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NS-Haft in der biographischen Reflexion

Schriften über die nationalsozialistischen KZ und Gefängnisse und der kulturelle Transformationsprozess in den westlichen Besatzungszonen

0812
2024
978-3-3811-0982-1
978-3-3811-0981-4
A. Francke Verlag 
Johannes Vogel
10.24053/9783381109821

Nach dem Ende der NS-Herrschaft hatten viele der Verfolgten das Bedürfnis, von ihren Erlebnissen zu berichten. Unterstützt von den alliierten Besatzungsmächten erschienen in den ersten Nachkriegsjahren hunderte Schriften, in denen die Betroffenen die Haft in den NS-Gefängnissen und Konzentrationslagern schildern. Das Buch untersucht einige dieser Texte, die in ihren Rückblicken auf das eigene Erleben immer auch Urteile ableiten und Forderungen formulieren hinsichtlich der Konstituierung des postfaschistischen Deutschland. Mit welchen ästhetisch-narrativen Verfahren diese Texte ihre Folgerungen aus dem Erlebten sowie die zum Teil gravierenden Überschreibungen der eigenen Biographie plausibilisieren, steht im Fokus der Untersuchung. Dabei legt Vogel besonderes Augenmerk auf die komplexen Zusammenhänge, Brüche und Inszenierungen von historischen Ereignissen, individueller Erfahrung und deren schriftlicher Reflexion im Kontext des Nachkriegsdiskurses.

ISBN 978-3-381-10981-4 Nach dem Ende der NS-Herrschaft hatten viele der Verfolgten das Bedürfnis, von ihren Erlebnissen zu berichten. Unterstützt von den alliierten Besatzungsmächten erschienen in den ersten Nachkriegsjahren hunderte Schriften, in denen die Betroffenen die Haft in den NS-Gefängnissen und Konzentrationslagern schildern. Das Buch untersucht einige dieser Texte, die in ihren Rückblicken auf das eigene Erleben immer auch Urteile ableiten und Forderungen formulieren hinsichtlich der Konstituierung des postfaschistischen Deutschland. Mit welchen ästhetisch-narrativen Verfahren diese Texte ihre Folgerungen aus dem Erlebten sowie die zum Teil gravierenden Überschreibungen der eigenen Biographie plausibilisieren, steht im Fokus der Untersuchung. Dabei legt Vogel besonderes Augenmerk auf die komplexen Zusammenhänge, Brüche und Inszenierungen von historischen Ereignissen, individueller Erfahrung und deren schriftlicher Reflexion im Kontext des Nachkriegsdiskurses. Vogel NS-Haft in der biographischen Reflexion NS-Haft in der biographischen Reflexion Johannes Vogel Schriften über die nationalsozialistischen KZ und Gefängnisse und der kulturelle Transformationsprozess in den westlichen Besatzungszonen NS-Haft in der biographischen Reflexion Johannes Vogel NS-Haft in der biographischen Reflexion Schriften über die nationalsozialistischen KZ und Gefängnisse und der kulturelle Transformationsprozess in den westlichen Besatzungszonen Gleichzeitig Dissertation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381109821 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-381-10981-4 (Print) ISBN 978-3-381-10982-1 (ePDF) ISBN 978-3-381-10983-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 1 11 1.1 24 1.2 38 49 2 51 3 67 3.1 68 3.2 75 4 83 4.1 98 5 107 5.1 107 5.2 119 127 6 129 6.1 129 6.2 136 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Die Bedeutung der Opferperspektive für die Entnazifizierung und den Aufbau Nachkriegsdeutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verordnete Selbstverpflichtung. Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neuformierten Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die beiden christlichen Großkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs . . Der Wandel des Opferzum Elitendiskurs. Die Debatte um die Innere Emigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Opfer des Nationalsozialismus zwischen offizieller Anerkennung und kontinuierter Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Winkelzüge“. Die Übernahme nationalsozialistischer Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff . . . . . . . . . . . . . Konkurrierende Opferperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Die Anmeldung von Führungsansprüchen in der Reflexion erlebter nationalsozialistischer Haft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Notwendigkeit neuer Herrschaft zur Verwirklichung von Gemeinschaft. -Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt . . . . . . . . . . Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schock und Deutung des Lagers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 142 6.4 157 6.5 169 6.6 178 7 181 7.1 181 7.2 202 7.3 210 7.4 218 7.5 230 7.6 234 7.7 238 8 245 8.1 245 8.2 268 8.3 275 8.4 283 8.5 295 9 303 9.1 303 9.2 317 9.3 327 9.4 330 9.5 333 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte Aspekte eines Herrschaftsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation des geistlichen Unterstützers als Seelsorger der Nation. -Hanns Lilje: Im finstern Tal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apologie des belasteten Anwärters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leid als geistige Bereicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kirche innerhalb der nationalen Deutung . . . . . . . . . . . . . Offenbarung des geistlichen Führers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verkörperung deutscher Kulturtradition als Avantgarde ihres Wiederaufbaus. -Ernst Wiechert: Der Totenwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Johannes-Figur als Verkörperung der Nation . . . . . . . . . . Entgrenzte Gewalt und Bewahrung der nationalen Deutung im Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konkurrenz der Märtyrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wandlung der faszinierten NS-Anhängerin zur Stimme eines neuen Menschenbildes. -Luise Rinser: Gefängnistagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinwendung zu Akzeptanz und Kritikverzicht . . . . . . . . . . . . Fürsprecherin des neuen Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 10 337 10.1 337 10.2 341 10.2.1 344 10.2.2 349 10.3 350 10.3.1 352 10.3.2 359 10.4 362 11 367 11.1 367 11.2 383 11.3 389 11.4 393 12 397 12.1 397 12.2 403 12.3 415 12.4 423 Das politische Häftlingskollektiv als Stifter von Gemeinschaft. Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar: Häftling … X … in der Hölle auf Erden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skepsis - Überzeugung - Integration. Die Dialektik des politischen Kollektivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Nukleus des Humanen in der zurückgehaltenen Lagergemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kollektiv als Vollbringer von Recht und Gerechtigkeit in Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfechter rechtsstaatlicher Ordnung in systematischer Willkür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! “ Die befreite Lagergemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . NS-Repressionen als Legitimation des Wittelsbacher Thronanspruchs und bayerischen Sonderwegs. -Erwein von Aretin: Wittelsbacher im KZ . . . . Biographische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Monarchismus als Antifaschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Wir kamen dann nicht in ein Schloß, sondern in das KZ.-Lager Oranienburg-Sachsenhausen.“ -Das Nicht-Darstellen der Haft Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anmeldung intellektueller Führungspersönlichkeiten für den nationalen Zusammenhang im Spektrum ihrer Neuausdeutung. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Konstituierung universeller Verbindlichkeiten von Gemeinschaft zur Überwindung des Nationalsozialismus . . . „Eine groß angelegte Parodie auf die Gerechtigkeit“. Die Forderung eines staatlich gestifteten Zusammenhangs des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekel und Verpflichtung. Die Apostrophierung der Bevölkerung als führungsbedürftig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konstituierung einer neuen Elite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 12.5 424 12.6 441 13 449 13.1 449 13.2 449 495 14 497 Rezeption von Haftliteratur und Elitenansprüchen . . . . . . . . . Historisches Ergebnis dieser Deutung des Opfers . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie der KZ- und Gefängnisliteratur 1945-1961 . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. 1 Schriften über die KZ machten zumindest in den ersten zwei Nachkriegsjahren den größten Anteil der Veröffentlichungen auf dem deutschen Buchmarkt aus. Helmut Peitsch, Nachkriegsliteratur 1945-1989. Göttingen 2009 (Schriften des Erich-Maria-Re‐ marque-Archivs, 24), 29; vgl. ders., „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit“. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949. Berlin 1990, 55-60, insb. die Diagramme auf 55-59. Für die Phase bis 1949 waren diese Schriften derart präsent, dass der Schriftsteller und Publizist Heinz Rein in seinem „Versuch eines ersten Querschnitts“ der Literatur seit Kriegsende konstatiert: „In der Fülle der seit 1945 erschienenen Bücher nimmt die Literatur über die Konzentrationslager den breitesten Raum ein.“ Heinz Rein, Die neue Literatur. Versuch eines ersten Querschnitts. Berlin 1950, 55. 1 Einleitung Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammen‐ bruch NS-Deutschlands drängten die alliierten Siegermächte auf eine umfas‐ sende Aufklärung über die Haftbedingungen in den nationalsozialistischen Gefängnissen und vor allem den Konzentrationslagern. Sie selbst schickten Berichterstatterinnen und Journalisten und publizierten Broschüren, die die Weltöffentlichkeit und insbesondere die Deutschen mit der systematischen Gewalt des Regimes konfrontierten. Dazu förderten die Alliierten auch die Texte der Betroffenen. Die Besatzungsmächte waren auf das Material aus erster Hand in mehrfacher Hinsicht angewiesen: zur internen Informierung über die Funktionsweise des Lagersystems innerhalb des NS-Staates, zur juristischen Verfolgung der Täter in der Denazifizierung und nicht zuletzt für die Medi‐ enkampagnen ihres Re-education-Programms. Die Schilderungen der Opfer sollten allen Deutschen das Ausmaß des KZ-Systems, die in den Haftanstalten herrschenden Zustände und die tausenden Ermordeten vor Augen halten und so an der moralischen Diskreditierung des Nationalsozialismus mitarbeiten. Von alliierter Warte waren sie Instrumente zur Umerziehung der Massen. Die Berichte der ehemaligen Häftlinge wurden gefördert, eingefordert und zum Teil beauftragt und waren die ersten Schriften überhaupt, die auf dem von den Besatzungsmächten kontrollierten, lizenzierten Buchmarkt erscheinen durften. 1 Im Fokus dieser Darstellungen stand zunächst nicht die Verfolgung und Ver‐ nichtung der jüdischen Bevölkerung. Die Autor: innen dieser ersten nach 1945 erschienenen Texte waren zumeist die als politische Gefangene Inhaftierten, die über ihre Erlebnisse in Gefängnissen und Lager vornehmlich auf Reichsgebiet berichteten. Sie schrieben aus dem persönlichen Bedürfnis, mit den eigenen Erfahrungen an der Delegitimation des Nationalsozialismus mitzuwirken und Perspektiven für die postfaschistische Zukunft aufzuzeigen. Dies taten sie vor 2 Publikationen, in denen sich Autor: innen des Haftstoffes ohne die Dimension des ei‐ genen oder original recherchierten Erlebens annahmen, stellen die absolute Ausnahme dar. Eine dieser wenigen Ausnahmen ist Erich Maria Remarques Roman Der Funke Leben von 1952. Eine publizierte Literatur der Täter - etwa der SS bzw. KZ-Wachmannschaften - existiert dagegen nicht. Zwar erschienen Bände mit Gesprächsprotokollen ehemaliger SS-Angehöriger, wobei es sich aber um Erinnerungsberichte handelt, die nicht mit einer Publikationsabsicht verfasst wurden. Schriften dieser Art publizierte etwa die Arbeitsgemeinschaft „Das Licht“: Beichte des Lagerkommandanten von Mauthausen. SS-Standartenführer Franz Ziereis beruht auf einem Verhör nach der Verwundung und Gefangennahme des Lagerkommandanten unmittelbar vor seinem Tod bei einem Fluchtversuch. Auch existieren Texte wie die Verhörprotokolle und Aufzeichnungen von Rudolf Höß, Kommandant des KZ Auschwitz, die u.A. als Vorlage für Robert Merles Roman La mort est mon métier (1952) dienten (in deutscher Übersetzung 1957 als Der Tod ist mein Beruf im Aufbau-Verlag, Berlin, erschienen). Im Original erschienen Höß’ Aufzeichnungen erst 1958, elf Jahre nach dessen Hinrichtung, ediert von dem Historiker Martin Broszat als Kommandant in Auschwitz. Zu Genese, Publikations- und Editionsgeschichte siehe Martin Broszat (Hrsg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, 23. Aufl. München 2011 [1958], 8-16. Die Aussagen der SS wurden in der Regel als juristisches Material und zur Beglaubigung der Aussagen ehemaliger Häftlinge gesammelt und publiziert. Höß etwa verfasste seine Notizen als Häftling im Krakauer Untersuchungsgefängnis für die polnische Justiz. Darüber hinaus existieren Texte wie Bodo Uhses Erzählung „Der Türmer“, die sich in Form des literarischen Porträts der psychisch-emotionalen Verfasstheit der SS-Wachen, hier eines Vernichtungslagers, und damit den individuellen, psychologischen Ursachen der KZ-Gewalt anzunähern versuchen. Uhse, Bodo, „Der Türmer“, in: ders., Die heilige Kunigunde im Schnee: und andere Erzählungen. Berlin: Aufbau-Verlag, 1949. 3 Rosmarie Hofmann, „‚Von der Seele schreiben‘. Reflexion des KZ Buchenwald in der Literatur“, in: Schneider, Thomas F., „Reue ist undeutsch“. Erich Maria Remarques Der Funke Leben und das Konzentrationslager Buchenwald: Katalog zur Ausstellung, Bramsche 1992, 55-65, hier: 59. Ein solcher Authentizitätsanspruch ist im Übrigen auch bei Texten festzustellen, die unter einem Alias erschienen: Walter Ferber etwa legte 1945 in Luzern unter dem Namen Walter Feuerbach seinen Erlebnisbericht vor: 55 Monate Dachau, welcher mit dem Untertitel Ein Tatsachenbericht von Walter Feuerbach erschien. Ähnliches gilt für Heinrich Eduard von Miesen: Sein Tagebuch eines Arztes wurde 1947 in Köln als Weltfahrt ins Herz unter dem Alias Heinrich Eduard vom Holt publiziert. allem in autobiographischen Berichten, aber auch Gedichte, Erzählungen und Romane sowie erste sachliterarische Untersuchungen entstanden. 2 Gemeinsam ist ihren Texten die ausdrückliche und eindringliche Versiche‐ rung der Authentizität des Geschilderten. Auffällig sind die unterschiedlichen Strategien, den Anspruch auf Objektivität und Authentizität zu untermauern. Zahlreiche Texte beglaubigten die Instanz des Autors bzw. der Autorin, indem sie ihrem Namen die einstige Häftlingsnummer hinzufügten. 3 Walter Poller etwa, Hamburger Sozialdemokrat und ehemaliger Gefangener im KZ Buchen‐ wald, schreibt über seinen Anspruch beim Verfassen von Arztschreiber in Buchenwald: Bericht des Häftlings 996 aus Block-39 (1946): 12 1 Einleitung 4 Walter Poller, Arztschreiber in Buchenwald. Bericht des Häftlings 996 aus Block 39. mit 4-Original-Lithographien von Richard Grune. Hamburg 1946, 116. 5 Ebd., 7. Dieser Eid datiert auf den 24. April 1945, also nicht nur ein Jahr vor der Publikation des Textes, sondern auch mehrere Tage vor der Kapitulation Hamburgs und damit auch Reinbek-Neuschönningstedts am 3. Mai, wo Poller seit seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald lebte. Uwe Bahnsen, Kerstin von Stürmer, Die Stadt, die leben wollte. Hamburg und die Stunde Null. Hamburg 2004, 104-111; Hans Dreckmann, Hamburg nach der Kapitulation. Erinnerungen an 1945-1946. Geschichte der „ernannten“ Bürgerschaft, Um Vorwort und Bildteil erw. Nachdr. Hamburg 1985, 23-32. Zu Pollers Biographie siehe Peter Schäfer, Walter Poller. Lebenslanges Eintreten für Demokratie und Gerechtigkeit. Studienarbeit. Münster 2018 (Helden und Außenseiter. Zur Geschichte des Nationalsozialismus in Westfalen nach 1945, 10), 609-652, Internet: Deutsche Nationalbibliothek, https: / / d-nb.info/ 1150779349/ 34, zuletzt geprüft am: 4.2.2022. 6 Hanns Lilje, Im finstern Tal. Nürnberg 1947, 9. „Als ich die Feder zu diesen Aufzeichnungen ansetzte, nahm ich mir vor, unter keinen Umständen ein Zerrbild, sondern nach bestem Wissen und Gewissen ein möglichst naturgetreues photographisch-phonetisches Bild der Wahrheit zu geben, und dieser Vorsatz ist mein oberstes Gesetz bis zum Schlußpunkt.“ 4 Poller geht in der Betonung seiner Verpflichtung auf die Objektivität des Geschilderten so weit, dass er vor dem Haupttext einen Eid ablegt, „bei meinem eigenen Leben und bei allem, was ich liebe und lebenswert halte, daß ich die reine Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit niederschreiben werde.“ Versehen ist der Schwur mit Datum, Uhrzeit und dem Faksimile seiner hand‐ schriftlichen Unterschrift. 5 Andere, wie der spätere Hannoveraner Landesbischof Hanns Lilje, unterstri‐ chen den Wahrheitsgehalt ihrer Schriften, indem sie betonten, dass diese nicht auf eine Öffentlichkeit berechnet seien. Im Vorwort seines Gefängnisberichts Im finstern Tal schreibt Lilje, dass ihm selbst die Publikation seiner Erlebnisse widerstrebt habe: „Solltest Du unversehens, lieber Leser, über dies Büchlein geraten und zu dem Entschluss gelangen, daß es von Dingen rede, die nicht für die Öffentlichkeit geeignet seien, so sei meiner Zustimmung gewiß. Denn hier ist weder von historischen Zusammenhängen unserer jüngsten Vergangenheit die Rede, die bisher unbekannt geblieben wären, noch wäre der Anspruch biographischer Besonderheit gerechtfer‐ tigt, denn tausend Andere haben Ähnliches wie ich, Ungezählte noch Schlimmeres durchgemacht, noch wird hier das traurige Geschäft betrieben, den Haß in der Welt zu vermehren. Dies Büchlein ist nichts anderes als ein Bericht, der nur wahrheitsgetreu erzählen, aber nicht dramatisieren oder heroisieren will, und der mit der Öffentlichkeit so viel oder so wenig zu tun hat wie ich selbst.“ 6 1 Einleitung 13 7 Max Wittmann, Erich Kunter, Weltreise nach Dachau. Ein Tatsachenbericht nach den Erlebnissen des Weltreisenden und politischen Häftlings Max Wittmann. Stuttgart 1946, 5. 8 Ebd. 9 Ernst Wiechert, Der Totenwald. Ein Bericht, 54.-56. Tausend. Frankfurt/ M., 1988 [1946],-153. Auch jene Texte, in denen die Autor: innen ihren subjektiven Zugriff auf die Hafterfahrungen thematisieren und darin die Allgemeingültigkeit ihrer Darstel‐ lungen relativieren, stellen darin das Besondere der eigenen Perspektivierung als einzige Möglichkeit heraus, angesichts des Erlebten eine Wahrheit über die Gefangenschaft zu formulieren. 1946 legte das Autorenduo Erich Kunter und Max Wittmann den Roman Weltreise nach Dachau vor, in dem der Schriftsteller Kunter die Lebensgeschichte des Weltenbummlers und KZ-Häftlings Wittmann verarbeitet. Untertitelt ist der Text als „Tatsachenbericht nach den Erlebnissen“ Wittmanns. In der Einleitung versichert dieser die Faktizität des Dargestellten; es schildere „Tatsachen und wahre Begebenheiten und nennt Menschen bei Namen und Art.“ 7 Allerdings thematisiert Wittmann auch die Freiheiten, die er seinem Autor Kunter bei der Bearbeitung des biographischen Materials gewährt habe: „In allem ließ ich jedoch meinem Kameraden und Mitautor die Freiheit, Personen und Handlungen da und dort nach eigenem Ermessen zu gruppieren, Einzelheiten hinzuzufügen, aus eigener Phantasie auszumalen, wenn er es im Interesse des Buches und seines ethischen Gehalts, sowie aus Gründen der Gestaltung und Zweckmäßigkeit für erforderlich hielt. Dies ist so geschehen, daß es wohl da und dort an der photographischen Genauigkeit mangelt, nie aber an der Wahrhaftigkeit.“ 8 Selbst bei einer nicht näher gekennzeichneten Abweichung vom Postulat der Faktentreue beansprucht der Text, wahrheitsgetreu zu sein. Noch weiter geht der Schriftsteller Ernst Wiechert im Nachwort zu seinem Buchenwald-Text Der Totenwald (1946). Er trennt den Wahrheitsgehalt vom Faktum ab. Erst die literarische Überformung öffne den Blick auf eine „höhere Wahrheit“: „Der Verfasser […] hat diese Erinnerungen nicht um des Ruhmes willen geschrieben oder um noch vergänglicherer Dinge willen. Er gehört zu den Menschen, die mit den Dingen des Lebens eine Verwandlung vornehmen müssen, um sie in sein Schicksal einordnen zu können. Nicht eine Verwandlung in eine andere Wirklichkeit, sondern in eine höhere Wahrheit, eben in die der Kunst.“ 9 Wo die Autor: innen nicht die eigene Hafterfahrung thematisieren, greifen sie zu dem Mittel, ihre Autor: innenschaft als bloße Chronistentätigkeit zu beschreiben. So etwa der rechtskonservative Schriftsteller Ernst von Salomon, vor allem 14 1 Einleitung 10 Ernst von Salomon, Das Schicksal des A.D. Ein Mann im Schatten der Geschichte: Ein Bericht. Reinbek bei Hamburg 1960, 11. Es sei darauf hingewiesen, dass von Salomon in den 1920er Jahren selbst inhaftiert gewesen war: Als Mitglied der aus dem Freikorps „Marine-Brigade Erhardt“ hervorgegangenen „Organisation Consul“ war er u. a. am Fememord an dem liberalen Politiker Walther Rathenau beteiligt. Wegen Beihilfe wurde von Salomon dafür zu fünf Jahren Haft verurteilt. Darüber hinaus war er an der versuchten Ermordung des „O.C.“-Mitglieds und vermeintlichen Informanten Erwin Wagner beteiligt. Im Zuge des „Gießener Fememordprozess“ verurteilte das Landgericht Gießen von Salomon und andere 1927 dafür zu sieben Jahren Haft. Die Strafen wurden jedoch aufgrund eines Gnadenaktes von Reichspräsident Hindenburg bereits im Dezember desselben Jahres auf Bewährung ausgesetzt. Nicht nur konnte von Salomon auf eigene Hafterfahrungen zurückgreifen, er hatte zu diesen auch veröffent‐ licht: 1928 war im faschistischen „Vormarsch Verlag“ ein Sammelband erschienen mit Texten u. a. von Freikorpsführer Hermann Erhardt, Martin Bormann, dem späteren Leiter der NS-Reichskanzlei, oder Joseph Goebbels. Darin enthalten sind auch zwei Texte von von Salomon aus seiner Zeit im Zuchthaus. Ernst von Salomon, „Schrei aus dem Gefängnis“, in: Plaas, Hartmut, Wir klagen an! Nationalisten in den Kerkern der Bourgeoisie, Berlin 1928, 26-59; ders. „Der Kampf um das Objekt“, 142-151. 11 Es ist unstrittig, dass Autorinnen und Autoren biographischer Schilderungen immer auch einer Anschauung Ausdruck verleihen und eine in vielerlei Hinsicht interpretierte Erfahrung wiedergeben. Mit Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus und ihre Zeug‐ nisse konnten insbesondere die psychologischen Zugänge jüngerer Untersuchungen die vielfältigen Literarisierungsprozesse aufzeigen, mit denen diese Leiderfahrungen produktiv zu be- und verarbeiten versuchten. Etwa Bettina Bannasch, Hans-Joachim Hahn (Hrsg.), Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust. Göttingen 2018 (Poetik, Exegese und Narrative, 10); Antonia Barboric, Der Holocaust in der literarischen Erinnerung. Autobiografische Aufzeichnungen von Udo Dietmar und Elie Wiesel. Wien 2014 (Literatur und Leben. Neue Folge, 86); Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin 2006. bekannt geworden durch seinen Bestseller Der Fragebogen (1951): Seiner 1960 erschienenen Biographie des ehemaligen Buchenwaldhäftlings Arthur Dietzsch, Das Schicksal des A.D. Ein Mann im Schatten der Geschichte, stellte er die Versicherung voran: „Dieser Zeuge hat das Wort. Ich, der ich dies schreibe, bin hier nur Chronist.“ 10 Es gehört zu den Spezifika jeden autobiographischen Schreibens, die Authen‐ tizität der Darstellung zu behaupten und zu inszenieren. 