4 Guter Stil, Musterhaftigkeit und Textqualität von wissenschaftlichen Texten 4.1 Korrelation von Musterhaftigkeit und Textqualität Im Hinblick auf die Qualität eines Textes stellt sich die grundsätzliche Frage, woran sich diese bemisst. In Anlehnung an Schiewes (2007) Überlegungen zum guten Deutsch der Gegenwart lassen sich drei stilistische Kriterien für gute Texte formulieren: Prägnanz, Variation und Angemessenheit. Prägnanz umfasst nach Schiewe (2007: 378) die treffende Wahl einer Textsorte in einer Situation sowie entsprechender lexikalischer und grammatischer Mittel zur Realisierung der Textsorte. Variation verweist auf den stilistischen Spielraum bei der Textproduktion und das Abweichen vom Musterhaften. Mit diesem Kri‐ terium werden das kreative Moment des Sprachgebrauchs und das stilistische Handlungsmuster ‚Unikalisieren‘ angesprochen, während Prägnanz und ebenso Angemessenheit die Relevanz von Normen und Musterorientierung betonen Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 301 <?page no="302"?> 9 Dabei ist zu beachten, dass das von der Sprachkritik gezeichnete Bild von guten Texten bzw. gutem Deutsch in erster Linie sprachpflegerisch motiviert und damit sprachkonservativ ist (Schrodt 2014: 268). (ebd.) und auf das Handlungsmuster ‚Typisieren‘ referieren. Angemessenheit als zentrale Stilanforderung und als in der linguistischen Sprachkritik etablierter Maßstab (Schäfer 2020) bildet die Grundlage auch für die weiteren Kriterien und meint „die Wahl jener sprachlichen Mittel, die einer Sprachverwendungssitua‐ tion adäquat sind“ (Schiewe und Wengeler 2005: 5). Die Relevanz des Kriteriums der Angemessenheit hebt auch M. Fix hervor, der es als ausschlaggebend für die Qualität eines Textes einschätzt und schreibt, dass sich die Textqualität „nur in Bezug auf die Angemessenheit an die pragmatische Funktion, nicht anhand isolierter Textsortennormen beschreiben“ (2008: 33) lässt. In diesem Sinne sind ‚gute Texte‘ in erster Linie angemessene Texte, - woran aber bemisst sich nun die Angemessenheit eines Textes? Ganz allgemein lässt sich zunächst sagen, dass ein Text auf Seite der Lesenden auf einen „Erwartungshorizont“ (Hoffmann 2009: 1327) trifft und ein Text dann ein angemessener Text ist oder als solcher wahrgenommen wird, wenn er die rezipient: innenseitigen Erwartungen erfüllt. Es ist davon auszugehen, dass diese Erwartungshaltung zweifach geprägt ist: zum einen durch das von der öffentli‐ chen Sprachkritik vermittelte Wissen darüber, wie ein Text einer bestimmten Textsorte beschaffen sein sollte 9 , zum anderen durch das individuelle, durch Erfahrung erworbene implizite Textmusterwissen darüber, wie ein Text der ent‐ sprechenden Textsorte üblicherweise beschaffen ist (U. Fix 2008: 9-13). Dieses Textmusterwissen basiert auf der durchschnittlichen Beschaffenheit aller Texte einer jeden Textsorte. Wenn wir einen Text lesen, vergleichen wir ihn unter Berücksichtigung des situativen Kontextes mit unseren Mustervorstellungen und beurteilen, inwieweit er unseren Erwartungen entspricht, also musterhaft und in diesem Sinne angemessen ist. Entscheidend für die Angemessenheit eines Textes ist also der Grad seiner Musterhaftigkeit bzw. Typizität. Vor dem Hintergrund des korpuslinguistisch ermittelten Typikprofils stellt sich nun bezogen auf musterhafte Texte die Frage: Ist ein musterhafter, angemes‐ sener Text auch ein guter Text oder muss sich ein guter Text vom Durchschnitt (positiv) abheben? Bezogen auf den Text, der vom Musterhaften abweicht, ist zu fragen: Wie wird die Qualität eines nicht-musterhaften Texts beurteilt und gibt es Unterschiede in der Beurteilung, je nachdem, wer wie abweicht? Die erste Frage wird unterschiedlich beantwortet: Für Adamzik (2004: 47) beispielsweise ist ein „gutes Beispiel“ (ein gutes Textexemplar) ein „typischer 302 Sarah Brommer <?page no="303"?> 10 Diese Zuschreibung findet sich in der Einführung ‚Textlinguistik‘ von 2004. Bemer‐ kenswerterweise ist die Zuschreibung von ‚typisch‘ = ‚gut‘ in der neusten Auflage der Textlinguistik von Adamzik nicht mehr enthalten (Adamzik 2016). 11 Die im Folgenden verwendeten Textbeispiele entstammen den Korpora von Brommer (2018) sowie Steinhoff (2007a). Vertreter der Kategorie“. 10 Auch U. Fix (2008: 4) bezeichnet den „typischen Vertreter seiner Klasse“ (mit Bezugnahme auf Adamzik (2004)) als einen „ge‐ lungenen Text“. Demnach wäre ein musterhafter Text ein guter Text und das Typikprofil könnte auch als Empfehlung der Schreibdidaktik dienen. Sandig (2007: 157) wiederum definiert ‚gut‘ als „‚bezogen auf einen Bewertungsmaßstab über dem Durchschnitt liegend‘, überdurchschnittlich“. Demzufolge wäre ein musterhafter Text nur ausreichend oder zufriedenstellend, und ein Text müsste in einem positiven Sinne vom Musterhaften abweichen, um als ‚gut‘ beurteilt zu werden. Das Typikprofil kann dann nur als Orientierung dienen und punktuelle Abweichungen vom Typikprofil wären erstrebenswert. Anhand von exemplarischen Beispielen wissenschaftlicher Texte möchte ich im Folgenden einige Beobachtungen anstellen, die zum einen die qualitative Beurteilung des Musterhaften und des Nicht-Musterhaften betreffen und zum anderen daran anknüpfend den Blick darauf richten, wer den Text jeweils verfasst hat. 11 Bei wissenschaftlichen Texten von Studierenden (Seminar- und Abschlussarbeiten) handelt es sich zwar nicht um wissenschaftliche Texte im engeren Sinne (Texte der Expert: innen-Kommunikation), denn die Studierenden befinden sich erst auf dem Weg hin zur Expert: innenschaft. Gleichwohl gilt auch für ihre Texte der von Expert: innen verfasste wissenschaftliche Aufsatz als Beurteilungsmaßstab, da er das Lernziel darstellt, auf das die Studierenden beim Erwerb der wissenschaftlichen Textkompetenz hinarbeiten. 