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Einführung in die Phonologie für Romanisten

Bearbeitet und herausgegeben von Wolf Dietrich

0304
2024
978-3-3811-0972-2
978-3-3811-0971-5
Gunter Narr Verlag 
Eugenio Coseriu
Wolf Dietrichhttps://orcid.org/0000-0002-3548-2527
10.24053/9783381109722

Hier werden zwei Manuskripte aus der Hinterlassenschaft des 2002 verstorbenen bedeutenden Sprachwissenschaftlers Eugenio Coseriu mit aktualisierter Bibliographie herausgegeben. Der erste Teil beschäftigt sich mit der heute nur noch wenig bekannten Geschichte der Entstehung der klassischen Prager Phonologie, die für die weitere Entwicklung strukturalistischer Richtungen in den Geisteswissenschaften große Bedeutung hatte. Eigenständig ist hierbei Coserius kritische Kommentierung der durch Trubetzkoy und Jakobson geschaffenen Grundlagen. Im zweiten Teil werden die Lautsysteme des Französischen, Italienischen und Spanischen beschrieben, wobei neben der phonologischen Analyse auch die Beschreibung der z. T. regionalen Aussprachenormen eine große Rolle spielt. Sie dient dem sprachdidaktischen Anliegen des Autors.

<?page no="0"?> Einführung in die Phonologie für Romanisten Eugenio Coseriu Bearbeitet und herausgegeben von Wolf Dietrich <?page no="1"?> Einführung in die Phonologie für Romanisten <?page no="3"?> Eugenio Coseriu Einführung in die Phonologie für Romanisten Bearbeitet und herausgegeben von Wolf Dietrich <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381109722 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-381-10971-5 (Print) ISBN 978-3-381-10972-2 (ePDF) ISBN 978-3-381-10973-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 15 1 17 1.1 22 1.2 31 2 35 2.1 38 2.2 42 2.3 45 2.4 51 3 55 3.1 56 3.2 58 4 61 4.1 62 4.2 69 4.2.1 69 4.2.2 74 4.2.3 76 4.2.3.1 77 4.2.3.2 78 4.2.3.3 80 4.2.4 81 5 85 5.1 88 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I: Allgemeine Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis Phonem - Alphabetschrift . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des Phonembegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prager Linguistenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kritik Trubetzkoys an früheren Vorstellungen . . . . . . . . . Das Problem der Morphonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik Trubetzkoys an anderen Auffassungen des Phonems . . Auswirkungen der Unterscheidung System - Norm . . . . . . . . Kritik an Trubetzkoy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form und Substanz - artikulatorische oder auditive Phonetik Form und Substanz in der Glossematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy . . . . . . . . . . Lautstilistik als Kundgabe- und Appellfunktion . . . . . . . . . . . . Darstellungsphonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die bedeutungsunterscheidende und konstitutive Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gipfelbildende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die delimitative Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Grenzsignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negative Grenzsignale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die diakritische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klassifikation der Oppositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 5.2 89 5.3 91 95 1 97 2 101 2.1 101 2.2 102 2.3 102 2.4 103 2.5 104 3 105 3.1 107 3.2 113 3.2.1 114 3.2.2 119 3.2.2.1 119 3.2.2.2 121 3.2.2.3 122 3.2.2.4 123 3.3 126 4 131 4.1 131 4.1.1 132 4.1.2 132 4.1.3 133 4.1.4 133 4.1.5 136 4.1.6 136 4.1.7 137 Neutralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Binarismus in der Phonologie und in der strukturellen Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II: Romanische Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielsetzung und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentierte Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Lateinischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Französischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Italienischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die funktionelle Sprache und abweichende Formen . . . . . . . . . . . . . . Französisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italienisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lautliche Charakterisierung des Italienischen . . . . . . . Phonologische Schwächen im System des Italienischen Die Oppositionen / e/ - / ε/ und / o/ - / ɔ/ . . . . . . . . . . . . . Die Opposition / s/ - / z/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Opposition / ʦ/ - / ʣ/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die phonosyntaktische Doppelkonsonanz . . . . . . . . . . . Ein morphonologisches Faktum des Italienischen und Spanischen: die Behandlung der „unbeständigen“ Diphthonge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Probleme der romanischen Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretationsprobleme im Französischen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nasalvokale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vokalquantität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem des „e instable“ und der Halbvokale . . . . Die Struktur des Vokalsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten des französischen Konsonantensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Halbvokale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der palatale Nasal / ɲ/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.2 137 4.3 138 4.4 139 4.4.1 139 4.4.1.1 139 4.4.2 144 4.4.2.1 144 4.4.2.2 145 4.4.2.3 145 4.4.2.4 146 4.4.2.5 147 4.4.2.6 147 4.4.2.7 147 4.4.2.8 149 5 153 5.1 154 5.2 154 6 161 6.1 161 6.2 161 6.2.1 161 6.2.2 162 7 163 7.1 163 7.2 166 8 169 8.1 169 8.2 172 8.2.1 172 8.2.2 174 8.2.2.1 175 Interpretationsprobleme im Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretationsprobleme im Italienischen . . . . . . . . . . . . . . . . . Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht . . . . . . . . Interpretatorische Unterschiede im Spanischen und Italienischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretationsprobleme im Spanischen im Einzelnen . Interpretatorische Unterschiede im Französischen . . . . Das „e caduc“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Opposition / a/ - / ɑ/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitätenoppositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Opposition / ε/ - / e/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Opposition / œ/ - / ø/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nasalvokale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme des franzözischen Konsonantensystems . . . . Phonologische Funktionen im Französischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gipfelbildende Funktion im Französischen . . . . . . . . . . . . . Die abgrenzende Funktion - Grenzsignale im Französischen Phonologische Funktionen im Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kulminative Funktion im Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . Die delimitative Funktion im Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Grenzsignale im Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . Negative Grenzsignale im Spanischen . . . . . . . . . . . . . . Die kulminative und die delimitative Funktion im Italienischen . . . . Fragen der Phonemdistribution im Italienischen . . . . . . . . . . . Grenzsignale im Italienischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romanische Vokalsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Typologie von Vokalsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . Die romanischen Vokalsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vokalsysteme der Mehrheit der romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretationsprobleme im französischen Vokalsystem Phoneme und Hypophoneme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 8.2.2.2 178 8.2.2.3 180 8.2.3 184 8.3 185 8.3.1 186 8.3.2 187 8.3.3 188 191 205 Andere Arten instabiler Oppositionen . . . . . . . . . . . . . . Das Problem des e caduc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse zum französischen Vokalsystem . . . . . . . . . Die romanischen Konsonantensysteme im Vergleich . . . . . . . Das Italienische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Spanische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Französische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Vorwort Die vorliegende Einführung in die Phonologie beruht auf zwei Vorlesungsma‐ nuskripten von Eugenio Coseriu, Einführung in die Phonologie und Romanische Phonologie. Der Anlass dieser Manuskripte war eine Vorlesung, die Coseriu im Sommersemester 1972 mit dem Titel „Prinzipien der Phonologie“ gehalten hat. Vorher und nachher hat er nach Ausweis der Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen keine weitere Vorlesung zur Phonologie gehalten. Die „Romanische Phonologie“ mag als Vorbereitung für eine Vorlesung konzipiert worden sein, die dann nie gehalten wurde. Somit bleibt das Thema der Phono‐ logie in seiner Tübinger Lehrtätigkeit singulär. Der Herausgeber hat die beiden Manuskripte nun unter dem Gesamttitel Einführung in die Phonologie für Romanisten zusammengeführt, weil sie letztlich eine Einheit bilden. Der romanistische Schwerpunkt der zweiten Vorlesung ist auch im ersten Teil neben der Behandlung von Beispielen aus vielen anderen Sprachen, nicht zuletzt des Deutschen, durchaus gegeben. Es ist eine Einführung in die heute oft kaum noch bekannte klassische Prager Phonologie vor allem für Romanisten, aber auch für solche, die an anderen linguistischen Disziplinen interessiert sind. Der zweite Teil nimmt die theoretischen Grundlagen des ersten Teils ausdrücklich wieder auf, geht aber auch darüber hinaus. Es handelt sich im ersten Teil dieser „Einführung in die Phonologie“ im Grunde um eine kommentierte Lektüre und Bearbeitung von Trubetzkoys Grundzügen der Phonologie (1939), also um eine Einführung in die klassische Phonologie der Prager Schule mit Rückgriffen auf deren Vorgeschichte und mit Bezügen zur Phonologie der 1940er bis 1970er Jahre. Vor allem aber entwickelt Coseriu anhand der partiellen Kritik an Trubetzkoy seine eigene Vorstellung von Phonologie und weist ihr ihren Platz in seinem Sprachdenken zu. Insofern ist diese Darstellung ein Stück Geschichte der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert und eines, das Coseriu als Erneuerer der Linguistik und Überwinder klassischer Positionen einschließt. Der zweite Teil, die „Romanische Phonologie“ ist im Wesentlichen eine detaillierte Beschreibung der lautlichen Norm des Französischen, Italienischen und Spanischen. Die eigentliche phonologische Wertung tritt dabei in den Hintergrund. Warum ist die Veröffentlichung dieser Vorlesungsmanuskripte heute, 50 Jahre nach ihrer Niederschrift, noch immer gerechtfertigt? Erstens hat sich heute die Phonologie verständlicherweise weiterentwickelt, sich zum Teil auch <?page no="10"?> 1 Wie weit sich die heutige theoretische Phonologie von ihren Ursprüngen entfernt hat, lässt sich z.B. an einem Sammelband wie dem von Durand und Laks (2002a) ermessen, in dem es nicht so sehr um die Lautgestalt einzelner Sprachen geht, sondern vor allem um Beziehungen zwischen der lautlichen Seite von Sprachen, der Perzeption von Äußerungen und Fragen der Neurologie. Allgemein zeigt sich auch hier, dass die Trennung der Phonologie von der Phonetik im englischen Sprachraum eine andere Bedeutung bekommen hat. als sie in der französisch basierten Welt der frühen Phonologen hatte. Nicht mehr von Oppositionen von Phonemen und ihren Varianten ist die Rede, sondern von der Normlautung (phonology) und der okkasionellen Lautung in einer Äußerung (phonetics). Gerade die Normlautung ist aber auch ein wesentliches Anliegen Coserius im zweiten Teil. neue Ziele gesetzt und damit ihre Wurzeln oftmals ganz oder teilweise ver‐ gessen. 1 Zweitens sind heutige Einführungen in die Phonologie - ebenfalls ver‐ ständlicherweise - vorzugsweise auf eine Einzelsprache ausgerichtet, also zum Beispiel im Wesentlichen phonologische Beschreibungen des Deutschen, Eng‐ lischen, Italienischen, Spanischen, Portugiesischen, Rumänischen usw. Keine der dem Herausgeber bekannten heutigen Einführungen in die Phonologie lotet wie die Coserius die Entstehung, aber auch die Vorzüge und ebenfalls die Grenzen der Phonologie Trubetzkoys und seiner Mitstreiter in dieser Weise aus. Im Verlauf der beiden hier zusammengeführten Vorlesungen entwickelt Coseriu auch seine eigene Vorstellung, die das Prinzip einer funktionellen Lautlehre in sein eigenes Gebäude einer an der Kompetenz des Sprechers orientierten Sprachwissenschaft einfügt und dabei über die Idee einer rein funktionellen Lautlehre weit hinausgeht. Ein weiteres Argument für die Herausgabe seiner Vorlesungsmanuskripte ist deren romanistischer Anspruch. Es gibt heute keine andere romanistische Phonologie als die hier vorgelegte, die die Ergebnisse der romanistischen Einzelsprachen im Zusammenhang und im Vergleich darstellt. Weder der Manuel des langues romanes (Klump/ Kramer/ Willems 2014) noch Jens Lüdtkes Romanistische Linguistik (Lüdtke 2019) gehen näher auf die Phonologie der ein‐ zelnen romanischen Sprachen ein. Auch eine Beschreibung der Normlautung, die die diatopische und die diastratische Variation berücksichtigt, ist in dieser Ausführlichkeit eine Rarität, besonders mit Bezug auf das Italienische (vgl. II, Kap. 3). Zuletzt empfiehlt sich die Publikation dieses Buches auch, weil man es als Fortsetzung von Coserius Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert (siehe Coseriu/ Meisterfeld 2003, Coseriu 2020, Coseriu 2021, Coseriu 2022) betrachten kann. Diese endet zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also noch bevor das einsetzt, was man üblicherweise als den Anfang der Sprachwis‐ senschaft ansieht, nämlich der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft 10 Vorwort <?page no="11"?> als institutionalisierte Disziplin. Dieser Teil der Geschichte ist in Coserius Werk ausgespart, wohl auch weil sie viel bekannter ist als die von ihm behandelte „Vorgeschichte“. Die Einführung in die Phonologie setzt somit wenigstens einen wichtigen Pfeiler der Geschichte der Linguistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein Thema, das Coseriu in Vorlesungen der 70-er und 80-er Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrfach behandelt hat. Dazu sind aber keine nachgelassenen Manuskripte bekannt. Die Manuskripte sind weitestgehend, aber nicht vollständig ausgearbeitet. Wo sie nur Stichworte enthalten, musste der Herausgeber nach bestem Wissen daraus sinnvolle Aussagen formulieren. Grundlage dieses Buches sind zwei Mappen, wie alle nachgelassenen Schriften Coserius handschriftlich auf Blät‐ tern im Format DIN A5. Die Einführung in die Phonologie hat 179 durchnumme‐ rierte Seiten, wobei es in Wirklichkeit etliche mehr sind, weil Coseriu in vielen Fällen Ergänzungen auf eigenen Seiten angefügt hat, die mit der Seitennummer versehen sind, zu der die Ergänzung gehört, also z.B. zu Zählungen wie 82, 82b, 82c führt. Andererseits scheinen zehn Seiten (156-165) zu fehlen. Es ist aber wahrscheinlicher, dass sich der Autor - wie auch in sehr seltenen anderen Fällen seiner Manuskripte - in der Seitenzählung geirrt hat. Der Herausgeber hat unter dieser Annahme die unvollendete Passage am Fuß von S. 155 ergänzt. Das Manuskript der Romanischen Philologie besteht aus 174 durchgezählten Blättern mit einigen Ergänzungen auf Zusatzblättern. Die Manuskripte sind wie auch andere Manuskripte im Allgemeinen gut lesbar, nur in wenigen Zweifelsfällen hilft die Sachkenntnis oder die Plausibi‐ lität. Die meisten Zitate haben ausreichende Stellenangaben, wo nicht, mussten sie nach Möglichkeit gesucht und ergänzt werden. Letzteres gilt auch für viele lückenhafte bibliographische Angaben. Coserius Vorlesungsstil wurde für die Veröffentlichung behutsam überarbeitet, manche sprachliche Eigenheiten heutigem Sprachgebrauch angepasst, allerdings nur vorsichtig und ohne seine Argumentationsweise als solche zu ändern. Die Einteilung in Kapitel und Unterkapitel geht auf den Herausgeber zurück. Sie ist vom Autor selbst nur spärlich vorgenommen worden. Zusätze des Herausgebers zum Text von Co‐ seriu sind in eckige Klammern gesetzt. Alle Anmerkungen stammen ebenfalls vom Herausgeber. Der Aufbau des Buches ist zyklisch, weil die beiden aufeinander bezogenen Vorlesungen es sind und weil Coseriu auch innerhalb von Kap. II so vorgeht. Der erste Teil (hier I, 1-5) enthält die theoretischen Grundlagen der Phonologie mit dem Schwerpunkt auf der Phonologie der Prager Schule, insbesondere Trubetzkoys. Dabei werden aber immer wieder Beispiele der Anwendung der Prinzipien auf die romanischen Sprachen gegeben. Im zweiten Teil (hier II, Vorwort 11 <?page no="12"?> 1-8) werden die wichtigsten Züge der romanischen Sprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch) erläutert, wobei der zyklische Charakter der Darstellung im Vorgehen vom Allgemeinen, Überblicksartigen zum Besonderen geht, das heißt, dass bestimmte Themen immer wieder vorkommen (z.B. in II, 4.4.2. und II, 8.8.2.). So können auch Beispiele wiederholt vorkommen. Dies entspricht Coserius didaktischem Anliegen in seinen Vorlesungen und wurde hier nicht verändert. Mit Kap. II, 5 geschieht dann wieder ein Rückgriff auf Themen vor allem aus Kap. I, 4, nun mit detaillierterer Beschreibung in den einzelnen romanischen Sprachen. Hier geht es vor allem um Phänomene, die über die grundlegende segmentale Phonologie hinausgehen, Darstellungsfunktionen und Grenzsignale. Dieses Buch eignet sich dank des Sachregisters auch als Nachschlagewerk, noch mehr aber als fortlaufende Lektüre zur Festigung des Stoffes, nämlich der Wahrnehmung und Interpretation der lautlichen Seite der Sprache. Im Zusammenhang mit der Phonologie als Grundpfeiler des Strukturalismus ist besonders die Lektüre von Albrecht (2007) und Albrecht (2024) zu empfehlen. Laute werden von Coseriu im Allgemeinen ohne Auszeichnung geschrieben, also als j, w, b, a usw., immer unterstrichen. Dies erschien uns heutigem Gebrauch nicht mehr entsprechend. Deshalb haben wir sie entweder als Pho‐ neme, also / j/ , / w/ , / b/ , / a/ , oder als in der Norm beobachtete oder in einer Äußerung realisierte Laute dargestellt, also als [j], [w] [b], [a]. Erwähnt sei auch, dass Coseriu terminologisch für seine eigene Darstellung „phonematisch“ bevorzugt und „phonologisch“ eher beim Bezug auf Andere, z.B. Trubetzkoy, verwendet. Gelegentlich findet sich in seinem Manuskript „phonologisch“ ge‐ strichen und durch „phonematisch“ ersetzt. Wie in anderen Schriften vermeidet er Fremdwörter im Deutschen, z.T. auch seine eigenen Termini. So sagt er immer „Mundart“ statt „Dialekt“ und „sozio-kulturell“ statt „diastratisch“. Das letztgenannte Beispiel zeigt, dass er offensichtlich verschiedene Schichten von Fremdwörtern unterscheidet, da „sozio-kulturell“ eher akzeptabel erscheint - obwohl auch „Fremdwort“ - als „diastratisch“. Zuweilen führt seine Haltung aber auch zu im Deutschen ungewöhnlichen und auch semantisch unangemes‐ senen Formulierungen, so z.B., wenn er eine Erscheinung, die phonologisch indifferent ist, „gleichgültig“ nennt. Die beiden Adjektive sind eben in diesem Zusammenhang nicht gleichbedeutend. Wir haben hier vorsichtig korrigiert. Fremdsprachliche Texte (außer englischen) und auch Einzelwörter sind vom Herausgeber meistens ins Deutsche übersetzt worden, gerade auch unbekann‐ tere Beispielwörter. Dafür fehlen andere Dinge, die ein Benutzer dieses Buches vielleicht vermissen könnte: Coseriu setzte in seinen Vorlesungen die Kenntnis mehrerer romanischer Sprachen voraus und im hier gegebenen Fall auch die der 12 Vorwort <?page no="13"?> phonetisch-phonologischen Transkription. Sie wird auch hier vorausgesetzt, allerdings wurde Coserius schwankender Gebrauch zwischen API/ IPA-Zeichen und anderen Verfahren, insbesondere den Transliterationsgewohnheiten aus dem slawistischen Sprachbereich vereinheitlicht, indem hier konsequent die Zeichen der API (Association Phonétique Internationale) bzw. IPA (International Phonetic Association) verwendet werden. Coserius Einführung in die Phonologie ist auch in dem Sinne ein Buch für Fortgeschrittene, dass es Basiskenntnisse wie die artikulatorische Phonetik mit der Terminologie von Artikulationsart (Okklusiv, Frikativ usw.) und Artikulationsort (labial, dorsal, palatal, velar usw.) voraussetzt. Solche Kenntnisse werden auch in anderen entsprechenden Büchern als vorhanden angenommen (siehe z.B. Ternes 1987, 2012). Sie werden geliefert in den einschlägigen Einführungen in die Phonetik (Schubiger 2020, Pompino-Marschall 3 2009), für Romanisten in Einführungen in die Phonetik und Phonologie des Französischen (Pustka 2016), des Spanischen (Pustka 2021), des Italienischen (Heinz/ Schmid 2021). Ich danke Gunter Narr, dem Gründer des Narr Verlages in Tübingen, für die Überlassung der Coseriu-Manuskripte aus seinem Besitz zum Zwecke der Veröffentlichung. Nach dem Abschluss der Arbeiten an diesem Buch werden die Manuskripte dem Coseriu-Archiv in Tübingen übergeben werden, wo sich der Nachlass Coserius befindet. Meiner Frau Marta danke ich für die abermalige geduldige und kritische Korrektur meiner Textvorlage sowie Frau Kathrin Heyng vom Narr Verlag für die erneut verständnisvolle und sachkundige Betreuung auch dieses Bandes. Wolf Dietrich Münster im Januar 2024 Vorwort 13 <?page no="15"?> I: Allgemeine Phonologie <?page no="17"?> 1 Einleitung: Grundlagen Eine Darstellung der Phonologie ist die am besten geeignete Einführung in die strukturelle Sprachwissenschaft. Sie ist dafür am besten geeignet auch hin‐ sichtlich der Unterschiede zwischen der strukturell-funktionellen und der sog. traditionellen Sprachwissenschaft einerseits sowie zwischen der strukturellfunktionellen und der generativ-transformationellen Linguistik andererseits. Letztere bleibt unverständlich, wenn man die „klassische“ Phonologie nicht kennt. Dies hat verschiedene Gründe: 1. von der Sache, d.h. von Fakten her, a. weil die phonologischen Systeme einfacher als die grammatischen oder lexikalischen sind, b. weil weit weniger Einheiten als in der Grammatik und im Wortschatz zu unterscheiden sind, normalerweise zwischen 20-40; 2. von der Forschung her, a. weil sich die Phonologie früher herausgebildet hat als die funktionelle Grammatik oder die strukturelle Semantik b. weil die Phonologie viel weiterentwickelt wurde. Die Prager Schule ist fast ausschließlich auf die Phonologie ausgerichtet, und auch in der nordamerikanischen Schule ist vor allem Phonologie betrieben worden. In den nordamerikanischen Einführungen in die Linguistik geht es vor allem um die Phonologie. Deshalb 1. ist die Phonologie ein Modell für die strukturelle Beschreibung überhaupt: Begriffe, die in der Phonologie entstanden und geprägt worden sind, sind dann auf andere Gebiete der Sprachstruktur übertragen worden, z.B. „unterscheidender Zug“, „Opposition“, „Einheit“, „Archi-Einheit“, „Neutra‐ lisierung“, „Merkmal“, „leeres Fach“, „Korrelation“, „Variante“ usw. Dies ist auch über die Sprache hinaus geschehen, z.B. bis in die Texte, die Literatur und die Verhaltensforschung hinein. 2. Auch die Diskussion der strukturellen Begriffe und Methoden betrifft vor allem das Gebiet der Phonologie. 3. Schließlich liegen die am weitesten akzeptierten Ergebnisse vor. Auch Linguisten, die keine Strukturalisten sind, operieren mit phonologischen Begriffen. <?page no="18"?> Die terminologische Trennung zwischen Phonologie und Phonetik geht im Wesentlichen auf Trubetzkoy (1939) zurück. Danach ist Phonologie die funktionelle, linguistische Wissenschaft der Sprachlaute und Phonetik die nicht-sprachwissenschaftliche, materielle, na‐ turwissenschaftliche Untersuchung der Sprachlaute. Leider ist dies eine unklare Opposition, denn Phonologie ist einerseits die Untersuchung der Laute auf der Ebene des Sprachsystems (langue) einer jeden Einzelsprache und Phonetik demgegenüber die Untersuchung der Laute auf der Ebene der Norm und der Rede (parole), jedoch nicht nur in der Rede im Allgemeinen, ohne Bezug zu einer Einzelsprache, sondern auch in der Rede, die in einer bestimmten Einzelsprache realisiert wird. Ersteres entspricht der allgemeinen Phonetik, das Zweite der einzelsprachlichen Phonetik: ‖ ‖ Einz elsprache x ↓ ↓ ↓ ↓ - - - - - - - - - - - - - ‖ ‖ - - - - - - - - - - andere „Reden“ Rede in der Einzelsprache x andere „Reden“ [Obiges Schema will zeigen, dass eine beliebige Sprache x, die ja von anderen unterschieden ist und außerdem im saussureschen Sinn als „langue“ anzusehen ist, sich realisiert in einem einmaligen Stück Rede („parole“), welches auch von den Redeereignissen Anderer durch verschiedene Faktoren (Zeit, Raum, Person) abgegrenzt ist. Die allgemeine Phonetik untersucht z.B. in artikulatorischer Hinsicht verschiedene in den Sprachen vorkommende Laute (z.B. Labiale oder gerundete Vokale), die einzelsprachliche Phonetik die in einer bestimmten Sprache in der Norm üblichen Laute (z.B. Labiale oder gerundete Vokale) und außerdem die von jemand in einer bestimmten Situation geäußerten Laute (alle oder nur die Labiale oder gerundeten Vokale). Die Phonologie untersucht demgegenüber nur die in einer Einzelsprache vorkommende Auswahl an funk‐ tionell distinktiven Lauten. Dies geschieht praktisch nur auf der Ebene der Einzelsprache („langue“ als Sprachsystem).] Der Terminus Phonologie taucht übrigens auch schon früher auf, jedoch mit anderer Bedeutung, so bei Ferdinand de Saussure (1916), bei dem Phonologie der synchronischen Betrachtung der Laute entspricht, Phonetik der diachronischen Betrachtung. So ist auch der Gebrauch von Grammont (1933), der aber Phonetik zugleich auch als allgemeinen Terminus für „Lautlehre“ gebraucht. Der Sprach‐ gebrauch der nordamerikanischen Linguistik ist Phonology für die Gesamtheit der phonischen Wissenschaften. Zu diesem Oberbegriff kann die Opposition zwischen Phonemik (phonemics) und Phonetik (phonetics) gemacht werden. In 18 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="19"?> der Glossematik lautet das Gegensatzpaar innerhalb der Kenematik, der Lehre von den Kenemen (ausdrucksseitige Einheiten) Phonematik und Graphematik: Kenematik Phonematik Graphematik So wird in der italienischen Linguistik z. T. auch fonematica gebraucht. Eine andere, u. a. von Martinet (1960) und Malmberg verwendete Opposition ist die von Phonetik und funktionaler Phonetik. Sie ist jedoch auch nicht kohärent, denn „funktional“ ist nicht mit anderen Bestimmungen von Phonetik wie akustische, auditive, artikulatorische Phonetik koordinierbar. Sie steht all diesen Arten gegenüber und kann akustische, auditive und artikulatorische Merkmale verwenden. Dies sind allerdings nur terminologische Fragen. Mit den verschiedenen Termini wird ungefähr dasselbe gemeint: Phonologie Phonemik von der Bezeichnung her Phonematik vier äquivalente Ausdrücke funktionelle Phonetik In Europa wird gemäß der Tradition der Prager Schule vor allem Phonologie gebraucht (so z. B. Martinet (1949), Weinrich (1958), Lausberg 1963 2 ), Martinet 1970, Kap. III), Gleason (1969, Kap. 15-22), Lyons (1968, Kap. 3: The Sounds of Language, 3.3: Phonology); und “funktionelle Phonetik” (so z. B. Malmberg (1954, Kap. 11: Phonologie ou phonetique fonctionnelle), Malmberg (1966, Kap. 1-2), Malmberg (1971a, Kap. II: Phonétique fonctionnelle), in Nordamerika vor allem Phonemik (und Phonologie als Oberbegriff). I) Klassische Werke zur Phonologie sind 1. N. S. Trubetzkoy (1939); dessen französische Übersetzung von 1949 enthält auch „Prinzipien der historischen Phonologie“ von Roman Jakobson und „Gedanken über Morphophonologie“ von Trubetzkoy selbst sowie andere wichtige phonologische Arbeiten. 2. Daniel Jones (1950), The Phoneme: Its Nature and Use, Cambridge. 3. N. van Wijk (1939), Phonologie. Een hoofdstuck uit de strukturele Taalweten‐ schap, Den Haag. 1 Einleitung: Grundlagen 19 <?page no="20"?> 4. Roman Jakobson und Morris Halle (1956), Fundamentals of Language, Den Haag: Mouton. 5. Leonard Bloomfield (1933), Language, New York, Kap. 5-8. 6. B. Bloch und G. L. Trager (1942), Outline of Linguistic Analysis, Baltimore. Kap. 2: Phonetik, Kap. 3: Phonemik. 7. Kenneth L. Pike (1942), Phonemics, Ann Arbor (ein ausgezeichnetes prak‐ tisches Handbuch). 8. Ch. F. Hockett (1955), A Manual of Phonology, Baltimore (das beste Hand‐ buch überhaupt). II) Zur Technik der phonologischen Beschreibung ist außer Pike (zuvor Nr. 7) zu nennen André Martinet (1956), La Description phonologique avec application au parler franco-provençal d’Hauteville (Savoie), Genf - Paris. III) Zur historischen Phonologie sind zu erwähnen: 1. Roman Jakobson (1931a), „Prinzipien der historischen Phonologie“, Tra‐ vaux du Cercle Linguistique de Prague (TCLP) 4. 2. Roman Jakobson (1929), „Remarques sur l’évolution phonologique du russe comparée à celle des autres langues slaves“, TCLP 2. 3. André Martinet (1955), Economie des changements phonétiques. Traité de phonologie diachronique. Bern: Francke. IV) Zur Diskussion und Einschätzung der Phonologie: 1. TCLP Band 1, 1929, der aber nicht ausschließlich phonologisch ist 2. TCLP Band 4, 1931. Dieser Band ist ausschließlich phonologisch und mit Ausnahme von Band 7 der wichtigste Band dieser Zeitschrift überhaupt. Er enthält Aufsätze von Dmitryj Čyževśkyj [in späteren Veröffentlichungen auch Tschižewskij], Karl Bühler, Jewgenij D. Polivanov, Trubetzkoy, A. W. de Groot, V. Mathesius. 3. TCLP Band 8, Gedenkschrift für N. S. Trubetzkoy : Etudes phonologiques dédiées à la mémoire de N. S. Trubetzkoy, 1939. Dieser Band enthält vor allem Beiträge von Hjelmslev und Hendrik Josephus Pos, mit Anwendungen auf das Deutsche, Spanische, Italienische, sowie verschiedene Aufsätze zur historischen Phonologie. 4. W. F. Twadell (1935), On Defining the Phoneme, Baltimore. 5. Eugenio Coseriu (1952), Sistema, norma y habla, Montevideo 20 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="21"?> 6. Eugenio Coseriu (1954), “Forma y sustancia en los sonidos del lenguaje”, Montevideo 7. Herbert Pilch, Phonemtheorie (1968), Basel - New York. V) Zur Geschichte der Phonologie 1. Primärgeschichte: Jan Baudouin de Courtenay (1893) Próba teorii alternacyj fonetycznych, Krakau. 2. Sekundärgeschichte: Daniel Jones (1957), The History and Meaning of the Term “Phoneme”, London. 3. Vorgeschichte: David Abercrombie (1949), “What is a Letter? ”, Lingua 2, 54-63; wieder abgedruckt in David Abercrombie, Studies on Phonetics and Linguistics, London: Oxford University Press, 1965; ibidem 1966, 1971. VI) Nur zur Geschichte des Terminus „Phonem“ 1868 - J. Baudouin de Courtenay, „Einige fälle der wirkung der analogie in der polnischen deklination“, Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung (Berlin), 6,1, 19-88. Dort „Laut“ als physisch-physiologische Einheit gegenüber „Laut“ als psychologisch-psychische Einheit. 1873 - A[ntoni]. Dufriche-Desgenettes. Siehe dazu Koerner (1976) und Joseph (1999), außerdem Mugdan (2011), (2014). 1875 - Louis Havet. Siehe zu ihm Kohrt (1985, Kap 2.2.: Frühe Phonemkon‐ zepte von Dufriche-Desgenettes bis Baudouin de Courtenay: Louis Havet und die Ausbildung des Phonembegriffs, SS. 77 ff.). Bei Louis Havet bedeutet Phonem ‘Sprachlaut’. 1878 - Ferdinand de Saussure, Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes, Leipzig (dort in der Bedeutung etwa zwischen ‘Sprachlaut’ und ‘Phonem’. 1879 - Mikołaj Habdank Kruszewski, Lautalternationen im Rigveda, Kazan‘. Dort erscheint die Unterscheidung zwischen zvuk ‘Laut’ und fonema. Die dort ausgebreiteten Begriffe stammen von Baudouin de Courtenay, der Terminus phonème jedoch von Saussure. Die Phonologie der Kazan’er Schule entspricht aber eher der späteren Morphophonologie als der Phonologie im eigentlichen Sinne. Nicht erwähnte Werke entsprechen meist nicht der eigentlichen Phonologie, so zum Beispiel - Eugen Dieth (1950), Vademekum der Phonetik, Bern. - Eugen Seidel (1943), Das Wesen der Phonologie, Bukarest und Kopenhagen, vorher rumänisch: Fonologia şi problemele ei actuale, Bukarest 1942. 1 Einleitung: Grundlagen 21 <?page no="22"?> 1.1 Das Verhältnis Phonem - Alphabetschrift Das Phonem als Grundbegriff der Phonologie meint die phonischen Einheiten der Sprachen im Sinne einer jeden historischen Einzelsprache. Dabei stehen sich in Bezug auf die Existenz des Phonems zwei Stellungnahmen gegenüber. Von diesen sagt die eine, das Phonem sei eine Fiktion, die aufgrund der Alphabetschrift entstanden sei, die andere behauptet genau das Gegenteil: Das Phonem ist eine sprachliche Realität, die von der Alphabetschrift nur intuitiv erfasst wird. Die erstgenannte Ansicht beruht auf Helmut Lüdtke (1969), „Die Alpha‐ betschrift und das Problem der Lautsegmentierung“, Phonetica 20, 147-176. Lüdtke behauptet dort, phonologische Einheiten seien nur Fiktionen, die auf die Alphabetschrift zurückgingen. Dabei geht er von Schwierigkeiten aus, wie sie in der Segmentierung von Diphthongen und Affrikaten entstehen bzw. entstehen können. Dem Phonem entspreche kein physikalisches Korrelat, „weder ein artikulatorisches noch ein akustisches noch ein auditives“ (wie Trubetzkoy gemeint hatte). Phoneme habe man wegen der Alphabetschrift erfunden. Diese sei aber auch nur eine einmalige Erfindung in der Geschichte der Menschheit, nämlich eine semitisch-griechische Erfindung. Lüdtkes Argumente kann man folgendermaßen zusammenfassen: a. Schwierigkeiten bei der Segmentierung von Diphthongen und Affrikaten wie [ʦ], [ʣ], [ʧ], [ʤ]; b. Unmöglichkeit der Synthese der Stimme aufgrund von künstlich erzeugten Phonemsegmenten; c. das Alphabet als einmalige phönizisch-griechische Erfindung. Diese Argumente sind weder historisch noch theoretisch annehmbar: 1. Historisch - Argument 3: a. Die altindische Schrift ist auch alphabetisch. Sie hängt zwar mit der semitischen (aramäischen), jedoch nicht mit der griechischen Schrift zusammen. Es stimmt nicht, dass man hier kein Anzeichen für einen intuitiven Phonembegriff erkennen könnte. Es werden in der altindischen Schrift nicht unterscheidende Züge, sondern Phoneme geschrieben. Der Unterschied z.B. zwischen k - g, p - b, t - d ist jeweils derselbe, die Zeichenpaare sind jedoch bis auf jeweils einen Zug keineswegs identisch, und das, was jeweils das Zeichen für stimmhaft und stimmlos differenziert, ist in den drei Fällen auch dasselbe. 22 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="23"?> In Devanagari, einer aus dem Sanskrit entwickelten Schrift, stehen sich gegenüber क - ग, फ - ব, ट - ढ ka - ga pa - ba ta - da Was für die altindische Schrift charakteristisch ist, ist nur ein Prinzip der Ökonomie: da kurzes ă so häufig ist, wird es nicht eigens ge‐ schrieben, sondern als jedem konsonantischen Zeichen folgend vor‐ ausgesetzt. Silbenanlautendes ă wird wie alle anderen Vokale natürlich geschrieben. Es gibt auch verschiedene andere alphabetische Schriften, die weder mit der griechischen noch mit der semitischen Schrift zusammen‐ hängen, so z.B. die koreanische Schrift, die um 1450 von König Se- Jong erfunden wurde und sehr genau dem phonologischen System des Koreanischen entspricht, z. B. in der Korrelation von p ~ b: ㅂ k ~ g: ㄱ ṗ: ㅃ k‘: ㄲ p h : ㅍ kh: ㅋ Übrigens findet die „Erfindung“, wenn auch nach der griechischen, immer wieder statt, so z.B. im neueren türkischen Alphabet mit la‐ teinischen Buchstaben und diakritischen Zeichen, dem das albanische teilweise folgt. Beide sind fast genau phonologisch. Türkisch ç / ʧ/ - c / ʤ/ und ähnlich ş / ʃ/ s / s/ - z / z/ ~ j / ʒ/ Albanisch ç / ʧ/ - c / ʦ/ und ähnlich sh / ʃ/ s / s/ - z / z/ ~ zh / ʒ/ Alphabete werden im Laufe ihrer Entwicklung auch korrigiert, so wurde z.B. lat. C, das zunächst für / k/ und / g/ stand, unter Berück‐ sichtigung des unterscheidenden Zuges der Stimmhaftigkeit um den Buchstaben G erweitert, d.h. aus C wurde zusätzlich G entwickelt. Im Lateinischen gilt das allerdings nur für diese Einheit. Allerdings muss man wissen, dass im Lateinischen in der Frühzeit neben C für / k/ auch K geschrieben wurde. [Im Deutschen wurde zur besseren Unterscheidung von stimmlosem / s/ und stimmhaftem / z/ im Inlaut zunächst der Digraph ʆƺ (langes S für / s/ im Anlant und ƺ für stimm‐ haftes / z/ ) und daraus im 18. Jahrhundert der neue Buchstabe ß geschaffen, dessen prekäre Existenz (z.B. gänzliche Abschaffung in 1.1 Das Verhältnis Phonem - Alphabetschrift 23 <?page no="24"?> der Schweiz) auch darin besteht, dass es für diesen Kleinbuchstaben keinen entsprechenden Großbuchstaben gibt.] b. Zu Lüdtkes erstem Argument ist zu sagen, dass die „Schwierigkeit“ nicht eigentlich in der „Existenz“ des Phonems, sondern bisweilen in der Schwierigkeit besteht, seine Einheitlichkeit festzustellen. Dies betrifft die Frage, ob Diphthonge und Affrikaten in einer bestimmten Sprache als Einheiten funktionieren oder nicht. Das heißt aber nicht, ob entsprechende Zeichen (Laute oder Buchstaben) Phoneme reprä‐ sentieren, sondern wie viele Phoneme sie repräsentieren. c. Lüdtkes Argument der Synthese gilt nicht für alle Fälle, sondern nur für einige, wo Phoneme in bestimmten Segmenten nicht realisiert werden. Die Versuche von Trubetzkoy, auf die sich Lüdtke bezieht, betreffen nur bestimmte Konsonantennexus wie [pl], [kr]. Lüdtkes Einwand gilt z.B. nicht für jegliche Vokale und konsonantische Kon‐ tinua wie [s], {z], [r], [f], [v]. Man kann deren Aussprache lernen, ohne sie in unterscheidende Züge zu zerlegen. Wenn die Synthese der Stimme hier von den Phonemen nicht zu den Stimmlauten kommen sollte, würde etwas mit der Synthese nicht stimmen. Zweitens geschieht diese Synthese immer wieder und hat absolut nichts Merkwürdiges an sich, etwa beim Lesen des Geschriebenen. Es werden meist Phoneme als Einheiten gelesen, aber immer Laute produziert, auch in neuen Wörtern wie Tom [to: m] gegenüber Ton oder Bom [bɔm] gegenüber Bonn. Noch klarer ist dies, wenn es um Fremd‐ sprachen geht. Würden den Phonemen allgemein keine Korrelata im Lautlichen entsprechen, so könnte man aufgrund der alphabetischen Schrift und einer phonischen Beschreibung Fremdsprachen nicht lesen. Dies ist jedoch stets möglich: Man kann auch eine nie direkt gehörte Sprache auf ziemlich annehmbare Weise rein aufgrund einer phonematischen Schreibung aussprechen. Richtig ist, dass die lautliche Realisierung ein Kontinuum ist und dass die Realisierungen der Phoneme ineinandergehen, so dass man sie nicht abgrenzen kann. Eine Schwierigkeit der Abgrenzung der Ein‐ heiten bedeutet jedoch keine Unmöglichkeit ihrer Existenz! Siehe die Abgrenzung von Tag und Nacht: Die Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen Tag und Nacht im Ablauf des tatsächlichen Geschehens be‐ deutet keineswegs, dass Tag und Nacht als Begriffe und als allgemeine Phänomene nicht existieren. 24 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="25"?> Es ist widersprüchlich anzunehmen, dass Phoneme nicht existieren, wohl aber unterscheidende Züge, denn Phoneme sind nichts Anderes als Bündel von unterscheidenden Zügen. Die Synthese der Stimme kann aber grundsätzlich nicht von den unterscheidenden Zügen allein ausgehen, denn im Laut werden nicht nur unterscheidende Züge realisiert. Das Unterscheidende allein kann in gewissen Fällen einfach nicht realisiert werden. Ein gutes Beispiel ist das spanische Phonem / b/ : Es ist oral gegenüber / m/ , bilabial gegenüber / d/ und / g/ , stimmhaft gegenüber / p/ und / f/ . Aber das Gefüge ‘oral’ - ‘bilabial’ - ‘stimmhaft’ kann nicht ohne Hinzufügung von ‘frikativ’ oder ‘okklusiv’ realisiert werden. Damit kommen wir zur Grundannahme von Lüdtke und der anderer Kritiker bezüglich der Phonemtheorie. Ihre Grundannahme ist falsch, weil sie eine Ver‐ wechslung von Phonem und Laut bedeutet. Dies wird im ersten Satz bei Lüdtke deutlich: „Die klassische Phonemtheorie beruht - ebenso wie die Lehre der Junggrammatiker - auf folgender (ausgesprochener oder unausgesprochener) Voraussetzung: Der kontinuierliche Redestrom (chaîne parlée) gliedere sich in eine Abfolge kleinster Zeitsegmente (die von den Junggrammatikern als „Laute“, von den Strukturalisten als „Phoneme“ bezeichnet werden).“ Dies ist völlig falsch. Kein Strukturalist nimmt an, dass sich der Redestrom in Phoneme gliedert. Phoneme sind funktionelle Einheiten der Sprache, nicht lautliche Einheiten der Rede. Lüdtkes Aufsatz heißt „Die Alphabetschrift und das Problem der Lautsegmentierung“, aber Lautsegmentierung ist nicht Phonemsegmentierung. Es ist ein völlig anderes Problem, wie ein Phonem realisiert wird, aber die meisten Phonologen behaupten auch nicht, dass einem Phonem unbedingt ein Lautsegment entsprechen muss, obwohl dies meist der Fall ist. Diese Annahme findet sich bei einem Teil des nordamerikanischen, nicht aber im europäischen Strukturalismus. [Eine ähnliche Annahme wie bei Lüdtke findet sich leider heute immer noch bei manchen Uneinsichtigen, vgl. Albano Leoni (2021).] Zur Abgrenzung von Segmenten und Phonemen: a. ein bestimmtes einheitliches Segment kann einem Phonem entsprechen oder b. mehrere Segmente können einem Phonem entsprechen, z.B. / ʦ/ , / ʧ/ , / a w / , / a j / usw. c. es kann ein Segment mehreren Phonemen entsprechen. So wird z.B. in amerikanisch-engl. party das / r/ in der Modifizierung des / t/ realisiert: [ˈpɑɽdɪ]. Im Schwedischen wird der auslautende Nexus / rs/ ähnlich wie [ʆ] 1.1 Das Verhältnis Phonem - Alphabetschrift 25 <?page no="26"?> artikuliert, ohne dass [ʆ] ein Phonem im Schwedischen wäre. Es sind zwei Segmente, / r/ und / s/ beteiligt, die aber als ein einziges Segment realisiert werden. d. Dasselbe Segment kann verschiedenen Phonemen entsprechen je nach dem Kontext. Wenn z.B. engl derby als [ˈdɑ: bɪ] realisiert, aber daneben im Bewusstsein der Sprecher auch [ˈdə: bɪ] existiert, so sind eigentlich in beiden Fällen / ə/ und / ɑ/ impliziert, obwohl immer nur eines der Phoneme tatsächlich artikuliert wird. e. Es ist aber auch möglich, dass völlig verschiedene Lautsegmente einem einzigen Phonem entsprechen: so z.B. [s] - [z] im Italienischen: [Im Anlaut ist [z] unmöglich, intervoka‐ lisch wird regional unterschiedlich entweder [z] (im Norden) oder [s] (im Süden) realisiert. In der toskanischen Norm wird teils [s], teils [z] gesprochen, aber es gibt keine Opposition; ] [s] - [h] - [ç] - [z] im amerikanischen Spanisch. [Das Phonem / s/ wird je nach Kontext unterschiedlich ausgesprochen. Im Auslaut lautet es regional unterschiedlich [s] oder [h], vor stimmlosem Okklusiv [ç], vor stimmhaftem Konsonant [z].] Diese Segmente haben miteinander nicht mehr gemeinsame Züge als mit anderen Phonemen. Es ist ohne weiteres möglich, dass ein Phonem nur negativ abgegrenzt wird. So ist III im folgenden Schema nicht I und nicht II: I III II Nur ist es nicht möglich, dass alle Phoneme einer Sprache in diesem Sinne „negativ“ abgegrenzt werden. Die Kritik an der Phonemtheorie beruht also auf einem unzulänglichen Ver‐ ständnis der Phonemtheorie selbst. Der erwähnte Artikel von Lüdtke führt aber auch zu einem positiven Ergebnis: Man darf Phoneme eben mit Lautsegmenten nicht einfach gleichsetzen. 26 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="27"?> 2 Zum Teil stehen diese Beispiele allerdings für eine morphonologische Intuition. - Phoneme sind keine Lautsegmente. - Die Phonemtheorie als Ganzes nimmt nicht an, dass Phoneme unbedingt einem 1: 1-Verhältnis entsprechen müssen. Auch im nordamerikanischen Strukturalismus werden deshalb die Phoneme „Segmentalphoneme“ ge‐ nannt, da der Begriff „Phonem“ dort umfassender ist als im europäischen Strukturalismus. - Phoneme entsprechen oft Lautsegmenten, aber eben nicht immer. - Die Lautsegmente, denen Phoneme entsprechen, brauchen nicht homogen zu sein. - Die Entsprechung, die angenommen wird, betrifft nicht die physikalisch festgestellte, sondern die menschlich wahrgenommene Lautabfolge. Für diese Wahrnehmung gilt nicht t - t ~ i sondern / ti/ i - d.h. nicht die physikalisch messbare Abfolge 1. Verschluss, 2. die Lösung des Verschlusses unter der Vorwegnahme des geschlossenen Vokals [i], sondern nur / t/ + / i/ , ebenso bei / pl/ nicht die Abfolge 1. Verschluss unter Vorwegnahme der Artikulation von / l/ , sondern / p/ + / l/ , d.h. als jeweils getrennte Einheiten. Trubetzkoy (1928) bezieht sich ausdrücklich auf dieses Problem: Die Phonologie darf nie an die experimentelle Phonetik appellieren oder in ihr ihre Zuflucht suchen. … Daher möchte ich vor der … empfohlenen Übertragung der Ergebnisse der experimentalphonetischen Untersuchung der Vokale in den Bereich der Phonologie entschieden warnen. - Diese Wahrnehmung hat nichts mit der Alphabetschrift zu tun, sondern es gibt vielmehr eine phonetische Intuition der Sprecher. Vgl. insbesondere E. Sapir (1925) und besonders (1933) mit verschiedenen eindeutigen Beispielen genauer phonematischer Intuition bei Sprechern von Eingeborenenspra‐ chen Nordamerikas. 2 - Die alphabetische Schrift entspricht der phonematischen Intuition, nicht umgekehrt. Deshalb kann man auch bei der phonematischen Analyse von der Alphabetschrift einer Sprache ausgehen, und dies ist keine „petitio prin‐ cipii“, denn sie bedeutet, dass man von einer schon intuitiv durchgeführten phonologischen Analyse ausgeht. Trubetzkoy schreibt (1933): 1.1 Das Verhältnis Phonem - Alphabetschrift 27 <?page no="28"?> Aus der Analyse eines guten nationalen Schriftsystems, das für die betreffende Sprache geschaffen wurde und sich praktisch bewährt hat, kann die Phonologie unendlich viel mehr lernen als aus genauen experimentalphonetischen Messungen und Untersuchungen. Denn das, was ein gutes praktisches Alphabet wiedergeben will und muß, sind nicht die Laute, sondern nur die bedeutungsdifferenzierenden Lautbegriffe der betreffenden Sprache, d.h. eben derselbe Gegenstand, den die Phonologie zu untersuchen hat. Schematisch dargestellt bedeutet das, Basis der Buchstaben sind sehr oft die Phoneme: - - Phoneme - - - Buchstaben - - nicht - ↓ ↓ ↓ - sondern - ↑ ↑ ↑ - - - - Buchstaben - - - Phoneme - - Vergleiche auch Abercrombie (1949). Es handelt sich nicht um die traditionelle Verwechslung von „Buchstabe“ und „Laut“, sondern um das Verhältnis von Buchstabe und Lautbegriff. Schon in der Antike unterschied man zwischen - γράμμα στοιχεῖον χαρακτὴρ τοῦ στοιχείου bzw. lateinisch litera elementum figura [deutsch etwa Schriftbild Lautwert Buchstabe] Priscian schreibt dazu Litera igitur est nota elementi et velut imago quaedam vocis literatae, quae cognoscitur ex qualitate et quantitate figurae linearum. Hoc ergo interest inter elementa et literas, quod elementa propria dicuntur ipsae pronuntiationes, notae autem earum literae, abusive tamen et elementa pro literis et literae pro elementis vocantur. (Priscian 1855, 6-7) ‘Der Buchstabe ist also das Zeichen für den Lautwert und gleichsam das Abbild des hingeschriebenen Stimmlichen. Es wird anhand der Qualität und der Quantität der Liniengestalt erkannt. Der Unterschied zwischen den Lautwerten und den Buchstaben besteht darin, dass die Aussprache den eigentlichen Lautwerten entspricht, die Zei‐ chen dafür aber sind die Buchstaben. Fälschlich jedoch wird auch Laut für Buchstabe und Buchstabe für Laut gesagt.’ 28 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="29"?> 3 Siehe zu ihm auch Eichler (1913). Abercrombie (1949) führt eine lange Liste von englischen Orthographikern und Phonetikern an, die sehr genau zwischen Buchstabe (litera, letter) und Graphie unterscheiden: - Charles Butler (1633) 3 spricht von verschiedenen im Englischen häufig gebrauchten „letters“, für welche keine „cháractērs“ existierten. - William Holder (1669) schreibt: „The Elements of Language are letters, viz. Simple discriminations of breath [breθ] or voice“. - bei John Wallis (1653) heißt es: „Litera dicenda est Sonus in voce simplex seu incompositus, in simpliciorem indivisiblis“. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird letter vor allem für das graphische Zeichen verwendet. In der ganzen europäischen Tradition ist litera eine Art Oberbegriff, d.h. ein Element der Sprache, soweit es geschrieben werden kann. Man unterscheidet in dieser Tradition bei der litera: nomen figura potestas. Leider gibt es keine analoge Untersuchung für Deutschland und die roma‐ nischen Länder. Die phonematische Intuition, die mit dem Begriff „litera“ verbunden ist, erscheint in den romanischen Ländern, in Spanien, Portugal, Italien, deutlicher und früher als in England. Hier können wir nur ein paar Hinweise geben: Der Erste ist Antonio de Nebrija, der in seiner Gramática Castellana (1492) zwar letra auch für das graphische Zeichen verwendet: De manera que no es otra cosa la letra sino figura por la cual se representa la voz (Nebrija 1492, I, 3 (siehe auch I, 5 und I, 6). ‘So dass der Buchstabe nichts anderes ist als das Zeichen, mit dem man den Laut darstellt.’ Er unterscheidet aber genau die verschiedenen phonematischen Werte bei ein und derselben Graphie, wofür er die Termini oficio oder fuerza verwendet. So sagt er (Nebrija 1492, I, 5): - „la c tiene tres oficios“ ‘das c hat drei Lautwerte’ - „la i tiene dos oficios“ ‘das i hat zwei Lautwerte’ [nämlich (i/ und / j/ , weil es auch für heutiges <y> verwendet wurde wie in io für yo ‘ich’ oder iazer für yacer ‘liegen’. 1.1 Das Verhältnis Phonem - Alphabetschrift 29 <?page no="30"?