11 Doch hier verweist das Beharren auf dem eigenen Erlebnis und der daraus abgeleiteten Authentizität des Berichts auf mehr als auf die Notwendigkeiten eines literarischen Genres. Die Autor: innen setzten sich vielmehr mit der gesellschaftlichen Tatsache auseinander, dass ihre Erfahrungen mit der faschistischen Repression bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung auf - gelinde gesagt - taube Ohren stießen, wenn sie nicht gleich in ihrer Dimension in Bezug auf das Ausmaß an erlittener Gewalt wie auf die Zahl der Opfer bezweifelt oder sogar bestritten wurden. Viele Deutsche verstanden die Aufklärungskampagnen der Alliierten als Über‐ 1 Einleitung 15 12 Vgl. Christoph Classen, „Was bleibt vom ‚Dritten Reich‘? Der Umgang mit dem Nationalsozialismus im geteilten Nachkriegsdeutschland“, in: Süß, Dietmar; Süß, Win‐ fried, Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, Sonderausgabe der Landeszentralen für politische Bildung, München 2009 [2008], 311-332, hier: 320 f.; Josef Foschepoth, „Zur deutschen Reaktion auf Niederlage und Besatzung“, in: Herbst, Ludolf, Westdeutschland 1945-1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München 1986 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), 151-165; Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005, 145 ff.; Erhard Schütz, „Nach dem Entkommen, vor dem Ankommen. Eine Einführung“, in: Agazzi, Elena; Schütz, Erhard, Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945-1962), Berlin 2013, 1-140, hier: -45f. Siehe auch Kap.-4. 13 Der in dieser Arbeit Anwendung findende Diskursbegriff fasst diesen im Sinne Fou‐ caults als eine Vielfalt öffentlicher Äußerungen in den verschiedensten Bereichen und zu einem bestimmten Thema, das durch seine Darstellung, Reflexion, Interpretation angeeignet, gestaltet, weiterentwickelt und verteilt wird, dargelegt vor allem in Die Ordnung der Dinge (1966, dt. 1971) und Archäologie des Wissens (1969, dt. 1973). Diskurs meint damit, Rudolf Parrs Lesart der Archäologie des Wissens folgend, eine „Praxis des Denkens, Schreibens, Sprechens und auch Handelns, die diejenigen Gegenstände, von denen sie handelt, zugleich selbst systematisch hervorbringt.“ Rolf Parr, „Diskurs“, in: Kammler, Clemens; Parr, Rolf; Schneider, Ulrich Johannes, Foucault Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2008, 233-237, hier: -234. treibung oder gar als aufgezwungene Ideologie der Sieger, der sie vor allem die kollektive Anschuldigung entnahmen, das NS-Regime unterstützt und getragen zu haben, und gegen die sie verschiedene Weisen der Leugnung der Fakten und ihrer Beteiligung vorbrachten. Sie betonten, nichts gewusst zu haben insbeson‐ dere von den Konzentrationslagern, weshalb sie also auch nicht für die dort verübte systematische Gewalt zur Verantwortung zu ziehen seien. Man bestritt den Wahrheitsgehalt der Enthüllungen über Lager und Haft, verwarf diese als alliierte Propaganda oder stellte die Legitimität der Quellen infrage, auf die sie sich bezogen. Das besonders Perfide dieser Leugnung bestand darin, dass sie in den seltensten Fällen medial vertreten wurde. Sie hatte vielmehr die Qualität einer Volksmeinung, die im Halböffentlichen gepflegt wurde und sich dement‐ sprechend auch einer sachlichen Auseinandersetzung weitgehend entzog. 12 Ihre Wirkungsmacht lässt sich aber ablesen an dem Legitimationsdruck, dem die Betroffenen in den Beschreibungen ihrer Hafterlebnisse gehorchten, indem sie den Wahrheitsgehalt ihrer Berichte nachdrücklich ausstellten. Ihr Versuch, gegen die Macht der Leugnung anzuschreiben, zeigt sich auch in der besonders drastischen Darstellungsweise, mit denen viele der Autor: innen den zeitgenössischen Diskurs aufrütteln und schockieren wollten. 13 Die unmit‐ telbar nach Kriegsende erschienenen Werke, so Roth, „zeichnen sich durch einen hohen Zeugnisdruck aus, der sich in der sprachlichen Gestaltung niederschlägt: “ 16 1 Einleitung 14 Markus Roth, „Gattung Holocaustliteratur? Überlegungen zum Begriff und zur Ge‐ schichte der Holocaustliteratur“, in: Holý, Jiří, The aspects of genres in the Holocaust literatures in Central Europe, Praha 2015, 13-23, hier: -17f. 15 Isa Vermehren, Reise durch den letzten Akt. Ravensbrück, Buchenwald, Dachau: Eine Frau berichtet, 19.-21. Tausend. Reinbek bei Hamburg 1986 [1946], 9. 16 Richard Schneider, Dachau. Eine Antwort auf Fragen von Jedermann. Mannheim 1946, 3. „Die Darstellung ist häufig voll von sehr drastischen, sehr expressiv geschilderten Szenen, Folter, Gewalt und Mord werden sehr detailliert und Ausführlich [sic! ] dargestellt. Auch die paratextuelle Gestaltung der Werke, ihre Coverbilder und Illustrationen, sind sehr drastisch; sie zeigen Leichenberge, arbeiten dominant mit der graphischen Gestaltung mit Blutflecken oder Totenköpfe [sic! ]. Viele dieser Texte sind ein leiderfüllter Schrei in Richtung der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, die sich jedoch ihnen gegenüber meist ignorant zeigte.“ 14 Viele Autor: innen sprechen das Klima der Leugnung direkt an und benennen es als Beweggrund, ihre Erlebnisse zu verschriftlichen. So etwa Isa Vermehren, ehemalige Insassin des KZ Ravensbrück, wenn sie im Vorwort ihrer 1946 erschienenen Schrift Reise durch den letzten Akt die Motive erläutert, die sie „vor allem zu dieser Arbeit bewogen haben“: „[D]aß es noch immer so erschreckend viele Menschen gibt, die nicht glauben können oder wollen, daß hinter den glorreichen Kulissen der Nazipropaganda wirklich Ströme von unschuldig vergossenem Blut geflossen sind. In dem dringenden Anliegen, diese Ungläubigen endlich zu widerlegen und zu überzeugen, mag auch ein Versuch wie der vorliegende seinen gerechtfertigten Platz finden können.“ 15 Richard Schneider schreibt über Dachau, um damit, wie er im Untertitel mitteilt, Antwort auf Fragen von Jedermann zu geben. Er will jene erreichen, die der Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen „nicht glauben [wollen], weil sie sonst von ihrer politischen und weltanschaulichen Richtung abrücken müßten.“ 16 Noch deutlicher wird der unter dem Pseudonym Udo Dietmar schreibende Walter Paul, der in Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden! (1946) auf die zahlreichen Deutschen hinweist, die während der NS-Herrschaft bestritten hatten und auch nach dessen Ende weiterhin standhaft leugneten, von den Lagern gewusst zu haben: „In Buchenwald verhungerten Tausende und aber Tausende, auch Deutsche, denen das Geschenk eines Stück trockenen Brotes die größte Glückseligkeit bedeutet und manchen zuletzt vielleicht noch das Leben gerettet hätte. Und unten in den 1 Einleitung 17 17 Udo Dietmar, Häftling … X … in der Hölle auf Erden! Mainz 1946 (Bücher aus dem Volk für das Volk), 14f. 18 Guido Kopp, Ich aber habe leben müssen … Die Passion eines Menschen des 20. Jahrhun‐ derts. Salzburg 1946, 369f. 19 Ebd., 371. umliegenden Dörfern sah man gut genährte Menschen eigenen Blutes, die von alldem nichts gewußt haben wollen.“ 17 Der Österreicher Guido Kopp konfrontiert in seiner Lagerschilderung Ich aber habe leben müssen … (1946) die Ignoranz der Zivilbevölkerung, die in den befreiten KZ-Insassen sogar gutbetuchte Nutznießer der alliierten Besatzung entdeckte: „Und zudem fressen wir euch heute den Schweinsbraten weg und unsere Mädchen tragen die seidenen Höschen … Überhaupt, wir KZler, wir saufen und schlemmen, es ist schon nicht mehr schön, und jeder einzelne hat die Taschen voll purem Golde. So ist es, wenn man euch hört, man möchte glauben, man müßte uns beneiden. […] KZler verstehen doch nichts, die kann man nicht brauchen.“ 18 Kopps Zorn über diese Diffamierungen, die ihm als brutale Verharmlosung der erlittenen Gewalt erscheinen mussten, kulminiert in dem gleichzeitig erbitterten wie ohnmächtigen Ruf: „Haltet euere Schnauze[! ]“ 19 Auf der anderen Seite existieren Texte, die der Leugnung begegnen, indem sie sich von der alliierten Berichterstattung abgrenzen und betonen, nicht als Parteigänger der neuen Machthaber zu sprechen und lediglich die „Propaganda“ der offiziellen Informationspolitik zu wiederholen. Dietmar etwa unterstreicht: „Wenn ich heute diese Zeilen schreibe, will ich damit nicht die unzähligen Radioberichte wiederholen, die der Welt die erste Kunde von diesen Grausamkeiten vermittelten. Ich will als einer der überlebenden Zeugen in Wahrheit schildern, was sich in den Konzentrationslagern unter meinen Augen und an mir selbst vollzog. Dieses Buch soll mithelfen, die Menschheit, vor allem unser deutsches Volk, das wahre Gesicht des Nationalsozialismus erkennen zu lassen; ihnen die Augen zu öffnen, vor allem den Menschen, die gegenüber den Presse- und Radioberichten noch leise Zweifel hegen und sie eventuell mehr oder weniger als Propaganda ansehen und immer wieder fragen: ‚Sagen Sie, Sie sind doch selbst im Konzentrationslager gewesen. War denn das wirklich so furchtbar? ‘ Besonders die ewig Gestrigen soll es wachrütteln, die vom Zeitgeschehen wenig berührt sind, die noch glauben, es wäre alles gut geworden, wenn Deutschland, das heißt der Nationalsozialismus, den Krieg gewonnen hätte. Dieses Buch wird all denen die Wahrheit sagen, welche die 18 1 Einleitung 20 Dietmar, Häftling X, 9 f. Feuchert hat darauf hingewiesen, dass einige Autor: innen in der paratextuellen Gestaltung und insbesondere der Wahl der Einbandcover die Bild‐ sprache der Atrocity-Filmen aufgriffen und damit ihre Texte bewusst in Zusammenhang mit den alliierten Medienkampagnen brachten. Sascha Feuchert, „Fundstücke. Darstel‐ lungskonventionen früher Texte deutschsprachiger Holocaust- und Lagerliteratur“, in: Knellessen, Dagi; Possekel, Ralf, Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten, Berlin 2015 (Bildungsarbeit mit Zeugnissen, 1), 143-155, hier: -151-153. 21 Friedrich Schlotterbeck, … wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet. Stuttgart 1945, 3. 22 A.W. Conrady, Amokläufer. Aschaffenburg 1947, 5f. Irrlehren des verbrecherischen Nationalsozialismus noch als unverdauten Kloß im Magen liegen haben.“ 20 Auch der kommunistische Widerstandskämpfer Friedrich Schlotterbeck äußert sich in seiner Broschüre … wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet (1945) nachdrücklich gegenüber dieser Skepsis: Die Schilderung der Leidensge‐ schichte seiner Familie „schreie“ er „jenen in die Ohren, die auch jetzt noch von ‚Greuelpropaganda‘ murmeln und immer noch an die Allmacht der Lüge glauben.“ 21 Dabei zeigen Verteidigungen wie die des unter dem Pseudonym A.W. Conrady veröffentlichenden Conrad Wilhelm Albert Stromenger, dass die Äußerungen der Opfer auch als „antideutsche“ Positionierungen diskreditiert wurden, die im Verdacht von „Feindpropaganda“ und „Nestbeschmutzung“ standen. Derartigen Anwürfen versuchte Conrady in seinem Roman Amokläufer (1947) zuvorzukommen, indem er betonte, sich als Deutscher und Patriot zu äußern: „Nach jedem herben Schicksalsschlage kommen bei uns wie bei anderen Völkern, fast mit Naturnotwendigkeit, Auslassungen zu Worte, die wie Anklagen wirken. Auch das vorliegende Buch wird eine solche Wirkung auslösen … ja, der Verfasser glaubt sogar schon die Kritik sich dahin aussprechen zu hören: Das Werk schwelge in Kraßheiten! […] Aber keine einzige Zeile dieses Buches ist im entferntesten von antideutscher Gehässigkeit diktiert. Vielmehr liebt der Verfasser sein Vaterland so ehrlich über alles, daß aus ihm nichts anderes als vollste Erbitterung über den verbrecherischen Dilettantismus sprechen muß, der das Leid dieser Jahre über uns alle, die wir deutsch empfinden, herbeigeführt hat. … Nur wer sein Volk so liebt, darf auch so schelten. Nehme deshalb niemand an, daß der Verfasser etwa dollarhörig oder anglophil oder sonstwie ‚auslandsbesessen‘ sei, ebenso wie Halb- oder Volljude, um im Nazijargon zu reden.“ 22 Auch der evangelische Pfarrer und Mitglied der Bekennenden Kirche Kurt Walter insistiert, nicht als Beauftragter der Alliierten zu sprechen, und thematisiert 1 Einleitung 19 23 Karl Walter, Gott im Konzentrationslager. Stuttgart-Zuffenhausen 1946, 3. 24 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München 1946, VII. 25 Ebd., VIII, XIV. Der Der SS-Staat basierte immerhin auf dem von den Amerikanern initiierten Buchenwald-Report. Siehe dazu Kap.-2. 26 Ebd., vorderer Umschlag. zu Beginn seines Textes Gott im Konzentrationslager von 1946 sogar - konträr zur Täter-Opfer-Definition der Besatzungsmächte - die zahlreichen deutschen Leidensschicksale, angesichts derer ihm das Schildern seiner Hafterfahrung als geradezu moralisch fragwürdig erscheine: „Wenn ich nach dreijähriger Gefangenschaft im Konzentrationslager Dachau der an mich ergangenen Aufforderung Folge leiste, für eine größere Leserzahl darüber etwas zu schreiben, so sei eins vorausgeschickt: nämlich, daß ich sehr starke Hemmungen habe, davon überhaupt zu reden. […] [D]eshalb, weil ich meine, daß all das Böse und Schwere jener Gefangenschaft nun einmal ein wenig zurückzutreten habe vor dem, was unsere Soldaten im Kriege geleistet und gelitten haben, vor dem, was in den Ostgebieten Deutschlands sich inzwischen abgespielt hat an unvorstellbarem Hunger und grauenvoller Gewalttat, vor den auf den Landstraßen, den Eisenbahnen und Bahnhöfen herumgeisternden Elendsbildern der Ostflüchtlinge und der aus dem Osten heimkehrenden Kriegsgefangenen, vor dem Wissen, daß im Laufe dieses Winters gewiß viele Hunderttausende, vielleicht Millionen deutscher Menschen im Elend umkommen werden, wenn nicht Gott noch ganz bald ein Wunder tut. Wer all das […] förmlich studieren konnte, so wie ich soeben dazu Gelegenheit hatte, dem vergeht sehr gründlich die Lust zu allem anspruchsvollen Gerede über seine Erlebnisse und Leiden im Konzentrationslager.“ 23 Derart ist auch der Vorgriff des Publizisten Eugen Kogons in Der SS-Staat zu verstehen, „[d]as Argument, daß dieses Buch dem Deutschtum schade“, nicht gelten zu lassen, „selbst wenn man es mir, was ich vermute, hundertfach entgegenhalten wird.“ 24 Im Gegenteil versicherte der Autor: „Das Buch ist heute mit keiner deutschen oder ausländischen Propagandastelle, mit keiner Partei, keinem Amt oder Büro und mit keiner Person außer meiner eigenen verknüpft. […] Einseitige propagandistische Auswertung kann ich so wenig verhindern wie gelegentlichen sensationslüsternen Mißbrauch. Beide verabscheue ich - die Sensation beinahe noch mehr als die Propaganda.“ 25 Diese Klarstellung war Kogon derart wichtig, dass sie schon auf dem Umschlag des Buches allen potentiellen Leser: innen zur Kenntnis gebracht werden sollte: „Dieses Buch dient keiner Propaganda und will keine Sensation wecken.“ 26 20 1 Einleitung 27 Ebd., 328, Herv. im Orig. 28 Ebd., IX. Um dies zu untermauern, positioniert er sich zudem kritisch gegenüber den Aufklärungskampagnen der Alliierten: „Die ‚Schock‘-Politik hat nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen die Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bausch und Bogen mitverantwortlich zu sein. Das Ergebnis ist ein Fiasko. Infolgedessen blieb auch die alliierte KL-Propaganda teilweise wirkungslos. Sie sollte, als die Sieger Zahl, Art, Umfang und System der Konzentrationslager in Deutschland selbst erst kennengelernt hatten, der Erhärtung der Schuldthese dienen. Abermals falsch. […] Ein berechtigtes Gefühl von Millionen wehrte sich gegen die Kollektiv-Anklage, die einen egalisierenden Anschein hatte. Es brachte sie in der Selbstverteidigung auf die feinsten Ausflucht-Unterscheidungen […].“ 27 Zweifeln an seiner Glaubwürdigkeit als aufklärende Instanz über die Lager begegnete Kogon auch dadurch, dass er einige der Ressentiments gegenüber Teilen der befreiten KZ-Häftlinge bestätigte und seinen Text abseits jeglicher tendenziösen Berichterstattung als Handbuch bewarb, mit dessen Hilfe sein Publikum die „wirklichen“ Opfer von den „KZ-Profitierern“ unterscheiden könne: „Zehntausende Überlebender, die in den Lagern, unter dem Terror und der Arroganz ihrer Mithäftlingsherren manchmal noch mehr gelitten haben als unter den Gemein‐ heiten der SS, werden mir dankbar dafür sein, daß ich auch diese Seite der Lager auf‐ gehellt, daß ich nicht aus Angst vor gewissen politischen Typen, die heute als radikale Antifaschisten ein großes Wort angeben, ihre Rolle in den Lagern verschwiegen habe. Ich weiß, daß es Kameraden gibt, die beinahe verzweifelten, als sie damals erkennen mußten, wie sehr gewissen SS-Praktiken in den Reihen der Unterdrückten Schule gemacht hatten, erst recht aber, als sie sahen, daß Ungerechtigkeit und Brutalität von einer ahnungslosen, gutgläubigen Umwelt hinterher auch noch mit dem Nimbus des Heroentums bekleidet wurden. Solche KZ-Profitierer werden von gewissen Partien meines Berichtes nicht erbaut sein, denn er bietet die Mittel, falsche Gloriolen zum Erblassen zu bringen: In welchem Lager warst du? In welchem Kommando? In welcher Funktion? Mit welcher Farbe? In welcher Parteizugehörigkeit? Wie lange? , und was dergleichen Fragen mehr sind, die von nun an jeder stellen kann, der dieses Buch gelesen hat und dann über die nationalsozialistischen Konzentrationslager Bescheid weiß.“ 28 1 Einleitung 21 29 Conrad Finkelmeier, Die braune Apokalypse. Erlebnisbericht eines ehemaligen Redakteurs der Arbeiterpresse aus der Zeit der Nazityrannei. Mit Sonetten von Marga Pfeiffer. Weimar 1947, 13. In allen Erfahrungsberichten und autobiographischen Texten über Lager, Haft und Verfolgung schreiben die Autor: innen gegen das Klima der Leugnung an und sahen darin einen entscheidenden Beitrag für die Bewältigung der faschis‐ tischen Vergangenheit in Deutschland. Dass ein fundamentaler Bewusstseins‐ wandel bei der Bevölkerung einzusetzen habe und dass gerade die Opfer des Nationalsozialismus kundig und berechtigt waren, diesen Bewusstseinswandel einzufordern und zu forcieren, bringen die Texte deutlich zum Ausdruck. Aber viele von ihnen gehen noch weiter. Sie reklamieren für sich nicht nur den Opferstatus, sie bekennen sich regelrecht zu ihrem Volkserziehungsauftrag, den sie aus ihrem Bekenntnis zur deutschen Nation ableiten: „Nur wer sein Volk so liebt, darf auch so schelten.“ Die Äußerung Conradys erklärt den Patrio‐ tismus zur Voraussetzung jeglichen Antifaschismus, den man der Bevölkerung abverlangt, wie umgekehrt die deutsche Bevölkerung sich zur Rettung der Nation zu „bewähren“ habe, wie der Redakteur Conrad Finkelmeier in seinem Erlebnisbericht Die braune Apokalypse (1947) betonte: „Heute nun befindet sich das deutsche Volk im Glutofen seiner Bewährung. Und es steht nichts Geringeres auf dem Spiele als der Bestand und die Ehre unseres Volkes und unserer Nation. Das deutsche Volk, das zwölf Jahre die unauslöschliche Schande ertrug, von seinen Unwürdigsten regiert zu werden, hat jetzt unter der Kontrolle der Befreier noch einmal die Chance, durch seinen Haß gegen das Gestern die Schmach und Schande zu tilgen, die es durch Duldung der ungeheuerlichsten Verbrechen auf sich geladen hat.“ 29 Die SPD-Politikerin Jeanette Wolff erklärte hinsichtlich der Wirkungsabsicht von Sadismus oder Wahnsinn (1947? ), der Bearbeitung ihrer KZ-Erlebnisse, dass es die Deutschen „einzuspannen“ gelte für eine umfassende Wandlung der nationalen Zusammenhänge: „Ein neues Deutschland mit Menschen, die geistig und seelisch erneuert werden müssen, ein Deutschland der Demokratie, des Friedens und der Zufriedenheit muß aufgebaut werden. Eine Jugend muß befreit werden aus den Banden Hitlerscher und Goebbelsscher Hypnose, und erzogen werden, abseits von aller Kriegsbereitschaft, zu einer neuen Menschlichkeit im Sinne der Gleichberechtigung aller Menschen, zur Völkerversöhnung und zum Weltfrieden. Eine schwere Aufgabe haben die Erben des Hitler-Himmlerschen Verbrecherregimes übernommen. Ihre Aufgaben sind nur zu 22 1 Einleitung 30 Jeanette Wolff, Sadismus oder Wahnsinn. Erlebnisse in den deutschen Konzentrationsla‐ gern im Osten. Dresden 1947? , 3f. erfüllen, wenn die gesamte deutsche Bevölkerung, jeder nach seinem Können, in den Dienst dieser Aufgaben eingespannt wird.“ 30 Die Auseinandersetzungen in diesen Vorworten beziehen sich in einer neuen Qualität auf den Leugnungsdiskurs: Es stechen Stimmen heraus, die sich den Standpunkt der alliierten Re-education einer notwendigen Wandlung der deut‐ schen Bevölkerung selbst zur Aufgabe machen, für dessen Formulierung und Durchsetzung sie selbst als Opfer der Nationalsozialisten und Teil des künftigen nationalen Zusammenhangs besonders geeignet scheinen. Die vorliegende Arbeit will an einer Auswahl von Texten aus dem Westen Deutschlands, in denen ein solcher Führungsanspruch formuliert ist, zeigen, dass und wie die in den Vorworten so programmatisch vorgebrachte Qualifizie‐ rung für den Aufbau eines neuen nationalen Zusammenhangs geltend gemacht und in die Schilderung der Hafterlebnisse eingeschrieben ist. Als Vertreterin einer auf christlicher Religiosität basierenden Ethik und Sittlichkeit äußerte sich Isa Vermehren in Reise durch den letzten Akt (1946). Als Person der Kirche thematisierte auch der spätere Landesbischof Hanns Lilje seine Gefängnishaft im Gestapo-Gefängnis in Im finstern Tal (1947). Aus dem Bereich der Kultur legte der Bestsellerautor Ernst Wiechert mit Der Totenwald (1946) eine bis heute als mustergültig erachtete literarische Bearbeitung seiner Inhaftierung in KZ Buchenwald vor, während Luise Rinsers Gefängnistagebuch (1946) den Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere in Nachkriegsdeutschland markiert. Auch bezogen sich Personen auf die Haft im Nationalsozialismus, die in ihren Texten sozialdemokratische bis kommunistische Positionen vortragen, wie etwa der Sozialdemokrat Walter Poller in Arztschreiber in Buchenwald (1946) oder Udo Dietmar/ Walter Paul, der in Häftling … X … in der Hölle auf Erden (1946) seine Gefangenschaft in mehreren KZ schilderte. Doch auch Vertreter extrem rechter Anschauungen publizierten, wie der Monarchist Erwein von Aretin mit Wittelsbacher im KZ (1949). Die Korpusauswahl hat zum Ziel, die Band‐ breite der gesellschaftlichen Sphären aufzuzeigen, aus denen sich ein solcher Anspruch formulierte, und zu ermitteln, mit welchen Perspektiven die einzelnen Autor: innen die Gemeinsamkeit einer Formulierung von Zuständigkeiten für den ideellen Wandel der Bevölkerung in ihren Texten konkretisieren und darin eine Person oder eine Gruppe über ihren Status als Opfer und qua aus der Haft geschöpfter Qualitäten als intellektuelle Führungspersönlichkeiten und kultu‐ relle Orientierungsgeber für die deutsche Nachkriegsgesellschaft anzupreisen. 1 Einleitung 23 31 Exemplarisch zu nennen sind Gabriele Knapp, Frauenstimmen. Musikerinnen erinnern an Ravensbrück. Berlin 2003; Harry Oelke, Hanns-Lilje. Ein Lutheraner in der Weimarer Republik und im Kirchenkampf. Stuttgart 1999; Johannes Jürgen Siegmund, Bischof Johannes Lilje, Abt zu Loccum. Eine Biographie. Göttingen 2003; Matthias Wegner, Ein weites Herz. Die zwei Leben der-Isa Vermehren. Berlin 2004. 32 Der Begriff Holocaust bezeichnet die von den Nationalsozialisten durchgeführte syste‐ matische Diskriminierung, Entrechtung, Gettoisierung, Deportation und Ermordung von nach rassischen Kriterien als jüdisch identifizierten Menschen: „The systematic attempt to destroy all European Jewry - an attempt now known as the Holocaust.