4.2 Die qualitative Beurteilung von Musterhaftem und Nicht-Musterhaftem in wissenschaftlichen Texten Die folgenden Beobachtungen nehmen den ‚ich‘-Gebrauch in wissenschaftli‐ chen Texten als Ausgangspunkt; daran anknüpfend werde ich auf weitere Formulierungsauffälligkeiten eingehen. Das Verfassen wissenschaftlicher Texte ist mit der Herausforderung verbun‐ den, Wissen einerseits sachbezogen darzustellen und andererseits transparent zu vermitteln. Die Forderung nach Objektivität und die gleichzeitige Unumgänglichkeit, als schrei‐ bendes Subjekt textkonstitutiv tätig zu sein, führt beim Verfassen wissenschaftlicher Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 303 <?page no="304"?> Texte zu der paradoxen Situation, dass der Schreibende als textkonstituierend immer vorhanden ist, aber gleichzeitig möglichst wenig im Text auf sich selbst referieren sollte. (Kaiser 2002: 183) Aus diesem Grund war die Verwendung des Personalpronomens ‚ich‘ in wis‐ senschaftlichen Texten lange Zeit unüblich, was im überspitzten Postulat des sog. „Ich-Verbots“ bzw. „Ich-Tabus“ (Weinrich 1989: 132f.; Kretzenbacher 1995: 26f.) zum Ausdruck kommt. Inzwischen haben sich die Schreibkonventionen auch unter dem angloamerikanischen Einfluss verändert, doch zu viel oder unpassender ‚ich‘-Gebrauch (s.u.) wird nach wie vor sanktioniert. Vielmehr wird auf alternative Möglichkeiten zurückgegriffen, die Verfasserreferenz zum Aus‐ druck zu bringen, wie die Übersicht von Steinhoff (2007a: 165f.) veranschaulicht: • Zustandspassiv: „sei die Anmerkung erlaubt“ • „werden“-Passiv & Modalverb: „kann/ muss/ soll/ darf die Frage gestellt wer‐ den“ • „lassen“ & „sich“ & V (Inf.): „lässt sich sagen“ • „sein“ & „zu“ & V (Inf.): „ist zu diskutieren“ • „sein“ & Adjektiv mit Suffix „-bar“ und „-lich“: „ist erkennbar“, „ist vermut‐ lich“ • Partizipialkonstruktionen: „der zu behandelnde Aspekt“ • Funktionsverbgefüge: „findet im nächsten Kapitel Berücksichtigung“ • Nominalisierungen: „durch die Darstellung der Thematik“ • Bescheidenheitsverben: „scheint tragfähiger zu sein“ • Subjektschübe: „nimmt dieses Kapitel Bezug auf “ • „wie“-Sätze: „wie erläutert worden ist“ • Lexem „Verfasser(in)“ o. Ä.: „geht der Verfasser von-… aus“ • Meinungsausdrücke: „ist meines Erachtens“ • usw. Eine genauere Betrachtung lohnt nun aber gerade die Verwendung des ersten Personalpronomens, da die Verwendung von ‚ich‘ besonders markiert ist und - je nach Verwendungsweise (s.u.) - dem musterhaften Sprachgebrauch in wissenschaftlichen Texten zuwiderläuft. Nach Steinhoff (2007a, b) lassen sich drei Typen der ‚ich‘-Verwendung unterscheiden: Das sog. Verfasser-Ich (Steinhoff 2007a: 180-191) dient der Textorganisation und der Orientierung der Leser: innen. Es wird gewissermaßen als „metatextuelle Leseanweisung“ (Auer und Baßler 2007: 19) verwendet, um die Lektüre des Textes anzuleiten und das Handeln des Verfasser-Ichs gegenüber den Leser: innen offenzulegen. Hierunter fallen ‚ich‘-Verwendungen wie in den 304 Sarah Brommer <?page no="305"?> 12 Das Verfasser-Ich wird zwar verwendet, ist aber ebenfalls nicht musterhaft für wissen‐ schaftliche Texte, da es im allgemeinen Sprachgebrauch gleichermaßen anzutreffen ist (Brommer 2018: 249-252). Musterhaft in wissenschaftlichen Texten ist die agenshafte Verfasserreferenz tatsächlich nur in Verbindung mit Verben, die das wissenschaftliche Handeln beschreiben, also das Forscher-Ich (ebd.). folgenden Beispielen (entnommen aus dem Wissenschaftskorpus, Brommer 2018): Ich fasse zusammen: Labordiagnostik ist als medizinische ärztliche Aufgabe kosten‐ effektiv, vorausgesetzt, sie wird unter Verwendung der besten Technik, nach der Indikation und der Schutzbedürftigkeit von Patient und Arzt qualifiziert erbracht. [#-1593, Labm] Davon soll nun im folgenden die Rede sein. Ich beginne mit einem Beispiel (Text 1): … [# 25, ZfGL] Das sog. Forscher-Ich wird im Rahmen der argumentativen Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand eingesetzt (Steinhoff 2007a, 191-199). Die Verfasser: innen nehmen dabei Bezug auf bestehendes Wissen und versuchen, darauf aufbauend neues Wissen zu schaffen, bspw. indem sie zur Begriffsbildung im Fach beitragen oder sich im wissenschaftlichen Diskurs positionieren. Dies ist in folgenden exemplarisch ausgewählten Textauszügen der Fall (entnommen aus dem Wissenschaftskorpus, Brommer 2018): Gerade solche Fragen bereichern aber dieses Feld der Forschung. Ich will mich daher im folgenden auf das zentrale Thema der arteriosklerotischen sowie auch postdilato‐ rischen Veränderungen der Blutbahnen beschränken und hierbei Forschungsarbeiten aus dem Umkreis der von mir geleiteten Abteilung anschließen. [# 170, BMT] Worum es mir im folgenden nicht geht, ist,-… [# 978, ZGL] Das sog. Erzähler-Ich (Steinhoff 2007a: 199-204), das sich auch als ‚privates Ich‘ oder ‚persönliches Ich‘ bezeichnen ließe, findet sich in Textpassagen, die narra‐ tiven, teilweise auch autobiografischen Charakter haben. In wissenschaftlichen Texten ist dieses Erzähler-Ich kaum anzutreffen: In den 99 von Steinhoff (2007a) analysierten wissenschaftlichen Aufsätzen findet sich kein einziges Beispiel für ein Erzähler-Ich; und auch die Korpusanalyse der 2.189 Texte in Brommer (2018: 239, 249-252) zeigt klar, dass das Erzähler-Ich nicht musterhaft ist. 12 Wenn es also verwendet wird, handelt es sich um Einzelfälle, die aufgrund ihres Seltenheitswerts markant ins Auge fallen und ein Zeichen für Kreativität sein könnten. Wie sind diese Abweichungen nun einzuschätzen? Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 305 <?page no="306"?> Das erste Beispiel einer solchen ‚ich‘-Verwendung ist dem Korpus von Steinhoff (2007a: 201) entnommen: In dieser Arbeit möchte ich mich ganz speziell dem Thema handlungs- und pro‐ duktionsorientierter Unterricht widmen, da ich in meiner Schulzeit fast nur die analytische und interpretatorische Seite des Dramas kennengelernt habe, jedoch fast nie Praktisches mit dem Werk erarbeitet habe. (Hervorheb. S.-B.) Etablierte Schreiber: innen, die dieses Textbeispiel beurteilen und in Hinblick auf die Domänentypik einstufen sollten, haben es auf einer Skala von 1 bis 5 mit 1,79 als ‚kaum wissenschaftlich‘ beurteilt (Steinhoff 2007a: 201f.). Ergänzend wurden zu diesem Textbeispiel folgende Einschätzungen hinsichtlich der Wis‐ senschaftlichkeit der Formulierung gegeben (ebd.): • subjektiver Erfahrungsbericht; „ganz speziell widmen“, „ich habe kennen‐ gelernt“ und „erarbeitet“ • rein subjektiver Begründungszusammenhang • nur persönliche Gründe angeführt • Transparenz der Motivation; jedoch unglücklich formuliert, so dass es leider nicht sehr wissenschaftlich wirkt • Wen interessiert die persönliche Erfahrung aus der Schulzeit? • Geht es um Selbsterfahrung/ -therapie oder um eine wissenschaftliche Ab‐ handlung? Die persönliche Motivation hat in wissenschaftlichen Arbeiten nichts verloren. Hier erscheint eine objektive Auseinandersetzung unwahr‐ scheinlich. An den Kommentaren wird unmissverständlich deutlich: Der Verweis auf die persönliche Erfahrungswelt, in diesem Fall der Bezug auf die Schulzeit, wird durchgängig kritisiert und als nicht passend für wissenschaftliche Texte eingestuft. Diese Kritik könnte man bei dem folgenden Textbeispiel ebenso anführen: Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen ist eine Alltagsgewohnheit, die ich mit vielen Mitmenschen teile: Die Gewohnheit, Todesanzeigen zu lesen. […] Diese habitualisierte Lektüre ist eine ‚soziale Praxis‘, die man sich meist im Rahmen familiärer Alltagskultur aneignet. Das gilt auch für mich: Auch in meiner Familie war der tägliche Blick auf die Seite mit den Todesanzeigen obligatorisch. Allerdings hatte das Wissen, wer gestorben ist, in dem kleinstädtischen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, eine andere soziale Bedeutung, als dieses Wissen heute für mich hat, wo ich in einer Großstadt lebe […]. (Linke 2001: 195, Hervorheb. S.-B.) 306 Sarah Brommer <?page no="307"?> 13 Heutzutage verläuft ein Review in der Regel anonym, oftmals als Double-Blind-Review- Verfahren, und es kann angenommen werden, dass Gutachter: innen nicht wissen, wessen Text sie begutachten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (2001) kann solch ein Verfahren nicht vorausgesetzt werden; möglicherweise war den Gutachter: innen der Name der Verfasserin bekannt. Ungeachtet dessen ist zu erwarten, dass ein Einreichen eines Beitrags bei der Zeitschrift für Germanistische Linguistik mit einem gewissen Maß an Erfahrung im wissenschaftlichen Diskurs einhergeht, weswegen Gutachter: innen auch im Fall der Unkenntnis des Autor: innennamens vermutlich einen gewissen Expert: innen-Status voraussetzen. Analog zu den kritischen Kommentaren zum ersten Beispiel ließen sich auch hier die gleichen Fragen stellen: „Wen interessiert die persönliche Erfahrung aus der Familie? Geht es um Selbsterfahrung/ -therapie oder um eine wissen‐ schaftliche Abhandlung? Die persönliche Motivation hat in wissenschaftlichen Arbeiten nichts verloren.“ Bemerkenswerterweise wurde dieser Text, der Fragen des Textsortenwandels mit sozialgesellschaftlichen Entwicklungen verbindet, in der etablierten Fachzeitschrift Zeitschrift für Germanistische Linguistik publi‐ ziert; der Aufsatz hat also ein Review-Verfahren durchlaufen und das Erzähler- Ich wurde offensichtlich akzeptiert. Abgesehen vom unüblichen ‚ich‘-Gebrauch sind auch sonst sprachliche Muster der Wissenschaftssprache wenig vertreten: Zwar wird Fachwortschatz wie „habitualisierte Lektüre“ oder „soziale Praxis“ verwendet, aber nur vereinzelt. Auch eine betont sachliche Argumentation ist nicht zu finden. Es wird, was in der Wissenschaftskommunikation normaler‐ weise verpönt ist, autobiografisch und anekdotisch erzählt sowie persönlich argumentiert. Offensichtlich erschien es in diesem Fall passend oder angebracht. Doch wann genau ist das der Fall? Ein entscheidendes Kriterium dabei ist die Frage, wer schreibt, also wer der: die Verfasser: in des Textes ist, in dem vom musterhaften Sprachgebrauch abgewichen wird. Beim zweiten Textbeispiel handelt es sich mit Angelika Linke um eine etablierte und profilierte Wissenschaftlerin, deren Expertise im Diskurs anerkannt ist und deren Schreibkompetenz ebenso wenig infrage gestellt wird. 13 Unter diesen Voraussetzungen ist es offensichtlich möglich, sich von den Kon‐ ventionen zu lösen und den textsortenspezifischen Erwartungen zuwiderzulau‐ fen. Steinhoff (2012) hat für diese Form des abweichenden Sprachgebrauchs den Begriff des postkonventionellen Schreibens vorgeschlagen. Er unterschei‐ det dieses Schreiben, das von Wissenschaftler: innen ausgeübt wird, die sich aufgrund ihres bereits erworbenen Status ein Abweichen vom Musterhaften erlauben können, vom konventionellen Schreiben, das man vollzieht, wenn man die wissenschaftliche Textkompetenz erworben hat und musterhaft schreibt. Diesem ist im Erwerbsprozess das präkonventionelle Schreiben vorangestellt, Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 307 <?page no="308"?