> Daher heißt es anschließend]: i, u, cuando no suenan por sí, mas hiriendo las vocales, i entonces dexan de ser i, u, i son otras cuanto a la fuerça, mas no cuanto a la figura. ‘wenn i und u nicht selbständig erklingen, sondern die Vokale schlagen [d.h. den konsonantischen Anlaut vor Vokalen bilden] und dann nicht i und u sind, sind sie hinsichtlich des Lautwertes etwas anderes, aber nicht hinsichtlich des Schriftbildes.’ - „la h no es letra sino señal de espíritu y soplo“ ‘h hat keinen Lautwert, sondern ist Zeichen für Behauchung und Blasen.’ - „c, k, q son una letra, porque tienen una fuerça, porque la diversidad de las letras no esta en la diversidad de las figuras, mas en la diversidad de la pronunciación“ (Nebrija 1492, I, 4-I, 5) ‘c, k und q sind ein einziger Buchstabe, weil sie einen Lautwert haben, denn die Verschiedenheit der Buchstaben besteht nicht in der Verschiedenheit der Schriftbilder, sondern in der Verschiedenheit der Aussprache.’ figura Also ist das Verhältnis letra sonido, voz, fuerça, oficio. Nebrija stellt genau fest, wie viele Phoneme das Spanische hat: „contadas i reconocidas las bozes que ai en nuestra lengua, hallaremos veinte i seis“ (Nebrija 1492, I, 5) „wenn wir die Lauteinheiten, die es in unserer Sprache gibt, zählen und feststellen, werden wir 26 finden.“ Entsprechend macht er Vorschläge zur Reform der spanischen Orthographie; siehe auch Coseriu (2020), 23-24). Noch weiter geht der portugiesische Grammatiker Fern-o de Oliveira (1535), der ein besonders begabter Phonetiker ist. Er unterscheidet beim Begriff „letra“ folgerichtig zwischen figura und força und stellt fest, dass das Portugiesische zwar so viele figuras wie das Lateinische habe, aber nicht so viele letras. Er unterscheidet im Portugiesischen 8 Vokale, die er auch mit verschiedenen Zeichen schreibt: a - ɑ, ɛ - e, ω - o, i, u. Für die Unterscheidung ‘offen’ - ‘geschlossen’ (‘grande’ - ‘pequeno’) ver‐ wendet er sogar ein typisch phonologisches Kriterium, indem er bemerkt, dass diese Unterschiede nicht vom phonischen Kontext abhängen, also nicht automatisch sind: Mas vemos que com umas mesmas letras soa uma vogal grande às vezes e às vezes pequena (Oliveira 1536, ohne Seitenzählung, Kap. 7). 30 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="31"?> 4 Zur Geschichte der Phonologie gab es nach der klassischen Darstellung durch Daniel Jones (1957) aus neuerer Zeit bis vor kurzem nur Teilarbeiten, so Munot (1967), Hurch (1989), Mahmoudian (2008), Bergounioux (2014), teilweise Smith (2011). Mehrere hier nicht aufgeführte Arbeiten betreffen die neueren Entwicklungen von der Prager Schule zur sogenannten generativen Phonologie. Erst mit Dresher/ van der Hulst (eds., 2022) gibt es nun ein umfassendes Werk. ‘Aber wir sehen, dass ein Vokal bei gleicher Schreibung manchmal offen und manchmal geschlossen klingt.’ Seine Beispiele sind fɛsta ‘Fest’ - festo ‘(Stoff-)Breite’, fermωsos - fermoso.‘schön’. In Italien gab es zu Anfang des 16. Jahrhunderts Versuche von Gian Giorgio Trissino zu einer Reform der italienischen Rechtschreibung, indem er auch die unterschiedlichen Zeichen ɛ - e und ω - o für offenes und geschlossenes e und o sowie ʒ für / ʣ/ einführte; (siehe auch Coseriu 2020, 60). Der Waliser John David Rhoese, latinisiert Rhoesus, kennt in seinem Werk De italica pronunciatione et orthographia, Padua 1569, schon die Methode der Minimalpaare zur Feststellung phonematisches Oppositionen. Er unterscheidet für jede litera zwischen sonus und orthographia und stellt Oppositionen wie die folgenden fest; siehe auch Coseriu (2020, 64-67): - męle (< mel, d.h. it. miele ‘Honig’) - mele (< mala, it. mela ‘Apfel’ - cęra (< altfrz. chiere ‘Gesicht, Angesicht’) - cera ‘Wachs’ - tǫrre (< tollere, it. togliere) - tọrre (< turris ‘Turm’) - cǫrre (< colligere, Nebenform zu cogliere ‘pflücken’) - cọrre (< currit ‘läuft’) - cǫlto ‘gepflückt’ - cọlto ‘cultus seu veneratio’ - rǫcca ‘arx’ - rọcca ‘colus’, ‘Spinnrocken’. Giorgio Bartoli, Degli elementi del parlar toscano, 1584, unterscheidet caratteri und elementi della voce und stellt fest, dass das Toskanische 35 elementi hat, eliminiert die Buchstaben h, k, q, x und y als nutzlos, fügt aber 17 Buchstaben hinzu, um all die phonischen Einheiten des Toskanischen darzustellen; siehe auch Coseriu (2020, 62-64). 1.2 Die Entwicklung des Phonembegriffs Wenn es also Phoneme gibt und wenn sie nicht materielle Laute sind, was sind sie dann? Was ist ihre „Realität“? Hier müssen wir uns auf die verschiedenen Auffassungen der Phonologie beziehen. 4 Wir haben gesehen, dass die Idee von zwei phonischen Wissenschaften von Jan Baudouin de Courtenay eingeführt wurde. Er unterscheidet zwischen 1.2 Die Entwicklung des Phonembegriffs 31 <?page no="32"?> 5 Coseriu hat in seinen Vorlesungen so gut wie keine biographischen Details zu den von ihm behandelten Linguisten gegeben. Für Baudouin de Courtenay sind solche dennoch interessant. Baudouin de Courtenays Vorfahren stammten aus einer französischen Adelsfamilie, die als Hugenotten unter August dem Starken nach Polen gekommen waren. In der Nähe von Warschau, damals zu Russland gehörend, 1845 geboren, studierte er in Warschau, Prag, Jena und Berlin, lehrte dann an Universitäten des Zarenreiches, Kazan‘, Tartu (deutsch Dorpat/ Estland), Krakau und Sankt Petersburg, bevor er 1918 im unabhängig gewordenen Polen Professor in Warschau wurde, wo er auch 1929 starb. Zeitlebens setzte er sich stark für die Rechte ethnischer Minderheiten ein, wurde deswegen aufgrund eines Flugblatts 1913 in Sankt-Petersburg drei Monate eingekerkert und verlor für vier Jahre seine Professur. 6 Heute eher Setswana oder Tswana, eine der Sotho-Tswana-Sprachen in Botswana und Südafrika. Psychophonetik und Physiophonetik und zwischen zwei Arten von Transkriptionen, der psychphonischen und der physiophonischen. Als Schema der Abhängigkeiten von Baudouin de Courtenay kann man skiz‐ zieren: - Baudouin de Courtenay - M. H. Kruszewski 5 T. Benni und andere polnische Linguisten L. V. Ščerba, Court Exposé de la Prononciation Russe, 1911 Ščerba wiederum hatte einen gewissen Einfluss auf Daniel Jones, „The phonetic structure of the Sechuana Language“ 6 (1919), wie überhaupt England in der weiteren Entwicklung eine entscheidende Rolle spielte: - Henry Sweet (1877), A Handbook of Phonetics: Including a popular exposition of the principles of spelling reform, Oxford. Dort wird die Unterscheidung zwischen narrow transcription und broad transcription eingeführt. - Daniel Jones (1919), „The phonetic structure of the Sechuana Language“. In diesem Vortrag vor der Philological Society in London taucht zum ersten Mal das Wort „Phonem“ auf und wird als „a normal sound of the language together with all its incidental variants“ definiert. - In Daniel Jones, zusammen mit H. S. Perera, Colloquial Sinhalese Reader, ( Jones & Perera 1919, 2), erscheint folgende Definition: A phoneme is defined as a group of related sounds of a given language which are so used in connected speech that no one of them ever occurs in positions which any other can occupy, 32 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="33"?> z.B. p - p h , t - t h im Englischen, d.h. [p], [t] im Auslaut und nach / s/ , [p h ], [t h ] in anderen Stellungen, [b] - [β] im Spanischen, [s] - [z] im Italienischen außerhalb des Toskanischen. Ähnlich M. Swadesh (1934), „The Phoneme Principle“, Language 10, der den Ausdruck „complementary distribution“ einführt. Auch später bleibt Daniel Jones (1957, 15) bei seiner Definition. Er möchte unterscheiden zwischen dem, was Phoneme sind, und dem, was Phoneme machen: Phonemes are what is stated in the definition. What they do is to distinguish words from one another. Different sounds belonging to the same phoneme cannot do this. Ähnlich äußern sich Gabelentz (1901, 35-36) und auch F. de Saussure (Wunderli 2013, 120-121): La chaîne acoustique ne se divise pas en temps égaux, mais en temps homogènes, caractérisés l’unité d’impression, et c’est là le point de départ naturel pour l’étude phonologique. ‘Die auditive Kette gliedert sich nicht in gleich lange, sondern in homogene Einheiten, die durch die Einheitlichkeit des Eindrucks charakterisiert sind, und genau dies ist der natürliche Ausgangspunkt der phonologischen Analyse.’ Etwa gleichzeitig schreibt Paul Passy (1925) im Milieu der Entwicklung des I.P.A. oder A.P.I.: ne noter dans les textes que les différences significatives: c’est une règle d’or, dont on ne devrait jamais se départir, ou si l’on aime mieux, ne représenter par des lettres différentes que les phonèmes différents. ‘In den (Transkriptions-)Texten nur die bedeutungsdifferenzierenden [Zeichen] no‐ tieren, das ist eine goldene Regel, von der man nie abweichen sollte oder, wenn man es lieber will, durch unterschiedliche Zeichen nur die verschiedenen Phoneme darstellen.’ Für Nordamerika sind im Zusammenhang mit der Geschichte der Phonologie folgende Persönlichkeiten und Werke zu erwähnen: - Edward Sapir (1921), Language. An Introduction into the Study of Speech, New York. - derselbe (1925), „Sound patterns in Language“, Language 1. - derselbe (1933), „La réalité psychologique des phonèmes“, Journal de psy‐ chologie 30. - Leonard Bloomfield (1933), Language, New York. 1.2 Die Entwicklung des Phonembegriffs 33 <?page no="34"?> Erst mit Bloomfield stellt man eine weitere Verbreitung phonologischer Begriffe fest. Bei Bloomfield (1933, 79) wird das Phonem definiert als „a minimum unit of distinctive sound-feature“. Die Einheiten werden durch die partielle Ähnlichkeit und Verschiedenheit sprachlicher Formen abgegrenzt. So besteht z.B. pin aus drei Teilen, die getrennt ersetzt werden können, a. der 1. und dann der 2.: pin - tin - tan b. der 1. und dann der 3.: pin - tin - tick c. der 2. und dann der 3.: pin - pan - pack d. die 3 Teile: pin - tin - tan - tack, so dass pin aus drei nicht weiter zerlegbaren Einheiten gebildet erscheint: p - i - n. Später übernimmt auch er von Swadesh den Begriff der komplementären Distribution. In Deutschland ist vor allem Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft (1901, 33-34), zu nennen: Die Sprache … unterscheidet nur eine bestimmte Anzahl von Lauten, die sich zu den lautlichen Einzelerscheinungen verhalten wie Arten zu Individuen, wie Kreise zu Punkten, sie zieht die Grenzen weiter oder enger, immer aber duldet sie einen gewissen Spielraum. Nicht Alle, die die Mundart richtig sprechen, sprechen den nämlichen Laut genau auf dieselbe Weise aus, ja man darf zweifeln, ob es der Einzelne immer thue … Das Sprachgefühl … macht da keinen Unterschied … Ich habe darauf hingewiesen, daß das Sprachgefühl der Völker die Laute anders, weiter faßt als die Lautphysiologie.“ Gabelentz unterschied zwischen „Laut für die Phonetik“ und „Laut für die Sprachwissenschaft“. 34 1 Einleitung: Grundlagen <?page no="35"?> 2 Der Prager Linguistenkreis Der Cercle Linguistique de Prague wurde 1926 gegründet durch - N. S. Trubetzkoy - Roman Jakobson - Sergej Karcevskij. 1928 wurden auf dem 1. Linguistenkongress in Den Haag die Thesen von Trubetzkoy, Jakobson und Karcevskij vorgelegt. Diese wurden in der Folgezeit in dem äußerst wichtigen Organ des Prager Linguistenkreises verteidigt: 1929 erschien der 1. Band der Travaux du Cercle Linguistique de Prague (TCLP) 1931 erschien der 4. Band der TCLP. In den Thesen aus dem Jahr 1928 erscheint keine Definition des Phonems, es wird nur von der „Rolle der Sprachlaute im phonischen System einer Sprache“ gesprochen und von den „différences significatives“ zwischen den Sprachlauten, die von den „différences extragrammaticales“ unterschieden werden müssen. Diese werden als „kombinatorische“ oder „stilistische“ ausgegeben und letztere als „relevant de systèmes fonctionnels différents“. Im Prager Linguistenkreis wird weitergearbeitet und diskutiert. Im Jahre 1928 hält dort Trubetzkoy zwei Vorträge, einen zum „Alphabet und dem phonologischen System“ und einen anderen zu den Vokalsystemen. In den „Thèses“, die im ersten Band veröffentlicht werden (TCLP 1, 1929), wird die phonologische Problematik nur kurz dargestellt. Es wird die Notwendigkeit hervorgehoben, „le son comme fait physique objectif, comme représentation et comme élément du système fonctionnel“ zu unterscheiden. Es sind eigentlich schon drei Begriffe, die unterschieden werden: a. der Laut als physische Erscheinung b. der Laut als Vorstellung c. der Laut als Element eines funktionellen Systems. Die Laute als physische Erscheinungen könne man nicht mit den „valeurs linguistiques“ gleichsetzen. Die Lautvorstellungen seien ihrerseits Elemente eines Sprachsystems nur in dem Maße, in dem sie in diesem System eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben: D’autre part, les images acoustico-motrices subjectives ne sont des éléments d’un système linguistique que dans la mesure où elles remplissent, dans ce système, une fonction différenciatrice de significations. <?page no="36"?> Der Unterschied ist also Element eines Sprachsystems Laut Lautvorstellung Das Phonem als funktionelle Lautvorstellung wird indirekt definiert („Thèses“, TCLP 1 (1929), 10-11): Il faut caractériser le système phonologique, c’est-à-dire établir le répertoire des images acoustico-motrices les plus simples et significatives dans une langue donnée (phonèmes).- ‘Es gilt, das phonologische System näher zu bestimmen, d.h. das Verzeichnis der einfachsten und wichtigsten motorischen Lautbilder (Phoneme) aufzustellen.’ Die Definition geschieht also im Grunde auf der Linie von Baudouin de Courtenay. Jedoch wird ein Unterschied zwischen „Phonem“ und „Morphonem“ gemacht, während dies bei Baudouin de Courtenay als Einheit bei der Alterna‐ tion gesehen wird, z.B. bei poln. noga ‘Bein, Fuß’ - nóg [nuk] (Gen. Pl., ‘der Beine, Füße’; [ebenso bei deutsch Wald [valt] - Wälder, wo in beiden Fällen - trotz des Lautunterschiedes [t] - [d] - das Phonem / d/ vorliegt.] Hier dagegen („Thèses“, TCLP 1 (1929), 10-11) heißt es: image complexe de deux ou plusieurs phonèmes susceptibles de se remplacer mutu‐ ellement, selon les conditions de la structure morphologique, à l’intérieur d’un même morphème. ‘ein aus zwei oder mehr Phonemen bestehendes komplexes (Laut-)Bild, wobei die Phoneme innerhalb des gleichen Morphems je nach den Bedingungen der morpholo‐ gischen Struktur gegeneinander ausgetauscht werden können.’ Als Beispiel wird angegeben russ. ruka ‘Hand’ - ručnoj (Adj. zu ‘Hand’) ‘Hand-’. Das Morphonem ist / k/ ʧ/ , nicht / k/ ! In demselben Band der TCLP 1 (1929) findet sich der wichtige Aufsatz von Trubetzkoy „Zur allgemeinen Theorie der phonologischen Vokalsysteme“. Auch dort erscheinen die Phoneme als Lautvorstellungen. Phonetik und Phonologie unterscheidet er dort folgendermaßen: Im Gegensatz zur Phonetik, die eine Naturwissenschaft ist und sich mit den Lauten der menschlichen Rede befaßt, hat die Phonologie die Phoneme oder Lautvorstellungen der menschlichen Sprache zum Gegenstand und ist demnach ein Teil der Sprachwis‐ senschaft. 36 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="37"?> Die Wortvorstellungen zerfallen in Lautvorstellungen oder Phoneme: Durch die lautlichen Assoziationen mit verschiedenen anderen Wörtern derselben Sprache wird das gegebene Wort oder, besser gesagt, die gegebene Wortvorstellung in ihre phonologischen Bestandteile, d.h. die einzelnen Lautvorstellungen oder Phoneme zerlegt. Jedoch erscheint hier schon etwas Neues: Der psychologische Gehalt der Phoneme wird nicht durch den Laut als solchen bestimmt, sondern durch das phonologische System der jeweiligen Sprache. Im Deutschen z.B. würde man Keil lautlich mit geil, Pein mit Bein assoziieren. Dadurch hat / k/ etwas mit / g/ ge‐ mein, das es von / p/ - / b/ unterscheidet, aber auch etwas Gemeinsames mit / p/ , nämlich das, was sowohl Keil von geil als auch Pein von Bein differenziert. Das in der einen Hinsicht Gemeinsame (Stimmlosigkeit) ist in anderer Hinsicht differenzierend (dorsal - bilabial). Einmal haben wir in Bein wie in Pein eine Tenuis, ein anderes Mal in beiden Fällen den gleichen Verschlusslaut (Keil - geil gegenüber Pein - Bein). Das Kjachisch-Tscherkessische, eine auch Adygäisch genannte nordwestkaukasische Sprache, weist demgegenüber z.B. bei / k/ sechs Vorstellungselemente auf: - Stimmlosigkeit gegenüber / g/ , - Schwäche gegenüber / k: / , - infraglottale Expiration gegenüber glottalem / ḳ/ , - Ungerundetheit gegenüber / k o / , - Vordervelarität gegenüber hintervelarem / q/ , - Dorsalität gegenüber dento-alveolarem / t/ . Der psychologische Gehalt eines Phonems ist mithin durch die Beschaffenheit des gesamten phonologischen Systems der betreffenden Sprache bestimmt. … Obgleich … alle motorisch-akustischen Merkmale des deutschen und des kjachischen / k/ die gleichen sind, sind im Deutschen nur zwei von diesen Merkmalen phonologisch giltig, im Kjachisch-Tscherkessischen dagegen sechs, und dieser Unterschied hängt nur davon ab, daß das gesamte phonologische System des Deutschen ganz anders als das des Kjachisch-Tscherkessischen beschaffen ist. (Trubetzkoy 1929, 40). Daraus ergibt sich, dass sich Trubetzkoy der Andersartigkeit völlig bewusst ist, ob man die Lautvorstellungen deren Varianten gegenüberstellt oder eben anderen Lauten, also 2 Der Prager Linguistenkreis 37 <?page no="38"?> [k h ] / k/ [k] [k j ] Merkmale der Lautvorstellung Auch auf dem 2. Internationalen Linguistenkongress, Genf 1931, spricht Tru‐ betzkoy in seinem Bericht „Les systèmes phonologiques envisagés en euxmêmes et dans leur rapport avec la structure générale de la langue“ von den Phonemen als „Lautabsichten“: Daß zwischen den Lautintentionen oder Lautabsichten (Phonemen) und den in Wirklichkeit ausgesprochenen Lauten ein großer Unterschied besteht, das ist schon lange erkannt worden und verweist an dieser Stelle auf Baudouin de Courtenay. Die Phonologie befaßt sich mit Phonemen, d.h. mit den in der betreffenden Sprache zur Bedeutungsunterscheidung verwendeten Lautabsichten oder, noch allgemeiner ausgedrückt, Lautbegriffen. Auch hier sehen wir also die Bedeutungsunterscheidung als Kriterium, aber das Phonem ist immer noch eine psychologische Einheit (siehe auch Čyžewśkyi (1931), „Phonologie und Psychologie“). Doch schon im Jahre 1929 bringt Roman Jakobson innerhalb der Prager Schule eine neue Definition des Phonems: es ist die kleinste phonologische, d.h. bedeutungsunterscheidende Einheit einer Sprache. Tous termes d’opposition phonologique non susceptibles d’être dissociés en sousoppositions phonologiques plus menues sont appelés phonèmes. ( Jakobson 1929, 5). ‘Alle Ausdrücke einer phonologischen Opposition, die nicht in kleinere phonologische Unteroppositionen zerlegt werden können, nennt man Phoneme.’ 2.1 Die Kritik Trubetzkoys an früheren Vorstellungen In dieser Arbeit nimmt Jakobson auch gegen die psychologische Auffassung der phonologischen Systeme Stellung. Diese Auffassung findet sich auch in „Projet de terminologie phonologique standardisée“ ( Jakobson 1931b, 311): 38 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="39"?> 7 In der Indogermanistik und in der Germanistik wird in diesem Fall oft von Ablaut gesprochen. Aber das ist ein Phänomen der historischen Phonetik, das freilich auch synchronisch funktionieren kann. Im Falle des Morphonems geht es aber um die paradigmatische Einheit eines Wortes, das z.B. in verschiedenen „alternierenden“ Flexionsformen bzw. grammatisch bedingten Abstufungen erscheint. Je nach der grammatischen Kategorie (Kasus, Tempus, finites Verb, infinite Verbformen) wird eine andere (alternative) Flexionsform gebraucht. Allerdings geht der Begriff der Morphonematik weit über verschiedene Flexionsformen hinaus und betrifft auch die Zusammenhänge in einer Wortfamilie (z.B. frz. œil - oculaire, coupable - culpabilité usw.). Unité phonologique non susceptible d’être dissociée en unités phonologiques plus petites et plus simples. ‘Eine phonologische Einheit, die nicht in kleinere und einfachere phonologische Einheiten zerlegt werden kann.’ Hier ( Jakobson 1931b) erscheint auch die Vorstellung des Morphonems: Idée complexe de tous les membres (deux ou plusieurs) d’une alternance. ‘Die komplexe Vorstellung aller Glieder (zweier oder mehrerer) einer Alternanz’, z.B. sorb. sèl-o ‘Dorf ’ - sȅl-a (Gen.), tschech. sláv-a ‘Ruhm’ - slav-ou (Instr.), ung. levél ‘Blatt, Brief ’ - level-ek (Pl.), dt. geb-en - gab - gib, russ. son ‘Schlaf ’ - sn-a (Gen.). 7 Eine ähnliche Definition des Phonems hatte es allerdings schon 1928 in der Sowjetunion bei N. F. Jakovlev gegeben (siehe Trubetzkoy 1958, 34): … unter Phonemen verstehen wir jene Schalleigenschaften, die sich als kürzeste zur Differenzierung von Bedeutungseinheiten dienende Elemente des Redeflusses aus diesem herauslösen lassen. Zur Definition von Trubetzkoy selbst gehört dann auch die Feststellung, dass Phoneme nicht Elemente der Redeakte (parole), sondern des Sprachgebildes (langue) sind: Phonologische Einheiten, die sich vom Standpunkt der betreffenden Sprache nicht in noch kürzere aufeinanderfolgende phonologische Einheiten zerlegen lassen, nennen wir Phoneme. Somit ist das Phonem die kleinste Einheit der gegebenen Sprache. … Unter (direkt oder indirekt) phonologischer Opposition verstehen wir also jeden Schallgegensatz, der in der gegebenen Sprache eine intellektuelle Bedeutung differen‐ zieren kann. Jedes Glied einer solchen Opposition nennen wir phonologische (bzw. distinktive) Einheit. (Trubetzkoy 1958, 32-34). 2.1 Die Kritik Trubetzkoys an früheren Vorstellungen 39 <?page no="40"?> In Mähne gegenüber Bühne erkennen wir jeweils zwei Einheiten: / mɛ; / und / by: / , in Mähne - gähne aber nur jeweils eine: / m/ - / g/ , ebenso in Mähne - mahne: / ɛ: / - / a: / , in Bühne - Sühne / b/ - / z/ , in Bühne - Bohne / y: / - / o: / (Trubetzkoy 1958, 33). Zugleich werden die Phoneme als „Gesamtheit der phonologisch relevanten Eigenschaften eines Lautgebildes“ (Trubetzkoy 1958, 35) definiert. Hier kann man Parallelen zu Bloomfield (1933) sehen, der allerdings nur „Ähnlichkeiten“ (similarities) und „Verschiedenheiten“ (differences) kennt. Es gibt also drei Auffassungen der Phonologie und der Phoneme, vgl. Tru‐ betzkoy (1958, 37-49): 1. die Phonologie als Psychophonetik, das Phonem als Lautvorstellung, Laut‐ absicht, Lautbegriff; dazu gehören Baudouin de Courtenay, Kruszewski, die Prager Schule und auch Trubetzkoy zu Beginn, bis etwa 1929-1930), aber auch Sapir und Gabelentz; 2. die Phonologie als Teildisziplin der Phonetik, die Phoneme eine „Familie von Lauten in komplementärer Distribution“ und natürlich auch nicht in freier Variation (dies ist die Auffassung der englischen Schule); 3. Die Phonologie ist das Studium der Laute in der Sprache als funktionellem System. Ein Phonem ist die kleinste distinktive Einheit in der Sprache (langue): Trubetzkoy, Jakovlev, Jakobson, auch Twadell (1935), auch schon Saussure, der jedoch zwischen Mikrophonem und Makrophonem unter‐ scheidet. Die Kriterien sind für 1) die komplementäre Distribution, für 2) das Sprachge‐ fühl, für 3) die bedeutungsunterscheidende Funktion. Phoneme sind entsprechend: 1. eine psychische Realität, 2. eine physische Realität, 3. eine linguistische, nämlich funktionelle Realität. Mit der dritten, linguistischen Auffassung durchaus vereinbar sind Jones (1957, 15: „what phonemes do“) und Ščerba (1912), der mit dem übereinstimmt, was Trubetzkoy und die Prager anfangs dachten: die kürzeste allgemeine Lautvorstellung der gegebenen Sprache, die die Fähigkeit besitzt, sich mit Bedeutungsvorstellungen zu assoziieren und Wörter zu differen‐ zieren-…, heißt Phonem. 40 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="41"?> Eine Kritik der drei Auffassungen findet sich bei Trubetzkoy (1958, 37-41). Er kritisiert mit guten Gründen die psychologische Auffassung des Phonems bei Baudouin de Courtenay, bei sich selbst in seinen früheren Arbeiten und bei van Wijk (1923, 1939) und führt zwei wichtige Argumente an: 1. Er stößt sich an dem Begriff „psychisches Äquivalent des Sprachlautes“. Die Lautvorstellung entspricht nicht dem Phonem, sondern Sprachlauten, also auch Varianten. Man erkennt und unterscheidet bei dieser Auffassung nicht nur Phoneme, sondern eben auch Varianten. Es ist richtig, dass man normalerweise nicht alle Varianten (Variantentypen) erkenne und berücksichtige, dies hänge von den Individuen und von der Erfahrung ab. 2. Der Sprachlaut ist keine konkrete positiv gegebene Größe. Der Schallstrom der Rede ist ein Kontinuum, und Sprachlaute werden aus diesem Kontinuum nur dank der Phoneme herausgefiltert. Der Sprachlaut so, wie er vom Menschen festgestellt wird, kann nur mit Bezug auf das Phonem definiert werden, nicht umgekehrt. Das heißt, Sprachlaute sind Realisierungen von Phonemen, nicht die Phoneme etwa Abstraktionen, zu denen man aufgrund der Sprachlaute kommt. Man darf hier nicht den Standpunkt des Sprechers mit dem des Linguisten verwechseln. Der Linguist muss die Phoneme wie die ganze Sprache aus der Sprechtätigkeit deduzieren, der erwachsene Sprecher dagegen spricht mit der Sprache, realisiert die Sprache im Sprechen. Dies ist zwar richtig, was die Vorstellungspsychologie betrifft. Man kann jedoch die psychologistische Darstellung und die psychologisierende Terminologie von Baudouin de Courtenay und noch mehr diejenige von Sapir auch anders interpretieren, nämlich in kognitiver Hinsicht, und das „psychische Äquivalent oder Korrelat des Sprachlautes“ als von den Sprechern intuitiv erkanntes Element des Ausdrucks verstehen. Die Sprecher kennen ihre Sprache, und zur Kenntnis der Sprache gehört natürlich auch die Kenntnis ihrer Phoneme. Diese Kenntnis tritt in der Sprechtätigkeit der Sprecher in der unmittelbaren Annahme oder Ablehnung von gut bzw. schlecht gebildeten Formen, im sprachlichen Schaffen, z.B. in der Bildung neuer Wörter in Erscheinung. Auch diese enthalten in der Sprache schon existierende Phoneme. „Korrelat“ muss nicht unbedingt als etwas vom Sprachlaut her Determiniertes interpretiert werden, d.h. als Abfolge Laut → Phonem. Man kann es auch neutral verstehen, als Feststellung einer Relation oder, noch besser, als Behauptung einer anderen Sphäre gegenüber der materiellen Sphäre des Sprechens: 2.1 Die Kritik Trubetzkoys an früheren Vorstellungen 41 <?page no="42"?> Laut ─ Phonem. und man kann es sogar als Determinierung in umgekehrter Richtung interpre‐ tieren: Laut ← Phonem. In dieser Hinsicht würden die Ausführungen von Baudouin de Courtenay und von Sapir einfach bedeuten, dass die Sprecher die funktionellen Einheiten ihrer Sprache kennen - da sie gerade mittels dieser Einheiten sprechen und verstehen. Die Phoneme würden also im Bewusstsein der Sprecher existieren - siehe das „Sprachgefühl“ von Gabelentz und das „Sprachbewusstsein“ von van Wijk. Das ist eigentlich eine notwendige Schlussfolgerung aus der Analyse des Begriffes „Sprache“, denn: 1. in diesem Sinne interpretiert, würde diese Auffassung bezüglich der Phoneme mit der oben genannten dritten Auffassung zusammenfallen: Die Phoneme existieren als funktionelle Einheiten in der „Sprache“. Die „Sprache“ wiederum existiert im Bewusstsein der Sprecher als intuitive Kenntnis, als Sprechen-Können. 2. Die intuitive Kenntnis existiert in Bezug auf die Ausdrucksebene nicht nur für Phoneme (konstitutive und distinktive Einheiten der Ausdrucksebene der Sprache), sondern auch für viele Varianten und auch für andere Relationen, die unter dem Begriff „Morphonem“ zusammengefasst werden: Varianten Phonem 2 - Phonem 1 - Phonem 3 2.2 Das Problem der Morphonologie In der Tat gehen sowohl Baudouin de Courtenay als auch Sapir vom Phonem zum Morphonem über. Dies geschieht dann in kohärentester Weise auch bei Chomsky, der in dieser Hinsicht ausdrücklich auf die Auffassung von Sapir zurückgreift und der sogar die „Existenz“ der Ebene der Phoneme leugnen möchte. Nun sind einerseits die Grenzen der morphonematischen Kenntnis unbe‐ kannt. Man hat Verfahren, um das phonematische Bewusstsein festzustellen, keine aber für das morphonematische Bewusstsein. Kann man z.B. sagen, dass die Franzosen / u/ und / yl/ in Zusammenhang bringen wegen coupable - culpabilité, oder / ɥi/ - / ok/ wegen nuit - nocturne, / ɥi/ - / yk/ wegen fruit - fruc‐ 42 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="43"?> tifère, / o/ - / ak w / wegen eau - aquatique, / -/ - / ɛ̃/ wegen langue - linguistique? Das geht vielleicht zu weit, aber wo ist die Grenze zum morphonematischen Bewusstsein des Zusammenhangs zwischen / vən/ , / vjɛ̃/ und / vɛ̃/ in venez! - viens! - (elle) vint? Die Gleichsetzung des phonematischen mit dem morphonematischen Be‐ wusstsein führt auch zum Verkennen der phonematischen Ebene. Chomsky (Chomsky & Halle 1968) führt für den Übergang im Englischen von seiner „systematisch phonemischen“ (morphonematischen) zu seiner „systematisch phonetischen“ Ebene (Ebene der Realisierungsnorm) Beispiele an wie { k k t - t > s im Kontext + [i, j] - - ebenso [s, z] + [i, y] > [ʃ, ʒ] im Kontext - Vokal. Seine Beispiele sind: [laʥɪk] logic [laʥɪk] + -ism > [laʥɪsɪzm] logicism [laʥɪk] + -[jɪn] > [laʥɪʃɪn] logician und so auch für [dilajt#d] delighted > [dilajDɪd]. Da Chomsky nur über das sehr einfache Instrument der Pfeile und nur über den Begriff „wird zu“ verfügt, verwechselt er hier zwei völlig verschiedene Operationen, die Alternation (logic - logicism - logician) und die Realisierung ([dilajt#d] delighted > [dilajDɪd]), d.h. Rede ‖ Varianten ‖ Varianten ‖ Varianten ‖ Realisierung Sprache Phonem 1 Phonem 2 Phonem 3 Alternation Im ersten Fall wird / k/ keineswegs zu / s/ und / s/ nicht zu / ʃ/ , sondern sie werden durch / s/ bzw. / ʃ/ ersetzt. Im zweiten Fall wird / t/ nicht zu [d], sondern es wird so realisiert. d.h. keine phonematische Ersetzung, sondern eine Realisierungs‐ variante von / t/ . Ähnliches gilt natürlich auch für Varianten von / k/ , / s/ , / ʃ/ . Zugleich verschwindet dabei der Unterschied zwischen Phonem (als funk‐ tioneller Einheit) und Variante (als Realisierungsart einer funktionellen Ein‐ heit). Die angegebenen Beispiele logic - logicism - logician und delighted 2.2 Das Problem der Morphonologie 43 <?page no="44"?> gehören alle zur Ebene der „systematischen Phonetik“, d.h. der Realisierungs‐ norm. Aber / s/ und / ʃ/ sind als funktionelle Einheiten Phoneme im Englischen, wohingegen [D] kein Phonem ist. Chomsky behauptet dagegen, dass diese „Information“ auch in seinem System gegeben sei. Dies ist aber einerseits inkohärent und andererseits sophistisch, denn eine „Information“ gilt in einer expliziten Grammatik als gegeben, wenn sie explizit gegeben wird und nicht, wenn der Leser sie deduzieren muss. Dass außerdem für die sog. „systematische Phonetik“ keine Kriterien angegeben werden, ist eine weitere Schwierigkeit. Chomsky hat in sehr scharfsinniger Weise die klassische Phonologie, insbesondere in ihrer nord‐ amerikanischen Form, kritisiert und hat einige der schwächsten Punkte dieser Form der Phonologie aufgedeckt. Für seine eigene Konstruktion ist es ihm jedoch nicht gelungen, eine feste und objektive Grundlage zu finden. So schwankt auch die generative Phonologie hinsichtlich der Grundlage der systemischen Phonetik zwischen der schriftlichen Darstellung und der pho‐ nischen Entwicklung der Sprache. Die schriftliche Darstellung kann jedoch nur in dem Maß als Grundlage angenommen werden, in dem sie morpho‐ nematisch ist, was eigentlich selten ist und nie konsequent durchgeführt wird. Das Zweite, die phonische Entwicklung der Sprache, bedeutet hier eine Verwechslung zwischen Synchronie und Diachronie gerade in dem Sinne, in dem sie nicht verwechselt werden dürfen. Eine Darstellung, in der z.B. it. debbo (devo), devi, deve usw. auf lat. debeo, debi (bzw. debes), debe (bzw. debet) zurückgeführt werden, was tatsächlich hinsichtlich der diachronen Entwicklung unternommen wurde, kann einfacher als eine andere sein. Mit den synchronischen Regeln, die die italienischen Sprecher intuitiv kennen und anwenden, hat dies jedoch absolut nichts zu tun. Die Option für die morphonematische Ebene löst andererseits die Frage der Beziehungen der Phonologie zur Grammatik nicht. Der wichtige Beitrag von Chomsky und noch mehr von Halle (Chomsky/ Halle 1968) auf diesem Gebiet bleibt auf die Feststellung beschränkt, dass in der Morphonologie geordnete Regeln, d.h. orientierte Alternationen gelten, z.B. nicht einfach k ~ s ~ ʃ, sondern k → s → ʃ, und dass solche Regeln in den entsprechenden Sprachen eine gewisse Allgemeinheit beanspruchen können. 44 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="45"?> 2.3 Kritik Trubetzkoys an anderen Auffassungen des Phonems Die physikalische Auffassung des Phonems wurde ebenfalls von Trubetzkoy mit guten Gründen kritisiert. Gemäß der ersten Definition von Jones ( Jones & Perera 1919, 2) wäre ein Phonem „eine Familie oder Gruppe von akustisch bzw. artikulatorisch verwandten Sprachlauten, die nicht in derselben Lautumgebung auftreten können.“ Somit würde die Rede aus Sprachlauten und Phonemen bestehen. In dt. Wiege - Beispiel von Trubetzkoy (1958, 38) - wären v, i, ə Sprachlaute, weil sie keine wahrnehmbaren Varianten aufwiesen, / g/ hingegen ein Phonem, weil / g/ in anderen Lautumgebungen anders laute [d.h. vor / i/ und [ə] z.B. palataler ausgesprochen wird, siehe Gier und eben Wiege, vor / o/ und besonders / u/ aber velarer realisiert wird, siehe etwa in Gong und gut.] Andererseits gebe es auch fakultative Varianten. „die einander ersetzen können, ohne die Wortbedeutung zu verändern“, z.B. [v] und [β] im Deutschen, [r] und [ɹ] in verschiedenen Sprachen, auch im Deutschen. Die Familien von solchen Lauten nennt Jones „Diaphone“. Die Rede würde also aus Sprachlauten, Phonemen und Diaphonen bestehen, alles auf einer Ebene. Da es sich später experimentell herausstellte, dass kein Laut der Rede völlig identisch mit einem anderen ist, dass also alle Sprachlaute Diaphone wären, musste Jones das Phonem als „Familie von nicht vertauschbaren Diaphonen“ auffassen. In der letzten Form seiner Auffassung ( Jones 1957) sind dann die Sprachlaute auch „Diaphone“. In seiner Kritik argumentiert Trubetzkoy (1958, 38-39) folgendermaßen: 1. Jones nimmt zwei Abstraktionsstufen an, und zwar vom konkreten Laut zum Sprachlaut (Diaphon) aufgrund der akustisch-artikulatorischen Ähn‐ lichkeit und zweitens vom Diaphon zum Phonem aufgrund der komple‐ mentären Distribution, d.h. dem Nicht-Vorkommen in derselben Lautum‐ gebung. Die Kriterien sind aber allzu verschieden, so dass es sich nicht einfach um zwei Stufen desselben Abstraktionsprozesses handeln kann. 2. Der Begriff „konkreter Laut“ sei allzu unbestimmt, denn konkrete Laute gebe es nur als Realisierungen von Phonemen. Diese Kritik Trubetzkoys ist zwar berechtigt, sie lässt jedoch den allerwich‐ tigsten Punkt vermissen: Die Auffassung von Jones ist in sich widersprüchlich, weil Jones Grundlage und Folge verwechselt. Die Folge, die Existenz einer „Familie von Lauten“, wird von ihm als Grundlage angenommen. Jones möchte, wie wir gesehen haben, zwischen dem, was ein Phonem ist, und dem, was ein Phonem tut, unterscheiden: es ist eine Familie von Lauten, es unterscheidet 2.3 Kritik Trubetzkoys an anderen Auffassungen des Phonems 45 <?page no="46"?> 8 Im Französischen ist die Länge vor den consonnes allongeantes / r, v, ʒ, z/ in der Norm gegeben, im Italienischen in betonten offenen Silben, im Spanischen normalerweise nicht; dort ist der Öffnungsgrad in bestimmten Fällen normativ festgelegt. sprachliche Formen. Wenn nun das Phonem eine Familie von Lauten ist, warum und wie gibt es solche Familien? Bei einer Familie von Lauten sind die Grenzen das Wesentliche, und die Grenzen sind eben funktionell: - - X X X X X X - in einer Sprache - X X X X X X - X X X X - - - X X X - - - - - - - - - - X X - X X - in einer anderen - X X X - X X - - - - X X X X X - Die „Familien von Lauten“ existieren nicht unabhängig von der Funktionalität. Die physische Ähnlichkeit ist ein absolut unzulängliches Kriterium. In gewissen Sprachen können kurze und lange (Deutsch, Ungarisch, Tschechisch) bzw. offene und geschlossene Vokale (Portugiesisch) alternieren, in anderen nicht, obwohl sie auch dort als kombinatorische oder normativ gegebene Varianten vorkommen (Französisch, Italienisch, Spanisch). 8 Die Ähnlichkeit zwischen r - l - n ist die gleiche in verschiedenen Sprachen und sind dort auch drei Phoneme, aber im Chinesischen und Japanischen sind [r], [l] nur ein Phonem, im Koreanischen [r], [l] und [n] nur ein Phonem. Dagegen sind im Koreani‐ schen / q/ , / k h / zwei Phoneme, aber [k] - [g] nur ein Phonem. Dabei ist die Ähnlichkeit zwischen [r], [l], [n] sicherlich nicht größer als die zwischen [q] und [k h ], aber die funktionellen Grenzen sind verschieden: k h k k h k kh k Koreanisch Deutsch Griechisch g q g q g q Die Familien von Lauten existieren wegen der jeweiligen Funktion, nicht umge‐ kehrt. Allerdings muss auch Jones das funktionelle Kriterium berücksichtigen, 46 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="47"?> nämlich bei seinen Diaphonen, wenn auch in negativer Form da, wo er sagt „ohne Veränderung der Wortbedeutung“. Er hat somit folgendes Schema: Phonem Diaphone fakultative Varianten Somit ist in Wirklichkeit das, was das Phonem tut, auch bei ihm primär, denn Di‐ aphone, die die Wortbedeutung ändern, gehören automatisch zu verschiedenen Phonemen. Nach der funktionellen Auffassung gibt es das Phonem eben als Funktion, als Wert (valeur). Werte sind aber keine „Abstraktionen“ aufgrund materieller Fakten, sie sind im sozialen Verkehr unabhängig von ihrer „Manifestation“ vorhanden. Trubetzkoy (1958, 41) wie vor ihm Saussure und vor ihm Hamann (Coseriu 2015, 74) führt hierzu die Psychologie des Geldes an: „5 Mark“ exis‐ tieren als Wert, nicht als Vorstellung. Man kann sich nicht 5 Mark vorstellen, sondern nur einen bestimmten Fünf-Mark-Schein oder eine bestimmte Fünf- Mark-Münze, und es gibt sie auch nicht als Familie der entsprechenden Scheine oder Münzen, die zudem auch keine besondere Ähnlichkeit miteinander haben, auch nicht mit anderen Scheinen oder Münzen. Es ist auch nicht notwendig, dass es eine Währungseinheit als Scheine oder Münzen gibt, es ist nur üblich. Soll das aber bedeuten, dass die psychologischen und physikalischen Auffas‐ sungen völlig abzulehnen sind? Nur hinsichtlich der Definition des Phonems, denn Lautvorstellungen und rein physikalische Familien von Lauten sind nicht ipso facto Phoneme. Aber sie sind nicht völlig abzulehnen, was die Existenz der Phoneme betrifft. Phoneme sind funktionelle Einheiten und existieren zunächst als solche. Von den funktionellen Einheiten ausgehend kann man aber Lautvorstellungen und Familien von Lauten abgrenzen. So sind in psycho‐ logischer Hinsicht Phoneme Lautvorstellungen, die funktionellen Einheiten der betreffenden Sprache entsprechen, nicht aber andere, die entweder nicht funktionell oder morphonematisch sind. In physikalischer Hinsicht gibt es „Familien von Lauten“, die gerade nur deshalb als „Familien“ abgegrenzt werden und daher existieren, weil sie funktionellen Einheiten entsprechen: 2.3 Kritik Trubetzkoys an anderen Auffassungen des Phonems 47 <?page no="48"?> Lautvorstellungen Familie von Lauten / Phonem/ Das heißt, Lautvorstellungen gibt es unterhalb und oberhalb der phonema‐ tischen Grenzen. Bei der Untersuchung der Phoneme gilt es, sich auf die Lautvorstellungen, die Phonemen entsprechen, zu beziehen. Dies bedeutet, dass man sie in der Sprechtätigkeit objektiv feststellen muss. Familien von Lauten kann man mit rein physikalischen Kriterien feststellen. Ob diese Familien auch in einer bestimmten Einzelsprache „Familien“ sind, kann man ohne Bezug auf die Funktionalität nicht entscheiden. In den Einzelsprachen funktionieren jeweils bestimmte Familien, die nur funktionell abgegrenzt sind. Der zweite Punkt in Trubetzkoys Kritik betrifft die Gegenüberstellung Sprachgebilde - / / Sprechakte - Phonem / / Varianten Diese Auffassung ist jedoch nicht annehmbar. Es gibt „Varianten“ in diesem Sinne, die eine bestimmte Sprache charakterisieren. Trubetzkoy selbst (1958, 41-50) betrachtet gewisse Varianten als für eine bestimmte Sprache „normal“. B. Malmberg unterscheidet zwischen allgemeinen außerphonologischen Fakten und außerphonologischen Fakten, die eine bestimmte Sprache charak‐ terisieren, und gibt dafür als Beispiele 48 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="49"?> - die spanischen Vokale im Auslaut seien lang, - / r/ werde im Französischen und Deutschen als [ɹ], im Italienischen und Spanischen hingegen als linguales [r] realisiert, - das spanische / b/ erscheine je nach den Normen der Sprache als [b] oder [β], - spanisch / e/ , / o/ werden entweder [e] wie in queso, cabeza, sello oder [ɛ] wie in papel, afecto, peine ausgesprochen bzw. [o] wie in llamó, boda, esposa gegenüber [ɔ] wie in rosa, hoja, dogma. Funktionell seien die Phoneme in span. rosa und it. rosa gleich, ihre Aussprache sei aber ziemlich verschieden: span. [ˈṝɔśa], it. [ˈrɔza], - / ʃ/ , / ɲ/ , / ʎ/ , / ʦ/ und / ʣ/ werden im Italienischen immer lang, ohne Opposi‐ tion, ausgesprochen, - / y/ wird im Französischen [y] wie in pur, étude, aber in Kombination mit folgendem / i/ halbvokalisch als [ɥ] wie in puis, suite ausgesprochen, - im Rumänischen ist / e/ im Anlaut und nach Vokal immer [je]. Hier geht es auch um die Unterscheidung zwischen System und Norm (siehe Coseriu 1952). Die übliche Aussprache ist zwar nicht funktionell (System), betrifft aber die Norm bzw. das, was traditionell zur „Sprache“ gehört. Auf keinen Fall betrifft es das Individuelle, Okkasionelle. Die Unterscheidung zwischen „System“ und „Norm“ löst die Schwierigkeiten, die bei Phonologen und anderen wegen der beiden saussureschen Begriffe „langue“ und „parole“ entstehen. Bei Saussure ist die „langue“ einerseits eine „soziale Einrichtung“, andererseits ein funktionelles System. Beides ist jedoch nicht koextensiv: Langue I Langue II konkretes Sprechen Normale Funktionelles Realisierung System Parole IParole II Diese Unterscheidung gilt für die ganze Sprache, auch für die Grammatik und die lexikalische Semantik. Bei Trubetzkoy handelt es sich um die Parole II, wenn von „Normen der Parole“ die Rede ist. Die Tatsache, dass die Rede sehr viel mehr Fakten umfasst als die Norm und die Norm mehr Unterscheidungen als das System, lässt sich schematisch so darstellen: 2.3 Kritik Trubetzkoys an anderen Auffassungen des Phonems 49 <?page no="50"?> Rede Norm System Andererseits umfasst das System sehr viel mehr Möglichkeiten, wie z.B. kreativ über die Norm hinauszugehen, als die bestehende Norm, aber auch Möglichkeiten, die in der Norm gar nicht genutzt werden. Die Norm umfasst viele Möglichkeiten, die ein Individuum beim konkreten Sprechen in einer bestimmten Situation gar nicht ausnutzt, aber eben auch weniger, als das System ermöglichen würde: System Norm Realisierungen So ist z.B. span. / b/ im System oral - bilabial - stimmhaft, in der Norm aber entweder okklusiv oder frikativ, nicht z.B. auch nasal, denn das wäre schon ein anderes Phonem, / m/ : oral - bilabial - stimmhaft okklusiv stimmhaft frikativ okklusiv -frikativ Von den funktionellen Varianten sind zu trennen die Invarianten Von den funktionellen Varianten sind zu trennen die Invarianten nten (okkasionell/ individuell) funktionellen Invarianten -normalen Invarianten -Varianten (okkasionell/ individuell) Auch die Norm kann man ja als „funktionell“ in dem Sinn betrachten, dass sie charakterisierend ist. Sie charakterisiert die Sprecher als Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft. So charakterisiert die Aussprache des Pho‐ nems / x/ als [ç] vor / e/ und / i/ im spanischen Sprachraum die Chilenen, [ś] im Gegensatz zu [s] den Kastilier, stimmloses [s] gegenüber stimmhaftem [z] im 50 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="51"?> 9 Allerdings gibt es die Aussprache [x] für / r/ vor morphemauslautendem Okklusiv und Frikativ wie z.B. in hart [haxt], Korb [kɔxp], scharf [ʃaxf]. Dies kennzeichnet, grob gesprochen, den Rheinländer. 10 Im brasilianischen Portugiesisch ist die Lage komplizierter. Im größten Teil des Landes gilt für intervokalisches <rr> die Realisierung [x] als normal, im Süden des Landes hört man unterschiedliche Aussprachen (siehe Noll 1999, 52; 2008, 70-71). Anlaut den Süddeutschen. Trubetzkoy (1958, 42) führt aus, dass „die Verteilung der Varianten selbst eine Norm“ sei. Man kann die Funktionalität als die Grenzen der möglichen Variation interpretieren, und das wiederum auf jedem Gebiet der Sprache. So wären die Phoneme Zonen der funktionell unerheblichen Variation der lautlichen Realisierung. Vgl. den Begriff „Spielraum“ von Gabelentz (1901, 33-35): a e i Diese Zonen werden jedoch nicht im Ganzen ausgenutzt, sondern die Reali‐ sierung konzentriert sich jeweils auf eine Sektion der Zone bzw. kann sich konzentrieren. Im Französischen könnte / r/ eine sehr breite Zone umfassen, von [r] über [ɹ] zu [x], was deswegen möglich ist, weil ein Phonem / x/ im Französischen nicht existiert. Im Deutschen kann / r/ nur die Zone zwischen [r] und [ɹ] einnehmen und darf im Allgemeinen die Grenze zu / x/ nicht überschreiten, 9 im Portugiesischen und älteren Französischen nur die Zone [r], da / ɹ/ ein anderes Phonem ist bzw. war und z.B. port. caro von carro trennt und frz. guère von guerre trennte. 10 Im Russischen lautet palatales t‘ auch [ʦ] bzw. [ʧ], da [ʦ], [ʧ] vor Palatal nicht vorkommen. Diese Variationszone ist also in dieser Hinsicht weit: russ. matematika, grammatika normal [t‘i]. Gerade durch die Unterscheidung zwischen Spielraum und Konzentration kann man das Funktionieren der Sprache verstehen: Die Freiheit der Sprecher, die für andere Gebiete der Sprache gilt, gibt es nur innerhalb der Funktionalität. 2.4 Auswirkungen der Unterscheidung System - Norm a. Unter Umständen ist es unmöglich, mit dem System allein zu sprechen. Im Deutschen ist / b/ als oraler, bilabialer, stimmhafter Konsonant auch als solcher aussprechbar, normgerechtes [b] ist in einer Zone neben [β] als regionaler oder situationsbedingter Aussprache (Müdigkeit, Nachläs‐ sigkeit) denkbar, im Spanischen jedoch nicht; / b/ als orales, bilabiales, stimmhaftes Phonem ist nur realisierbar, wenn ich zusätzlich zwischen 2.4 Auswirkungen der Unterscheidung System - Norm 51 <?page no="52"?> 11 Zur Frage, ob die Entwicklung in Hispanoamerika tatsächlich als Andalusismus zu verstehen ist, siehe in neuester Zeit Noll (2021). normgegebenem [b] oder [β] unterscheide: [b] kann nicht intervokalisch vorkommen, [β] nicht im absoluten Anlaut oder nach [m]. Beide stehen also in kombinatorischer Distribution. b. Phonematisch könnte man dt. / an/ , frz. / -/ , it., span., rum., okz., kat. / an/ , port. / -/ als / a/ + N interpretieren, aber in Wirklichkeit wird die Verbindung dt. [an] wie in Bande, frz. [ɑ̃], port. [-] wie in bande, banda ausgesprochen, also ohne Nasalkonsonanten, in den übrigen romanischen Sprachen aber etwa [a͜-n] wie in it. banda, d.h. mit einem in der Transkription nicht wirk‐ lich darstellbaren Übergang von einem oralen in ein leicht nasaliertes / a/ . Historisch ist die Sprachentwicklung oft nicht verständlich, wenn man nicht die Realisierungsnorm berücksichtigt. So ist im Spanischen die Opposition / ʦ/ - / s/ - / ʃ/ in Richtung / θ/ - / s/ - / x/ weiterentwickelt worden, weil das / s/ mit seiner dorso-alveolaren Aussprache [ś] leicht mit / ʃ/ verwechselt werden konnte und die Oppositionsglieder so nach / θ/ bzw. / x/ verschoben wurden. Die erwähnte Verwechslung ist ja auch tatsächlich eingetreten und hat sich etabliert in tijeras ‘Schere’ aus ursprünglichem tiseras, cosecha ‘Ernte’ aus ursprünglichem cogecha sowie se lo, se la, se los, se las aus ursprünglichem ge lo usw. < lat. *[ˈjelo], *[ˈjela] < (ill)i illu(m), (ill)i illa(m) usw. Andererseits fallen im Amerikanischspanischen und im Andalusischen ur‐ sprüngliches / ʦ/ und / s/ zusammen. Heute ist uns klar, warum das geschehen ist: / ʦ/ wurde zu Beginn des Siglo de Oro [s] ausgesprochen und war nun in Gefahr, mit dem bestehenden [ś] verwechselt zu werden. Während in Kastilien dem Problem durch das Ausweichen von [s] zu / θ/ begegnet wurde und in der konsequenten, oppositiven Unterscheidung ein neues Phonem / θ/ entstand, wurde die instabile Lage in Andalusien und damit in Hispanoamerika durch die Aufgabe der alten Opposition / ʦ/ - / s/ und die Annahme eines einzigen Phonems / s/ mit der Realisierung [s] gelöst. 11 Ein anderer Fall ist die Entwicklung von lat. -sia(m), -siu(m)/ -sione(m) zu -cia, -cio ([ʧa, ʧo], siehe einerseits bacio, camicia, cacio, andererseits - cagione ‘Ursache, Grund, Motiv’ (< occasione), - pigione ‘Miete’ (< pensione), - ragia ‘Harz’ (< rasia), - pregiare ‘schätzen, achten’ (< pretiare), - stagione ‘Jahreszeit’ (< statione), - ragione ‘Verstand, Vernunft’ (< ratione). 52 2 Der Prager Linguistenkreis <?page no="53"?