“ Martin Gilbert, Holocaust. The Jewish Tragedy. London 1987, 18; vgl. Israel Gutman, et al. (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 2. Aufl., 4 Bde. München 1998 [1995], xi. Zwar existierte der Holocaustbegriff bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit, war jedoch noch nicht der diskursbes‐ timmende Terminus für die Auseinandersetzung mit der NS-Gewalt. Siehe dazu wie auch zur Begriffsgeschichte der „Shoah“ etwa Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, 154; Zygmunt Baumann, „Das Jahrhundert der Lager? “, in: Dabag, Mihran; Platt, Kristin, Genozid und Moderne. Band 1. Strukturen kollektiver Gewalt im 20. Jahrhundert, Opladen: Leske + Budrich, 1998, 81-99; Marc Buggeln, Michael Wildt, „Lager im Nationalsozialismus. Gemeinschaft und Zwang“, in: Greiner, Bettina; Kramer, Alan, Welt der Lager. Zur „Erfolgsgeschichte“ einer Institution, Hamburg 2013, 166-202, hier: 166; Jon Petrie, „The Secular Word HOLOCAUST. Scholarly myths, history, and 20th century meanings“, Journal of Genocide Research 2/ 1 (2000), 31-63; Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2016 [2015], 22. Die gebräuchlichen zeitgenössischen Begriffe wie „Nazi-Barbarei“ verorten die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung zwar moralisch eindeutig, fassen aber nur bedingt bis verkürzt Systematik und Ausmaß 1.1 Forschungsüberblick Die ersten Schilderungen nationalsozialistischer Hafterfahrungen waren lange Zeit nicht Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung. Wenn über‐ haupt, so wurden sie, ausgehend von ihrem ostentativen Authentizitätsgebot, als historische Fakten oder Quellentexte zur Annäherung an die historischen Opfer der NS-Gewalt untersucht. So existiert eine biographische Forschung, die die Selbstzeugnisse etwa von Hanns Lilje und Isa Vermehren hinsichtlich ihres Informationsgehalts über die Hintergründe und Stationen der Haftschilde‐ rungen ihrer Autor: innen befragt, zum Teil aber auch den (selbst)stilisierenden Charakter dieser Texte problematisiert. 31 Diese vergleichsweise schwache Repräsentation ist vor allem dadurch be‐ gründet, dass sich die Forschung über Dekaden schwerpunktmäßig mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden auseinan‐ dersetzte und Texte über den Holocaust bzw. die Shoah unter Gesichtspunkten der eliminatorischen Dimension der nationalsozialistischen Gewalt insbeson‐ dere in den Vernichtungslagern untersuchte. 32 Die Forschungsdiskurse zur 24 1 Einleitung der rassisch begründeten Verfolgung und Vernichtung. Holocaust avancierte erst nach Ausstrahlung der gleichnamigen Filmserie von Marvin J. Chomsky im westdeutschen Fernsehen 1979 zum diskursbestimmenden Begriff. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. München 2019, 363-395. Wie prägend die US-amerikanische Produktion war, unterstreichen die Autor: innen von KZ-Texten zum Teil selbst: So fügte Isa Vermehren der Neuauflage ihrer Reise durch den letzten Akt 1979 ein neues Vorwort hinzu, in welchem sie betonte, dass Holocaust eine Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung und Reflexion der Lager darstelle. Vermehren, Reise, 10. 33 Diese Debatten reflektierten insbesondere die Vernichtungslager als ultimativen „Zivi‐ lisationsbruch“, der einen rationellen Zugriff erschwere oder gar verunmögliche. Siehe dazu etwa Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust. Berkeley, Los Angeles 2000, 1-6; vgl. ders. (Hrsg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/ M., 1988; Thomas Taterka, Dante Deutsch. Studien zur Lager‐ literatur. Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen, 153), 15-19; James E. Young, „Introduction“, in: -Riggs, Thomas, Reference Guide to Holocaust Literature, Farmington Hills 2002, xxxi-xxxv. So beschreibt Friedländer den Genozid als „eine fortwährende Quelle der Fassungslosigkeit - einer Fassungslosigkeit, die bei der ersten Konfrontation mit der Shoah aus der Tiefe des eigenen unmittelbaren Weltverständnisses aufsteigt und die Wahrnehmung dessen prägt, was ‚normal‘ ist und was ‚unglaublich‘ bleibt: eine Reaktion, die erfolgt, bevor das Wissen herbeieilt, um sie zu unterdrücken.“ Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen 2010 ( Jena-Center Geschichte des 20. Jahrhunderts: Vorträge und Kolloquien, 2), 25 f. Weiter konstatiert Agamben: „Die Aporie von Auschwitz ist die Aporie historischer Erkenntnis selbst: die Nicht-Koinzidenz von Fakten und Wahrheit, von Konstatieren und Verstehen.“ Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), 5. Aufl. Frankfurt/ M., 2013 [2003], 8. Das KZ Auschwitz stand dabei als „Chiffre Auschwitz“ lange Zeit für die grundsätzliche Frage, „ob ein Schreiben und darüber hinaus eine Poetik nach dem Holocaust überhaupt möglich ist.“ Veronika Zangl, Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen - Tatsachen - Geschichten. München 2009, 11. Diese Skepsis reichte bis zum Tabu: „Auschwitz ist nicht darstellbar.“ Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. München 1990, 341. 34 Siehe etwa Agamben, Auschwitz, 8; Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewäl‐ tigungsversuche eines Überwältigten. München 1988, 15-36. Diese Fragen wurden in der Regel präskriptiv entlang einer Reihe von Ge- und Verboten verhandelt. So wiesen etwa Holocaustliteratur haben sich verstärkt mit Fragestellungen zum singulären Charakter der NS-Gewalt auseinandergesetzt, der die Möglichkeiten zu Dar‐ stellung und Vermittlung a priori in Frage stelle. 33 Es schlossen sich Debatten an über die vermeintliche Unausdrückbarkeit sowie mögliche Poetologien der in den Lagern verübten Verbrechen. 34 Insbesondere wurden psychologische Zugänge nutzbar gemacht, die diese Verschriftlichungen im Sinne von Verar‐ beitungs- und Bewältigungsstrategien des Erlittenen verstanden und als Modi 1.1 Forschungsüberblick 25 der deutsch-israelische Historiker Dan Diner wie der rumänisch-US-amerikanische Publizist und NS-Opfer Elie Wiesel die Fiktionalisierung des Holocaust zurück. Dan Diner, „Gestaute Zeit. Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur“, in: Weigel, Sigrid; Erdle, Birgit, Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996 (Zürcher Hochschulforum, 23), 3-15; Elie Wiesel, „The Holocaust as Literary Inspiration“, in: Wiesel, Elie, et al., Dimensions of the Holocaust, Evanston 1990, 3-23. Dagegen äußerte der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, ebenfalls KZ-Opfer, die Lager seien im Gegenteil nur in der literarischen Verarbeitung zu ver‐ mitteln: „Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht - und sogar am wenigsten - wenn wir es erleben.)“ Imre Kertész, „Wem gehört Auschwitz? “, in: Kertész, Imre, Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Essays, Reinbek bei Hamburg 1999, 145-153, hier: 146. Laut Fischer und Gronich versteht Kértesz diese Literatur als „Möglichkeitsraum, als Ort der Erinnerung“, die sich insbesondere „durch ihre Fähigkeit, zu sich selbst auf Distanz zu gehen und die eigene Darstellungsweise zu befragen“ auszeichne. Saskia Fischer, Mareike Gronich, „Was ist Lagerliteratur? Schreibweisen, Zeugnisse, Didaktik“, in: Fischer, Saskia; Gronich, Mareike; Bednarska-Kociołek, Johanna, Lagerliteratur. Schreibweisen - Zeugnisse - Didaktik, Berlin 2021 (Łódźer Arbeiten zur Literatur und Kulturwissenschaft, 15), 9-38, hier: 18. Zum Verhältnis zwischen historischer Faktentreue und literarischer Fiktionalisierung siehe auch Andrea Reiter, „Auf dass sie entsteigen der Dunkelheit“. Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien 1995, 11-15. 35 Siehe etwa Claude Dario Conter (Hrsg.), Literatur und Holocaust. Bamberg 1996 (Fußnoten zur neueren deutschen Literatur, 38); Eke, Steinecke, Shoah; Manuel Köppen, Klaus Rüdiger Scherpe (Hrsg.), Bilder des Holocaust. Literatur - Film - Bildende Kunst. Köln 1997 (Literatur-Kultur-Geschlecht, Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Kleine Reihe, 10); Taterka, Dante. Als literaturwissenschaftliche Forschung im engeren Sinne fokussiert sie auf den Umgang des Subjekts mit der Leiderfahrung in und durch die literarische Bearbeitung. In ihrer grundlegenden Studie mit dem program‐ matischen Untertitel Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung untersucht Reiter Lagertexte mit dem Anspruch, den „Schritt von der Erinnerung zur Darstellung in den Vordergrund“ zu rücken. Reiter versteht die literaturwissenschaftliche Analyse dieser Texte als Möglichkeit, sich über die Untersuchung der psychologischen Prozesse den Erfahrungen der historischen Opfer anzunähern. „Er [der Literaturwissenschaftler] analysiert die sprachlichen Strukturen der KZ-Berichte, um zu erhellen, ob und der Versprachlichung von Leiden und Opferexistenz untersuchten. 35 Der Per‐ spektivierung der Lager unter diesen Fragestellungen entspricht das in diesen Untersuchungen analysierte Korpus. Dieser umfasst in der Regel chronologisch später erschienene Texte, die sich der Höhenkammliteratur zurechnen lassen 26 1 Einleitung wie Sprache Überleben und Bewältigen des Konzentrationslagers im konkreten Fall gefördert hat; mit anderen Worten, auf welche Weise die ehemaligen Häftlinge im Text ihren Erlebnissen einen bestimmten Sinn zuordnen.“ Reiter, „Auf dass“, 22. 36 Wie Köppen und Scherpe konstatieren: „Wird der Holocaust als ‚Zivilisationsbruch‘ verstanden, dann können die Formen seiner Vergegenwärtigung nicht mehr einer kon‐ ventionellen Repräsentationsästhetik folgen.“ Manuel Köppen, Klaus Rüdiger Scherpe, „Zur Einführung. Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust“, in: Köppen, Manuel; Scherpe, Klaus Rüdiger, Bilder des Holocaust. Literatur - Film - Bildende Kunst, Köln 1997 (Literatur-Kultur-Geschlecht, Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Kleine Reihe, 10), 1-12, hier: 8. Dem folgen u. a. auch die Untersuchungen von Stephan Braese, et-al. (Hrsg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt/ M., 1998 (Wis‐ senschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, 6); Sem Dresden, Holocaust und Literatur. Essay. Frankfurt/ M., 1991, insb. 33-85; Michael Hofmann, Literaturgeschichte der Shoah. Münster 2003 (Literaturwissenschaft - Theorie und Beispiele, 4); Alvin Rosenfeld, Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust. Göttingen 2000; Taterka, Dante. 37 Siehe dazu die programmatischen Sammelbände der Projektgruppe für die Vergessenen Opfer des NS-Regimes (Hrsg.), Verachtet - verfolgt - vernichtet. Zu den „vergessenen“ Opfern des NS-Regimes. Hamburg 1986 sowie von Rolf Steininger (Hrsg.), Vergessene Opfer des Nationalsozialismus. Innsbruck 2000. 38 Henning Borggräfe, Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um „vergessene Opfer“ zur Selbstaussöhnung der Deutschen. Göttingen 2014 (Beiträge zur Geschichte des 20.-Jahr‐ hunderts, 16); Volkhard Knigge (Hrsg.), Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Begleitband zur Internationalen Wanderausstellung Zwangsarbeit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Weimar 2010. 39 Boris Böhm (Hrsg.), Vergessene Opfer der NS-„Euthanasie“. Die Ermordung schlesischer Anstaltspatienten 1940-1945. Leipzig 2018 (Zeitfenster Beiträge der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Zeitgeschichte, 11); Pablo Arias Meneses, Vergessene Opfer. NS-Eu‐ thanasie in Hagen. Hagen 2019 (Hagener Geschichtshefte, 8); Rainer Stöcker, Vergessene NS-Opfer. Zwangssterilisierungen in Hagen. Hagen 2019 (Hagener Geschichtshefte, 9). 40 Herbert Diercks (Hrsg.), Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Bei‐ träge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland. Bremen 2012 (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutsch‐ land, 14); Thomas Rahe, Jens-Christian Wagner, Verfolgt als „Zigeuner“. Sinti und Roma im KZ Bergen-Belsen. Celle 2018; Romani Rose (Hrsg.), Der nationalsozialistische und häufig nachdrücklich die Modalitäten einer geeigneten oder angemessenen Darstellung des Erlittenen problematisieren. 36 Erst im Zuge einer Erweiterung des Holocaustbegriffs fand eine Auseinan‐ dersetzung auch mit Veröffentlichungen statt, die in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende erschienen waren. Dieser Begriffserweiterung lag der Versuch einer Ausdifferenzierung der nationalsozialistischen Verfolgungen zugrunde. Seitens der historischen Forschung haben Untersuchungen den Fokus auf eine Reihe nichtjüdischer, als zuvor „vergessen“ bezeichnete 37 Opfergruppen gelegt. Ergebnis dieser Forschung sind dezidierte Auseinandersetzungen etwa mit den Zwangsarbeitern, 38 Euthanasie-Opfern 39 sowie den als Sinti und Roma, 40 1.1 Forschungsüberblick 27 Völkermord an den Sinti und Roma. Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz. Heidelberg 2003. 41 Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995; ders., „Schwarze und grüne Winkel. Die nationalsozialistische Verfolgung von ‚Asozialen‘ und ‚Kriminellen‘ - ein Überblick über die Forschungsgeschichte“, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009 (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutsch‐ land, 11), 16-30. 42 Imanuel Baumann, „Winkel-Züge. ‚Kriminelle‘ KZ-Häftlinge in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“, in: Frei, Norbert; Brunner, José; Goschler, Constantin, Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Bonn 2010, 290-322; Dagmar Lieske, „‚Berufsverbrecher‘. Zur wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit einer ‚unbequemen‘ Opfergruppe“, in: Bohra, Stephanie, Institutionen des nationalsozialistischen Verfolgungsterrors in Brandenburg. Opfer - Täter - Folgen, Berlin 2018, 69-86; dies., Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen. Berlin 2016 (Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 16). 43 Justyna Haas, Erinnerungsliteratur von Jehovas Zeugen als NS-Opfern. Frankfurt/ M., 2013 (Warschauer Studien zur Germanistik und zur Angewandten Linguistik, 14); Hans Hesse (Hrsg.), „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“. Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Bremen 1998; Erhard Klein, Jehovas Zeugen im KZ Dachau. Geschichtliche Hintergründe und Erlebnisberichte. Bielefeld 2001. 44 Joachim Müller, Andreas Sternweiler (Hrsg.), Homosexuelle Männer im KZ Sachsen‐ hausen. Hamburg 2015; Angelika Niere, Homosexualität in der Holocaustliteratur. Frankfurt/ M., 2021 (Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literatur‐ wissenschaft, 37). 45 Siehe Sofsky, Ordnung. Ausgehend von Maja Suderlands Monographie, welche die Lager als „Extremfall des Sozialen“ beschreibt, untersucht eine alltagsgeschichtlich orientierte, soziologische Forschung die Häftlingsgemeinschaften als Lager„gesell‐ schaften“ sowie die Lager als partikulares Feld sozialer und kultureller Praxen und Akteure. Maja Suderland, Ein Extremfall des Sozialen. Die Häftlingsgesellschaft in den na‐ tionalsozialistischen Konzentrationslagern. Frankfurt/ M., 2009. Als aktuelle Ergebnisse dieses Forschungsfeldes seien angeführt: Anna Hájková, The Last Ghetto. An Everyday History of Theresienstadt. New York 2020; Andreas Kranebitter, Zahlen als Zeugen. „Asoziale“ 41 , „Kriminelle“ bzw. Berufsverbrecher 42 , Zeugen Jehovas 43 oder Ho‐ mosexuelle Inhaftierten. 44 Ausgehend von dem Befund, dass es sich weder bei den Lagergemeinschaften noch den von den Nationalsozialisten exekutierten Häftlingssortierungen um homogene Gruppierungen gehandelt hatte, haben neuere Strömungen der Lagerforschung diese vom Wissenschaftsfeld der So‐ ziologie in den Blick genommen. 45 Derartige Öffnungsversuche gab es auch in Bezug auf die Literatur über die NS-Verfolgungen. Die US-amerikanische Germanistin und Historikerin Cer‐ nyak-Spatz hat in den 1980er Jahren eine Erweiterung des Holocaustbegriffs angestoßen, um Texte nichtjüdischer Opfergruppen sowie biographisch nicht Be‐ 28 1 Einleitung Soziologische Analysen zur Häftlingsgesellschaft des KZ Mauthausen. Wien 2014 (Maut‐ hausen-Studien, 9); Elmer Luchterhand, Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager, hrsg. Andreas Kranebitter, Christian Fleck. Wien 2018 (Mauthausen-Studien, 11); vgl. auch Michael Becker, Dennis Bock und Elissa Mailänder, „Konzentrationslager als Gesellschaften. Einleitende Überlegungen und interdisziplinäre Perspektiven“, in: dies. (Hrsg.), Konzentrationslager als Gesellschaften. Interdisziplinäre Perspektiven. Göttingen 2023 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 38), 7-26; Andreas Kranebitter, „Die Vermessung der Konzentrationslager. Soziologiegeschichtliche Be‐ trachtungen zum sogenannten Buchenwaldreport“, in: Fritz, Regina; Kovács, Éva; Rásky, Béla, Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden. (= Before the Holocaust had its name. Early confronta‐ tions of the Nazi mass murder of the Jews), Wien 2016 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI),-2), 63-86. 46 Susan E. Cernyak-Spatz, German Holocaust Literature, Revised edition. New York 1989 (American University Studies, Series I: Germanic Languages and Literature, 29), 9; vgl. Gutman, et-al., Enzyklopädie, xi. 47 Dresden, Holocaust; Rosenfeld, Mund. 48 James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt/ M., 1997. 49 Feuchert konstatiert, dass die weite Setzung des Holocaustbegriffs zuerst 1999 im Zuge der Debatte um den Bau des Holocaustmahnmals in Berlin und insbesondere des Kommentars von Jürgen Habermas in der Zeit virulent wurde. Sascha Feuchert, „Einleitung. Holocaust-Literatur“, in: Feuchert, Sascha, Arbeitstexte für den Unterricht. Holocaust-Literatur Auschwitz, Stuttgart 2000, 5-29, hier: 14; vgl. Jürgen Habermas, „Der Zeigefinger. Die Deutschen und ihr Denkmal“, Die Zeit (31.3.1999). 50 Ergebnis dieser Setzung war eine erste Bestandsaufnahme in Form einer digitalen Sammlung, die bis 1949 erschienene Texte als Frühe Holocaustliteratur versammelt. troffener ebenfalls einzuschließen. Dazu heißt es im Vorwort ihrer Studie German Holocaust Literature: „Therefore the literature dealing with the concentration camps, German as well as non-German, has become known under the specific sub-heading: Holocaust literature.“ 46 Weiter haben Rosenfeld und Dresden in ihren Arbeiten der 1980er und 90er Jahre wichtige Impulse gesetzt hinsichtlich der weiteren Öffnung des Holocaustbegriffs hin zum Verständnis als internatio‐ nale Literatur, welche auch die Texte biographisch nicht Betroffener sowie der sogenannten Kinder- und Enkelgeneration einschließt. 47 Kam dabei in der Regel ein enger Literaturbegriff zur Anwendung, erweiterten Rosenfeld und, an diesen anschließend, insbesondere Young diesen dahingehend, auch nicht publizierte Texte, u.-a. Tagebücher, Briefe und Notizen, zu verhandeln. 48 In der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung kommt zumeist ein weiter Holocaustbegriff zur Anwendung, prominent vertreten u. a. von der „Arbeitsstelle Holocaustliteratur“ an der JLU Gießen.  49 Dieser tritt an, neben den jüdischen Opfern auch alle anderen Opfergruppen des Nationalsozialismus zu umfassen. 50 Zugrunde liegt diesem Verständnis von Holocaustliteratur ein 1.1 Forschungsüberblick 29 Universitätsbibliothek Gießen, Digitale Giessener Sammlungen/ Frühe Holocaustliteratur, Internet: -https: / / digisam.ub.uni-giessen.de/ ubg-ihd-fhl, zuletzt geprüft am 17.5.2022. 51 Arbeitsstelle Holocaustliteratur, „Holocaust- und Lagerliteratur. Zur Definition des Ge‐ genstandes“, Internet: https: / / www.holocaustliteratur.de/ deutsch/ Holocaustliteratur, zuletzt geprüft am: 5.11.2021. Zur Begründung dieser Setzung schreibt Sascha Feuchert, Leiter der „Arbeitsstelle Holocaustliteratur“: „Dieser weitere Gebrauch der Metapher [Holocaust] zeugt nicht von einer Indifferenz den Fakten gegenüber, geschweige denn von einer bewusst gegen die jüdische Opfergruppe gerichteten Verallgemeinerung der Vernichtung, sondern vielmehr von einer größeren Sensibilität gegenüber allen Leidtragenden des nationalsozialistischen Vernichtungswahns. Er entspringt offenbar auch dem Bedürfnis, keine Hierarchisierung der Opfergruppen vorzunehmen, die die pathologischen Kriterien der Nationalsozialisten übernehmen müsste.“ Feuchert, „Ein‐ leitung“, 14. Diese Setzung kann mithin als Versuch angesehen werden, die zuweilen missverständliche bis widersprüchliche Holocaustterminologie zu vereinheitlichen. Dazu führt Markus Roth, langjähriger Geschäftsführer der „Arbeitsstelle“, in einem Artikel zur „Gattung Holocaustliteratur“ an: „Holocaustliteratur als Literatur über den Holocaust reicht den meisten Autorinnen und Autoren als meist unausgesprochene ‚Definition‘ aus. Daher steht man vor dem Problem, dass alle einen Begriff gebrauchen, der doch recht Unterschiedliches meinen kann, ohne dass ersichtlich ist, was genau der oder die einzelne denn nun jeweils darunter versteht. Selbst dort, wo man eigentlich Antworten auf diese Fragen erwarten würde, in Enzyklopädien der Holocaustliteratur, weichen die Herausgeber der Problematik aus und versuchen sich gar nicht erst an einer klaren Definition desjenigen Begriffs, der immerhin ihrem Nachschlagewerk zu‐ grundeliegt“. Roth, „Gattung“, 13. Roth spezifiziert im weiteren Verlauf einige Lesarten des Begriffs: „1. Holocaust als der systematische Massenmord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden. Chronologisch würde dies im engeren Sinne die Jahre vom Sommer 1941 bis zum Kriegsende umfassen. Allerdings ergäbe sich unter anderem das Problem, wie die Gettos der Jahre 1939 bis 1941 einzuordnen wären. 2. Holocaust als die Verfolgung und Ermordung der Juden im NS-Herrschaftsbereich, also alle schon im Januar 1933 einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen wie Straßenterror, der organisierte Boykott im April 1933 und vieles mehr. Dieses Begriffsverständnis umfasst demnach also auch die Vorgeschichte des systematischen Massenmords. 3. Holocaust als die Gesamtheit der nationalsozialistischen ‚Rassen‘- und Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten, also beispielsweise auch die Verfolgung und Ausgrenzung von Sinti und Roma ab 1933, die Verfolgung politischer Gegner, deren Leiden in den weiter Literaturbegriff, welcher sämtliche textlichen Auseinandersetzungen mit Verfolgung und Lagern durch die Nationalsozialisten einschließt. Diese weite Setzung geht davon aus, dass sich diese Literatur weniger hinsichtlich der Zugehörigkeit ihrer Autor: innen zu einer bestimmten Opfergruppe denn als Gattung nach spezifischen poetologischen Gesichtspunkten beschreiben lasse. 51 Ausgehend davon haben Untersuchungen jüngeren Datums wiederholt das Spannungsverhältnis zwischen historischem Fakt und subjektiver Perspektive, die durch die Extremsituation der Haft und die Begrenztheit ihres Einblicks in die Zusammenhänge des Haftsystems geprägt ist, problematisiert. Dieser Zugang nutzt die Instrumentarien sowohl von Geschichtswie Literaturwissen‐ 30 1 Einleitung Konzentrationslagern, die Verfolgung von Homosexuellen, die Ermordung Behinderter oder die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener.“ Ebd.,-14f. 52 In jüngerer Zeit wendet sich diese Forschung unter Verweis auf das Versterben der Zeit‐ zeug: innen verstärkt den Texterzeugnissen aus und über die Lager zu. Denn, wie Hahn und Bannasch feststellen: „Durch das Sterben der letzten Überlebenden der Lager, aber auch der Täter und Zuschauer vollzieht sich allmählich eine Zäsur im Erinnerungsdis‐ kurs, die nicht mehr zu leugnen ist.“ Hans-Joachim Hahn, Bettina Bannasch, „Einleitung. Multimediale und multidirektionale Erinnerung an den Holocaust“, in: dies., Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust, Göttingen 2018 (Poetik, Exegese und Narrative, 10), 9-25, hier: 9. Texte über die Verfolgung übernähmen somit die Aufgabe von Vermittlungsinstanzen, welche die Erinnerung sowohl im Sinne der Wiedergabe der historischen Fakten wie auch der individuellen Reaktionen auf diese maßgeblich bestimmten. Ausgehend davon haben sich Studien zudem mit der Frage nach einer Didaktik der KZ und insbesondere des Holocaust auseinandergesetzt. Insbesondere die „Arbeitsstelle Holocaust“ an der Justus-Liebig-Universität zu Gießen publiziert seit einigen Jahren zum Einsatz literarischer Texte im Schulunterricht. Sascha Feuchert (Hrsg.), Arbeitstexte für den Unterricht. Holocaust-Literatur Auschwitz. Stuttgart 2000; ders., „Faction oder Fiction? Grundsätzliche Überlegungen zum Um‐ gang mit Texten der Holocaustliteratur im Deutschunterricht“, in: Birkmeyer, Jens, Holocaust-Literatur und Deutschunterricht. Perspektiven schulischer Erinnerungsarbeit, Baltmannsweiler 2008, 129-143; ders., „Fiktionale Holocaustliteratur als Chance für den Geschichtsunterricht. Grundsätzliche Überlegungen, die mögliche Rolle von Le‐ setagebüchern und ein aktuelles Beispiel“, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 8 (2015), 436-449. Als jüngst veröffentlichte Studie sei auch der Sammelband von Saskia Fischer, Mareike Gronich, Johanna Bednarska-Kociołek (Hrsg.), Lagerliteratur. Schreibweisen - Zeugnisse - Didaktik. Berlin 2021 (Łódźer Arbeiten zur Literatur und Kulturwissenschaft, 15) erwähnt. 