> das diejenigen vollziehen, die die Konventionen noch nicht beherrschen, son‐ dern sich erst aneignen müssen. An dieser Stelle lässt sich die Brücke zurück zur Stilistik schlagen: Das konventionelle, musterhafte Schreiben lässt sich dem stilistischen Handlungs‐ muster des Typisierens zuordnen. Doch wann werden Abweichungen vom musterhaften Sprachgebrauch als postkonventionelles und wann werden sie als präkonventionelles Schreiben beurteilt? Und liegt Abweichungen immer auch das stilistische Handlungsmuster des Unikalisierens zugrunde? Bezogen auf die erste Frage weist Steinhoff zurecht darauf hin, dass ein: e kompetente: r Rezipient: in einen vom Muster abweichenden Sprachgebrauch wahrscheinlich nur dann als postkonventionell interpretieren und akzeptieren [wird], wenn er dem Produzenten einen besonderen Status zugesteht. Nur dann wird er geneigt sein, diesen Sprachgebrauch nicht als Fehler oder Hochstapelei, sondern als Ausdruck spezifischer und legitimer Wirkungsabsichten aufzufassen. (Steinhoff 2012: 99) Eben dies scheint beim zweiten Textbeispiel der Fall zu sein: Der Status der Verfasserin ist unstrittig. Im ersten Textbeispiel hingegen handelt es sich um einen studentischen Text: Ein besonderer Status des: der Schreibenden liegt somit nicht vor. Dass dies den Gutachter: innen, die den Text als ‚kaum wissenschaftlich‘ beurteilt haben, nicht bekannt war (im Zuge der Studie wurden zahlreiche Textauszüge vorgelegt, sowohl von Studierenden mit unterschiedlicher Schreiberfahrung verfasste Texte als auch solche von Expert: innen), heißt nicht, dass die Frage nach dem Verfasser: innen-Status irrelevant ist. Aber die Tatsache, dass das Erzählerische im ersten Textbeispiel kritisiert und im zweiten Textbeispiel akzeptiert wird, führt zur Frage, ob tatsächlich nur der Status des: der Verfasser: in darüber entscheidet, jemandem Postkonventionalität zuzugestehen, oder ob sich andere, im Text liegende Gründe finden lassen, die den ersten Text als präkonventionell entlarven. Ich meine, dass das der Fall ist. In dieser Arbeit möchte ich mich ganz speziell dem Thema handlungs- und pro‐ duktionsorientierter Unterricht widmen, da ich in meiner Schulzeit fast nur die analytische und interpretatorische Seite des Dramas kennengelernt habe, jedoch fast nie Praktisches mit dem Werk erarbeitet habe. (Steinhoff 2007a: 201, Hervorheb. S. B.) Abgesehen vom unkonventionellen Verweis auf die Schulzeit finden sich in dem Satz zahlreiche weitere nicht-musterhafte Formulierungen. So ist beispiels‐ weise die Attribuierung mit dem Ziel einer Intensivierung/ Verstärkung bzw. Relativierung/ Abschwächung mittels „ganz“ und „fast“ in wissenschaftlichen 308 Sarah Brommer <?page no="309"?> Texten unüblich. Musterhafte wissenschaftssprachliche Äquivalente zu „ganz + Adjektiv“ sind „äußerst“ oder „überaus“; dem Wissenschaftsstil entsprechende Alternativen zu „fast nie“ wären beispielsweise „kaum“, „selten“ oder „nur in Ausnahmefällen“. Auch auf die „Seite des Dramas“ zu referieren, ist all‐ tagssprachlich und ließe sich in wissenschaftlichen Texten angemessener als „Aspekt des Dramas“ bezeichnen. Anstatt zu schreiben, man habe fast nur XY kennengelernt, wäre eine wissenschaftssprachliche Ausdrucksmöglichkeit beispielsweise, XY habe im Vordergrund gestanden. Das eigentliche Problem liegt also meines Erachtens weniger im „ich“ und in dem Verweis auf die Schulzeit als im restlichen Text. Das Textbeispiel veran‐ schaulicht - und die weiteren studentischen Textbeispiele von Steinhoff (2007a) bestätigen diese Beobachtung: Je nachdem, wer schreibt, gibt es andere Arten von Abweichungen. Handelt es sich um weniger kompetente Schreiber: innen, enthält der Text nicht nur punktuelle Abweichungen, die als Stilmittel bewertet werden können, sondern es finden sich - dann meist zahlreiche - Abweichun‐ gen im Text, die zweifelsfrei nur durch eine noch nicht ausreichend entwickelte wissenschaftliche Schreibkompetenz erklärt werden können: Dazu gehören etwa falsche oder unpassende Formulierungen, fehlerhafte Funktionsverbge‐ füge, schiefe Metaphern oder falsch gewählte Präpositionen und Konnektoren. Solche Abweichungen sind bei kompetenten Schreiber: innen nicht (mehr) zu finden; sie entlarven die weniger kompetenten Schreiber: innen letztlich als solche, und diese Art der „kreativen Unikalisierung“ wird nicht goutiert. 5 Konsequenzen Aus einer produktorientierten Perspektive ist der methodische Zugang nur über den Text selbst möglich, nicht aber über die Verfasser: innen, den Schreibprozess oder den Kontext. So kann zwangsläufig nur der Textstil (als beobachtbares Phänomen an der sprachlichen Oberfläche), nicht aber das stilistische Handeln (als dahinterliegende Wirkungsabsicht) analysiert werden. Dieser methodische Ansatz hat auch zur Folge, dass Kreativität zunächst als ‚Abweichung vom Muster‘ operationalisiert wird. Aus dieser produktorientierten Perspektive gibt es demnach musterhafte und nicht-musterhafte Texte. Musterhafte Texte entsprechen den Erwartungen. Ob ihnen immer das stilistische Handlungsmuster des Typisierens zugrunde liegt, ob sich die Verfasser: innen musterhafter Texte also bewusst dafür entscheiden, musterhaft zu schreiben, lässt sich aus der Produktperspektive nicht beurteilen. Vielfach geschieht musterhaftes Schreiben unbewusst, indem auf verinnerlichte literale Handlungsroutinen (Feilke 2012a) zurückgegriffen wird. Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 309 <?page no="310"?> Nicht-musterhafte Texte laufen den Erwartungen zuwider. Ob es sich dabei aber um bewusstes nicht-musterhaftes Schreiben handelt, kann aus Produkt‐ perspektive ebenfalls nicht entschieden werden. Man sieht letztlich nur, dass eine Abweichung vom Musterhaften vorliegt, wer den nicht-musterhaften Text verfasst hat und um welche Art von Abweichung es sich handelt. Die entscheidende Frage ist, wie die Abweichung von der Musterhaftigkeit bewertet wird, und hier schätze ich folgende zwei Kriterien als relevant ein: Erstens: Das Wer und das Wie sind für die Beurteilung nicht-musterhafter Texte gleichermaßen entscheidend. Im Diskurs etablierten Schreiber: innen wird das nicht-musterhafte Schreiben zugestanden. Offenbar genießen diese Schreiber: innen hier quasi einen Vertrauensvorschuss und es wird davon ausge‐ gangen, dass die Abweichung ein Stilmittel ist und dass der Abweichung ein be‐ wusstes Abweichen im Sinne des Unikalisierens zugrunde liegt. Bedenkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang - und das gilt für jede Textbeurteilung und jeden Review-Prozess -, dass in die anhand des Textes vorgenommene Beurteilung nicht nur der Text selbst, sondern auch der (vermutete) Schreib‐ prozess einfließt: Ausgehend vom Text kann nur die sprachliche Oberfläche betrachtet und festgestellt werden, was musterhaft bzw. nicht-musterhaft ist. Für die qualitative Beurteilung einer Musterabweichung und des Stils ist dann aber die vermutete Schreibhandlung und die unterstellte Wirkungsabsicht ausschlaggebend dafür, wie Abweichungen vom Muster beurteilt werden. Ab‐ weichungen sind also nicht per se ein Zeichen von Kreativität, sondern werden nur dann als solches bewertet, wenn eine der Abweichung zugrunde liegende Wirkungsabsicht vermutet wird. Dabei handelt es sich um eine nachträgliche, rezipient: innenseitige Einschätzung - mit der man Autor: innen im Einzelfall auch unrecht tun kann. Zweitens: Das Wer und das Wie sind nicht voneinander losgelöst, sondern korrelieren miteinander. Je nachdem, wer schreibt, gibt es andere Arten von Abweichungen. In Texten nicht oder weniger kompetenter Schreiber: innen finden sich solche Abweichungen, bei denen offensichtlich keine stilistische Wirkungsabsicht unterstellt werden kann. Diese wiederum ist aber entschei‐ dend dafür, Abweichungen als postkonventionell einzuschätzen und somit dem stilistischen Handlungsmuster des Unikalisierens zuzuordnen. Und nur in diesem Fall (und nicht per se) sind Abweichungen Ausdruck von Kreativität. Postkonventionelles Schreiben ist also sowohl mit einem Status als auch mit einer Kompetenz verbunden. Geht man davon aus, dass Status und Kompetenz des postkonventionellen Schreibens nur über den Erwerbsweg Präkonventio‐ nalität → Konventionalität → Postkonventionalität erreicht werden können, müsste dies zur Konsequenz haben, die „Musterorientierung als den vorrangigen 310 Sarah Brommer <?page no="311"?> Schlüssel für Kompetenzerwerb zu erfassen“ (Zepter und Schindler 2025: 8, Kursiv. i.O.; vgl. Feilke 2012b). Erst wenn das musterhafte Schreiben beherrscht wird, kann sich Kreativität entfalten. In welchem Ausmaß dann kreativ vom Musterhaften abgewichen werden kann und wie viel Abweichung zu viel ist, müsste empirisch noch geklärt wer‐ den. Nach Zepter und Schindler (2025) kann Kreativität in wissenschaftlichen Texten nur in begrenztem Maß stattfinden, da ein zu weites Entfernen vom Muster und ein Brechen mit den sprachlichen Konventionen dysfunktional ist, bspw. da der „Anspruch einer begrifflichen Präzision [besteht], die [wie‐ derum] auf einer konventionalisierten Lexik aufsetzt“ (Zepter und Schindler 2025: 19). Demzufolge könne nur „im Rahmen des Konformen“ (ebd.) flexibel (kreativ) variiert und ein ästhetischer Mehrwert erzeugt werden. Daraus ließe sich ableiten, dass die Wahl innerhalb von als gleichwertig betrachteten Aus‐ drucksalternativen, also letztlich innerhalb des Typikprofils, stattfindet bzw. stattfinden muss und ein Bruch mit dem Muster inakzeptabel ist. Das Beispiel des Erzähler-Ichs hat jedoch gezeigt, dass es im Einzelfall durchaus möglich ist, von Konventionen und Erwartungen abzuweichen. Der Raum für Kreativität scheint mir daher nicht so eng begrenzt zu sein. Entscheidend ist wohl nicht nur das qualitative Ausmaß der einzelnen Abweichung(en), sondern auch die Häufigkeit und Dichte der Abweichungen. 6 Ausblick Mit Blick auf die Zukunft stellt sich die Frage nach der Stabilität wissenschafts‐ sprachlicher Konventionen. So wie sich der Sprachgebrauch insgesamt wandelt, wandelt sich auch die Wissenschaftssprache. Ob der Einsatz künstlicher Intel‐ ligenz beim Schreiben diesen Prozess eher verlangsamt oder beschleunigt, wird sich zeigen. Empirisch wird sich zu einem späteren Zeitpunkt anhand eines diachronen Korpusvergleichs überprüfen lassen, ob und in welchen Bereichen sich das Typikprofil verändert. Zum jetzigen Zeitpunkt ließe sich einerseits vermuten, dass wissenschaftliche Texte, die in Zukunft vermehrt mit KI verfasst werden, konformer und musterhafter werden (vgl. Limburg et al. 2023). Denn die Funktionsweise einer KI basiert auf statistischen Wahrscheinlichkeiten und der Rekombination von Bekanntem, d.h., eine KI ist vergleichsweise gut darin, musterhaften Sprachgebrauch zu reproduzieren. Die Unkreativität der KI hat jedoch nichts mit der (potenziellen) Kreativität des Menschen zu tun: Auch bei der KI-unterstützten Textproduktion kann der Mensch durchaus kreativ sein. Es könnte daher andererseits auch die umgekehrte Entwicklung eintreten, dass nämlich die Konformität KI-generierter Texte gerade dazu beiträgt, dass sich Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 311 <?page no="312"?