> Dies ist rein phonematisch und ohne Berücksichtigung der toskanischen Norm unverständlich. In Wirklichkeit sind die Grundlagen der Formen der Gemein‐ sprache tosk. [baʃo], [kamiʃa], [kaʃo], und mit Sonorisierung [kaʒone], [piʒone], [ra: ʒa], [preʒare], [staʒone], [raʒone]. Im Altitalienischen finden wir dafür auch toskanische Schreibungen wie bascio, cascio, rascione, rasgione, cascione, cas‐ gione. Die gleiche Aussprache mit [ʃ] hatten aber auch Wörter wie pace ‘Frieden’, pece ‘Pech’, deren [ʃ] auf altem [ʧ] beruhte, die aber dennoch eben mit <c> geschrieben wurden. Daher gab es dieselbe Graphie auch bei bacio, camicia usw. und analog dazu auch bei ragione/ racione, cagione/ cacione. Toskaner realisierten das alles mit [ʃ] bzw. [ʒ]. Außerhalb der Toskana wusste man das nicht, sondern man sprach je nach der Graphie und brachte damit - historisch gesehen - einiges durcheinander. Was in der einen Sprache zum System gehört, kann in anderen Sprachen zur Norm gehören und natürlich umgekehrt: - So gehört die Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen mitt‐ leren Vokalen im Italienischen, Französischen, Portugiesischen und Katala‐ nischen zum System, im Spanischen zur Norm. - Lange und kurze Vokale gehören im Deutschen, Lateinischen, Finnischen und Ungarischen zum System, im Italienischen zur Norm. - Vom System her gibt es im Polnischen in phonologischer Hinicht weder offene noch geschlossene Vokale, da sie niemals in Opposition zueinander‐ stehen, in der Norm sind / e/ und / o/ jedoch immer offen. - Ein und demselben System können verschiedene (z.B. regionale) Normen entsprechen, so ist spanisch / x/ [x] - in Spanien, aber z.B. auch in Peru, [h] vor [e, i] - in der Karibik und Mexiko. [ç] vor [e, i] - in Chile. - Die Opposition / ʎ/ -/ j/ wie in calló ‘verschwieg’ - cayó ‘fiel’ funktioniert nur noch im nördlichen Spanien und ist insgesamt auf dem Rückzug. In Hispanoamerika fallen beide Phoneme zu einem einzigen / j/ zusammen, welches in Mexiko, Peru und Chile [j] ausgesprochen wird, in den größten Teilen Argentiniens und in Uruguay aber [ʒ] bzw. (vor allem in der jüngeren Generation) [ʃ]. 2.4 Auswirkungen der Unterscheidung System - Norm 53 <?page no="55"?> 12 Sonst müssen wir von allgemeinen phonologischen Methoden oder der Phonemtheorie im Allgemeinen sprechen, aber das lässt sich dann auch nicht einer naturwissenschaft‐ lich aufgefassten Phonetik gegenüberstellen. 3 Kritik an Trubetzkoy Nach Trubetzkoy gehören die Phoneme zur Phonologie, die Varianten zur Phonetik. Für ihn ist die Phonologie eine Disziplin der Sprachwissenschaft, die mit sprachwissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Methoden arbeitet. Die Phonetik sei dagegen eine Naturwissenschaft, denn die Physiologie und die Akustik arbeiteten mit naturwissenschaftlichen Methoden. Diese Un‐ terscheidung wird dann sehr oft von vielen anderen mit denselben Termini wie‐ derholt. Trubetzkoy unterscheidet aber leider nicht zwischen der allgemeinen Phonetik und der Phonetik einer Sprache. Bloomfield hingegen macht diesen Unterschied, indem er zwischen „phonetics“ als allgemeiner Phonetik und „phonology“ oder „practical phonetics“ als Phonetik mit Bezug auf eine Einzelsprache unterscheidet. Aber die Phonetik einer Sprache ist keineswegs eine Naturwissenschaft. Die Stimme kann als Naturerscheinung untersucht werden, die „parole“, die eine bestimmte Sprache manifest macht, jedoch nicht. Man darf nicht der allgemeinen Verachtung des Materiellen in den Geisteswissenschaften folgen, denn das Materielle ist in der menschlichen Sprechtätigkeit durch den Menschen geformt, nicht allein durch die Natur. Der Mensch selegiert aus den materiellen Möglichkeiten und „formt“ dadurch seine Sprache. Auch in praktischer Hinsicht ist eine allgemeine Phonetik als Gegenstück zur Phonologie nicht möglich. Gegenüber welcher Phonologie sollte sie auftreten? Phonologie ist ja immer die Phonologie einer bestimmten Sprache. 12 Bei Trubetzkoy finden wir drei verschiedene Auffassungen von Phonologie: 1. als die Wissenschaft der Laute im Sprachgebilde. In diesem Falle bleibt nur das Individuelle und Okkasionelle außerhalb der Phonologie. 2. als die Wissenschaft der funktionellen phonischen Oppositionen, sowohl der objektiv distinktiven als auch der „stilistischen“. In diesem Fall unter‐ sucht die Phonetik das Nichtfunktionelle. 3. als die Wissenschaft der distinktiven Oppositionen. Das Adjektiv „phono‐ logisch“ entspricht dieser dritten Auffassung. In diesem Sinne gibt es keine Entsprechung zwischen „Phonologie“ und „phonologisch“, siehe van Wijk (1939) und Malmberg (1954, 105-106). In diesem Fall gehört alles, was nicht <?page no="56"?> 13 Es handelt sich um Begriffe aus der Philosophie des Aristoteles, auf den Coseriu oft zurückgreift. Aristoteles unterscheidet bei den Formen des Seins und des Werdens zwi‐ schen Morphé (griech. μορφή) ‘Form’ und Hyle (griech. ὕλη) ‘Stoff, Materie, Substanz’. den Oppositionen entspricht, d.h. alle Varianten sowohl der Rede als auch der Norm, zur Phonetik. Wenn man die dritte Auffassung annimmt, müssten in gewissen Fällen die gleichen Fakten in derselben Sprache einmal zur Phonologie und somit zur Sprachwissenschaft und ein anderes Mal zur Phonetik und somit zur Natur‐ wissenschaft gehören. Malmberg (1971b, 308) erwähnt in einem ähnlichen Zusammenhang, dass die Opposition / e/ - ε/ im Falle von clef ‘Schlüssel’ - claie ‘Geflecht, Gitterwerk’ als unterscheidende Phoneme wirken, im Fall von (il/ elle) sait ‘(er/ sie) weiß’ als [se] bzw. (veraltet) [sε] dagegen Varianten seien und keine Opposition, sondern nur einen phonischen Kontrast bilden. Das Gleiche gilt im Italienischen, wo / ʦ/ - / ʣ/ entweder eine (selten vorkommende) Opposition bilden oder - in der Mehrzahl der Fälle - ohne Opposition in der Norm jeweils obligatorisch sind, z.B. [ʦ] in zucchero und zampa ‘Pfote’ aber [ʣ] in zelo ‘Eifer’ oder zuppa ‘Suppe’ in der Toskana, sonst aber auch frei alternieren können, mit einer Tendenz zu allgemeinem [ʦ] in Süditalien und [ʣ] als Charakteristikum für Norditalien. Man muss auch entweder eine phonemische Variation wie in dt. benutzen - benützen, gewohnt - gewöhnt, frz. août [u] oder [ut], ananas [anaˈna] oder [anaˈnas] usw. oder auch nichtfunktionelle Fakten als zur „langue“ gehörig annehmen. Wir hätten dann einen Gegensatz wie in der generativen Phonologie: funktionelle Phonetik Normphonetik Allophonetik 3.1 Form und Substanz - artikulatorische oder auditive Phonetik Da aber das Morphische im Hyletischen, also die Form in der Substanz feststellbar ist (siehe Coseriu 1954) 13 , ergibt sich daraus die Beschreibung der Phoneme mittels distinktiver Züge. Die Form also - der sprachlich gestaltete Stoff - manifestiert sich in den funktionellen Zügen. Trubetzkoy hat dies auch immer so gesehen, obwohl er die Phonetik zu den Naturwissenschaften zählt. In diesem Zusammenhang entsteht aber ein Problem: Wenn wir hier von „Substanz“ sprechen, um welche „Substanz“ handelt es sich dann? Die Stofflich‐ keit der Phoneme lässt drei verschiedene Interpretationen zu: 56 3 Kritik an Trubetzkoy <?page no="57"?> 14 Siehe auch Pilch (1978). Das interessante Werk zur Perzeptionslinguistik von Kre‐ feld/ Pustka (Hrsg., 2014) hat nur am Rande etwas mit der hier gemeinten auditiven Phonetik zu tun. a. eine artikulatorische b. eine akustische c. eine auditive. - Die artikulatorische betrifft die Stelle und Art der Erzeugung der Laute. Sie ist die am weitesten verbreitete Art der Beschreibung der Phoneme. - Die akustische ist diejenige, die mit den objektiven Kategorien der Akustik operiert. Sie arbeitet u. a. mit der Messung der Tonfrequenzen in Hertz. Sie darf nicht mit der auditiven verwechselt werden; siehe dazu z.B. Neppert (1999). - Der auditiven Beschreibung der Phoneme liegt die Art der Wahrnehmung durch das Gehör zugrunde. Insbesondere Roman Jakobson hat es unter‐ nommen, auditive Kategorien für die Lautbeschreibung zu entwickeln und sie mit artikulatorischen bzw. akustischen in Verbindung zu bringen. Schon Saussure hatte den Begriff der „image acoustique“ verwendet. Auditive Kategorien der Lautbeschreibung sind z.B. „hell“ - „dunkel“, „hart“ - „weich“, „tief “ - „hoch“. Dass die akustische Darstellung rein objektiv und eigentlich naturwissenschaft‐ lich ist, ist klar. Eine solche Darstellung kann aber nur zusätzlich zu einer linguistischen Beschreibung angewandt werden. Problematischer erscheint die Frage, ob die artikulatorische oder die auditive Vorstellung einen Vorrang haben sollte. Manchmal wird behauptet, die auditive Darstellung entspreche genauer dem menschlichen Umgang mit der Sprache. 14 So behauptet z.B. Bertil Malmberg in einer Polemik mit J. Forchhammer (Malmberg 1952), dass die auditive Darstellung in dieser Hinsicht vorzuziehen wäre: nous nous faisons comprendre à l’aide de sons et non pas à l’aide de mouvements de certains organes (tout le mécanisme est ignoré par la plupart des hommes parlants). ‘wir verständigen uns durch Laute, nicht durch die Bewegungen bestimmter Organe (diesen ganzen Mechanismus kennen die meisten Sprecher nicht).’ Dies scheint dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen, ist aber dennoch keineswegs annehmbar. Erstens geht es nicht nur um Wahrnehmung, sondern auch und in erster Linie um die Erzeugung der Laute. Zweitens stimmt es wohl, dass die Sprecher den Mechanismus der Artikulation nicht kennen, aber das gilt auch für den physiologischen Mechanismus der Audition. Die Sprecher sind aber in Bezug 3.1 Form und Substanz - artikulatorische oder auditive Phonetik 57 <?page no="58"?> auf die reine Audition passiv, sie empfangen etwas. Dagegen kennen sie in technischer Hinsicht den Mechanismus der Artikulation, da sie Laute inten‐ tionell, d.h. selbsttätig erzeugen. Drittens ist die menschliche Wahrnehmung immer aktiv und partizipativ. Wahrnehmen bedeutet innerlich wiederholen, rekonstruieren. Man „baut“ in sich selbst die Architektur, die man wahrnimmt, wie man die Malerei nachmalt und nachzeichnet. Man vergleiche die Gebärden, die die Wahrnehmung oft begleiten. Diese Gebärden existieren auch für die Wahrnehmung des Phonischen. Oft wird die Wahrnehmung erst durch die Wiederholung klar. Artikulatorische Ansätze gibt es bei der Wahrnehmung der sprachlichen Laute immer. Man wird artikulatorisch müde, wenn man allzu viel hört. Sprachliche Laute wahrzunehmen bedeutet nicht einfach, sie zu hören, sondern sie zu entschlüsseln, d.h. sie innerlich zu rekonstruieren. Man hört nur das, was man prinzipiell und zumindest innerlich erzeugen kann. Man sagt sich dann: „Ich weiß, wie man das ausspricht“. Deshalb ist entgegen so vielen Meinungen gerade die artikulatorische Darstellung diejenige, die auch der wirklichen Wahrnehmung der Laute am besten entspricht. 3.2 Form und Substanz in der Glossematik Unseres Erachtens wird - wie schon oben gesagt - das Morphische im Hy‐ letischen festgestellt. Als „Form“ der Sprache betrachten wir die sprachlich gestaltete Substanz, die funktionellen Züge, und dies sowohl im Materiellen als auch im Inhaltlichen. Die Versuche, die Ausdrucksebene ohne Bezug auf die phonische Substanz zu beschreiben, sind nicht annehmbar und auch kaum durchführbar. Bei Hjelmslev (1936) finden wir eine Anwendung des Begriffs „Form“ von F. de Saussure (Sprache als Form): Gegenüber dem Plerem, das sich auf die inhaltliche Seite der Sprache (Morphem) bezieht, erscheint in der Glossematik das Kenem (als inhaltlich leeres Zeichen) in zwei Substanzen oder Stoffen, als Phonem und als Graphem: Kenem Phonem Graphem Einheiten wie Plereme (kleinste bedeutungstragende Einheiten ohne Aus‐ drucksseite) und Keneme (kleinste Laut- oder Schriftzeichen ohne Bezug zu einer Funktionalität) gibt es aber nicht in der Wirklichkeit, sondern nur auf einer abstrakten Ebene. 58 3 Kritik an Trubetzkoy <?page no="59"?> Die Schriftsprache ist, wenn sie von der gesprochenen Sprache losgelöst ist, wie im Fall des Französischen, eine teilweise andere Sprache. So wird auch bei Hjelmslev eine phonematische Schrift angenommen, bei der die Substanz gleichgültig ist. Dann ist die Entsprechung zwischen Phonem ← Kenem → Graphem vollkommen. Dies ist jedoch ein reines Konstrukt, denn in Wirklichkeit haben die Grapheme auch andere Züge, nicht nur, welche die Phoneme darstellen. Das Lautsystem einer Sprache hat auch andere, nicht nur graphematisch dargestellte Züge. Hjelmslev führt auch das Beispiel der fast phonematischen Rechtschreibungen wie die des Finnischen an. Aber auch dieses Beispiel ist nicht annehmbar, denn finnische Schreibungen wie <aa>, <uu> usw. entsprechen nicht verdoppelten, sondern langen Vokalen, also / a: / , / u: / usw. Außerdem ist die schriftliche Darstellung gegenüber der phonischen Form der Sprache (in unserem Sinne) sekundär. Es gilt nicht das Verhältnis Form → Realisierung in einer Substanz, als wäre die Form entweder phonisch oder graphisch, sondern das wirkliche Verhältnis ist: phonische Form Graphie (funktionelle Einheit) (graphische Einheit) Realisierung Realisierung Das Verhältnis ist also immer Objekt - Darstellung (bzw. Bild - Wiedergabe). Dies kann bei phonematischen Rechtschreibungen teilweise der Fall sein. Sehr oft hat aber die Rechtschreibung ihre eigene Tradition: frz. [twɑ] ist ohne Kontext als Einheit nicht identifizierbar, wohl aber auf der graphischen Ebene als toi ‘du’ bzw. toit ‘Dach’; so auch in vielen anderen Fällen wie z.B. [vwɑ] gegenüber voix ‘Stimme’, voie ‘Weg’, voit ‘(er/ sie/ es) sieht’. Man kann auch nicht - wie Hjelmslev - von einem rein „formalen“ Französisch sprechen, das sich einerseits im phonischen, andererseits im graphischen Französisch „mani‐ festiert“. Sogar die Grammatik der geschriebenen Sprache ist teilweise anders als die der gesprochenen. Das geschriebene Französisch kennt Morpheme wie -s, die dem gesprochenen unbekannt sind. Das gesprochene Französisch kennt die liaison, die der geschriebenen Sprache unbekannt ist, d.h. die gesprochene Sprache kennzeichnet gewisse mots phonétiques lautlich als grammatisch zu‐ sammengehörige Einheiten (Substantive mit vorausgehendem Determinanten wie les enfants [lezɑ̃fɑ̃]). Man müsste eigentlich zwei ziemlich verschiedene Grammatiken schreiben. 3.2 Form und Substanz in der Glossematik 59 <?page no="61"?> 15 Wie gewöhnlich, erklärt Coseriu die Termini nicht, sondern setzt sie entweder als bekannt voraus oder geht nach der Vorlesungspraxis seiner Zeit davon aus, dass man die Vorlesung nacharbeitet, d.h. sich in der angebenen Literatur kundig macht. Das Organonmodell der Sprache nach Karl Bühler gehört zum Pflichtprogramm klassischer Einführungen in die oder in eine Sprachwissenschaft. Menschliche Sprache ist schon nach Platons Dialog „Kratylos“ ein Werkzeug (órganon), mit dem der Mensch mittels sprachlicher Zeichen einem anderen etwas über die Dinge (die außersprachliche Welt) mitteilt. Dabei ist das Zeichen vom Sender (Sprecher) her gesehen Ausdruck (z.B. seiner Einstellung zum Geäußerten, Freude, Verwunderung, kühle Distanz, Ironie usw.), in Bezug auf den Empfänger (Hörer) Appell (zu reagieren, sei es mit einer Antwort oder auch mit einer Aktion, z.B. stillzuhalten, die Tür zuzumachen, die Tasse zu reichen, Verständnis zu haben, den Mund zu halten usw.). In Bezug auf die geäußerten Gegenstände ist es Darstellung. Das ist der Inhalt des Geäußerten. 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy Wir kommen nun zur Phonologie im engeren Sinn zurück. Wir wollen uns nun damit beschäftigen, in welcher Weise Trubetzkoy (1958, 17-29) die von Bühler (1934) unterschiedenen sprachlichen Funktionen in seine eigene Darstellung einbezieht: Kundgabe (Ausdruck) - Appell (Auslösung) und Darstellung. 15 Auf die Bedeutung der ersten beiden Funktionen und ihre „Einzelsprachlichkeit“ hat vor allem der ungarische Phonologe Gy. Laziczius (Laziczius, 1932, 1935; Sebeok 1966) in einer Reihe von Arbeiten hingewiesen. Laziczius schlägt auch eine andere Einteilung der phonischen Einheiten vor: Phoneme - mit den drei Funktionen, bei denen jedoch die Darstellungsfunktion maßgebend ist, Emphatika - mit Kundgabe- und Appellfunktion, Varianten - nur mit Kundgabefunktion. Die Phonologie hat sich sowohl in Europa als auch in Amerika vor allem auf die Darstellungsfunktion konzentriert. Sonst wissen wir sehr wenig in Bezug auf die Einheiten, die Laziczius Emphatika nannte. Die Arbeiten von Laziczius selbst sind fast im Ganzen in Vergessenheit geraten. <?page no="62"?> 4.1 Lautstilistik als Kundgabe- und Appellfunktion Trubetzkoy trennt die phonologische Untersuchung der Kundgabe- und der Appellfunktion von der eigentlichen Phonologie, d.h. der Untersuchung der Darstellungsfunktion der Sprache. Er tut dies mit zwei Argumenten: a. Das Gebiet der Kundgabe- und der Appellfunktion sei ein beschränktes und viel kleineres als das der Darstellungsfunktion: Die Darstellungsfunktion würde ein riesiges Gebiet umfassen, während jeder von den zwei anderen … Zweigen der Phonologie nur kleine Gruppen von Tatsachen zum Gegenstand haben würde. (Trubetzkoy 1958, 27) b. Bei den beiden Funktionen der Kundgabe und des Appells habe man es einerseits mit „naturgegebenen“, andererseits mit einzelsprachlich ge‐ gebenen Schalleigenschaften, bei der Darstellungsfunktion ausschließ‐ lich mit einzelsprachlich gegebenen Schalleigenschaften zu tun. Es sei nicht zweckmäßig, bei den ersten beiden Funktionen die naturge‐ gebenen Eigenschaften, z.B. Frauenstimme, Kinderstimme, von den sprachlich gegebenen zu trennen. Deshalb zieht er es vor, für die Kund‐ gabefunktion und Appellfunktion eine Wissenschaft der Lautstilistik anzunehmen, die zum Teil phonologisch und zu einem anderen Teil nicht phonologisch wäre. „Phonologisch“ bedeutet hier „einzelsprach‐ lich in Bezug auf das Phonische“. Die Phonologie beschränkt er auf die Darstellungsfunktion. Seine Einteilung ist also folgende: Darstellungsfunktion - Phonologie Kundgabe phonologisch Lautstilistik Appell nicht phonologisch Diese Einteilung ist offensichtlich inkohärent, denn der phonologische Ge‐ sichtspunkt erscheint auch in einem Teil der Lautstilistik, die aber von der Phonologie getrennt wird. In der Tat hat diese Einteilung nur einen praktischen Sinn, und auch die Argumente Trubetzkoys sind praktischer Natur, besser gesagt, das erste ist rein praktisch, das zweite hat auch eine theoretische Seite. Trubetzkoy selbst betont jedoch hauptsächlich seine praktische Seite. 62 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="63"?> 16 Dagegen lässt sich einwenden, dass es gar nicht so sehr um die Anzahl der Einheiten oder die Größe des Gebiets geht. Die Dinge, auf die es ankommt, sind psychologischer, sozialer, anthropologischer und vor allem individueller und okkasioneller Natur. Sie sind jedenfalls nicht eigentlich linguistisch beschreibbar und schon gar nicht exhaustiv aufzählbar. Linguistisch gesehen gehören sie auf jeden Fall zur Ebene der Rede, allenfalls der Norm einer Einzelsprache, jedenfalls nicht zum Sprachsystem. Das 1. Argument (oben Argument a) stimmt übrigens nicht: Die lautstilisti‐ schen Einheiten sind in Wirklichkeit sogar zahlreicher als die Phoneme einer Sprache. 16 Richtig ist, dass sie gegenüber den Phonemen und den funktionellen Einheiten überhaupt sekundär sind. Die entsprechenden Laute stellen gegenüber den Phonemen und allgemein gegenüber den distinktiven Einheiten Varianten dar. Wenn z.B. die Quantität in einer Sprache nicht distinktiv ist, kann sie für „stilistische“ Zwecke gebraucht werden, so z.B. durch Vokallängung im Spanischen zum Ausdruck der Emphase, der Verstärkung: leejos, lontaaano ‘gaaanz weit’. Wenn sie distinktiv ist, kann ein bestimmter Quantitätsgrad stilistisch verwendet werden, also z.B. ein langer Vokal über das normale Maß hinaus gelängt werden, etwa groß und grooß! , so und sooo! . Diese Fälle bleiben innerhalb des Systems, aber außerhalb der üblichen Norm: System x Norm x Gerade die Tatsache, dass sie außerhalb der Norm der distinktiven Funktion bleiben, zeigt, dass diese Fälle „stilistisch“ motiviert sind. Diese Laute und Verfahren können nach demselben Prinzip aber auch außer‐ halb der phonematischen Gestaltung einer Sprache bleiben. Distinktiv nicht verwendete Schalleigenschaften, z. B. ein offener gerundeter Vokal, können „stilistisch“ verwendet werden, z.B. im Italienischen [œ: ] als Zeichen der Ablehnung. Ein Phonem / œ/ oder gar / œ: / existiert aber im Italienischen gar nicht. Dies gilt auch für das Französische, wo die Betonung nicht distinktiv ist und daher von der Norm abweichende Betonungen „stilistisch“ (steigernd) verwendet werden können, z.B. fórmidable, mágnifique. Beispiele, die Trubetzkoy selbst in einem anderen Zusammenhang bringt, beziehen sich 4.1 Lautstilistik als Kundgabe- und Appellfunktion 63 <?page no="64"?> 17 In diesem Bereich ist die Intonationsforschung im Detail sehr viel weiter fortge‐ schritten; siehe nur als Beispiel Schmidt, (Hrsg., 2001), davor Wunderli (1981). Tru‐ betzkoy und Coseriu geht es hier um die grundsätzliche „stilistische“ Verwendung von Lauten, die nicht zum Sprachsystem gehören. - auf das Lippen-r zum Anhalten der Pferde, meist brrr! geschrieben, - Schnalzlaute wie ts↑, tsch↑ (mit steigender Intonation). Solche Laute sind in unseren Sprachen nicht distinktiv wohl aber im „Hottentottischen“, das zu den zentralen Khoisan-Sprachen (Khoe-Sprachen) gehört (siehe Kausen 2014, 416-418), - dt. hm (mit fallendem Ton) zum Ausdruck des Zweifels oder hm (mit gleichbleibend hohem Ton) zum Ausdruck der günstigen Qualifizierung, vor allem für etwas, das gut schmeckt, - dt. mh! oder mh! mh! mit steigendem Ton zum Ausdruck der wohlwollenden Aufnahme - ja, ja, gut, einverstanden oder ich höre Sie, machen Sie/ sprechen Sie weiter! : weiter! : - oder mm! mm! mit fallendem Ton: nein! nicht einverstanden! hören Sie auf! :   17 In diesem Sinne bleiben diese Laute oft am Rande des einzelsprachlichen Systems: x z z 1 x y z Je nach Sprache werden andere Laute zu „stilistischen“ Zwecken verwendet, jedenfalls solche, die in der entsprechenden Sprache zur Konstitution von Wör‐ tern nicht verwendet werden, aber auch solche, die in keiner (uns bekannten) Sprache phonematisch organisiert sind, wie eben hm oder mh. Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit, die ich für symptomatisch halte. Sie besteht darin, dass man innerhalb des Systematischen vom System einer Sprache abweicht. Wenn z.B. jemand, etwa ein Fremdsprachiger, die o-Vokale so offen ausspricht, dass sie fast wie [a] klingen, kann man ihn nachahmen, indem man die o-Vokale einfach als [a] realisiert: „Sie sallten Ihre a-Vokale nicht so affen sprechen, Herr Daktar.“ Wir haben es also mit einer Erscheinung zu tun, die sich folgendermaßen darstellen lässt: 64 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="65"?> E 1 E 2 E 3 System Eine bestimmte Einheit im System wird als eine andere Einheit realisiert. Es ist also objektiv gesehen ein „Sprachfehler“, der jedoch gerade deswegen nicht als „Fehler“ interpretiert wird, weil er intentionell ist und durch die Situation gerechtfertigt wird. Dies geschieht auch beim ausdrücklichen Spiel mit der Sprache, so z.B. bei Peter Bichsel, Kindergeschichten, in der Geschichte „Jodok lässt grüßen“ (Bichsel 1997): Und der Großvater liebte die O von Joodook und sagte: Onkel Jodok kocht große Bohnen. Onkel Jodok lobt den Nordpol. Onkel Jodok tobt froh. Dann wurde es bald so schlimm, dass er alles mit O sagte: Onkel Jodok word ons bosochen, or ost on goschoter Monn, wor roson morgon zom Onkol. Niemand könnte hier einwenden, dass man im Deutschen nicht Onkol, sondern Onkel sagt, nicht bosochon, sondern besuchen sagt bzw. sogt, denn die Abwei‐ chung vom System ist gerade durch das Spiel berechtigt. Auf das, was dies bedeutet, kommen wir noch zurück. Ich möchte nur daran erinnern, dass wir bei den lautstilistischen Fakten Folgendes festgestellt haben: - Abweichung von der Norm innerhalb des Systems, - Außersystematische Fakten, - Abweichungen vom System. Das zweite Argument von Trubetzkoy, dass die lautstilistischen Fakten eine „naturgegebene“ und eine „einzelsprachliche“ („phonologische“) Seite haben und dass es nicht zweckmäßig sei, diese beiden Seiten voneinander zu trennen, hat einen tiefen theoretischen Sinn, dessen sich jedoch Trubetzkoy selbst nicht bewusst ist. Die Funktionen der Kundgabe und des Appells sind nämlich mit der Darstellungsfunktion nicht koordinierbar, sie liegen nicht auf derselben Ebene. Die Darstellungsfunktion ist eine Funktion des Zeichens, auch des virtuellen Zeichens. Kundgabe und Appell dagegen sind keine Funktionen des Zeichens als solchen, sondern Funktionen des Zeichens im Sprechakt oder 4.1 Lautstilistik als Kundgabe- und Appellfunktion 65 <?page no="66"?> 18 Es ist wohl nicht von ungefähr, dass Coseriu hier nicht auf die damals ziemlich neue Sprechakttheorie von Austin (1962) und Searle (1969) eingeht, da er diese Theorie nicht mit seinem Verständnis von Sprache und Sprechtätigkeit in Einklang bringen konnte. Wir gehen auf diese Problematik hier nicht weiter ein. Gleichwohl gibt es natürlich Ähnlichkeiten zwischen den illokutionären und perlokutionären Sprechakten der Sprechakttheorie und der Kundgabebzw. Appellfunktion von Bühler. Ganz ähnliche Gedanken finden sich allerdings in seiner Textlinguistik (Coseriu 1981), die ja auch eine Linguistik des Sinns ist. einfach des Sprechakts. Dieser kann aus einem einzigen Satz bestehen, der Satz wiederum aus einem einzigen Wort, aber die Kundgabe und der Appell gehören als Funktionen nicht zu diesem Wort und zu diesem Satz, sondern zum Sprechakt im Ganzen. Wenn ich „Hinaus! “ sage, können Sie u. a. verstehen, dass ich wütend bin (Kundgabefunktion) und dass ich Sie nicht besonders höflich bitte, sich zum Teufel zu scheren (Appellfunktion). Aber diese Funktionen gehören nicht zum Wort hinaus und auch nicht zum Satz „Hinaus! “, die auch anders verwendet werden können, sondern zum angeführten Sprechakt. Sie sind auch nicht Bedeutungen (einzelsprachlich gegebene Inhalte), sondern stellen den Sinn dieses Sprechakts dar. 18 Für unser Anliegen heißt dies Folgendes: 1. Die lautstilistischen Fakten - sowohl die Verfahren als auch die Segmente - sind Einheiten des Sprechens, nicht der Einzelsprache. 2. Sie haben wirklich die Funktionen der Kundgabe und des Appells, sie sind in Bezug auf einen bestimmten Inhalt direkt funktionell, im Gegensatz zu den Phonemen, die als solche keine Darstellungsfunktion, kein direktes Verhältnis zu einem Inhalt haben. Ein ironischer Ton drückt direkt den Inhalt „Ironie“ aus, d.h. einen bestimmten Sinn eines Sprechakts. Die Pho‐ neme als solche drücken dagegen keinen Inhalt aus. Nicht die Phoneme / h/ - / u/ - / n/ - / d/ und / h/ - / a/ - / n/ - / d/ haben Darstellungsfunktion, sondern nur die Lexeme Hund und Hand. Somit sind die lautstilistischen Fakten von den Phonemen und den distinktiven Fakten überhaupt radikal verschieden. 3. Die Funktionen, die die lautstilistischen Elemente leisten, sind keineswegs auf das Lautliche beschränkt. Auch lexikalische und grammatische Ein‐ heiten haben diese Funktionen, eben als Modalitäten des Sprechens. 4. Die lautstilistischen Fakten sind keine Einheiten zum Aufbau anderer Einheiten höheren Ranges, die ihrerseits im Sprechen miteinander artiku‐ liert werden, sondern sie sind wie die Gebärden Verfahren des Sprechens oder Teile des Sprechens. Sie charakterisieren Einheiten des Sprechens, indem sie diesen Teilen einen bestimmten Sinn geben oder, wenn sie 66 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="67"?> nicht Verfahren, sondern Segmente sind, sogar als ganze Zeichen, besser gesagt als Sätze oder Texte funktionieren: ö! [œ: ] ist ein Text, der in der italienischen Sprachgemeinschaft vorkommt, nicht ein Element, mit dem man Wörter bilden könnte; brr! ist ebenso ein Text, hm ist auch ein Text. Da diese Texte nicht aus Wörtern und Sätzen bestehen, haben sie auch keine Bedeutung, sondern nur einen den Texten eigenen Inhalt, einen Sinn. Deshalb ist es hier auch nicht möglich, zwischen Zeichen - Satz - Text zu unterscheiden. Als Texte sind diese Elemente auch nicht oppositiv, sondern allenfalls als Texte oppositiv (wenn sie anderen Texten gegenüberstehen). Deutsch mh mh mit fallendem Ton steht z.B. dt. mh mh mit steigendem Ton vom ersten zum zweiten Element gegenüber, genau wie ja - nein, ich bin einverstanden - ich bin nicht einverstanden. Als Laute bzw. Schalleigenschaften, die zugleich Texte bzw. Textverfahren sind, sind sie auch nicht „artikuliert“. Zum Beispiel ist eine Verlängerung ohne weiteres möglich, ohne Zeichenänderung, und nur zufällig haben sie manchmal „phonematische“ Konstitution wie z. B. dt. au! [a w ] it. ahi! [a i ], frz. aïe! [aˈi]. 5. Als Einheiten des Sprechens gehören Texte bzw. Textverfahren meist nicht zu einer bestimmten Sprache. Einige dieser Fakten wie prr! , brr! zum Ausdruck des Schauderns - nicht zum Anhalten der Pferde - entsprechen bestimmten Traditionen, die zum Teil sprachunabhängig sind. Au! als Schmerzensschrei kommt in der deutschen Sprachgemeinschaft und auch in anderen germanischen Sprachen vor (dänisch av! , englisch oh! , aber schwedisch aj! ). [aj]! in den romanischen Sprachgemeinschaften und wahr‐ scheinlich noch in anderen ([aj]! und [oj]! im Russischen, aj! im Polnischen, ay! , vay! im Türkischen, ai! im Finnischen, jaj! , juj! im Ungarischen, [ái] im Neugriechischen, aber [awh u ] im Arabischen). Andere Fakten sind universell, sie gehören zum Sprechen im Allgemeinen, entweder naturgegeben wie eine Frauenstimme, eine Kinderstimme oder ein ermüdetes Sprechen, oder als Verfahren der allgemeinen Technik des Sprechens (ruhiger, beruhigender, ironischer, gereizter, wütender Ton). Andere lautstilistische Erscheinungen gehören zu einer bestimmten Sprache, wie das bereits erwähnte ö! [œ: ] im Italienischen. Das auch schon erwähnte mh mh mit fallendem Ton und mh mh mit steigendem Ton vom ersten zum zweiten Element kenne ich nur im Deutschen. Die Frage ist aber, ob man hier von Sprachen oder nicht eher von Sprachgemeinschaften sprechen sollte. Denn auch Texte und Textverfahren können für eine bestimmte Sprachgemeinschaft charakteristisch sein. Das Sonett war anfangs eine italienische Gedichtform, aber das heißt nicht, dass es eine Erscheinung der italienischen Sprache war. Das 4.1 Lautstilistik als Kundgabe- und Appellfunktion 67 <?page no="68"?> 19 Seit Coserius Grundlegung hat sich die Erforschung von Diskurstraditionen zu einem eigenen Zweig der Linguistik entwickelt. Er wurde als solcher begründet von Brigitte Schjlieben-Lange (1983) und Peter Koch (1988) sowie durch Johannes Kabatek (2005). Siehe auch Kabatek (2023, 47-52). Haïku ist eine japanische Textgattung, aber keine Erscheinung des Japanischen, man hat Haïkus auch schon in anderen Sprachen verfasst. Es gibt nämlich in den Sprachgemeinschaften auch Texttraditionen. Gewisse Texte existieren in der einen Sprachgemeinschaft, in der anderen aber nicht. Gewisse Texte haben eine bestimmte Konstitution, obwohl sie rein sprachlich auch anders aussehen könnten. So könnte man von der Sprache her auch im Französischen *Bon matin! sagen, wie man im Deutschen Guten Morgen und im Rumänischen Bun- dimineaţ-! sagt. Man sagt es aber traditionell nicht, und so könnte man viele weitere Beispiele für unterschiedliche Begrüßungsformeln anführen. Inhalte, die man in der einen Sprache üblicherweise sagt, sagt man in einer anderen Sprache anders. It. buon giorno! und frz. bonjour! bedeuten also sprachlich nicht ‘Guten Morgen! ’, sie werden nur in der gleichen Situation gesagt, wobei aber kein Unterschied zwischen ‘Morgen’ und ‘Tag’ gemacht wird. Genauso ist es, wenn man an engl. good afternoon! denkt, für das wir im Deutschen einfach Guten Tag! sagen. Good day! zur Begrüßung entspricht keiner englischen Texttradition. In der rumänischen Sprachgemeinschaft sagt man bun- ziua! , bun- sear-! , aber noapte bun-! , obwohl man rein grammatisch auch bun- noapte! sagen könnte. In der spanischen Sprachgemeinschaft sagt man buenos días! oder buen día! (Letzteres vor allem in Hispanoamerika), aber man sagt nicht *buena tarde! oder *buena noche! , sondern verwendet nur die Pluralformen buenas tardes! , buenas noches! 19 Als Ergebnis können wir Folgendes festhalten: Die lautstilistischen Erschei‐ nungen sind nicht nur nicht ausreichend untersucht, sondern auch ihr theore‐ tischer Status ist ungeklärt. Wenn man unsere Argumente annimmt, so ist die Lautstilistik von der phonischen Wissenschaft einer Einzelsprache radikal verschieden. Sie gehört zum Teil zur Untersuchung der allgemeinen, d.h. nichteinzelsprachlichen Technik des Sprechens und zum Teil zur Textlinguistik (siehe oben Anm. 18). Die Phonologie einer Sprache kann zur Lautstilistik nur dadurch beitragen, dass sie das Ausmaß der Bedingtheit der allgemeinen Technik des Sprechens und der Textkonstitution durch eine bestimmte Sprache feststellt. Die Phonologie kann wirklich - wenn auch aus anderen Gründen als bei Trubetzkoy angegeben - nur Darstellungsphonologie sein. 68 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="69"?> 4.2 Darstellungsphonologie Trubetzkoy (1958, 29) unterscheidet drei phonologische Funktionen innerhalb der Darstellungsfunktion der Sprache: 1. gipfelbildende oder kulminative Funktion, 2. abgrenzende oder delimitative Funktion, 3. bedeutungsunterscheidende oder distinktive Funktion. Was wir hier „distinktive Funktion“ nennen, wird von anderen Autoren auch „diakritische Funktion“ genannt. Wir fügen hier eine weitere Funktion als 3. Funktion hinzu und machen so die bedeutungsunterscheidende zu einer vierten Funktion. Die neue dritte Funktion nennen wir konstitutive Funktion. Die gipfelbildende Funktion besteht darin, dass gewisse Schalleigen‐ schaften angeben, wie viele Ausdruckseinheiten in einer Äußerung enthalten sind. Diese Einheiten können Wörter oder Wortverbindungen sein. Diese Funktion erfüllen im Deutschen die Hauptbetonungen (Akzente) der Wörter. Die abgrenzende Funktion besteht darin, dass gewisse Schalleigenschaften morphische Einheiten der Sprache voneinander abgrenzen. Diese morphischen Einheiten fallen nicht unbedingt mit der durch die kulminative Funktion aufge‐ zählten zusammen. Es können solche Einheiten sein und dazu noch kleinere, also Wortverbindungen, Wörter und Morpheme. Das Beispiel von Trubetzkoy ist die abgrenzende Funktion des festen Vokaleinsatzes (Glottisverschlusses vor morphemanlautendem Vokal) im Deutschen. 4.2.1 Die bedeutungsunterscheidende und konstitutive Funktion Die bedeutungsunterscheidende Funktion ist die hauptsächliche phonologi‐ sche Funktion. Nach der Formulierung von Trubetzkoy (1958, 29) besteht diese Funktion darin, dass gewisse Schalleigenschaften „die einzelnen mit Bedeutung versehenen Einheiten voneinander trennen.“ Diese Formulierung - nicht der Gedanke, der dahintersteckt - ist aus folgenden Gründen irreführend: 1. Die distinktiven phonischen Einheiten, an erster Stelle Phoneme, aber auch suprasegmentale Einheiten wie Akzente (Wortakzente, Beto‐ nungen) und Toneme (bedeutungsunterscheidende feste Tonhöhen), un‐ terscheiden zwar „Einheiten mit Bedeutung“, aber nicht auf den beiden Ebenen der Sprache, Ausdruck und Inhalt, sondern nur auf der Ausdrucks‐ ebene, d.h. sie unterscheiden signifiants. Diese können aber in funktioneller 4.2 Darstellungsphonologie 69 <?page no="70"?> 20 Coseriu drückt sich hier etwas unspezifisch aus. Unter Polysemie versteht man eigent‐ lich die Tatsache, dass ein sprachliches Zeichen eine weite Bedeutung haben kann, die man als unterschiedliche Lesarten beschreiben kann (z.B. Schule als ‘Institution für den Unterricht’ bzw. ‘Gebäude, in dem unterrichtet wird’ bzw. ‘Unterricht’). Die Homophonie betrifft dagegen das Verhältnis zwischen gleichlautenden Wörtern und Formen (phonologisch gleicher signifiant), die aber völlig verschiedene Bedeutungen haben, die nicht gegenseitig hergeleitet werden können (durch Verallgemeinerung, me‐ taphorische Verwendung usw.). Im Einzelfall kann es Abgrenzungsprobleme zwischen beiden Erscheinungen geben. Ist z.B. dt. Feder heute noch polysem (a) ‘Vogelfeder’, b) ‘metallische Feder in einem Mechanismus’, c) ‘Schreibgerät aus einem Federkiel’, d) ‘metallische Schreibfeder’) oder sind es schon unzusammenhängende, zufällig ho‐ mophone Wörter? In den folgenden Beispielen geht es eher um homophone Wörter. Nur bei tieferem Nachdenken wird man einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bedeutungen von / band/ finden, keinesfalls aber in den genannten französischen Beispielwörtern, die aus verschiedenen etymologischen Grundlagen „zufällig“ lautlich zusammengefallen sind. Hinsicht polysem 20 sein, d.h. sie können verschiedenen inhaltlichen Ein‐ heiten entsprechen, ganz unabhängig von eventuellen etymologischen Verwandtschaften. Das betrifft gerade homophone Zeichen, d.h. Zeichen mit verschiedenem Inhalt, jedoch mit gleichem signifiant: z.B. dt. / band/ , d.h. ‘(der) Band’, ‘(das) Band’, ‘(er/ sie/ es) band’. oder frz. / so/ , d.h. ‘sot’, ‘seau’, ‘sceau’. Man kann dies folgendermaßen darstellen: signifiant 1 (signifiant 2 ) ….. Sé 1 (Sé 2 ) (Sé 3 ) (Sé 4 ) (Sé 5 ) (Sé 6 ) Das heißt, einem signifiant entspricht eine Klasse von signifiés. Diese Klasse kann aus einem einzigen Glied bestehen, aber auch aus mehreren. Die dis‐ tinktiven phonologischen Einheiten unterscheiden sich ausschließlich auf der Ebene der signifiants, z.B. S 1 von S 2 . Jedem signifiant entspricht eine an‐ dere Klasse von signifiés, z.B. dem signifiant 1 / band/ die oben aufgeführten Inhalte, dem signifiant 2 / bund/ nur der Inhalt ‘Bund’. [Das im Deutschen gleichlautende Adjektiv bunt wäre demgegenüber phonologisch als / bunt/ zu deuten, da das auslautende [t] nicht als entsonorisiertes / d/ zu verstehen ist wie in Bund, Bundes, (im) Bunde, Bünde, sondern als / t/ , weil in der Flexion des Wortes nur Formen mit / t/ [t] vorkommen (bunter, bunte, buntes, buntem, bunten).] Ebenso wäre im Französischen S 1 / so/ mit den 70 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="71"?> oben genannten Inhalten verbunden, aber von / su/ verschieden, welchem die signifiés Sé 1 ‘sous’, Sé 2 ‘sou’ und Sé 3 ‘saoul’ entsprechen. Ebenso / so/ und / su/ von S 3 / sε/ mit den signifiés Sé 1 ‘(je) sais’, Sé 2 ‘(tu) sais’, Sé 3 ‘(il, elle) sait’. Die Ersetzung einer distinktiven Einheit führt also zu einem anderen signifiant, dem eine andere Klasse signifiés entspricht. Diese kann auch eine leere Klasse sein, [d.h. die Ersetzung führt zu einem signifiant, dem kein signifié entspricht, zu etwas, das in der betreffenden Sprache kein existierendes Zeichen ist, z.B. im Deutschen / bund/ durch / gund/ oder im Französischen / so/ durch / no/ .] Theoretisch ist nur notwendig, dass es eine andere Klasse ist. Es wäre also auch möglich, dass die Klasse der signifiés für signifiant 1 Sé 1 , Sé 2 , Sé 3 und für signifiant 2 Sé 3 und Sé 4 oder Sé 1 , Sé 2 , Sé 3 , Sé 4 oder nur Sé 1 ist. Wie diese signifiants zueinanderstehen, ist eine Frage der lexikalischen Semantik, die wir hier nicht weiter erörtern wollen. All dies sollen wir in Erinnerung halten, damit wir das Verfahren der Kommutation richtig interpretieren können. In dieser Hinsicht ist also die Bezeichnung „bedeutungsunterscheidende Funktion“ irreführend, denn sie hat ja auch inhaltliche Züge, wohingegen ihre Funktion doch rein signifiant-bezogen ist. Eine viel bessere Bezeich‐ nung in dieser Hinsicht ist „diakritische Funktion“. 2. Andererseits muss man eine Einschränkung einführen: „… hat bedeutungs‐ unterscheidende Funktion mit Ausnahme der phonologischen Variation“, denn auch diakritische Einheiten können sich in freier Variation befinden, z.B. deutsch benutzen - benützen, meistens - meist (als Adverb) für gewisse Sprecher auch fragt - frägt. Im Italienischen und Rumänischen ist der Wortakzent funktionell, wie in it. canto ‘ich singe’ - cantò ‘(er/ sie/ es) sang’, rum. declară [deˈklarɐ] ‘(er/ sie/ es) erklärt’ - declară [deklaˈrɐ] ] ‘(er/ sie/ es) erklärte’; aber it. édile oder edíle ‘auf das Bauwesen bezüglich’, zàffiro oder zaffíro ‘Saphir’, sèparo oder sepáro ‘ich trenne’, rum. ántic oder antíc ‘antik’ variieren frei. Auch dies müssen wir für die Diskussion über die Kommutation in Erinnerung halten. [Coseriu erwähnt diesen Begriff leider später nicht mehr und gibt auch kaum Beispiele für Kommutationsproben an, außer im nächsten Abschnitt 3). Wir erlauben uns daher, auf den Begriff an dieser Stelle kurz einzugehen. Dazu zitieren wir eine Stelle aus Rothe (1978, 19-20). Niemand hätte es prägnanter formulieren können. Wir fügen einige wenige eigene Beispiele an: 4.2 Darstellungsphonologie 71 <?page no="72"?> Ob in einer Sprache ein Laut Phonem ist, läßt sich nur feststellen, wenn man ihn in Relation zu einem anderen Laut desselben Systems setzt. (Dabei wird man prak‐ tischerweise zwei artikulatorisch und akustisch benachbarte Laute miteinander vergleichen, die sich nur in e i n e m Merkmal voneinander unterscheiden.) Dies geschieht auf dem Wege der Kommutation. Bei einer solchen darf jeweils nur der phonemverdächtige Laut gegen einen anderen ausgetauscht werden, die übrigen Laute der Testmoneme müssen in Substanz und Reihenfolge unverändert bleiben. Ohne Kenntnis der Bedeutungsdifferenz zwischen zwei Monemen, d.h. ohne s e m a n t i s c h e Kriterien, läßt sich kein phonematisches System aufstellen. Die bedeutungsdifferenzierende Funktion des Phonems basiert auf dessen distinktiven Merkmalen, die man artikulatorisch oder akustisch klassifizieren kann. Ob diese distinktiven Merkmale oppositionsbildend, d.h. phonematisch relevant sind, ist ebenfalls nur von System zu System zu entscheiden. Beispiele für Kommutationsproben sind folgende Minimalpaare: frz. / ʃ/ - / ʒ/ in chou ‘Kohl’ - joue ‘Wange, Backe’, / f/ - / v/ in fer ‘Eisen’- vert, vers ‘grün’, ‘Vers’ bzw. ‘gegen, nach … hin’, / t/ - / d/ in toux ‘Husten’ - doux ‘süß, sanft’; it. / k/ - / p/ in cane ‘Hund’ - pane ‘Brot’, / i - / u/ in girare ‘drehen’ - giurare ‘schwö‐ ren’, pesca / peska/ ‘Fischfang’ - pesca / pεska/ ‘Pfirsich’, / k/ - / k: / in eco ‘Echo’ - ecco ‘hier ist/ sind’; rum. / b/ - / p/ in blană ‘Pelz’ - plană ‘eben, flach (fem.)’, / u/ - / i/ in bune ‘gute (Fem. Pl.)’ - bine ‘gut (Adv.)’, / m/ - / n/ in mici [miʧˈ] ‘kleine (Mask. Pl.)’ - nici ‘nicht einmal’; span. / p/ - / b/ in pino ‘Fichte, Kiefer’ - vino ‘Wein’, / i/ - / a/ in vino ‘Wein’ - vano ‘eitel, nichtig’, / k/ - / g/ in cana ‘graues/ weißes Haar’ - gana ‘Lust (zu/ auf)’, / r̿/ - / r/ in carro ‘Wagen’ - caro ‘lieb, teuer’; port. / ɲ/ - / n/ in pinho ‘Fichten-/ Kiefernholz’ - pino ‘Stift, Zapfen, Stecker’, / t/ - / d/ in tentado (com) ‘angetan (von)’ - dentado ‘gezahnt, gezackt’, / e/ - / i/ in tenha ‘habe’ (1./ 3. P. Sg. Konj. von ter ‘haben’)’ - tinha ‘hatte (1./ 3. P. Sg. Impf. von ter ‘haben’) bzw. ‘Grind, Räude’. Wie man sieht, sind Minimalpaare nur solche, die - abgesehen von einem unterschiedlichen Merkmal - die gleiche Anzahl an Lauten bzw. Phonemen haben. Span. vino - vinos bilden also trotz Bedeutungsunterschied (‘Wein’ - ‘Weine’) kein Minimalpaar, auch frz. prix ‘Preis’ - pis ‘schlechter, schlim‐ mer’ (Adv.) nicht, auch dt. Abend - labend nicht. In diesem Zusammenhang mögen Einige unser obiges Beispiel it. eco - ecco für fragwürdig halten, sofern sie die italienischen Geminaten nicht für eigene lange Phoneme 72 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="73"?> halten, sondern als verdoppelte Konsonanten verstehen (siehe dazu kurz unten II, 4.3.).] 3. Dies führt uns zu einer weiteren Präzisierung: diakritische Einheiten gibt es nicht im Einzelfall, sondern in der Sprache, d.h. im Sprachsystem. Damit etwas eine diakritische Einheit ist, muss diese Einheit grundsätzlich in der Sprache unterschieden werden. Es muss also Fälle geben, in denen die betreffende diakritische Einheit den einzigen Unterschied gegenüber einer anderen diakritischen Einheit macht, z.B. it. / ˈkasa/ - / ˈkosa/ [ˈkɔsa], aber nicht / kas: a/ - */ kos: a/ , denn in diesem Fall führt die Ersetzung von / a/ durch/ o/ zu nichts, zu keiner existierenden Form: cassa - *cossa. Da die Sprache aber ein z.T. virtuelles System ist, bedeutet dies weiter: a. diakritisch gegenüber möglichen signifiants: it. / kasa/ - / kɔsa/ gegen‐ über, */ kesa/ , */ kisa/ , */ kusa/ . b. virtuell diakritisch, auch in Fällen, in denen kein Minimalpaar existiert. Auch wenn es im Italienischen nur ein Minimalpaar für die Opposi‐ tion / ʦ/ - / ʣ/ gibt, nämlich razza [ˈraʦ: a] ‘Rasse’ - [ˈraʣ: a] ‘Rochen’, so könnte es vom System her viele solche Minimalpaare geben. Da / p/ - / b/ , / t/ - / d/ , / k/ - / g/ , / f/ - / v/ diakritisch funktionieren, kann man diese Möglichkeit auch für / ʦ/ - / ʣ/ annehmen. 4. Dies führt uns zu unserer dritten Funktion. Die diakritischen Einheiten sind nicht in jedem konkreten Fall distinktiv. Einem Wort stehen nicht alle die möglichen Wörter gegenüber, die sich von diesem Wort nur durch ein einziges Phonem unterscheiden würden: z.B. / l - e- z - e - n/ ˡ ˡ ˡ ˡ ˡ */ m - a - r - a - d/ ˡ ˡ ˡ ˡ ˡ */ p - o - d - œ - f/ Trotzdem bilden die Phoneme / l - e - z - e - n/ , in der Kombination als [ˈlezən] oder [ˈlezn] realisiert, das deutsche Wort lesen. Dieses ist so, wie es sein muss, auch in den Aspekten, in denen ihm kein anderes deutsches Wort gegenübersteht, außer Besen, Thesen, Wesen, mit dem es ein Minimalpaar bilden würde. Das ist eben die konstitutive Funktion der Phoneme. Diese Funktion ist die Grundlage der diakritischen Funktion. Die Phoneme sind konstitutiv und dadurch diakritisch gegenüber all den möglichen signifiants. Oder umgekehrt: In der Sprache diakritische Einheiten konstituieren die signifiants. Sie brauchen aber nicht in jedem 4.2 Darstellungsphonologie 73 <?page no="74"?> Fall in der schon realisierten Sprache diakritisch zu sein. Keine Sprache nutzt alle ihre Möglichkeiten aus. 4.2.2 Die gipfelbildende Funktion Die gipfelbildemde Funktion wird, wie schon gesagt, in den europäischen Sprachen meist durch den Akzent (Intensität nach Ternes 1987, 121) oder das Tonem erfüllt. Die Einheiten in diesen Sprachen sind meist Wortverbindungen, ein Lexem mit eventuellen Proklitika oder Enklitika, [d.h. mit seinen möglichen Determinanten (Artikel, Demonstrativ-, Possessivadjektiv usw.): dt. der Stuhl, mein Geld usw. mit nur einem einzigen Akzent jeweils: der Stúhl, mein Géld. Wenn die Determinante den Akzent hat, ist sie in abgrenzender Funktion betont, und das Substantiv ist in diesem Fall unbetont: dér Stuhl (in einer Klasse von Stühlen), méin Geld (oppositiv zu déin Geld, séin Geld usw.).] Im Deutschen haben wir Morphemeinheiten wie die genannten mit einer Hauptbetonung und gegebenenfalls mehreren Nebentönen, vor allem in Komposita wie Léhreraus‐ bildungsgesètz, d.h. ein Gesétz für die Léhreraùsbildung. In den romanischen Sprachen haben wir es mit phonischen Gruppen mit einem einzigen Hauptton und automatischer Distribution der Nebentöne zu tun (frz. mots phonétiques). Theoretisch wäre es auch anders denkbar: Wenn z.B. eine Sprache nur Wörter vom Typ KV, VK, KVK hätte, wäre der Vokal gipfelbildend, d.h. würde in einer Abfolge KVKVKV jeweils die Wörter voneinander abgrenzen (KV 1 von KV 2 und KV 3 ) oder in KVKVK die Einheiten KV von KVK. In einer Sprache, in der die morphologischen Einheiten ausschließlich vom Typ VK, KV, VKV, VVK, KVV wären, wäre der Konsonant gipfelbildend. Dies bedeutet, dass gipfelbildende Einheiten auch andere Funktionen, deli‐ mitative und/ oder diakritische Funktionen haben können. Dies ist auch beim Tonem der Fall, wo die gipfelbildenden Tonhöhenabstufungen bedeutungsun‐ terscheidend (diakritisch) sind wie etwa im Chinesischen, im Vietnamesischen und vielen weiteren Sprachen auf der Welt. Im Französischen ist der Wortakzent nicht diakritisch, wohl aber kulminativ und delimitativ, indem er zusammengehörige Wortgruppen (mots phonétiques) voneinander abgrenzt. So ist es auch in anderen Sprachen mit unfreier oder gebundener Betonung: Im Tschechischen, Slowakischen, Ungarischen und Fin‐ nischen (und anderen finno-ugrischen Sprachen) liegt sie immer auf der ersten Silbe eines Wortes oder zusammengehörigen Wortverbindung, im Türkischen, das wie das Französische eigentlich eine schwebende Betonung hat, bei der alle Silben annähernd gleich betont werden, empfindet man auditiv vor allem die jeweils letzte Silbe als betont. Es gibt also keine starke Unterscheidung zwischen 74 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="75"?> betonten und unbetonten Silben wie z.B. im europäischen Portugiesisch. Im Türkischen gibt es nur wenige unbetonte Suffixe. Im Polnischen wird fast immer die vorletzte Silbe betont, außer in einigen Wörtern wie Ameryka, muzyka oder rzeczpospólita (nach lat. res publica). In den meisten romanischen Sprachen - außer dem Französischen - ist der Wortakzent diakritisch, vgl. it. tèrmino ‘Begriff ’ - terminò ‘(er/ sie/ es) beendete’, span. término ‘Begriff ’ - termino ‘ich beende’ - terminó ‘er/ sie/ es beendete’. In Bezug auf den Wortakzent hat man versucht, zwischen Kontrast und Opposition zu unterscheiden, so Jorge Luis Prieto in „Traits oppositionnels et traits contrastifs“ (Prieto 1954). Dies wurde auch von Martinet (1955, 154-157) übernommen. Es gebe nämlich einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Funktion der Phoneme und der Funktion der Betonung. Bei den Phonemen trete an derselben Stelle im signifiant etwas anderes „in Opposition“: it. casa - cosa span. casa - cosa. Bei den Akzenten (suprasegmentalen Merkmalen im amerikanischen Strukturalismus) sei hingegen die „Betonungsfigur“ der morphischen Einheit anders: span. término termino terminó Zum Teil handelt es sich dabei um einen Denkfehler: Der Akzent ist ein Kontrast (zwischen betonter und unbetonter Silbe), aber die Unterschiede durch den Wortakzent sind ebenso oppositiv wie die phonematischen. [Das ist wohl der Grund, warum Coseriu die besonders in der generativen Grammatik entwickelte Unterscheidung zwischen segmentalen und suprasegmentalen Merkmalen nicht übernimmt. Sie liegen für ihn auf der gleichen Ebene, sofern es um die diakritische Funktion geht, also in der Phonologie. In der deskriptiven Phonetik einer Sprache kann man natürlich die Vorstellung haben, dass sich Betonungs‐ merkmale wie auch Intonationsphänomene „über“ die grundlegenden Laute (Segmente) legen und insofern „suprasegmental“ sind. Coseriu unterscheidet allerdings durchaus zwischen den phonologischen „Segmenten“ und Akzent (Intensität) bzw. Quantität, die durchaus etwas anderes seien.] Richtig ist allerdings, dass hier die ganze Figur der morphischen Einheit anders ist. Dies ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit einer phonematischen Unterscheidung vom Typ: b a a a b a a a b 2 1 1 1 2 1 1 1 2 oder auch in einer doppelten Opposition: 4.2 Darstellungsphonologie 75 <?page no="76"?