53 Mona Körte, „Zeugnisliteratur. Autobiographische Berichte aus den Konzentrations‐ lagern“, in: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara, Der Ort des Terrors. Geschichte der natio‐ nalsozialistischen Konzentrationslager. Band 1: Die Organisation des Terrors, München 2005, 329-344, hier: 339. Zu Untersuchungen des „Zeugnisses“ nationalsozialistischer Gewalt siehe weiterhin Dagi Knellessen, Ralf Possekel (Hrsg.), Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten. Berlin 2015 (Bildungsarbeit mit Zeugnissen, 1). Darin insbesondere die Beiträge von Sascha Feuchert, „Fundstücke. Darstellungskonventionen früher Texte deutschsprachiger Holocaust- und Lagerlite‐ schaften und verhandelt die literarischen Verarbeitungen als „Zeugnisse“ der NS-Gewalt, die als historische Artefakte ihrerseits konstituierende Teile der Er‐ innerung an den Nationalsozialismus würden. 52 Als „Teil moderner Geschichts‐ schreibung“, so Körte, stehe diese „Zeugnisliteratur“ „in einem Spannungsver‐ hältnis zu den großen Erzählungen der Historiographie.“ 53 Ausgehend von dem Befund, dass die literarischen Verarbeitungen von NS-Gewalterfahrung bis heute zentrale Bausteine für die Auseinandersetzung, Erinnerung und den heutigen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit seien, widmet sich dieser Forschungsbereich der Frage, wie die Texte die kollektive Erinnerung an die NS-Gewalt beeinflussten und dies im zeitgenössischen Diskurs weiterhin 1.1 Forschungsüberblick 31 ratur“, 143-155 und Katharina Stengel, „NS-Verfolgte als Prozesszeugen und Akteure“, 254-264. Weiter die Beiträge von Mona Körte, „Literarische Zeugenschaft der Shoah. Frühe Prosa über den Genozid“, in: Bannasch, Bettina; Hahn, Hans-Joachim, Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust, Göttingen 2018 (Poetik, Exegese und Narrative, 10), 29-49 und Andree Michaelis, „Die Autorität und Authen‐ tizität der Zeugnisse von Überlebenden der Shoah. Ein Beitrag zur Diskursgeschichte der Figur des Zeugen“, in: Schmidt, Sibylle; Krämer, Sybille; Voges, Ramon, Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2011, 265-284. 54 Siehe etwa Janina Bach, Erinnerungsspuren an den Holocaust in der deutschen Nach‐ kriegsliteratur. Wrocław, Dresden 2007 (Beihefte zum Orbis linguarum, 59); Bern‐ hard Moltmann, et al. (Hrsg.), Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutsch‐ land-West und Deutschland-Ost. Frankfurt/ M., 1993 (Schriftenreihe der Arbeitsstelle zur Vorbereitung des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust (Fritz-Bauer-Institut), 4; Arnoldshainer Texte, 79); Peter Reichel, „Auschwitz“, in: Fran‐ çois, Étienne; Schulze, Hagen, Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, Bonn 2005, 301-331. 55 Peitsch, Gedächtnis, insb. 9-30, 132. 56 Chunguang Fang, Das Täterbild in der Überlebenden-Literatur. Ein Vergleich der Täter‐ bilder in der frühen und späten Lagerliteratur von Buchenwald und Dachau. Frankfurt/ M., 2017 (Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, 34), 17f. tun. 54 Als solche sind auch die unmittelbar nach 1945 erschienenen Texte wieder‐ holt unter Fragestellungen des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungs‐ kultur untersucht worden: Peitsch etwa problematisiert in seiner Studie zur Autobiographik über den Nationalsozialismus nach 1945 in diesen Texten ent‐ worfene Muster der Rechtfertigung und Selbststilisierung. Seine Untersuchung widmet sich der Frage, mit welchen literarischen Strategien diese Selbstzeug‐ nisse sich in den zeitgenössischen Erinnerungsdiskurs über die NS-Herrschaft einschrieben, inwiefern diese also aus den Verhältnissen der Nachkriegszeit heraus als „kollektive“ Perspektivierungen des Nationalsozialismus einen Bei‐ trag zum „Gedächtnis der Nation“ leisteten. 55 Dazu untersucht Peitsch u. a. Hanns Liljes Im finstern Tal, Ernst Wiecherts Der Totenwald oder Luise Rinsers Gefängnistagebuch. Die kollektive Erinnerung wurde zudem als Wandlungen unterworfene Bezugsgröße in den Blick genommen. So problematisiert Fang in ihrer Untersuchung der Täterbilder in der „Überlebendenliteratur“ den Einfluss zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Erleben und literarischer Fixierung auf Konzentrationslagertexte sowie die Wechselwirkungen von individuellem und kollektivem Erinnern: „Die Erinnerungen der Autoren befinden sich demnach in einem kommunikativen Prozess und werden ständig auch von den Erinnerungen der Zeitgenossen und deren (visueller) Repräsentanz, wie z. B. in Filmen und der Literatur, beeinflusst. In diesem Prozess entwickelt sich das Gedächtnis unbewusst in Richtung der Kanonisierung.“ 56 32 1 Einleitung 57 Barboric, Holocaust. 58 Arkadiusz Morawiec, „Camp Literature. Introduction“, Folia Litteraria Polonica. The Literature in/ after Concentration and Death Camps 8/ 46 (2017), 5-21; Fischer, Gronich, Bednarska-Kociołek, „Lagerliteratur? “. Eine ähnliche Fragestellung wie Fang verfolgt auch die Untersuchung von Barboric, die Udo Dietmars Haftschilderung mit der von Elie Wiesel (Nacht, 1958, dt. 1962) vergleicht. 57 All diese Forschungsansätze versuchen, die frühen Texte zur nationalsozialistischen Hafterfahrung in einen erweiterten Holocaust‐ begriff einzuordnen, wo sie als Vorstufen bzw. Vergleichspunkte innerhalb eines größeren literarischen Zusammenhangs untersucht werden. Ansätze aus jüngster Zeit wiederum versuchen, den seit Längerem parallel genutzten Begriff „Lagerliteratur“ auch theoretisch und in Abgrenzung von dem der Holocaustliteratur zu etablieren. 58 Dieses Forschungsfeld problemati‐ siert das Lager als literarischen Stoff innerhalb eines Kontextes historisch gewachsener Darstellungskonventionen und widmet sich insbesondere den Verbindungslinien der Literatur zu den nationalsozialistischen KZ zu anderen Formen der Lager- und Gefangenenliteratur. Dabei greift es Traditionslinien der Gefängnisliteratur von vor 1933 auf, sucht aber auch nach Verknüpfungen etwa zur Lagerliteratur über den sowjetischen Gulag. Die äußerst zahlreichen Untersuchungen und Forschungsansätze zu „Holo‐ caust-“, „Zeugnis-“, „Überlebenden-“, „Verfolgten-“ oder „Lagerliteratur“ haben die Texte zu den nationalsozialistischen Verfolgungen unter verschiedenen Gesichtspunkten der Vergangenheitsbewältigung, der Rekapitulation und Deu‐ tung des Nationalsozialismus sowie der Aufarbeitung und der Würdigung der Opfer untersucht. Dabei erstellten die unterschiedlichen Forschungsschwer‐ punkte je nach Opfergruppen, Art der Verfolgungen, Textsorten, Grad der Fiktionalisierung, Zeitpunkt und Region der Publikation sowie Sprache sich zwar überschneidende, doch zum Teil deutlich voneinander verschiedene Li‐ teraturkorpora. Allen diesen Forschungsströmungen und Terminologien ist jedoch gemein, dass sie die unmittelbar nach 1945 erschienenen Texte im Spannungsfeld von historischem Faktum und fiktionaler Bearbeitung problema‐ tisieren und dabei einer Fragestellung der Vergegenwärtigung des Vergangenen, der Aufarbeitung der Hafterfahrung und des Nationalsozialismus oder der An‐ näherung an die Opfer, deren Zeugnissen und Traumata nachgehen. Leerstelle dieser Forschungsbereiche sind indessen die Perspektiven, die diese Literatur in der Bewältigung der Hafterfahrung nach vorne entwirft. Worin dieser Antrag an die postfaschistischen Zusammenhänge besteht und wie die Texte diesen plausibilisieren, nimmt die vorliegende Untersuchung sich zu beantworten vor. 1.1 Forschungsüberblick 33 59 Anika Binsch, „Vom Manuskript zum Leser. Der Produktionsbzw. Publikationsprozess früher deutschsprachiger Holocaust- und Lagerliteratur im amerikanisch besetzten Teil Deutschlands 1945 bis 1949“, in: Fritz, Regina; Kovács, Éva; Rásky, Béla, Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden. (= Before the Holocaust had its name. Early confrontations of the Nazi mass murder of the Jews), Wien 2016 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI), 2), 355-372; Anika Binsch, Charlotte Kitzinger, „Entlastungssehnsucht und taube Ohren. Frühe Holocaust- und Lagerliteratur und ihre Wirkung auf das deutsche Lesepublikum in den 1940er und 1950er Jahren am Beispiel von Else Behrend-Rosenfeld Ich stand nicht allein“, in: Häntzschel, Günter; Hanuschek, Sven; Leuschner, Ulrike, Die große Schuld, München 2015 (Treibhaus, 11), 151-175. Die beiden Artikel stellen erste Forschungsergebnisse des Dissertationsprojekts von Anika Binsch dar, welches unter dem Titel „‚Taube Ohren und harte Herzen‘. Produktions- und Rezeptionsproblematik der Lagerliteratur deutschsprachiger Autoren unter west‐ alliierter Besatzung 1945 bis 1949“ an der JLU-Gießen entstand. 60 Markus Roth, Sascha Feuchert, „Einleitung“, in: Roth, Markus; Feuchert, Sascha, Ho‐ locaustZeugnisLiteratur. 20 Werke wieder gelesen, Göttingen 2018, 7-29, hier: 11. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Peitsch, der sich im Kapitel „Der Erlebnisbericht als Rede: Umgang mit den Abwehrmechanismen“ dezidiert mit den Adressierungen antizipierter Abwehrhaltungen auseinandersetzt - hier allerdings in Bezug auf abge‐ druckte Reden und Ansprachen ehemaliger KZ-Insassen. Darüber hinaus weist Peitsch auf einige Beispiele für einen politischen Partizipationsanspruch ehemaliger Häftlinge hin, welche er indessen vor allem narrative Diskrepanzen verhandelt, die abrupt auf‐ Aufgrund dessen sind für dieses Forschungsprojekt einige Ansätze aus dem Umfeld der „Arbeitsstelle Holocaustliteratur“ interessant, die sich dem zeitgenössischen Kontext dieser Literatur sowie den Diskursen, innerhalb derer sie entstand und rezipiert wurde, zuwenden und damit ein bislang kaum untersuchtes Forschungsfeld eröffnen. So lieferten Binsch und Kitzinger erste Hinweise auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen dieser Texte insbe‐ sondere mit Blick auf den Einfluss der Zensur- und Lizenzierungspolitik der alliierten Besatzungsmächte. 59 Eine umfassende Untersuchung dieses Zugangs ist jedoch weiterhin Desiderat der Forschung. Ebenfalls aus dem Umfeld der Gießener Arbeitsstelle werfen Roth und Feuchert ein, dass insbesondere die un‐ mittelbar nach Kriegsende publizierten KZ-Texte mit dem Anspruch aufträten, sich auch politisch an dem noch offenen Diskurs zur Neugestaltung Nach‐ kriegsdeutschlands zu beteiligen. In der Einleitung zum jüngst erschienenen Sammelband HolocaustZeugnisLiteratur heißt es hinsichtlich der zwischen 1945 und 1949 publizierten Werke: „Expressive Gewaltdarstellungen und drastische Schilderungen des erlittenen Leids gehen oft einher mit einem (daraus abgeleiteten) politischen Gestaltungsanspruch für die noch offene Entwicklung in Nachkriegsdeutschland.“ 60 34 1 Einleitung tauchend, häufig in Form von Schlussappellen, konträr zur übrigen Darstellungsweise stehen. Peitsch, Gedächtnis, 102-123, insb. 109, sowie 143ff. 61 Josef-Hermann Sauter, „Von der Größe und Schönheit des Menschen. Interview mit Bruno Apitz“, in: Löffler, Anneliese, Auskünfte. Werkstattgespräche mit DDR-Autoren, Berlin, Weimar 1974, 355-371, hier: -365. 62 Antje Efkes, „Tatsachenbericht oder Lehrbuch für den Kommunismus? Zu Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen“, in: Conter, Claude Dario, Literatur und Holocaust, Bamberg 1996 (Fußnoten zur neueren deutschen Literatur, 38), 43-55; Susanne Hantke, Schreiben und Tilgen. Bruno Apitz und die Entstehung des Buchenwald-Romans Nackt unter Wölfen. Göttingen 2015; William John Niven, Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda. Halle/ S., 2009, insb. Kap. 2-4. Den Konsequenzen der Fokussierung auf In ihrer „Einleitung“ reißen Roth und Feuchert den Aspekt einer in den Texten ausgebreiteten politischen Legitimationsstrategie als Beleg des „Zeugnisdrucks“ in dieser Produktionsphase an. Eine Ausformulierung der in diesen Texten entworfenen Ansprüche oder die weitere Auseinandersetzung mit ihren Ver‐ fahrensweisen ist indessen ebenso Forschungsdesiderat. Für die Literatur in SBZ und DDR hat die Forschung indessen bereits die Legitimationsmuster der Texte zu KZ und Gefängnis in den Blick genommen und dabei insbesondere ihre Funktion als Formulierungen und Beglaubigungen eines kommunistisch dominierten Führungsnarrativs herausgearbeitet. Ein‐ hellig wurde darin festgestellt, dass diese Literatur in ihren Darstellungen von Lager und Gefangenschaft und insbesondere in ihren Schilderungen der Häft‐ lingsals von den politischen Gefangenen geprägten Solidargemeinschaften, die auch im Lager den antifaschistischen Widerstand fortführten, eine gelebte Gegenperspektive zum Nationalsozialismus verbildliche. Darin offenbarten sich diese „Opferhelden“ als Träger des humanistischen Gedankens, was sie gleich‐ zeitig zu Aufbau und Führung der postfaschistischen Gesellschaft legitimiere. Insbesondere Bruno Apitz’ in millionenfacher Auflage erschienener Roman Nackt unter Wölfen (1958) wurde wiederholt dahingehend Forschungsgegen‐ stand, wie dessen Vergegenwärtigung des Vergangenen eine Perspektive auf die zeitgenössische Gesellschaftsordnung stifte. Der Text, in dem die Aspekte von Antifaschismus in Gestalt einer unter kommunistischer Führung agierenden, internationalen Widerstandsgruppe sowie des Humanismus in der handlungstreibenden Frage nach der Rettung eines in Buchenwald ankommenden Kindes, von Apitz selbst einmal als „sentimentale[r] Brennpunkt“ apostrophiert, 61 als Zentralthemen aufeinandertreffen, gilt als Entwurf eines kommunistischen Führungsanspruchs bzw. als nachträgliche Legitimation der sozialistischen Füh‐ rung der DDR sowie des durch diese etablierten Erinnerungsnarrativs, welches in erster Linie auf das KZ Buchenwald sowie die dort als Sozialdemokraten und Kommunisten inhaftierten politischen Gefangenen fokussiere. 62 In seiner Studie 1.1 Forschungsüberblick 35 die kommunistische Opfergruppe insbesondere für die Darstellung der Verfolgung der Jüdinnen und Juden im östlichen Teil Deutschlands widmen sich Norbert Otto Eke, „Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR“, in: Eke, Norbert Otto; Steinecke, Hartmut, Shoah in der deutschsprachigen Literatur, Berlin 2006, 85-106; Karin Hartewig, „‚Proben des Abgrunds, über welchem unsere Zivilisation wie eine Brücke schwebt‘. Der Holocaust in der Publizistik der SBZ/ DDR“, in: Frei, Norbert; Steinbacher, Sybille, Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 1), 35-50; Jutta Illichmann, Die DDR und die Juden. Die deutschlandpolitische Instrumentalisierung von Juden und Judentum durch die Partei- und Staatsführung der SBZ/ DDR von 1945 bis 1990. Frankfurt/ M., 1997 (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXXI, Politikwis‐ senschaft, 336); Susanne Zur Nieden, „‚… stärker als der Tod‘. Bruno Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen und die Holocaust-Rezeption in der DDR“, in: Köppen, Manuel; Scherpe, Klaus Rüdiger, Bilder des Holocaust. Literatur - Film - Bildende Kunst, Köln 1997 (Literatur-Kultur-Geschlecht, Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Kleine Reihe, 10), 97-108. 63 Thomas Taterka, „‚Buchenwald liegt in der Deutschen Demokratischen Republik‘. Grundzüge des Lagerdiskurses in der DDR“, in: Dahlke, Birgit; Langermann, Martina; Taterka, Thomas, LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n), Stuttgart 2000, 312-365, hier: 317f., Herv. im Orig. Über Dekaden galt Apitz’ Darstellung als letztgültige literarische Auseinandersetzung mit den Lagern und deren Opfern. Als einige Beispiele der durch Apitz beeinflussten, ihrerseits zum Teil einflussreichen Werke des nachfolgenden Lagerdiskurses in Ostdeutschland sind zu nennen: Gisela Karau, Der gute Stern des Janusz K. Berlin 1972; Ernst Haberland, Der Pelerinenmann. Berlin 1981; Hedda Zinner, Ravensbrücker Ballade. Schauspiel in fünf Akten. Berlin 1961. über den Lagerdiskurs in der DDR konstatiert Taterka, Nackt unter Wölfen sei insbesondere aufgrund dieses historiographischen Potentials zu „dem Lagertext schlechthin auf[gerückt]“: „Lagertext und nicht Lagerroman, weil man hier vor einem der seltenen Fälle steht, da in der Frühzeit der DDR ein literarischer Text sich nicht am Leisten vorgängiger historiographischer Deutungen messen lassen muß, sondern seinerseits ideologie- und geschichtsstiftend die Geschichtsforschung präformiert, indem kaum andere Fragen zu stellen und Ergebnisse zu verbreiten waren als solche, die sich mit Apitz’ Roman zur Deckung bringen ließen. […] Mit Nackt unter Wölfen erst tritt auf, was auf dem [diskursiven] Feld zuvor fehlte: eine nicht abgezogen wertsetzende, sondern fleischgewordene Axiomatik, die eine nicht nur abschneidende, sondern auch konstruktiv orientierende Norm liefert. Nackt unter Wölfen bot nicht einfach ein an sich gleichgültiges Beispiel, sondern stellte als erzählte Wertvorstellung ein exemplarisches Vorbild dafür, was von den Konzentrationslagern zu welchem Ende wie zu sagen sei.“ 63 36 1 Einleitung 64 Janina Bach, „Spuren des kollektiven Gedächtnisses an den Holocaust in der DDR-Li‐ teratur bis 1958“, in: Gansel, Carsten; Zimniak, Paweł, Reden und Schweigen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Fallstudien, Wrocław, Dresden 2006 (Beihefte zum Orbis linguarum, 49), 153-173, hier: -170. 65 Vgl. auch die Selbstbestimmung der in den westlichen Zonen gegründeten Parteien als durch die NS-Opfer beauftragt; zentral formuliert in den Schwüren befreiter KZ-Gefangenen, siehe Kap.-3.1. 66 Roth, Feuchert, „Einleitung“, 11. Apitz’ „kardinale“ Position im Koordinatensystem ostdeutscher Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Lagern umfasse zentral das in ihm ausgebreitete kommunistische Führungsnarrativ. Dazu führt Bach weiter aus: „Ausschlaggebend für den Erfolg von Nackt unter Wölfen war, dass sich der Roman hervorragend in das Geschichtsbild der DDR über die faschistische Vergangenheit einfügte. Der im Roman geschilderte Kampf der kommunistischen Häftlinge für eine bessere, gerechtere Welt liefert den Gründungsmythos der DDR, aus dem antifaschis‐ tischen Widerstand hervorgegangen zu sein und diese gerechtere Welt geschaffen zu haben. Aus dem Widerstandskampf, der allein den Kommunisten zugeschrieben wird, leitet sich ihr Führungsanspruch nach dem Krieg ab. Apitz’ Roman untermauert diesen, da er die Kommunisten als sogar im Konzentrationslager humanitär und moralisch handelnd darstellt.“ 64 Für den Osten Deutschlands existiert somit bereits eine Forschung, die die Vergegenwärtigung des Lagers als Quelle einer Perspektive für die Nachkriegs‐ gesellschaft untersucht, hier in erster Linie das politische Narrativ der Kommu‐ nisten und Sozialdemokraten. In SBZ und DDR lag eine klare Definition des NS-Opfers als antifaschistisch vor, aus welchem sich ein politisches System den Gründungsmythos ableitete und mit dem sich dessen Führungselite schmückte. Die Teleologie dieser Opfer des Nationalsozialismus mündete im Osten fraglos im Aufbau des Sozialismus als Garant für die Nichtkontinuität nationalsozialis‐ tischer Gewalt und die Durchsetzung einer humanistischen Zukunft. 65 Für den Westen Deutschlands existierten weder ein derartiges Narrativ noch die Verbindung zwischen der Rekapitulation der Opfer und den notwendiger‐ weise durchzusetzenden Maßstäben für die neue Gesellschaft. Die Leitfragen dieser Forschungslandschaft und insbesondere den Einwurf von Roth und Feuchert eines aus dem Leid abgeleiteten „Gestaltungsanspruch[s] für die noch offene Entwicklung in Nachkriegsdeutschland“ 66 aufgreifend, untersucht die vorliegende Arbeit sein Primärtextkorpus hinsichtlich der Perspektiven, welche dieser der Erfahrung von Lager und Gefangenschaft für die Neuorientierung im Westen Deutschlands entnimmt. 1.1 Forschungsüberblick 37 67 Wie weiter unten in diesem Kapitel aufgezeigt, subsumierte die zeitgenössische Lesart all diese Texte fraglos unter den Begriff der „Literatur“. 68 Roth, Feuchert, „Einleitung“, 10 f. Mit dieser Zahl beziehen sich Roth und Feuchert auf Texte, die unter Anwendung eines weiten Holocaustbegriffs unterschiedliche Weisen nationalsozialistischer Verfolgung reflektieren. Wiewohl sich die Zahl durch die Ein‐ grenzung auf Lager- und Gefängnistexte reduziert, scheint sie nichtsdestoweniger auch für das dieser Arbeit zugrunde liegende Korpus valide: Magazinen und Zeitschriften kam in der unmittelbaren Nachkriegszeit maßgebliche Bedeutung bei der Publikation von Texten von NS-Verfolgten zu. In Zeitschriften wie Die Neue Zeitung, Der Kurier, Die Welt, Aufbau, Internationale Revue, Frankfurter Hefte wurden diese regelmäßig als Vorab-, Teil- und vollständige Abdrucke publiziert sowie rezensiert. Siehe dazu sowie zu einzelnen Zeitschriftenprofilen Peitsch, Gedächtnis, 61-85, 100-108; vgl. Feuchert, „Fundstücke“, 145-150. 1.2 Zu dieser Arbeit Das untersuchte Korpus stellt einen Querschnitt der in den ersten Jahren nach Kriegsende bis 1949 in den westlichen Besatzungszonen und der BRD erschie‐ nenen Texte dar, welche den Stoff der Gefangenschaft in den nationalsozialisti‐ schen KZ und Gefängnissen thematisieren. Bei diesen Publikationen handelt es sich um biographische Schriften insofern, als sie persönliche Hafterfahrungen in unterschiedlichen Graden der Fiktionalisierung und ästhetischen Überformung schildern. Viele der vorliegenden Texte bedienen sich nur bedingt ästhetischer Verfahren und fallen mithin unter einen weiten Literaturbegriff: Dokumenta‐ tionen und Zeugnisse sowie Erinnerungsberichte, die, wiewohl aus subjektiver Einzelsicht verfasst, kategorisch den Anspruch auf die reine Wiedergabe des Faktischen formulieren. 67 Diese Literatur war keine massenhaft rezipierte, aber eine durch den Aufklä‐ rungsanspruch der Alliierten massenhaft vorhandene: Texte der Opfer über ihre Erlebnisse aus Lagern und Gefängnissen waren die ersten von den Alli‐ ierten lizenzierten Publikationen überhaupt nach Kriegsende. Zu Hunderten wurden diese Texte als Broschüren oder Buchausgaben publiziert. Diese Zahl überstiegen die Beiträge in Tageszeitungen und Zeitschriften noch bei weitem. Roth und Feuchert sprechen von mehr als eintausend derartiger, unselbstständig publizierter Texte bis 1949, deren genaue Anzahl heute kaum noch festzustellen ist. 68 Die Textauswahl ist der Versuch, das breite Spektrum der mehreren hundert selbstständig erschienenen Publikationen abzubilden. Dabei wurde der Schwerpunkt auf die vergleichsweise öffentlichkeitswirksamen Schriften 38 1 Einleitung 69 So die Formulierung Fangs in Bezug auf Ernst Wiecherts Der Totenwald (1946), einen der öffentlichkeitswirksamsten KZ-Texte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Chunguang Fang, „‚Die Wahrheit, die reine Wahrheit, und nichts als die Wahrheit‘. Der Wahrheits‐ anspruch in der Holocaustliteratur am Beispiel Der Totenwald von Ernst Wiechert“, Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprache und Literaturwissenschaft 20/ 1 (2019), 95-107, hier: -101. 