> Wissenschaftler: innen auf ihr kreatives Potenzial und den individuellen Stil als Gestaltungsmittel besinnen und der Anteil postkonventionell verfasster, nichtmusterhafter wissenschaftlicher Texte in Zukunft zunimmt. Literatur Adamzik, Kirsten (2004). Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen: Nie‐ meyer. Adamzik, Kirsten (2016). Textlinguistik: Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 2 Aufl. Berlin/ Boston: De Gruyter. Antos, Gerd (1996). Textproduktion. Überlegungen zu einem fächerübergreifenden Schreibcurriculum. In: Feilke, Helmuth/ Portmann, Paul R. (Hrsg.). Schreiben im Umbruch. Stuttgart: Klett, 186-196. Auer, Peter/ Baßler, Harald (2007). Der Stil der Wissenschaft. In: Auer, Peter/ Baßler, Harald (Hrsg.). Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frankfurt a.M.: Campus, 9-29. Brommer, Sarah (2018). Sprachliche Muster. Eine induktive korpuslinguistische Analyse wissenschaftlicher Texte. Berlin/ Boston: De Gruyter. Brommer, Sarah (2019). Empirisch fundierte Sprachkritik: ein Beitrag zur Operationali‐ sierung der vagen Kategorie ‚Angemessenheit‘. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 15 (2), 123-133. Bubenhofer, Noah (2009). Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/ New York: De Gruyter. Bubenhofer, Noah/ Scharloth, Joachim (2010). Kontext korpuslinguistisch. Die induk‐ tive Berechnung von Sprachgebrauchsmustern in großen Textkorpora. In: Klotz, Peter/ Portmann-Tselikas, Paul R./ Weidacher, Georg (Hrsg.). Kontexte und Texte. Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns. Tübingen: Narr, 85-107. Ehlich, Konrad (1999). Alltägliche Wissenschaftssprache. Informationen Deutsch als Fremdsprache 26 (1), 3-24. Eisenberg, Peter (2007). Sprachliches Wissen im Wörterbuch der Zweifelsfälle. Über die Rekonstruktion einer Gebrauchsnorm. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 3 (3), 209-228. Feilke, Helmuth (1993). Sprachlicher Common sense und Kommunikation. Über den „gesunden Menschenverstand“, die Prägung der Kompetenz und die idiomatische Ordnung des Verstehens. Der Deutschunterricht 45 (6), 6-21. Feilke, Helmuth (2012a). Was sind Textroutinen? Zur Theorie und Methodik des For‐ schungsfeldes. In: Feilke, Helmuth/ Lehnen, Katrin (Hrsg.). Schreib- und Textroutinen. Theorie, Erwerb und didaktisch-mediale Modellierung. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1-31. 312 Sarah Brommer <?page no="313"?> Feilke, Helmuth (2012b). Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. Praxis Deutsch 39 (233), 4-13. Fix, Martin (2008). Texte schreiben: Schreibprozesse im Deutschunterricht. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh. Fix, Ulla (1999). Textsorte - Textmuster - Textmustermischung. In: Perennec, Marie- Helene (Hrsg.). Textlinguistik: An- und Aussichten. Cahiers d’études Germaniques. Lyon u.a.: Instituts d’Etudes Germaniques, 11-26. Fix, Ulla (2004). Stil gibt immer etwas zu verstehen. Sprachstile aus pragmatischer Perspektive. Der Deutschunterricht 56 (1), 41-50. Fix, Ulla (2005). Die stilistische Einheit von Texten - auch ein Textualitätskriterium? In: Reuter, Ewald/ Sorvali, Tiina (Hrsg.). Satz - Text - Kulturkontrast. Festschrift für Marja-Leena Piitulainen. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 35-50. Fix, Ulla (2008). Ansprüche an einen guten (? ) Text. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 4 (1), 1-20. Fix, Ulla (2009). Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik. In: Fix, Ulla/ Gardt, Andreas/ Knape, Joachim (Hrsg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 2. Berlin/ New York: De Gruyter, 1300-1315. Fix, Ulla/ Gardt, Andreas/ Knape, Joachim (Hrsg.) (2008, 2009). Rhetorik und Stilistik/ Rhe‐ toric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/ An International Handbook of Historical and Systematic Research. Ber‐ lin/ New York: De Gruyter Mouton. Heller, Kurt A. (2000). Kreativität. In: Lexikon der Psychologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Abrufbar unter: https: / / www.spektrum.de/ lexikon/ psychologi e/ kreativitaet/ 8300 (Stand: 30.04.2024). Hoffmann, Michael (2009). Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik. In: Fix, Ulla/ Gardt, Andreas/ Knape, Joachim (Hrsg.). Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 2. Berlin/ New York: De Gruyter, 1316- 1335. Hoffmann, Michael (2017). Stil und Text. Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto. Kaiser, Dorothee (2002). Wege zum wissenschaftlichen Schreiben. Eine kontrastive Untersuchung zu studentischen Texten aus Venezuela und Deutschland. Tübingen: Stauffenburg. Köller, Wilhelm (2009). Stil und Grammatik. In: Fix, Ulla/ Gardt, Andreas/ Knape, Joachim (Hrsg.). Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer For‐ schung. Bd. 2. Berlin/ New York: De Gruyter, 1210-1229. Kretzenbacher, Heinz L. (1995). Wie durchsichtig ist die Sprache der Wissenschaften? In: Kretzenbacher, Heinz/ Weinrich, Harald (Hrsg.). Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin/ New York: De Gruyter, 15-39. Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 313 <?page no="314"?