> betont unbetont unbetont término unbetont betont unbetont termino unbetont unbetont betont terminó In horizontaler Hinsicht haben wir im ersten Fall eine Opposition zwischen einer betonten und einer unbetonten Silbe, in vertikaler Hinsicht im Innern des Morphems eine Opposition zwischen einer unbetonten Silbe mi in término und einer betonten in termino. Für die Intuition des Sprechers handelt es sich aber jeweils um eine einfache Opposition: Der Wortakzent oder die Quantität ist anders, wie in lat. malum ‘das Böse, Übel’ [ˈmalum] - malum [ˈma: lum] ‘Apfel’, dt. As - Aas, satt [zat] - Saat [za: t]. Auch bei einer Wunde auf dem linken oder auf dem rechten Arm handelt es sich nur um einen Unterschied gegenüber dem jeweils unverwundeten Arm, nicht um zwei Unterschiede. 4.2.3 Die delimitative Funktion Die klassische Behandlung dieses Themas ist immer noch die von Trubetzkoy im letzten Kapitel seiner Grundzüge, „Die Abgrenzungslehre“ (Trubetzkoy 1958, 241-261). Ein weiterer wichtiger Beitrag ist J. M. Anderson (1965), „The Demarcative Function“, Lingua 13. Trubetzkoy unterscheidet phonematische und aphonematische Grenzsignale, Einzelsignale und Gruppensignale, positive und negative Grenzsignale. J. M. Anderson unterscheidet die folgenden Grenz‐ signale: phonematisch einfach nicht-phonematisch positiv phonematisch komplex nicht-phonematisch Grenzsignale phonematisch einfach nicht-phonematisch negativ phonematisch komplex nicht-phonematisch Anderson macht eigentlich dieselben Unterschiede wie Trubetzkoy, aber er stellt sie in eine Rangordnung. Dabei bedeutet positiv ‘zeigt eine Grenze’, ne‐ gativ ‘zeigt eine Nichtgrenze’, einfach ‘ein Element ist beteiligt’, komplex ‘es 76 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="77"?> gibt eine Verbindung von Elementen’. Phonematisch ist hier auch als diakritisch zu verstehen, nicht-phonematisch als nicht-diakritisch. - 4.2.3.1 Positive Grenzsignale Einfache phonematische Grenzsignale sind Phoneme, die nur im Anlaut oder nur im Auslaut vorkommen: so z.B. altgriechisch ῾ der spiritus asper, der den gehauchten Vokaleinsatz oder anlautendes / h/ vor Vokal anzeigt: ὡς ‘wie’ - ὦς ‘Ohr’, ἐξ ‘aus’ - ἕξ ‘sechs’. Solche Phoneme funktionieren zugleich oppositiv und delimitativ. Ein weiteres Beispiel wäre / ŋ/ im Koreanischen oder / h/ im Englischen und Deutschen, das in beiden Sprachen nur im Morphemanlaut vorkommt. Einfache nicht-phonematische Grenzsignale sind Laute oder Phonemvari‐ anten, die ohne Opposition nur an festgelegten Stellen vorkommen, z.B. der Glottisverschluss vor vokalischem Morphemanlaut im Deutschen, die unfreie oder gebundene Betonung auf der ersten Silbe im Tschechischen, Slowakischen, Finnischen, Ungarischen, auch im Deutschen in deutschen Morphemen: [Lehrer, arbeiten usw. Dabei gibt es im Deutschen unbetonte Präfixe, die die Regel nicht beeinträchtigen: Betrieb, Verzehr, beeinflussen. Das eigentliche lexikalische Morphem ist -trieb, -zehr, -einfluss-. Alle Präfixe, die z.B. von Präpositionen abgeleitet sind und eine gewisse zumindest örtliche, also nicht-grammatische Bedeutung haben, sind dagegen betont: ein-arbeiten, Aus-bildungsgesetz, ab‐ schließen usw.] Ein solches nicht-phonematisches Grenzsignal ist auch die feste Betonung auf der vorletzten Silbe im Polnischen und in vielen afrikanischen Sprachen. Das japanische Phonem / g/ kommt im Allgemeinen nur im Anlaut vor, im Wortinnern wird es zu / ŋ/ nasaliert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in Sprachen mit festem Wortakzent je nach Sprachen auch unbetonte Silben an der Stelle vorkommen, die gewöhnlich den Ton trägt, so sind z.B. im Türkischen die Auslautsilben in Formen wie türküm ‘auf Türkisch’ oder italianım ‘auf Italienisch’ gewöhnlich unbetont, im Tschechischen a ‘aber, und’ und že ‘dass, weil’, die immer am Anfang eines Satzes oder Satzteils stehen. Gleiches gilt für ung. hogy ‘dass’, das immer unbetont am Beginn einer Klausel steht und is ‘auch’, das immer unbetont und, anders als im Deutschen, immer nach dem Element steht, auf das es sich bezieht. Komplexe phonematische Grenzsignale sind z.B. Phonemgruppen, die nur im Auslaut + Anlaut zwischen Wörtern bzw. Morphemen vorkommen, die also nicht im Morpheminnern vorkommen können und deswegen als Grenzsignale funktionieren. Sie sind im Deutschen sehr zahlreich, immer da, 4.2 Darstellungsphonologie 77 <?page no="78"?> wo solche Konsonantengruppen weder im Silbenanlaut noch in der Silbenmitte möglich sind, z.B. - K(onsonant) + / h/ : ein Haus, im Haus, anhalten, durchhalten, Wahrheit; - Nasal + / r/ , / l/ : anliegen, anregen, Unrat, Unlust; - aber auch im Anlaut unmögliche Nexus wie / nm/ , / pm/ , / bm/ , / km/ , / ng/ , / sf/ (im Anlaut nur in Fremdwörtern wie Sphäre): [Anmarsch, anmaßend; Klapp‐ messer; Staubmantel; Denkmal; angrenzend. Die übliche phonetische Realisie‐ rung [ˈaƞgrεnʦənt] entspricht genau dem: / ng/ kann nur an der Morphem‐ grenze vorkommen, im Inlaut nicht (siehe Engel, Angel, Finger gegenüber englisch finger, monger, hunger).] - Frz. Ṽ + / m/ , / n/ : un marin, un moine, un nain, un nœud. [Siehe hierzu auch unten II, 5.2) und Rothe (1978), 36-38 und zum Französischen 78-87 und dazu noch zum sogenannten „Dreikonsonantengesetz“ 87-91 (siehe auch unten Anm. 31 und II, 8.2.2.3).] Komplexe nicht-phonematische Grenzsignale sind im Deutschen die velare Aussprache von auslautendem / x/ sowie auslautendem / g/ nach hinteren Vo‐ kalen (in Norddeutschland) [ɔ, o, ʊ, u, a, a w ] (doch, Docht, Trog, huch! , Fluch, trug, brach, Dach, lag, auch, Bauch) und die palatale Aussprache von / x/ als [ç] und von / g/ als [ç] in den gleichen Positionen nach vorderen Vokalen sowie nach / r/ und / l/ : frech, Blech, schräg, Teig, weich, dich, Strich, siech; durch, arg, Talg, Kelch. Gerade diese Aussprache zeigt auch die Morphemgrenze an, z.B. in Mama-chen (mit [ç]) gegenüber machen mit [x]. - 4.2.3.2 Negative Grenzsignale Negative einfache phonematische Grenzsignale sind z.B. bestimmte Pho‐ neme oder auch Phonemvarianten, die nur an bestimmten Stellen erscheinen, z.B. im Finnischen / t/ als [d] nur im Inlaut, / ŋ/ im Deutschen und Englischen nicht im Anlaut, / ɲ/ im Französischen nicht im Anlaut (außer in einigen onomatopoetischen bzw. kindersprachlichen Wörtern wie gnognote ‘Kram, Käse’, gnon ‘Schlag’ oder Wörtern aus dem Argot wie gnouf ‘mit der Polizei Zusammenhängendes (Gefängnis, Polizeiposten)’, Phoneme, die im Auslaut nicht erscheinen, sind: - / h/ im Deutschen, - im Altgriechischen alle Konsonanten außer / n/ , / r/ , / s/ , - im Italienischen erscheinen nur / n/ , / r/ , / l/ , (/ m/ ), - im Spanischen erscheinen nur / d/ , / n/ , / l/ , / r/ , / s/ , / θ/ , / x/ , - im Portugiesischen erscheinen nur / l/ , / r/ , / s/ . 78 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="79"?> Negative einfache nicht-phonematische Grenzsignale sind z.B. folgende: Im Deutschen ist / h/ im Anlaut stimmlos, im Inlaut - wie z.B. in Uhu - stimmhaft. Auch in engl. boyhood, behave kann / h/ stimmhaft sein, also [ɦ]. In diesen doch recht seltenen Fällen kann dieses stimmhafte [ɦ] als negatives Grenzsignal wirken, stimmloses [h] ist im Deutschen und Englischen immer ein positives Grenzsignal, das den Beginn eines Morphems markiert, eben weil stimmloses / h/ nur im Anlaut vorkommt. [Es sei der Klarheit halber noch angefügt, dass graphischen <h> in der neuhochdeutschen Standardsprache nicht mehr ausgesprochen wird, sondern nur noch als graphisches Grenzsignal zwischen zwei Vokalen dient, man sehe etwa sehen, gehen, stehen, ziehen, Ziehung, mähen, muhen, nähen, Näherin, Flöhe, Zehen, Wehen, Blähungen, Nähe, Höhe, hoher (Berg) usw. In solchen Fällen ist intervokalisches / h/ schon z.T. in mittelhochdeutscher Zeit geschwunden (cf. Paul/ Moser/ Schröbler 1969, 99), so dass wir heute Vokalverbindungen ohne grenzsignalisierenden Glottisver‐ schluss haben. Dieser ist sonst im Deutschen automatisch, nicht als Grenzsignal zwischen Morphemen wirkend, z.B. in Fremdwörtern wie A’erodynamik, z. T. auch Lingu’istik [liƞgu‘Ɂɪstɪk] statt [lin‘g w ɪstɪk] Ma’estro sowie in fremden Namen wie A’ida, Bu’enos Aires [buɁenos] statt [b w enos], [kiɁanti] statt [kjanti] usw.]. Das weiter oben schon erwähnte Phonem / g/ des Japanischen dient als einfaches positives Grenzsignal, insofern es nur im Anlaut vorkommt und also den Anlaut als Grenze zum Vorhergehenden markiert. Seine Realisierung als [ŋ] markiert dagegen den Inlaut und kann als Gegenstück zur Aussprache [g] als negatives phonematisches Grenzsignal gedeutet werden: „keine Morphem‐ grenze“. Negative komplexe phonematische Grenzsignale werden durch Positi‐ onsbeschränkungen von Phonemgruppen gebildet. So werden im Spanischen und Italienischen in einheimischen Wörtern keine Konsonantennexus im Aus‐ laut geduldet. Kommen solche vor, weist dies auf Anlaut oder Inlaut hin. Im Spanischen und Portugiesischen kann / s/ + K nicht im Anlaut stehen, sondern nur im Inlaut (escaso ‘knapp’, asco ‘Ekel’) oder an der Morphemgrenze (las casas, as casas, altas montañas, outros livros). Im Deutschen kann der Nexus / dl/ nur im Inlaut vorkommen, z.B. in Siedlung, kann also keine Morphemgrenze bilden, [denn dort ist nur [tl] möglich [neidlos, freudlos, freundlich. Dies gilt allerdings nur für die süddeutsche Aussprache von Siedlung [si: dlʊƞ], in norddeutscher Aussprache erfolgt hier die Entsonorisierung von morphemauslautendem / d/ , also [zi: tlʊƞ].] Negative komplexe nicht-phonematische Grenzsignale sind in anderer Hinsicht auch die oben unter 4.2.3.1 schon erwähnten Realisierungen von / x/ 4.2 Darstellungsphonologie 79 <?page no="80"?> nach zentralen und velaren Vokalen sowie auslautendem / g/ nach velaren Vokalen, indem sie das Fehlen einer Morphemgrenze, also inlautende Position markieren: machen, Macht, pochen, kochen, Wucht usw. Diese Realisierungen sind als positive Grenzsignale für Morphemgrenzen zu werten, wenn in seltenen Fällen nach zentralen oder velaren Vokalen gerade nicht [x], sondern [ç] erscheint, denn [ç] kann nur im Anlaut oder Auslaut stehen: Mama-chen, Papachen, Erna-chen, Foto-chen usw. [Die oben unter den negativen einfachen nicht-phonematischen Grenzsig‐ nalen aufgeführten Fälle des stummen graphischen <h> gehören als Grenzsig‐ nale eigentlich hierher, in die Kategorie der negativ komplexen nicht-phonema‐ tischen Grenzsignale, denn sie zeigen gerade das Fehlen einer Morphemgrenze an. Allerdings muss hier offensichtlich noch einmal ein Unterschied gemacht werden zwischen Flexionsmorphemen und Derivationsmorphemen und lexi‐ kalischen Morphemen in der Wortzusammensetzung. In Höh-e, Höh-e-n, hohes (Haus), früh-er liegen natürlich auch Morphemgrenzen, nämlich zwischen dem Lexem und seinen Flexionsendungen. An der Morphemgrenze gibt es im Deutschen den sogenannten festen Vokaleinsatz, d.h. den anlautenden Glottis‐ verschluss vor Vokal, wenn zwei Lexeme zusammengesetzt werden oder wenn ein modifizierendes Präfix vor ein Lexem tritt: Naherholung [ˈnaɁεrholʊƞ], Früh‐ erkennung [ˈfryɁεrkεnʊƞ], Aberkennung [ˈɁapɁεrkenʊƞ], eh‘ ich (dem zustimme) [ɁeɁɪç], Eiablage [ˈɁa j Ɂapla: gə]. Das Fehlen des Glottisverschlusses in sehen, Höhe, nahe usw. zeigt, dass keine Grenze zwischen Lexemen bzw. zwischen Derivationselement und Lexem vorliegt. Somit ist es hier ein negatives Signal. Die Beispiele früher [ˈfryʌʀ] und Früherkennung [ˈfryɁεrkεnʊƞ] zeigen dies deutlich.] - 4.2.3.3 Grenzen Welche Arten von Grenzen sind hier überhaupt im Spiel? - Morphemgrenzen. Im Deutschen gelten alle Wortgrenzen auch als Mor‐ phemgrenzen, aber nicht umgekehrt alle Morphemgrenzen auch als Wort‐ grenzen. - Wortgrenzen. Im Finnischen wie im Ungarischen gibt es vorwiegend Wort‐ grenzen. - Wortverbindungsgrenzen sind die Grenzen zwischen verschiedenen „mots phonétiques“ wie im Französischen: Nous présentons/ aujourd’hui/ cet ou‐ vrage/ à nos amis lecteurs/ et à ceux/ qui le deviendront. Solche Grenzen sind jedoch nicht immer gegeben. Man vergleiche dt. Die Haus‐ frau wäscht mein Hemd, wo alle Morphemgrenzen angegeben sind, weil es hier 80 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="81"?> z.B. keine Flexionsendungen gibt: / di: -ha w s-fra w -veʃt-ma j n-hemt/ . Dagegen sind in einem Satz wie Am Boden saßen drei kleine Buben keine Morphemgrenzen, nur Wortgrenzen: / a=m-bo: den-za: s=en-dʀa j -kla j n=e-bu: b=en/ . Die Morphem‐ grenzen (=) werden phonologisch nicht angezeigt. Im Tamil ist dies in 80% aller Sätze der Fall, im Deutschen in 50%, siehe Kausen (2013, 647-653). Kritisch wollen wir hier unsere Zweifel am Sinn und an der Funktionsfähig‐ keit der delimitativen Funktion anfügen. Die angeführten Fakten sind eigentlich nicht ausreichend. Es gibt in Wirklichkeit nur sekundäre Anzeichen, aus denen man solche Grenzen deduzieren kann. 4.2.4 Die diakritische Funktion Die diakritische Funktion ist die hauptsächliche phonologische Funktion, und in dem Maß, in dem sie die konstitutive Funktion voraussetzt, ist sie sogar die einzige wesentliche phonologische Funktion. Demgegenüber sind die kul‐ minative und die delimitative Funktion keine Funktionen im eigentlichen Sinn des Wortes. Deshalb ist die Darstellung der diakritischen Funktion auch der wesentliche Teil der Phonologie. Darin eben besteht der wichtige Beitrag der Phonologie zur Linguistik, und nur dadurch konnte die Phonologie zum Vorbild für die strukturelle funktionelle Sprachbetrachtung überhaupt werden. Die diakritische Funktion ist die Unterscheidungsfunktion. Der Begriff „Unterscheidung“ aber setzt, wie Trubetzkoy richtig gesehen hat, den Begriff des Gegensatzes oder der Opposition voraus. Die Opposition ist der Grundbe‐ griff der strukturell-funktionellen Linguistik. Dieser Begriff wird jedoch oft missverstanden: 1. Opposition bedeutet nicht einfach Verschiedenheit. Der Vokal / o/ und die Farbe grün stehen nicht in Opposition, sie sind nur verschieden. Dies gilt auch für verschiedene Ebenen der Sprache, ein Wort und ein Phonem stehen niemals in Opposition zueinander. 2. Die Opposition ist auch kein rein negativer Begriff. F. de Saussure hat richtig gesehen, dass die sprachlichen Einheiten oppositiv sind, dass sie sich differenzieren, er hat dies aber auf eine paradoxe Weise formuliert: „Dans la langue il n’y a que des différences sans termes positifs.“ (Saussure 1972, 166). Die einzige Bedingung für eine sprachliche Einheit sei, dass sie das ist, was die anderen nicht sind (Saussure 1972, 168). Interpretiert man diese Formulierung wörtlich, wie dies oft geschieht, ist sie falsch und irreführend. Denn erstens ist das „Anders-Sein“ grundsätzliche Bedingung für das „Einheit-Sein“, nicht aber für das „Eine-bestimmte-Einheit-Sein“. Eine 4.2 Darstellungsphonologie 81 <?page no="82"?> bestimmte Einheit ist auf eine bestimmte Weise anders als alle anderen Einheiten eines Systems, das heißt, sie hat eine bestimmte Gestalt. Saus‐ sure führt das Beispiel des Alphabets an, und gerade an diesem Beispiel kann man seinen Fehler zeigen (siehe Saussure 1972, 164). Es stimmt z.B., dass ein Buchstabe in einem Schriftsystem anders sein muss als alle anderen, damit er Buchstabe ist, d.h. damit man ihn von einem anderen unterscheiden kann. Es kommt aber nicht darauf an, dass er so oder so geschrieben ist, z.B. in verschiedenen Druck- und erst recht in verschiedenen Handschriften. Die Unterschiede zwischen den Buchstaben bleiben bestehen. Wenn man aber die Grenze der Einheiten überschreitet und z.B. Masche für Tasche schreibt, erkennt man die Opposition: Masche ist intellektuell etwas anderes als Tasche, während ein Schnörkel beim oberen Querstrich des T diesen Buchstaben zwar verändert, aber den Unterschied zu M nicht in Gefahr bringt. Auch wenn man beschließen würde, für T immer Ч (mit dem Lautwert / t/ zu schreiben, wäre der Unterschied zu M in gleicher Weise gewahrt, aber man wäre nicht mehr ganz innerhalb des lateinischen Alphabets. Die unterschiedlichen Formen eines T liegen also auf einer anderen Ebene (bestimmtes Anders-Seins) als das grundsätzliche Anders-Sein eines anderen Buchstabens. Zweitens organisiert ein System nur eine bestimmte Sektion der entspre‐ chenden Substanz. Ein Anders-Sein außerhalb dieser Sektion bleibt außer‐ halb des Systems und kann nicht ausreichen, um eine bestimmte Einheit zu identifizieren. Man könnte z.B. im lateinischen Alphabet jedes T durch ɱ und jedes M durch ȣ ersetzen. Diese Einheiten würden der Bedingung für das Einheit-Sein entsprechen, nicht aber der Bedingung für lat. T und lat. M. Um auf die Ebene der Phonologie zurückzukommen, könnte man z.B. im Italienischen jedes / o/ durch / œ/ und jedes / u/ durch / y/ ersetzen, jedes / k/ durch / g/ , nur wäre dies nicht mehr das phonologische System des Italienischen. Drittens ist es möglich, dass eine bestimmte Einheit nur differentiell ist, aber nur unter der Bedingung, dass die anderen gerade keine willkürlichen Variationen aufweisen. So kennt man in den Handschriften verschiedene Formen z.B. für / r/ , die man vielleicht mit mit r, r , ɣ, ɼ, r wiedergeben könnte, unter der Bedingung, dass die anderen Buchstaben keine oder nur eine geringe Variation aufweisen und dass unter keinen Umständen eine Grenze zu einer anderen Einheit überschritten wird. Die anderen Buch‐ staben würden also ein gewisses Sich-selbst-gleich-Bleiben aufweisen, also gegenüber dem Differentiellen einen positiven Charakter haben. Auf der lautlichen Ebene weist z.B. das spanische / s/ regional viele verschiedene 82 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="83"?> Varianten auf: [ś], [s], [θ], [h]. Andere Phoneme grenzen aber diese Variation ab, indem sie kaum Variation aufweisen. Viertens ist die Grundlage des Vergleichs immer positiv: Phonem, Vokal, Konsonant, Frikativ. Nur innerhalb des jeweiligen Rahmens gibt es „An‐ ders-Sein“. Es ist fünftens richtig, dass eine Einheit in einem System das ist, was sie von anderen Einheiten unterscheidet. Aber sowohl jede dieser Differenzen als auch ihre Summe sind positive Eigenschaften. Sie müssen zumindest bei einer Einheit bei jeder Differenz positiv sein: z.B. stimmhaft - nicht-stimmhaft oder labialoral - stimmhaft als „Summe der Differenzen“ für das spanische Phonem / b/ . Jede Differenz ergibt sich durch ein bestimmtes So-und-so- Sein. Man müsste also Saussures obige Formulierung ergänzen zu „sans termes positifs non-différentiels“. Der Begriff Opposition impliziert also jeweils eine Identität. Es geht nicht um radikale Verschiedenheit, sondern darum, dass etwas zum Teil identisch und zum Teil anders ist. In Opposition stehen Einheiten, bei denen das Gemeinsame allgemeiner als das Differentielle ist. Man kann eine Opposition schematisch so darstellen: - A x - - - - B + oder - - - A x - - - - B - Eine Opposition liegt also vor bei partieller Verschiedenheit gegenüber einer unmittelbaren gemeinsamen Grundlage. Plural steht nicht in Opposition zu Konjunktiv oder zu Interrogativ, da hier die Grundlage des Vergleichs nicht unmittelbar ist. So ist es auch bei Phonemen: / h/ und / ŋ/ oder / o/ und / p/ haben im Deutschen so gut wie keine gemeinsame Grundlage. Gibt es aber überhaupt Oppositionen? In letzter Zeit ist viel Kritik an dem Begriff lautgeworden. Sie beruhen jedoch auf einer radikalen Unfähigkeit, die Sprache und die Sprachwissenschaft zu verstehen, ja, sie bedeuten die 4.2 Darstellungsphonologie 83 <?page no="84"?> Unmöglichkeit der Sprachwissenschaft und der Sprache selbst. Es gibt Leute, die den Begriff für eine „Hypothese“ halten. Man kann freilich leicht zeigen, dass es keine Hypothese ist, dass es in der Sprache wirklich Identitäten kombiniert mit Differenzen, d.h. Oppositionen gibt. So sind im Deutschen / t/ - / d/ , / p/ - / b/ , / k/ - / g/ zum Teil identisch, nämlich beide dental, beide labial, beide velar, und teilweise verschieden, und dies jeweils auf dieselbe Weise. So ist es auch in der lexikalischen Bedeutung, wenn eng ‘in einem geschlossenen Raum oder auf einer Fläche von geringer seitlicher Ausdehnung + seitlicher Begrenzung’ in Opposition zu weit ‘in einem geschlossenen Raum oder auf einer Fläche von verhältnismäßig großer seitlicher Ausdehnung, ± Begrenzung’ steht; ebenso breit - schmal mit den oppositiven inhaltsunterscheidenden Zügen ‘flächiger Verlauf mit großer seitlicher Ausdehnung, ± Begrenzung’ gegenüber ‘flächiger Verlauf mit kleiner seitlicher Ausdehnung, ± Begrenzung’. Wichtiger ist aber zu zeigen, was die Inexistenz der Oppositionen bedeuten würde. Wenn sprachliche Opposition Identität + Differenz ist, bedeutet das Gegenteil von Opposition, [dass es keine Differenz gibt, also alles gleich ist, oder dass es keine Identitäten gibt, also alles nur verschieden ist. Beides ist in gleicher Weise unannehmbar, weil widersinnig.] 84 4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy <?page no="85"?> 5 Die Klassifikation der Oppositionen Auch hier hat Trubetzkoy in den zentralen Kapiteln III und IV seines Haupt‐ werks (Trubetzkoy 1958, 59-206) einen wichtigen Beitrag zur Lehre der sprach‐ lichen Oppositionen überhaupt geliefert. In seiner „Logischen Einteilung“ (Kap. III) gliedert er die Oppositionen folgendermaßen: 1. Nach ihrer Beziehung zum ganzen Oppositionssystem a. eindimensional und mehrdimensional. Die Beziehung ist eindi‐ mensional, wenn die Vergleichsgrundlage nur den beiden Gliedern einer Opposition gemeinsam ist. So haben z.B. nur dt. / t/ - / d/ das Merkmal ‘dentaler Verschlusslaut’ gemeinsam. Sie ist mehrdimen‐ sional, wenn die Vergleichsgrundlage auch bei anderen Einheiten ge‐ geben ist. So haben dt. / d/ , / b/ , / g/ die gleiche Grundlage ‘stimmhafter Verschlusslaut’. Mehrdimensionale Oppositionen sind in den Sprachen viel häufiger als eindimensionale. Aber es gibt nicht nur binäre, sondern auch Beziehungen mit drei und mehr Gliedern wie z.B. b p f im Spanischen (vgl. unten II, 8.3.2). Dabei ist die Labialität die Grund‐ lage, die Stimmhaftigkeit - Stimmlosigkeit (Stimmbeteiligung) das zweite Kriterium des Vergleichs. Innerhalb der stimmlosen Glieder ist die Artikulationsart die dritte Art von Beziehung: b / p -f stimmhaft - stimmlos Okklusiv - Frikativ Man kann hier aber auch zwei eindimensionale Oppositionen sehen: / p/ - / f/ und (p - f) / / b/ . / p/ - / b/ haben die Labialität ge‐ meinsam, / f/ - / b/ auch nur die Labialität, / p/ - / f/ die Labialität und die Stimmlosigkeit. Trubetzkoy führt an dieser Stelle (1958, 62-63) noch weitere Unter‐ scheidungen ein. Mehrdimensionale Beziehungen können homogen <?page no="86"?> 21 Dies wird hier angenommen in einem System, in dem echte zentrale Vokale wie / ɨ/ , / ə/ und / ɜ/ als Phoneme oder als Phonemvarianten keine Rolle spielen. Grundsätzlich werden die hier als zentral bezeichneten Vokale als gerundete Vordervokale bezeichnet (vgl. Schubiger 1977, 59, 62). Sie stehen dann in der Nähe der linken, palatalen Seite des Vokaldreiecks, während die genannten zentralen Vokale eben in der Mitte angesiedelt sind. oder heterogen, homogene wiederum geradlinig oder ungeradlinig sein: eindimensional - mehrdimensional homogen - heterogen geradlinig - ungeradlinig So ist eine Opposition heterogen, wenn dazwischen - in artikulato‐ rischer Hinsicht - eine oder mehrere eindimensionale Oppositionen liegen, z.B. dt. / u/ - / e/ steht in einer heterogenen Beziehung, weil zwischen dem geschlossenen velaren / u/ und dem halboffenen pa‐ latalen / e/ noch die velare eindimensionale Opposition / u/ - / o/ sowie die ungerundet-gerundete Opposition / o/ - / œ/ und andererseits die Opposition / œ/ - / a/ (zentral halboffen - zentral geöffnet) liegen. Innerhalb der homogenen Oppositionen ist eine Opposition gerad‐ linig, wenn sie eine einzige Kette bildet, z.B. velarer Frikativ / x/ - velarer Nasal / ƞ/ , ungeradlinig, wenn verschiedene mögliche Ketten ins Spiel kommen: i - - - - - - - - y - - - - - - - - u e - - - - - - (ø) - - - - o (ε) (œ) (ɔ) a Die Beziehungen zwischen allen vorderen (palatalen), allen zentralen gerundeten 21 und allen hinteren (velaren) Vokalen sind jeweils eindi‐ mensional und, wenn in einer Kette betrachtet, homogen (durchge‐ zogene Linie), diejenigen zwischen den Artikulationsorten (palatal - zentral - velar) jedoch ungeradlinig, wenn man Beziehungen be‐ trachtet, die mehr als eine Kette einschließen (zwischen / u/ und / e/ 86 5 Die Klassifikation der Oppositionen <?page no="87"?> zum Beispiel. Dies alles dient dazu, die Beziehungen je nach Betrach‐ tungsweise zu klassifizieren. Beziehungen können auch proportional oder isoliert sein. Sie sind proportional, wenn das Verhältnis das gleiche wie bei anderen Oppo‐ sitionen ist: / p/ - / b/ sind in diesem Sinne proportional zu / t/ - / d/ und / k/ - / g/ , isoliert ist das Verhältnis zwischen / p/ und / ʃ/ . Wenn man allerdings die Opposition / p/ - / ʃ/ mit / b/ - / ʒ/ vergliche, wäre das Verhältnis wieder proportional, denn / p/ und / b/ unterscheiden sich so wie / ʃ/ und / ʒ/ , nämlich durch das Merkmal ‘stimmlos’ gegen‐ über ‘stimmhaft’. Darüber hinaus unterscheiden sie sich durch ‘ok‐ klusiv’ gegenüber ‘frikativ’ sowie ‘labial’ gegenüber ‘alveolar’. 2. Die Klassifikation gewinnt an Gewicht, wenn man die Oppositionen nach der Beziehung zwischen den Oppositionsgliedern einteilt (Trubetzkoy 1958, 66-80). Es entstehen dann rein logische Beziehungen, die nicht an ein bestimmtes Sprachsystem gebunden sind, aber natürlich auch innerhalb eines solchen betrachtet werden: a. Privative Oppositionen sind solche, bei denen das eine Glied ein Merkmal hat, das dem anderen fehlt. Das eine ist dann merkmaltra‐ gend, das andere merkmallos. So wird z.B. bei der Stimmhaftigkeit gegenüber der Stimmlosigkeit untersucht, ob sie ein Merkmal ist, das bei einem Glied der Opposition hinzukommt, während alles Übrige gleich ist. b. Graduelle Oppositionen liegen dann vor, wenn es sich um verschie‐ dene Grade derselben Eigenschaft handelt, z.B. beim Öffnungsgrad der Vokale: / e/ ist offener als / i/ , / a/ ist offener als / e/ . Ebenso ist / y/ geschlossener als / ø/ , [ø] geschlossener als [ə]. Nach Trubetzkoy sind die graduellen Oppositionen insgesamt verhältnismäßig selten und daher nicht so wichtig wie die privativen Oppositionen. c. Bei äquipollenten Oppositionen sind beide Glieder logisch gleich‐ berechtigt, so z.B. bei dt. / p/ - / t/ bzw. / f/ - / k/ . Äquipollente Oppo‐ sitionen sind die häufigsten. Vor allem in der Grammatik und der lexikalischen Semantik gibt es Systeme, die durch graduelle und durch äquipollente Oppositionen gestaltet sind. Eine weitere wichtige Einteilung ist die zwischen konstanten und aufheb‐ baren Oppositionen. Sie betreffen das Ausmaß der Gültigkeit der Opposition. Aufhebbare Oppositionen sind solche, die auf der Distributionsbeschränkung eines ihrer Glieder beruhen. Trubetzkoy (1958, 70) spricht hier von Relevanz‐ stellung und Aufhebungsstellung. [Ein Beispiel ist im Deutschen die Entsonori‐ sierung aller stimmhaften Konsonanten im Auslaut, also der Verschlusslaute / b/ 5 Die Klassifikation der Oppositionen 87 <?page no="88"?> - / d/ - / g/ , aber auch der labio-dentalen Frikative / f/ - / v/ , der palatalen Frika‐ tive / ç/ - / j/ usw. Es handelt sich hier um privative Oppositionen, da das im Anlaut und Inlaut gültige Merkmal ‘stimmhaft’ im Auslaut entfällt: (der) Schneid und (es) schneit fallen phonetisch zusammen.] Die von Trubetzkoy ebenfalls erwähnte Aufhebung der Opposition / e/ - / ε/ im Französischen gestaltet sich im Detail als komplex, da sie in beide Richtungen geht: Es gibt eine Tendenz zur Öffnung des traditionellen / e/ [e] in den Verb‐ formen (je parlerai - je parlerais; je parlai - je parlais), die zu Homophonie führen; andererseits beobachtete Martinet schon 1941 eine Tendenz zur Schließung im Auslaut von Substantiven wie poignet, das sich an poignée annähere (Martinet 1971, 122). Jedoch scheint eine Opposition wie chanté - (je) chantais stabil zu sein. Stabil ist sie auch zwischen einsilbigen Lexemen wie clef ‘Schlüssel’ - claie ‘Weidengeflecht’ dé ‘Würfel’ - dais ‘Altar-, Thronhimmel’ fée ‘Fee’ - fais ‘(ich) mache, (du) machst’ gré ‘Belieben, Gefallen’ - grès ‘Sandstein’ gué ‘Furt’ - guet ‘Lauer, Wache’, aber gai ‘lustig, vergnügt’ sowohl [ge] als auch [gε] pré ‘Wiese’ - près ‘nahe’, prêt ‘bereit, fertig’ usw. [Ausführlich behandeln diese Fragen Walter (1976, 138-182) und Rothe (1978, 67-69). Siehe auch S.-110.] An dieser Stelle erscheint dann das Archiphonem, also jenes Phonem, das auch in der Aufhebungsstellung noch distinktiv ist, z.B. / T/ im Falle von / ʃna j T/ gegenüber einem potentiellen */ ʃna j S, im Französischen / elparlE/ gegenüber / elparlɑ/ . Nur eindimensionale Oppositionen können aufgehoben werden, da nur diese etwas gemeinsam haben, was sie von allen anderen Phonemen trennt. 5.1 Korrelationen Korrelationen werden systematisch erstmals von Trubetzkoy festgestellt und in einem eigenen Unterkapitel seines Werks behandelt (Trubetzkoy 1958, 75-80). Der Begriff wird zuerst für die privativen proportionalen eindimensionalen Oppositionen gebraucht. So spricht Trubetzkoy von Korrelationspaaren, wenn Phonempaare in einer privativen proportionalen eindimensionalen Bezie‐ hung zueinanderstehen und jeweils durch das gleiche Merkmal unterschieden werden, wie z.B. / p/ - / b/ wie / t - / d/ wie / k/ - / g/ . Er spricht von Korrelations‐ merkmal bei einem Merkmal, das eine Reihe von Korrelationspaaren bestimmt, und überhaupt von Korrelation bei der Gesamtheit der Korrelationspaare, die 88 5 Die Klassifikation der Oppositionen <?page no="89"?> durch dasselbe Merkmal bestimmt sind, z.B. stimmhaft - stimmlos, oral - nasal. Korrelationsbündel sind kombinierte Korrelationen wie z.B. kombinierte Korrelationen wie z.B. / p/ / f/ oder im Griechischen: β / b/ / b/ / v/ π / p/ θ/ p h / . oder im Griechischen: β / b/ / b/ / v/ π / p/ φ / p h / . 5.2 Neutralisierung Im Anschluss an die oben (§ 5.) schon erwähnte Aufhebung einer Opposition in Aufhebungsstellung wollen wir auf dieses Thema noch einmal kurz zurück‐ kommen. Oppositionen funktionieren also nicht unbedingt in allen Fällen, sondern können Distributionsbeschränkungen unterliegen. So ist die oben an dieser Stelle angesprochene Aufhebung der Opposition stimmhaft - stimmlos in Auslautposition nicht nur im Deutschen gegeben, sondern auch im Russi‐ schen und im Katalanischen. Diese Art von Aufhebung wird Neutralisierung genannt, zuerst 1937 und 1939 bei Jakobson ( Jakobson 1971a: 219; 1971b: 222), dann aber allgemein in der Linguistik bis heute. Man muss eben feststellen, wo bestimmte Oppositionen funktionieren. Die Neutralisierung ist ein wichtiger Begriff sowohl der deskriptiven als auch der historischen Linguistik geworden und weit über die Phonologie hinausgelangt. [Siehe zum Begriff und zur Theorie auch Akamatsu 1988.] Das Phänomen der Neutralisierung wurde auch in der Grammatik und in der strukturellen lexikalischen Semantik beobachtet. Die von Trubetzkoy getroffene Unterscheidung zwischen Neutralisierung und defektiver Distribution wird in der nordamerikanischen Phonemik nicht gemacht. Defektive Distribution besteht z.B. darin, dass / h/ im Deutschen nicht im Auslaut vorkommt, [z] im Italienischen nicht im Anlaut, ŋ weder im Deut‐ schen noch im Italienischen oder einer anderen romanischen Sprache im Anlaut. Im Französischen ist die, wie wir gesehen haben, grundsätzliche Aufhebbarkeit der Opposition / e/ - / ε/ auch in der Position „betonte Silbe + Auslautkonsonant (eventuell + [ə]) aufgehoben, weil in dieser Position nur [ε] möglich ist. Es sind 5.2 Neutralisierung 89 <?page no="90"?> also nur Formen wie le père, la mer, la mère, j’espère, je répète, belle, grossesse jeweils mit [ε] bzw. [ε: ] zu erwarten, keinesfalls *[ləˈpe: ʁ], *[laˈme: ʁ], *[ʒεsˈpe: ʁ], *[ʒəʁeˈpet], *[bel], *[gʁoˈses] usw. Wegen defektiver Distribution in der Position ist die Opposition dort aufgehoben. Aber die Unterscheidung ist auch nicht immer leicht zu treffen, weil eine Neutralisierung eigentlich immer nur in einer Position vorkommt, in der eines der Glieder der privativen Opposition unmöglich ist. Hier gilt es, Trubetzkoys Bedingung für eine Neutralisierung zu beachten: Die Opposition muss eindi‐ mensional sein. Das ist im Fall der Aufhebung der Stimmhaftigkeit im Auslaut gegeben, aber nicht bei der Positionsbeschränkung von / h/ im Auslaut im Deutschen und Englischen, denn an welche eindimensionale Opposition sollte man hier denken? Im Deutschen steht stimmloses / h/ in Opposition zu mehreren anderen stimmlosen Frikativen, z.B. / x/ , / ʃ/ , / s/ , / f/ , im Englischen zu / ʃ/ , / s/ und / f/ . Die Unterscheidung ist leicht, wenn die Bedingung der Neutralisierung gegeben ist wie z.B. im Deutschen / d/ - / t/ in Rad, Rades gegenüber Rat, Rates, wo also im Auslaut die Opposition eindeutig aufgehoben ist, aber spanisch / tr/ gegenüber unmöglichem */ tl/ bzw. / dr/ gegenüber nicht existentem */ dl/ ist schwer als Aufhebung einer Opposition anzunehmen und daher wohl er eine Positionsbeschränkung oder defektive Distribution. Von Synkretismus spricht man dagegen, wenn ein Unterschied, der für eine Sektion des Systems gilt, in einer anderen Sektion nicht gemacht wird. So sind / r/ , / l/ , / n/ und / m/ in vielen Sprachen nur stimmhaft und sind deswegen als ein Phänomen des Synkretismus anzusehen, da die Unterscheidung zwischen Stimmlosigkeit und Stimmhaftigkeit an anderen Stellen des jeweiligen Systems, z.B. bei Okklusiven, Frikativen und Affrikaten aber gilt. [Der Begriff hat sich nach Trubetzkoy vor allem in der deskriptiven Morphologie eingebürgert. Im Deutschen etwa wird in den Determinanten des Substantivs zwischen den Genera unterschieden (der Bürger - die Stube - das Kind, aber die Bürger - die Stuben - die Kinder; dieser Wald - diese Frau - dieses Buch, aber diese Wälder - diese Frauen - diese Bücher). Einen eingeschränkten Synkretismus finden wir bei der Genusmarkierung der Possessiva: mein Freund - meine Freundin - mein Haus, aber nur eine Form im Plural: meine Freunde - meine Freundinnen - meine Häuser.] Im Lateinischen ist dies bei der Kasusbildung öfter zu beobachten: Während zwischen Genitiv und Dativ bei der o-Deklination morphologisch unterschieden wird (avi ‘des Großvaters’ - avo ‘dem Großvater’), ist dies bei der a-Deklination im Singular nicht der Fall, wie übrigens an der gleichen Stelle auch im Deutschen, sichtbar im Artikel: aviae ‘der Großmutter’ (Genitiv und Dativ). Der Gegenbegriff zu Neutralisierung ist die Hypodistinktion, die eigens gemachte Unterscheidung, zum Archiphonem ist es das Hypophonem (siehe 90 5 Die Klassifikation der Oppositionen <?page no="91"?> 22 Glide wird in englischsprachigen linguistischen Untersuchungen für Halbvokale und manchmal auch für / h/ gebraucht. Der Begriff stammt aus der akustischen Phonetik. auch Akamatsu 1988, 370 sowie Lamb 2001, 212). Gibt es auch einen Gegenbe‐ griff zu Synkretismus? Gibt es Diakretismus? 5.3 Der Binarismus in der Phonologie und in der strukturellen Linguistik Zu Beginn der Phonologie der Prager Schule wurden die unterscheidenden Züge meistens als artikulatorische Eigenschaften beschrieben, nicht unbedingt nach einem Ja-Nein-Schema. Der für die strukturelle Linguistik typische Binarismus geht jedoch von jeweils entgegengesetzten Eigenschaften aus: Sie sind entweder positiv oder negativ, d.h. vorhanden oder nicht vorhanden. Während sie zu Beginn nicht unbedingt auditiv waren, sind sie bei heutigen Binaristen aber fast durchweg auditiv. Der Binarismus als Prinzip wurde zuerst eingeführt 1939 von Roman Ja‐ kobson, „Observations sur le classement phonologique des consonnes“, und zwar zunächst als Vortrag auf dem 3. Internationalen Kongress für Phonetik in Gent, dann in den Proceedings dieses Kongresses auf den Seiten 34-41 ( Jakobson 1939). Das Prinzip findet sich schon in diesem Beitrag: tout système vocalique obéit au principe de la dichotomie et se laisse réduire à un nombre restreint de qualités phonologiques formant des oppositions binaires. ‘Jedes Vokalsystem [und das Gleiche gilt für Konsonantensysteme] gehorcht dem Prinzip der Dichotomie und lässt sich auf eine begrenzte Anzahl phonologischer Eigenschaften zurückführen, welche binäre Oppositionen bilden.’ Die Theorie entwickelt er dann vor allem in Zusammenarbeit mit Morris Halle, letzendlich in Jakobson - Halle (1957). Dort werden zwölf Paare von entgegengesetzten Eigenschaften aufgeführt. Es handelt sich in der Mehrzahl um akustische Merkmale: I. - vokalisch/ nicht-vokalisch II. - konsonantisch/ nicht-konsonantisch. Dadurch gibt es vier Arten von Lauten: Vokale: + Vok. - Kons. Konsonanten: + Kons. - Vok. Liquida: +Vok. + Kons. Glides 22 : - Vok. - Kons. 5.3 Der Binarismus in der Phonologie und in der strukturellen Linguistik 91 <?page no="92"?> Hier wurden in letzter Zeit verschiedene andere Klassifikationen vorgeschlagen, z.B. von James McCawley (1967) und Dalibor Brozović (1967): Kons./ Nicht-Kons. silbenbildend/ nicht-silbenbildend rauschend/ nicht-rauschend vokalisch nicht-vokalisch Nasal Nicht-Nasal. III (früher VI) - nasal/ oral IV (früher III) - kompakt / diffus (akustisches Merkmal: mit größerer Energiekonzentration mit geringerer Energiekonzentration das heißt im hinteren Mund erzeugt / im vorderen Mund erzeugt (artukulatorisches Merkmal), z.B. / m/ , / p/ , / b/ ; / E7, / o/ , / i/ , / u/ . / abrupt (d.h. okklusiv, affrikativ, / r/ z.B. / ƞ/ , / k/ , / g/ , / a/ V (früher VI) - dauernd (d.h. frikativ + / l/ VI (früher (VIII) - scharf/ mild d.h. mit Geräusch hoher Intensität / mit Geräusch niedriger Intensität oder ohne Geräusch, z.B. / s/ - / θ/ / ʣ/ - / d/ / ʤ/ - / g/ / z/ - / δ/ / pf/ , / ʦ/ - / p/ , / t/ (im Deutschen) / ɽ/ - / r/ (im Tschechischen in Dvoř á k - Praha, Brno). VII (früher IX) - glottalisiert/ nicht-glottalisiert (oder rekursiv). das heißt im hinteren Mund erzeugt / im vorderen Mund erzeugt (artiku‐ latorisches Merkmal), z.B. / ŋ/ , / k/ , / g/ , / a/ z.B. / m/ , / p/ , / b/ ; / E/ , / o/ , / i/ , / u/ . V (früher VI) - dauernd (d.h. frikativ + / l/ / abrupt (d.h. okklusiv, affrikativ, / r/ VI (früher (VIII) - scharf/ mild - d.h. mit Geräusch hoher Intensität / mit Geräusch niedriger Intensität oder ohne Geräusch, z.B. - / s/ - / θ/ - / ʣ/ - / d/ - / ʤ/ - / g/ - / z/ - / δ/ - / pf/ , / ʦ/ - / p/ , / t/ (im Deutschen) - / ɽ/ - / r/ (im Tschechischen in Dvořák - Praha, Brno). VII (früher IX) - glottalisiert/ nicht-glottalisiert (oder rekursiv). Dies bedeutet „durch Explosion mit der Mundluft realisiert“ (wie der Glot‐ tisverschluss im Deutschen) gegenüber „durch Explosion mit der Lungenluft realisiert“ oder genauer „durch Explosion und gleichzeitiger Verengung der Stimmritze (Glottis) mit der Mundluft realisierter Laut“ usw., z.B. / p̰/ - / p/ in den kaukasischen Sprachen. VIII (früher V) - stimmhaft/ stimmlos 92 5 Die Klassifikation der Oppositionen <?page no="93"?> IX (früher IV) - gespannt/ ungespannt oder mit Tension/ ohne Tension So sind z.B. geschlossene Vokale gegenüber offenen stärker gespannt, also / e/ gespannt gegenüber ungespannterem / ε/ , stimmlose Plosive gespannt gegen‐ über ungespannten stimmhaften Verschlusslauten. X - dunkel/ hell d.h. „Energie in der niedrigen Frequenz konzentriert“ - „Energie in der hohen Frequenz konzentriert“. Manche Autoren unterscheiden auch zwischen a. dunkel/ nicht-dunkel (z.B. / m/ - / n/ , / ɲ/ oder / p/ - / t/ ) bzw. b. hell/ nicht-hell (z.B. / ɲ/ - / n/ . Für den Vokalismus existiert praktisch nur Xa, d.h. dt. / a/ , / o/ , / u/ als dunkel - / i/ , / e/ , / ø/ , / y/ als hell. XI - labialisiert (frz. bémolisé)/ nicht-labialisiert (non bémolisé, Dies betrifft / y/ , / ø/ gegenüber / i/ , / e/ ------------oder / u/ , / o/ gegenüber zentralen Vokalen wie / ɨ/ , / ɐ/ , / a/ . XII) - palatalisiert (diésé) / nicht-palatalisiert (non diésé), z.B. russ. / t‘/ - / t/ , / p‘/ - / p/ . Weitere binäre Paare, die vorgeschlagen worden sind, sind: tief / nicht-tief, wie z.B. / u/ , / o/ , / y/ , / ø/ gegenüber / a/ , / e/ , / i/ gleitend / nicht-gleitend (vgl. Heike 1969); reduziert / nicht-reduziert, z.B. die Kurzvokale des Altkirchenslavischen (vgl. Lunt 1974); implosiv / explosiv (vgl. Kuznecov 1957). [Siehe zur Geschichte des Binarismus in der Phonologie auch Henrici 1975 und Gil 1989.] 5.3 Der Binarismus in der Phonologie und in der strukturellen Linguistik 93 <?page no="95"?> II: Romanische Phonologie <?page no="97"?> 1 Zielsetzung und Grundsätze In diesem Teil unserer „Einführung in die Phonologie“ geht es um die Be‐ schreibung der romanischen Sprachen hinsichtlich ihrer Ausdrucksebene. Dazu wollen wir die romanischen Sprachen miteinander und mit anderen Sprachen, vor allem mit dem Deutschen, vergleichen. Wir wollen das Inventar der lautli‐ chen Ausdrucksmittel, ihre Struktur und ihre Distribution aufzeigen. Außerdem wollen wir die Erkenntnisse der Phonologie auf die Sprachge‐ schichte anwenden und dadurch zeigen, in welchem Maße das, was in den romanischen Sprachen geschieht, in einem neuen Licht erscheint. Dazu wollen wir die Arbeiten von Martinet (1955), Haudricourt-Juilland (1971), Amado Alonso (1967-1969), Alarcos Llorach (1961), Diego Catalán (1974), Helmut Lüdtke (1956), Harald Weinrich (1958), Luigi Heilmann (1955, 1967, 1971) und anderen heranziehen. Dabei wollen wir nicht unbedingt die sogenannten phonologischen Erklärungen in Betracht ziehen, die wir oft nicht akzeptieren können, sondern eher die Fakten selbst. Was geschieht eigentlich? Nicht eigentlich die Tatsache dass / k/ vor / e/ , / i/ zu / ʧ/ wird, ist interessant, sondern dass das Merkmal ‘palatal’ funktionell wird. Im Lateinischen konnte / k/ in der genannten Position auch [kˈ] oder später häufiger [ʧ] ausgesprochen werden, aber das waren immer noch nur Varianten des Phonems / k/ . Im Italienischen wird daraus nun ein eigenes, von / k/ getrenntes Phonem / ʧ/ , eine neue Einheit im System, die es vorher als Einheit des Konsonantensystems nicht gab. Das, was eigentlich geschieht ist, dass / k/ vor / a/ , / o/ , / u/ und auch vor / w/ im Nexus / k w / / k/ bleibt, also auch lat. quis > it. chi ‘wer? ’, sonst aber immer palatalisiert und über [kˈ] > [tˈ] > [ʧ], d.h. / ʧ/ wird (cervu(m) > it. cervo ‘Hirsch’, cerebellu(m) > cervello ‘Hirn’, ciconia > cicogna ‘Storch’, cimice(m) > cimice ‘Wanze’, circare > cercare ‘suchen’ usw. Die Veränderungen im span. Lautsystem im Siglo de Oro werden viel klarer, wenn sie phonologisch interpretiert werden. Zum Teil wird auch das ganze Bild anders. Die traditionelle Beschreibung Altspan. / s/ <s ss> - / ʦ/ <ç> → Neuspan. / s/ - / θ/ - → Amerik.span. / s/ Altport. / s/ <s ss> - / ʦ/ <ç> → Neuport. / s/ Altkat. / s/ <s ss> - / ʦ/ <ç> → Neukat. / s/ ergibt ein verändertes Bild und eine wirklich Erklärung für das Geschehen, wenn man berücksichtigt: <?page no="98"?> Altspan. / ś/ - / s/ Neuspan. / ś/ - / θ/ Altport, / ś/ - / s/ - Neuport. / s/ Altkat. / ś/ - / s/ - Neukat. / ś/ Altspan. / ś/ - / s/ - Amerik.Span. / s/ Das bedeutet, dass wir im Portugiesischen und Amerikanischspanischen den Zusammenfall der alten Phoneme zu / s/ haben, also keine Fortsetzung des alten / s/ , sondern des alten / ʦ/ , also der Ceceo generalisiert worden ist, nicht der Seseo, wie man üblicherweise sagt. Der Seseo ist die Fortführung von / ś/ im peninsularen, nicht-andalusischen Spanisch, in Opposition zu / θ/ , welches die Fortsetzung von altem / ʦ/ ist. Der historische Ceceo im Amerikanischspa‐ nischen und Portugiesischen hat dagegen / s/ in der Lautung [s] fortgesetzt während, das Katalanische das apiko-alveolare / ś/ hat wie das Kastilische. Wir nehmen uns hier vor, auch auf die praktische Anwendung der Ergebnisse der Phonologie zu achten. Dazu gehört z.B. die Beantwortung von Fragen wie: Welche Unterschiede muss man in einer bestimmten romanischen Sprache un‐ bedingt machen? Welche muss man an erster Stelle lernen? Dies impliziert eine Rangordnung oder Hierarchie der Fakten bezüglich der Aussprache. So besteht man z.B. oft auf der Ausmerzung der „hässlichen“ Aspiration von / p/ , / t/ , / k/ durch Deutsche oder Engländer. Das ist natürlich richtig, wenn man einiger‐ maßen authentisch sprechen will, denn die romanischen Sprachen aspirieren nicht. Diese Tatsache ist jedoch für das gegenseitige Verständnis nicht besonders entscheidend. Dagegen hat aber die Sonorisierung von / p/ , / t/ , / k/ bzw. die Entsonorisierung von / b/ , / d/ , / g/ schwerwiegende Folgen. Die Verletzung der systematischen Opposition ist hier ein schwerer Fehler, der die gegenseitige Verständigung durchaus stören kann. Man beachte z.B. Minimalpaare wie frz. bas - pas bar - par toit - doit. Wenn jemand choisir als [ʒwɑ‘si: R] statt [ʃwɑzi: R] ausspricht, wird er/ sie un‐ verständlich. Man darf nicht boisson ‘Getränk’, poisson ‘Fisch’ und poison ‘Gift’ miteinander verwechseln, denn [b̟wɑˈzõ] pour manger, pour boire est pour mourir. Umgekehrt stört im Deutschen die Nichtaspirierung sehr: Nichtaspirierte stimmlose Verschlusslaute werden oft als stimmhafte interpretiert, die nicht‐ aspirierten Verschlusslaute sind im Deutschen stimmhaftes / b/ , / d/ , / g/ . Die Berücksichtigung der Norm hilft auch, den Unterschied zwischen Norm (übliche Aussprache) und System (phonologisches funktionelles System) besser zu ver‐ stehen. Die Vokallänge ist sicherlich wichtig im Französischen (vor den consonnes allongeantes und bei betonten Nasalvokalen vor folgendem Konsonanten wie 98 1 Zielsetzung und Grundsätze <?page no="99"?> in tante, grande, monde, lente gegenüber lent, longue [lõ: g] gegenüber long [lõ]), auch im Italienischen, wo sie automatisch bei betonten Vokalen in offener Silbe eintritt (caro, amato, avuto gegenüber carro, matto, spento, tutto), aber sie ist kaum funktionell, auch im Französischen kaum noch bei seltenen Oppositionen wie / ε/ / ε: / in mettre - maître. Dagegen ist die Vokallänge im Deutschen grund‐ sätzlich funktionell: Wer Bahnhof mit kurzem / a/ und kurzem [ɔ] ausspricht, riskiert unverstanden zu bleiben. Ebenso, wer Mut mit kurzem [ʊ] statt mit [u: ] ausspricht. Ebenso ist die Konsonantenlänge im Italienischen oft funktionell und immer normativ wichtig. Ohne geeigneten Kontext sind Aussprachen wie [ˈspa: la] für spalla [ˈspal: a] ‘Rücken’ an der Grenze der Unverständlichkeit. Selbst im Fran‐ zösischen gehören einige schriftsprachlich bedingte Längungen inzwischen zur Norm, z.B. in Präfixbildungen wie immortel, innovation. Eine funktionelle Opposition zwischen kurzen und langen Vokalen sowie kurzen und langen Konsonanten ist auch aus vielen anderen Sprachen bekannt, in Europa z.B. im Finnischen und Ungarischen. Die Abwesenheit solcher Oppositionen ist dagegen typisch für das Spanische, Katalanische, Rumänische, aber auch das Neugriechische oder slawische Sprachen wie Russisch und Bulgarisch. Im Spanischen ist es zwar normativ wichtig, die intervokalischen stimm‐ haften / b/ , / d/ , / g/ als [β], [δ], [γ], d.h. als Reibelaute auszusprechen, aber funk‐ tionell ist das völlig belanglos, denn es gibt keine phonologischen Oppositionen, deren Nichtbeachtung hier die Verständlichkeit beeinträchtigen würden. Andererseits sind die Schwierigkeiten bei der Erlernung oder dem Umgang mit einer fremden Sprache sehr verschieden. Es ist durchaus schwieriger, neue Phoneme mit neuen unterscheidenden Zügen zu lernen und handzuhaben wie z.B. französische Nasalvokale, portugiesische Nasalvokale (z.B. in lă, bom, pensar, fim, um) und Nasaldiphthonge (wie in c-o - c-es, naçδes, muito, vem), zentrale Vokale wie rumänisch [ɐ] <ă> oder [ɨ] <î, â> oder / ʎ/ wie im Italieni‐ schen, Katalanischen, Spanischen, Portugiesischen, / ɲ/ wie im Italienischen, Ka‐ talanischen, Spanischen, Portugiesischen und Französischen als neue Phoneme, die schon bekannte unterscheidende Züge aufweisen wie / ʒ/ als stimmhaftes Gegenstück zu schon bekanntem / ʃ/ , / ʣ/ im gleichen Verhältnis zu / ʦ/ , / ʤ/ im Gegensatz zu / ʧ/ . Der unterscheidende Zug ist jeweils die Sonorisierung, die man schon aus anderen Bereichen des Lautsystems kennt. Ähnlich ist es, wenn man nur eine neue Distribution lernen muss. Ein Norddeutscher, der / z/ nur im Anlaut und Inlaut kennt (Sonne [ˈzɔnə], dösen [ˈdøzən]) und ein Süddeutscher, dem das gleiche Phonem nur im Inlaut vertraut ist (dösen [ˈdøzən], aber [ˈsɔnə]), nicht aber auch im Auslaut, muss neu lernen, dass es im Französischen wie im Englischen in allen Positionen möglich ist, 1 Zielsetzung und Grundsätze 99 <?page no="100"?