70 Anlässlich der Einweihung des Buchenwald-Mahnmals erschien die Dokumentation Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung, die inhaltlich, wie auch Eugen Kogons Der SS-Staat zuvor, auf dem Buchenwald-Report basierte. Ähnlich wie Kogons Schrift in Westdeutschland als grundlegende Auseinandersetzung mit den Lagern galt und zuweilen bis heute gilt, avancierte Mahnung und Verpflichtung zum ersten sachliterari‐ schen Standardwerk der DDR über die KZ. Philipp Neumann, „‚… eine Sprachregelung zu finden‘. Zur Kanonisierung des kommunistischen Buchenwald-Gedächtnisses in der Dokumentation Mahnung und Verpflichtung“, in: Stengel, Katharina; Konitzer, Werner, Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt/ M. 2008, 151-173. gelegt: die in zeitgenössischen Rezensionen besonders virulent diskutierten „Bestseller[..] der frühen Lagerliteratur“. 69 Dazu konzentriert sich die Auswahl vor allem auf umfangreichere Prosatexte, die in Gestalt der als autobiographisch firmierenden Berichte den größten Anteil dieses Korpus ausmachen. Diese Setzung erklärt auch, warum zwar zu dieser Zeit verfasste, aber erst Jahrzehnte später publizierte Texte insbesondere in Form von Briefen, Tagebüchern u.Ä. nicht Teil der Untersuchung wurden. Ausgangspunkt der Analyse ist somit eine stoffliche wie rezeptionsgeschicht‐ liche Gemeinsamkeit der Texte. Das bedeutet, dass sie Texte versammelt, die sich in ihrer Machart und ihrem Genre stark unterscheiden. Die Verschieden‐ artigkeit der Texte sowie ihr variabler Grad von Fiktionalisierung soll durch ihre Nebeneinanderstellung in der Untersuchung keineswegs nivelliert werden. Mit welchen auch stilistischen Charakteristika die Texte ihre Sicht der Dinge elaborieren, ist Teil der Einzelkapitel. Die Einschränkung auf den Westen begründet sich einerseits durch das Vorhandensein ähnlicher Forschungsansätze für die Literatur in SBZ und DDR, andererseits durch die grundsätzlich verschiedenen Publikationsbedingungen in Ost und West. Zwar wäre es verkürzt, für den Osten Deutschlands von einer sich unmittelbar nach Kriegsende formierenden, offiziellen Leitlinie zu sprechen, die sich im Narrativ der Widerstandstätigkeiten der Kommunisten vor allem in Buchenwald niederschlage und die mit Erscheinen von Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen 1958, spätestens der Einweihung des Buchenwald-Mahn‐ mals 1961, zur Staatsdoktrin avancierte. 70 Insbesondere Taterka hat mit Blick auf die Entwicklung des Lagerdiskurses in SBZ und DDR auf die Unschärfen und Widersprüche in Bezug auf das dominante Widerstandsnarrativ der Kom‐ 1.2 Zu dieser Arbeit 39 71 Taterka, „Buchenwald“, insb. 321-364. 72 Feuchert, „Fundstücke“, 154. 73 Dietmar gibt an, sein Text erschiene „in allen Besatzungszonen innerhalb Deutsch‐ lands“. Dietmar, Häftling … X, 10. Inwieweit Pläne bzw. Anträge für eine Veröffent‐ lichung auch in amerikanischer und britischer Zone vorlagen, war nicht mehr in Erfahrung zu bringen. 74 Die weiteste Verbreitung dieser Parallelerscheinungen hatte Kogons Der SS-Staat, welches mit der maßgeblichen Unterstützung der westlichen Alliierten 1946 in drei Verlagen erschien und bereits in den unmittelbaren Folgejahren mehrere Folgeauflagen erhielt. Binsch, „Vom Manuskript“, 367. Siehe auch Fußnote-800. 75 Zur Bedeutung, die die Alliierten dem Buchmarkt bei der Neuorientierung des postfaschistischen Deutschlands beimaßen, siehe Christian Adam, Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Berlin 2016, 21-28, vgl. auch Fußnote 106. Der gravierendste Unterschied zwischen anglo-amerikanischer auf der einen und französischer und sowjetischer Besatzungszone auf der anderen Seite bestand in der Exekution einer Vorzensur. Siehe dazu Ernst Umlauff, Der Wiederaufbau des Buchhandels. Beiträge zur Geschichte des Büchermarktes in Westdeutschland nach 1945. Frankfurt/ M., 1978, 102-120. Zu den munisten sowie die internen Machtkämpfe der „Buchenwalder“ gegenüber den „Moskauer Eliten“ im ersten Nachkriegsjahrzehnt hingewiesen. 71 Zudem deckten sich die Publikationsstrategien der Alliierten mit Blick auf die Auf‐ klärung über die Lager zumindest bis 1946 und damit bis in die Hochphase der Textproduktion zu den Lagern. 72 Auch existierten trotz der zunehmend divergierenden politischen wie kulturellen Orientierung der östlichen und westlichen Hälften Deutschlands über Jahre zahlreiche interzonale Autoren- und Verlagsbeziehungen und Institutionen wie den „Kulturbund“, die sich für eine gesamtdeutsche kulturelle Repräsentation einsetzten. Von diesen Bemü‐ hungen zeugen eine ganze Reihe von Parallelpublikationen von KZ-Texten in Verlagen mehrerer Besatzungszonen: Häftling … X … in der Hölle auf Erden! erschien 1946 im Mainzer Rheinischen Volksverlag unter französischer sowie im Thüringer Volksverlag in Weimar unter sowjetischer Lizenz. 73 Ernst Wiecherts im gleichen Jahr erschienener Text Der Totenwald wurde sowohl bei Kurt Desch im amerikanisch besetzten München, in der Schweiz bei Rascher in Zürich sowie 1947 im Ostberliner Aufbau-Verlag publiziert. In der britischen Besatzungszone, im Alter Verlag Curt Brauns in Wedel in Holstein, erschien 1947 Hiltgunt Zassenhaus’ Erinnerungsschrift über das Zuchthaus Fuhlsbüttel Halt Wacht im Dunkel, das im Folgejahr auch in der sowjetischen Zone Berlins im Verlag Neues Leben vorgelegt wurde. 74 Indessen gingen die Alliierten beim Wiederaufbau von grundsätzlich verschiedenen Kultur- und Literaturbegriffen aus, was sich in unterschiedlichen Konzeptionen der Stellung und Funktion von Literatur und, davon abgeleitet, in grundlegend anderen Lizenzierungs- und Produktionsbedingungen in Ost und West niederschlug. 75 Auch unterschied sich 40 1 Einleitung Publikationsbedingungen in den anglo-amerikanischen Zonen siehe den Beitrag von Binsch, Kitzinger, „Entlastungssehnsucht“. Die Produktionsbedingungen in SBZ und späterer DDR umreißt Hartewig, „Proben“. 76 Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen 2005 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, 111), 74. Der Fokus auf als Sozialdemokraten und Kommunisten inhaftierten politischen Häftlingen in den Publikationen von SBZ und DDR ist auch anhand der Wiederauflagen von Schriften aus den 1930er Jahren ablesbar, etwa Willi Bredels Die Prüfung (1933/ 46) oder Wolfgang Langhoffs Die Moorsoldaten (1935/ 47). Hartewig, „Proben“, 48, i.F. 16. Den derart forcierten Opferbegriff des Ostens fasst Franz Ahrens in seinem Querschnitt zur Literatur über die nationalsozialistischen Verfolgungen bereits 1948 wie folgt programmatisch zusammen: „Kampf und Opfer - beide sind nicht zu trennen.“ Franz Ahrens, Widerstandsliteratur. Ein Querschnitt durch die Literatur über die Verfolgungen und den Widerstand im Dritten Reich. Hamburg 1948, 6. Polemischer wertet Czesław Miłosz diese Fokussierung. Der im Exil lebende polnische Intellektuelle und Literatur‐ nobelpreisträger des Jahres 1980 konstatierte 1953 in seiner Kritik des Sowjetsystems The Captive Mind (dt. Verführtes Denken) das Vorhandensein klarer Darstellungskon‐ ventionen für KZ-Texte im sowjetischen Einflussbereich. „1. Die Häftlinge mußten sich zu Geheimorganisationen zusammenschließen; 2. Führer dieser Organisationen mußten Kommunisten sein; 3. Alle Russen, die im Buch vorkommen, mußten sich durch moralische Stärke und Heldentum auszeichnen; 4. Die Häftlinge waren nach ihren politischen Anschauungen zu sortieren und darzustellen.“ Czesław Miłosz, Verführtes Denken. Frankfurt/ M., 1974, 131. der von den Alliierten durchgesetzte Opferbegriff erheblich: Während im Osten bereits 1945 in erster Linie die verfolgten Kommunisten im Zentrum der anti‐ faschistisch orientierten Narrativbildung standen, galt die Opferdefinition von politisch, rassisch und religiös Verfolgten in erster Linie für die westlichen Be‐ satzungszonen. 76 Daher ist von einer grundsätzlich anderen Literaturlandschaft sowie anderen Diskursen auszugehen, auf die sich die Literatur der jeweiligen Besatzungszonen bezog. Dabei ist indessen von sich überschneidenden bzw. über die Zonengrenzen hinaus wirksamen Interessenlagen auszugehen, wie insbesondere das Vorhandensein der angesprochenen Parallelpublikationen zeigt. Die zeitliche Dimension des Korpus umfasst Texte, die in den ersten Jahren nach 1945 erschienen sind. Diese Begrenzung erschließt sich aus der For‐ schungsfrage. Die Publikationen sollen hinsichtlich der Perspektiven untersucht werden, die die Darstellung der Vergangenheit für die neuen Verhältnisse in Nachkriegsdeutschland etabliert. Dazu brauchte es notwendigerweise die Zäsur von 1945: Erst die Gewissheit über den Kriegsausgang und die Zer‐ schlagung des nationalsozialistischen Regimes ermöglichte eine umfassende Darstellung und Aufarbeitung der KZ und der Hafterfahrungen in ihnen. Zudem konstituierten sich erst nach 1945 die die Nachkriegszeit bestimmenden Gegebenheiten des Verlustes staatlicher Souveränität und alliierter Besatzung. 1.2 Zu dieser Arbeit 41 77 Roth, „Gattung“, 18. 78 Zur historischen Zäsur von 1961, insbesondere für die öffentliche Rhetorik innerhalb des Kalten Krieges und den kulturellen Austausch zwischen westlicher und östlicher Einflusssphäre, siehe Schütz, „Entkommen“, 135 f. Zur Zementierung der innerdeut‐ schen Trennung des Literaturbetriebes nach 1961 siehe Peitsch, Nachkriegsliteratur, 16-25. Den Wandel der juristischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den 1960er Jahren beschreibt William John Niven, „Die Rezeption von Nackt unter Wölfen in Westdeutschland“, in: Peitsch, Helmut, et al., Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung. Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext, Berlin 2019, 407-416, hier: -412. 79 Reiter schlägt in ihrer Studie eine dreiphasige Einteilung vor. Reiter, „Auf dass“, 230. Die jüngere Einteilung von Roth entwirft ein siebenstufiges Phasenmodell. Roth, „Gattung“, 16-19. Die zeitweise Offenheit der Entwicklung Nachkriegsdeutschlands nach dem Ende des Nationalsozialismus, innerhalb derer sich die Texte positionieren, ist nach hinten durch einige Zäsuren historisch klar begrenzbar. Für die weitere politische Entwicklung des bzw. fürderhin der beiden deutschen Staaten waren dies einerseits die doppelte Staatengründung 1949 und der Bau der Berliner Mauer 1961. Die Gründung der BRD und die damit verbundene weitgehende Rückerlangung staatlicher Souveränität konsolidierten die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und ebneten den Weg für Westdeutschland, in den folgenden Jahren als demokratischer Staat Teil der internationalen westlichen Staatengemeinschaft zu werden. Die Produktion von KZ-Texten reagierte insofern deutlich auf diese Konsolidierung, als nach 1949 und wäh‐ rend der gesamten 1950er Jahre kaum Neupublikationen dieser Textformen zu verzeichnen waren. 77 Der Beginn des Mauerbaus zementierte 1961 die getrennte Entwicklung, die die beiden deutschen Staaten, deren Gesellschaften und auch literarischen Öffentlichkeiten für die kommenden Dekaden gehen sollten. Zum einen änderte sich im Zuge des sich verschärfenden Kalten Kriegs die Rhetorik, mit der der jeweils andere Staat und dessen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Lagern thematisiert wurde. Zum anderen änderten die in den 1960er Jahren in Frankfurt öffentlichkeitswirksam abgehaltenen Prozesse gegen Auschwitz-Wachpersonal sowie die Rezeption des in Jerusalem stattfindenden Eichmann-Prozesses in Westdeutschland grundle‐ gend den Diskurs über die KZ und stifteten eine neue Form der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Lagern. 78 Im engeren Sinne umfasst das zu untersuchende Korpus somit Texte, die in der Zeit zwischen 1945 und 1949 erschienen sind. Diese Begrenzung deckt sich mit den Phaseneinteilungen zur Entwicklung der KZ-Literatur, die Reiter sowie darauf aufbauend Roth für die deutschsprachige und insbesondere die westdeutsche Entwicklung vorschlugen. 79 42 1 Einleitung 80 Luise Rinser, Gefängnistagebuch. München 1946, 5, 63, 65. 81 Lilje, Tal, 95; vgl. auch Erich Herbert Schneider, Gedichte aus dem Gefängnis am Paulustor. Graz 1946, 3. 82 Rudolf Küstermeier, „Blick in den Abgrund. Erlebtes und Bedachtes aus Gefängnissen und Lagern“, Die Welt 2/ 108 (14.9.1947), 4; Rudolf Schacht, „Dokumente aus KZ und Gefängnis“, Aufbau 2/ 10 (1946), 1072-1073. Die Korpuserweiterung des Lagerstoffes um textliche Bearbeitungen von Haft in nationalsozialistischen Gefängnissen erschließt sich einerseits aus dem zeitgenössischen Diskurs zur NS-Opferschaft, andererseits aus dem Korpus selbst. Zum einen weisen die Autor: innen selbst auf die stete Bedrohung durch die KZ hin, denen auch die in Zuchthaus und Gefängnis Inhaftierten ausgesetzt waren. Luise Rinser berichtet in Gefängnistagebuch ausführlich von Überstellungen von KZ-Häftlingen ins Münchner Gefängnis Traunstein, wobei ebenso die Gefahr einer Rücküberstellung der Gefängnisinsassen in die KZ bestand. Die verschiedensten Delikte, die der Nationalsozialismus als Vergehen identifizierte, konnten, für Rinser undurchsichtig, mit Haft in allen Formen geahndet werden: „Alle diese Verbrechen werden heute bestraft mit Haft, von der vier, acht oder zwölf Wochen langen Polizeihaft bis zu Gefängnis, Zuchthaus und Konzentrationslager.“ Beglaubigt wird dies durch Äußerungen der Traun‐ steiner Aufseherinnen wie: „Für euch ist Dachau noch zu gut.“ Für Rinser zählen alle vom NS-Regime Angeklagten, Verurteilten, Inhaftierten und in die KZ Deportierten zu einer nur durch das Kriegsende beendeten Opfergemeinschaft. In Vorwort ihres Textes zählt sie auch sich zu den „Viele[n]“, die „nur durch den Zusammenbruch des Dritten Reiches dem Fallbeil oder dem K.Z. entrannen“. 80 Auch für Hanns Lilje ist klar, dass der Ausgang seines Prozesses vor dem Volkgerichtshof mit zwei Ergebnismöglichkeiten enden werde: „Denn die wesentliche Frage bei allen Freisler-Prozessen bestand in der elementaren Alternative: Todesurteil oder nicht. Wurde jemand nicht zum Tode verurteilt, so war bei einer Freiheitsstrafe das Strafmaß völlig gleichgültig. Wer freigesprochen wurde, kam in der Regel sofort ins Kz, die andern entsprechend später“. 81 Zum anderen verwischen auch in der zeitgenössischen Rezeption die Grenzen zwischen den textlichen Erzeugnissen aus den beiden Inhaftierungsformen. In ihren ersten Resümees der Literatur zu den nationalsozialistischen Gräueln ver‐ sammeln sowohl Rudolf Schacht im Aufbau wie auch Rudolf Küstermeier in Die Welt explizit Texte sowohl aus Lager wie auch Gefängnis. 82 Beredt sind auch die Beiträge von Wolfgang Borchert und Heinz Rein: Borchert verhandelt in seiner Sammelrezension zur „KZ-Literatur“ mit Luise Rinsers Gefängnistagebuch auch 1.2 Zu dieser Arbeit 43 83 Wolfgang Borchert, „Kartoffelpuffer, Gott und Stacheldraht. KZ-Literatur“, in: Borchert, Wolfgang, Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1996 [1947], 267-273; vgl. auch Ahrens, der in seinen Entwurf einer „Kernbibliothek“ zu Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus Texte sowohl aus KZ wie Gefängnissen aufnimmt. Ahrens, Widerstandsliteratur, 43. 84 Rein, Literatur, 89-98. 85 Oskar Jancke, „Wiechert, Ernst: Der Totenwald. Ein Bericht (228 Seit., 5,80 RM) Kurt Desch-Verlag, München 1946“, Welt und Wort. Literarische Monatsschrift 4 (September 1946), 126. einen Text, der bereits im Titel darauf hinweist, nicht die Lager zu schildern. 83 Gleiches gilt für Rein, der in seinem Konspekt der „neuen Literatur“ unter der Rubrik „Die Konzentrationslager“ ebenfalls Rinsers Text wie auch Maria Langners Die letzte Bastion verhandelt, in welcher die Autorin ihre Erlebnisse in der in der Endphase des Kriegs von den Nationalsozialisten zur „Festung“ erklärten Stadt Breslau schildert. 84 Diese Subsumierung von Gefängnistexten unter die literarischen Erzeugnisse aus den Lagern zeigt, dass in der Nachkriegs‐ zeit der Terminus „KZ-Literatur“ als Gattungsbegriff der Beschreibung aller Verschriftlichungen von Hafterfahrungen im Nationalsozialismus diente. Dabei wurden die KZ-Schilderungen auch als Einschreibungen in Traditionslinien der Gefängnisliteratur verstanden: Oskar Jancke etwa rezensierte Ernst Wiecherts Der Totenwald für die Literaturzeitschrift Welt und Wort und verglich das Werk als „menschliches Dokument“ mit „Dostojewskis ‚Aufzeichnungen aus dem Totenhaus‘ oder Silvio Pellicos ‚Meine Gefängnisse‘, mit denen es künftig wird zusammen genannt werden.“ 85 Das mag auch darin begründet sein, dass ein Großteil der KZ-Texte auch die Inhaftierung im Gefängnis schildern: Der Totenwald zeigt zunächst die Gefangenschaft im Münchener Untersuchungsge‐ fängnis, Isa Vermehrens erste Haftstation ist der Zellenblock in Ravensbrück, Walter Poller schildert seine Haftbiographie bis 1938 als Aufenthalte in verschie‐ denen Zuchthäusern und Durchgangsgefängnissen. Aber auch andere Texte dieser Opferliteratur - u. a. etwa Wolfgang Langhoffs Die Moorsoldaten (1935) oder A.W. Conradys Amokläufer (1947) - schildern sowohl die Gefangenschaft im Gefängnis wie auch im Lager. Obgleich in Drastik und Ausmaß der Leiderfah‐ rungen verschieden, galten die Gefängnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit als von den Lagern lediglich graduell verschiedene Form nationalsozialistischer Verfolgung und Gewalt. Es sei darauf verwiesen, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit und Pro‐ duktionszeit der im Korpus versammelten Texte keine einheitliche Terminologie des NS-Lagersystems existierte, eine solche vielmehr noch von den Verschlei‐ erungsstrategien der Nationalsozialisten überdeckt wurde. In den Augen der Nachkriegsgesellschaft perspektivierten die Texte aus Lager und Gefängnis 44 1 Einleitung 86 Zum Lager als konstituierendes Element der nationalsozialistischen Vorstellung einer „Volksgemeinschaft“ siehe auch Buggeln, Wildt, „Lager“; Michael Wildt, Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte. Berlin 2019, 199-258. 87 Hartmut Berghoff, „Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung. Die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre nationalsozialistische Vergangenheit in den Fünfziger Jahren“, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49/ 2 (1998), 96-114, hier: -103. 88 Siehe dazu auch die erläuternde Einführung im Anhang. Bibliographie der KZ- und Gefängnisliteratur 1945-1961. 89 Keßler etwa verweist auf diese als Untergattung der Gefangenenliteratur. Nicola Keßler, Schreiben, um zu überleben. Studien zur Gefangenenliteratur. Mönchengladbach 2001, 140f. Weigel problematisiert die Grenzen einer solchen Subsumption, weist in ihrer Bibliographie aber selbst Lagertexte der Kategorie Gefangenenliteratur zu. Sigrid Weigel, „Und selbst im Kerker frei-…! “ Schreiben im Gefängnis. Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnis‐ literatur (1750-1933). Marburg 1982, 238ff. 90 Zu Begriff, Merkmalen und Theorie der Gefangenenliteratur siehe u.-a. Keßler, Schreiben, 143-164; Bernd Scheffer, „Schreiben hinter Gittern“, in: Boueke, Dietrich; Hopster, Norbert, Schreiben - Schreiben lernen. Rolf Sanner zum 65. Geburtstag, Tübingen 1985, 115-141; Weigel, „Und selbst“, 17-20; dies., „Zur Geschichte der Gefängnisliteratur“, in: Klein, Uta; Koch, Helmut H., Gefangenenliteratur. Sprechen - Schreiben - Leben in deutschen Gefängnissen, Hagen 1988, 69-87, hier: -69-71, 84-87. den Nationalsozialismus gleichermaßen als Gewaltherrschaft aus einer Position absoluten Ausgeliefertseins dieser gegenüber. Die begriffliche Differenzierung der nationalsozialistischen Inhaftierungsmethoden entlang der verschiedenen Hafträume (Konzentrations-, Umerziehungs-, Arbeitslager, Gestapogefängnis, Festung, Zuchthaus) war ein Ergebnis der geschichtswissenschaftlichen Aufar‐ beitung des Nationalsozialismus, die erst nach oder zumindest parallel mit der literarischen Produktion stattfand. 86 Zudem firmierten zum Teil auch alliierte Internierungslager als „Konzentrationslager“, wohl auch, weil einige von ihnen auf Geländen ehemaliger NS-Lager eingerichtet worden waren. 87 Besonders deutlich wird die Unschärfe des Konzentrationslagerbegriffs indessen anhand des Lagers Theresienstadt, dass in der nationalsozialistischen Propaganda als „Altersghetto“, intern aber als Sammel- und Durchgangslager bezeichnet wurde. 88 Die in dieser Arbeit vorgenommene Erweiterung des Korpus um Texte aus den Gefängnissen bringt die Untersuchung auch methodologisch in die Nähe zur Gefangenenliteratur. Streng genommen handelt es sich auch bei KZ-Literatur um einen Teil dieser übergeordneten Gattung, insofern von einem derartigen Gat‐ tungsbegriff überhaupt ausgegangen werden kann. 89 In der Vergangenheit haben einige Forschungslinien versucht, eine derartige Gattung begrifflich abzustecken, partikuläre Gattungsmerkmale und einen theoretischen Zugang zu dieser Literatur zu bestimmen: Verwiesen sei dabei insbesondere auf die Arbeiten von Weigel, Koch und Klein sowie Keßler. 90 Trotz vieler Überschneidungen in Thematik und 1.2 Zu dieser Arbeit 45 91 Keßler, Schreiben, 163; Weigel, „Und selbst, 19. Dabei sei darauf hingewiesen, dass es sich beim Großteil der KZ-Literatur um Reflexionen handelt, die nach der Befreiung verfasst wurden, häufig schlicht aufgrund der ungleichen Schreibbedingungen, etwa dem strengen Schreibverbot und dem Mangel an Schreibutensilien im Lager. Dagegen legt die Forschung zur Gefangenenliteratur einen deutlicheren Fokus auf die Schreibpraxis als Überlebensstrategie in Haft. 92 Weigel, „Und selbst“, 96f. 93 Uta Klein, „Texte inhaftierter Frauen“, in: Klein, Uta; Koch, Helmut H., Gefangenenlite‐ ratur. Sprechen - Schreiben - Leben in deutschen Gefängnissen, Hagen 1988, 124-139, hier: -131-133. 94 Siehe Fußnote-10. Darstellungskonventionen, insbesondere des Authentizitätstopos, 91 weist die darin bestimmte Gefangenenliteratur ihre eigenen Bezüge und Traditionslinien auf, die bei Boethius’ 524 entstandener Schrift Trost der Philosophie ansetzen. Auch weisen die Forscher: innen selbst auf die Grenzen einer Subsumption der Lagertexte unter die Gefangenenliteratur hin. Weigel etwa führt aus: „Die Deutung der Gefängnisliteratur des Dritten Reiches müßte auf einer Analyse der Auslese- und Vernichtungspläne der Nazis aufbauen, bezogen auf die historische Vor‐ aussetzung einer ausgebildeten Gefängnissituation. Die Gefängnisse, Internierungs-, Arbeits- und Vernichtungslager des Faschismus […] bilden […] eine Synthese aller bis dahin erdachten Straf- und Zerstörungspraktiken, eingesetzt für eine expansive Ausgrenzungspolitik, bei der es [spätestens seit Kriegsbeginn, J.V.] nur im geringeren Teil um ‚Besserung‘ der Inhaftierten, im größeren Teil um Vernichtung und ‚Verwer‐ tung‘ derjenigen Menschen ging, die das nationalsozialistische Bild einer politischen und rassischen Volksgesundheit störten.“ 92 Auch Klein rückt in ihrer Besprechung von Luise Rinsers Gefängnistagebuch die in Texten zu nationalsozialistischen Gefängnissen dargestellten Überlebens‐ strategien in die Nähe einer von der Gefangenenliteratur zu differenzierenden KZ-Literatur. 93 Darüber hinaus ist die Annäherung zur Gefangenenliteratur nicht unpro‐ blematisch. In der Einleitung wurde bereits auf Ernst von Salomons Text zu Arthur Dietzsch, Das Schicksal des A.D. Ein Mann im Schatten der Geschichte, hingewiesen. Dabei konnte von Salomon zumindest in Teilen auch auf seine eigenen Hafterfahrung in der Weimarer Republik, u. a. aufgrund seiner Verur‐ teilung für die Beteiligung am Fememord an dem liberalen Politiker Walther Rathenau, zurückgreifen, die er selbst in einigen Schriften der 1920er Jahre thematisiert hatte. 