> Limburg, Anika/ Bohle-Jurok, Ulrike/ Buck, Isabella/ Grieshammer, Ella/ Gröpler, Jo‐ hanna/ Knorr, Dagmar/ Mundorf, Margret/ Schindler, Kirsten/ Wilder, Nicolaus (2023). Zehn Thesen zur Zukunft des wissenschaftlichen Schreibens. Diskussionspapier Nr. 23. Berlin: Hochschulforum Digitalisierung. Linke, Angelika (2001). Trauer, Öffentlichkeit und Intimität. Zum Wandel der Textsorte „Todesanzeige“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Fix, Ulla/ Habscheid, Stephan/ Klein, Josef (Hrsg.). Zur Kulturspezifik von Textsorten. Bd. 3. Tübingen: Stauffenburg, 195-223. Linke, Angelika (2009). Stil und Kultur. In: Ulla Fix/ Andreas Gardt/ Joachim Knape (Hrsg.). Rhetorik und Stilistik. Berlin/ New York: De Gruyter Mouton, 1131-1144. Meier, Stefan (2014). Visuelle Stile. Zur Sozialsemiotik visueller Medienkultur und konvergenter Design-Praxis. Kap. 3: Der Stilbegriff. Bielefeld: transcript, 63-130. Perkuhn, Rainer/ Keibel, Holger/ Kupietz, Marc (2012). Korpuslinguistik. Paderborn: Fink. Püschel, Ulrich (1995). Stilpragmatik: Vom praktischen Umgang mit Stil. In: Stickel, Gerhard (Hrsg.). Stilfragen (=-Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 1994). Berlin/ New York: De Gruyter, 303-328. Püschel, Ulrich (2000). Text und Stil. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolf‐ gang/ Sager, Sven F. (Hrsg.). Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Hand‐ buch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1. Berlin/ New York: De Gruyter, 473-489. Riesel, Elise/ Schendels, Eugenia (1975). Deutsche Stilistik. Moskau: Hochschulverlag. Sandig, Barbara (1997). Formulieren und Textmuster. Am Beispiel von Wissenschaftstex‐ ten. In: Jakobs, Eva-Maria/ Knorr, Dagmar (Hrsg.). Schreiben in den Wissenschaften. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 25-44. Sandig, Barbara (2006). Textstilistik des Deutschen. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter. Sandig, Barbara (2007). Was ist guter Stil? In: Burkhardt, Armin (Hrsg.). Was ist gutes Deutsch? Studien und Meinungen zum gepflegten Sprachgebrauch. Mannheim: Dudenverlag, 157-161. Schäfer, Pavla (2020). Linguistische Wege zu gutem Stil. In: Kilian, Jörg/ Niehr, Tho‐ mas/ Schiewe, Jürgen (Hrsg.). Handbuch Sprachkritik. Berlin: Metzler, 179-185. Scharloth, Joachim/ Bubenhofer, Noah/ Rothenhäusler, Klaus (2012). Andersschreiben aus korpuslinguistischer Perspektive: Datengeleitete Zugänge zum Stil. In: Schuster, Britt- Marie/ Tophinke, Doris (Hrsg.). Andersschreiben. Formen, Funktionen, Traditionen. Berlin: Erich Schmidt, 157-178. Schiewe, Jürgen (2007). Angemessenheit, Prägnanz, Variation. Anmerkungen zum guten Deutsch aus sprachkritischer Sicht. In: Armin Burkhardt (Hrsg.). Was ist gutes Deutsch? Studien und Meinungen zum gepflegten Sprachgebrauch. Mannheim u.a.: Dudenverlag, 369-380. 314 Sarah Brommer <?page no="315"?> Schiewe, Jürgen/ Wengeler, Martin (2005). Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. Einführung der Herausgeber zum ersten Heft. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 1, 1-13. Schmidt, Siegfried J. (2000). Kalte Faszination. Medien - Kultur - Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Schrodt, Richard (2014). Von den Kräften der deutschen Sprachkritik. In: Plewnia, Albrecht/ Witt, Andreas (Hrsg.). Sprachverfall? Dynamik - Wandel - Variation. Berlin/ Boston: De Gruyter, 243-272. Sowinski, Bernhard (1999). Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen. 2. Aufl. Stuttgart/ Wei‐ mar: Metzler. Steinhoff, Torsten (2007a). Wissenschaftliche Textkompetenz. Sprachgebrauch und Schreibentwicklung in wissenschaftlichen Texten von Studenten und Experten. Tü‐ bingen: Niemeyer. Steinhoff, Torsten (2007b). Zum ich-Gebrauch in Wissenschaftstexten. Zeitschrift für germanistische Linguistik 35 (1-2), 1-26. Steinhoff, Torsten (2012). Postkonventionalität. Varianten wissenschaftlichen Schrei‐ bens. In: Schuster, Britt-Marie/ Tophinke, Doris (Hrsg.). Andersschreiben. Formen, Funktionen, Traditionen. Berlin: Erich Schmidt, 91-112. Steyer, Kathrin (2013). Usuelle Wortverbindungen. Zentrale Muster des Sprachgebrauchs aus korpusanalytischer Sicht. Tübingen: Narr. Weinrich, Harald (1989). Formen der Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin/ Boston: De Gruyter, 119-158. Zepter, Alexandra L./ Schindler, Kirsten (2025). Einführung. In: Schindler, Kirsten/ Zepter, Alexandra L. (Hrsg.). Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache - Text‐ prozeduren und Diskurspraktiken. Tübingen: Narr, 7-33. Kreativität in wissenschaftlichen Texten? Entscheidend ist: wie und von wem 315 <?page no="316"?> TÜBINGER BEITRÄGE ZUR LINGUISTIK (TBL) Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ linguistik-kat/ linguistikreihen-kat? ___store=narr_starter_de 562 Martina Zimmermann Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz 2017, 304 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8144-0 563 Philip Hausenblas Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen 2018, 256 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8155-6 564 Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Akten der Tagung Französische Sprachgeschichte an der Ludwig-Maximilians- Universität München (13. - 16. Oktober 2016) 2018, 558 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8118-1 565 Vincent Balnat L’appellativisation du prénom Étude contrastive allemand-français 2018, 298 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8185-3 566 Silvia Natale Informationsorganisation