> wobei Deutschsprachigen gerade die Realisierung im Auslaut schwerfällt (frz. rose, (il/ elle) utilise, crise, quinze, bronze, base, Muse). Im Anlaut geht es um Oppositionen wie in celle - zèle, Saône - zone, im Inlaut wie in casser - caser, im Auslaut wie in basse - base, cesse - Cèze, nièce - niaise. In solchen Fällen haben wir nichts Neues im Inventar der Phoneme, sie tauchen nur an anderen Stellen auf. Es gibt aber eben auch Fälle, wo es sich nur um eine andere Realisierung eines Phonems handelt, z.B. [t h ] für / t/ vor Vokal, aber [t] nach / s/ wie in die Besten, Meisten, Klügsten usw. oder die hochdeutsche Aussprache von / s/ als [ʃ] vor folgendem Verschlusslaut oder Liquid wie in stehen, sprechen, schreiben, schlürfen usw. Oder man denke an die Aussprache von geschlossenem / o/ im Italienischen, z.B. in corto, das weniger geschlossen ist als deutsches / o: / , aber eben auch nicht so offen wie kurzes deutsches [ɔ] in offen oder langes italieni‐ sches [ɔ: ] wie in poco, gioco. Auch die deutschen geschlossenen kurzen Vokale / i/ und / u/ werden in den romanischen Sprachen anders realisiert, weniger kurz und nicht leicht geöffnet, also [i], [u] und nicht wie im Deutschen [ɪ] wie in ich bin in Linz und [ʊ] wie in Butter, Mutter, Kunst. Materielle Übereinstimmung bedeutet nicht unbedingt auch funktionelle Gleichwertigkeit. So sind im Englischen und Deutschen bei den Lautungen [b] - [ph], [d] - [t h ], [g] - [k h ] vor Vokal die jeweils stimmlosen nur normativ gegebene Varianten von / p/ , / t/ , / k/ , im Altgriechischen waren es aber eigene Phoneme in einem Phonemparadigma. / b/ - / p/ - / p h / - / d/ - / t/ - / t h / - / g/ - / k/ - / k h / Β------π------ϕ - Δ------τ------ϑ - Γ------κ-------χ. Das Phonem / ɨ/ , d.h. rum. <î, â>, russ. <ы>, ist in beiden Sprachen akustisch gleich, im Rumänischen aber ein eigenes Phonem, im Russischen dagegen die automatische Lautung von / i/ nach harten, d.h. nicht-palatalen Konsonanten. So ist dort in der Norm nach / ʃ/ , / ʒ/ und / ʦ/ nur [ɨ], nicht [i] möglich. So ist im Russischen auch das Verhältnis zwischen [je] <е> und [e] <э>, [ju] <ю> und [u] <у>, [ja] <я> und [a] <а>, [jo] <ё> und [o] <о>. Phonologisch handelt es sich um / e/ , / u/ , / a/ und / o/ . 100 1 Zielsetzung und Grundsätze <?page no="101"?> 2 Kommentierte Bibliographie 2.1 Vergleichende Darstellungen In vergleichender Hinsicht gibt es nur sehr wenige Titel, darunter vor allem - Göran Hammarström (1957), „The Romance Languages“, in L. Kaiser, Ma‐ nual of Phonetics, 279-288. Siehe ebendort zum Vergleich Brosnahan, L. F. & Otto von Essen (1957), „The Germanic Languages“, in: Louise Kaiser (ed.), Manual of phonetics, Amsterdam: North Holland Publishing Company, 289-301. Interessant sind insbesondere die Phonemtableaus S. 280 für die romanischen Sprachen und S. 293 für die germanischen Sprachen. Einiges kann man schon auf den ersten Blick sehen: So haben die meisten germanischen Sprachen zwei Realisationen von / i/ , nämlich [i] und [ɪ], die romanischen Sprachen nur [i]. In einigen romanischen Sprachen gibt es Na‐ salvokale (Französisch, Portugiesisch), keine dagegen in den germanischen Literatursprachen. Ein Phonem / ŋ/ gibt es in allen germanischen Sprachen, wohingegen es in romanischen Sprachen allenfalls ein Randphänomen in Anglizismen aus neuerer Zeit ist. In verschiedenen romanischen Sprachen existieren dagegen die palatalen Phoneme / ʎ/ , / ɲ/ , die man wiederum in den germanischen Sprachen nicht kennt. Die gerundeten Vokale / y/ , / ø/ sind für die meisten germanischen Sprachen typisch - im Englischen verloren gegangen, in den romanischen Literatursprachen aber nur im Französischen präsent. Affrikaten wie / ʧ/ , / ʤ/ erscheinen als Phoneme in früheren Formen aller romanischen Sprachen, kaum dagegen in germanischen Sprachen, im Englischen seit der mittelenglischen Epoche. - Harry A. Deferrari, The Phonology of Italian, Spanish and French, Wa‐ shington 1954. - Bertil Malmberg, „La structure phonétique de quelques langues romanes“, Orbis 11, (1962), 131-178, auch in Malmberg (1971b), 301-342. [Dazu aus neuerer Zeit: Zita Hess (1975), Amedeo De Dominicis 2001 2 , Pietro Maturi (2014 3 ). Hier wie in den folgenden Abschnitten IIIa, IIIb, IIIc sind vor allem Arbeiten zur klassischen Phonologie und Phonetik berücksichtigt. Die neuere Entwicklung ist aber gerade durch die viel stärkere Erforschung von Phänomenen der Intonation, der suprasegmentalen Einheiten (Akzent, <?page no="102"?> Tonhöhe, Quantität), der Silbeneinheit und Silbenabfolge gekennzeichnet. Sie konnten hier im Einzelnen nicht aufgeführt werden.] 2.2 Zum Lateinischen - Für das Lateinische ist die beste Darstellung die von Sebastián Mariner Bigorra, „Fonemática latina“, in Mariano Bassols de Climent, Fonética latina, Madrid 1962, Neudruck 1967, 249-271. - Kürzer ist Wilhelm Brandenstein, „Kurze Phonologie des Lateinischen“, in: Franz Altheim, Geschichte der lateinischen Sprache, von den Anfängen bis zum Beginn der Literatur, Frankfurt: Vittorio Klostermann 1951. [Brandenstein hatte auch eine Einführung in die Phonetik und Phonologie, Wien 1950, geschrieben.] - A. A. Hill, Introduction to Linguistic Structures, New York 1958, 441-446. 2.3 Zum Französischen - Georges Gougenheim, Eléments de phonologie française, Paris 1935 (Gou‐ genheim ist ein Maximalist). - Robert A. Hall Jr., French, Baltimore 1948, 9-19 (beschreibt auch die Distri‐ bution). - Roman Jakobson & J Lotz (1949), „Notes on the French phonemic pattern“, Word 5, 151-158. - Knud Togeby, Structure immanente de la langue française, Kopenhagen 1951, 73-88. Neue Auflage Paris 1965, 50-60 (Togeby ist ein Minimalist). - André Martinet, „Remarques sur le système phonologique du français“, Bulletin de la Société de Linguistique de Paris (BSLP) 34 (1933), 191 ff. - André Martinet, La prononciation du français contemporain, Paris 1945, Neuauflage Genf 1971. - André Martinet, „Les traits généraux de la phonologie du français“, in Phonology as functional phonetics, London 1949 (enthält die Ergebnisse der Prononciation). - André Martinet, Le français sans fard, Paris 1949, Nachdrucke Paris 1969, 1974 (insbesondere zu den neuen Entwicklungen im Französischen). - Bertil Malmberg, „Observations sur le système vocalique du français“, Acta Linguistica Hafniensia (AL) 2, 1940-1941, 232-246. 102 2 Kommentierte Bibliographie <?page no="103"?> - Bertil Malmberg, „Bemerkungen zum quantitativen Vokalsystem im mo‐ dernen Französisch“, AL 3, 1942. 44-56. - Bertil Malmberg, Le système consonantique du français moderne : étude de phonétique et de phonologie, Lund-Leipzig 1943. - Georges Straka, La prononciation parisienne, Straßburg 1952. - Göran Hammarström, Fransk fonetik, Stockholm 1960. deutsch: Französische Phonetik, Tübingen, 1972, 3. Aufl.: Französische Phonetik: Eine Einführung, Tübingen, 1998. - Hans-Wilhelm Klein, Phonetik und Phonologie des heutigen Französisch, München: Hueber, 1963; 2. Auflage 1966, Berlin 1970 (mit Bibliographie, jedoch mit Fehlern, die zweite Auflage ist besser). [Siehe dazu aus neuerer Zeit Jean-Élie Boltanski (1999), Durand, Jacques/ Laks, Bernard (eds.) (2002a, 2002b), Durand/ Laks, Bernard/ Lyche, Chantal (Hrsg.) (2009), Trudel Meisenburg/ Maria Selig (1998), Trudel Meisenburg/ Maria Selig (2004), Rothe (1978 2 ), Pustka (2007), (2016), Straka (1990).] 2.4 Zum Italienischen - Giovanni Porru, „Anmerkungen über die Phonologie des Italienischen“, TCLP 8 (1939), 187-208. - Robert A. Hall, Descriptive Italian Grammar, Ithaca, N.Y., 1948, 7-17. Neu‐ auflage. La struttura dell’italiano, Roma 1971, 19-66. - Arrigo Castellani, „Fonemi e fonotipi in italiano“, Studi di filologia italiana 14 (1956), 435-453. - Bertil Malmberg, „A propos du système phonologique de l’italien“, AL 3 (1942), 34-43. - Giuliano Bonfante und Maria Luisa Porzio Gernia, Cenni di fonetica e di fonematica con particolare riguardo all’italiano, Torino 1964. - Klaus Lichem, Phonetik und Phonologie des heutigen Italienisch, München 1969 (mit guter Bibliographie). [dazu aus heutiger Sicht: Matthias Heinz und Stephan Schmid, Phonetik und Phonologie des Italienischen. Eine Einführung für Studierende der Romanistik, Berlin: de Gruyter, 2021.] - Žarko Muljačić, Fonologia generale e fonologia della lingua italiana, Bologna 1969 (sehr umfangreiche Bibliographie mit mehr als 880 Titeln). 2.4 Zum Italienischen 103 <?page no="104"?> [Wichtigere Arbeiten aus neuerer Zeit sind in alphabetischer Reihenfolge Albano Leoni/ Maturi (1995), Bertinetto, Pier Marco (1981), Bertinetto, Loporcaro (2005), Amedeo De Dominicis (2003), Martin Krämer (2009), Michele Loporcaro (2003), Pietro Maturi (2014 3 ), Nespor (1993), Savola (2014), Schmid (1999)] 2.5 Zum Spanischen - G. L. Trager, „The phonemes of Castilian Spanish“, TCLP 8 (1939), 217-222. - Tomás Navarro Tomás, Estudios de fonología española, Syracuse (N. Y.): Syracuse University Press, 1946. - Emilio Alarcos Llorach, “El sistema fonológico español”, RFE 33 (1949), 265-296. - Emilio Alarcos Llorach, Fonología española, tercera edición, Madrid 1961 (auch eine ausgezeichnete Einführung in die Phonologie, sowohl sychro‐ nisch als auch diachronisch). - Antonio Quilis und J. A. Fernández, Curso de fonética y fonología española, segunda edición, Madrid 1966 (ist für Ausländer, insbesondere für Englisch‐ sprachige gedacht). - Tomás Navarro Tomás, Manual de pronunciación española, sexta edición, Madrid: C.S.I.C., 1950. [Dazu aus neuerer Zeit: Jutta Blaser (2007), J. Halvor Clegg & Willis C. Fails (2018), Sonia Colina (2009), Christoph Gabriel, J. I. Hualde (2005), Trudel Meisenburg & Maria Selig (2013), Pustka (2021), Quilis (1993) Real Academia Española (2011).] 104 2 Kommentierte Bibliographie <?page no="105"?> 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen Das erste Problem bei der funktionellen Beschreibung ist die funktionelle Sprache. Sie ist der eigentliche Gegenstand der Beschreibung: Bei einer histori‐ schen Sprache wie dem Italienischen, dem Französischen, dem Spanischen sind drei Arten von Unterschieden zu berücksichtigen, die als solche freilich auch wieder Simplifizierungen und Abstraktionen sind: - diatopische Unterschiede (betreffen Unterschiede im Raum, also Dialekte), - diastratische Unterschiede (betreffen verschiedene Sprachschichten wie z.B. die Sprache der Ungebildeten, der Gebildeten, von Jungen und Alten, Män‐ nern und Frauen, bestimmter Berufszweige und ihrer Fachsprachen, z.B. Juristen, Mediziner, Seeleute, Techniker, Theologen, Wirtschaftsfachleute), - diaphasische Unterschiede (betreffen Sprachstile wie z.B. Vulgärsprache, Argot, sachliche Sprache der Nachrichten, bürokratischer Stil, poetischer Stil, religiöser Stil der Gottesdienste usw.). In diatopischer Hinsicht wollen wir hier nur die jeweilige Gemeinsprache (langue commune) beschreiben, aber auch sie bildet keine Einheit, sondern weist ihrerseits eine diatopische (regionale), diastratische (z.B. soziologische) und diaphasische Differenzierung je nach dem Anlass des Sprechens oder den Adressaten auf. Was die Phonologie betrifft, so weist vor allem das Französische große innere Unterschiede auf und dies aus verschiedenen Gründen: 1. Aus historischen Gründen gibt es viel mehr Pflege im Bereich der Gram‐ matik als in dem der Aussprache. Zwar ist diese seit Jahrhunderten normiert, aber mehr in dem Sinne, dass dialektale Aussprachen bekämpft wurden, aber nicht so sehr Abweichungen, die innerhalb der Gemein‐ sprache existieren. 2. Wegen der allzu sehr von der Aussprache abweichenden Rechtschreibung. Daher gibt es einen großen Einfluss der Orthographie auf die Aussprache. Historische Schreibungen wie <ign> für heutiges <gn> haben zu der Aussprache [mõtεɲ] für altes [mõtaɲ] für Montaigne geführt, die jetzt schon allgemein ist. So auch [-pwaɲ] für empoigne statt ursprünglichem [-pɔɲ]. Moignon ‚Stumpf, Stummel‘ wird nur noch selten [mɔɲõ] ausgesprochen, üblich ist heute [mwaɲõ]. Oignon wird dagegen immer noch [ɔɲõ] ausge‐ sprochen, aber man hört seit Langem auch schon [waɲõ], ganz nach der heute gültigen Relation Schriftbild - Laut. <?page no="106"?> Unter unseren Augen werden die Fälle der Geminierung aufgrund der Rechtschreibung häufiger, obwohl das Französische eigentlich - außer in den seltenen Fällen der Wortzusammensetzung - gar keine Doppelkon‐ sonanz in der Aussprache kennt, also Fälle, die auf Schreibungen wie illustre, collaborer, collègue, grammaire und sogar aller (siehe dazu auch Martinet (1949, bzw. 1971, 191-196). Heutzutage hat auch das oft affektierte Sprechen von Journalistinnen und Journalisten in Radio und Fernsehen seinen Anteil an der Verbreitung solcher künstlicher Aussprachen. Ein Einfluss der Schrift auf die Aussprache ist historisch auch bei der allmählichen Wiederhörbarmachung ursprünglich stummer Auslautkon‐ sonanten wahrzunehmen. Vom späteren Altfranzösischen bis zum Höhe‐ punkt des Mittelfranzösischen im 15. Jahrhundert waren praktisch alle Auslautkonsonanten verstummt. Dann begann die Gegenbewegung, die in bestimmten Fällen zur erneuten Aussprache dieser Konsonanten führte, so z.B. in but, bus, arc, tous, z.T. auch août. Dies war und ist freilich oft durch das Bestreben der lautlichen Differenzierung von Homonymen erfolgt: im Falle von but und bus zur Differenzierung von den Verb- und Partizipialformen il/ elle but, il/ elle a bu, bei arc von art, bei tous der Form des Pronomens von der des Determinanten wie in tous les hommes, aber auch von der pronominalen Singularform tout. Bei der Aussprache [ut] für août ‘August’ geht es um die Homonymendifferenzierung von ou ‘oder’ und où ‘wo’ einerseits, andererseits aber auch darum, dem sonst nur aus einem Vokal bestehenden Wort etwas mehr Lautfülle zu verleihen. 3. Die allzu starre Fixierung der gehobenen Aussprache in gewissen Berei‐ chen hat seit einigen Jahrzehnten das ganze System in Bewegung geraten lassen. Wir werden einzelne dieser Bereiche im Folgenden noch sehen. Trotz der geringeren allgemeinen Fixierung gibt es im Italienischen und Spanischen weniger Unterschiede in der Aussprache der Standardsprache, merkwürdigerweise am wenigsten im Italienischen. Im Italienischen gibt es kaum diaphasische Unterschiede. die größeren Unterschiede sind diatopischer Natur. Nach De Mauro (1970: 159-201) gibt es vier „varietà regionali“: Süditalienisch, Norditalienisch, Toskanisch, Römisch. Für das Norditalienische würde ich noch zwischen West-Norditalienisch und Venetisch unterscheiden. 106 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="107"?> In der Sprache der Gebildeten sind die Unterschiede ziemlich gering und kaum phonematisch oder betreffen nur periphere phonematische Unterschiede wie / s/ - / z/ , / ʦ/ - / dz/ , / e/ - / ε/ , / o/ - / ɔ/ [siehe dazu detaillierter unten 3.2.2.1 sowie Heinz/ Schmid (2021, 156-171)]. Im Spanischen sind es auch in erster Linie Regionalunterschiede. Sie sind im Allgemeinen in Spanien größer als in Spanisch-Amerika. Zwei Arten sind zu unterscheiden: In Gegenden des Bilinguismus (Katalonien, Galicien, Baskenland) sind sie in der Sprache der Gebildeten kaum phonematisch. Im Kastilischen im engeren Sinne sind die Unterschiede zwischen dem nördlichen und zentralen Kastilischen und dem Andalusischen am größten, größer als die der zweisprachigen Gebiete. Es gibt jedoch auch diastratische Unterschiede. Diese sind besonders stark in Madrid und beruhen letzten Endes wieder auf diatopischen Merkmalen, denn sie erklären sich durch den großen Einfluss des Andalusischen in der spanischen Hauptstadt. 3.1 Französisch Nach den einleitenden allgemeinen Bemerkungen kommen wir nun im Beson‐ deren zunächst zum Französischen. [Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf den Arbeiten von Martinet, ohne dass sich das Fehlen von näheren bibliographischen Angaben bei Coseriu in jedem Fall beheben lässt.] Im Französischen gibt es einerseits Regionalunterschiede: parler méridional - français normal. Im sogenannten „français normal“ lässt sich wiederum unterscheiden zwischen dem „français central“ und dem „français périphérique“ (Bretagne, Nord, frankoprovenzalisches Gebiet). 3.1 Französisch 107 <?page no="108"?> Be = Bretagne, M = Midi, N = Nord, SO = Südosten, Z = Zentrum Abb. 1: Die regionalen Zonen des Französischen in Frankreich, von Coseriu adaptiert nach Martinet (1945, 30) [1971, 30]) Das „français méridional“ ist nach Martinet (1970, 79) durch folgende Züge charakterisiert: a. Das Vokalsystem ist auf die Archiphoneme / I, E, Y, Œ, A, O, U/ reduziert. b. Es gibt keine Nasalphoneme, d.h. keinen Unterschied zwischen vokalischen Nasalphonemen und einer Abfolge / A/ + / n/ , / m/ ; / O/ + / n/ , / m/ usw. c. Bewahrung von silbenauslautendem -[ə], realisiert als Variante von / Œ/ . Letzteres mag diskutierbar sein. Es geht um die Aussprache z.B. in je me dis, je me demande, je me le demande. Sogar in calepin wird das <e> im Süden in 63% der Fälle realisiert. Dabei handelt es sich natürlich nicht um alle Südfranzosen. Nach Martinets Umfrage (Martinet 1945) schwankt die Anzahl der südfranzösischen Offiziere, die gleiche Antworten wie die nordfranzösischen gegeben haben, zwischen 10% und 30%, in bestimmten Fällen auch darüber. Allerdings sprachen 60% der von 108 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="109"?> ihm befragten Offiziere in einem Gefangenenlager in Deutschland das „français méridional“, wobei es sich um verhältnismäßig gebildete Personen handelte. Das Französisch der übrigen Regionen ist in statistischer Hinsicht ein System, wenn auch bestimmte Regionen durch je eigene Züge charakterisiert sind. - So zeichnet sich die franko-provenzalische Gegend durch das Zusammen‐ fallen von / lj/ und / j/ aus, das heißt, z.B. soulier, escalier, million werden [suˈje], [eskaˈje], [miˈjõ] ausgesprochen. - Die Bretagne kennzeichnet in Martinets Untersuchung die starke Reduzie‐ rung der Quantitätsunterschiede, also der heute fast überall gänzliche ge‐ schwundene Längenunterschied z.B. zwischen fête ‘Fest’ bzw. faîte ‘Gipfel, Wipfel, First’ und faite (Part. Perf. Fem. von faire ‘machen’) (Martinet (1949a), [1971, 126-129], maître ‘Lehrer, Meister’ und mettre ‘setzen, stellen, legen’, bêle ‘blökt, meckert’ und belle ‘schön (Fem.)’, mâle ‘männlich’ und malle ‘Koffer’ bzw. mal ‘Übel’. Dabei ist auch die Unterscheidung zwischen velarem / ɑ/ wie z.B. in pâle ‘bleich’ und palatalem / a/ wie z.B. in palle ‘(Ruder)blatt, (Rad)schaufel’ weitgehend aufgehoben (siehe dazu auch Martinet 1969, 181-186). - Sogar das „français central“, d.h. weitflächig um die Ile de France herum, von der Lorraine bis zur Normandie, von der Bourgogne und dem Morvan bis zur Touraine, gibt es ein gut ausgeprägtes „français régional“, das sich noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. durch die Bewahrung funktio‐ neller Quantitätsunterschiede auch bei / u/ , / y/ , / i/ und / e/ auszeichnet, also über die oben genannten Fälle bezüglich / ε/ und / a/ bzw. / ɑ/ hinausgeht. So werden Wörter wie boue, bue, plie, finie, aimée, année dort mit langem Vokal, bout, bu, pli, fini, armé, aimé dagegen mit kurzem Vokal gesprochen (siehe Martinet (1949a) [1971, 100-109] und Martinet 1969, 177-178). Statistisch jedoch verschwinden diese charakteristischen Züge zugunsten der gemeinsamen Züge des „français normal“. Diese Züge sind jedoch gerade nur statistisch gemeinsam, d.h. die meisten Sprecher machen zwar die von Martinet untersuchten Unterschiede, aber die „meisten“ sind nicht dieselben Sprecher, sondern z.T. jeweils andere: 3.1 Französisch 109 <?page no="110"?> 23 Aus heutiger Sicht ist erklärend anzumerken, dass es zu Zeiten von Coserius Vorle‐ sungen natürlich noch keine Genderdiskussion gab, erst recht nicht zu der Zeit, als Martinet seine Untersuchungen formulierte. Sprecherinnen waren unter Sprechern subsumiert und allenfalls als weibliche Sprecher behandelt. Bei Martinets Umfrage ging es zudem ausschließlich um männliche Sprecher, Wir übernehmen Coserius Sprachverhalten, da es in unserem Zusammenhang ausschließlich um Klassen von Leuten geht, die etwas tun. Diese Wörter haben zwar ein grammatisches Genus, berücksichtigen aber nicht den hier unerheblichen Sexus, andere: e - ε a - ɑ u - u: usw. Schema der Überlappung der Phonemdistinktionen bei den Sprechern 23 Das „einheitliche System“ entspricht nicht einmal einem Viertel der Infor‐ manten. Bei den Vokalen gab es nicht einmal zwei Informanten mit demselben System, wenn man auch die Distribution der Vokale berücksichtigt. So z.B. sprechen von den Informanten von Martinet (1949a) [1971, 46] 50,6% ours(e) blanc ‘Eisbär’, aber nur 27% arc(que)-boutant. ‘Bogenpfeiler, Schwibbogen’. Gai wird [ge] und [gε] gesprochen. Es sind aber nicht unbedingt dieselben Sprecher, die [ge] aussprechen, die auch quai als [ke] sprechen. In ähnlicher Weise sprechen nicht unbedingt dieselben Sprecher, die [gε] sprechen, auch quai als [kε]. Überraschenderweise gibt es neben der üblichen Aussprache [e] für et und [ε] für est auch die umgekehrte Realisierung, und wiederum sind es nicht unbedingt dieselben Sprecher, die auch [ge] bzw. [gε] oder [ke] bzw. [kε] sprechen (siehe Martinet (1949 [1971, 122-125]. All dies zeigt, dass die Opposition / e/ - / ε/ in diesen Fällen nicht relevant ist. Sie wird allerdings in höherem Maße gemacht, wo es um Bedeutungsunterschiede geht wie zwischen dem Partizip Perfekt und dem Imperfekt (piqué - piquait in Martinets Beispielen) (Martinet 1949 [1971, 117-119], im Midi insgesamt jedoch weniger als in der „France non méridionale“, siehe dazu auch Walter (1976, 138-182). Ähnliches gilt auch für die Unterscheidung bzw. Nichtunterscheidung von / a/ und / ɑ/ , auch hier ist die Nichtunterscheidung z.B. bei là - las, rat - ras usw. im Süden deutlich höher als in der „France non méridionale“ (Martinet 1949a [1971, 73-79]. Die Unterscheidung zwischen / ɔ/ und / o/ schwankt auch im Inlaut da, wo sie nicht der Bedeutungsunterscheidung dient, etwa zwischen [mɔvε] und 110 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="111"?> [movε] für mauvais, [ɔˈra] und [oˈra] für aura. Aber auch da, wo es um die Unterscheidung zwischen sotte und saute, molle und môle gehen sollte, ist der Prozentsatz der Nichtunterscheidung erstaunlich hoch, besonders im Süden, in der Bretagne und im Norden (Martinet 1949a [1971, 90-93]. Wie in so vielen anderen Fällen verlässt man sich auf den Kontext, um Verwechslungen zu vermeiden. Trotz dieser und vieler anderer Schwankungen kann man von einem überwie‐ gend einheitlichen phonologischen System sprechen, jedenfalls in statistischer Hinsicht. Für das „français non méridional“, insbesondere für das Pariser Französisch unterscheidet Robert Hall (1948a), der nur das „standard French“ berücksichtigt, drei Stufen: archaic, slow colloquial, fast colloquial. Kriterien sind 1. die allgemeine Aussprache von [ə], besonders im Auslaut, 2. die Aussprache von [ə] nach anlautenden Konsonanten sowie vor und nach gewissen Konsonantennexus: [ʒəsε] für je sais, [matablədnɥi] für ma table de nuit, 3. Schwinden von [ə] auch nach anlautenden Konsonanten sowie vor und nach Konsonantennexus mit / l/ und / r/ , die vereinfacht werden: [ʃsε] für je sais, [matabdenɥi] für ma table de nuit. Dazu kommt das Zusammenfallen der Phoneme / a/ - / ɑ/ wie in ta - tas; / e/ - / ε/ in été und était sowie von / ø/ - / œ/ wie in jeûne und jeune. H.-W. Klein (1966) berücksichtigt auch das „français populaire“ und unter‐ scheidet vier Stufen: a. die feierliche Aussprache der Comédie française, des Conservatoire und der Rezitation, b. die Aussprache der Predigt, der öffentlichen Rede, des Vortrags, c. die ungezwungene, aber gepflegte Aussprache der gebildeten Kreise in Paris, d. die nachlässige, populäre Aussprache. Kleins Kriterien sind z.T. etwas differenzierter als die von R. Hall: Zu a.: die Aussprache [lε, mε, tε, sε] für les, mes, tes, ses, die Aussprache aller [ə] vor Konsonanten, alle möglichen liaisons. 3.1 Französisch 111 <?page no="112"?> - Zu b.: die expressive Vorverlagerung des Akzents, zahlreiche liaisons, z.B. auch zwischen dem Infinitiv der Konjugation auf -er und folgendem Vokal, Aussprache von Doppelkonsonanz, eingeschobene [ə] nach dem „Dreikonsonantengesetz“ wie in table de nuit, Georges V, ours blanc (vgl. unten §-8.2.2.3). - Zu c.: Dies ist die „Normalsprache“ ohne besondere Züge. - Zu d.: Dehnung von vortonigem / ɑ/ und / a/ : [sɑ: pε̃], [gɑ: to]], Tendenz zur Öffnung von / a/ vor / ʁ/ : Paris [pʁˈri], Tendenz zur Öffnung und Palatalisierung von / ɔ/ und / u/ (joli [ʒœˈli], poule [pʊl], Tendenz zur Schließung von / ε/ zu / e/ , z.B. in j’avais, billet, jamais usw.). Wenn wir beide Unterscheidungen kombinieren, ergeben sich nicht vier, son‐ dern fünf Stufen, da H.-W. Klein die dritte Stufe von Hall ignoriert: R. Hall H.-W. Klein 1. archaic feierliche Aussprache 2. -------------- Vortragsaussprache 3. slow colloquial gepflegte Aussprache 4. fast colloquial ----------------------- 5. ----------------nachlässige, populäre Aussprache Die Stufe, die Hall „fast colloquial“ nennt und die etwa der familiären Umgangs‐ sprache entspricht, muss aber berücksichtigt werden, denn die phonologische Grenze liegt eben zwischen dieser Form und derjenigen der gepflegten Aus‐ sprache. Nach oben hin gibt es kaum phonematische Unterschiede: Es handelt sich vor allem um die Behandlung des „e muet“ und der Liaison. Die Aussprache der Determinanten les [lε], mes [mε], ses [sε], die Klein (1963, 15) als nur für die feierliche Aussprache charakteristisch angibt und die Martinon schon 1913 (Martinon 1913, 54) als „conventionnelle“ einstufte, ist nach Martinet (1971, 123-124) die Aussprache der meisten Pariser, aber so gut wie ausschließlich bei der älteren Generation anzutreffen. Nach Bruneau (1951, 87) ist sie veraltet. Bei der familiären Umgangssprache fängt hingegen die phonematische Re‐ duzierung an und geht über das hinaus, was schon als Norm gelten kann. Bei der volkstümlichen Stufe geht diese Tendenz weiter, jedoch ohne dass weitere 112 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="113"?> 24 Es fällt auf, dass Coseriu in diesem gesamten Abschnitt kein einziges Mal irgendwelche Literatur angibt oder sich darauf bezieht. Dies legt die Vermutung nahe, dass er viele der hier vorgebrachten, z.T. ungewöhnlichen Beobachtungen aus eigener Anschauung von seinem langjährigen Aufenthalt in Rom und Mailand (1941-1951) her und durch seine italienische Frau kannte. Ältere kurze Beschreibungen wie in dem Büchlein von Bonfante-Porzio Gernia (1964) bringen zu einer detaillierten Beschreibung der Normaussprache kaum etwas. Einiges, das Coseriu erwähnt, steht bei Fiorelli (1965). allgemeine Reduzierungen eintreten. Das heißt unter anderem, dass einige vokalische Phoneme weitere Realisierungen aufweisen können, die, phonetisch gesehen, wie benachbarte Phoneme klingen, jedoch ohne dass eine bestimmte Opposition aufgegeben würde. Es geht um Phänomene, die durch die sehr palatale Aussprache des / ʁ/ , des sogenannten „r faubourien“ bedingt sind. Durch diese Palatalisierung klingt in der populären Aussprache / o/ vor und nach / ʁ/ oft wie [œ], z. B. in d’abord, d’accord, alors, encore, aber auch in Maroc (siehe Klein 1963, 18; Martinet 1969, 191-208). Wie Martinet im gerade genannten Aufsatz zeigt, gilt dies auch für andere palatale Phoneme wie z.B. / ʒ/ in joli [jœli]. Wie gesagt, ist dies ein Charakteristikum der populären, nicht so sehr der familiären Umgangssprache. Im romanischen Vergleich lässt sich sagen, das dem „slow colloquial“ bzw. der gepflegten Aussprache im Spanischen die gehobenere Sprache von Madrid (jedenfalls in Spanien), im Italienischen das Toskanische bzw. Florentinische (ohne dessen populäre Besonderheit, die „gorgia toscana“). Bezüglich des Stoffli‐ chen zeichnet sich das Französische durch einen fixierten Konsonantismus und einen nicht fixierten Vokalismus aus, das Spanische hingegen durch einen fixierten Vokalismus und Schwankungen im Konsonantismus aus, das Italieni‐ sche durch kleine periphere Schwankungen sowohl im Vokalismus als auch im Konsonantismus. Im Französischen finden sich Neuerungen hauptsächlich in der populären Aussprache und fast nur bei Konsonantennexus. 3.2 Italienisch Vier wichtige Faktoren bestimmen die besondere Lage des Italienischen unter den romanischen Sprachen, und zwar auch in Bezug auf die Phonologie 24 : a. der besondere Status der italienischen Dialekte; b. die Tatsache, dass sich die italienische Gemeinsprache als Schriftsprache verbreitet hat; c. dass das Zentrum dieser Schriftsprache nicht zugleich die Hauptstadt des Landes ist; 3.2 Italienisch 113 <?page no="114"?> d. dass der reichere und entwickeltere Teil des Landes von der Schriftsprache ganz abweichende Mundarten spricht (siehe weiter unter hierzu nähere Ausführungen in den Erläuterungen zu 3.2.1.d) [Zu den folgenden Ausführungen Coserius ist erläuternd anzumerken, dass bei ihm der seit den 1970-er Jahren entwickelte und vielfach erörterte Begriff des Regionalitalienischen (italiano regionale) noch nicht präsent ist. Coseriu macht noch keinen Unterschied zwischen Dialekt und regionalen Formen der Hochsprache, des italiano comune (siehe aber immerhin die Erwähnung von „varietà regionali“ oben S. 106). Im Folgenden beschreibt er aber nie wirklich Dialektales, sondern stets regionale (florentinische, römische und mailändische) Lautungen der Gemeinsprache. Erst seit Pellegrinis Saggi di linguistica italiana (Pellegrini 1975)] hat sich das Konzept verbreitet, dass es neben der italienischen Standardsprache und dem jeweiligen lokalen oder regionalen Dialekt noch zwei weitere Sprachschichten gibt, nämlich das durch den Dialekt geprägte Regionalitalienische und den durch das Italienische veränderten Dialekt. Diese differenziertere Sicht der Realität wurde vorbereitet durch Tullio de Mauros neue Art von Sprachgeschichte.(de Mauro 1963). Siehe zu de Mauro am Anfang von Kap. II, 3.] 3.2.1 Lautliche Charakterisierung des Italienischen Zu a.: Die italienischen Mundarten sind lebendiger als die irgendeiner anderen romanischen Gegend, mit Ausnahme des Rumänischen und des Rätoroma‐ nischen. In Spanien sind die nicht-kastilischen Mundarten (Aragonesisch und Asturisch-Leonesisch) auf zwei kleine Gebiete reduziert, und die größeren Städte sprechen auch in diesen Gebieten Kastilisch. In Portugal bleiben die von der Gemeinsprache weiter abweichenden Mundarten auf den Norden und dort auf die ländlichen Gebiete beschränkt. In Frankreich sind innerhalb des eigentlich französischen Gebiets die mundartlichen Unterschiede nicht so groß wie im Italienischen, und in den Städten - auch in kleineren Städten - spricht man überall die Gemeinsprache. [Überall hingegen gibt es regionale Varietäten der Standardsprache, gerade auch in Frankreich, wo die eigentlichen Dialekte kaum noch existieren.] In Italien hingegen sind die mundartlichen Unterschiede sehr groß, in vielen Fällen größer als zwischen zwei verschiedenen ibero-romanischen Sprachen und auch in Großstädten (Palermo, Messina, Catania, Bari, Neapel, Genua, Turin, Mailand, Brescia, Bologna, Verona, Venedig) werden ziemlich weitgehend die Dialekte gesprochen. Die Lage des Italienischen ist ein Unikum unter den romanischen Sprachen. Im Fall des Rätoromanischen sind die Mundarten zwar 114 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="115"?> 25 Giambattista Basile (1575-1632) schrieb Märchen und Novellen im neapolitanischen Dialekt (Lu cunte de li cunti, Il Pentamerone,). Carlo Goldoni (1707-1793) ist der bekannte Dramatiker, der französisch und seine bekanntesten Komödien in der italienischen Gemeinsprache mit Anklängen an den venezianischen Dialekt schrieb. Giuseppe Belli (1791-1863) schrieb volkstümliche Sonette, teils in römischem Dialekt. Salvatore Di Giacomo (1850-1929) schrieb als Lyriker, Erzähler und Dramatiker im neapolitanischen Dialekt. lebendig, aber es gibt auch keine Gemeinsprache. Hinsichtlich des Rumänischen werden die abweichenden Mundarten außerhalb Rumäniens gesprochen (Aro‐ munisch vor allem im nördlichen Griechenland sowie im östlichen Albanien und Megleno-Rumänisch im Grenzgebiet Griechenland-Nordmazedonien). In Rumänien selbst gibt es nur Formen ein und derselben Mundart, des Dakoru‐ mänischen. Dazu kommt noch das Prestige der Mundart in Italien. Sie wird nicht nur von der unteren, sondern auch von der oberen Schicht gesprochen, d.h. von der stabileren Bevölkerung, etwas weniger von der Bourgeoisie. Bedeutend ist seit Jahrhunderten das Ansehen der Mundartliteratur: Giambattista Basile, Salva‐ tore Di Giacomo, Giuseppe Belli, Carlo Goldoni, Carlo Porta. 25 [Die sprachlichen Unterschiede sind historisch zu erklären: Anders als die frühen zentralisierten Staaten wie Spanien und Frankreich war Italien bis 1861 kein einheitlicher Staat. Der Norden war nach den Ostgoten und Byzantinern lange Zeit von ausländischen Mächten wie Frankreich und Österreich beherrscht, Venedig war immer abseits. Zwischen dem Norden und dem Süden war der Kirchenstaat, während der Süden noch mehr als der Norden jahrhundertelang ein Spielball von Griechen und Phöniziern, dann Byzantinern, Arabern, Normannen und schließlich Spaniern war. Eine einheitliche gesprochene Sprache konnte sich also erst spät entwickeln.] Zu b. Das Italienische hat sich als Schriftsprache im eigentlichen Sinne, d.h. als geschriebene Sprache verbreitet, mit Ausnahme von Rom. Das geschriebene Italienisch widerspiegelt jedoch nicht in allen Fällen die Aussprache. Dazu einige wichtige Fakten: 1. Der in der Toskana gemachte Unterschied zwischen / s/ und / z/ spiegelt sich nicht in der Rechtschreibung, wo es nur <s> gibt. 2. Der Unterschied zwischen [ʦ] und [ʣ] - ganz gleich, wie diese Laute phonematisch zu werten sind - erscheint in der Graphie nicht. Dort gibt es nur als <z>, im Inlaut nur <zz>. 3. / ʃ/ , / ɲ/ , / ʎ/ , [ʦ], [ʣ] sind im Inlaut in der Aussprache immer doppelt (lang oder geminiert): pesce [ˈpeʃʃe], bagno [ˈbaɲɲo], foglia [ˈfɔʎʎa]). Da der 3.2 Italienisch 115 <?page no="116"?> 26 Coseriu verfolgt in diesem Abschnitt sein didaktisches Anliegen der Spracherlernung. Daher gibt er eine rein synchrone Beschreibung, obwohl eine historische in diesem Fall das phonosyntaktische Phänomen weitgehend „erklären“ würde: Es handelt sich fast durchgehend um Assimilationserscheinungen, die mit dem heute verstummten auslautenden Konsonanten des vorausgehenden Wortes zusammenhängen, wie er in lat. a[d], de a[d], qui[d], e[t], si[c], wohl auch bei come, da lat. quo modo > *quomod vor folgendem Konsonanten Anlass für eine Assimilation hat geben können. Bei dove (< lat. de ubi) liegt ein solcher nicht vor. Die Analogie hat hier eine bedeutende Rolle gespielt. In anderen Fällen - wie dammi, fammi - wirkt die Regel der Geminierung nach vorausgehendem betontem Auslautvokal. Vokal so in einer geschlossenen Silbe steht, wird er hier nicht gelängt. Die ersten drei Konsonanten werden jedoch immer einfach geschrieben: <sc>, <gn>, <gli>, die beiden letzten manchmal <z>, manchmal <zz>, aber dies geschieht gemäß einer rein orthographischen Regel: vor / i/ + V <z> (azione, nazione, stazione als halbgelehrte Wörter mit latinisierender Orthographie). Dies gilt, wenn es sich nicht um eine Ableitung von einem mit <zz> geschriebenen Wort handelt (razziale, piazzale). Sonst wird <zz> geschrieben (razza, piazza, pezzo), es sei denn, es geht um Buchwörter griechischer Herkunft (azoto ‘Stickstoff ’, ozono ‘Ozon’) oder um gewisse Namen (Donizetti). 4. Im Toskanischen gibt es das sogenannte „raddoppiamento“ oder „raffor‐ zamento iniziale“, das heißt: nach betontem auslautendem Vokal eines vorhergehenden Wortes und nach gewissen vokalisch auslautenden Parti‐ keln und Präpositionen wird der folgende Anlautkonsonant verdoppelt (geminiert): fatto [fat: o], aber andò fatto [anˈdɔf: at: o], Roma [ˈrɔ: ma], aber a Roma [aˈr: ɔ: ma], che buono [keˈb: wɔ: no], da lontano [dal: onˈta: no], mangerò poco [manʤeˈrɔp: ɔ: ko]. In der Schrift wird dies in üblichen Zusammenset‐ zungen sichtbar, wie etwa: - così fanno [koˈsif: an: o], aber cosiffatto, siffato, - da carte [daˈk: arte], aber dammi, - da lontano, aber daccapo, dabbene, - e poi [eˈp: ɔi i ], aber eppoi, eppure, - sí, signore, aber sissignore. 26 5. Offenes und geschlossenes / ε/ - / e/ und / ɔ/ - / o/ werden in der Rechtschreibung nicht unterschieden: <pesca> kann sein / pεska/ ‘Pfir‐ sich’ oder / pεska/ ‘Fischfang, Fischerei’, <botte> / bɔt: e/ ‘Schläge’ oder / bot: e/ ‘Fass’. 6. <i> ist im Italienischen oft ein rein diakritisches Zeichen, so in ciancia [ˈʧanʧa] ‘Geschwätz, Gefasel’, camicia [kaˈmi: ʧa] ‘Hemd’, ascia [ˈaʃʃa] ‘Axt, Beil’, ragione [raˈʤone] ‘Vernunft, Grund’. paglia [ˈpaʎʎa]. Dies gilt auch 116 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="117"?> für rein historische Graphien wie <i> vor / e/ , wegen der entsprechenden lateinischen Wörter (società [sɔʧeˈta], scienza [ˈʃεnʦa]) oder wegen der nach palato-alveolarem / ʧ/ reduzierten ursprünglichen Diphthongierung (cielo [ˈʧe: lo], cieco [ʧε: ko]). Dies gilt für die Norm der Gemeinsprache. In Süditalien, aber z.T. auch im Norden wird dieses / i/ gesprochen, so z.B. in cominciamo, cieco, scienza, lascio, coscienza. 7. Die vielleicht interessanteste Erscheinung ist im Toskanischen (Florenti‐ nischen) in intervokalischer Position die Reduzierung der Affrikaten / ʧ/ und / ʤ/ zu [ʃ], [ʒ] (pace [ˈpa: ʃe], fece [ˈfe: ʃe]; ragione [raˈʒo: ne], agisce [a ˈʒiʃʃe]; [ʃ] wird in diesem Fall nicht geminiert ausgesprochen, weil es phone‐ tisch wie die zugrundeliegende, silbenschließende Affrikata gewertet wird. Daher gibt es in der Gemeinsprache florentinische Schreibungen wie bacio (< lat. basium), camicia (< kamisia), weil sie florentinisch [ˈbaʃo], [kaˈmiʃa] ausgesprochen wurden. In der Gemeinsprache außerhalb der Toskana werden sie dann nach den dort üblichen Aussprachegewohnheiten als [ˈbaʧo], [kaˈmiʧa] realisiert. Gleiches gilt z.B. für lat. caseum > tosk. [ˈkaʃo], geschrieben <cacio> ‘Käse’, lat. occasione > tosk. [kaˈʒone] <cagione> ‘Ur‐ sache, Grund’, lat. pensione > tosk. [piˈʒone] <pigione> ‘Miete’. Im Altitalienischen wurde in solchen Fällen auch <sc> geschrieben, z.B. bascio, [ʒ] als <sci> oder <sgi>, z.B. cascione, casgione. Daher finden wir im Italienischen außerhalb der Toskana die Aussprache mit [ʧ], [ʤ], wie in cena, gente, das heißt eine Aussprache, die keiner Mundart entspricht, sondern nur auf der Graphie beruht. Der Schreibung <c e,i >, <g e,i > entsprechen im Toskanischen bei gleicher Gra‐ phie drei Aussprachen: cena [ˈʧe: na] - gente [ˈʤente] la cena [laˈʃe: na] - la gente [laˈʒente] a cena [aˈʧ: e: na] - più gente [pjuˈʤ: ente]. Dies erscheint nicht in der Graphie: „Man muss es wissen“, und nur in der Toskana weiß man es auf eine natürliche, intuitive Weise. Zu c.: Das Zentrum der Schriftsprache ist jahrhundertelang Florenz gewesen. Hier wurde im Cinquecento die Questione della lingua wieder und wieder erörtert. Bis zu einem gewissen Grad ist Florenz dieses Zentrum immer noch. Jedoch war Florenz nur kurze Zeit und nur provisorisch Hauptstadt (1865- 1871). Daher gibt es heute den Konflikt bezüglich der Norm: Römisch oder Florentinisch? Rom wurde zwar seit dem 15. Jahrhundert toskanisiert, doch 3.2 Italienisch 117 <?page no="118"?> gehört Rom in sprachlicher Hinsicht teilweise immer noch zum Süden, zum Teil ist aber auch die Norm in Rom anders (geworden) als in Florenz. Abgesehen von einzelnen Wörtern und der unterschiedlichen Aussprache, vor allem bezüglich der Opposition / e/ - / ε/ , / o/ - / ɔ/ , / ʦ/ - / ʣ/ sind die wich‐ tigstren Unterschiede zwischen der Lautung der Gemeinsprache in Rom gegen‐ über der in Florenz folgende: - In Rom wird / s/ auch intervokalisch immer als [s] realisiert. Es gibt kein / z/ und keine Aussprache mit [z]. Hier verhält sich Rom wie der gesamte Süden. - In Rom werden die Endungen -étti, -étte, -éttero mit geschlossenem [e] gesprochen in Florenz mit [ε]. - In Rom wird <o> in der Endung -osto (nascosto) und im Suffix -ognolo (amorognolo) offen gesprochen, desgleichen [ɔ] auch in -onzolo, -oio, -oia, -ondio, -ondia. In Florenz wird in all diesen Fällen [o] gesagt. - Es gibt in Rom kein „rafforzamento iniziale“ nach da, dove sowie nach interrogativem come wie in Florenz (come mai? [kɔmeˈm: ai]), in Rom [kɔme ˈmai]. Wohl aber gibt es auch in Rom „rafforzamento“ nach più. - In Rom wird ein „rafforzamento“ nach Interjektionen wie oh, ah, duh gemacht. - In Rom wird kein „rafforzamento“ bei lo, la, le, li gemacht (z.B. in facciamolo usw.), jedoch bei / l/ vor betontem folgendem Vokal, z.B. auch bei ce l’ho [ʧeˈl: ɔ]. - In Rom gibt es kein „rafforzamento“ bei ne (< lat. nec) und non, also nicht [non: εˈv: e: ro], sondern [nonεˈv: e: ro]. Im volkstümlichen Römisch gibt es noch mehr Abweichungen gegenüber dem Toskanischen: - / ʤ/ im Inlaut ist immer geminiert, z.B. [raˈʤ: o: ne], aber nie [raˈʒone]. - Intervokalisches / b/ ist immer [b: ], z.B. in <roba> [ˈrɔb: a]. - Geminiertes [r: ] im Inlaut wird zu [r] reduziert, also [ˈbira], [gwεra]. Der voraufgehende Vokal wird nicht gelängt, weil phonologisch / r: / vorliegt und somit die Silbe als geschlossene gewertet wird. - Intervokalisches / j/ ist immer geminiert, also [ˈaj: a] ‘Tenne’, [soˈlaj: o] ‘Dach‐ boden, Dachkammer’. - / s/ nach / n/ und / r/ wird als [ʦ] realisiert: [ˈborʦa], [ˈforʦe] ‘forse’, [ˈsẽnʦo], [ˈpεnʦo]. Zu d.: Der industrialisierte, reichere und weltoffenere Teil Italiens, also Nord‐ italien, mit den Großstädten Genua, Turin, Mailand, Bologna, Verona, Venedig und zahlreichen anderen größeren Zentren spricht von Hause aus Mundarten, 118 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="119"?> die von der Literatursprache weiter als die süditalienischen Mundarten vonein‐ ander abweichen. Für Italien gilt die Einteilung: 1. Norditalien 2. Zentral- und Süditalien A) Toskanisch B) Nicht-Toskanisch. In der Aussprache der Gemeinsprache gilt in Norditalien vor allem - kein „rafforzamento iniziale“, - intervokalisch kein [s], sondern immer [z], etwa in [ˈrɔ: za], [ˈka: za], [ˈspe: ze], [ˈmu: zika], - statt [ʦ] wird durchgehend [ʣ] gesprochen, insbesondere im Anlaut: [ˈʣio], [ˈʣuk: ero], - die Unterscheidung der mittleren Öffnungsgrade [e] - [ε] und [o] - [ɔ] wird oft abweichend von den toskanischen Gewohnheiten gemacht, - im Venetischen gibt es keine geminierten Konsonanten. 3.2.2 Phonologische Schwächen im System des Italienischen Schwache Punkte, das heißt solche, die systematische Schwächen des phonolo‐ gischen Systems zeigen, sind - 3.2.2.1 Die Oppositionen / e/ - / ε/ und / o/ - / ɔ/ A) Im Vokalismus handelt es sich um die Oppositionen / e/ - / ε/ und / o/ - / ɔ/ . Die Fälle der funktionellen Opposition sind zwar einigermaßen zahlreich: / venti/ - / vεnti/ / bot: e/ - / bɔt: e/ / peska/ - / pεska/ / volto/ - / vɔlto/ (Part.) / leʤ: e/ - / lεʤ: e/ (Verb) foro/ ‘Loch, Öffnung’ - / fɔro/ ‘Forum, Piazza’ / dei/ - / dεi/ (Subst.) / volgo/ - / vɔlgo/ (Verb) usw. Verschiedenes arbeitet jedoch gegen diese Oppositionen: a. Sie funktionieren nur in betonter Stellung, / o/ - / ɔ/ sogar nur in be‐ tonter Stellung im An- und Inlaut, im Auslaut gibt es - im Gegensatz zum Französischen - nur betontes offenes [ɔ] (andò, dormiò, comprò, falò) ‘(Freuden-)feuer’. 3.2 Italienisch 119 <?page no="120"?> b. Auch in betonter Stellung sind die Fälle, in denen der eine oder der andere Laut erscheint, also keine Opposition herrscht, viel zahlreicher als die Fälle funktioneller Opposition; so auch vor unbetontem Kompositionsglied, wie in [teˈlεfono], [auˈtɔdromo]. c. In Diphthongen erscheint immer die offene Variante: [ˈpjε: de], [ˈpjε: tra], [ˈbwɔ: no], [ˈfwɔ: ko]. d. In sehr vielen Fällen sind die florentinische und die römische Norm verschieden (Beispiele in normaler Orthographie, nur die betreffenden Vokale sind mit é, ó als geschlossen und è, ò als offen gekennzeichnet): Florenz - Rom allégro - allègro béstia - bèstia Césare - Cèsare crésta - crèsta ésco - èsco fedéle - fedèle négo - nègo. Demgegenüber: arèna - aréna cèntro - céntro dèvo - dévo lèttera - léttera rèmo - rémo. Beispiele mit geschlossenem und offenem / o/ : bisógno - bisògno bórdo - bòrdo colónna - colònna feróce - feròce atróce - atròce nóme - nòme. Dagegen: còrico - córico dimòro - dimòro òrco - órco pòrgere - pórgere sòrdido - sórdido usw. e. Noch mehr Schwankungen dieser Art gibt es außerhalb des Zentralitali‐ enischen. In bestimmten Mundarten - z. B. Sizilianisch - existiert der Unterschied überhaupt nicht, oder er ist in süditalienischen Dialekten durch Umlaut bedingt. 120 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="121"?> f. In Buchwörtern, Neuwörtern und Fremdwörtern erscheinen immer die offenen Varianten [ε, ɔ] und noch allgemeiner in allen Fällen, in denen ein Sprecher mit einem Wort nicht vertraut ist, nach dem Motto „vocale incerta - vocale aperta“. g. Ein Grund für die Gefährdung der Opposition und die Schwankungen in der Aussprache ist auch darin zu sehen, dass die Opposition orthographisch nicht dargestellt wird. Dies wurde schon 1524 von Giangiorgio Trìssino bemängelt, welcher in seinen Vorschlägen für eine neue Rechtschreibung gerade darauf eingeht (siehe Coseriu 2020, 60). h. Die Tatsache, dass die Opposition kein großes Gewicht hatte und hat, zeigt sich darin, dass im Reim beide Aussprachen zulässig sind, also gleich behandelt werden, ähnlich wie im Deutschen, zumindest in volkstümlicher Dichtung, gerundete und ungerundete Phoneme wie / e/ und / Ö/ sowie / i/ und / Y/ (z.B. Quelle und Hölle, geh’n und schön, sieht und müd’). Was kann man angesichts dieser Lage im Hinblick auf das Erlernen des Italieni‐ schen tun? Zunächst ist festzustellen, dass es hier nicht um das phonologische Inventar, sondern um die Distribution von Varianten geht. Die wichtigen Fälle der Opposition muss man einfach lernen. Dabei sollte man sich klar machen, dass sie fast nur in Grundwörtern auftritt (siehe Beispiele zu Beginn des Abschnitts A). Eine gewisse Hilfe bei der Erlernung der Distribution der Varianten stellt das Erlernen von Suffixen und Endungen mit dem jeweiligen Öffnungsgrad dar, d.h. - mit [e]: -mente, -mento, -efice, -eggio, -egno, -ese, -essa, -etro, -ezza, - mit [ε]: -ello, -endo, -ente, -ento, -enza, -eo/ -ea, -estre, -estro, -etico, - mit [o]: -iono, -ondo, -one, -ore, -oso, - mit [ɔ]: -occhio, -occio, -occo, -olo, -orio, -orto, -osi, -otto, -ozzo. - 3.2.2.2 Die Opposition / s/ - / z/ B) Im Konsonantismus wollen wir zunächst die Opposition / s/ - / z/ behandeln. Sie ist so schwach, dass sie ignoriert werden kann. a. Sie existiert nur in intervokalischer Stellung, sonst erscheint automatisch [s] im Süden und [z] in Norditalien. Es ist also anders als im Französischen, wo / s/ und / z/ eine Opposition auch im Anlaut und im Auslaut bilden. b. Nur / s/ kann auch gelängt (geminiert) werden. c. Die funktionelle Leistung der Opposition ist auch im Toskanischen sehr schwach: - chiese / kiese/ [ˈkjε: se] (Verb) - chiese / kieze/ [ˈkjε: ze] ‘Kirchen’, - fuso / fuso/ [ˈfu: so] ‘Spinnrocken’ - fuso / fuzo/ [ˈfu: zo] (Part. von fondere), 3.2 Italienisch 121 <?page no="122"?> - presente / presente/ [preˈsente] ‘gegenwärtig’ - presente / prezente/ [pre ˈzente] ‘Geschenk’. In anderen Fällen homographer Wortformen ist auch der Vokal anders: - tesi / tesi/ [ˈte: si] (Part. mask. Pl. von tendere) - tesi / tezi/ [ˈtε: zi] ‘These’. d. Die Opposition erscheint nicht in der Graphie. e. Oft ist die Lautung automatisch oder so gut wie automatisch. So wird [s] gesprochen in den Endungen -ese, -oso/ -osa, -osi: mese, posi, formoso, inglese usw., jedoch mit vielen Ausnahmen, wo [z] erscheint, wie cortese [kɔrˈte: ze], francese [franˈʧe: ze], marchese [marˈke: ze], paese [paˈe: ze], palese [paˈle: ze], certosa [ʧεrˈto: za], Tolosa [toˈlo: za]. In Fällen mit betontem offenen [ε] spricht man jedoch [z], so in chiesa, obeso, dose, esploso, prosa. Im Gegensatz dazu werden Formen wie chièsi, còsa, pòsa, espòso mit [s] gesprochen. f. Erschwerend für die Aufrechterhaltung der Opposition bzw. der Kenntnis der Distribution kommt hinzu, dass es bezüglich der Stimmlosigkeit bzw. Stimmhaftigkeit oft keine Übereinstimmung zwischen Grundwort und Ableitung gibt. So hat man stimmloses [s] sowohl in mese als auch in mesata, in geloso wie in gelosia, aber einem borghese [bɔrˈge: se] steht borghesia [bɔrgeˈzia] gegenüber, einem lucchese [luˈk: ese] Stimmhaftigkeit in Lucchesia [luk: eˈzia], einem corroso [koˈr: oso] die Buchwörter corrosione [kor: oˈzjone] und ebenso erosione [eroˈzjone]. g. Die Schwäche des Kontrastes [s] - [z] erweist sich auch darin, dass im Reim beide erlaubt sind, sich also [ˈme: se] auf [paˈe: ze] reimen kann. h. Gegenüber dem Automatismus der stimmhaften Lautung [z] im Norden und stimmlosem [s] im Süden scheint [z] Raum zu gewinnen. Es ist normal in Buchwörtern (causa [ˈkawza] gegenüber cosa [ˈkɔ: sa]), ebenso in Fremdwörtern und Mundartwörtern, unabhängig von der Aussprache in der Herkunftssprache oder Herkunftsmundart. Für Ausländer ist daher eine einheitliche Aussprache und dann eher [z] als [s] zu empfehlen. - 3.2.2.3 Die Opposition / ʦ/ - / ʣ/ Eine weitere, fast ähnlich gelagerte Opposition ist die zwischen den Affri‐ katen / ʦ/ und / ʣ/ . Sie ist äußerst schwach, denn a. Die Opposition ist so gut wie nie funktionell. Das einzige einwandfreie Beispiel eines Minimalpaars ist razza / raʦa/ [ˈraʦ: a] ‘Rasse’ - razza / raʣa/ [ˈraʣ: a] ‘Rochen’. Andere, jedoch nicht allgemeine Beispiele sind lazzo [ˈlaʦ: o] ‘herb, sauer, bitter’ - lazzo [ˈlaʣ: o] ‘lächerliche Gebärde’ 122 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="123"?