94 Bei von Salomons KZ-Schilderung von 1960 liegt die Ver‐ mutung nahe, dass er eine Verbindungslinie zwischen den drei in Das Schicksal des A.D. geschilderten Haftabschnitten der Biographie Arthur Dietzschs ziehen 46 1 Einleitung 95 Wachsmann, KL, 12. wollte: republikanischen Gefängnissen, nationalsozialistischen KZ und ameri‐ kanischen Internierungslagern. Das Einschreiben in die Traditionslinien der Gefangenenliteratur, die sich hier im Parallelisieren der Hafterfahrungen in Republik, Nationalsozialismus und bei den alliierten Besatzungsmächten mani‐ festiert, führt zwangsläufig auch zu einer Relativierung und Verharmlosung der NS-Gewalt, die nicht im Sinne der vorliegenden Untersuchung ist und sein kann. Aufgrund dieser Problematik sowie der oben nachgezeichneten theoretischen Differenzierungen ist der methodische Zugang dieser Arbeit zum Primärma‐ terial die KZ-Forschung, die von der Partikularität der NS-Gewalt ausgeht. Die Texte dieser Opferliteratur sollen nicht gattungsgeschichtlich erschlossen und eingeordnet, sondern hinsichtlich ihrer Aussagekraft zu Nationalsozia‐ lismus und Nachkriegsgesellschaft aus dem zeitgenössischen Diskurs heraus untersucht werden. Nichtsdestoweniger kommen die Forschungslinien der Gefangenliteratur an den Stellen, an denen das Material es erforderlich macht, ergänzend zur Anwendung. Als Anhang ist der Untersuchung eine Bibliographie beigegeben, die eine erste Übersicht eines nach diesen Kriterien gefassten Korpus der Opferliteratur aus Gefängnis und Lager darstellt. Zwar existieren Bibliographien, insbesondere im Bereich der Holocaustliteratur. Diese weisen Überschneidungen mit dem im Forschungsvorhaben untersuchten Korpus auf, unterscheiden sich aber zuweilen drastisch hinsichtlich der Inwie Exklusionskriterien. Die vorliegende Bibliographie soll einen ersten Überblick geben zur deutschsprachigen Literatur, die sich in der Nachkriegszeit mit der Gefangenschaft im Nationalsozialismus auseinandersetzte, und dient so als Grundlage für weitere Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet. Hinweis zur Schreibweise Die zeitgenössischen Quellen weisen noch keine einheitliche Terminologie der nationalsozialistischen Gewalt auf. Verschiedene Schreibweisen und Begriffsva‐ rianten kursierten etwa für die Lager: die offizielle NS-Bezeichnung „KL“/ „K.L.“ sowie das härter klingende „KZ“, „Kz“, „K.Z.“, das in Nachkriegsdeutschland zur gängigen Abkürzung für die Konzentrationslager wurde. 95 Ähnliches gilt für die „SS“ bzw. „S.S.“ oder die „Kapos“ bzw. „Capos“. Im Fließtext wurden die Begriffe entsprechend den heute gängigen Abkür‐ zungskonventionen vereinheitlicht. In direkten Zitaten wurden die Schreib‐ weisen im Original erhalten und nur bei uneindeutigen oder missverständlichen Varianten separat erläutert. 1.2 Zu dieser Arbeit 47 I Die Bedeutung der Opferperspektive für die Entnazifizierung und den Aufbau Nachkriegsdeutschlands 96 Den Autor: innen dieser ersten Berichte ging es in erster Linie um die Informierung über die Zustände in den KZ, welche die NS-Berichterstattung geheim hielt, verschlei‐ erte und beschönigte. Zahlreiche Publikationen und Zeitschriftenartikel, zunächst vornehmlich aus dem politisch linken Spektrum, richteten sich entsprechend aufkläre‐ risch an die deutsche Bevölkerung des Inlands. Siehe etwa „Genosse Gerhart Seger frei! Flucht aus der Hölle von Oranienburg“, Neuer Vorwärts 33 (28.1.1934), 4; Gerhart Seger, „Die Bastillen des Dritten Reiches. Oranienburg - das Symbol der Willkür“, Neuer Vorwärts 34 (4.2.1934), 3, Werner Schäfer, Konzentrationslager Oranienburg. Das Anti-Braunbuch über das erste deutsche Konzentrationslager. Berlin 1934. Gleichzeitig gelangten Berichte (aber auch Texte anderer Gattungen) durch freigelassene Gefan‐ gene, deren Verwandte, Emigrierte oder Verlagskontakte ins Ausland, von wo aus sie die internationale Öffentlichkeit informieren sollten. Die wahrscheinlich erste Lager‐ darstellung überhaupt, Nico Rosts „Brief aus einem Konzentrationslager“, erschienen bereits am 1. Mai 1933, warnte die niederländische Bevölkerung vor der Brutalität des NS-Regimes, das erst kürzlich die Macht in Deutschland übernommen hatte. Nico Rost, „Brief uit een concentratiekamp“, in: Links Richten. Maandblad van het arbeiders-schrijvers-collectief [antifascistennummer] 8 (1933), 1-3. Bis 1945 erschienen zahlreiche selbstständige Publikationen sowie Artikel in internationalen Zeitungen, etwa der Pariser Tageszeitung, der Prager Presse, dem Daily Telegraph, dem Manchester Guardian Weekly, der Baseler Nationalzeitung oder den zunächst in Prag, ab 1938 in Paris herausgegebenen Deutschland-Berichten der Sopade, in denen „über das Lager allgemein, über Fluchtversuche und deren Folgen und über den Tod von bekannten Häftlingen“ berichtet wurde. Hofmann, „Seele“, 55; vgl. Roth, Feuchert, „Einleitung“, 8. Siehe dazu auch die im angelsächsischen Raum als „Auschwitz-Protokolle“ bekannt gewordenen Berichte von Flüchtlingen aus dem Jahr 1944. Vgl. Henryk Świebocki (Hrsg.), London wurde informiert. Berichte von Auschwitz-Flüchtlingen. Oświȩcim 1997. Über einige der Lager wurde darüber hinaus in offiziellen Publikationen der kriegführenden Staaten berichtet, etwa über KZ Buchenwald durch das britische Foreign Office: Secretary of State of Foreign Affairs (Hrsg.), Papers concerning the Treatment of German Nationals in Germany 1938-1939. London 1939 (Germany, 2) in englischer Sprache, sowie auf Deutsch Secretary of State of Foreign Affairs (Hrsg.), Die beiden englischen Weissbücher, Teil 2: Die Wahrheit über die deutschen Konzentrationslager in amtlichen Dokumenten. Dokumente über die Behandlung deutscher Staatsangehöriger in Deutschland 1938-39. London 1940. 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt Bei ihrem Vormarsch durch das nationalsozialistisch besetzte Europa wussten die alliierten Truppen von der Existenz der Konzentrationslager. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Errichtung der ersten dieser Lager 1933 berichteten Geflohene und Freigelassene über die Gewalt in ihnen und warnten das Ausland. 96 Unterstützt durch neue Quellen der Militäraufklä‐ rung wurde während des Kriegs verstärkt über die Deportationen und das 97 Die alliierten Direktiven zur Informierung der Deutschen über die KZ-Gräuel gingen noch bis Anfang 1945 davon aus, dass sich die meisten dieser Lager in den von NS-Deutschland besetzten Gebieten und also in beträchtlicher geographischer Entfer‐ nung befunden hätten. Weckel etwa führt ein internes Papier der US-Armee an, in dem es heißt: „Germans at home are ignorant of the acts of fiendish cruelty committed by Germans abroad and of the suffering inflicted upon helpless and innocent people in the countries temporarily conquered by German armies in this war.“ „Guidance on Long Range Media for Germany“, Fassung vom 16.11.1944, NARA: RG 208/ OWI, Historian’s Records of PWB, 1942-1945, Entry 6G, Box 2, Folder Germany, z.n. Ulrike Weckel, Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager. Stuttgart 2012 (Transatlantische historische Studien, 45),-336. 98 Am 23. Juli 1944 wurde das KZ Majdanek als erstes größeres Lager durch so‐ wjetische Truppen befreit. Am 27. Oktober 1944 erfolgte die erste Befreiung westalliierter Truppen: KZ Herzogenbusch durch kanadische Truppen. Am 23. No‐ vember 1944 folgte die Befreiung des KZ Natzweiler-Struthof durch amerikanische Truppen. Internationales Auschwitz Komitee, „Chronologie der Befreiung von KZ“, In‐ ternet: www.auschwitz.info/ de/ gedenken/ gedenken-2015-70-jahre-befreiung/ chrono‐ logie-der-befreiung-von-kz.html, zuletzt geprüft am: 5.8.2021. 99 Wachsmann, KL, 17. Netzwerk der Zwangsarbeitsstätten des nationalsozialistischen Lagersystems informiert. Doch das Ausmaß dieses Systems, bestehend aus Stamm-, Außen- und Nebenlagern, Zwangsarbeitsstätten sowie angeschlossener Infrastruktur, die Anzahl der dort Inhaftierten, deren katastrophale Verfassung aufgrund von Zwangsarbeit, Mangelversorgung und der hygienischen Zustände, letztlich die ganze Dimension der von der SS ausgeübten Gewalt und der Vernichtungsein‐ richtungen offenbarten sich den Alliierten erst während der Invasion und der Befreiung der Lager. 97 Insbesondere die Amerikaner und Briten machten ihre Erkenntnisse über die Lager in Aufklärungskampagnen in internationalen Zeitungen publik. Unmit‐ telbar nach der Befreiung der ersten größeren Lager schickten die westalliierten Aufklärungsstellen Untersuchungskommissionen und Kriegsberichterstatter, die im Rücken der kämpfenden Truppen als unmittelbare Beobachter die Zustände in den befreiten KZ dokumentierten. Obwohl die Rote Armee bereits Monate vor den Westalliierten die ersten großen Konzentrationslager befreit hatte, spielten Berichte über Majdanek und Auschwitz in den sowjetischen Pres‐ seorganen zunächst eine untergeordnete Rolle. 98 Aufgrund dessen waren es we‐ niger die Vernichtungslager im Osten, sondern KZ auf deutschem Reichsgebiet, die im Zentrum der ersten Berichterstattung standen. 99 Der Befreiung der Lager Buchenwald, Dachau und Bergen-Belsen, aber auch vergleichsweise kleiner Nebenlager wie Ohrdruf, Nordhausen oder Leipzig-Thekla folgten Berichte in zahlreichen britischen und US-amerikanischen Zeitungen und Radiostationen. Für die US-amerikanischen Illustrierten Life Magazine und Vogue berichteten 52 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 100 Siehe etwa „Atrocities“, Life Magazine 18/ 19 (7.5.1945), 32-37. Zu Lee Millers Photo‐ serien und Artikel für die Vogue siehe Richard Bessel, Lee Miller. Deutschland 1945. Köln 2018, 9-13, insb. den Bildteil des Bandes. Zur den US-Zeitungsberichten siehe Hermann Weiß, „Dachau und die internationale Öffentlichkeit. Reaktionen auf die Befreiung des Lagers“, Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager 1/ 1 (1985), 12-38. Eine Übersicht zu den (west-)alliierten Dokumentationen während des Krieges und insbesondere der teilweise von Supreme Commander Dwight D. Eisenhower initiierten US-Berichterstattung im Frühjahr und Sommer 1945 liefern Frei und Hofmann. Norbert Frei, „‚Wir waren blind, ungläubig und langsam‘. Buchenwald, Dachau und die amerikanischen Medien im Frühjahr 1945“, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 35/ 3 (1987), 385-401, hier: -385- 393; vgl. Hofmann, „Seele“, 58. Die sowjetische Kriegsberichterstattung beleuchtet Hartewig, „Proben“, 38. Vgl. auch Dagmar Barnouw, Ansichten von Deutschland (1945). Krieg und Gewalt in der zeitgenössischen Photographie. Basel 1997 [1996] sowie Detlef Hoffmann, „Fotografierte Lager. Überlegungen zu einer Fotogeschichte deutscher Konzentrationslager“, Fotogeschichte 54 (1994), 3-20. 101 Rolf Weinstock, „Das wahre Gesicht Hitler-Deutschlands“. Häftling Nr. 59 000 erzählt das Schicksal der 10 000 Juden aus Baden, aus der Pfalz und aus dem Saargebiet in den Höllen von Dachau, Gurs-Drancy, Auschwitz, Jawischowitz, Buchenwald. Singen (Hohentwiel) 1948, 177. 102 45th Infantry Division Association, „Dachau Gives Answer To Why We Fought“, 45th Division News V/ 52 (13.5.1945). u. a. prominente Journalist: innen wie Lee Miller, Margaret Bourke-White oder George Rodger aus den KZ Dachau und Buchenwald. Photographien von Leichenbergen und Häftlingen, die die Lager überlebt hatten, begleiteten die Berichterstattung und führten der Öffentlichkeit in Amerika das Ausmaß der na‐ tionalsozialistischen Gewalt mit entsprechender Schockwirkung vor Augen. 100 Berichte über die KZ nahmen für die Alliierten eine zentrale Rolle ein, den Vorwurf der illegitimen Gewaltherrschaft, die zu beenden sie mit ihrer Invasion angetreten waren, zu untermauern. Am 12. April 1945, einen Tag nach dessen Befreiung, ließ die amerikanische Generalität ihre Soldaten das KZ Buchenwald besichtigen, damit diese, heimgekehrt in die USA, Augenzeugenberichte von der Menschenverachtung des NS-Regimes ablegen konnten. Rolf Weinstock, Häftling in KZ Buchenwald, berichtet über die Besichtigungen: „Diese Greuel und Grausamkeiten wurden den amerikanischen Soldaten gezeigt, damit sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat erzählen konnten, wofür sie kämpften.“ 101 Bereits wenige Tage nach der deutschen Kapitulation titulierte eine Divisions‐ zeitung der amerikanischen Armee: „Dachau Gives Answer To Why We Fought“ - „Dachau beantwortet, warum wir kämpften“. 102 Gleichzeitig richtete sich diese Aufklärung auch an die deutsche Bevölke‐ rung. In Buchenwald schickten die amerikanischen Truppen die Weimarer Bürgerinnen und Bürger in das befreite Lager. Mit eigenen Augen sollten sie das 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 53 103 Deutsche Konzentrations- und Gefangenenlager. Was die amerikanischen und britischen Armeen vorfanden: April 1945. Graz 1945, 6. 104 Peitsch, Gedächtnis, 101. 105 Ab Sommer 1945 wurde diese Berichterstattung flankiert von ausführlichen Berichten zu den in Nürnberg angestrebten Prozessen gegen die NS-Führungsriege, die ab November geführt wurden. Wolfgang Benz, „Bestrafung der Schuldigen“, Informationen zur politischen Bildung. Deutschland 1945-1949 259 (2005), 26-29, hier: 28; Hans-Ul‐ rich Wagner, „Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Medienereignis. Die Berichterstattung durch die Rundfunksender in den westalliierten Besatzungszonen 1945/ 46“, Zeitgeschichte-online, Internet: https: / / zeitgeschichte-online.de/ geschichts kultur/ der-nuernberger-hauptkriegsverbrecherprozess-als-medienereignis, zuletzt ge‐ prüft am: 31.8.2022; Jürgen Wilke, Birgit Schenk, Akiba A. Cohen, Tamar Zemach, Holocaust und NS-Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwi‐ schen Aneignung und Abwehr. Köln 1995. 106 Dabei maßen die Alliierten den schriftlichen Publikationswegen einen besonders hohen Stellenwert bei. Deutschland galt als „Buchnation“, was das Augenmerk der Besatzungsmächte insbesondere auf die Kontrolle des literarischen Marktes sowie seiner Produktions- und Vertriebswege lenkte. Adam, Traum, 21-23; Gabriele Clemens, Britische Kulturpolitik in Deutschland 1945-1949. Literatur, Film, Musik und Theater. Stuttgart 1997 (HMRG (Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft), Beiheft 24), 67-69; Bernd R. Gruschka, „Reeducation als US-Verlagspolitik“, Neuanfang 1945. Sonderdruck aus Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Frankfurt/ M. 1995, 60-64, hier: -61. 107 Welt im Film 5 (15. Juni 1945) und 6 (22. Juni 1945) [Film], Deutschland: United States Ausmaß der Gewalt wahrnehmen, die der Nationalsozialismus in ihrem (still‐ schweigenden) Einverständnis ausgeübt hatte. Die Bildunterschrift in einer der ersten alliierten Aufklärungsbroschüren, Deutsche Konzentrations- und Gefan‐ genenlager. Was die amerikanischen und britischen Armeen vorfanden, April 1945, erklärt: „Um im deutschen Volk alle Zweifel an den Grausamkeiten unter dem Nazi-Regime zu zerstreuen, zeigt man Zivilisten auf Befehl alliierter Militärbe‐ hörden die Lager.“ 103 Derartige Dokumentationen der Lager waren die ersten genehmigten Druckerzeugnisse in Nachkriegsdeutschland, die, so Peitsch, sogar das im Zuge des militärischen Zusammenbruchs von den Alliierten verhängte generelle Publikationsverbot umgingen. 104 Rasch wurden die Lager Zentrum einer groß angelegten Medienkampagne, ausgearbeitet unter Federführung der angloamerikanischen Militärnachrichtendienste in der Psychological Warfare Division. 105 Alle verfügbaren Publikationskanäle - Texte, Photographien, Radioberichte und Filme - sollten genutzt werden, die ganze Bevölkerung mit dem wahren Gesicht des Nationalsozialismus zu konfrontieren. 106 Plakate und Anschläge präsentierten sichtbar für alle Passant: innen Photographien aus den Lagern. Die von den amerikanischen und britischen Siegermächten initiierte Wochenschau Welt im Film zeigte bereits im Juni 1945 mehrere ausführliche Berichte aus den KZ Bergen-Belsen, Ohrdruf und Gardelegen. 107 Von den zahl‐ 54 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt Information Agency (USIS), Internet: Das Bundesarchiv, Bestand Film: https: / / www.fi lmothek.bundesarchiv.de/ video/ 583436 bzw. https: / / www.filmothek.bundesarchiv.de/ v ideo/ 583437, zuletzt geprüft am: 28.1.2021. 108 Catrin Corell, Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Um‐ gangs mit der Shoah seit 1945: Eine Wirkungstypologie. Bielefeld 2009 (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, 20), 50-70; Fritz Bauer Institut, „Die Todesmühlen/ Death Mills“. Cinematographie des Holocaust, Internet: http: / / www.cine-holocaust.de/ cgi-bin/ gdq? dfw00fbw000061.gd, zuletzt geprüft am: 18.2.2021; Jeanpaul Goergen, „‚Atrocity films‘. Aufklärung durch Schrecken“, Filmblatt 10/ 28 (2005), 61-63. Zu Konzeption und Entstehung des Filmes siehe Brewster S. Chamberlin, „Todesmühlen. Ein früher Versuch zur Massen-‚Umerziehung‘ im besetzten Deutschland 1945-1946“, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 29/ 3 (1981), 420-436; Weckel, Bilder, 151-172. 109 Z.n. Herfried Münkler, Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reiches dargestellt am Beispiel der hessischen Kreisstadt Friedberg, 2., verbesserte und ergänzte Auflage. Hamburg 2005 [1985], 217. Karl Orth war NSDAP-Mitglied und Oberregierungsrat in Friedberg, der über sein Erleben der alliierten Besatzung 1945/ 45 ein etwa einhundert Seiten umfassendes Typoskript verfasste. Ebd., 268. 110 Gerhart Binder, Gebändigte Dämonen. Von der Überwindung der Gewalt. Stuttgart 1946 (Der Deutschenspiegel. Schriften zur Erkenntnis und Erneuerung, 12), 30. reichen Dokumentarfilmen (Nazi atrocity films, im zeitgenössischen Sprachge‐ brauch auch einfach „KZ-Filme“) dürfte Die Todesmühlen, entstanden 1945 unter der Regie von Hanuš Burger und unter der Aufsicht von Billy Wilder, ausge‐ strahlt im Winter 1945/ 46, der bekannteste gewesen sein. In den zum Teil noch völlig zerstörten Ortschaften in Bayern, Hessen und Berlin lief der Film nicht nur ohne Alternativprogramm in den noch funktionstüchtigen Kinos. Begleitet von zahlreichen Zeitungsankündigungen wurde er auch in Schulen, Theatern und Gefangenenlagern gezeigt. 108 Die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Lagern wurde von offizieller Seite erwünscht, angeordnet und, wenn nötig, aufgezwungen. Im zerstörten Deutschland war es schier unmöglich, ihr aus dem Weg zu gehen. „Wir hören täglich“, so berichtet der Zeitzeuge Karl Orth aus Friedberg in Hessen, „aus dem Rundfunk entsetzliche Erzählungen über die Zustände in den Konzentrationslagern.“ 109 In seiner KZ-Schrift Gebändigte Dämonen (1946) unterstreicht der Journalist und Dozent für Pädagogik Gerhart Binder, dass Aufklärung fraglos nötig sei, äußert sich aber durchaus kritisch den alliierten Meldungen gegenüber: Um die Unmöglichkeit zu betonen, sich dieser zu entziehen, nutzt er sogar die militärische Metaphorik des Artilleriebeschusses und spricht von einem „Trommelfeuer der Propaganda“. 110 Sowohl für die interne wie auch die öffentlich aufbereitete Aufklärung hatten die Allliierten einen massiven Informationsbedarf über das zerschlagene Lagersystem. Angewiesen auf Informationen aus erster Hand bei der Ermittlung der Zusammenhänge der Lager wandten sie sich an die Opfer der Lager. Die offiziellen Stellen riefen die einstigen Häftlinge auf, Informationen zusam‐ 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 55 111 Siehe etwa Provinzialverwaltung Sachsen, Abteilung Informationsdienst Presse, Film, Funk und Propaganda (Hrsg.), Das eiserne Tor zur Hölle Buchenwald. Viele gingen hinein - wenige kamen heraus! Halle 1945, 32; Provinzialverwaltung Sachsen, Abteilung: Presse und Propaganda (Hrsg.), Repräsentanten des Hitler-Staates. Sadisten. Halle 1945, 48; vgl. Binsch, „Vom Manuskript“, 364 f. Wachsmann, KL, 18 f. Vgl. auch die Forderung Walter Pollers in seiner Lagerschrift, die ehemaligen Gefangenen sollten ihre Erlebnisse „unabhängig voneinander unter Eid zu Protokoll“ geben. Poller, Arztschreiber, 173 f., Herv. im Orig. 112 Darin enthalten waren auch Auszüge aus Edgar Kupfer-Koberwitz’ Tagebuch: „Diary of E.K.“, in: 7th U.S. Army, Dachau 1945, 35-45. Dieses erschien in den 1950er Jahren als Häftling in Dachau. Geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau bzw., in zwei Bänden, als Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau. Für weitere Angaben siehe Anhang. Bibliographie der KZ- und Gefängnisliteratur 1945-1961. 113 Ausführlich dargestellt im Sammelband von Ludwig Eiber, Robert Sigel (Hrsg.), Dach‐ auer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945-1948. Göttingen 2007 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 7) sowie bei Ute Stiepani, „Die Dachauer Prozesse und ihre Bedeutung im Rahmen der alliierten Strafverfolgung von NS-Verbrechen“, in: Ueberschär, Gerd R., Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alli‐ ierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952, Frankfurt/ M. 1999, 227- 239. Zu der, ungleich geringeren, Beteiligung einstiger Häftlinge bei den Nürnberger Prozessen siehe Michaelis, „Autorität“, 269 f. Einen Überblick über die Rolle ehemaliger Verfolgter als Prozesszeugen liefert Katharina Stengel, „NS-Verfolgte als Prozesszeugen und Akteure“, in: Knellessen, Dagi; Possekel, Ralf, Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten, Berlin 2015 (Bildungsarbeit mit Zeugnissen, 1), 254-264. menzutragen über Aufbau, Umfang und Organisation des NS-Lagersystems, seiner Netzwerke innerhalb des NS-Staates und der deutschen Kriegswirtschaft, sowie über das Lagerleben und die internen hierarchischen Strukturen, die Zusammensetzung des Wachpersonals, die Lebensbedingungen und allgegen‐ wärtigen Todes- und Tötungsarten, denen die Gefangenen ausgesetzt waren. Man appellierte an die Befreiten, Aussagen zu Protokoll zu geben, selbst schriftlich ihre Erlebnisse zu dokumentieren und diese den alliierten Informa‐ tionsstellen zur Verfügung zu stellen. 111 So zitiert ein bereits im Mai 1945 im Auftrag der 7. US-Armee für den internen Nutzen zusammengestellter, 67 Seiten umfassender Bericht über das befreite KZ Dachau mehrere Abschnitte mit Aussagen und heimlich geführte Tagebücher befreiter Häftlinge direkt. 112 Den Häftlingen kam in den von den Militäradministrationen angestrengten Prozessen gegen die SS-Wachtruppen häufig die Rolle von Kronzeugen zu. In den zuerst in Dachau, in rund 400 Folgeprozessen auch an anderen Stand‐ orten der ehemaligen Lager durchgeführten Verhandlungen lieferten sie ent‐ scheidende Informationen über die Vergehen der SS-Wachmannschaften. 113 Erste umfangreiche Materialsammlungen wie etwa der Buchenwald-Report entstanden aus der Zusammenarbeit der Psychological Warfare Division mit 56 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 114 Binsch, Kitzinger, „Entlastungssehnsucht“. Zu Konzeption, Entstehung und Bedeutung des Buchenwald-Reports siehe Kranebitter, „Vermessung“. 115 Sybille Steinbacher, „‚… daß ich mit der Totenklage auch die Klage um unsere Stadt verbinde‘. Die Verbrechen von Dachau in der Wahrnehmung der frühen Nachkriegs‐ zeit“, in: Frei, Norbert; Steinbacher, Sybille, Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 1), 11-33, hier: 21; Hans Woller, Gesellschaft und Politik in der ameri‐ kanischen Besatzungszone. Die Region Asbach und Fürth. München 1986 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 25), 74ff. 116 Abseits ihrer journalistischen Tätigkeiten verarbeiteten die drei Genannten ihre Ge‐ fangenschaft auch in Einzelpublikationen. Neben Kogons bereits erwähntem Der SS-Staat legte Weisenborn 1948 mit Memorial eine Darstellung seiner Hafterlebnisse im Berliner Aufbau-Verlag vor. Karl Schnog veröffentlichte 1945 in Luxemburg die Schrift Unbekanntes KZ. Erlebtes und zwei Jahre später den Gedichtband Jedem das Seine im Ulenspiegel-Verlag, welcher sowohl mit seinem Titel sowie dem von Eugen Kogon verfassten Nachwort auf Schnogs Gefangenschaft in Buchenwald verweist. Karl Schnog, Jedem das Seine, Berlin 1947, darin: Eugen Kogon, „Selbstgespräch eines satirischen Dichters auf der Brücke der Zeit“, 92-95. Inhaftierten des KZ. Eugen Kogon, einer der ehemaligen Buchenwald-Häftlinge, der federführend an der Erstellung des Report beteiligt war, nutzte diese Arbeit als Grundlage für sein 1946 erschienenes Werk Der SS-Staat. Kogon, von den Nationalsozialisten mehrfach inhaftiert, erschien als Soziologe und Politikwis‐ senschaftler, aber auch als bekennender Christ, besonders zur „sachlichen“ Aufarbeitung geeignet und wurde entsprechend von den US-amerikanischen Lizenzierungsbehörden gefördert. 