und makrostrukturelle Planung in Erzählungen Italienisch und Französisch im Vergleich unter Berücksichtigung bilingualer SprecherInnen 2018, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8209-6 567 Ilona Schulze Bilder - Schilder - Sprache Empirische Studien zur Text-Bild-Semiotik im öffentlichen Raum 2019, 227 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-8298-0 568 Julia Moira Radtke Sich einen Namen machen Onymische Formen im Szenegraffiti 2020, 407 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8330-7 571 Melanie Kunkel Kundenbeschwerden im Web 2.0 Eine korpusbasierte Untersuchung zur Pragmatik von Beschwerden im Deutschen und Italienischen 2020, 304 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8364-2 573 Mario Franco Barros Neue Medien und Text: Privatbrief und private E-Mail im Vergleich 2020, ca. 750 Seiten €[D] 119,90 ISBN 978-3-8233-8377-2 <?page no="317"?> 574 Sofiana Lindemann Special Indefinites in Sentence and Discourse 2020, 250 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8381-9 575 Junjie Meng Aufgaben in Übersetzungslehrbüchern Eine qualitative und quantitative Untersuchung ausgewählter deutschchinesischer Übersetzungslehrbücher 2020, 206 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-8382-6 576 Anne-Laure Daux-Combaudon, Anne Larrory- Wunder (Hrsg.) Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / aspects syntaxiques, sémantiques et textuels 2020, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8386-4 577 Bettina Eiber Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache Ein französisch-italienischer Vergleich 2020, 473 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8407-6 578 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8418-2 579 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 274 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8420-5 580 Claudia Schweitzer Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert 2021, 201 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8493-9 581 Roger Schöntag Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlinguistischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435-1601) 2022, 763 Seiten €[D] 138,- ISBN 978-3-8233-8540-0 582 Lea Schäfer Onymische Flexion Strukturen und Entwicklungen kontinentalwestgermanischer Dialekte 2021, 486 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8521-9 583 Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, Jürgen Spitzmüller (Hrsg.) Brückenschläge Linguistik an den Schnittstellen 2022, 324 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8518-9 <?page no="318"?> 584 Mohcine Ait Ramdan Konzeptualisierung von Konkreta und Abstrakta Eine kulturorientierte, kognitionslinguistische Vergleichsstudie zwischen dem Deutschen, dem Arabischen und dem Französischen 2022, 245 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8556-1 585 Steffen Hessler Autorschaftserkennung und Verstellungsstrategien Textanalysen und -vergleiche im Spektrum forensischer Linguistik, Informationssicherheit und Machine-Learning 2023, 426 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8561-5 586 Jakob Wüest Une histoire des connecteurs logiques Causalité, argumentation, conséquence, finalité et concession 2023, 319 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8615-5 587 Bin Zhang Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik Ein vierdimensionaler Ansatz zur Analyse von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen 2023, 410 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8614-8 588 Maria Schädler Die Proposition mit Kopula Urteilscharakter, logisch-semantische Valenz und formalisierte Sprache 2023, 872 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-381-10781-0 589 Eva Lavric, Gerhard Pisek (eds.) Language and Football 2024, 384 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8624-7 590 Laura Guse Bewegungskonstruktionen des Deutschen Korpusstudien zur Versprachlichung von Bewegungsereignissen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 2024, 358 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-381-11031-5 591 Norbert Dittmar, Eva Neuland (Hrsg.) Wirkungsgeschichte der Soziolinguistik des Deutschen Dokumentarische und autobiographische Rekonstruktionen 2025, 346 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-381-13271-3 592 Kirsten Schindler, Alexandra Lavinia Zepter (Hrsg.) Sprachliche Kreativität in Bildungs- und Fachsprache Textproduktion und Diskurspraktiken 2025, 315 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-381-10941-8 <?page no="319"?> www.narr.de Aufgrund ihrer Relevanz in allen schulischen und weiterführenden Bildungskontexten werden Bildungs- und Fachsprache inzwischen umfänglich theoretisch und empirisch beforscht. Unterbelichtet bleibt dabei die potenzielle Bedeutung von Kreativität im (bildungs-/ fach-)sprachlichen Gebrauch und in den damit in Zusammenhang stehenden Lernprozessen. Fragen der Relevanz und Bedeutsamkeit stellen sich insbesondere dann, wenn man lernzielperspektivisch den Anspruch eines exiblen und di erenzierten Zugri s auf Sprachhandlungen und Textprozeduren zu allgemeinen Faktoren von Kreativität in Bezug setzt. Der interdisziplinäre Sammelband diskutiert Fragen zur Rolle von Kreativität in Bildungs- und Fachsprache bzw. in Textproduktion und Diskurspraktiken aus unterschiedlichen theoretischen und empirischen Perspektiven der Psycholinguistik, Gesprächslinguistik, Textlinguistik und Sprachdidaktik. ISBN 978-3-381-10941-8