> und - mit unterschiedlicher Vokalqualität mozzo [ˈmoʦ: o ] ‘Stallbursche’ - mozzo [ˈmɔʣ: o], aber auch [ˈmɔʦ: o] ‘Radscheibe, Freilauf ’ und mezzo [ˈmeʦ: o] ‘überreif ’ - mezzo [ˈmεʣ: o] ‘Mitte, halb’. b. Der Kontrast erscheint nicht in der Graphie. c. In verschiedenen Fällen ist die Norm unsicher. In Rom beobachtet man eine generelle Neigung zu [ʦ]. Hinzu kommt, dass / ʦ/ in vielen Fällen zu / ʣ/ , also [ʣ] geworden ist: zabaione, zaffiro, zaino, zero, zinco, zolla. d. Wie bei / s/ - / z/ gilt die Aussprache mit [ʣ] in Neuwörtern, unabhängig von der Aussprache in der jeweiligen Herkunftssprache, also zar [ʣar], nazismo [naˈʣizmo]. Trotz der sehr geringen funktionellen Leistung ist der Kontrast in der Norm überall sehr lebendig. Im Gegensatz zu / e/ - / ε/ und / o/ - / ɔ/ ist der Kontrast [ʦ] - [ʣ] heute im Reim zugelassen, jedoch nie in der älteren Literatur. Für die Spracherlernung müssen die wichtigen Wörter mit [ʦ] und [ʣ] gelernt werden. Ebenso kann man sich bestimmte Endungen merken: Mit [ʦ] sind -anza, -enza, -zione, -izia, -ezza, -ozzo, -uzzo, -onzolo. Mit [ʣ] werden gesprochen Verben auf -izzare, -ezzare, nicht jedoch schizzare [skiʦ: a: re]. Intervokalisches einfaches <z>, das selten vorkommt, lautet immer [ʣ]. Für die Schwierigkeiten des Anlauts ist es vorteilhafter, <z> als [ʣ] zu lernen, mit Ausnahme von zio, das korrekt immer [ˈʦio] lauten sollte. - 3.2.2.4 Die phonosyntaktische Doppelkonsonanz In diesem Abschnitt geht es um die Längung der Konsonanten, die als phonosyn‐ taktischer Prozess auftritt und in der Orthographie so gut wie nicht erscheint. Hier ist die Festigkeit des Systems vor allem durch Regionalunterschiede beeinträchtigt. Man kann für intervokalisches / ʃ/ . / ɲ/ , / ʎ/ , das automatisch als langes [ʃʃ], [ɲɲ], [ʎʎ] realisiert wird, Folgendes beobachten: a. Im Norden werden sie vereinfacht zu [ʃ], [nj] oder [ɲ], [lj] oder [ʎ]. In solchen Fällen wird auch der vorausgehende betonte Vokal in offener Silbe nicht gelängt. Die Toskaner und Zentralitaliener „hören“ wegen der Kürze des Vokals trotzdem [ɲɲ] bzw. [ʎʎ]. Für sie kann es nach betontem kurzem Vokal kein einfaches [ɲ] oder [ʎ] geben. So wird [iˈta: lja], norditalienisch [iˈtεlja], von Toskanern als [iˈtaʎʎa] interpretiert. b. Komplizierter ist der Fall von / ʦ/ und / ʣ/ : Diese werden in Norditalien - oft nach der Graphie - einfach gesprochen, also [aˈʦjo: ne], [naˈʦjo: ne], [aˈʣo: to], [oʣo: no]. In der Toskana wird in diesen Fällen geminiertes [ʦ: ] gesprochen nach der Regel „Inlautendes / ʦ/ ist immer [ʦ: ]“. In Süditalien 3.2 Italienisch 123 <?page no="124"?> wird dagegen ein Unterschied zwischen langem [ʦ: ] < lat. -cti-, -pti- (in azione, concezione) und einfachem [ʦ] < lat. -ti- (pazienza, nazione) gemacht. Andererseits wird / ʣ/ in Gräzismen niemals lang realisiert, also [aˈʣo: to], [oʣo: no]. Dies kombiniert sich jedoch mit dem Einfluss der Orthographie, also einer Tendenz zur Lautung [ʦ], [ʣ] für jedes einfache <z> der Graphie. c. Der „rafforzamento iniziale“ (siehe oben 3.2.1. b.4) ist in der toskanischen, insbesondere florentinischen Norm ziemlich fest, das heißt, es gibt kaum Schwankungen, jedoch zum Teil sich kreuzende Regeln: 1. Es gibt einsilbige Wörter, die nach sich das „rafforzamento“ fordern (a, che, chi, da, e, è, fra, già): a me [aˈm: ε], Da Giuseppe [daʤ: uzεp: e], è vero? [εˈv: e: ro], und andere, die es nicht fordern (ce, ci, gli, me, mi, se, si, te, ti, ve, vi, le, li, ne …). Auch bestimmte mehrsilbige Wörter forden das „rafforzamento“: come, dove, qualche, sopra: dove vai? [doveˈv: a i ], qualche giorno [kwalkeˈʤ: orno], soprattutto, soprassenso. Endbetonte Substantive (Oxytona) fordern ein „rafforzamento“ (città commerciale [ʧiˈtak: om: εrˈʧale] ‘Handelsstadt’), nicht-oxytone schließen ihn aus. Aber auch metasprachlich wie Substantive behandelte einsilbige Par‐ tikeln und Pronomina, die als solche nicht verstärkend wirken, zeigen ein „rafforzamento“: il ci pronome [il ci p: roˈnome] ‘das Pronomen ci’. Demgegenüber zeigen sonst verstärkende mehrsilbige Wörter in metasprachlicher Verwendung kein „rafforzamento“. 2. Die neuen Imperative des Toskanischen, da‘, di‘, fa‘, sta‘, va‘, sind als solche nicht verstärkend ([daˈpɔ: ko] ‘gib (nur) wenig! ’ gegenüber da poco [daˈp: ɔ: ko] ‘seit Kurzem’, [vaˈvia] ‘geh weg! ’), im Zusammenhang mit enklitischen Pronomina werden aber die alten verstärkenden Formen verwendet (dammi! , fanne! , vacci! ). 3. Normalerweise zeigt sich das „rafforzamento“ in Zusammensetzung auch graphisch (abbasso, accanto, addirittura, dabbene, ebbene, eccome, seppure, chicchessia, contrapporre, usw.) und so auch iradiddio, Dome‐ neddio, vivaddio, addio. In Zusammensetzungen erscheint Dio immer mit „rafforzamento“: Iddio (wohl aus il Dio), aber auch solo Dio [ˈsɔ: lod: io]. Jedoch gibt es gewisse Inkongruenzen: Präfigierungen mit frawie fra‐ cassare, framescolare, framezzare zeigen kein „rafforzamento“; solche mit trahaben es nur in trattenere, nicht aber in tramonto, trapiantare usw. Auch intrahat in Zusammensetzungen oft keine Anlautverstär‐ kung (intravedere), wohl aber in intrallazzo, intrammezzare. Bisweilen gibt es Schwankungen, z.B. contradire und contraddire, inframettere 124 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="125"?> und inframmettere; so auch bei Zusammensetzungen mit tre-: treppiedi, tressette (ein Kartenspiel), aber tredici, trecento, tremila. Bei sopraist der florentinische Gebrauch schwankend. Regelhaft wäre das „rafforzamento“ nach der Präposition, die in ihrer älteren Form eigentlich als sopr’a < lat. supra < *super ad zu verstehen ist; daher soprannome, soprattutto. Nach sopra als Adverb hätte man kein „rafforzamento“ (sopranominato, soprasegnato usw.). In anderer Darstellung könnte man sagen, dass alte Wörter das „rafforzamento“ haben (soprattutto, soprannome, sopraffare), neue Wörter dagegen keines (soprasensibile). Aber auch eine solche Klassifizierung zeigt Inkohärenzen, denn wir haben sopralluogo ‘Inaugenscheinnahme’, sopravvalutare, soprannatura, soprammobile, soprattassa usw. Was ist alt, und was ist neu? Viel gewichtiger sind hier die regionalen Unterschiede: Schon die römische Norm ist teilweise anders als die florentinische. In Rom lösen da, dove, come keine Verstärkung aus. Aber auch das System ist ver‐ schieden: Im Toskanischen hängt das „rafforzamento“ ausschließlich vom vorhergehenden Wort ab. Ausnahmen sind dort nur Dio < Iddio, avemmaria, Spirito Santo [ˈspiritos: anto], Ognissanti. Im Römischen hängt die Verstärkung auch vom zweiten Wort ab. - So werden die Enklitika lo, la, li, le nicht verstärkt, und da, di, ne, non wirken nicht verstärkend: [pεrˈkenonvai]? Auch a bewirkt vor rkein „rafforzamento“: a Roma [aˈrɔ: ma]. - / l/ wird nur vor betontem folgenden Vokal gelängt: è l’uomo [εˈl: wɔ: mo], aber è l’animale [εlaniˈma: le]. - Immer verstärkt werden in der römischen Volkssprache die An‐ lautkonsonanten von chiesa, così, là, lì, merda, più, qua, qui, sedia: la chiesa, maledetto, malattia, maschera: [laˈk: jε: sa], la sedia [laˈs: ε: dja], vieni qui! [ˈvje: niˈk: wi], ‘sta merda [staˈm: εrda], sto maledetto cane [stɔm: aleˈdet: oˈka: ne]. In Süditalien ist das „rafforzamento“ eher wie in Rom, in Norditalien da‐ gegen gar nicht üblich. Deshalb stellen wir eine Inkonsequenz des Systems der Aussprache in Bezug auf die Schreibung fest, denn in Norditalien wird die Doppelkonsonanz nur dort ausgesprochen, wo sie auch geschrieben wird. Deshalb werden also ausgesprochen wie geschrieben: - da Milano, aber daccapo, - a Milano. aber accanto, - così pure, aber cosiddetto, - da bene ‘gib (es) ruhig! ’, aber dabbene ‘rechtschaffen, ehrlich’. 3.2 Italienisch 125 <?page no="126"?> So gibt es einerseits Schwankungen in der Zusammensetzung (cosid‐ detto, aber caffelatte, tresette, sovraposto), andererseits gibt es ein neues Verfahren: Die Doppelkonsonanz wird als Charakteristikum der Zusammensetzung interpretiert und auch dort ausgesprochen, wo sie nicht am Platze ist: anzicché, pressocché, sempreppiù, anzittutto. In einigen Fällen sind solche Formen schon fast zur Norm geworden (vieppiù ‘hinzu kommt, mehr und mehr’, giustapporre ‘nebeneinan‐ derstellen’). Die weitere Entwicklung ist nicht abzusehen. Während sich in anderen Fällen, nämlich der Distribution von [e] - [ε], [o] - [ɔ] in Rom allmählich die florentinische Norm durchsetzt, ist es beim „rafforzamento fonosintattico“ kaum so. Typisch für Rom und den ganzen Süden ist die intervokalische Dop‐ pelkonsonanz von / b/ und / ʤ/ wie roba [ˈrɔb: a], agile [ˈaʤ: ile]. Diese Aussprache muss vermieden werden. Camilli (1971), [der etliches zum phonosyntaktischen „raddoppiamento“ bringt, das auch Coseriu hier erwähnt,] empfiehlt dem Ausländer überhaupt, vom „rafforzamento“ abzusehen und der norditalienischen Aussprache zu folgen. 3.3 Ein morphonologisches Faktum des Italienischen und Spanischen: die Behandlung der „unbeständigen“ Diphthonge Schließlich sei in diesem Kapitel noch auf eine morphonologische Erscheinung des Spanischen und des Italienischen hingewiesen. In beiden Sprachen gibt es in der Formenbildung die sogenannten „diptongos móviles“, „dittonghi mobili“ [„mobile diphthongs“]. Nach der ursprünglichen Regel erscheint der Diphthong unter dem Ton, der einfache Vokal in unbetonter Stellung, d.h. wenn dieselbe Silbe in der Flexion oder in der Wortbildung zu einer unbetonten wird. Im Italienischen geschieht dies nur in offener Silbe: it. vièni - venire tièni - tenere muòvo - moviamo, mossi nuòvo - novità usw. span. juego - jugamos - jugó niego - negamos - negó, pienso - pensamos - pensó. Im Spanischen wird die Regel noch dadurch kompliziert, dass sich der Vokal verändert, wenn er in der Vortonsilbe durch die Umlautung eines / i/ in der Folgesilbe angehoben (geschlossen) wird: 126 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="127"?> 27 Siehe weitere ähnliche Beispiele auch aus dem nominalen Bereich bei Lloyd (1993, 323). siento - sentimos - sintió duermo - dormimos - durmió hierve - hervía - hirvió. Der Umlaut ergibt sich nicht bei muevo - movimos - movió, wohl weil das / u/ -haltige [β] vor unbetontem / o/ dies verhindert hat. 27 [Eine Umlautung durch lat. / u/ bzw. / i/ in der Auslautsilbe zeigt sich - neben der Diphthongierung - auch in Formen wie puedo - podemos - pude/ pudimos quiero - queremos - quise/ quisimos (siehe dazu auch Lloyd 1993, 491).] Im Spanischen ist die Lage fast in jeder Hinsicht völlig klar, zumindest in der mittleren und gehobenen Umgangssprache sowie in der Literatursprache: 1. Es gibt keine Alternation mehr in den Diminutivbildungen von Substan‐ tiven und substantivierten Adjektiven: fuente - fuentecita, altspanisch noch fontecita, viejo - viejecito, viejecita, viejezuelo, aber vejez. 2. Alternation erfolgt aber in den Diminutivbildungen von Adjektiven: caliente - calentito. 3. Regelmäßige Alternation bei den Verben: tienes - tenemos, pienso - pensamos, cierro - cerramos - cerraría, muero - morimos - murió, truena - tronó. 4. Schwankungen gibt es vor allem bei den Superlativen (Elativen) in der familiären Sprache: nuevo - novísimo und auch nuevísimo, fuerte - fortísimo und auch fuertísimo, aber nur bueno - buenísimo. 3.2 Italienisch 127 <?page no="128"?> In der Volkssprache sind die Schwankungen sehr zahlreich, besonders bei den Verben, und zwar in beiden Richtungen So bildet man von apretar oft apreto neben aprieto, von fregar frego neben friego, aber von caliente auch calientar neben calentar, von juego auch juegar neben jugar. Solche Schwankungen findet man jedoch kaum in der mittleren Umgangssprache. Im Italienischen ist dagegen die Lage zwar ziemlich klar, was <ie>, nicht aber, was <uo> betrifft: <ie> [jε: ] bzw. [jε] bleibt in allen Ableitungen. Dies gilt auch für Elative und Diminutivbildungen: fieno - fienile, lieto - lietezza, pietra - pietraio, pietroso, lieto - lietissimo, pietra pietrina. Der Diphthong ist darüber hinaus analogisch verallgemeinert worden in be‐ stimmten Verben: chiedere, chiedevo wie chiedo; mietere, mietevo wie mieto. Völlig anders ist die Lage bei <uo> [wɔ: ] bzw. [wɔ]. Hier entspricht der Diphthong dem älteren Toskanisch, das sich in der Schriftsprache verbreitet hat. Aber gerade das Toskanische hat wie das Römische den Diphthong in moderner Zeit zu <o> vereinfacht: Nicht mehr uomo, nuovo - novissimo, buono, muovo - moviamo, sondern òmo, nòvo - novissimo, bòno, mòvo - moviamo. In Süditalien besteht demgegenüber die Neigung, den alten Diphthong überall beizubehalten. Aus all diesen Gründen - alte Sprache und Graphie, neutoskanische Vereinfa‐ chung, süditalienische Verallgemeinerung - gibt es in diesem Bereich sehr viele Schwankungen. Die ältere toskanische Norm gilt also gewissermaßen immer noch, nicht die neutoskanische gesprochene Sprache, die von toskanischen Schriftstellern sehr oft auch geschrieben wird. Aufgegeben wurde in dieser modernen Norm der Diphthong nach Muta cum Liquida, also prova, trovo, trògolo ‘Trog’, còpro, nicht mehr *pruova, *truovo. *truogolo, *cuòpro. Verallgemeinert wurde dagegen altes <uo> in Komposita wie luogo-tenente, buongustaio, buontempóne, fuorché, und in Adverbbildungen wie nuovamente. Die Vereinfachung zu <ò> [ɔ: ] findet sich dagegen nach / j/ -haltigen Endungen wie -gnuolo > -gnolo, -iuolo > -iolo: spagnolo, oriolo, eher figliolo als figliuolo, aber aiuola [aˈjwɔ: la] ‘Beet’ eher als aiola. Hier wurde die Vereinfachung fast allgemein angenommen. Schwankungen gibt es hingegen bei der Diminutiv‐ bildung: 128 3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen <?page no="129"?> cuore - coricino, aber auch cuoricino, fuoco - focherello - fuocherello. Aber ruota - rotella - rotellina. Wenn <uo> anlautend ist, gibt es immer Alternation: uomo - omino, ometto, uovo - ovetto. Schwankungern mit der Tendenz zur Beibehaltung des Diphthongs finden wir in cuoio - cuoiame, cuoiaio (eher als coiame, coiaio). In verschiedenen Fällen gibt es inhaltliche Unterschiede. Derartige Verben mit und ohne Diphthong haben nichts miteinander zu tun: vuoto - vuotare ‘leeren’ / / voto - votare ‘wählen’, nuoto - nuotare ‘schwimmen’ / / noto - notare ‘vermerken, notieren’, tuono - tuonare ‘donnern’ / / tono - intonare ‘anstimmen’. Der Diphthong ist so gut wie fixiert in buonissimo, nuovissimo. Auch in an‐ deren Fällen, bei der Verbflexion, finden wir die Neigung zur Fixierung des Diphthongs: cuocere - cuoceva, suono -suonare, suola - risuolare, risuolatura, nuoce - nuoceva, nuocerebbe, muovo - moviamo, aber muoverà, muoverebbe. Sehr viele Italiener, die neutoskanische Formen wie nòvo, òmo, fòco, ròta, sòcero ablehnen, halten sicherlich auch „regelmäßige“ Formen wie sonava, moverebbe, nocerebbe, tonerà, cocerebbe, bonissimo, novissimo für Toskanismen. Eine Dissertation darüber könnte zu interessanten Ergebnissen kommen. Man müsste dabei sowohl den Gebrauch der Schriftsteller als auch die Umgangs‐ sprache untersuchen. Vor allem die neuen Regeln in der Verbalflexion und in der Ableitung sind dabei interessant. [Die Leidener Dissertation von Bart van der Veer (2006) behandelt dieses Thema, freilich mit anderer Zielsetzung, sowohl deskriptiv als auch phonologisch-theoretisch im Rahmen der Optimalitätsthe‐ orie. Zugrunde liegen empirische Datenerhebungen.] 3.2 Italienisch 129 <?page no="131"?> 4 Die Probleme der romanischen Phonologie Die Hauptprobleme der romanischen Phonologie lassen sich gliedern in in‐ terpretatorische und in objektive Probleme. Beide Gesichtspunkte sind kombi‐ nierbar, da die Interpretation gerade die objektive Fragestellung betreffen kann. In objektiver Hinsicht geht es um 1. Unterschiede, die nicht von allen Sprechern gemacht werden, 2. geringe funktionelle Leistung von Oppositionen. Deren Glieder werden zum großen Teil automatisch oder in freier Variation realisiert. Grundsätzlich gilt dazu die Annahme des Phonembegriffs, wonach die Phoneme konstitutive distinktive Elemente sind. Die Existenz eines Phonems ist gegeben, wenn es mindestens einmal unterscheidet. Wenn das der Fall ist, wird angenommen, dass es auch in anderen Fällen, wo es erscheint, ein konstitutives Element ist und eventuell auch dort, wo es automatisch eintritt, als solches existiert. Für viele Pho‐ nologen handelt es sich dann allerdings um die Realisierung eines Archiphonems. Allerdings gibt es hier ein Problem: Was geschieht, wenn eine durch das System gerechtfertigte Einheit unter gewissen Bedingungen doch nicht unterscheidet oder nicht allein unterscheidet? Für einige Phonologen ist hier trotzdem ein Phonem gegeben, und zwar allein durch seine Existenz im System, für andere ist dies nicht der Fall. Inwiefern muss man „mögliche Phoneme“, also „leere Fächer“, annehmen? Da z.B. im Río-de-la-Plata-Spanischen das Phonem / j/ grundsätzlich als [ʒ] bzw. als [ʃ] realisiert wird, könnte man das Phonem / j/ als durch / ʒ/ ersetzt betrachten, wobei / ʒ/ [ʒ] oder / ʃ/ realisiert wird. Daraus ergäbe sich eine Oppo‐ sition / ʧ/ - / ʒ/ wie in macho - Mayo. Voraussetzung dabei ist, dass / ʃ/ nicht existiert, d.h. in diesem Zusammenhang nur ein denkbares Phonem ist. In diesen Zusammenhang gehört auch die Unterscheidung zwischen Archi‐ phonem - Phonem - Hypophonem (siehe oben I, 5.2 und II.8.2.2.1). Diese Unterscheidung wird jedoch normalerweise nicht gemacht, allenfalls werden - wie bei Martinet - neben den Phonemen noch die Archiphoneme berücksichtigt. 4.1 Interpretationsprobleme im Französischen [Die 1972, also zur Zeit von Coserius Vorlesungen zur Phonologie erschienene 1. Auflage von Wolfgang Rothes Phonologie des Französischen wurde von Coseriu nicht rezipiert. Wegen der Bedeutung dieses Werkes für die kritische <?page no="132"?> Beschreibung der französischen Phonologie zu jener Zeit, erlauben wir uns, sie hier an jeweils gegebener Stelle zusätzlich anzuführen. Das Gleiche gilt für zwei andere Standardwerke, nämlich Delattre (1966) und Walter (1976).] 4.1.1 Die Nasalvokale Die Nasalvokale werden meist als selbständige Phoneme interpretiert, also / ε͂ ͂/ , / œ͂/ , / ɔ͂/ , / -/ . Will man paradigmatisch den Zusammenhang zwischen bon - bonne deutlich machen, kann man sie auch als Kombination aus Vokal + Nasalkonsonant betrachten: / bɔn/ - / bɔn/ , wobei ersteres als [bɔ͂], letzteres als [bɔn] oder [bɔnə] ausgesprochen würde. Wie man sieht, birgt diese Interpreta‐ tion aber neue Schwierigkeiten, denn man müsste im ersten Fall markieren, dass das lautlich fiktive / n/ der Nasalierung des Vokals dient, im zweiten Fall dagegen als Nasalkonsonant ausgesprochen wird. Außerdem würde dies nur synchron als phonologische Interpretation gelten, während diachron gerade der im frühen Altfranzösischen noch als solcher realisierte Nasalkonsonant nach der völligen Nasalierung des vorhergehenden Vokals und dessen Phonematisierung allmählich verstummt ist; siehe dazu auch Martinet 1969a. 4.1.2 Die Vokalquantität Die von Hall (1948a) nicht berücksichtigte Vokallänge kann man verschieden interpretieren. Da nach Aussage von Martinet (1971) zu seiner Zeit viele Franzosen bout - boue [bu] - [bu: ], fini - finie [fini] - [fini: ] mit unterschied‐ licher Vokallänge aussprachen, gab es verschiedene mögliche phonologische Interpretationen (siehe auch Durand 1946 und Delattre 1966, 105-137). Louis Helmslev hat im Bulletin du Cercle Linguistique de Copenhague (1948-1949) vorgeschlagen, die Vokallänge im Französischen phonologisch als Kombination von V + / ə/ zu interpretieren, was mit Martinets Auffassung übereinstimmt (Martinet 1969b), dass [ə] kein Phonem ist, sondern hier als fiktives Phonem behandelt wird. Togeby (1965, 57) hat Hjelmslevs Vorschlag übernommen: Demnach würde / ø: / z.B. in (il/ elle) jeûne ‘(er/ sie) fastet’ nicht einfach als / ʒø: n/ , sondern als / ʒøənə/ interpretiert, jeune ‘jung’ dann folgerichtig phonologisch als / ʒønə/ . Dieses / ə/ hat keine stoffliche, phonische Realität, dient aber nach Vokal als Kennzeichen der Quantität. Sonst ist es realisierbar, kann aber auch mehr oder weniger stumm sein. Beispiele für andere Vokale sind: / o: / als / oə/ , etwa in pôle / poələ/ gegenüber Paul / polə/ , / ɑ: / als / ɑə/ wie in mâle / mɑəla/ gegenüber mal / malə/ oder homonymem malle / malə/ , / ε: / als / εə/ wie in maître / mεətrə/ gegenüber mettre / mεtrə/ . 132 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="133"?> Schon Trager (1930) hatte bemerkt, dass in gewissen Fällen auch eine Qualität zu einer Quantität werden kann. [Das Problem der Vokalquantität behandelt Rothe (1978, 109-111) in einem Kapitel über „die Prosodeme des Französischen“. Dabei geht er nur auf die gefährdete Opposition / ε/ - / ε: / ein, die er eine virtuelle Opposition nennt, d.h. eine, die von den Sprechern im Zweifelsfall zur Verdeutlichung gemacht werden kann, aber meistens nicht gemacht wird.] 4.1.3 Das Problem des „e instable“ und der Halbvokale Das [ə] ist für Phonologen wie Gougenheim (1935, 37-39) eine Variante von / œ/ , für andere wie Togeby (1965, 57) ein Phonem, für wieder andere, wie z.B. Mar‐ tinet kein Phonem, sondern ein automatisches vokalisches Element (Martinet [1945] 1971, 37-39; 1969b). [Für Rothe (1978, 56) ist / ə/ ein Phonem, weil es in einigen Fällen zu anderen Vokalen oppositiv ist und der Bedeutungsunterschei‐ dung dient, siehe frileux ‘frostig, verfroren’ - fris-le! ‘brate es! ’, prends-le! ‘nimm es! ’ - prends-les! ‘nimm sie! ’] Bei den Halbvokalen (Gleitlauten, Pustka 2011, 104-106) / j/ wie in ail ‘Knoblauch’ / aj/ , / w/ wie in oui / wi/ , / ɥ/ wie in puis / pɥi/ ergibt sich die Frage, ob sie als Elemente des konsonantischen Systems oder als Vokale in derselben Silbe angesehen werden sollen. Der unsilbische Cha‐ rakter der Halbvokale wird entweder durch besondere konsonantische Zeichen wie / j/ , / w/ , / ɥ/ angezeigt oder durch die Hochschreibung wie in [a i , u i , y i ]. [Letzteres erscheint unzweckmäßig, da es sich um steigende Diphthonge han‐ delt; besser wäre also die Hochstellung des ersten Elements: [ w i], [ y i]. Dagegen handelt es sich bei ail [a: j] um ein auslautendes konsonantisches [j].]. 4.1.4 Die Struktur des Vokalsystems Des Weiteren gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die nur selten in Opposition tretenden Vokale / œ/ - / / ø/ wie in (ils/ elles) veulent - veule ‘matt, schlaff ’und / ø/ - / ø: / wie in peu - (il/ elle) jeûne ‘(er/ sie) fastet’ jeweils eigene Phoneme bilden oder nicht. Hammarström (1972, 36-37) geht davon aus, dass der Unterschied zwischen / œ/ und / ø/ wie in jeune und jeûne von den meisten Franzosen nicht mehr gemacht werde und daher zu vernachlässigen sei. Er nimmt daher nur einen einzigen Vokal / œ/ an, der allerdings kurz wie in (ils/ 4.1 Interpretationsprobleme im Französischen 133 <?page no="134"?> elles) veulent und jeune gegenüber / œ: / in veule bzw. jeûne sein könne, aber nicht müsse. Den Qualitätsunterschied zwischen offenem / œ/ und geschlossenem / ø/ berücksichtigt er hierbei nicht. Togeby (1965, 56-60) beschreibt die verschie‐ denen Meinungen sehr klar. Gougenheim (1935) hatte allein 18 Vokalphoneme unterschieden, darunter auch die Halbvokale: / a/ / ɑ/ / ɑ͂/ / e/ / ε/ / ε͂/ / ø/ / œ/ / ø͂/ / o/ / ɔ/ / ɔ͂/ / i/ / j/ - / y/ / ɥ/ - / u/ / w/ - Außerdem unterscheidet er einenVokal je nach seiner Stellung als nue wie / ε/ in l’être und als couverte wie in le hêtre, bezüglich der Prosodie zwischen atone (nicht hoch) und tonique (hoch, z.B. in der Frage), bezüglich der Betonung zwischen non-intense (unbetont) und intense (betont). Die Liste umfasst also 14 Oralvokale, wobei [ə] als Variante von / œ/ gedeutet ist, aber nur sieben Archiphoneme: / i/ , / y/ , / u/ , / e/ , / ø/ , / o/ , / a/ . Diese Archiphoneme werden dann auch von Martinet übernommen: A E Œ O I Y U série palatale non-arrondie palatale arrondie vélaire arrondie. A. W. de Groot (1940) zählt 20 Vokale, lange und kurze eingerechnet, aber ohne Halbvokale, Jakobson und Lotz (1949) 19 Vokale ohne Längen und Kürzen, nämlich - a ɑ - - e ε - - o ɔ - - ø œ - - i j - - y ɥ - - u w - - ε͂ ø͂ õ - ə als „zero phoneme“ 134 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="135"?> 28 Diese methodischen Termini hat Coseriu auch in seinem Binarismuskapitel (I, 5.3.) nicht benutzt. Die auf Jakobson zurückgehende Unterscheidung wird sonst auch Martinet (1969, 179) rechnet mit 16 Vokalen ohne Halbvokale bzw. unter Weglassung von [ə] mit 15. Lausberg (1947, 109-110) geht von 16 französischen Vokalen aus: i/ y e/ ø u õ ε/ œ (ə) ɔ a/ ɑ - ẽ / ø͂ o Hall (1948a) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, aber mit Einbeziehung von / ə/ als Phonem und drei Halbvokalen, dazu kommen vier Nasalvokale: Front unrounded Front rounded Back rounded j ɥ w I y u e ø o ε œ ɔ a ə ɑ Die Quantität betrachtet Hall als nicht funktionell. G. L. Trager (1944) unterscheidet 11 Vokalphoneme, dabei nur ein / ø/ , also kein / œ/ . Die Nasalvokale interpretiert er als / V + n/ . Die Oppositionen / e/ - / ε/ , / o/ - / ɔ/ und / a/ - / ɑ/ hält er für Quantitätsoppositionen: kurz - lang, wobei er die Längen in der Tradition des 19. Jahrhunderts durch einen Strich über dem betreffenden Vokal darstellt. So kommt er auf folgende Liste: / i, e, ē, a, ā, o, ō, u, y, ø, ə/ . Hjelmslev (1948-1949) hat 12 Vokale, da er auch / œ/ dazuzählt, geht aber nur von Qualitätsunterschieden aus: / i, e, ε, a, ɑ, o, ɔ, ø, œ, u, y, ə/ . Für Togeby (1965, 57-58), der [œ] für eine Variante von / ø/ und [ɔ] für eine Variante von / o/ hält, ergeben sich zehn Vokale: / i, y, u, e, ε, ø, o, a, ɑ, ə/ . Bei dem Gegensatz / a/ - / ɑ/ sei / ɑ/ das intensive Glied, / a/ das extensive Glied der Opposition 28 , da / a/ viel häufiger sei als / ɑ/ und eine Opposition nur zwi‐ 4.1 Interpretationsprobleme im Französischen 135 <?page no="136"?> „merkmalhaft“ oder „merkmaltragend“ und „merkmallos“ genannt, eine Terminologie, die auch Coseriu in Kap. I, 5 bei der Beschreibung der Arten von Oppositionen verwendet: „intensiv“ = „merkmalhaft“, „extensiv“ = „merkmallos“. schen bat ‘(er/ sie) schlägt’ und bât ‘Packsattel’ bestehe. Meist sei der Gegensatz automatisch geregelt, wobei / ɑ/ häufig vor geschriebenem auslautenden <s> eintrete. Hammarström (1972) verzeichnet 18 Vokale, wobei [ø] als positionelle Va‐ riante von / œ/ aufgefasst wird. Längenoppositionen werden bei / ε/ - / ε: / , / ɔ/ - / ɔ: / und / œ/ - / œ: / angenommen. Die Nasalvokale werden eingerechnet, die Halbvokale aber nicht. [Rothe (1978, 56-58) führt 11 orale und 4 nasale Vokalphoneme an, die er jeweils durch treffende Minimalpaare als solche nachweist. Zum System gehören auch / ə/ und / œ/ . Die Halbvokale [w] und [ɥ] stellen nach Rothe (1978, 59-61) keine Phoneme dar, sondern Varianten von / u/ und / y/ und Glieder der diphthongischen Phoneme / wɑ/ und / wε͂/ .] 4.1.5 Besonderheiten des französischen Konsonantensystems Problematisch ist hier die Interpretation des „h aspiré“, der „Halbvokale“ und des / ɲ/ . Das „h aspiré“ wird von Togeby, Hjelmslev, Trager und Hall als Phonem betrachtet, von Gougenheim aber nicht. Für ihn ist es ein Element, das in Fällen wie le hêtre ‘die Buche’, le héros, le onze mai ‘am 11. Mai’ das dem Hiat vorausgehende [ə] zu einer „voyelle couverte“ macht. [Rothe (1978, 91-103) diskutiert das Problem sehr ausführlich und kommt zu dem Schluss, dass es aus der Phonologie auszuschließen sei, denn etwas, das gar kein Laut ist, kann auch kein Phonem sein, und auch ein Phonem Null habe theoretisch keine Berechtigung. Er löst das Problem dadurch, dass er es in die Lexikologie, eigent‐ lich in die Morphologie, verschiebt, indem er annimmt, dass eine Reihe von Substantiven ein umfangreicheres Formeninventar als andere haben, dass also anders als bei / livr/ , / ɔm/ usw. Wörter wie / εtr/ , / ero/ in ihrem Paradigma auch Formen wie / ləεtr/ , / ləero/ bzw. / meero/ , / seero/ usw. haben.] Von Jakobson & Lotz (1949) wird das „h aspiré“ als [ə] interpretiert. 4.1.6 Die Halbvokale Von vielen Autoren werden die Halbvokale getrennt von den Vokalen klassifi‐ ziert, so bei Malmberg (1940-1941) und Robert Hall (1948a), bei anderen (Togeby 1951) aber einfach als Vokale: [j] = / i/ , [ɥ] = / y/ , [w] = / u/ . Bei Martinet (1960, 136 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="137"?> 80-81) wie bei Gougenheim werden [ɥ] und [w] als Varianten von / y/ , / u/ geführt, / j/ dagegen als von / i/ verschiedenes Phonem. 4.1.7 Der palatale Nasal / ɲ/ Der palatale Nasal / ɲ/ wird von den meisten Autoren als Phonem behandelt, nur Togeby (1951) und Martinet (1960, 73) ordnen [ɲ] als Variante der Sequenz <ni> + V ein, da panier ja auch zweisilbig [paˈɲe] ausgesprochen werde. Grammont (1933) hingegen erklärt [ɲ] als Kombination von / n/ + / j/ . Somit gibt es bei fast allen Autoren dieselbe Anzahl an Konsonanten: Hjelmslev, Trager, Hall 18 (ohne / j/ ) Gougenheim 18 (mit / j/ , ohne / h/ ) Martinet 19 (mit / h/ , mit / j/ ) Jakobson 17 (mit / ɲ/ , aber */ h/ = [ə]) Togeby 17 (ohne / ɲ/ ) Hammarström 17 (mit / ɲ/ , ohne */ h/ ) [Rothe 17 (mit / ɲ/ , ohne */ h/ .]) Verglichen mit den problematischen Punkten bei der Interpretation des Franzö‐ sischen sind die des Spanischen und des Italienischen viel weniger zahlreich und fast immer allgemeiner Natur, wie etwa die grundsätzliche Einschätzung der Diphthonge, der „Halbvokale“ oder - im Italienischen - die Interpretation der Geminaten. 4.2 Interpretationsprobleme im Spanischen Fraglich ist im Spanischen nur die Bewertung der Diphthonge, der Halbvokale und der Bewertung von / r̄/ . Die Diphthonge sind entweder getrennte Einheiten oder - so z.B. bei Alarcos (Alarcos Llorach 1949) - Kombinationen vokalischer Einheiten. Die „Halbvokale“ [j] und [w] erscheinen entweder als Elemente in Di‐ phthongen oder sind Varianten von / i/ und / u/ . Für Bowen und Stockwell (1955) sind sie eigene Konsonanten. S. Saporta (1959), Ch. F. Hockett (1955) und Alarcos (Alarcos Llorach 1949) betrachten sie als vokalische Varianten von / i/ und / u/ . Demnach sei / j/ in mayo, yodo ein 4.2 Interpretationsprobleme im Spanischen 137 <?page no="138"?> Konsonant, in Diphthongen wie hay, hoy aber vokalische Variante von / i/ . Der Konsonant / w/ wie in hueso, huerto, der nach Martinet ein Phonem ist, wird von Alarcos (Alarcos Llorach 1949) als Kombination aus / g/ + / u/ betrachtet. [Dies beruht darauf, dass / w/ im populären und rustikalen Spanisch oft als [gw] realisiert worden ist und wird.] Der im Silbenanlaut als [r̄] realisierte Vibrant / r/ wird von Stockwell, Bowen & Fuenzalida-Silva (1985) als Kombination aus / r/ + / r/ betrachtet, von Prieto (1954) dagegen als Variante von / r/ im Silbenlaut; [so auch von Blaser (2007, 28)]. Alarcos (Alarcos Llorach 1949, 1961)] betrachtet / r/ und / r̄/ als zwei ver‐ schiedene Phoneme, auch deswegen, weil es im Spanischen keine Geminaten gibt. 4.3 Interpretationsprobleme im Italienischen Hier gibt es fünf Bereiche, in denen Interpretationsprobleme auftauchen: - die Frage, ob Diphthonge eigene Einheiten bilden oder nicht; - die Frage, ob [j und [w] in Diphthongen Phoneme sind oder Varianten von [i], [u]. Belardi (1970), Castellani (1956) und Fiorelli (1957) halten sie für Phoneme, Arco und Bonfante (Bonfante/ Porzio-Gernia 1964) dagegen für Varianten von / i/ , / u/ ; - die Frage, ob / s/ - / z/ , die nur im Toskanischen eine bedeutungsunterschei‐ dende Opposition bilden können, zwei Phoneme sind, wird von Malmberg (1942b), Fiorelli (1957), Arce (1962) und Bonfante (Bonfante/ Porzio Gernia 1964) bejaht, von Porru (1939), Hall (1948b) und Belardi (1970) dagegen verneint; sie halten [z] für eine Variante von / s/ ; - das Problem, ob [ʦ] - [ʣ] zwei Phoneme oder eine Kombination aus / t/ + / s/ bzw. / d/ + / z/ sind, wird unterschiedlich gesehen. Für einige Linguisten sind es Phonemkombinationen, für andere, darunter Bonfante (Bonfante/ Porzio- Gernia 1964), Arce (1962), Belardi (1970), Hall (1948b) und Migliorini (1957) sind es eigene Phoneme. - Sind die langen Konsonanten des Italienischen Kombinationen aus zwei gleichartigen Konsonanten, oder sind es eigene Phoneme? Für die meisten sind es Kombinationen, jedoch Belardi (1970), Castellani (1956), Arce (1962) und Fiorelli (1957) betrachten sie als eigene Phoneme. [Ganz allgemein fällt auf, dass Coseriu das Handbuch von Muljačić (1969) zwar in seiner bibliographischen Liste (oben II.2.4) einmal genannt hat, aber sonst bei keiner Fragestellung erwähnt oder als Beleg heranzieht.] 138 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="139"?> 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 4.4.1 Interpretatorische Unterschiede im Spanischen und Italienischen Hier gibt es objektiv weniger Fakten als interpretatorische Unterschiede. Sie betreffen so gut wie ausschließlich das Französische. Im Italienischen und Spanischen handelt es sich fast immer um regionale oder - im Spanischen - auch um regional und sozial verschiedene Systeme, denn entweder hat man einen bestimmten Unterschied, oder man hat ihn nicht. Das heißt, man hat entweder spanisch / s/ - / ϑ/ oder nur / ϑ/ , nur / ʂ/ oder nur / s/ , was historisch dem / ϑ/ entspricht. Oder man hat im Spanischen eine Opposition / j/ - / ʎ/ oder nur / j/ oder im Italienischen, genauer im Toskanischen, / s/ - / z/ , / e/ - / ε/ , / o/ - / ɔ/ , wobei zu berücksichtigen ist, dass derselbe Unterschied nicht immer in derselben Art von Wörtern gemacht wird, also tosk. tesi [ˈtesi]] (Part. pass. mask. pl. von tendere) - tesi [ˈtezi] ‘These, Examensarbeit’, aber / franʧeze/ gegenüber / inglese/ . Im Römischen und Süditalienischen ist dagegen die Oppo‐ sition und die unterschiedliche Aussprache nicht gegeben, es ist immer / s/ , also / franʧese/ , / inglese/ , / tesi/ . Ein Phonem / z/ existiert im dortigen System nicht. Im Norditalienischen gibt es dagegen für / s/ eine Positionsbeschränkung auf den Anlaut, im Inlaut gibt es nur [z]: [franʧeze], [iƞgleze], [tezi]. Im Florentinischen können dagegen auch / e/ und / ε/ in Opposition stehen: / peska/ ‘Fischfang’ - / pεska/ ‘Pfirsich’. [Siehe dazu auch Heinz/ Schmid (2021, 156-171).] Aber es gibt auch einfach unterschiedliche Aussprachegewohnheiten, ohne phonematische Funktion, so florentinisch [ˈlεttera], aber römisch [ˈlettera] ‘Brief ’, florentinisch [kolonna], römisch [koˈlɔnna]. Die verschiedenen Systeme sind ziemlich genau bestimmbar. [Siehe dazu mit vielen Details auch Heinz/ Schmid (2021, 156-162).] - 4.4.1.1 Interpretationsprobleme im Spanischen im Einzelnen Wenn man so sagen darf, hat das Spanische seine großen phonologischen Probleme schon lange gelöst, nämlich durch die sogenannte phonologische Revolution des Siglo de Oro. Damals sind Oppositionen mit geringer Leistung verschwunden. Die Oppositionen, die geblieben sind, haben alle eine ziemlich hohe funktionelle Auslastung. Es hat das klarste und festeste System unter allen romanischen Sprachen. Die Probleme des Spanischen sind anderer Natur, nämlich vor allem diatopischer und diastratischer Natur. Dazu kommt, dass das exemplarische Spanisch von Spanien in der spanischsprachigen Welt in der Minderheit und nicht mehr tonangebend ist. So ist z.B. Mexiko sehr viel bevölkerungsreicher als Spanien. 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 139 <?page no="140"?> Vor allem ist Spanien aber sprachlich viel weniger einheitlich als Hispano‐ amerika. In Spanien gibt es einerseits andere Sprachen größeren Ausmaßes (Katalanisch, Galicisch, Baskisch), in hispanoamerikanischen Ländern dagegen kaum, denn die indigenen Sprachen, z.B. in Mexiko, Bolivien und Peru, haben nicht denselben Status wie die anderen Sprachen in Spanien, auch wenn sie in der Verfassung anerkannt sind. Zudem handelt es sich im Fall des Katalanischen um eine in seiner Region mit dem Kastilischen rivalisierende Kultursprache. In dieser Hinsicht ist also die sprachliche Einheit in Spanien geringer als in Frankreich, wo das Okzitanische weit davon entfernt ist, den Status des Französischen erreicht zu haben. Außerdem sind in Spanien immer noch andere Mundarten neben dem Kastilischen bedeutsam, so das Astur-Leonesische und das Aragonesische. Und dazu ist im Kastilischen selbst die Spaltung ziemlich tief zwischen dem Kastilischen im eigentlichen Sinn und dem Andalusischen und dem Südspanischen überhaupt. Zum Südspanischen gehört auch der große Bereich des Hispanoamerikani‐ schen. Das Südspanische und damit Amerikanisch-Spanische ist zwar letztlich eine Form des Kastilischen, aber innerhalb desselben bildet es eine einzige große mundartliche Untereinheit. Die Opposition / s/ - / ϑ/ ist in Amerika so gut wie unbekannt: in der Norm wird überall / s/ als [s] realisiert. Darüber hinaus ist der Zusammenfall von / ʎ/ mit / j/ in den meisten und wichtigsten Ländern die Norm [und hat heute auch die größten Teile Spaniens bis in den Norden hinein erfasst.] Ein weiteres Argument für die heutige Plurizentralität des Spanischen ist, dass Madrid nicht mehr das größte und wichtigste Zentrum der spanischspra‐ chigen Welt ist: Mexiko-Stadt (Ciudad de México) und Buenos Aires sind viel größer und prägen die Norm in weiten Bereichen, daneben gibt es aber auch viele andere normprägende Metropolen, die ihre Norm behaupten: Bogotá, Santiago (de Chile), La Habana, Lima, Caracas, Montevideo. Der Prozess der Verschiebung geht aber noch weiter, denn Madrid selbst ist im Begriff, eine echt kastilische Sprachinsel innerhalb des Südspanischen zu werden. Verschiedene südspanische Züge haben Madrid erreicht und verbreiten sich schon nördlich der Hauptstadt. In Madrid selbst haben diese Züge die untere Schicht der Bevölkerung so gut wie erobert, und gewisse Züge haben schon die familiäre Sprache der oberen Schichten erreicht, so die schon erwähnte Nicht- Unterscheidung zwischen / ʎ/ und / j/ . Es scheint sich nochmals das zu wieder‐ holen, was für die spanische Sprachgeschichte charakteristisch ist, allerdings diesmal ohne die Versetzung der Hauptstadt. In Spanien ist schon immer das politische Zentrum sprachbestimmend gewesen: Toledo - Burgos - Toledo - 140 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="141"?> Madrid. Diesmal scheint die Eroberung der Hauptstadt durch eine mundartliche Form des Spanischen bevorzustehen, vgl., Catalán (1971). Was das System als solches betrifft, gibt es nur wenige schwache Punkte. Im Vokalsystem gibt es nichts bezüglich des Systems, die fünf Kardinalvokale des Spanischen sind alle fest. Im Konsonantensystem gibt es vier Problempunkte, die zu besprechen sind: a. Da ist zunächst die Asymmetrie des Systems im Fall der dreigliedrigen Opposition / ʧ/ - / s/ - / j/ . Im spanischen Konsonantensystem ist das Ver‐ hältnis zwischen Okklusiven und Frikativen stets dreigliedrig: während die Okklusiven eine Sonoritätsopposition aufweisen (stimmlos - stimmhaft), fehlt diese bei den Frikativen: p t k b d g f ϑ x Auch im Falle von Auch im Falle von / ʧ/ - / j/ / s/ handelt es sich um drei Glieder, jedoch in einer unvollkommenen Korrela‐ tion, denn / j/ lautet im Anlaut und nach Nasal vielfach [ɟ], z.B. in yerro, cónyuge, sonst [j], z.B. in mayo, playa, also eindeutig korrelativ zu / ʧ/ , so wie / b/ gegenüber / p/ . Dagegen ist die Opposition / ʧ/ - / s/ weniger klar, denn / s/ lautet nicht [ʃ], sondern [ʂ]. Gleichwohl ist die Opposition phonematisch annehmbar. Aber die Opposition / j/ - / s/ befindet sich in einer isolierten, nicht neutralisierbaren Opposition. [Das stimmlose Ge‐ genstück zu / j/ wäre / ç/ , das aber im Spanischen kein Phonem ist und auch als Phon [ç] nur gelegentlich, z.B. in Hispanoamerika, dann aber als regionale Realisierung von / x/ vorkommt.] Bei / j/ selbst gibt es regionale Schwankungen, z.B. als [ʒ], [ʤ] oder [ʃ]. b. Interpretationsprobleme gibt es im Spanischen auch hinsichtlich der Pho‐ nemfolge / gu/ . Das [w] in hueso, hueste, huerto, huevo usw. ist phonema‐ tisch sicherlich / gu/ . Eine solche Lösung scheint „eleganter“ als die An‐ 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 141 <?page no="142"?> 29 Es sei bemerkt, dass ein denkbares Phonem / w/ weder bei Alarcos Llorach (1949, 1961) noch in neuerer Zeit, z.B. bei Blaser (2007), angenommen wird. nahme eines / w/ in solchen Fällen 29 , denn auch das, was <gu> geschrieben wird, wird [gw] oder [w] realisiert: agua - [aγwa] bzw. [awa], igual - [iγwal] bzw. [iwal], lo guardo [loγwarδo] bzw. [lowarδo]. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen / gu/ und / w/ , so dass man beide als / gu/ darstellen kann. Auch wird <ue> oft als [gw] realisiert, vor allem in populärer und ländlicher Aussprache: hueso - [weso] bzw. [gweso], hueste - [weste] bzw. [gweste], huerto - [werto] bzw. [gwerto], huevo [weβo] bzw. [gweβo]. Inbesondere ist dies die normale Aussprache nach Nasal, z.B. bei con hueso, un hueso, están huecos usw. Weniger normal ist es nach / s/ , z.B. in las huertas [lazwertas] bzw. [lazγwertas], und nach Vokal, z.B. de Huelva [dewelβa] bzw. [deγwelβa]. Auch im klassischen Spanisch wurde <ue> oft <güe> geschrieben, z.B. güerto, güevo. Auch heute findet man oft beides als laut‐ liche Varianten, z.B. guaca bzw. huaca ‘(indianische) Begräbnisstätte (im Inkaraum)’, huasca bzw. guasca ‘(in Südamerika) als Peitsche verwendeter Zweig, Gerte’. Man vergleiche auch die volkstümliche lautliche Anpassung von Sir Walter Raleigh durch Sergualterale, wenngleich hier sicherlich auch ein Einfluss der Lautung und Schreibung von Wörtern wie guante, guarda, guardia vorliegt. Die zuletzt genannten Wörter werden auch nur selten [wante], [warδa], [warδia] ausgesprochen. Auch Wörter wie antiguo, contiguo werden nur selten [antiwo], [kontiwo] ausgesprochen, besonders in Amerika, wo diese Aussprache als vulgär gilt. Es gibt allerdings auch Wörter mit [gw] und [w], die verschieden sind, wie etwa huello ‘Gehweg, (Trampel-)pfad’ und güello (asturische Form von ojo), huero ‘inhaltslos, bleich, Windei (bezogen auf Eier)’ und güero (1. P. Sg. eines leonesischen dialektalen Verbs gorar ‘ausbrüten’. Es ist klar, dass diese Wörter keine eigentliche Opposition bilden, da sie verschiedenen Systemen angehören, weil sie in unterschiedlichen Gegenden und in ver‐ schiedenen Sprachschichten gebraucht werden. Wenn solche Wortpaare 142 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="143"?> jedoch in einem System zahlreicher und fester werden sollten, kann dies als Entstehung einer Opposition / gu/ - / w/ gedeutet werden. c. Die folgenden beiden Punkte c. und d. betreffen regionale, also diatopische, und soziokulturelle, also diastratische Unterschiede. Zunächst zur Aufhebung der Opposition / s/ - / ϑ/ , die dazu geführt hat, dass im Südspanischen und Amerikanisch-Spanischen graphische Opposi‐ tionspaare gleich ausgesprochen werden, z.B. casa - caza, casar - cazar, coser - cocer, sepa - cepa, cima - sima usw. Es handelt sich nicht um eine aktuelle, sondern um eine alte Aufhebung, die sich im 16. Jahrhundert etabliert hat: Die altspanische Opposition / ʦ/ - / s/ entwickelte sich phonetisch zu [s] - [ʂ], also einem Gegensatz zwischen einem apiko-alveolarem [s] (ähnlich wie / s/ im Deutschen und Französischen) und einem prädorsalen [ʂ], dem heute typisch „spanischen“ / s/ . Diese akustisch schwer differenzierbare, also schwache Opposition entwickelte sich im Norden und Zentrum Spaniens Ende des 16. Jahrhunderts zur Opposition / ϑ/ - / s/ , phonetisch [ϑ] - [ʂ]. Im Südspanischen, das dann auch nach Amerika getragen wurde, geschah dies nicht. Stattdessen trat eine Nivellierung zu einem einzigen Phonem / s/ , phonetisch [s] ein. Ein Phonem / ϑ/ existiert also im Amerikanisch-Spanischen nicht. Diese Nichtunterscheidung wird üblicherweise „seseo“ genannt, historisch müsste man sie aber eigentlich „ceceo“ nennen, denn das übrigbleibende Phonem / s/ des Amerikanisch-Spanischen geht auf altes / ʦ/ zurück. Aber die Entwicklung von altspanisch / ʦ/ > [s] ist in Südspanien vermutlich hier stehengeblieben, d.h. es hat sich nie ein interdentaler Laut [ϑ] entwickelt. Es ist zu beobachten, dass die Nichtunterscheidung heute Raum gewinnt, d.h. die Existenz eines einzigen Phonems / s/ sich durchzusetzen scheint. Das Gewicht des Südspanischen in Spanien wie auch der Einfluss des zahlenmäßig so bedeutsamen Amerikanisch-Spanischen wird größer. d. Eine zweite Nichtunterscheidung betrifft die alte Opposition / ʎ/ - / j/ in Südspanien und im Amerikanisch-Spanischen. Das verbleibende Phonem / j/ wird [j] und - besonders im La-Plata-Raum - [ʒ] [und seit den 1930-er Jahren teilweise auch entsonorisiert [ʃ] ausgesprochen, siehe Fon‐ tanella de Weinberg (1993, 58), Sánchez Méndez (2003, 259) und Noll (2019, 34-35).] Dieses Phänomen wird allgemein „yeísmo“, auch „rehilamiento“ (etwa ‘Zittern, Schwirren’) genannt. Zur Verbreitung siehe auch Lipski (1994, 192). Die Nichtunterscheidung, die in Amerika, z.B. Mexiko, schon seit den frühesten Zeiten der Kolonisierung dokumentiert ist, hat heute schon Madrid erfasst, wo sie umgangssprachlich normal ist. Das führt zu 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 143 <?page no="144"?> der gleichen Aussprache (Homophonie) mit [j] z.B. bei den folgenden nur graphisch unterschiedenen Wörtern: poyo - pollo, vaya (1. und 3. P. Konj. Präsens von ir) - valla ‘Zaun, Schutzwand’, cayó - calló. Die Distribution des neuen / j/ ([j], [ʒ], [ʃ]) entspricht nicht der Distribution des für das „Normalspanische“ anzunehmenden / j/ , denn die genannten Realisierungen gelten auch für / i/ in intervokalischer Position in demselben Wort, z.B. reyes. Dies gilt aber nicht für / j/ im Anlaut in Wörtern, die mit <hi-> geschrieben werden, denn die sekundären Graphien yerba für hierba und yerro für hierro verhindern im La-Plata-Raum die zu erwartende Lautung [ɟ] und führen zum „rehilamiento“ auch in diesen Fällen, und z.B. auch bei hiena ‘Hyäne’. Wenn man an der Existenz eines Phonems / j/ im Kastilischen zweifelt, so ist klar, dass dieses Phonem in den Gegenden, wo / j/ [ʒ] bzw. [ʃ] ausgesprochen wird, sicher existiert, da es sogar in Opposition zu / i/ stehen kann. 4.4.2 Interpretatorische Unterschiede im Französischen Im Französischen hingegen beobachtet man verschiedene Systeme nicht nur in derselben Gegend (einschließlich Paris), sondern auch bei ein- und derselben sozio-kulturellen Schicht. Dazu findet man nicht dieselben Unterschiede immer bei denselben Wörtern. Wie schon erwähnt, gibt es in der Enquête von Martinet (1945, 201-202) nicht zwei Personen mit genau demselben Vokalsystem, die auch noch bestimmte Unterschiede immer an derselben Stelle machen würden. Die problematischen Punkte im Französischen („français non méridional“) sind folgende: - 4.4.2.1 Das „e caduc“ Abgesehen von den Südfranzosen unterscheiden in Martinets Enquête (1945, 39-40) 21% zwischen laque und lac, 18% zwischen Rome und rhum, 19% zwischen Catherine und Katrine, 23% zwischen charretier ‘Fuhrmann’ und dem Familien‐ namen Chartier. Es zeigt sich, dass das [ə] eher schwindet, je vertrauter dem Sprecher der Gegenstand oder der Name ist. Außerdem neigten in der Enquête die jungen Leute mehr zur Unterscheidung als die älteren. [Siehe zu der Frage auch Delattre 1966, 17-35; Martinet (1969, 109-119), Walter (1976, 292-317; Rothe (1978, 87-91).] Siehe auch unten 8.2.2.3. 144 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="145"?> 4.4.2.2 Die Opposition / a/ - / ɑ/ Bei der alten Opposition / a/ - / ɑ/ stellt Martinet (1949) eine Neigung zu [a] fest, ausgenommen vor / z/ , wo automatisch / ɑ/ erscheint. Bei Sprechern des „français non méridional“ werden ohne Unterschied gesprochen rat - ras von 32%, là - las von 21%, ta - tas von 25%, Pathé - pâté von 25%, aber in gedeckter Stellung, z.B. patte - pâte von nur 5%. [Siehe zu der Frage auch Martinet (1969, 183-186). In Pustka (2011, 77) wird die Opposition dagegen als völlig entphonologisiert dargestellt, d.h. der Kontrast [a] - [ɑ] wäre im „Normfranzösischen“ Frankreichs in keinem Fall mehr bedeutungsunterschei‐ dend.] Wie bei / ε/ und / e/ im Auslaut und / œ/ - / ø/ sowie / ɔ/ - / o/ im Inlaut ist auch hier die Neigung festzustellen, den Unterschied nur in einer bestimmten Stellung zu machen; siehe dazu auch Walter (1976, 44-113). Obwohl die Mehrheit die Opposition / ɔ/ - / o/ nur im Inlaut realisiert, machen nach Martinets Befragung (Martinet 1945) 38% diese Unterscheidung auch bei pot - peau, also im Auslaut, allerdings realisierten hier einige einen Quanti‐ tätsunterschied ([o] - [o: ], andere den Qualitätsunterschied [ɔ] - [o]. Ebenso machten bei sotte - saute 96% der Befragten einen Unterschied, aber wieder einige / sɔt/ gegenüber [sot], aber einige auch [sot] gegenüber [so: t]; siehe dazu auch Walter (1976, 199-270). Die beiden Unterschiede [a] - [ɑ], [ɔ] - [o] machten vor allem die älteren Leute, während bei den Jüngeren eine Neigung zum Zusammenfall festzustellen ist, allerdings nicht immer in denselben Fällen. - 4.4.2.3 Quantitätenoppositionen Die alte Quantitätsopposition / u/ - / u: / , / y/ - / y: / , / i/ - / i: / und / e/ - / e: / wurde bei der Enquête vielfach gemacht, auch in Paris, und zwar roux - roue von 32%, bout - boue von 41%, bu - bue von 30%, si - scie von 47%, prit - prie von 57%, armé - armée von 38%, collé - collée von 32%. 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 145 <?page no="146"?> 30 Die hier angesprochene Vokalharmonisierung im Französischen ist grundsätzlich zu unterscheiden von der Vokalharmonie, wie sie z.B. in den finno-ugrischen Sprachen und in den Turksprachen existiert. Dort betrifft sie über die Phonologie und Phonetik hinaus die grundlegende Wortgestalt (Lexeme und Morphemwörter) sowie die grundlegenden morphologischen Prozesse durch agglutinierte Endungen und Suffixe (Kasusbildung, Possessivkonstruktionen, Lokalangaben usw. durch Suffixe, Wortbildungssuffixe). Die Vokalharmonie in den genannten Sprachfamilien bezieht sich - wenn auch im Einzelfall unterschiedlich geregelt - im Prinzip auf die Opposition palatal - nichtpalatal (oder velar). Palatale und nichtpalatale Vokale können in Erbwörtern nicht zusammen vorkommen. Ein Wort und eine gebildete Wortform ist immer entweder im Ganzen palatal oder im Ganzen velar, z.B. ungarisch ház ‘Haus’ - ház-ak ‘Häuser’ - ház-amat ‘Haus-mein-Objektkasus’, ‘mein Haus’ gegenüber levél ‘Brief ’ - level-ek ‘Briefe’ - level-em-et ‘Brief-mein-Objektkasus’, ‘meinen Brief ’; a ház-ban ‘im Haus’, aber a levél-ben ‘im Brief ’; bei Verben hoz-nak ‘sie holen (etwas)’, aber ég-nek ‘sie brennen’. Scheinbare Ausnahmen wie ung. csinál-ni ‘machen’, hid-ak ‘Brücken’ müssen historisch durch den Rückgriff auf ältere Sprachstufen erklärt werden. Durch Lautwandel ist altes zentrales / ɨ/ zu heute palatalem / i/ geworden. Vokalharmonisierung ist dagegen ein phonologischer Prozess. Nach Gougenheim (1935) ist auch die Anzahl der Personen, die auch im Inlaut unterschieden, ziemlich hoch, z.B. sûr - sûre, tous - tousse. - 4.4.2.4 Die Opposition / ε/ - / e/ Die Opposition / ε/ - / e/ besteht nur im Auslaut, z.B. je ferais - je ferai, j’achèterais - j’achèterai, je chantais - j’ai chanté, claie - clé, aber auch hier beobachtet man eine Tendenz zur Nichtunterscheidung mit der Realisierung [e], z. T. aber auch [ε], also gleiche Aussprache etwa in den genannten Beispielen [siehe auch Rothe (1978, 67)]. Sonst ist die Verteilung komplementär, d.h. [ε] in geschlossener Silbe (perte, ouverte, ferme, tendresse, j’espère, père), [e] in offener Silbe (espérer, carrément, réformer, élévation). Es gibt aber auch eine Vokalharmonisierung (harmonisation vocalique) 30 , die sich hier bemerkbar macht, etwa bei aimer [εˈme], das wegen des Auslauts zu [eˈme] tendiert. Siehe zu der Frage der Vokal‐ harmonie Martinet (1945, 140-142). Bei der Realisierung durch die einzelnen Sprecherinnen und Sprecher kann aber auch die Rechtschreibung eine Rolle spielen [εˈme] wegen der Rechtschreibung und wegen [ʒεm]. Nach Martinet (1945, 117) machen 10% der Befragten generell keinen Un‐ terschied im Auslaut, im Fall der Opposition piqué und piquait bzw. piquet ‚Pflock‘ machten 49% keinen Unterschied. Bei denjenigen, die einen Unterschied machten, sprachen 16% piqué und piquet gleich aus, dagegen 51% piquet und piquait. Aber auch die Unterscheidung von drei Phonemen wurde gemacht 146 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="147"?> (Martinet 1945, 118), / e̟/ , einem sehr geschlossenen / e/ , sowie / e/ und / ε/ . Bezüg‐ lich der Längenopposition / ε/ - / ε: / machten schon bei Martinets Enquête 87% keinen Unterschied mehr zwischen beiden Lauten in belle gegenüber bêle ‚blökt‘ und 65% bei faîte und fête. Siehe zu der gesamten Frage auch Walter (1976, 138-182). - 4.4.2.5 Die Opposition / œ/ - / ø/ Der Kontrast zwischen [œ] und [ø] ist normalerweise automatisch geregelt, also gerade nicht funktionell. Dabei erscheint im Auslaut gewöhnlich / ø/ , im Inlaut dagegen vor dem Ton ein mittleres [ö], in betonter Stellung vor / z/ , / ʒ/ , / s/ , / t/ , / d/ und / k/ [ø], sonst / œ/ . Das heißt, dass eine funktionelle Opposition nur in einigen wenigen Fällen möglich ist, so bei den folgenden Beispielen aus Martinets Enquête (1945, 130-139) mit den Prozentangaben der Befragten, die die Opposition gemacht haben: jeune - jeûne 85%, veulent - veule ‘schlaff ’ 74%, filleul - filleule 24%. Dabei traten jedoch unterschiedliche Oppositionen auf, und zwar / œ/ - / œ: / bei 13%, / œ/ - / ø/ bei 32%, / ø/ - / ø: / bei 39%. Der Qualitätsunterschied wurde also häufig als Quantitätsunterschied interpre‐ tiert. [Die Längenopposition an dieser Stelle ist im Französischen alt, Beispiel bœuf - bœufs). Siehe zur gesamten Problematik der Opposition / œ/ - / ø/ auch Walter (1976, 183-198).] - 4.4.2.6 Die Nasalvokale Gefährdet ist hier vor allem die Opposition / ε̃/ - / œ̃/ , wie z.B. zwischen brin - brun, Alain - alun ‘Alaun’. Nach der Enquête von Martinet (1945, 147-150) machten 39% einen Unterschied, 41% machten die Unterscheidung nicht regel‐ mäßig, 20% machten sie generell nicht. Dabei machten die jungen Leute die Unterscheidung mehr als die der mittleren Generation. - 4.4.2.7 Ergebnisse Martinet (1945, 206-218) präsentiert die Ergebnisse seiner Umfrage zu den französischen Vokalsystemen in verschiedenen Schemata. Wir verzichten hier 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 147 <?page no="148"?> auf die Ergebnisse Martinets für alle Dialektzonen der „France non méridionale“. In seinen Schemata bedeuten - Doppelstriche: konstante, nicht neutralisierbare Oppositionen, - senkrechte Doppelstriche: Artikulationsunterschiede, - einfache waagerechte Striche: neutralisierbare Unterschiede im Öffnungs‐ grad, - einfache senkrechte Striche: Unterschied in der Quantität, - schräger Strich: zugleich Öffnungsgrad und Quantität betroffen (nicht allgemein gültig). A) In der mittleren Generation treten im Silbenauslaut auf: i ║ y ║ u ═════════════════ e ║ ║ _____ ║ ø ║ o ε ║ ║ ═════════════════ a ________ ɑ B) In der mittleren Generation werden im Inlaut in gedeckter Stellung unter‐ schieden: i ║ y ║ u ════════════════ ║ ø ║ o e ~ε ║ε: ║ œ ║ ɔ ════════════════ a ɑ C) In der älteren Generation werden im Silbenauslaut unterschieden: i ║ y ║ u ═════════════════ e ║ ø ║ o _____ ║______ ║________ ε ║ œ ║ ɔ ═════════════════ a ________ ɑ 148 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="149"?> D) In der älteren Generation werden im Inlaut in gedeckter Stellung unter‐ schieden: i ║ y ║ u ════════════════ ║ ø ║ o ε ║ε: ║ œ ║ ɔ ════════════════ a ɑ E) Die junge Generation verhielt sich bei Martinet (1945) wie die mittlere, nur im Inlaut in gedeckter Stellung ging sie bei / ε/ / ε: / mit der älteren Generation, im Falle von / ø/ - / œ/ machte sie jedoch einen Unterschied im Öffnungsgrad, ohne Quantitätsunterscheidung. Daraus kann man am besten die wirklich schwächsten Punkte im französischen Vokalsystem ersehen: Wenn man das System der mittleren Generation, das mit demjenigen der Mehrheit der Pariser zusammenfällt, als Grundlage nimmt, so sind die folgenden Oppositionen schwach: - / e/ - / ε/ weil sie im Auslaut als solche gemacht wird und im Übrigen automatisch ist, z. T. auch mit Quantität kombiniert; - / ø/ - / œ/ und / o/ - / ɔ/ , weil sie nur in gedeckter Stellung, also nicht im Auslaut möglich ist und z.T. auch noch mit Quantität kombiniert wird; - / a/ - / ɑ/ , die etwas stärker als die vorhergehenden ist, aber im Auslaut anders behandelt wird als im Inlaut, nämlich [a] - [ɑ] gegenüber [a] - [ɑ: ] in gedeckter Stellung. Auch was die Generationen betrifft, sind diese Oppositionen schwach, und es ist möglich, dass alle diese Unterschiede verschwinden und zu automatischen Kontrasten werden. [Dies ist nach der Darstellung von Pustka (2011, 77 und 97-98) auch geschehen. Dabei sind die Quantitätsunterschiede am meisten geschwunden.] - 4.4.2.8 Probleme des franzözischen Konsonantensystems - [h]: Nach der Enquête von Martinet (1945, 185-187) wird es außerhalb von Paris zum Teil noch gesprochen: 7% der Befragten sprachen en haut und halles mit [h] aus. [Nach der Enquête von Walter (1976, 450-451) gab es vereinzelte Individuen, die ein „h aspiré“ aussprachen, aber generell wurde es nicht realisiert, außer in englischen, deutschen, arabischen etc. 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 149 <?page no="150"?> Fremdwörtern. Bei Rothe (1978, 91-92) und Pustka (2011, 100-101) wird eine Realisierung nicht einmal in Erwägung gezogen.] - Die Doppelkonsonanz, d.h. die Aussprache von geschriebenen Doppelkon‐ sonanten als lange Konsonanten, wird nach Martinets Untersuchung (1945, 188-200) bei 13% der Befragten gänzlich ignoriert, bei anderen z.T. in ein‐ zelnen Wörtern, z.T. vor allem an der Morphemgrenze beachtet. Diejenigen, die eine Längung nur an der Morphemgrenze vornahmen, betrugen 34% Wie auch in anderen Fällen ist das Verhalten der einzelnen Personen weder vergleichbar noch einheitlich. Wenn es eine Realisierung geschriebener Doppelkonsonanten gibt, so geschieht dies unter Einfluss der Graphie oder aus Gründen der Expressivität und Deutlichkeit. Dies ist besonders an der Morphemgrenze, z.T. aber auch sonst der Fall. Beispielhaft geben wir zunächst einige Lexeme mit der Prozentzahl der Befragten, die einen langen Konsonanten sprachen: sonnez 13%, sommet 45%, addition 35%, illogique 81% (M), irrémédiable 74% (M), je l’ai dit 23%. Die mit (M) bezeichneten Wörter sind diejenigen, bei denen die wohl bewusste Morphemgrenze il-, irwahrscheinlich ausschlaggebend war. Bei je l’ai dit führte das Bemühen um Expressiivität zur Längung des <l>. Vor allem im Norden konnte Martinet eine Neigung zur Doppelkonsonanz feststellen. In Paris sprach die große Mehrheit die Doppelkonsonanz aus, nur 10% vermieden sie und nur 25% an der Morphemgrenze. Bei der jüngeren Generation waren es nur 3%, die die Längung grundsätzlich und nur 25% an der Morphemgrenze vermieden. Man kann also mit einer Verallgemeinerung der Geminierung rechnen. [Diesem Eindruck widersprechen die Ergebnisse von Walter (1976, 424- 447)], die eine lange Liste untersuchter Wörter präsentiert. Danach hängt die Geminierung auch von der Art des Konsonanten ab: 51% waren es bei [ll], 35% bei [nn], 25% bei [mm] und 23% bei [rr], um die häufigsten Fälle zu nennen. Als Fazit heißt es bei ihr (Walter 1976, 447): „…la gémination est actuellement un phénomène en nette régression.“ Weder Rothe (1978) noch Pustka (2011) erwähnen die Doppelkonsonanz.] - [Die „mouillierten“ Konsonanten sind die in älteren Darstellungen (z.B. Martinet 1945, 166-179) so genannten Palatalkonsonanten / ʎ/ und / ɲ/ . Auch 150 4 Die Probleme der romanischen Phonologie <?page no="151"?> Coseriu nennt sie in seiner Vorlesung noch so.] Nachdem der Konsonant / ʎ/ wie in bouteille, soleil, maille im Französischen spätestens am Ende des 17. Jahrhunderts mit / j/ zusammengefallen ist, bleibt nur ein Problem zur Einordnung der Folge / l/ + / j/ bestehen. Nach Martinets Erhebung (1945, 168) sprachen nur 8% der Befragten in familiärer Ungebung soulier wie [suˈje] bzw escalier wie [εskaˈje] aus. Die Übrigen hielten diese Aussprache für vulgär und gaben an, sie zu vermeiden. - Der Kontrast zwischen / n/ + / j/ [nj] und [ɲ] ist dagegen stabiler, denn / ɲ/ ist als Phonem relativ stabil. Gleichwohl sind Oppositionen natürlich selten, und die Opposition ist als solche nur schwach belastet. Martinet (1945, 171) führt drei Oppositionspaare mit Prozentzahlen bezüglich ihrer beachteten Relevanz, d.h. unterschiedlichen Aussprache auf: la nielle ‘der Getreidebrand, Mehltau’ - l’agnelle ‘das weibliche Lamm’ 55%, l’agneau - l’Anio (Flussname) 52%, Régnier - Renier (Familiennamen) 61%. In Paris wurde die Unterscheidung zwar weniger als im Norden und Osten gemacht, aber 37% sprachen [ɲ] in beiden Fällen. Außerdem waren die Unterschiede zwischen den Generationen sehr deutlich: bei der älteren Generation sprachen nur 13% gleich, bei der mittleren Generation 31-36% gleich, bei der jüngeren Generation 50-53% gleich. Bezüglich / ʎ/ und / ɲ/ besteht also eine Asymmetrie im System. Wenn / ɲ/ da ist, würde man auch / ʎ/ erwarten. Es fehlt bei Martinet (1945) aber eine Auskunft darüber, ob pilier, écolier, escalier nicht auch als [piˈʎe], [ekoˈʎe] und [esˈkaʎe] gesprochen werden. Dies wäre auch notwendig, damit die Aussprache [piˈje], [ekoˈje], [eskaˈje] verständlich wird, denn die Zwischenstufe zwischen [lj] und [j] ist [ʎ]. [Auch bei Walter (1976) findet man keine Erwähnung einer möglichen Aussprache [ʎ].] 4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht 151 <?page no="153"?> 5 Phonologische Funktionen im Französischen Abgesehen von der sogenannten „Lautstilistik“ (vgl. oben I, 4.1) gibt es vier phonologische Funktionen, - die gipfelbildende, - die abgrenzende (delimitative), - die konstitutive und - die distinktive (vgl. oben I, 4.2.1 - 4.2.3). Trubetzkoy unterscheidet nur drei phonologische Funktionen, weil er die dritte auf die vierte zurückführt oder sie von der dritten nicht trennt, was übrigens das Übliche ist. Somit sind die drei von Trubetzkoy unterschiedenen Funktionen: 1. Die gipfelbildende oder kulminative Funktion (fonction culminative), 2. die abgrenzende oder delimitative Funktion (fonction délimitative oder démarcative), 3. die bedeutungsunterscheidende oder distinktive Funktion (fonction distinc‐ tive oder diacritique). Die gipfelbildende (kulminative) Funktion besteht darin zu zeigen, wieviele und welche Einheiten („Wörter“ oder „Wortverbindungen“) in einer Äußerung enthalten sind. Die abgrenzende (delimitative) Funktion besteht darin, die Ausdrucksein‐ heiten (Wortverbindungen, Wörter, Morpheme) voneinander abzugrenzen. Es ist dabei nicht notwendig, dass die abgegrenzten Einheiten dieselben wie bei der ersten Funktion sind, es können zum Teil dieselben und zum Teil kleinere Einheiten, z.B. eben gerade Morpheme, sein. Die unterscheidende (distinktive) Funktion ist die Grundfunktion der Schalleigenschaften: Phoneme und z.T. andere funktionelle Einheiten unter‐ scheiden die signifiants voneinander, nicht die signifiés, denn es kann ja auch homophone signifiants für verschiedene signifiés geben. Alle Phoneme unterscheiden oder haben zumindest virtuell diese Funktion, denn es kann ohne weiteres sein, dass für ein bestimmtes Phonem kein Minimalpaar in der betreffenden Sprache zu finden ist. Die Phoneme unterscheiden also nicht in allen Fällen. Es ist nicht notwendig und sogar äußerst selten, dass sich ein Wort durch jedes seiner Phoneme von einem anderen in der betreffenden Sprache existierenden Wort unterscheidet, So haben wir zwar im Deutschen den Fall von <?page no="154"?> G - a - r - t - e - n K - a - r - t - e - n, aber dem steht kein M - a - r - t - e - n - N - a - r - t - e - n gegenüber; es gibt auch kein Minimalpaar G - u - r - t - e - n - K - u - r - t - e - n oder G - u - s - t - e - n - G - u - l - t - e - n. - Trotzdem besteht das Worten Garten aus den Phonemen / g/ - / a/ - / r/ - / t/ - / e/ - / n/ , das heißt, diese Phoneme bilden das Wort oder den signifiant Garten. Dies ist eben die vierte, die konstitutive Funktion der Phoneme, die sogar als dritte Funktion - vor der vierten, der distinktiven Funktion - angenommen werden könnte, da sie die Grundlage der distinktiven Funktion ist. Da die konstitutive Funktion selbstverständlich ist und keine Probleme stellt, wird sie oft auch nicht getrennt berücksichtigt. 5.1 Die gipfelbildende Funktion im Französischen In den meisten Sprachen wird diese Funktion durch prosodische Schalleigen‐ schaften erfüllt, nämlich durch den Akzent oder Ton. Es gibt, wie wir in der allgemeinen Vorlesung gesehen haben (vgl. I, 4.2.2), auch andere Möglichkeiten, doch kommen sie für die romanischen Sprachen nicht in Frage. Im Französischen, Spanischen und Italienischen hat diese Funktion der Akzent (im Sinne von Betonung). Die festzustellenden Einheiten sind sowohl im Französischen als auch im Spanischen und Italienischen nicht Wörter, sondern phonische Gruppen, z.B. ein Lexem mit seinen Proklitika und Enklitika. Auch Lexeme können Proklitika sein, z.B. un beau jour, un bel giorno, un gran libro. Diese Funktion stellt keine besonderen phonologischen Probleme dar. 5.2 Die abgrenzende Funktion - Grenzsignale im Französischen Anders verhält es sich mit der abgrenzenden Funktion. Theoretisch können die Grenzsignale positiv und negativ, einfach und komplex, phonematisch und nichtphonematisch sein. In den romanischen Sprachen werden Grenzsignale im Allgemeinen nur in geringem Maß verwendet, oft nicht regelmäßig, sondern 154 5 Phonologische Funktionen im Französischen <?page no="155"?> nur, wenn man deutlicher sprechen will. Ganz besonders gilt dies für die Einheit Wort und für das Französische. Jedes Wort mehr oder weniger getrennt auszu‐ sprechen, wie im Deutschen, klingt in den romanischen Sprachen fremd. Die lautliche Einheit ist in diesen Sprachen nicht das Wort, sondern die rhythmische Gruppe. Für das Französische kommt vor allem Pierre Delattre (1940) zu dem Ergebnis, dass dieser Sprache die Mittel zur Wortabgrenzung weitgehend fehlen. Möglichkeiten der Abgrenzung - aber eben nur Möglichkeiten - seien - eine unvollständige Aufhebung der Betonung der wichtigeren Wörter in einer rhythmischen Gruppe, - eine Betonung auf der ersten Silbe, - oder Modifikationen in der Artikulation der Liaison-Konsonanten, insbe‐ sondere durch Spannung (tension), Kraft (force d’articulation), Stimmhaftig‐ keit. Er schreibt dazu ausdrücklich: Jusqu’ici nous n’en avons point vu qui remplace l’explosion glottale de l’allemand, l’accent initial du finlandais ou le monosyllabisme du chinois. Ce rôle peut être rendu exceptionnellement par l’accent d’insistance. (Delattre 1966, 148-149) ‘Bisher haben wir keins [kein Grenzsignal] gesehen, das den Glottisverschluss des Deutschen, die Anfangsbetonung des Finnischen oder die Einsilbigkeit des Chine‐ sischen ersetzt. Diese Rolle wird ausnahmsweise vom Druckakzent übernommen.’ Für die rhythmische Gruppe, die am besten abgegrenzte Einheit, gilt im Franzö‐ sischen die Betonung auf der letzten Silbe und die sogenannte „offene Junktur“ (joncture ouverte oder externe) in der Form einer minimalen Pause. Für das Wort gilt dies weit weniger. Seit Paul Passy (1906, §§ 70-73) fragt man sich, ob das Französische zwischen trois petits trous und trois petites roues bzw. il est ouvert und il est tout vert wirklich unterscheidet und wenn ja, auf welche Weise. Die Tatsache, dass für das Französische so viele calembours, wie sie Passy (1906, §§ 74). 109) und viele Andere anführen, möglich sind, zeigt, dass die Abgrenzungen keineswegs durchgehend gemacht werden. Hier eine kleine Sammlung von Beispielen: Allez vous laver - Allez vous l’avez, L’amour a vaincu Loth - L’amour a vingt culottes, La tour magnanime - La Tour Magne à Nîmes, pas encore né - pas encorné, Sur le sein de l’épouse on écrase l’époux - Sur le sein de l’épouse on écrase les poux, Paris est métropole - l’ours est maître au pôle - Virginie aimait trop Paul (Wortspiel, obwohl métropole und Paul mit offenem / ɔ/ gegenüber / o/ in pôle), 5.2 Die abgrenzende Funktion - Grenzsignale im Französischen 155 <?page no="156"?> C’est la Confédération - C’est là qu’on fait des rations, corps nu - cornu, digne d’éloges - digne des loges, Si cela peut t’être utile - si cela peut être utile, Il est ailleurs - il est tailleur, Tu l’a cueilli - tu la cueillis - tu l’accueillis, commentaire - comment taire? , On est esclave - on naît esclave, Arsène, Alexandre - Art ? Scène? Allez! Que cendre! ‘Kunst? Bühne? Ach wo, nur Asche.’, pauvre mais honnête - pauvre maisonnette, J’habite à la montagne et j’aime à la vallée - et j’aime à l’avaler, L’école a fermé ses portes hier - L’école a fermé ses portières, Si c’est neuf, c’est très étroit - six est neuf, c’est treize et trois, Napoléon traversait Paris dans le plus grand désastre - Napoléon traversé par i dans le plus grand des astres. Paul Passy (1906, §§ 79-80) nimmt für solche Fälle wie auch für das genannte les petits trous und les petites roues unterschiedliche Silbentrennung beim Sprechen an, so auch Daniel Jones (1950), der die Gegebenheiten im Französischen von ähnlich scheinenden Fällen wie engl. nitrate gegenüber night-rate trennt. Bertil Malmberg (1971b, 130) nimmt ein besonderes Phonem an, ein „Junkturphonem“ für die Silbentrennung, dies allerdings nur für die Form, nicht für die Substanz, d.h. nur für ein betreffendes phonologisches System, nicht für dessen phone‐ tische Realisierung. André Martinet (1960, 65) führt die Möglichkeit an, lange Nasalvokale - also vor folgendem Konsonanten - im Satz so auszusprechen wie am Wortende, d.h. vor Pause. Dort sind die Nasalvokale kurz, z.B. grand [gʁ-]- grande [gʁ-: d], z.B. in grand dadais ‘großer Dummkopf ’ [gʁ-dadε] - grande Adèle ‘große Adele’ [gʁ-: dadεle]. Dadurch ergäbe sich die Möglichkeit, [gʁ-dad-] von [gʁ-: d ˈad-] zu unterscheiden. Jedoch ist diese Möglichkeit begrenzt und wird auch nicht immer angewandt. Man könnte annehmen, die Betonung auf der letzten Silbe sei eine gute Abgrenzung, zumindest für die mehrsilbigen Wörter, aber in Wirklichkeit sind die französischen Wörter als solche nicht auf der letzten Silbe betont, sondern einfach unbetont oder hinsichtlich der Betonung indifferent. Wie schon Trubetzkoy mit Recht bemerkte (vgl. oben I, 4.2.2), gehört die Betonung im Französischen zur Wortgruppe und zum Satz. Ein mehrsilbiges Wort wird auf der letzten Silbe betont, wenn es das letzte Wort eines Satzes ist oder wenn es den ganzen Satz darstellt. 156 5 Phonologische Funktionen im Französischen <?page no="157"?> 31 Das Dreikonsonantengesetz des Französischen (siehe Rothe (1978, 87-91) in der nach langen Diskussionen gefundenen Fassung, dass „im Französischen Dreiergruppen [von aufeinanderfolgenden Konsonanten] möglich sind, sofern ihre letzten beiden Konsonanten im absoluten Anlaut … oder ihre ersten beiden Konsonanten im absoluten Auslaut … möglich sind.“ Danach ist z.B. une question de style [ynkεstjõdstil] mit -dstmöglich, da anlautendes [st-] möglich ist, aber nicht donne le pain! in der Form *[dɔnlpε], da weder -nl noch lpzulässig sind. In solchen Fällen darf also [ə] nicht verstummen. Siehe dazu unten (II, 8.2.2.3) ausführlicher. Für die Südfranzosen, die das „e muet“ aussprechen, aber keine zusätzlichen „e muets“ nach dem Dreikonsonantengesetz 31 einfügen, funktioniert das „e muet“ als Grenzsignal. (signe démarcatif), zumindest für die Wörter auf [-ə]. Dies gilt aber nicht für die „Français non méridionaux“. Positive Grenzsignale, z.B. Phoneme oder Varianten, die nur im Anlaut oder Auslaut vorkommen, sind also im Französischen äußerst selten. Das sogenannte „h aspiré“ wäre ein solches Grenzsignal, da es nur im Anlaut vorkommt, aber es wird nur sehr selten als [h-] ausgesprochen. Ein komplexes Grenzsignal ist hingegen das, was das ursprüngliche „h aspiré“ heute noch bewirkt, nämlich die Kombination [ə] + folgender Vokalansatz, da sonst [ə] vor Vokal nicht vorkommt. Dies gilt aber nur für die wenigen Wörter, die mit „h muet“ (also verstummtem „h aspiré“) anlauten. Dies schließt allerdings auch sich gleich verhaltende Wörter wie onze und un ‘Eins’ ein. Bei [ə] + V muss die Wortgrenze also dazwischenliegen, allerdings außerhalb der feierlichen Aussprache, wo viel mehr „e muets“ ausgesprochen werden. Ein wichtigeres Grenzsignal ist Ṽ + V, da diese Kombination im Anlaut, Inlaut und Auslaut unmöglich ist. Allerdings zeigt sich hier das geringe Interesse der Franzosen an der Wortabgrenzung, da diese Kombination in der Liaison zu V + n bzw. Ṽ + n wird [mɔnami] bzw. [mõnami]. Sie bleibt vor verstummtem „h aspiré“, z.B. un hameau [œ͂aˈmo], un hibou [œ͂iˈbu] und wirkt dort als Grenzsignal. Sie wirkt aber auch im Fall der „liaison interdite“, also z.B. zwischen Subjekt und Verb (l’enfant a vu), bei der Kombination Substantiv Singular + Adjektiv (un enfant idiot), bei selon + V-, bei cent un, bei de long en large [dəlõ-laʁʒ], z.T. auch in der Kombination Substantiv Pl. + Adjektiv (des enfants idiots [dez-f-idjo] oder [dez-f-zidjo]). Sie gilt normalerweise auch in der Kombination Partizip Präsens + V (chantant une vieille chanson), in der Kombination Verb + folgendes Wort (tu prends une orange). In der Volkssprache gilt dies auch nach sans, dont, quand, aber nicht im Standard oder in höheren Registern. In allen diesen Fällen ist Ṽ + V ein gutes Grenzsignal. Ebenso selten sind im Französischen die negativen Grenzsignale, und auch diese funktionieren nicht ohne Ausnahme. Man kann hier Folgendes erwähnen: Da die Vokale vor den „consonnes allongeantes“ / j/ , / z/ , / r/ , / ʒ/ , / v/ nur in dem‐ 5.2 Die abgrenzende Funktion - Grenzsignale im Französischen 157 <?page no="158"?> selben Wort gelängt werden, ist eine solche Längung ein negatives Grenzsignal, das zeigt, dass das Wort nicht nach diesem allongement endet, sondern frühes‐ tens nach der „consonne allongeante“ (etwa in rage, rive, car, dose, paille). Diese Längung erfolgt jedoch ohne Ausnahmen nur in betonter Stellung, wo sie eigentlich für die delimitative Funktion nutzlos ist. In populärer Sprache ist sie auch in betonter Stellung nicht allgemein. Das Gleiche gilt für Ṽ + K, da die Nasalvokale vor Konsonanten nur in demselben Wort gelängt werden, daher [œ͂gʁ-dεspaɲ] un grand d’Espagne, aber [lagʁ-: dεspaɲ]. Aber diese Längung erfolgt regelmäßig nur betonter Stellung, und in populärer Sprache wird sie oft ignoriert. Gewisse Konsonantennexus (/ tl/ , / dl/ , / bs/ , / bd/ ) kommen nicht im Anlaut vor und zeigen durch ihr Vorkommen, dass das Wort nicht unmittelbar vor ihnen anfängt. Auch im Inlaut können solche Nexus nur in Latinismen (absurde, absorber, abdomen) oder durch den Ausfall eines „e muet“ zustandekommen (Châtelet [ʃatlε], grandelet [gʁ-dlε]). Das Phonem / ɲ/ kommt normalerweise nicht im Anlaut vor und ist dadurch ein negatives Grenzsignal. Ausnahmen bilden einige expressive Wörter und Fremdwörter: gnangnan (fam.) ‘schwerfällig, wehleidig’, gnocchi, gnognote (fam.) ‘chose sans valeur’, gnôle (arg.) ‘eau-de-vie’, gnon (pop.) ‘coup’. Als Wort- und Morphemgrenze kann man auch die Kombination Ṽ + Nasal‐ konsonant (/ m, n, ɲ) ansehen, die normalerweise nur an einer Wort- oder Morphemgrenze vorkommt (ausgenommen Fälle von Liaison): On mange, em‐ mener, un gnangnan, un nigaud). Für Ṽ + / ɲ/ funktioniert dieses Signal ohne Ausnahmen, was so gut wie belanglos ist, da die mit / ɲ/ beginnenden Wörter ohnehin selten sind. Ausnahmen gibt es für Ṽ + / m/ (vînmes, tînmes) und für Ṽ + / n/ , z.B. rien [ʁje͂], bien [bjε͂] + V, etwa in bien entendu, rien appris) sowie on + V (on arrive). Nach der Pariser Aussprache, vor allem der jüngeren Generation, gilt dies auch für mon, ton, son + V z.B. in [mõnami - tõnami - sõnami]. Für diesen letzten Fall kann man sagen, dass das Grenzsignal zumindest negativ funktioniert, denn es zeigt: Es handelt sich hier nicht um einen Anlaut, nicht um einen Inlaut. Die Morphemgrenze liegt entweder nach Ṽ oder nach Ṽ + / n/ Alles in Allem gibt es also im Französischen sehr wenige Grenzsignale. Es gibt aber zwei neue Fakten. 158 5 Phonologische Funktionen im Französischen <?page no="159"?> 32 Jean-Louis Barrault (1910-1994), bedeutender französischer Theaterschauspieler, Pan‐ tomime und Regisseur. 33 Die Darstellung der Aussprache, bei der im Deutschen das / r/ der unbetonten Aus‐ lautsilbe -/ er/ vokalisiert wird, ist problematisch. Das in den meisten Darstellungen verwendete [ɐ] stellt einen nicht ganz offenen zentralen Vokal dar, wie er etwa in port. casa, cosa oder in rum. casă frumoasă vorkommt. Der deutsche Vokal, z.B. in Lehrer, Bauer, Walzer, darüber, einer, grüner, Rasen, ist aber ein auf der Öffnungsstufe von [ə] leicht gerundeter Vokal, für den ich kein passendes Transkriptionszeichen finde. Auch [ʌ] trifft die standarddeutsche Aussprache nicht ganz. Coseriu gibt keine Transkription an und lässt so das, was er meint, etwas im Unklaren. Das eine Faktum betrifft die Tatsache, dass immer weniger Liaisons und an deren Stelle Pausen gemacht werden. Ernst Pulgram (1965) glaubt, dass dies einer Neigung, das phonologische Wort wiederherzustellen, entspricht. Das andere, das Pierre Robert Léon (1967) festgestellt hat, ist eine wirkliche Entdeckung: Viele Franzosen sprechen - fakultativ - bei der Wortgrenze (joncture externe) einen glottalen Verschlusslaut (Glottisverschluss, Knacklaut) aus, und zwar sowohl vor Vokal als auch vor Konsonant. Er zitiert dort aus einer Rede von De Gaulle das Syntagma „Nous avons assumé“, das De Gaulle zunächst [nuzavõzasyˈme] ausspricht, bei der Wiederholung jedoch [nuzav#Ɂasyˈme]. Bei seinem Korpus von 2000 Wörtern stellt er eine joncture externe in 221 Fällen fest, also in 11% der Fälle, von denen 92% eine „occlusion glottale“ aufweisen. Charakteristisch sei dieses Phänomen im Stil von Rednern und Vortragenden, meist in der Funktion der Hervorhebung. Sehr typisch sei dies zu beobachten gewesen in einer Fernsehsendung mit Barrault 32 in einem einführenden Vortrag (22%) und in Szenen aus dem Schauspiel „Le Soulier de Satin“ von Paul Claudel (10% jonctures externes, dort aber nur 5% Glottisverschluss, wegen der Tradition des hohen Stils). Es stimmt also nicht, dass der Knacklaut im Französischen nicht möglich ist. Er existiert, ist aber funktionell von dem deutschen Knacklaut radikal ver‐ schieden. Im Deutschen ist er obligatorisch bei jedem anlautenden Vokal, sowohl im Wortals auch im Morphemanlaut. In einigen Fällen ist die Morphemgrenze im Sprachgebrauch verwischt worden und der Glottisverschluss entfallen, z.B. darüber [daˈʁy: bʌ] 33 statt ursprünglichem [da: rˈɁy: bər], beobachten [bəˈɁobaxtn] statt ursprünglichem [bəˈɁobɁaxtən]. Im Französischen ist er dagegen, wie schon gesagt, fakultativ - sowohl bei vokalischem als auch bei konsonantischem An‐ laut - und nur mit der Funktion der Hervorhebung. Im Deutschen gehört dieser Laut zur Norm der Sprache, im Französischen gehört er zu den Textverfahren. Notwendig wäre eine Untersuchung zur Distribution dieser Erscheinung im Französischen. 5.2 Die abgrenzende Funktion - Grenzsignale im Französischen 159 <?page no="161"?> 6 Phonologische Funktionen im Spanischen 6.1 Die kulminative Funktion im Spanischen Diese Funktion wird im Spanischen durch den dynamischen Akzent wahrge‐ nommen, welcher das phonologische Wort betrifft, also die Einheit von Lexem + Morpheme, z.B. Lexem + Enklitikon/ Enklitika oder Lexem + Proklitikon/ Pro‐ klitika oder nur ein einzelnes Lexem, z.B. los reyes, dárselas, al despertarse, para escribirte, fonológico, me las explica, termino - término - terminó. Einen dynamischen Akzent wie das Spanische haben auch alle anderen romanischen Sprachen, nur das Französische weicht ab (siehe oben II, 5.1). 6.2 Die delimitative Funktion im Spanischen 6.2.1 Positive Grenzsignale im Spanischen A) Einfache phonematische Grenzsignale gibt es im Spanischen nicht, da kein spanisches Phonem nur im Anlaut oder nur im Auslaut vorkommt. Ein nicht-phonematisches Grenzsignal im Anlaut ist / j/ , das zumindest in Spanien im Anlaut von Wörtern oder Morphemen vielfach als palataler Okklusiv oder als palatale Affrikate [ɟ] ausgesprochen wird, z.B. in yugo, conyugal [siehe dazu auch Hualde et. al. (2010, 76)]. B) Komplexe phonematische Grenzsignale können die Phoneme sein, die auch im Auslaut vorkommen können (/ d/ , / n/ , / l/ , / r/ , / ϑ/ , / s/ , / x/ ) und dann in Kombinationen erscheinen können, die weder im Anlaut, noch im Inlaut, noch im Auslaut zugelassen sind. In solchen Fällen liegt die Wortgrenze nach den genannten Konsonanten, also in Fällen wie / d/ + / p/ (salud perfecta), + / f/ (cantidad fonológica). + / t/ , + / ϑ/ , + / d/ , + / ʧ/ , + / s/ , + / ʎ/ , + / r̄ / , / n/ + / ɲ/ (con ñaque ‘mit Gerümpel’), / l/ + / j/ (al yodo ‘mit Jod’), aber z.B. nicht / l/ + / ϑ/ wegen alzar usw., / r/ + / ʎ/ (por llamar ellos a la noche ‘weil sie nachts anriefen’), + / r̄/ (evitar ruidos), / ϑ/ + / f/ (codorniz flaca ‘dünne Wachtel’), + / ϑ/ (avestruz zanco ‘langbeiniger Strauß’, + / ʧ/ , + / j/ , + / s/ , + / x/ , + / ʎ/ , + / r̄/ " / s/ + / s/ (los sucesos), + / ʎ/ (las llamadas), <?page no="162"?> / x/ + K, eine Kombination, die ohnehin nur in Fremdwörtern erscheint / k/ , das im Auslaut nur in Fremdwörtern wie frac, coñac, bivac erscheint. Komplexe nicht-phonematische Grenzsignale entstehen bei Kombina‐ tionen wie [z] + [w] (los huertos), [ŋ] + [w] (están huecos), / j/ + [w] (hoy huevos), / o/ + [ṷ] (libro usado). 6.2.2 Negative Grenzsignale im Spanischen A) Einfache phonematische negative Grenzsignale sind - / r/ , das nur im Inlaut und Auslaut, aber niemals im Anlaut vorkommen kann, - die Phoneme / m/ , / ɲ/ , / t/ , / g/ , (/ k/ ), / b/ , / p/ , / f/ , (/ x/ ), / ʧ/ , / ʎ/ , die nicht im Auslaut vorkommen, - [j] für / i/ , das nicht im Auslaut, sondern nur im Inlaut nach K innerhalb einer Silbe vorkommen kann, z.B. in abierto, - [w] für / u/ unter den gleichen Bedingungen, z.B. in abuelo. B) Komplexe phonematische negative Grenzsignale sind Konsonanten‐ gruppen, die im Auslaut nicht zulässig sind, nämlich - / s/ + K sowie K + / s/ + K, Kombinationen, die auch nicht im Anlaut vorkommen können. Zwischen beiden muss also eine Wort-, Silben- oder Morphemgrenze verlaufen (los techos, mis tíos, lastimar, restaurante, per‐ spicuo). - Die Nexus / ʎi/ und / ji/ können in echt spanischen Wörtern [also nicht in Quechuismen wie llicta ‘fester Brei (in Bolivien)’ oder lliclla ‘Schultertuch der Indiofrauen (im Andenraum)’] nicht im Anlaut vorkommen. bei hoy y mañana liegt also die Wortgrenze notwendig zwischen hoy und y. [Dies ist in diesem Fall evident und daher eigentlich belanglos. Solche Feststellungen von Grenzsignalen betreffen Fälle, in denen die Einheiten nicht von vorn‐ herein bekannt sind, etwa in Eigennamen.] 162 6 Phonologische Funktionen im Spanischen <?page no="163"?> 7 Die kulminative und die delimitative Funktion im Italienischen Die kulminative Funktion ist im Italienischen wie im Spanischen durch den Akzent (Betonung) im phonologischen Wort, d.h. im Einzelwort oder in der Wortgruppe geregelt (siehe auch oben II, 6.1). Anders als im Spanischen werden graphische Akzente nur in der Endsilbe gesetzt, hier der Deutlichkeit halber bei jedem Wort und jeder Wortgruppe. Beispiele sind città, personalità, càsa, scriviàmo, glielo scriviàmo [ʎelɔskriˈvjamo] ‘wir schreiben es ihm’. dàmmelo, telèfono, telefonò, telèfonano, telèfonami! , tèrmino - termìno - terminò. Häufiger als im Spanischen sind parole sdrucciole, also Proparoxytona wie eben sdrùcciolo, fèmmina, sùbito, règola, àbita - àbitano, fòrmano, meritèvole usw. 7.1 Fragen der Phonemdistribution im Italienischen Hinsichtlich der delimitativen Funktion gilt für das Italienische dasselbe wie für das Spanische: Sie ist ausgeprägter als im Französischen, aber in allen diesen Sprachen insgesamt schwach. Problematisch kann hier nur eine durch Latinismen, Gräzismen, Fremdwörter und Abkürzungen (Siglen) hervorgeru‐ fene nicht-italienische Phonemdistribution sein. So gibt es im Italienischen keine konsonantisch auslautenden Wörter, Wortgruppen bzw. Äußerungen. Nur bei morphematischen Wörtern (Artikelformen, Präpositionen) können / l/ , / r/ und / n/ im Auslaut erscheinen: il, col, sul, con, in, per. Lexematische Wörter können in der italienischen Primärsprache nicht auf Konsonant enden, mit Ausnahme des sogenannten troncamento, das in wenigen festgelegten Fällen in einer vortonigen Einheit einer Wortgruppe auftreten kann. Die möglichen Konsonanten sind im Wesentlichen dieselben: gran cane, bel bambino, signor Rossi, und sehr begrenzte -/ m/ , etwa in siam qui [sjamˈkwi]. Sehr viele Konsonantengruppen sind in alten Erbwörtern nicht möglich, so etwa / bs/ , / bd/ , / bn/ , / kt/ , / ks/ , / km/ , / kn/ , / pt/ , / tm/ usw. Durch Latinismen, Gräzismen, moderne Fremdwörter und in modernen Siglen kommen sie aber vor und werden auch realisiert, wenn auch zum Teil mit Schwierigkeiten, d.h. gelegentlich mit Einschub eines unsilbischen [ə]. Letzteres gilt auch und besonders für auslautende Konsonanten und Konsonantengruppen (etwa in cognac, film, FIAT). Prinzipiell bestehen die gleichen Schwierigkeiten auch im <?page no="164"?> Französischen und im Spanischen, aber im Italienischen ist die Lage besonders zugespitzt. Im Französischen können solche Schwierigkeiten am leichtesten genommen werden, vor allem deshalb, weil das Französische in seiner Lautenwicklung zu neuen Konsonantengruppen im In- und Auslaut gekommen ist. [Nachdem sie im Altfranzösischen wegen des Verstummens der alten lateinischen Auslautvokale üblich gewesen waren, z.B. in grant, serf, li sers, dort, sind zum Mittelfranzö‐ sischen hin die meisten auslautenden Konsonanten verstummt (außer / r/ ). In der Neuzeit wurden aber einige in Erbwörtern restituiert, vgl. bec, but, tous (als Pronomen). Durch Latinismen, Gräzismen und Fremdwörter sind viel mehr in der Distribution der Phoneme möglich geworden (vgl. contact, concept, dextre). Außerdem hat die Existenz des „e caduc“ oder „e instable“ das Problem anders als im Italienischen entschärft, sowohl nach dem Dreikonsonantengesetz im Inlaut einer Wortgruppe (siehe oben Anm. 31 und unten § 8.8.2.3) als auch im Auslaut: alle Formen auf -e können als auf Konsonant endend betrachtet werden (homme, fidèle, fraîche, maisonnette, chasse, mérite) als auch als Elemente, die anders als konsonantisch auslautende Wörter wie Tisch, Topf, zack, weg im Deutschen oder street, bush, hammock, off im Englischen die Artikulation des Konsonanten nicht abrupt beenden, sondern ihn mit einem wenigstens angedeuteten -[ə] ausklingen lassen können, mit dem, was Voltaire „das Pedal“ (am Klavier) der französischen Sprache genannt hat.] Im Spanischen sind einerseits bestimmte Konsonanten im Auslaut möglich, andererseits ist das Spanische die romanische Sprache, die die Lautung von Fremdwörtern ihrem eigenen System am weitesten anpasst (z.B. in sicología, neumático, neumopatía, auch die Reduzierung des Latinismus proprius zu span. propio). Dies war noch viel stärker in der Renaissance, als die meisten Latinismen und Gräzismen aufgenommen wurden: damals wurden Konsonantennexus wie in digno, acción, aptitud wie [dino], [aˈsjon], [atituδ] realisiert. Da man dadurch aber z.B. aptitud nicht von actitud unterscheiden konnte, wurden derartige Nexus allmählich doch ausgesprochen. Im Italienischen, wo eine solche Anpassung allzu viel Änderung erfordern würde - z.B. Tilgung aller Konsonanten im Auslaut von Lexemwörtern - hat man in neuerer Zeit auf eine Anpassung weitgehend verzichtet und ist, was die Phonemdistribution bibzw. trisystematisch geworden, indem man zwei oder drei Systeme unterscheidet: - Das erste umfasst echt italienische Erbwörter. - Das zweite Latinismen, Gräzismen und ältere Fremdwörter. Hier werden gewisse Konsonantengruppen, die im ersten System nicht zugelassen sind, geduldet, etwa -pt-, -ct-, -bn-, -mnusw., ebenso auslautende Konsonanten 164 7 Die kulminative und die delimitative Funktion im Italienischen <?page no="165"?> wie in habitat, gratis, est, ovest, sud, nord, auch Namen wie De Angelis, De Bartholomaeis, De Sanctis. - Im dritten System finden sich neue Fremdwörter wie bar, tram, gas, film, sport, golf, dazu auch Abkürzungen wie Fiat (Fabbrica Italiana Automobili Torino), MEC (Mercato Europeo Comune), Cit (Compagnia Italiana del Turismo), Enit (Ente Nazionale Italiano del Turismo), Eiar (Ente Italiano per le Audizioni Radiofoniche). Konsonantenverbindungen und Auslautkonso‐ nanten werden auch durch die Präsenz italienischer Mundarten begünstigt, da besonders die gallo-romanischen Mundarten (z.B. Lombardisch, Emilia‐ nisch, Ligurisch, Piemontesisch) wie das frühe Französische zum Verstummen unbetonter Vokale und von Auslautvokalen tendieren. Lautungen wie [gra ˈtis: e] oder [ˈikese] (für x) werden dagegen als süditalienisch empfunden. So ist Ouest im Französischen ein normales Wort, span. oeste zeigt die übliche Anpassung, während ovest im Italienischen ein zwar geduldetes, aber nicht normales Wort ist. Im Französischen hat ein Wort wie vermouth nichts Beson‐ deres in seiner Phonemdistribution. Im Spanischen muss das Wort angepasst werden und wird in der Tat entweder vermú oder vermut ausgesprochen. Im Italienischen gilt heute eine Anpassung wie vermutte als vulgär, daher muss das Wort in der Form vèrmut ein Fremdkörper bleiben. Diese Bi- und Trisystematizität beeinträchtigt die delimitative Funktion der Phoneme. Was für die Erbwörter gilt, gilt nicht für die Wörter der 2. und 3. Gruppe. Im Italienischen kann, wie gesagt, eine Äußerung - außerhalb der Dichtung und des Gesangs - grundsätzlich nur auf Vokal enden. Innerhalb einer Äußerung ist in gewissen Fällen der „troncamento“ obligatorisch oder fakultativ: Deshalb obligatorisch il signor Rossi, il professor Prosdocimi, il dottor Mauro und fakultativ abbiam fatto, aber im absoluten Auslaut und vor Pausen nur signore, professore, dottore, also das Gegenteil der Norm, die viele Deutsche anwenden, wenn sie italienisch sprechen, indem sie einerseits *professore Rossi, andererseits *Signor! sagen. Nur in der Dichtung und im Gesang (Oper! ) sind signor, partiam usw. möglich. Diese Distributionsregeln gelten jedoch nur für Erbwörter. Im Distributionssystem 3 ist es normal zu sagen: andiamo al bar, verso ovest, ho visto un film, giocare a golf usw. Das heißt also: wenn ein Wort von sich aus entgegen dem italienischen System konsonantisch auslautet, so behält es diese nichtitalienische Form auch im absoluten Auslaut. 7.1 Fragen der Phonemdistribution im Italienischen 165 <?page no="166"?> 34 Die Einschätzung und damit die richtige Aussprache ist für Ausländer oft schwierig. Während die genannten Wörter (wie alle Formen der 1. P. Sg. des passato remoto der a-Konjugation, also andai, lavai, camminai usw.) einsilbig sind, weil sie einen fallenden Diphthong enthalten, sind andere Wörter und Formen, die ebenfalls <V + V> geschrieben werden mehrsilbig, d.h. das auslautende / i/ bildet eine eigene Silbe, so noi [no: i], ]voi [vo: i], alle Verbformen der 2. P. Sg. Präsens des Typs fai [fa: i], dai [da: i], des Futurs (farai, scriverai, dormirai) und der 2. P. Sg. des Konditionals (farei, sarei, avrei, camminerei). Zweisilbig sind auch alle Artikelformen des Plurals und der Verbindung Präp. + Art. (ai, dai, coi, sui). Silbisch ist auch das auslautende / i/ der Possessiva vom Typ miei, tuoi, suoi). Diese Formen sind also zweisilbig ([mjε-i], [twɔ-i]). 7.2 Grenzsignale im Italienischen Die Regeln in Bezug auf die Grenzsignale für das Wort müssen ebenfalls in diesem Rahmen verstanden werden: A) Positive einfache phonematische Grenzsignale gibt es im Italienischen keine. Ein aphonematisches einfaches Grenzsignal ist unsilbisches -/ i̯/ im Aus‐ laut (mai, andai) 34 . Ausnahmen von dieser Regel sind Wörter wie dàino ‘Dam‐ wild, Damhirsch’, ammainare ‘herablassen, (Fahne) einholen, (Segel) streichen’ usw. Fakultativ kann bei Pause nach Vokal ein Knacklaut (Glottisverschluss) hörbar sein: ma‘ [maʔ], be‘ [bεʔ]. Komplexe phonematische Grenzsignale werden wirksam durch das - aller‐ dings seltene - Aufeinandertreffen mit dazwischenliegender Pause der Pho‐ neme - / u/ # / u/ (su uguali tematiche, / i/ # / i/ (libri italiani), / o/ # / u/ (libro usato), - / n/ # / m/ (buon momento), - sowie die Nexus / l, n/ + / ɲ, ʃ (sul gnocco ‘auf dem Kartoffelklößchen’, con gnocchi, con scienze esoteriche). Die einzige Ausnahme ist das Wort conscio ‘bewusst, eingeweiht’, - K + / ps/ (con pseudonimi" - / n/ + / s/ + K (con spregio inaudito ‘mit ungeheurer Verachtung’) - K + / ɲ/ (per gnomi della montagna ‘für Berggeister’, - K + / ʦ/ (con zampe ‘mit Pfoten’), - K + / ʣ/ (con zanzare ‘mit Mücken’), - / m/ + / l/ (abbiam’ lavato ‘wir haben gewaschen’). Komplexe positive aphonematische Grenzsignale sind unbekannt. B) Negative einfache phonematische Grenzsignale ergeben sich - wie in anderen Fällen - durch die Distribution der Phoneme, da gewisse Phoneme nicht im Auslaut vorkommen, so / z/ , betontes geschlossenes / ó/ . / w/ (oder [w]) erscheint nur in seltenen Fällen (in Fremdwörtern) im Anlaut (week- 166 7 Die kulminative und die delimitative Funktion im Italienischen <?page no="167"?> end, whisky). Die Phoneme / w/ und / j/ erscheinen nicht im Auslaut. In echt italienischen Wörtern erscheinen bis auf -/ l/ , -/ r/ , -/ n/ , -/ m/ keine Konsonanten im Auslaut. Nichtphonematische negative Grenzsignale sind folgende zwei: - unbetontes / u/ erscheint nicht im Auslaut. Nur in sardischen bzw. siziliani‐ schen Wörtern, besonders in Eigennamen wie Turiddu, Lussu können sie vorkommen. - lange Vokale kommen nicht im Auslaut vor. C) Komplexe phonematische negative Grenzsignale bilden Konsonanten‐ gruppen. Möglich sind: 1. zweigliedrige aus / r/ , / l/ , / d/ , / m/ , / n/ , / s/ , [z] + K. Davon können nur / s/ + K, [z] + K und / m/ + / n/ im Anlaut vorkommen (ausgenommen */ s + ʧ/ , */ s + ʦ/ , */ s + ʤ/ ). Nexus aus K + / r/ , / l/ sind immer möglich. 2. dreigliedrige aus / r/ , / l/ , / m/ , / n/ , / s/ + K + / r/ , / l/ (Typ altro, strada) sind möglich. Davon kommen keine Gruppen mit anlautendem / r/ , / l/ , / m/ , / n/ vor. 3. viergliedrige Konsonantengruppen sind nur innerhalb eines Wortes an der Morphemgrenze möglich: Typ substrato, superstrato, adstrato, perscrutare, exclave), nie im Anlaut. Im Anlaut sind ganz allgemein die wenigsten Konsonantengruppen erlaubt, z.B. K + / ʦ/ , / ʣ/ , / ʤ/ , / ʎ/ , / ɲ/ sowie / l/ + K, / r/ + K, / n/ + K, / m/ + K (mit Ausnahme des Gräzismus mnemotecnica). Doppelkonsonanz gibt es nicht im Auslaut, nicht im Anlaut und ganz allgemein nicht vor K (außer vor / l/ und / r/ , z.B. in affrettare, approdare, affliggere, affluente). Wie schon oben erwähnt, gibt es im Italienischen in Erbwörtern keine Konsonantengruppen im Auslaut. Nur in Wörtern des genannten Systems 2 werden sie geduldet: film, sport, lord, ovest usw. Allerdings sind im Allgemeinen höchstens zwei Auslautkonsonanten zugelassen; drei können gelegentlich in unitalienischen Pluralformen wie films, lords, fjords erscheinen. Ein Wort wie frz. dextre ist dagegen im Italienischen unmöglich. Die Kombination / vr/ kann weder im Anlaut noch im Auslaut vorkommen. Auch [z] + V kann niemals im Anlaut erscheinen. Aphonematische komplexe negative Grenzsignale sind im Italienischen un‐ bekannt. 7.2 Grenzsignale im Italienischen 167 <?page no="169"?> 35 Trubetzkoys Kenntnisse werden bestätigt z.B. durch Kausen (2013, 249), wonach das westkaukasische Abchasisch-Abasinische tatsächlich nur zwei Vokalphoneme, / a/ und / ə/ , mit eben nur zwei Öffnungsgraden hat. Dabei wird aber / ə/ je nach lautlichem Kontext [ə], [i] oder [u] realisiert. Phonetisch erscheinen also auch hier drei Öffnungs‐ grade. 8 Romanische Vokalsysteme 8.1 Allgemeine Typologie von Vokalsystemen Trubetzkoy (1929) stellt fest, dass die Vokalsysteme normalerweise auf zwei Koordinaten organisiert sind, auf dem Schallfüllegrad (Öffnungsgrad) und der Eigentonklasse. Der Unterschied zwischen / e/ - / i/ ist ein Unterschied des Öffnungsgrades, der Unterschied zwischen / e/ - / o/ und / i/ - / u/ ist ein Unterschied der Eigentonklasse (hohe, palatale Vokale gegenüber tiefen, velaren Vokalen). Vokalsysteme, die auf einer einzigen Koordinate organisiert sind, sind sehr selten. Vokalsysteme, die nur nach der Dimension der Eigentonklasse gestaltet sind, etwa / e/ - / ø/ - / o/ oder / i/ - / y/ - / u/ , sind nicht bekannt. Ein Vokalsystem, das nur aufgrund des Öffnungsgrades gestaltet ist, etwa / a/ - / e/ - / ə/ , scheint in einigen westkaukasischen Sprachen, insbesondere im Adyghischen zu existieren. Die Interpretation der vokalischen Phoneme im Adyghischen (auch Adygischen, Adygeischen), ein Sonderfall in der Phono‐ logie, steht jedoch noch nicht fest. Sie wird weiter diskutiert. 35 Die romanischen Vokalsysteme sind alle - wie das deutsche - auf beiden Koordinaten organisiert. Was den Öffnungsgrad betrifft, so sind zumindest zwei Öffnungsgrade notwendig: a i u Ein solches System ist z.B. aus dem Quechua bekannt. Die meisten Systeme kennen auch einen dritten, mittleren Öffnungsgrad: <?page no="170"?> a e o i u Seltener sind die Systeme mit einem vierten, ebenfalls mittleren Öffnungsgrad: a ε ɔ e o i u Systeme mit noch mehr Öffnungsgraden sind sehr selten. Trubetzkoy führt kein solches System an. Manche Autoren betrachten das englische Vokalsystem als ein System mit sechs Öffnungsgraden und stellen die einzelnen Phoneme verdeutlichend durch einfache Wörter mit diesen Vokalen dar, also father - bot - bought - boat - book - boot auf der velaren Seite und father - bat - bet - bait - bit - beet auf der palatalen Seite. Andere Autoren nehmen hier jedoch Quantitätsunterschiede oder phonematische Nexus (Diphthonge) an. Was die Dimension der Eigentonklasse betrifft, sind - mit der schon er‐ wähnten Ausnahmeerscheinung der westkaukasischen Sprachen - ebenfalls zwei Eigentonklassen notwendig, eine hohe - wie im Fall von / e/ , / i/ - und eine tiefe - wie im Fall von / o/ , / u/ . Die meisten Systeme beschränken sich auf zwei Eigentonklassen. Seltener sind die die Systeme, die auch eine mittlere Klasse haben, entweder eine gerundete wie / ø/ , / y/ oder eine zentrale wie / ɐ/ (wie im Portugiesischen und Rumänischen), / ɨ/ (wie im Russischen, Türkischen und vielen anderen Sprachen). Noch seltener sind Vokalsysteme mit zwei mittleren Klassen, die also sowohl / y/ als auch / ɨ/ haben (gerade Türkisch). Außerdem unterschied Trubetzkoy Vokalsysteme mit zwei Vokalen des maximalen Öffnungsgrades, / a/ - / ɑ/ und mit nur einem maximal geöffenten Vokal, normalerweise / a/ . Die ersteren nennt Trubetzkoy Vierecksysteme, die letzteren Dreiecksysteme. Dreiecksysteme (systèmes triangulaires) sind üblicher als Vierecksysteme (systèmes quadrangulaires). 170 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="171"?> Außerdem gibt es Vokalsysteme mit Quantitätsunterschieden und solche mit Nasalvokalen. In diesen Fällen wird dasselbe Vokalsystem oder ein reduziertes mit einer anderen Quantität oder mit Nasalvokalen wiederholt. Dies alles bedeutet, dass das sogenannte „Normalsystem“, das üblichste Vokalsystem, Folgendes ist: a e o i u Weniger üblich sind, wie wir schon gesehen haben, Systeme mit weniger Vokalen, etwa vom Typ a i u Zum oben erwähnten Quechua lässt sich hier das Arabische und das Neupersi‐ sche hinzufügen. Ebenfalls weniger übliche Vokalsysteme sind solche vom Typ des oben erwähnten vierstufigen Systems / a/ - / ε/ - / e/ - / i/ bzw. / a/ - / ɔ/ - / o/ - / u/ oder a e ø o i y u eventuell auch mit zwei mittleren Öffnungsgraden / ε/ - / e/ bzw. / ɔ/ - / o/ oder: a ɑ e o i u 8.1 Allgemeine Typologie von Vokalsystemen 171 <?page no="172"?> (eventuell auch mit zwei mittleren Öffnungsgraden) oder mit einer zusätzlichen mittleren Eigentonklasse: a ɑ e ø o i y u. 8.2 Die romanischen Vokalsysteme Das Lateinische hatte im Normalsystem a - a: e - e: o - o: i -i: u - u: 8.2.1 Die Vokalsysteme der Mehrheit der romanischen Sprachen Unter den modernen romanischen Literatursprachen hat dieses System das Spanische, allerdings ohne Quantitätsunterschiede. Dieses „Normalsystem haben auch das Sardische und das Sizilianische. Alle übrigen romanischen Literatursprachen haben kompliziertere Systeme. Das Italienische hat gleich nach dem Spanischen ein komplizierteres, vierstufiges System mit zwei Eigen‐ tonklassen und zwei mittleren Öffnungsgraden: a ε ɔ e o i u 172 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="173"?> Das Katalanische hat in betonter Stellung das gleiche Vokalsystem. In unbe‐ tonten Silben ist das Vokalsystem auf / ə/ - / i/ - / u/ reduziert. Das Okzitanische hat eine mittlere, zentrale Eigentonklasse mit nur einem Vokal, nämlich / y/ : a ε ɔ e o i y u Das Rumänische hat ein vierstufiges Vokalsystem mit zwei mittleren Öff‐ nungsgraden und einer mittleren (zentralen) Eigentonklasse. Dabei enthält der offenere mittlere Öffnungsgrad zwei steigende Diphthonge, / e a/ und / ɔ a/ : a e a ɔ a e ɐ o i ɨ u Komplizierter ist das Portugiesische. Gewisse Gemeinsamkeiten hat es mit dem Katalanischen, indem es in betonter Stellung ein vierstufiges System ohne zentrale Eigentonklasse besitzt, in unbetonter Stellung aber ein dreistufiges System mit einer zentralen Eigentonklasse hat: a ε ɔ ɐ e o e ə o i u i ï u 8.2 Die romanischen Vokalsysteme 173 <?page no="174"?> Dabei ist / ï/ ein zentralisierter geschlossener Vokal, ein [ə] mit einem geschlos‐ seneren Öffnungsgrad. Außerdem besitzt das Portugiesische ein dreistufiges System von Nasalvokalen, wenn wir hier einmal von den Nasaldiphthongen absehen. - õ ũ. ẽ ĩ - Wenn man außerdem die Existenz von zwei maximal offenen Phonemen, / ɑ/ und / a/ , annimmt, wird das oben dargestellte Dreieckssystem der Vokale in betonter Stellung zu einem Viereckssystem. 8.2.2 Interpretationsprobleme im französischen Vokalsystem Von allen romanischen Literatursprachen hat das Französische das kompli‐ zierteste Vokalsystem. Erstens finden wir dort zwei mittlere Öffnungsgrade und auch eine zentrale Eigentonklasse mit möglicherweise ebenso vielen Öff‐ nungsgraden. Wenn man zweitens / a/ und / ɑ/ als zwei getrennte Phoneme annimmt, was die meisten Autoren tun, so erhalten wir ein Vierecksystem: a (ə) ɑ ε œ ɔ e ø o i y u. Hier muss auf eine klare Neigung zu einer schon von Trubetzkoy festgestellten Norm aufmerksam gemacht werden, nämlich, dass die zentrale Eigentonklasse weniger reich ist als die beiden anderen. Es geht um die wiederholt festgestellte Reduzierung der Öffnungsgrade durch den Zusammenfall von (ə) mit / œ/ und den von / œ/ mit / ø/ . Man hätte dann nämlich: a ɑ ε ɔ œ e o i u. 174 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="175"?> Diese Reduzierung entspricht der Aussprache von / œ/ als [ə], siehe Gougenheim (1935) und Martinet (1969, 191-208). Beispiele für eine Opposition von / œ/ und [ə] sind nach Gougenheim (1935, 22): de tristes personnages - deux tristes personnages, ce que vous dites - ceux que vous dites, comme je dis - comme jeudi. Drittens hat das Französische auch ein System von Nasalvokalen, z.T. mit einer mittleren Eigentonklasse: - ɛ̃ (œ̃ ) ɔ̃ Viertens sind zum Teil auch Quantitätsunterschiede, besonders / ε/ - / ε: / , fest‐ zustellen, die nicht auf andere Unterscheidungen zurückzuführen sind. Fünftens ist das System der vokalischen Archiphoneme, also der Einheiten, die nie - weder positionell noch bei verschiedenen Sprechern - zusammenfallen (siehe auch oben Kap. I am Ende von Abschnitt 5), ein Dreieckssystem mit einem mittleren Ast, d.h. ein Übergang von einem Vierecksystem zu einem Dreiecksystem A E Œ O I Y U. - 8.2.2.1 Phoneme und Hypophoneme Jedoch ist der Übergang noch nicht wirklich vollzogen, da ca. 75% der Français non méridionaux die Opposition / a/ - / ɑ/ bewahren, und zwar sowohl in betonter als auch in unbetonter Stellung, also die Opposition zwischen là - las, patte - pâte, battons - bâton, matin - mâtin. Die Archiphoneme von Gougenheim (1935, 19-20) und Martinet (1970, 79) sind auch und besonders in praktischer Hinsicht wichtig, denn es sind die Einheiten, die alle Französischsprechenden unterscheiden, auch diejenigen, die weitere Unterschiede nicht machen. Es sind auch die Unterschiede, die man unbedingt machen muss, um verstanden zu werden, d.h. wenn man Französisch lernt, muss man lernen, diese Unterschiede zu machen. Für Deutsche ist dies keine Schwierigkeit, da auch das Deutsche eine ähnlich gestaltete mittlere Eigentonklasse hat, aber für Engländer oder 8.2 Die romanischen Vokalsysteme 175 <?page no="176"?> für andere Romanen (Spanier, Portugiesen, Italiener, Rumänen) sind z.B. die Oppositionen / o/ - / ø/ und / u/ - / y/ eine Hürde. Aber dieses System als System der festen, stabilen Einheiten ist auch in theoretisch-deskriptiver Hinsicht annehmbar. Diese Oppositionen werden von allen Sprechern in allen Stellungen gemacht. Wenn jemand gegenüber maison mason, mison, muson oder mouson sagen würde, wären es entweder andere französische Wörter oder keine französischen Wörter. Die Kommunikation wäre gestört. Die genannten Unterscheidungen unterstehen auch nicht der Vokalharmonisierung wie die traditionelle Opposition / e/ - / ε/ in été - était, chantez! - chantait. In solchen Fällen möglicher Vokalharmonisierung muss der Kontext die Desambiguierung und damit Eindeutigkeit sicherstellen. Die Oppositionen / e/ - / ε/ , / o/ - / ɔ/ , / ø/ - / œ/ werden nicht von allen Sprechern konsequent gemacht, d.h. nicht in allen Fällen und nicht in allen Stellungen. Eigentlich würde man für / I/ , / Y/ , / U/ keine Großbuchstaben brauchen, denn das tut man ja nur, wenn so gekennzeichnete Archiphoneme für Gruppen unter‐ schiedlicher Laute stehen, die zusammenfallen und dann Archiphoneme bilden können, also etwa bei kurzem und langem / u/ im Deutschen, die phonetisch von verschiedener Qualität sind, etwas offeneres [ʋ] gegenüber ganz geschlossenem [u]. Im Französischen gibt es aber nicht zwei Arten / i/ , zwei Arten / y/ und zwei Arten / u/ . Die hier angenommenen Archiphoneme sind selbst einfache Phoneme. Ihnen gegenüber stehen nur Varianten. Beim Zusammenfall von / ø/ und / œ/ ist die Darstellung als Archiphonem eher gerechtfertigt. Nur wegen der Symmetrie werden sie hier als „Archiphoneme“ betrachtet, damit sie anderen Archiphonemen gegenübergestellt werden können. Ein Archiphonem ist ja eine Einheit, die in bestimmten Stellungen der Aufhebung einer Opposition entspricht (siehe auch I, § 5. Ende). Hier findet aber keine Aufhebung statt. Man kann die Lage daher eher folgendermaßen darstellen: A E O Ö I Ü U a ɑ ε e ɔ o œ ø i y u Dabei wären I, Ü, U gar keine echten Archiphoneme, so dass wir auch sagen könnten, dass die Archiphoneme / A/ , / E/ , / O/ , / Ö/ einfach den Pho‐ nemen / i/ , / y/ , / u/ gegenüberstehen, für welche es keine Archiphoneme gibt. Aber es gibt noch weitere Schwierigkeiten der Interpretation: Die drei Oppositionen / ε/ - / e/ , / œ/ - / ø/ , / ɔ/ - / o/ können nicht alle in gleicher Weise interpretiert werden. Ich komme dazu auf den Unterschied zwischen Archi‐ phonem, Phonem und Hypophonem zurück (siehe oben I, 5.2): Wenn eine 176 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="177"?> Unterscheidung normalerweise gemacht wird und sie in einer bestimmten Stellung aufgehoben wird, so ist dies ein Fall von Neutralisierung, und die Einheit, die hier für die beiden in ihrer Opposition neutralisierten Einheiten eintritt, ist ein Archiphonem. Wenn aber eine Unterscheidung normalerweise gar nicht gemacht wird und die in einer bestimmten Stellung aber doch auftritt, so ist diese Unterscheidung eine Hypounterscheidung und die Einheiten, die in einem solchen Fall in Opposition stehen, sind Hypoeinheiten, in der Phonologie also Hypophoneme. Bei den Oppositionen ε/ - / e/ , / œ/ - / ø/ , / ɔ/ - / o/ ist nun aber klar, dass nicht die Stellungen, wo sie aufgehoben werden, bestimmbar sind, sondern umgekehrt die Stellung, wo sie auftreten. Die Opposition zwischen / ε/ - / e/ wird eigentlich nur im Auslaut gemacht: claie - clef, fait - fée, guet - gué, laid - lé ‘Stoffbreite’, les; près -pré, épais - épée, (elle se) tait - thé und in der Konjugation auf -er alle Formen mit / ε/ im Imperfekt und den Infinitiv- und Partizip-Perfektformen bzw. Formen auf -ez, z.B. chantais, chantait - chanté, chanter, chantez! , bzw. zwischen Konditionalformen wie je chanterais und der 1. P. Sg. Futur (Typ je chanterai). Sonst gilt: offenes [ε] in geschlossener Silbe, geschlossenes [e] in offener Silbe, ausgenommen die Fälle der harmonisation vocalique. Diese Einheiten sind also als Hypoeinheiten anzusehen, und ihre Archieinheit ist nicht ein Archiphonem, sondern einfach ein Phonem / e/ . Dass diese Opposition z.T. auch im Auslaut nicht gemacht wird (je vais, je sais mit [e] sowie chanterai und chanterais mit [e], bedeutet den Übergang zu einem anderen System, in dem diese Unterscheidung nicht gemacht wird; vergleiche die Aufgabe der Opposition [e: ] - [ε: ] im regionalen Deutsch (Beeren und Bären mit [e: ] und Käse als ['ke: zə]). Ähnlich verhält es sich mit / œ/ - / ø/ : im Auslaut immer [ø] vor dem Ton [œ] oder ein Laut zwischen [œ] und [ø], nach Gougenheim (1935, 21-22) [ø] auch vor / t/ (meute), / z/ (creuse), / ʒ/ (Maubeuge) und dem Nexus / tr/ (neutre); siehe auch Klein (1963, 70-71). Vor den folgenden Konsonanten wird / œ/ tatsächlich [œ] gesprochen: / f/ (veuf, neuf), / v/ (fleuve, (ils) peuvent), / j/ (feuille [fœj]), / r/ (unter dem Ton immer gelängt: heure, fleur, cœur, peur, sœur), / vr/ (œuvre, couleuvre), / r/ + K (meurtre). Was bleibt übrig? Die Opposition kommt kaum vor vor / b/ , / g/ , / l/ , / n/ , und gerade da gibt es einige wenige Fälle einer möglichen Opposition: jeune - jeûne, (ils) veulent - veule ‘matt, schlaff ’. Auch hier tendiert die Aussprache in beiden Fällen zu [œ], die Opposition ist also im Schwinden. Auch hier werden die traditionellen Hypoeinheiten aufgegeben, und es entsteht ein vereinfachtes System, in dem diese Unterscheidung nicht mehr gemacht wird. 8.2 Die romanischen Vokalsysteme 177 <?page no="178"?> 8.2.2.2 Andere Arten instabiler Oppositionen Anders sieht dagegen der Fall / ɔ/ - / o/ aus. Hier hat man als Norm die Un‐ terscheidung, d.h. entgegen der Norm von Martinet (1945, 83-92 gegenüber 130-139) mehr Unterscheidungsfälle. Bei den velaren Vokalen wird also mehr unterschieden als bei den palatalen Vokalen: - im Auslaut hat man normalerweise [o]: peau, pot, château, nouveau; - vor / z/ immer [o] (chose, rose, close) - [ˈʃɔzε] usw. ist français méridional]; - vor / r/ und / r/ + K immer [ɔ] (tort, mort, morte, porte, sorte, sortent). - Sonst, d.h. normalerweise wird die Unterscheidung gemacht, sowohl in betonter als auch in unbetonter Stellung (cotte - côte, hotte - hôte, haute; homme - heaume, os - hausse, pomme - paume, sol, sole - saule, botté - beauté, coté - côté, hospice - auspice, und sogar notre, votre - nôtre, vôtre. Diese Einheiten verhalten sich also als Phoneme, nur im Fall der Aufhebung der Opposition (in den oben genannten Stellungen) kann man von einem Archiphonem sprechen. Man hat also bisher folgendes Archiphonem sowie Phoneme und Hypoeinheiten: O e ɔ o ö i y u ε e œ ø Noch anders verhält es sich mit der Opposition / a/ - / ɑ/ : Die Aufhebung der Opposition hängt hier nicht von der Stellung ab, sondern vielmehr von den Sprechern, hängt also mit diatopischer und diastratischer Variation zusammen. Eine positionelle Aufhebung gibt es nur in der Stellung vor / z/ , also in Fällen wie base [bɑ: z], case [kɑ: z], phase [fɑ: z]. In solchen Fällen ist [ɑ] automatisch und keine Opposition möglich, da [a: z] nicht vorkommt. Sonst wird die Opposition von den meisten Sprechern in jeder Stellung gemacht, und dies, obwohl die Bedeutung der Glieder der jeweiligen Minimalpaare (oder Quasi-Minimalpaare) so weit auseinanderliegt, dass eine eventuelle homonymie gênante kaum zu befürchten ist. Die Beispiele zeigen zudem, dass / ɑ/ vor Konsonant sehr oft gelängt ist, und zwar in jeder Stellung und vor allem in betonter Silbe. Obwohl eine phonologische Transkription auch möglich und berechtigt wäre, geben wir hier eine phonetische: - bail [ba: j] ‘Mietvertrag, Pachtvertrag’ - (il, elle) bâille [bɑ: j] ‘(er, sie) gähnt’ - batte [bat] ‘Schläger, (Holz-)Prügel’ - (il, elle) bâte [bɑt] ‘(er, sie) packt einen Packsattel’, 178 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="179"?> - chasse [ʃas] ‘Jagd’ - châsse [ʃɑ: s] ‘Reliquien-)Schrein’, - rat [ra] ‘Ratte’ - ras [rɑ] ‘freies Feld, ebene Erde, Rand (einer Füllmenge)’, - là [la] ‘dort’ - las [lɑ] ‘müde, schlapp’, - ta [ta] ‘deine’ - tas [tɑ] ‘Haufen’, - malle [mal] ‘(großer) Koffer’ - mâle [mɑ: l] ‘männlich, Männchen’, - pale [pal] ‘Schaufel(blatt)’ - pâle [pɑ: l] ‘bleich’, - patte [pat] ‘Pfote’ - pâte [pɑ: t] ‘Paste, Teig’, - tache [taʃ] ‘Fleck, Flecken’ - tâche [tɑ: ʃ] ‘Aufgabe’, - Anne [an] - âne [ɑ: n] ‘Esel’, - bal [bal] ‘Ball (als Veranstaltung)’ - Bâle [bɑ: l] (Basel), - aller [aˈle] ‘gehen’, haler [aˈle] ‘treideln’ - hâler [ɑ: ˈle] ‘bräunen’, - battons! [baˈtõ] ‘lasst uns schlagen! ’ - bâton [bɑˈtõ] ‘Stock’, - il battit [ilbaˈti] ‘er schlug’ - il bâtit [ilbɑˈti] ‘er baut, baute’ - le matin [ləmaˈtε̃] ‘der Morgen’ - le mâtin [ləmɑˈtε̃] ‘der Köter’. Nach Grammont (1951, 26-27) besteht eine solche Opposition auch zwischen [wa] und [wɑ]. Dabei würden sich Oppositionen zwischen vorderem / a/ und hinterem / ɑ/ ergeben wie in: - moi [mwa] ‘ich’ - mois [mwɑ] ‘Monat’, - tu bois [tyˈbwa] ‘du trinkst’ - du bois [dyˈbwɑ] ‘Holz’, - soi [swa] ‘sich’ - soie [swɑ] ‘Seide’, - voix [vwa] ‘Stimme’ - voie [vwɑ] ‘Weg’, - toi [twa] ‘du’ - toit [twɑ] ‘Dach’, - fois [fwa] ‘Mal’ - foi [fwɑ] ‘Glaube’. Ohne Minimalpaarbildung hätte man exploite [εksˈplwat] ‘nützt aus’, boîte [bwat] ‘Büchse, Dose’, aber la droite [laˈdʁwɑt], soir [swa: ʁ] ‘Abend’, tiroir [tiˈrwa: ʁ] ‘Schublade’, aber Hongroise [õˈgʁwɑ: z] ‘Ungarin’. [Diese kaum wahr‐ nehmbare Unterscheidung ist freilich nur bei sehr sorgfältiger Sprechweise möglich. Sie dürfte schon zur Zeit von Coserius Vorlesungen in normaler Rede obsolet gewesen sein. Die jeweiligen Realisierungen sind dabei weitgehend zufällig geworden, jedoch mit einer Tendenz zum vorderen [a].] Eine Archieinheit ist also nur im Fall der Kombination [ɑ: z] anzunehmen, wo die Lautung [ɑ] mechanisch erscheint. Eine Interpretation der Sachlage als Hypoeinheit ist also nicht am Platze, und es gibt auch keinen Einfluss einer Vokalharmonisierung. Die schematische hierarchische Darstellung sollte also sein 8.2 Die romanischen Vokalsysteme 179 <?page no="180"?> Archieinheit (A) Einheit a ɑ. Dabei bedeutet das eingeklammerte (A), dass es mechanisch auftritt und die angeführte Opposition nur selten aufgehoben wird. Die Positionen von Gou‐ genheim (1935, 19) und Martinet (1970, 202) sind in diesem Fall nicht annehmbar. Wenn hier der Unterschied nicht gemacht wird, so ist dies keine Neutralisierung - denn die Bedingungen sind ja nicht bestimmbar -, sondern der Übergang zu einem anderen System mit einem einzigen / a/ ; dies kann [a] oder [ɑ] sein oder auch ein mittleres / a/ zwischen beiden. - 8.2.2.3 Das Problem des e caduc In den beiden Systemen, dem mit / a/ - ɑ/ und demit mit nur einem / a/ , stellt das e muet oder besser e caduc noch ein besonderes Problem dar. Sicherlich gibt es einerseits eine Neigung, das e caduc zu einem automatischen Vokal zu machen. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass das e caduc in Fällen wie charretier, Catherine, je frotterais nicht gesprochen wird (siehe auch oben 4.4.2.1) als vielmehr die Erscheinung, dass auch ein nichtgeschriebenes [ə] nach dem Dreikonsonantengesetz z.B. in arc-boutant [aʁkebuˈt-] ‘Strebepfeiler’ oder ours-blanc [uʁsəˈbl-] ‘Eisbär’ gesprochen wird, nach Martinet (1945, 46) von 27% bzw. 50,6% der Français non méridionaux. Schon Gougenheim (1935, 39) erwähnte Beispiele wie un rapt scandaleux [œ̃ʁaptəsk-daˈlø] ‘eine skandalöse Entführung’. In der Volkssprache hört man auch [stəˈptit] für cette petite und faire exeprès für faire exprès, Pétersebourg für Pétersbourg, wie schon Grammont (1951, 121) bemerkt. Dies ist offensichtlich eine Erweiterung des Dreikonsonantenge‐ setzes (règle des trois consonnes), das zuerst von Grammont (1951, 116) formuliert wurde. Wenn vor dem e caduc ein einziger Konsonant steht, wird das e nicht gesprochen (also la fnêtre). Wenn vor dem e zwei Konsonanten stehen, wird das e gesprochen also une fenêtre, cette fenêtre). Diese Regel ist oft und heftig diskutiert worden. Grammont selbst (1951, 119) weist darauf hin, dass sie für den Inlaut des mot phonétique gilt, nicht für den Anlaut und Auslaut. Für den Anlaut gilt: a1) Ist der Konsonant vor dem e ein nicht-okklusiver, so wird das e nicht gesprochen: j’n’en sais rien, j’m’en vais, c’n’est pas ça, nach Grammont auch c’papillon est beau, l’vez-vous! , r’tirez-vous! , n’l’oublie pas! , n’peux-tu pas le dire? , j’tez les dés! 180 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="181"?> a2) Gibt es zwei e, so hängt ihre Aussprache vom zweiten Konsonanten ab. Wenn dieser okklusiv ist, so wird nur das zweite e gesprochen: j’te dis la vérité, c’petit enfant, c’que j’veux, j’deviens vieux. a3) Wenn der zweite Konsonant ein nicht-okklusiver ist, wird das e zwischen den beiden Konsonanten gesprochen und verstummt nach dem zweiten: je n’sais pas, je n’peux pas, rec’vez mes excuses! , ne r’commencez pas! b) Ist der Konsonant vor dem e ein okklusiver, so wird das e gesprochen: Que dites-vous? Que d’mandez-vous? , de près, debout. Für den Auslaut gilt: Auslautendes -e wird nicht gesprochen, wenn das Wort einen anderen Vokal hat: Cett’petit’collin’, un’ grand’femm’pass’tout’seul’. Bei drei Konsonanten mit mittlerem / s/ , also K + [ə] + / s/ + K, wird e nicht gesprochen und auch keines eingefügt: un air stupide. So auch ces promenad’ scolaires, un’ bell’ statue, un’ démarch’ scandaleuse, le départ s‘ présente mal, le contact s’ maintient, tu me d’mand’ c’ qu’ c’est, cette marqu’ s’ voit mal, donnez-moi l’scalpel! Es ist hinzuzufügen, dass der Nexus K + / r/ , / l/ wie einfache Konsonanten behandelt werden, weil der Nexus Muta cum Liquida seit dem Lateinischen im Inlaut eines mot phonétique immer leicht sprechbar war und auch in der Sprachentwicklung nicht silbenschließend war: Beispiele in unserem Zusam‐ menhang nach Grammont (1951, 125): la rac’ blanche, je conserv’rai, denn die Nexus / bl/ , / vr/ können im Anlaut stehen. Nach einem vorhergehenden Konso‐ nanten muss also kein [ə] eingefügt werden Dies erklärt auch die Aussprache pell’t’rie. pan’t’ri, bonn’t’rie, pap’t’rie, briqu’t’rie. Grammont selbst empfiehlt diese Aussprache, erklärt sie aber als analogisch, weil auch die Aussprache pell’terie, pan’terie und bonnèt’rie, papèt’rie existiere. Gewisse „Ausnahmen“, die gegen Grammont angeführt werden, sind von Grammonts Regeln durchaus gedeckt, so z.B. lorsque tu m’as dit, parc‘ que je suis fatigué, weil der Nexus / rskt/ nicht möglich ist, / kt/ ist keine Muta cum Liquida, kann also nicht im Anlaut stehen; text populaire (ohne eingeschobenes [ə]), weil / kst/ im Auslaut eines Monems möglich ist; pas d’ scrupules, weil / d/ im Auslaut eines Monems und / skr/ im Anlaut des folgenden stehen kann. Nur der Ausdruck „Dreikonsonantengesetz“ ist nicht adäquat, denn die Probleme entstehen beim Aufeinandertreffen sowohl von zwei als auch von drei 8.2 Die romanischen Vokalsysteme 181 <?page no="182"?> und vier Konsonanten. Die komplizierte Regelhaftigkeit wird sehr detailliert beschrieben von Pierre Fouché (1959, 91-139), bleibt aber unübersichtlich. Die heutige Fassung des trotz aller möglichen Einwände so genannten Dreikonso‐ nantengesetzes findet sich am klarsten bei Rothe (1978, 81-91). Dort wird auch nachgezeichnet, wie es zuletzt von deutschen Romanisten formuliert wurde. Weinrich (1958, 248-260) schlug vor: „Drei Konsonanten sind erlaubt, wenn die beiden letzten im absoluten Anlaut stehen können.“ Und weiter: „Wenn … eine Zweiergruppe im absoluten Anlaut möglich ist, so kann sie mit einem beliebigen voraufgehenden Konsonanten eine Vierergruppe bilden.“ Danach wäre / ilpardrɔm/ möglich, weil / dr/ im absoluten Anlaut stehen kann, */ ilpardlɔʃ/ aber nicht, weil / dl/ nicht im absoluten Anlaut stehen kann (siehe Rothe 1978, 89). In seiner Rezension von Weinrichs Buch weist Baldinger (1958, 471-473) aber auf mögliche Gegenbeispiele hin. So seien / pɔrtm-to/ portemanteau und / rεstkuʃe/ (il) reste couché nicht nur möglich, sondern üblich. Daraufhin hat Weinrich (1961 15) das dann schon von Rothe so genannte „Weinrich-Baldinger-Gesetz“ korrigiert und neu formliert: „Es sind im Franzö‐ sischen Dreiergruppen möglich, wenn ihre letzten beiden Konsonanten im absoluten Auslaut … oder ihre ersten beiden Konsonanten im absoluten Anlaut … möglich sind.“ Somit ist / markruʒ/ marque rouge möglich, weil / kr/ im Anlaut und -/ rk/ im Auslaut vorkommen können. Aus diesem Grund sind nicht möglich */ dɔnlpε̃/ (wegen *-/ nl/ und */ lp/ -) oder */ lε̃tεliʒ-sdlafam/ l’intelligence de la femme (wegen *-/ sd/ und */ dl/ -; siehe Rothe (1978,90). Das ist alles sehr richtig, jedoch muss auch der große Einfluss der Graphie auf die Aussprache berücksichtigt werden. Natürlich ist anzunehmen, dass ein geschriebenes <e> eher nicht gesprochen wird, als dass ein nicht-geschriebenes gesprochen wird. Es gibt aber auch geschriebene <e>, die nie gesprochen werden, so das <e> in Futur- und Konditionalformen von Verben auf -er, die vor dem <e> einen Vokal haben, wie jouer, crier, oder denen ein Vokal vorausgeht, der aus einem alten Diphthong entstanden ist, wie payer (/ pεje/ für */ pεe/ ). In allen diesen Fällen ist das <e> schon seit dem 16. Jahrhundert verstummt. Es ist also nur noch ein sozusagen etymologisch geschriebenes <e>, in Analogie zu anderen Verben, die im Futur und Konditional die Entstehung aus dem lat. Infinitiv + habere erkennen lassen können. Die Lautung ist also immer / ʒure/ (je) jouerai, / krirε/ (tu) crierais, / pεra/ (il) paiera oder payera. Das Gleiche gilt für Substantive (aus substantivierten Verben) wie remerciement (früher auch remercîment) und dévouement, dénouement / denum-/ . Dagegen wird das e gesprochen vor den Nexus / rj/ (de rien / dərjε̃/ ) und / lj/ (gare de Lyon / gardəljɔ̃/ / ). Dies gilt aber wiederum nicht für / tj/ in cim’tière, pell’‐ tier. Es wird also nichts gelöst, wenn man, wie Martinet es tut (1970, 81), / j/ als 182 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="183"?> konsonantisches Phonem interpretiert, denn K + / tj/ , / ʃj/ sind mögliche Gruppen im Anlaut. [Der Nexus K + / j/ ist immer möglich im Anlaut, siehe mien, tien, sien, canadien [kanadjε̃], viens! , pion usw. Das ist ein rein phonetisches Phänomen, das phonologisch immer mithilfe des Phonems / i/ dargestellt werden kann.] Das e in der ersten Silbe wird einerseits nicht gesprochen, wie in j’ m’en vais, j’e n’en sais rien, was normal ist. Dagegen sind Aussprachen wie c’ tableau, n’ faites pas! , n’ l’oubliez pas! , die Grammont (1951, 117-118) als normal angibt, kaum normal, so auch l’vez-vous! , r’tirez-vous! [Grammont macht an der Stelle erstens noch einen Unterschied zwischen Fällen, in denen e nur einmal, nämlich in der ersten Silbe, vorkommt, und Fällen, in denen auch danach noch ein oder mehrere e’s vorkommen. Für die zuletzt genannten Beispiele (n’ faites pas ça usw.) spricht Grammont ausdrücklich von „langage vif et familier“.] Gesprochen wird das e in der Anlautsilbe vor allem in dem Nexus re-, nach welchem im Allgemeinen eine Morphemgrenze vorliegt: refaire, ressource, ressortir, ressort, resouvenir. Es wird aber auch gesprochen, wenn das [ə] mit [ε] in anderen Formen des gleichen Paradigmas oder der Wortfamilie alterniert, z.B. pesant (neben il/ elle pèse), faisons, faisais, faiseur, faisable (neben faire, je fais, fait). Wenn aber keine paradigmatische Alternanz da ist, fällt e gewöhnlich, z.B. Rab’lais. Ebenso ist [ə] in monsieur eigentlich kein „e caduc“, die Aussprache [msjø] gilt nämlich als vulgär. Auch in Eigennamen, die stets besondere Sprach‐ zeichen sind, wird ein <e> immer gesprochen, also in Leblanc, Lenoir, Lemaire usw., daher zwar donn‘-moi l‘ blanc, oder auch donne-moi l’ noir! , aber Monsieur Leblanc, Madame Lenôtre usw. Betontes e wird immer gesprochen: prends-le! , regarde-le! . In la belette [bəlεt] ‘Wiesel’ mag die Aussprache des e durch die morphonologische Regel der paradigmatischen Alternanz begründet sein, da die Herkunft von beau, belle vielleicht noch gespürt wird und der latente Gedanke an belle einen Ausfall des e unmöglich macht. Auch die Tatsache, dass man zwar sagt ça port’ bonheur, aber c’est un porte-bonheur (Bruneau 1931, 106), ist vielleicht dadurch zu erklären, dass porte [pɔʀt] und bonheur zwei getrennte Wörter mit unterschiedlichen syntaktischen Funktionen sind, während in dem Kompositum porte-bonheur das Dreikonsonantengesetz gilt.[ʀt] ist im Auslaut möglich, aber nicht [tb] im Anlaut. Auch hier stellen wir den Übergang zu einem anderen System fest: wir haben einerseits den automatischen Einschub bei bestimmten Konsonantennexus, andererseits ein Phonem / œ/ , das stabil wird wie in pesant, Leblanc (siehe oben im vorletzten Absatz). 8.2 Die romanischen Vokalsysteme 183 <?page no="184"?> Daher die Ratschläge von Ch. Bruneau (1931, 108) an Ausländer, nicht allzu viele „e caducs“ ausfallen zu lassen und das „e caduc“ auf jeden Fall auszusprechen: - im Auslaut nach K + r. K + l, sm (aigle, cadre, mettre, souple, héroïsme), - zwischen zwei Konsonanten, von denen der eine stimmhaft und der andere stimmlos ist (achever, cheval, je casse, je fais, je porte, je sais), - zwischen zwei identischen Konsonanten: reste tranquille, und date tardive, une salade de laitue, un âne noir, une âme médiocre, une rive verdoyante. Es wird also ein sehr konservatives System empfohlen. Man sollte aber für eine korrekte Erlernung des Französischen auch die Fälle aufführen, in denen das e nie gesprochen wird (Bruneau 1951, 104): attelage, bracelet, durement, tout le monde, enlèvement und ähnliche; außerdem Worttypen, in denen das e immer gesprochen wird: brevet, chanterions, fortement, prends-le! , parvenir, parlement, proprement. Sie sind alle nach dem Dreikonsonantengesetz erklärbar: brv im Anlaut ist unmöglich; im Inlaut sind inakzeptabel Nexus wie -trj- - daher chanterions, aber chant’rons. 8.2.3 Ergebnisse zum französischen Vokalsystem Das bedeutet, dass wir es im Französischen, funktionell gesehen, mit einem sehr komplizierten, asymmetrisch gestalteten und dazu noch sich im Wandel befindenden System zu tun haben. Das traditionelle System der Oralvokale links tendiert zum neueren System rechts: / a/ (ə) / ɑ/ / a/ / e/ / Ö/ / O/ (ə) (ε) / e/ (œ) (ø) (ɔ) (o) / i/ / y/ / u/ / i/ / y/ / u/ [Diese Darstellung überrascht und bedarf eines Kommentars. Es fehlen näm‐ lich alle Phoneme des mittleren Öffnungsgrads - wenn die Vierstufigkeit des Systems eben zu einer Dreistufigkeit tendiert. Dass aber kein wie immer geartetes Phonem / e/ , kein / ø/ (oder / œ/ ) und kein / o/ vorgesehen ist, ist kaum denkbar, denn sie existieren ja. Ob Coseriu etwas vergessen hat - schwer vor‐ stellbar an so prominenter Stelle - oder tatsächlich (/ ə/ ) als Repräsentanten für 184 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="185"?> alle Laute eines mittleren Öffnungsgrades, ob gerundet oder nicht gerundet, gelten soll, ist nicht auszumachen, soll aber hier als Problem nicht unerwähnt bleiben. Statt eines potentiellen Phonems (/ ə/ ) mit den Varianten [œ] und [ø] könnte man natürlich auch ein Phonem / œ/ mit den Varianten [ə] und [ø] annehmen. Das Wesentliche ist die radikale Vereinfachung des Systems, das aber immer noch ein dreieckiges Vokalsystem mit einem palatalen, einem velaren und einem mittleren, gerundeten Ast wäre. In neueren Darstellungen, z.B. Pustka (2011, 95-100), ist diese radikale Verein‐ fachung nur für die maximale zentrale Öffnung, / a/ , eingetreten. Zumindest die mittleren Öffnungsgrade / e/ . / œ/ und / o/ sind erhalten und scheinen als solche stabil. Auch die Oppositionen / e/ - / ε/ und / o/ - / ɔ/ werden berücksichtigt, da sie zumindest partiell funktionieren.] 8.3 Die romanischen Konsonantensysteme im Vergleich Wir stellen zunächst die Konsonantensysteme des Italienischen, des Spanischen und des Französischen einander gegenüber und kommentieren sie dann: - (bi)labial dentoalveolar palatoalveolar velar Liquida - rl - ʎ - Nasale m n ɲ - Okklusive b p dt - g k Frikative vf zs - ʃ (j) - (w) Affrikaten - ʣʦ ʤʧ - Das italienische Konsonantensystem 8.3 Die romanischen Konsonantensysteme im Vergleich 185 <?page no="186"?> (bi)labial dentoalveolar palatoalveolar velar Liquida - r - r̄ ʎ - Nasale m n ɲ - sth. Okklusive b d ɟ g stl. Frikative f ϑ s x stl. Okklusive p t ʧ k Das spanische Konsonantensystem - (bi)labial dentoalveolar palatoalveolar velar Liquida - rl - - Nasale m n ɲ - Okklusive b p dt - g k Frikative vf zs ʒʃj (h) Das französische Konsonantensystem Wie man sieht, handelt es sich um ziemlich verschiedene Systeme. Die einzige Spalte mit einer identischen Füllung ist diejenige der Nasalkonsonanten / m/ - / n/ - / ɲ/ . Das französische und das italienische System, und zwar jedes einzelne, ist sich ähnlicher, als es beide Systeme imVergleich mit dem Spanischen sind. Dies zeigt sich vor allem in der Korrelation „stimmhaft“ - „stimmlos“, die im Französischen und Italienischen für alle Frikativa und alle Okklusiva gilt. Im Spanischen sehen wir hingegen eine andere Gestaltung. 8.3.1 Das Italienische Charakteristisch für das Italienische - sind die Affrikaten, von denen nur / ʧ/ im Spanischen auch vorkommt, aber dort eine andere Stellung im System hat, vor allem, weil es isoliert ist und keine stimmhafte Entsprechung hat; 186 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="187"?> - ist die Doppelkonsonanz. Dies gilt auch - ohne Notierung in der Graphie - für die Phoneme / ʎ/ , / ɲ/ , / ʃ/ , / ʣ/ und / ʦ/ , die im Inlaut immer lang sind. Alle übrigen, bis auf (/ j/ ) und (/ w/ ), können im Inlaut kurz oder lang sein. Im Spanischen ist dagegen / r̄/ nicht als Geminierung zu interpretieren. Ge‐ minaten können im Spanischen nur durch zufällige Zusammenrückung vor‐ kommen: innovación. Im Französischen sind sie nur in wenigen Fällen morphonologisch funktio‐ nell, z.B. in den Futur- und Konditionalformen von mourir, courir, conquérir. Sonst werden sie entweder als eine nicht-phonologische Variation realisiert (illégal, immeuble, immoral, collègue) - aber nur aus stilistischen Gründen - oder sie sind das Resultat des Verstummens eines „e caduc“, man sehe Kontraste wie intimant - intim’ment, il éclaira - il éclair’ra, tu lis - tu l’ lis, pas encor’ entré - pas encor’ rentré. 8.3.2 Das Spanische Charakteristisch für das Spanische - sind die zwei r, / r/ und / r̄/ . - Vor allem aber ist es die funktionelle Gestaltung der Oppositionen im Be‐ reich der Oralkonsonanten: Jeweils ein stimmhafter steht zwei stimmlosen gegenüber, und nur bei den stimmlosen gibt es die Opposition okklusiv - frikativ, denn die stimmlosen Konsonanten können entweder okklusiv oder frikativ sein. [Hier ist zu wiederholen, was kurz zuvor im Kapitel über das Italienische (8.3.1) gesagt wurde: Wie im Italienischen kommt auch im Spanischen / ʧ/ vor, hat aber hier eine andere, eigenartige Stellung im System, weil es isoliert ist und keine stimmhafte Entsprechung hat]: b d ɟ s g p f t ϑ ʧ k x. 8.3 Die romanischen Konsonantensysteme im Vergleich 187 <?page no="188"?> 8.3.3 Das Französische Charakteristisch für das Französische - ist die Abwesenheit von / ʎ/ (seit dem 18. Jahrhundert), vorher hörbar z.B. in bouteille, merveille, travail, und von / h/ (seit dem 17. Jahrhundert), das zuvor ein wirkliches h aspiré war. - ist die geringe Anzahl von Oppositionen bei den Korrelationen; bei den eindimensionalen vor allem okklusiv - frikativ, sonst vor allem stimmhaft - stimmlos. - Vor allem aber charakteristisch für das Französische ist etwas, das im Inventar nicht erscheint, nämlich die Alternanz K - Null bzw. Null - K, d.h. Konsonanten, die in bestimmten Stellungen latent werden und latente Konsonanten, die in bestimmten Stellungen gesprochen werden. Beides hängt mit dem groupe phonique zusammen, ist also phonotaktisch geregelt. Damit zusammen hängt auch die Liaison. Die „Bindung“ mit einem vor‐ ausgehenden latenten Konsonanten wird bekanntlich gemacht, wenn das folgende Monem vokalisch anlautet und beide so verbundenen Glieder eine syntaktische Einheit bilden, also z.B. Determinant + Substantiv (les amis, des amis, aux amis, mes amis, ces amis, quelques amis), Adjektiv bzw. Numerale + Substantiv (un grand ami, un faux ami, de grands amis, les vieux amis, deux amis), Substantiv im Plural + Adjektiv (Champs-Elysées, nations africaines, palmes académiques), Personenmarkierung + Verb (nous avons, vous êtes, elles ont, vous avez aimé), die meisten Präpositonen + Substantiv (sous un arbre, chez un ami, sans elle), aber auch ein Relativpronomen wie dont + nominales oder verbales Syntagma (dont une moitié est vide; dont il se souvient). Das Gleiche gilt für die Konjunktion quand (quand on le voit …) sowie für très (très agréable). Eigentlich ist diese Erscheinung das Gegenteil von Liaison, es ist die normale Form mit Konsonant im Auslaut, der in bestimmten Fällen schwindet. Hier bleibt der beim isolierten Wort stumme (latente) Konsonant im mot phonétique erhalten. Anders ist der Fall, wenn ein im isoliertierten Wort ausgesprochener Konsonant vor konsonantisch anlautendem Substantiv verstummt, z.B. bei cinq, six, (früher auch sept), huit, dix. In Kombinationen wie six livres, huit femmes, dix voitures verstummen auslautendes / s/ und / t/ . Ähnlich ist es bei einigen Substantiven, deren auslautender Konsonant im Singular gesprochen wird, im Plural jedoch nicht (cerf-volant ‘Papierdrache’ [sεʀfvɔˈl-], aber cerfs-volants [sε: ʀvɔˈl-], bœuf [bœf], aber bœufs [bø], œuf [œf], aber œufs [ø]. 188 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="189"?> Nur manchmal ist die Liaison funktionell, so z.B. bei einem Syntagma aus Substantiv + Adjektiv im Singular, wo eine „liaison interdite“ gilt, und einem solchen im Plural, wo die Liaison den Numerus markiert: un cours élémentaire gegenüber des cours élémentaires, aber auch z.B. vous êtes Anglais (Sg.) - vous êtes Anglais mit der Liaison als Pluralzeichen. Auch bei tous als Adjektiv (tous les hommes) mit stummem s gegenüber tous als Pronomen (tous vous voient) mit auslautendem [s] ist das zusätzlich hörbare / s/ funktionell, ganz ähnlich in plus [plys] im Sinne von ‘davantage’ und plus als temporales Negationsmorphem (elle ne s’en souvient plus, je n’en ai plus) bzw. im Komparativ (plus grand que toi). Funktionell ist auch die Lautung des / t/ in soit / swat/ ‘gut, einverstanden! ’, also der Äußerung vor Pause, und soit als Konjunktivform von être, bei der das -t normalerweise stumm ist. Die am häufigsten vorkommenden latenten Konsonanten, die bei der Liaison auftreten, sind / z/ , / t/ , / n/ , selten z.B. / k/ (porc-épic [pɔʀkeˈpik], aber auch [pɔʀeˈpik] ‘Stachelschwein’). Nach einem Maximum an verstummten auslautenden Konsonanten im Mittelfranzösischen (14.-15. Jahrhundert) sind seit dem 18. Jahrhundert einzelne und dann immer mehr Auslautkonsonanten in allen Positionen wieder hörbar geworden, so bei but, fait in der Bedeutung ‘Tatsache’, porc, jadis, os, bis, sens (auch in sens commun), fleur de lis (bzw. lys), anis, bœuf gras usw. die Coseriu nach Grammont (1951, 93-94) noch als fakultativ hörbar aufführt, die aber heute obligatorisch den Auslautkonsonanten hören lassen. Ausgesprochen wird heute auch auslautendes c in bloc, choc, cognac, hamac usw. (vgl. auch schon Fouché 1959, 376-377) wobei eher verwunderlich ist, dass es einmal stumm war, wie es in tabac, estomac immer noch ist. Auch -d ist heute selbstverständlich wieder hörbar, wie in Alfred, David. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstummte das -f in neuf ‘neun’ vor folgendem Konsonant: ils sont neuf [nœf], aber neuf livres [nøˈlivʀ]. Auslautendes -l wird bei Grammont (1951, 94) in avril, mil, péril ausgesprochen, aber in gentil, outil, fusil als fakultativ hörbar angegeben, Wörter, die aber heute in korrekter Sprache - also weder vulgär noch dialektal - ohne / l/ gesprochen werden (siehe auch schon Fouché 1959, 379). Ein Spezialfall ist vingt mit [t] in vingt-et-un, vingt-deux … vingt-neuf, aber ohne [t] bei quatre-vingt-un usw. All dies sind keine wirklich phonologischen Fragen, sondern Auswirkungen phonetischer Traditionen. Aber wie schon zu Beginn des zweiten Abschnitts dieser Darstellung, der „Romanischen Phonologie“ bemerkt wurde, dienen die hier gemachten Ausführungen nicht nur der Phonologie im strengen Sinn, 8.3 Die romanischen Konsonantensysteme im Vergleich 189 <?page no="190"?> sondern auch der praktischen phonetischen Beschreibung, welche zur charak‐ terisierenden Beschreibung einer Sprache gehört. Sie ist dort grundlegend und wichtig. Die eigentliche Phonologie haben wir immer wieder im Bemühen, das System der Vokale und Konsonanten der hier behandelten romanischen Sprachen aufzustellen, berücksichtigt. 190 8 Romanische Vokalsysteme <?page no="191"?> Bibliographie Abercrombie, David (1949), “What is a Letter? ”, Lingua 2: 54-63. Abercrombie, David (1965), Studies in Phonetics and Linguistics, London: Oxford Univer‐ sity Press. Reprint 1966, 3rd imprint 1971. Akamatsu, Tsutomu (1988), The Theory of Neutralization and the Archiphoneme in Functional Phonology, Amsterdam - Philadelphia: John Benjamins. Alarcos Llorach, Emilio (1949), “El sistema fonológico español”, RFE 33, 265-296. Alarcos Llorach, Emilio (1961), Fonología española, tercera edición, Madrid: Gredos. Albano Leoni, Federico (2021), “»Die Sprachen sind instabile und ungeordnete Systeme«. Beobachtungen eines Sprachwissenschaftlers zur Sprachtheorie Karl Bühlers“, Journal für Psychologie 29,2, 120-138. 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Astur-Leonesisch-140 auditiv-19, 22, 33, 56 f., 74, 91 Aufhebung-→ Neutralisierung Ausdrucksebene-42, 58, 69, 97 Ausdrucksmittel-97 Auslastung-139 Auslautkonsonant-89, 106, 165, 167, 189 automatisch, Automatismus-30, 74, 79, 99 f., 121 ff., 131, 133, 136, 145, 147, 149, 178, 180, 183 Baskenland-107 bedeutungsunterscheidend-35, 38, 40, 69, 71, 74, 138, 145, 153 Bedeutungsunterscheidung-38, 110, 133 Betonung-63, 69, 74 f., 77, 134, 154 ff., 163 bilabial-25, 37, 50 f. Bilinguismus-107 Binarismus-91, 93, 135 Bolivien-140, 162 Bretagne-107, 109, 111 Buchstabe-23 f., 28-31, 82 Bulgarisch-99 Ceceo-98, 143 Chile, Chilenen-50, 53, 140 Chinesisch-46, 74, 155 Darstellungsfunktion-12, 61 f., 65 f., 69 Darstellungsphonologie-68 f. delimitative Funktion-69, 74, 76, 81, 153, 158, 161, 163, 165 Derivationsmorphem-80 Determinant-59, 74, 90, 106, 112, 188 Diachronie, diachronisch-18, 44, 104 diakritische Funktion-69, 71, 73 ff., 81 Dialekt, dialektal-12, 105, 113 ff., 120 diaphasisch-105 f. Diaphon-45, 47 diastratisch-10, 12, 105, 107, 139, 143, 178 diatopisch-10, 105 ff., 139, 143, 178 Differenzen-83 f. <?page no="206"?> Diphthong, diphthongisch 22, 24, 120, 126, 128 f., 136 ff., 166, 170, 173, 182 diptongos móviles, dittonghi mobili-126 distinktiv 18, 39 f., 42, 55 f., 63 f., 66, 69-73, 88, 131, 153 f. Distribution-34, 40, 45, 52, 74, 89 f., 97, 99, 102, 110, 121 f., 126, 144, 159, 164, 166 Doppelkonsonanz-106, 112, 123, 125 f., 150, 167, 187 dorsal-13, 37 dorso-alveolar-52 Dreikonsonantengesetz-78, 112, 157, 164, 180 f., 183 f. Druckakzent-155 „e caduc“, „e instable“-144, 164, 180, 183 f., 187 Eigenname-162, 167, 183 Eigentonklasse-169 f., 172-175 eindimensional-85 f., 88, 90, 188 einzelsprachlich-18, 62, 64 ff., 68 „e muet“-112, 157 f., 180 Englisch, englisch 10, 29, 33, 43 f., 77 ff., 90, 99 ff., 164 Enklitikon, Enklitika-74, 125, 154, 161 Erbwörter-146, 163 ff., 167 Expressivität-150 Fachsprache-105 familiäre Sprache-112 f., 127, 140 Familie von Lauten-40, 45-48 fast colloquial-112 “fast colloquial”-111 figura-28 ff. Finnisch-53, 59, 67, 74, 77 f., 80, 99, 155 Finno-ugrisch, finno-ugrisch-74, 146 Flexionsmorphem-80 Florentinisch, florentinisch-113 f., 117, 120, 124 ff., 139 Florenz-117 f., 120 Form (μορφή)-56 français central-107, 109 français non méridional-108, 111, 144 f. Français non méridionaux-157, 175, 180 français normal-107, 109 français périphérique-107 franko-provenzalisch-107, 109 Fremdwörter 12, 78 f., 121 f., 150, 158, 162- 166 Frikativ, frikativ 13, 25, 50 f., 83, 85-88, 90, 92, 99, 141, 185-188 fuerza-29 Funktionalität-46, 48, 51, 58 funktionell-10, 17 f., 25, 35 f., 40, 42 ff., 46- 51, 55 f., 58, 63, 66, 69, 71, 81, 97-100, 109, 119 f., 122, 135, 139, 147, 153, 159, 184, 187, 189 «-funktionell-»-19 funktionelle Leistung-121, 123, 131 funktionelle Sprache-105 Galicien-107 gedeckt-145, 148 f., 181 Gemeinsprache-53, 105, 113 ff., 117 ff. Geminate, geminiert-72, 115-119, 121, 123, 137 f., 187 Generation-53, 112, 147-151, 158 gepflegte Aussprache-111 ff. geradlinig-86 gerundet-18, 63, 86, 101, 121, 159, 170, 185 geschlossen-27, 30 f., 46, 53, 84, 86 f., 93, 100, 116, 118, 120, 126, 134, 146 f., 166, 174, 176 f. gespannt-93 Gestalt-82 gipfelbildende Funktion-69, 74, 153 f. Glossematik, glossematisch-19, 58 glottalisiert-92 Glottisverschluss-69, 77, 79 f., 92, 155, 159, 166 graduell-87 206 Register <?page no="207"?> Graphematik-19 Graphie-29, 53, 115, 117, 122 ff., 128, 144, 150, 182, 187 Grenzen-46, 48, 51, 80 f. «-Grenzen-»-80 Griechisch, griechisch-22 f., 46, 89, 116 Haïku-68 Halbvokal-133-137 harmonisation vocalique-146, 177 h aspiré-136, 149, 157, 188 heterogen-86 Hispanoamerika-52 f., 68, 140 f. hochdeutsch-100 homogen-27, 33, 85 f. Homonym-106 Homonymendifferenzierung-106 homonymie gênante-178 homophon, Homophonie-70, 88, 144, 153 Hyletisch-56, 58 Hypodistinktion-90 Hypophoneme, Hypoeinheiten-90, 131, 175-178 ibero-romanisch-114 Inhalt, Inhaltsebene-61, 66-70 Inlaut 23, 78 f., 88, 99 f., 110, 115, 118 f., 139, 145-149, 157 f., 161 f., 164, 180 f., 184, 187 intensives Glied-135 intervokalisch-26, 51 f., 79, 99, 117 ff., 121, 123, 126, 144 Intonation-64, 101 Intuition-27, 29, 76 Japanisch, japanisch-46, 68, 77, 79 joncture externe-159 Junkturphonem-156 Kardinalvokale-141 Karibik-53 Kastilier, kastilisch-50, 98, 107, 114, 140, 144 Katalanisch, Katalonien-53, 89, 98 f., 107, 140, 173 Kenem, Kenematik-19, 58 f. Kjachisch-Tscherkessisch-37, 169 Kommutation, Kommutationsprobe-71 f. komplementär, kombinatorisch-34 f., 40, 45 f., 52, 146 Konsonantennexus-24, 79, 111, 113, 158, 164, 183 Konsonantensystem-91, 97, 136, 141, 149, 185 f. Konsonantismus-113, 121 konstitutive Funktion-69, 73, 81, 153 f. Kontinuum-24, 41 Kontrast-56, 75, 122 f., 145, 147, 149, 151, 187 Koreanisch-23, 46, 77 Korrelation-17, 23, 88, 141, 186, 188 kulminative Funktion-69, 153, 161, 163 Kundgabe-61 f., 65 f. Labial, labial-13, 18, 83 f., 87 Länge, Längenopposition-46, 134 ff., 147 La-Plata-Raum-143 f. Latein, lateinisch-23, 28, 30, 53, 82, 90, 97, 102, 117, 164, 172, 181 latente Konsonanten-188 f. Laut 21, 25, 28 f., 34 f., 37, 42, 45, 58, 72, 92, 105, 120, 136, 143, 159, 177 Lautabsicht-38, 40 «-Lautabsicht-»-38 Lautsegment-25 ff. Lautsegmentierung-25 Lautstilistik-62, 68, 153 Lautung 10, 98, 100, 114, 118, 122, 124, 142, 144, 164 f., 179, 182, 189 Lautvorstellung-35 ff., 40 f., 47 f. Lautwert-28 ff., 82 Leistung-→ funktionelle Leistung Lexem, lexematisch 66, 74, 80, 88, 146, 150, Register 207 <?page no="208"?> 154, 161, 163 liaison-59, 111 f., 155, 157 f., 188 f. Liquid-100 litera, letter, lettre, letra-28-31 Literatursprache-101, 119, 127, 172, 174 Megleno-Rumänisch-115 mehrdimensional-85 Merkmal-17, 19, 37, 72, 75, 85, 87 f., 92, 97, 107 merkmallos-87, 136 Mexiko-53, 139 f., 143 Minimalpaar-31, 72 f., 98, 122, 136, 153 f., 178 «-Minimalpaar-»-179 mittelenglisch-101 Mittelfranzösisch-106, 164, 189 mittelhochdeutsch-79 Morphem, Morphemeinheit-58 f., 69, 77, 153, 161 morphematisch-163 Morphemgrenze-78-81, 150, 158 f., 167, 183 Morphonem-36, 39, 42 Morphonologie, morphonologisch-27, 42, 44, 126, 183, 187 mot phonétique-180 f., 188 mouilliert-150 Mundart-12, 34, 114 f., 117 f., 120, 140, 165 Nasal, Nasalkonsonant 52, 78, 86, 132, 137, 141 f., 158, 185 f. Nasaldiphthong-99, 174 Nasalphoneme-108 Nasalvokal-98 f., 101, 132, 135 f., 147, 156, 158, 171, 174 f. Naturwissenschaft-36, 55 f. Neugriechisch-67, 99 neuhochdeutsch-79 Neutralisierung 17, 87-90, 143, 155, 176 ff., 180 Nexus 25, 78 f., 97, 158, 162, 164, 166 f., 170, 177, 181-184 nichtaspiriert, Nichtaspirierung-98 nomen-29 nordamerikanisch-17 f., 25, 27, 44, 89 norddeutsch-79 Norditalienisch-106, 139 offen-30 f., 53, 64, 100, 118, 120 offene Junktur-155 Öffnung-88, 112, 185 Öffnungsgrad-46, 87, 121, 148 f., 169 f., 173 f. oficio-29 Okklusiv, okklusiv 13, 25 f., 50 f., 85, 87, 90, 92, 141, 161, 181, 185-188 Okzitanisch-140, 173 onomatopoetisch-78 oral-25, 50 ff., 83, 89, 92, 136 Orthographie, orthographisch-30, 105, 116, 120 f., 123 f. oxyton, Oxytona-124 palatal-13, 45, 51, 78, 86, 88, 101, 109, 113, 137, 146, 161, 169 f., 178, 185 Palatalisierung-112 f. Parole (parole)-49, 55 Peru-53, 140 Phonematik-19 phonematisch 12, 53, 64, 72, 76 f., 107, 115, 141, 154 Phonembegriff-21 f., 31, 131 Phonemdistribution-163 ff. Phonemik-18 f., 89 Phonemkombination-138 Phonemtheorie-25 ff., 55 phonetisch-13, 27 f., 43, 78, 88, 113, 117, 143, 156, 176, 178, 183, 189 phonisch-18, 22, 24, 30 f., 35, 44, 55 f., 58 f., 61 f., 68 f., 132 phonische Gruppen-74, 154 208 Register <?page no="209"?> phönizisch-22 phonosyntaktisch-123, 126 phonotaktisch-188 Physiologie-55 Physiophonetik, physiophonisch-32 Plerem-58 Polnisch, polnisch-67, 75, 77 Polysemie-70 Portugal-29, 114 Portugiesisch, portugiesisch 10, 30, 46, 51, 53, 75, 78 f., 98 f., 101, 170, 173 f. Position-80, 89 f., 97, 117, 144 Positionsbeschränkung-79, 90, 139 potestas-29 Präfigierung-124 Prager Linguistenkreis-35 privativ-87 f., 90 Proklitikon, Proklitika-74, 154, 161 Proparoxytona-163 Prosodie-134 Psychophonetik, psychophonisch-32, 40 Qualitätsunterschied-134 f., 145, 147 Quantität-28, 63, 75 f., 102, 132 f., 135, 148 f., 171 rafforzamento iniziale-116, 118 f., 124 Rätoromanisch-114 Realisierungsnorm-43 f., 52 Rechtschreibung-31, 59, 105 f., 115 f., 121, 146 Rede, Redeakt (parole)-18, 39 Regionalitalienisch-114 rehilamiento-143 f. Reibelaut-→ Frikativ, frikativ relevant-40, 72, 110 rhythmische Gruppe-155 Río-de-la-Plata-Spanisch-131 Rom-113, 115, 117 f., 120, 123, 125 f. Römisch-106, 117 f., 125, 128, 139 Rumänisch, rumänisch-10, 21, 99, 170 Russisch, russisch-99, 170 Sardisch-172 Schallfüllegrad-169 Schallstrom-41 Schließung-88, 112 Schriftsprache-59, 113 ff., 117, 128 Schwedisch, schwedisch-26, 67 Segmentierung-22 Semantik-17, 49, 71, 87, 89 semantisch-12 Seseo-98 Siglo de Oro-52, 97, 139 signifiant-70 f., 75, 154 signifié, signifiés-70 f., 153 Silbe-74-77, 89, 99, 116, 118, 123, 126, 133, 146, 155 f., 162, 166, 177 f., 183 silbisch-166 Sinn-66 f. Sizilianisch-120, 172 Slowakisch-74, 77 slow colloquial-113 “slow colloquial”-111 Sonorisierung-53, 98 f. sozio-kulturell-12, 144 Spanisch-Amerika-107 Sprachgebilde (langue)-39, 55 Sprachlaut-18, 21, 35, 41, 45 Sprachschichten-105, 114, 142 Sprachstil-105 Sprachsystem-18, 35, 63 f., 73, 87 stilistisch-35, 55, 63 f., 187 stimmhaft 22 f., 25 f., 50 f., 79, 83, 85, 87-90, 92 f., 98 f., 122, 141, 184, 186 ff. Stimmhaftigkeit-23, 85, 87, 90, 122, 155 stimmlos-22 f., 26, 50, 79, 85, 87, 89 f., 92 f., 98, 100, 122, 141, 184, 186 ff. Stimmlosigkeit-37, 85, 87, 90, 122 Stoff, stofflich-12, 56, 58, 113, 132 Strukturalismus-25, 27, 75 Register 209 <?page no="210"?> strukturelle Linguistik-91 Substanz (ὕλη)-56 süddeutsch, Süddeutscher-51, 79, 99 Südfranzosen-108, 144, 157 Süditalien-56, 117, 119, 123, 125, 128 Süditalienisch-106, 119 f., 139, 165 suprasegmental-69, 75, 101 Synchronie, synchronisch-18, 39, 44 Synkretismus-90 f. Synthese-22, 24 f. Textverfahren-67, 159 Ton, Tonem-64, 67, 74, 77, 126, 147, 154, 177 Tonhöhe-69, 102 Toskanisch, toskanisch-26, 31, 33, 53, 106, 113, 116-119, 121, 124 f., 128, 138 f. Transkription-13, 32, 52, 159, 178 troncamento-163, 165 Tschechisch, tschechisch-46, 74, 77, 92 Türkisch-23, 67, 74, 77, 170 unbeständige Diphthonge-126 Ungarisch, ungarisch 46, 53, 61, 67, 74, 77, 80, 99, 146 ungeradlinig-86 ungerundet-86, 121 ungespannt-93 unsilbisch-133, 163, 166 unterscheidender Zug-17, 22-25, 91, 99 Uruguay-53 Variation-10, 40, 51, 56, 71, 82 f., 131, 178, 187 varietà regionale-106 Varietät-114 velar-13, 45, 78, 80, 84, 86, 109, 146, 169 f., 178, 185 f. “velar”-186 Vibrant-138 Vokalharmonie, -harmonisierung-146, 176, 179 Vokalismus-93, 113, 119 Vokallänge-98 f., 132 Vokalquantität-132 f. Vokalsystem-35 f., 91, 108, 133, 141, 144, 147, 149, 169-174, 184 f. Volkssprache-125, 128, 157, 180 Wortabgrenzung-155, 157 Wortakzent-69, 71, 74-77 Wortverbindung-69, 74, 153 yeísmo-143 zentralisiert-174 Zug-22 Zug, Züge-12, 26, 56, 58 f., 71, 108 f., 112, 140 210 Register <?page no="211"?> ISBN 978-3-381-10971-5 Hier werden zwei Manuskripte aus der Hinterlassenschaft des 2002 verstorbenen bedeutenden Sprachwissenschaftlers Eugenio Coseriu mit aktualisierter Bibliographie herausgegeben. Der erste Teil beschäftigt sich mit der heute nur noch wenig bekannten Geschichte der Entstehung der klassischen Prager Phonologie, die für die weitere Entwicklung strukturalistischer Richtungen in den Geisteswissenschaften große Bedeutung hatte. Eigenständig ist hierbei Coserius kritische Kommentierung der durch Trubetzkoy und Jakobson geschaffenen Grundlagen. Im zweiten Teil werden die Lautsysteme des Französischen, Italienischen und Spanischen beschrieben, wobei neben der phonologischen Analyse auch die Beschreibung der z. T. regionalen Aussprachenormen eine große Rolle spielt. Sie dient dem sprachdidaktischen Anliegen des Autors.