114 Darüber hinaus setzten die westlichen Siegermächte die Häftlinge bevorzugt an politischen oder kulturellen Schnittstellen des besetzten Deutschland ein. Befreite aus Gefängnissen und Lagern zählten zu den Ersten, die als kommissari‐ sche Bürgermeister und Ortsvorsteher die Leitung der kommunalen Verwaltung übernahmen. 115 Ausgestattet mit den ersten alliierten Lizenzen wurden ehema‐ lige Gefangene zudem prominente Publizist: innen der Nachkriegszeit. Eugen Kogon etwa war Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, deren erste Ausgabe im April 1946 erschien. Das erste Heft der Satirezeitschrift Ulenspiegel erschien sogar bereits Weihnachten 1945 unter amerikanischer Lizenz, herausgegeben von Herbert Sandberg, der ebenfalls in Buchenwald inhaftiert gewesen war, und Günther Weisenborn, Gestapo-Gefangener der Zuchthäuser in Berlin und Luckau. 1946 stieß mit Karl Schnog als Chefredakteur ein weiterer ehemaliger KZ-Häftling zur Zeitschrift. 116 Die Befreiten standen außerhalb jeden Verdachts, Parteigänger oder Kollaborateure des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Sie sollten bei der personellen Entnazifizierung in ihren Heimatgemeinden und Redaktionen helfen und so die alliierte Oberhoheit im besetzten Deutschland mit absichern. In einigen dieser Befreiten fanden die Alliierten zudem intellektuelle 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 57 117 Binsch, Kitzinger, „Entlastungssehnsucht“, 160; vgl. Binsch, „Vom Manuskript“, 356,-363f. 118 „Die Ziele der Besetzung Deutschlands, die dem Kontrollrat als Leitlinie dienen, sind: […] die Nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen und nachgeordneten Organisationen zu zerschlagen, alle Nazi-Einrichtungen aufzulösen, zu gewährleisten, daß sie in keiner Form wiedererstehen, und jede nazistische und militaristische Betätigung oder Propaganda zu verhindern; […] den späteren Wiederaufbau des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage und eine spätere fried‐ liche Mitarbeit Deutschlands im Leben der Völker vorzubereiten.“ „2. August 1945: Kommuniqué über die Konferenz von Potsdam“, in: Bundesministerium des Innern, Die Konferenz von Potsdam, Kriftel 1992 (Dokumente zur Deutschlandpolitik, II. Reihe/ Band 1/ Dritter Drittelband), 2101-2148, hier: 2106f. Bereits auf der Außenministerkon‐ ferenz in Moskau 1943 sowie den folgenden alliierten Kriegskonferenzen hatte Einigkeit darüber bestanden, Deutschland nach dessen Kapitulation unter alliierter Anleitung zu demilitarisieren, denazifizieren und einen Demokratisierungsprozess anzustoßen. Boris Meissner, „Die Frage der Einheit Deutschlands auf den alliierten Kriegs- und Nachkriegskonferenzen“, in: Göttinger Arbeitskreis, Die Deutschlandfrage von Jalta und Potsdam bis zur staatlichen Teilung Deutschlands 1949, Berlin 1993 (Studien zur Deutschlandfrage, 12), 7-28. und liberale Kräfte, die besonders geeignet schienen, als Repräsentanten des Neuen aufzutreten. Sie entsprachen, so Binsch und Kitzinger, aus Sicht insbe‐ sondere der angloamerikanischen Besatzungsmächte „den Anforderungen, als ‚teacher‘ die deutsche Bevölkerung mit der ‚atrocity guilt‘ zu konfrontieren und sie von einer demokratischen Einstellung zu überzeugen.“ 117 Die Opfer wurden zu „Lehrern“ für die Deutschen, dazu beauftragt, als Teil der Aufklärung den von den Alliierten angestrebten Wandel in Deutschland mitzutragen. Nach dem militärischen Zusammenbruch NS-Deutschlands traten die alli‐ ierten Besatzungsmächte einhellig an, jegliche Voraussetzung zu unterbinden, dass erneut ein Regime wie das der Nationalsozialisten die Herrschaft ergreifen und ein Krieg von deutschem Boden ausgehen könne. Das Wiedererstarken einer nationalistischen Konkurrenz auf deutschem Boden sollte verunmöglicht werden. Ihre auf der Konferenz von Potsdam formulierten, programmatischen „5 D“ bestimmten die Eckpunkte dieses Vorgehens: das Zerschlagen der Mili‐ tärmacht (Demilitarisierung), der Wirtschaftskraft (Demontage), des politischen Zentralstaates (Dezentralisierung), des Verwaltungsapparats (Denazifizierung) sowie die Verpflichtung auf einen von den Alliierten vorgegebenen ideolo‐ gischen Standpunkt als Grundlage jeglicher Neukonstituierung der Nation (Demokratisierung). Ihr Antifaschismus stand im Zeichen zu verhindern, dass von Deutschland je wieder ein Krieg ausgehen oder überhaupt eine neue Konkurrenz entstehen könne für ihre Macht- und Einflusssphären. 118 Dabei war im Frühjahr 1945 noch unklar, was mit Deutschland geschehen sollte. Weder über die künftige Staats- oder Wirtschaftsform für das besetzte Land 58 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 119 Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. Ausarbeitung. Die Entnazifizierung. Internet: https: / / www.bundestag.de/ resource/ blob/ 414744/ 78fc7c8a664a0d7d87621bd9 ebc4ed40/ wd-1-072-11-pdf-data.pdf, zuletzt geprüft am: 30.9.2021. Siehe dazu auch die Beiträge von Meissner, „Frage“ sowie Wolfgang Ramonat, „Die deutsche Frage im Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion“ in: Göttinger Arbeitskreis, Die Deutschlandfrage von Jalta und Potsdam bis zur staatlichen Teilung Deutschlands 1949. Berlin 1993 (Studien zur Deutschlandfrage, 12), 29-56. 120 Mit der „Direktive Nummer 38“ des Alliierten Kontrollrates vom 12. Oktober 1946 wurde die amerikanische Kategorisierung der Deutschen in fünf Entnazifizierungs‐ gruppen entlang ihres Verantwortungsgrades auch in den übrigen Besatzungszonen übernommen. Wolfgang Benz, „Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erzie‐ hung“, Informationen zur politischen Bildung. Deutschland 1945-1949 259 (2005), 29-40, hier: 30. Für eine Übersicht der Entnazifizierungsverfahren in den vier Zonen siehe Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945-1949. Stuttgart 1983 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1), 108-120. noch über die dazu zu ergreifenden Maßnahmen waren sich die Siegermächte einig. Unstrittig war indessen, dass es gelte, die militärischen Potentiale zu beseitigen, alle nationalsozialistischen Institutionen und Organisationen zu zerschlagen und das NS-Personal in Staat und Verwaltung auszutauschen. Der Umbau der kulturellen Institutionen und Veränderungen des Bildungswesens sollte eingeleitet werden. 119 In der amerikanischen Besatzungszone wurde ein „Fragebogen“ an alle im öffentlichen Leben, vor allem der Verwaltung, tätigen Deutschen ausgegeben, worin die institutionelle Beteiligung im Nationalsozia‐ lismus, Mitgliedschaften in Partei, staatlichen Organen, Massenorganisationen, die Zugehörigkeit zu amtlichen Organisationen und Gruppen etc. geklärt werden sollte. 120 Die Denazifizierungsmaßnahmen waren in erster Linie ein Wandel von oben, der sich im Ablösen des NS-Personals und der Zerschlagung nationalsozialistischer Strukturen in allen Sphären der Gesellschaft äußerte. 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 59 121 Diese Formulierung wirkt zunächst überspitzt, waren doch die zweifellos demokrati‐ schen Kräfte unter den Deutschen, jene also, die der Überzeugung und Umerziehung nicht bedurften, von den Maßnahmen prinzipiell ausgeschlossen. Hinsichtlich der intendierten Zielgruppen der alliierten Re-education-Maßnahmen siehe Weckel, Bilder, 329-347. Nichtsdestoweniger war das erklärte Ziel der Aktionen die Orientierung aller Deutschen auf einen Kanon freiheitlich-demokratischer Grundwerte. Der Begriff Re-education wurde indessen zunächst ohne eindeutige Definition angewandt: Sowohl hinsichtlich der Zielsetzungen einer solchen Umerziehung wie auch der Maßnahmen, diese zu erreichen, herrschten innerhalb der alliierten Stellen unterschiedliche An‐ sichten, die zudem in den verschiedenen Zonen zuweilen drastisch variierten. Laut Weckel erfolgte eine eindeutige Definition auf amerikanischer Seite in schriftlicher Form erst mit dem „Long-Range Policy Statement for German Re-education“, welches intern zwar seit Beginn der Besatzung kursierte, aber, nach mehrfacher Überarbeitung, erst am 21. August 1946 als „Direktive SWNCC 269/ 5“ publik gemacht wurde. Indessen dürften die meisten Beteiligen bzw. Adressatinnen auf deutscher wie alliierter Seite mit dem Begriff Re-education Maßnahmen assoziiert haben, die über einen personellen Wandel und die Reformierung des Bildungssystems hinausgingen und auf einen Men‐ talitätswandel abzielten. Dazu führt Weckel die für die britische Regierung verfasste Denkschrift „What to do with Germany? “ des Soziologen T.H. Marshall an, worin dieser bereits 1942 dezidiert forderte: „[R]e-education must be through action and experience, not through schooling. In other words, it is not a question of simply teaching to the Germans a body of proved and accepted doctrines.“ Z.n. ebd., 333 f. Darüber hinaus wurden die Umerziehungsmaßnahmen selbst verändert, nachdem die alliierten Stellen begannen, die deutschen Reaktionen auf diese auszuwerten: Im ersten Besatzungsjahr standen noch rein punitive Absichten im Vordergrund, weswegen die Konfrontation mit schockierenden Informationen in Verbindung mit Schuldvorwürfen zentral für die Maßnahmen der Re-education war. Im Winter 1945/ 46 kamen die Alli‐ ierten zu dem Schluss, dass die kollektive Beschuldigung der Deutschen wirkungslos bis kontraproduktiv für ihr Ziel eines geistigen Wandels sei. Maßgeblich bedingt durch die Reaktionen auf Die Todesmühlen (siehe Kap 4) nahmen die alliierten Stellen daraufhin Abstand von konfrontativen Maßnahmen und änderten ihren Kurs zu einem Programm, das auf das Aufzeigen der Vorteile einer Demokratie nach amerikanischem Vorbild gemünzt war. Dieses Programm firmierte unter dem Begriff Re-orientation und stand bereits deutlich unter den Vorzeichen der Frontverhärtung gegenüber der Sowjet‐ union und dem Kalten Krieg. Siehe dazu Cornelia Brink, „‚Ungläubig stehen oft Leute Darüber hinaus leiteten insbesondere die angloamerikanischen Siegermächte zur Überwindung des Nationalsozialismus eine geistige Umorientierung der Bevölkerung ein. Re-education lautete ihr Anspruch, alle Deutschen von der Ver‐ werflichkeit des NS-Regimes und der Notwendigkeit einer Demokratisierung zu überzeugen und so eine Bewältigung des Faschismus von unten anzustoßen. 121 Die Initiatoren dieses Erziehungsprogramms, die Nachrichtenoffiziere in der 60 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt vor den Bildern von Leichenhaufen abgemagerter Skelette …‘. KZ-Fotographien auf Plakaten - Deutschland 1945“, in: Fritz Bauer Institut, Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung ( Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt/ M. 1996, 189-222; Katharina Gerund, „Reeducation und Reorientation“, Historisches Lexikon Bayerns, Internet: http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Ree‐ ducation_und_Reorientation, zuletzt geprüft am: 16.8.2021; Elke Kimmel, „Re-Edu‐ cation und Re-Orientation“, Bundeszentrale für politische Bildung (Dossier: Der Marshallplan - Selling Democracy), Internet: Bundeszentrale für politische Bildung, https: / / www.bpb.de/ geschichte/ zeitgeschichte/ marshallplan/ 40015/ re-education, zuletzt geprüft am: 16.8.2021; Arnulf Kutsch, „Einstellungen zum Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit. Ein Beitrag zu den Anfängen der Meinungsforschung in den westlichen Besatzungszonen“, Publizistik 40/ 4 (1995), 415-447. 122 Am 13.-Juli 1945 umgewandelt in die Information Control Division (ICD). 123 Vgl. Weckel, Bilder, 12. Psychological Warfare Division  122 , bauten dazu insbesondere auf das Aufklä‐ rungsmaterial über die Lager. Auf Bildern und Plakaten, in Filmen und im Rund‐ funk sowie in Broschüren und Buchpublikationen forderten sie emphatisch von den Deutschen, diese Fakten zu betrachten und das Ausmaß der nationalsozia‐ listischen Gewalt in den Lagern zur Kenntnis zu nehmen. Aufmerksamkeit und Kritik der Re-education richtete sich insbesondere auf diese extremen Spitzen der Gewalt: Mehr als an allen anderen Aspekten der NS-Herrschaft offenbarte sich für die alliierten Nachrichtenoffiziere an diesen Gewaltexzessen die Wahrheit über das NS-Regime. Diese Art der Offenlegung verdeutlicht den Blick der Alliierten auf den Nationalsozialismus als außerordentliche Gewalt, welche sich durch die Errichtung der Lager moralisch vollständig delegitimiert hatte. Um zu verhindern, dass sich derartige Exzesse wiederholten, konfrontierten die Alliierten die Deutschen mit dem Faktenmaterial. Die Offenlegung der KZ sollte jegliche Parteinahme für den Faschismus unterbinden, die Notwendigkeit seiner endgültigen Überwindung verdeutlichen sowie eine Akzeptanz für die alliierten Siegermächte schaffen, deren Invasion das Regime und seine Lager beendet hatte. Bewusst setzten die alliierten Umerzieher dazu auf die Schockwirkung des Gezeigten. Opferzahlen, Gewaltschilderungen und insbesondere das Bildmate‐ rial von überlebenden und toten Häftlingen sollten aufrütteln und betroffen machen. Darin bauten die Alliierten auf einen mit den Deutschen geteilten Maßstab, der das Gezeigte als grausam und abzulehnen erkannte: Niemand, so die Logik hinter der intendierten Schockwirkung, der die KZ-Gräuel anschaute, könne Partei ergreifen für das System, das diese verursacht hatte. 123 Diese Konfrontation war ein Appell an den Willen der Deutschen, die Verwerflichkeit des Nationalsozialismus anzuerkennen und sich so von der Notwendigkeit des Neuen unter alliierter Anleitung überzeugen zu lassen. Sie sprach die Deutschen an als potentielle Antifaschist: innen, die es für das Neue zu erreichen gelte. 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 61 124 Burger, Hanuš; Wilder, Billy (Regie), Die Todesmühlen [Film], USA: Office of Military Government for Germany (U.S.) (OMGUS), 1945, Min. 19: 21-20: 42. 125 Weckel weist darauf hin, dass sich die alliierten atrocity-Filme in Art und Schärfegrad ihrer Beschuldigungen sowie dem Teil der darin angesprochenen Deutschen durchaus unterscheiden. Weckel, Bilder, insb. 178-186. Bereits der Begriff einer „Um-Erziehung“ verweist darauf, dass die Maßnahmen des Programms das Ziel hatten, bei den Deutschen die Voraussetzungen für die Integration in den Demokratisierungsprozess und damit in ein künftiges Bollwerk gegen den Faschismus zu schaffen. Ausgangspunkt dafür war indessen das Ansprechen jedes Deutschen als Teil eines schuldbehafteten Kollektivs. Nach den Aufnahmen aus den Lagern zeigt der Film Die Todesmühlen NS-Propagandamaterial von Massenkundgebungen, das mit Aufnahmen von Deutschen überblendet wird, die an den Zwangsbesich‐ tigungen der befreiten Lager teilgenommen haben. Der Erzähler kommentiert diese Überblendungen von Jubel und Grausamkeiten in den Worten eines zur Einsicht gekommenen Deutschen: „Ja, das war damals: Beim Siegeszug der SA durchs Brandenburger Tor, da marschierte ich mit. Ja, ich erinnere mich: Beim Nürnberger Parteitag hab’ ich ‚Heil! ‘ geschrien. Und dann, an einem andern Tag, als die Gestapo meinen Nachbarn holte, hab’ ich mich abgewendet und gefragt: ‚Was geht’s mich an? ‘ Erinnert ihr euch noch? 1933, 1936, 1939 war ich dabei. Was habe ich dagegen getan? Millionen Deutsche, die dem Bösen zujubelten. Millionen Deutsche, die sich an Hass- und Rachegesängen berauschten. Millionen von Deutschen, die dem freien Wort, dem freien Geist Tod und Verderben schwuren. Millionen Deutsche, die ihre Hand liehen, um unschuldige Menschen, wehrlose Völker zu überfallen und zu morden. Die Saat ist aufgegangen.“ 124 Das alliierte Aufklärungsprogramm trat den Deutschen als Anklage entgegen: Die Kriegsverbrecher der NS-Führungsriege wurden individuell angeklagt. Der Verdacht einer willentlichen Beteiligung am Nationalsozialismus bezog sich aber auf alle Deutschen. 125 Als Teile eines Staatsvolkes, das insgesamt den Na‐ tionalismus getragen hat, seien alle mitverantwortlich an den Gewaltexzessen der Lager, insofern sie das Regime bejubelt oder wenigstens hingenommen, bei seinen Programmen mitgemacht oder weggesehen hatten, wodurch dieses System sich erst hatte konstituieren und so lange bestehen können. Programmatisch erklärte Robert McClure, der Leiter der Psychological War‐ fare Division, in einer internen Direktive Ende Mai 1945 die unausweichliche Feststellung dieses nationalen Zusammenhangs zum Ziel der alliierten Maß‐ nahmen. 62 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 126 „Guidance of propaganda Treatment of Individual German Responsibilities”, 31.5.1945, NARA: RG 331/ SHAEF, Entry 82, Box 10, Folder 091.112 Missions, z.n. Weckel, Bilder, 339, Herv. J.V. 127 Peitsch, Nachkriegsliteratur, 69. „Finally we should make clear that Germans can look forward to a decent, civilized future only if they learn from the lessons of the past. By accepting Germany’s guilt as a nation as his personal guilt, the individual begins the task of spiritual reconstruction. By accepting the duty of restitution, he begins to make atonement for the crimes committed in his name. By assuming personal responsibility for the fight against militarism and racism, he begins the creation of German democracy.“ 126 In den Augen der Verantwortlichen der Re-education war auch individuelle Wandlung nur möglich durch die Identifikation nationaler Schuld als persön‐ liche Verantwortung. Die in den Maßnahmen häufig auftauchenden Formulierungen „Schuld“ und „Verantwortung“ waren keine rein punitiven Termini. Vielmehr waren sie der Ausgangspunkt eines jede/ n Einzelne/ n betreffenden Wandlungs- und Besserungsantrages. Dazu hält Peitsch fest: „In den Medien der Besatzungsmächte wurde offiziell ein Reden über Schuld institu‐ tionalisiert, das historische Erklärung, moralische Bewertung und politische Lehren für zukünftiges Verhalten verband. Schuld konnte deshalb erstens Verursachung meinen, eine Antwort auf die Frage: ‚Wie konnte es geschehen? ‘, zweitens sich auf die Verletzung von Normen beziehen und drittens Konsequenzen begründen, ein Ver‐ halten zu den Wirkungen und Folgen. In dem öffentlichen Reden über Schuld ging es um die Stellungnahme von Deutschen zu dem von der alliierten Anklage hergestellten Zusammenhang zwischen Maßnahmen der Denazifizierung und Demilitarisierung, die die Wiederholung eines von Deutschland ausgehenden Kriegs verhindern sollten, auf der einen Seite und zur Demokratisierung, dem ‚Neuaufbau‘ Deutschlands auf ‚einer demokratischen und friedlichen Grundlage‘, auf der anderen.“ 127 Die eingangs erwähnte Broschüre Deutsche Konzentrations- und Gefangenen‐ lager aus dem Frühsommer 1945 formuliert die gleiche Anklage, hält darüber hinaus aber auch den Besserungsantrag fest, mit dem das alliierte Umerzie‐ hungsprogramm den Deutschen entgegentrat: „Niemand hält alle Deutschen für Nazis. Niemand behauptet, alle Deutschen hätten solche fürchterlichen Verbrechen begangen, wie sie hier in Bildern gezeigt werden. Aber die Menschen sind für die Gesellschaft verantwortlich, in der sie leben. Das deutsche Volk hat den Nazis die Machtübernahme ermöglicht. Es hat die Nazis unterstützt und es hat ihre kurzlebigen Triumphe bejubelt. […] Auch der verbreche‐ 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 63 128 Deutsche Konzentrations- und Gefangenenlager, 5. 129 Den Aufruf zur Teilhabe an diesem Vorhaben formulierten die Alliierten durchaus im Gestus von Zugeständnissen gegenüber der deutschen Bevölkerung. Beispielsweise regelte das „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 die Spruchkammerverfahren, mit denen die Alliierten die Entnazifizierung in die Hände deutscher Behörden legten. Das Gesetz wurde mit dem Ziel erlassen, alle Deutschen, die den Nationalsozialismus aktiv unterstützt hatten, von der Beteiligung am politischen, ökonomischen und kulturellen Leben auszuschließen und zur Wieder‐ gutmachung in Form von Geld- oder Haftstrafen zu verpflichten. Der deutschen Bevöl‐ kerung sollte diese judikative Entscheidung hingegen nicht als Oktroi der Siegermächte entgegentreten, sondern als Partizipationsmöglichkeit am gemeinsamen Anliegen der Entnazifizierung: „Die Amerikanische Militärregierung hat nunmehr entschieden, daß das deutsche Volk die Verantwortung für die Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus auf allen Gebieten mitübernehmen kann.“ Länderrat des amerikanischen Besatzungsgebietes, „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus. Mit Ausführungsvorschriften, Formblättern, der Anweisung für die Auswerter der Mel‐ debogen und der Rangliste in mehrfarbiger Wiedergabe. Vom 5. März 1946“, München 1948, hier: 3, Internet: The History Collection, University of Wisconsin-Madison, http: / / digital.library.wisc.edu/ 1711.dl/ History.GesetzBefreiung, zuletzt geprüft am: 9.2.2022. 130 Vgl. Weckel, Bilder, 106-115. risch Fahrlässige, auch wer einem Verbrechen Vorschub leistet, ja selbst der untätige Zuschauer - sie alle tragen ein Teil der Verantwortung, nicht nur der Verbrecher selbst. […] Das deutsche Volk wird Jahre brauchen, zu beweisen, daß es sich von dem Geist abgewendet hat, der imstande war, solche Taten zu begehen; erst dann kann es wieder in den Kreis der zivilisierten Völker aufgenommen werden.“ 128 Das alliierte Re-education-Programm nahm die Deutschen mit dem Maßstab einer neuen, demokratischen Gesellschaft in den Blick. Darin war das Urteil der Alliierten zunächst, dass sich eine solche mit den besiegten Deutschen nicht errichten lasse. Als schuldbehaftetes Kollektiv müsse dieses Staatsvolk vor den im Namen einer internationalen Öffentlichkeit sprechenden neuen Siegermächten erst „beweisen“, moralische Integrität und Zivilisiertheit wie‐ dererlernt zu haben. Gleichzeitig mit der Beschuldigung zeigten die Alliierten den Deutschen als einzige Chance dazu die Bereitschaft zur Denazifizierung und das Durchlaufen ihrer Umerziehung. Dann allein schien es möglich, als Teile des Neuen wieder in den internationalen Reigen der „Zivilisationen“ auf‐ genommen zu werden. 129 Nicht umsonst trug einer der alliierten atrocity-Filme, der für deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft zusammengestellt wurde, den programmatischen Titel Deutschland erwache.  130 Die Beschuldigung der mi‐ litärischen Sieger beinhaltete somit bereits die Perspektive einer Verpflichtung dieses Staatsvolks auf einen neuen nationalen Standpunkt: Dieses Volk galt es 64 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt gänzlich umzuerziehen, auf Antifaschismus und Demokratie umzuorientieren, damit eine andere Version der Nation wiederaufgebaut werden könne. 2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt 65 3 Verordnete Selbstverpflichtung. Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung Im besetzten Deutschland existierten durchaus Stimmen, die den alliierten Antrag auf eine politische wie kulturelle Neuorientierung aufnahmen und sich auf den Standpunkt von Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen und Umerziehung zur Demokratie stellten. Diese nahmen die alliierte Politik und Praxis der Besetzung der neuen Schlüsselstellen in Kultur und Verwaltung durch die ehemaligen Opfer als Signal, dass, wer als Opfer des Nationalso‐ zialismus galt, gleichzeitig potentieller Teil des Neuaufbaus werden könne. Institutionen der politischen wie geistlichen Sphäre meldeten ihren Anspruch auf Führungspositionen innerhalb des neuen Deutschland an, indem sie sich als Teile der „brauchbaren“ Restbevölkerung präsentierten, mit dem die Alliierten den angestrebten Wandel in Deutschland bewerkstelligen könnten. Die sich neu konstituierenden Parteien wie auch die beiden christlichen Großkirchen erklärten ihre Bereitschaft zum Stiften eines neuen kulturellen, geistigen oder politischen nationalen Zusammenhangs. Dazu war es nötig, sich als zweifelsfrei vom Faschismus nicht affizierte Position zu beglaubigen, weswegen sich diese Institutionen in ihren ersten Verlautbarungen nach Kriegsende ausdrücklich dem alliierten Opferdiskurs anschlossen. Ihre Legitimationen wurden ausnahmslos über den Verweis auf die (eigenen) Opfer geführt. Man konstatierte die prinzipielle Nichtkontinuität nationalso‐ zialistischer Maßstäbe durch die Darlegung des eigenen Widerstands im Natio‐ nalsozialismus und der daraus resultierenden Verfolgung durch das Regime. Die Gründe dafür lagen durchaus nahe: Zum einen stellten die ehemaligen Opfer einen überdurchschnittlich großen Anteil innerhalb der sich neu kon‐ stituierenden Parteien und Kirchenstrukturen. Zum anderen schien dieser Ausweis schlicht notwendig aufgrund der personellen Entnazifizierung der Institutionen. Der Verweis auf die nationalsozialistischen Opfer signalisierte indessen nicht nur Interessenkonvergenz mit den alliierten Siegermächten. Vielmehr erwuchs in den Verlautbarungen der Parteien und Kirchen aus den Opfern ein Führungsauftrag, der die Überwindung des Nationalsozialismus lediglich durch die Realisierung der eigenen Maßstäbe ermöglicht sah. Man schrieb sich in den offiziellen Opferdiskurs ein und stiftete eine Teleologie des Opfers, welche den eigenen Anspruch auf Teilhabe und Führung innerhalb der sich neu konstituierenden Nation stützte. 131 Etwa der „Schwur von Mauthausen“, der „Schwur von Buchenwald“ oder das „Bu‐ chenwalder Manifest“ („Für Freiheit, Frieden, Sozialismus! Manifest der demokrati‐ schen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald“). Diese unter Federführung der politischen Gefangenen entstandenen Dokumente schlussfolgern auch politische Verantwortung in der Nachkriegsgesellschaft als direkte Konsequenz der Lagererfahrung. Zum „Schwur von Mauthausen“ siehe Internationales Häftlings‐ komitee Mauthausen, „Mauthausen-Schwur“, Internet: KZ-Gedenkstätte Mauthausen. https: / / www.mauthausen-memorial.org/ de/ Wissen/ Das-Konzentrationslager-Mautha usen-1938-1945/ Die-Befreiung, zuletzt geprüft am: 15.2.2022. Zum „Buchenwalder Ma‐ nifest“, das mit maßgeblichem Beitrag des Sozialdemokraten Hermann Brill entstand, der kurzzeitig Regierungspräsident in Thüringen und danach Chef der hessischen Staatskanzlei war, siehe Komitee der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, „Für Freiheit, Frieden, Sozialismus! Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald“, In‐ ternet: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. https: / / www.buche nwald.de/ fileadmin/ buchenwald/ download/ der_ort/ Manifest.pdf, zuletzt geprüft am: 15.2.2022; vgl. Steffen Kachel, „Hermann Brill und das Buchenwalder Manifest. Ein Ansatz des demokratischen Sozialismus vom April 1945“, in: Elm, Ludwig, et al., „Nie wieder! “. Der Buchenwald-Schwur 1945 und heute, Jena 1995, 42-48. Die wohl weitreichendsten Auswirkungen für das Selbstverständnis der ehemaligen Gefangenen in der Nachkriegsgesellschaft und insbesondere der SBZ/ DDR hatte der „Schwur von Buchenwald“. Programmatisch heißt es darin: „‚Wir werden den Kampf erst aufgeben, wenn der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist.‘ Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal. Dies schulden wir unsern ermordeten Kameraden und ihren Familien.“ Internationales Lagerkomitee Buchenwald, „Buchen‐ walder Nachrichten Nr. 5. Buchenwald, den 20.4.45“, Internet: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. https: / / www.buchenwald.de/ fileadmin/ buchenwald/ download/ der_ort/ Buchenwaldschwur.pdf, zuletzt geprüft am: 15.2.2022. Der „Schwur“ wurde nach 1949 zum zentralen Referenzdokument des ostdeutschen Teilstaates. Dazu heißt es etwa in dem Bildband Deutsche Demokratische Republik des Exportverlags Edition Leipzig von 1989: „Die DDR, der neue deutsche Staat, in dem das werktätige Volk 3.1 Die neuformierten Parteien Auch wenn jegliche politische Organisation und Betätigung durch alliierte Militärstatuten zunächst untersagt waren, bildeten sich zum Teil noch während der letzten Kriegshandlungen erste Interessenvertretungen und formierten sich Gruppierungen mit dem Ziel der Neu- und Wiedergründung von Parteien. Diese Bestrebungen standen maßgeblich unter dem Einfluss befreiter politischer Häftlinge. Personen des politisch linken Spektrums waren die Ersten, gegen die die Nationalsozialisten vorgegangen waren. Seit 1933 waren Parteifunktionäre, Gewerkschaftsmitglieder, Presseangehörige und sonstig politisch Engagierte in den ersten (als „wild“ bezeichneten) Konzentrationslagern inhaftiert worden. Diese hatten mitunter noch im Lager Manifeste verfasst zur politischen Neuge‐ staltung der Nation, die sie nun nach ihrer Befreiung realisieren wollten. 131 68 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung unter Führung der Arbeiterklasse die Macht ausübt, nahm die progressiven Traditionen der deutschen Geschichte auf, zog die Lehren und richtete von Anfang an seine Politik darauf, eine dauerhafte Friedensordnung in Europa schaffen zu helfen, getreu dem Schwur, den die in Konzentrationslager und Zuchthäuser Gesperrten, in die Illegalität und das Exil Getriebenen geleistet hatten: ein friedvolles Land zu errichten, von dessen Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, in dem auch die geistigen Wurzeln des Faschismus ausgerottet sind und demokratische Verhältnisse herrschen. Deutsche Antifaschisten waren die Unermüdlichen der ersten Stunde! Sie waren schon daran gegangen, Wege und Ziele abzustecken, die Keime des Neuen zu setzen, als der Krieg noch in den letzten Zügen lag.“ Klaus Ullrich, et al. (Hrsg.), Deutsche Demokratische Republik. Leipzig 1989, 23, Herv. J.V. Zur Bedeutung des „Schwurs“ als verpflichtendes Dokument für die Überwindung des Nationalsozialismus und den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung siehe auch Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2010 [2009] (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politi‐ sche Bildung, 1049), 421 ff.; Birgit Klaubert, „Auf dem Ettersberg war es immer kalt … Der Buchenwald-Schwur 1945 und heute“, in: Elm, Ludwig, et al., „Nie wieder! “. Der Buchenwald-Schwur 1945 und heute, Jena 1995, 3-5; Wolfgang Röll, Sozialdemokraten im Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945. Unter Einbeziehung biographischer Skizzen. Göttingen 2000, 245ff. 132 Eschenburg, Jahre, 105-108; Woller, Gesellschaft und Politik, 166 f. Einen Aufriss des politischen Selbstverständnisses der „Antifa-Gruppen“ liefert Lothar Rolke, Protest‐ bewegungen in der Bundesrepublik. Eine analytische Sozialgeschichte des politischen Widerspruchs. Opladen 1987 (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, 97), 122-131. 133 Ebd., 131. 134 Die Gründung von Parteien war zuerst in der Sowjetischen Besatzungszone ab dem 10. Juni 1945 zugelassen, die drei westlichen Besatzungszonen folgten im Jahresverlauf: die US-amerikanische Besatzungszone im August, die britische im September und die französische im Dezember 1945. Dietrich Staritz, „Parteien für ganz Deutschland? Zu den Kontroversen über ein Parteiengesetz im Alliierten Kontrollrat 1946/ 47“, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 32/ 2 (1984), 240-268, hier: 244. Im Laufe des In allen Besatzungszonen bildeten sich hunderte von „Antifaschistischen Ak‐ tionsausschüssen“, die ihre Hilfe anboten bei der Organisation lokaler Verwal‐ tungen und kommunalen Regierungsaufgaben sowie der Durchführung der Entnazifizierung. 132 Diese ersten, vielfach spontanen Formierungen wurden bald von den Alliierten den offiziellen Verwaltungsorganen unterstellt, aufgelöst oder verboten. Rolke fasst die Entwicklung dieser ersten, vielfach spontanen, politischen Zusammenkünfte zusammen: „Die Durchsetzungskraft des admi‐ nistrativen und ökonomischen Aufbaus führte zur repressiven Integration bzw. zum Überflüssigwerden der Antifa-Gruppen. Damit ist ausgesagt, daß solche lebensweltlichen Kollektivformen in Fragen der materiellen Reproduktion den Institutionen des Systems unterliegen mußten.“ 133 Politische Parteien wurden zunächst auf lokaler Ebene von den Alliierten ab Sommer 1945 wieder zugelassen. 134 Die Parteien der unmittelbaren Nachkriegs‐ 3.1 Die neuformierten Parteien 69 Jahres 1946 begann der Aufbau der Gemeinden und danach der Länder, in denen Wahlen zu Landtagen und Parlamenten wieder ermöglicht wurden. Einen Überblick zur Wiederdurchführung von Wahlen in den einzelnen Ländern liefert Eschenburg, Jahre, 229-243. 135 Eschenburg folgend legten die Westalliierten durchaus Wert auf ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis der Parteien und versuchten, Kommunalverwaltungen wie auch Zei‐ tungsredaktionen nach einem Schema von je 25 % Sozialdemokraten, Kommunisten, Katholiken und Protestanten zu besetzen. Ebd., 120f. 136 „Vergleicht man die Dokumente der SPD, KPD, CDU, LDPD und von Gewerkschafts‐ vereinigungen der Jahre 1945/ 46 (zusätzlich das ‚Ahlener Wirtschaftsprogramm‘ der CDU von 1947) und nimmt noch erste Landesverfassungen des Jahres 1946 hinzu, so lassen sich, bei allen zweifellos vorhandenen Unterschieden, […] gewichtige Ge‐ meinsamkeiten feststellen, die wir bezeichnen können als Grundposition eines antifa‐ schistischen Konsenses.“ Thomas Doerry, Antifaschismus in der Bundesrepublik. Vom antifaschistischen Konsens 1945 bis zur Gegenwart. Frankfurt/ M., 1980, 9, Herv. im Orig.; vgl. Detlev Peukert, „Antifaschistischer Konsens als Voraussetzung einer demokrati‐ schen Nachkriegsentwicklung“, Blätter für deutsche und internationale Politik 22/ 11 (1977), 1367-1386; Rolke, Protestbewegungen, 117-122. 137 Liberal-Demokratische Partei Deutschlands, „Aufruf der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands an das Deutsche Volk (5. Juli 1945)“, in: Friedrich Naumann Stiftung „Für die Freiheit“, Archiv des Liberalismus. Bestand Johannes Dieckmann; Signatur LN4-78, 2007, 2. zeit bildeten in vielerlei Hinsicht ein Kontinuum des politischen Spektrums der Weimarer Republik minus der Rechten. Die vier in allen Besatzungszonen gegründeten Parteien waren KPD, SPD, CDU und die unter verschiedenen Namen firmierenden Liberalen. 135 Mit Blick auf die ersten Verlautbarungen der Parteien herrschte eine auffällige Interessenkonvergenz zwischen den von den Alliierten etwa im „Potsdamer Abkommen“ entworfenen Linien zur Deutschlandpolitik und den Leitsätzen der sich formierenden politischen Kräfte, die in der Sekundärliteratur vielfach als „antifaschistischer Konsens“ der unmittelbaren Nachkriegszeit beschrieben worden ist. 136 So konstatiert der Aufruf der Liberal-Demokratischen Partei zur Gründung einer gesamtdeutschen liberalen Partei aus dem Juli 1945: „Was uns eint, das ist die liberale Weltanschauung und die demokratische Staatsgesinnung. Wer sich zu ihnen und zum Antifaschismus bekennt, ist uns bei unserer Arbeit will‐ kommen.“ 137 Auf einem Plakat der neugegründeten christlichen Unionspartei aus dem Januar 1946 heißt es: „Antifaschisten bekennt Euch und kommt zur Christlich-Demokratischen Union Deutschlands“, während ein Plakat zu den Land- und Kreistagswahlen in der SBZ am 20. Oktober 1946 unterstrich: „Zur Aufklärung! […] Die CDU ist eine demokratische und antifaschistische Partei.“ Noch deutlicher wird das Postulat eines Antifaschismus als Grund‐ 70 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung 138 Zu den Wahlplakaten siehe Christlich-Demokratische Union Deutschlands, „Antifa‐ schisten bekennt Euch und kommt zur Christlich-Demokratischen Union Deutsch‐ lands“ [Bild], Internet: Calisphere. University of California. Hoover Institution Digital Collections. https: / / calisphere.org/ item/ ac129a7327da64dd4794cc1958155cde, zuletzt geprüft am: 15.2.2022; Christlich-Demokratische Union Deutschlands, „Zur Aufklä‐ rung! “ [Bild], Internet: Wikimedia. https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: KAS-Pro grammatik-Bild-10797-3.jpg, zuletzt geprüft am: 15.2.2022; „Verlautbarungen von KPD, SPD und CDU vor den Gemeindewahlen in Groß-Hessen im Januar 1946“ [Bild], Internet: Bundeszentrale für politische Bildung. https: / / www.bpb.de/ shop/ zeitschrifte n/ izpb/ 219206/ entwicklung-des-deutschen-parteiensystems-nach-1945, zuletzt geprüft am: 15.2.2022. Zur letztgenannten Kommunalwahl, der ersten im Land Hessen nach Kriegsende, siehe Walter Mühlhausen, Hessen 1945-1950. Zur politischen Geschichte eines Landes in der Besatzungszeit. Frankfurt/ M., 1985, 141-146. 139 „Befehl Nr. 2 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland über die Zulassung antifaschistischer Parteien und Organisationen (10. Juni 1945)“, Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945-1949, Berlin 1968, 54-55, hier: -54. 140 „Verordnung Nr. 23 des Commandant en Chef betreffend Gründung politischer Parteien demokratischer und anti-nationalsozialistischer Richtung im französischen Besatzungsgebiet, 12. Dezember 1945“, in: Flechtheim, Ossip K., Dokumente zur par‐ teipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Erster Band. A. Neubildung der deutschen Parteien nach 1945, B. Die Stellung der Parteien in der Verfassung und im Recht, C. Satzungen der deutschen Parteien, Berlin 1962, 113; „Bildung von politischen Parteien. Verordnung Nr. 12 vom 15. September 1945 der Militärregierung in Deutschland, Britisches Kontrollgebiet“, in: Flechtheim, Dokumente, 109-112. Zur Aufhebung der Par‐ teienlizenzierung siehe „Aufhebung von Rechtsvorschriften über politische Parteien, Vereine nicht-politischen Charakters, Versammlungen und Umzüge“, in: Flechtheim, voraussetzung politischer Partizipation anhand eines Plakatanschlags zu den Kommunalwahlen in Groß-Hessen im Januar 1946: KPD, SPD und CDU stellten sich zur Wahl und präsentierten nebeneinander ihre Plakate. Über den Verlaut‐ barungen, als quasi die gesamte Wahl konstituierende Überschrift prangt: „Hier sprechen alle antifaschistischen Parteien: “ 138 Eine ausgewiesen antifaschistische Programmatik war zwingende Voraussetzung einer politischen Beteiligung am nationalen Aufbau. Diese Notwendigkeit war vorgegeben von den Alliierten. Im Befehl Nummer 2 der Sowjetischen Militäradministration wurde eindeutig die „Bildung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien“ erlaubt, „die sich die endgültige Ausrottung der Überreste des Faschismus und die Festigung der Grundlage der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten in Deutschland und die Entwick‐ lung der Initiative und Selbstbetätigung der breiten Massen der Bevölkerung in dieser Richtung zum Ziel setzen.“ 139 In den westlichen Besatzungszonen war bis zum 17. März 1950 - als der erste Bundestag der BRD bereits tagte - eine alliierte Lizenz zur Parteigründung vonnöten. 140 Im Zusammenhang mit der Lizenzver‐ 3.1 Die neuformierten Parteien 71 Dokumente, 114; vgl. Gerhard A. Ritter, Merith Niehuss, Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Bundestags- und Landtagswahlen 1946-1987. München 1987, 56, 58. 141 Eschenburg, Jahre, 121. 142 Ebd., 171. 143 Ablesbar ist dies auch anhand der Unterschriften unter die im folgenden angeführten Gründungsaufrufe von Parteien, die in der Mehrzahl von NS-Verfolgten und KZ-Häft‐ lingen stammen. gabe überprüften die Alliierten das Personal. Dieses musste unbescholten sein, was in erster Linie bedeutete, dass keine kriminelle Tätigkeit aktenkundig und keinerlei nationalsozialistische Belastung feststellbar sein durfte. Funktio‐ näre, ihr Parteiprogramm sowie ihre sonstigen Veröffentlichungen mussten als demokratisch eingestellt beurteilt werden. 141 Die grundlegende Abhängigkeit jeglicher politischen Tätigkeit vom Wohlwollen der Besatzungsmächte fasst Eschenburg wie folgt zusammen: „Die zugelassenen Parteien waren zu strikter Loyalität gegenüber den alliierten Mächten verpflichtet.“ 142 Demonstrativ versuchten Institutionen, diese Loyalität gegenüber den Dena‐ zifizierung und Demokratie fordernden Alliierten zu bekräftigen. Dazu gehörte auch der Bezug auf die Lager und deren Opfer, welche die Alliierten in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses gestellt hatten. Die NS-Opfer waren oft die federführenden Kräfte bei der Organisation von Parteistrukturen. Zudem machten die ehemaligen Verfolgten und Gefangenen einen großen Anteil der Sozialdemokraten, Kommunisten sowie der christlichen Parteien aus. 143 Mit Blick auf diese personelle Konstitution der neugegründeten Parteien lag es durchaus nahe, dass diese auf „ihre“ Opfer und den durch sie geleisteten Widerstand gegen den Nationalsozialismus verwiesen. Dieser Verweis war jedoch auch der Versuch, sich innerhalb der neuen Verhältnisse zu positionieren, und diente als Legitimation des eigenen politischen Führungsanspruchs in der neuen Gesellschaft. Die Christlich-Demokratische Union firmierte 1945 als neue Sammel‐ partei christlich-bürgerlicher Wähler: innenschichten. Erste Planungen für eine „christlich-demokratische Partei“ führten im amerikanisch besetzten Köln zur Erarbeitung des „Vorläufigen Entwurfs zu einem Programm der Christlichen Demokraten Deutschlands“, besser bekannt als „Kölner Leitsätze“. Das am 17. Juni 1945 formulierte Dokument sollte die Grundlage bilden für die ersten Parteiprogramme in Rheinland und Westfalen. Zur Gründung der Partei steht darin: „In Ehrfurcht neigen wir uns vor den Blutzeugen des christlichen Glaubens und der bürgerlichen Freiheit, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen. Im Geiste dieser Toten sind wir fest entschlossen, dem deutschen Volke im Rahmen des 72 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung 144 Christliche Demokraten Kölns, „Kölner Leitsätze. Vorläufiger Entwurf zu einem Pro‐ gramm der Christlichen Demokraten Deutschlands“, in: Konrad-Adenauer-Stiftung, 60 Jahre CDU. Verantwortung für Deutschland und Europa, 2005, Internet: KAS-Archiv, h ttps: / / www.kas.de/ c/ document_library/ get_file? uuid=5f73ef59-af33-59ca-3195-0e4afc6 6cb92&; groupId=252038, zuletzt geprüft am 24.8.2022, 12-15, hier: -13. 145 Christlich-Demokratische Union Berlin, „Deutsches Volk! “, in: Konrad-Adenauer-Stif‐ tung, 60 Jahre CDU, 2005, Internet: KAS-Archiv, https: / / www.kas.de/ c/ document_li brary/ get_file? uuid=5f73ef59-af33-59ca-3195-0e4afc66cb92&; groupId= 252038, zuletzt geprüft am 24.8.2022, 16-17, hier: -16. 146 Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21.-Jahrhundert. Berlin 2007, 129. Reiches mit all unseren Kräften zu dienen. Darum haben wir Christliche Demokraten Deutschlands uns zusammengefunden und folgende Leitsätze für den Wiederaufbau unseres Vaterlandes beschlossen.“ 144 Nur wenig später, am 26. Juni, manifestierten sich in Berlin die Bemühungen zur Gründung der „Christlich-Demokratischen Union“ in dem Gründungsaufruf „Deutsches Volk! “: „Kämpfer echter demokratischer Gesinnung, evangelische und katholische Christen, zahllose jüdische Mitbürger, Männer und Frauen aus allen Schichten des Volkes litten und starben unter diesem Terror. Im Geiste ihres Vermächtnisses geeint durch die gleiche Liebe zu unserem Volke erkennen wir unsere Pflicht, mit diesem Volke den Weg der Sühne, den Weg der Wiedergeburt zu gehen.“ 145 Beide Schriften der Christdemokraten leiten ihren Gründungsauftrag von den Opfern der Nationalsozialisten ab. Sie präsentieren ihr politisches Engagement und ihre Parteiprogramme als praktische Konsequenz der nationalsozialisti‐ schen Gewalt. Indem sie den „Geist der Opfer“, deren Andenken und Würdi‐ gung, als Verantwortung und Leitlinie ihres politischen Agens identifizieren, zeigt sich diese Partei als die geeignete Machtoption für die Überwindung des Nationalsozialismus und den nationalen Wiederaufbau in den neuen Verhält‐ nissen. Die Nachkriegssozialdemokratie verstand sich als einzige Partei, die vom Scheitern der Weimarer Republik wie vom Nationalsozialismus unbelastet ge‐ blieben sei und der aufgrund dessen die politische Führung beim Wiederaufbau zukommen solle. 146 Auch die SPD bezog sich in ihrem Gründungsaufruf vom 15.-Juni dazu auf die sozialdemokratischen Opfer der Nationalsozialisten: „Schweigend und voll Ergriffenheit senken wir unsere Fahnen vor unserem Johannes Stelling, Rudolf Breitscheid, Julius Leber, Wilhelm Leuschner und vor den tausendfa‐ chen Opfern aus allen Parteien, Konfessionen und Gesellschaftsschichten des deut‐ 3.1 Die neuformierten Parteien 73 147 „Aufruf vom 15. Juni 1945 zum Neuaufbau der Organisation“, in: Flechtheim, Ossip K., Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Dritter Band. Programmatik der deutschen Parteien. Zweiter Teil, Berlin 1962, 1-4, hier: 1f. Johannes Stelling wurde in der Nacht vom 21. zum 22. Juni 1933 während der „Köpenicker Blutwoche“ von der SA ermordet, Rudolf Breitscheid starb 1944 im KZ Buchenwald, Julius Leber und Wilhelm Leuschner wurden in Folge des Attentatsversuchs vom 20. Juli 1944 verhaftet und vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt. Im Zusammenhang mit dem Gründungsaufruf sei auch verwiesen auf den Beitrag von Wolfgang Benz, „Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Legitimation für Kurt Schumachers Füh‐ rungsanspruch im demokratischen Deutschland“, in: Dowe, Dieter, Kurt Schumacher und der „Neubau“ der deutschen Sozialdemokratie nach 1945. Referate und Podiumsdis‐ kussion eines Kolloquiums des Gesprächskreises Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 12./ 13.-Oktober 1995, Bonn 1996 (Gesprächskreis Geschichte, 13), 57-70. 148 Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands, „Aufruf der Kommunisti‐ schen Partei Deutschlands“, 11. Juni 1945 [Flugblatt], Internet: 100(0) Schlüsseldoku‐ mente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, https: / / www.1000dokumente.de/ i ndex.html? c=dokument_de&dokument=0009_ant&object=facsimile&st=&l=de, zuletzt geprüft am: -30.8.2022, 1, Herv. J.V. schen Volkes, die der blutgierige Faschismus verschlungen hat. […] Niemals und von niemandem soll das deutsche Volk je wieder als vertrauensseliges Opfer gewissenloser politischer Abenteurer mißbraucht werden. Der politische Weg des deutschen Volkes in eine bessere Zukunft ist damit klar vorgezeichnet: Demokratie in Staat und Gemeinde, Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft! […] In dieser entscheidenden Stunde ist es wiederum die geschichtliche Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse, Trägerin des Staatsgedankens zu sein: einer neuen antifaschistisch-demokratischen Republik! “ 147 Auch der erste Aufruf der Kommunistischen Partei am 11. Juni 1945 verweist deutlich auf die durch sie verkörperte Kontinuitätslinie des antifaschistischen Widerstands: „Die Kommunistische Partei Deutschlands war und ist die Partei des entschiedenen Kampfes gegen Militarismus, Imperialismus und imperialistischen Krieg. Sie ist nie von diesem Wege abgewichen. Sie hat die Fahne Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, Ernst Thälmanns und Jonny Schehrs stets reingehalten. Mit Stolz blicken wir Kommunisten auf diesen Kampf zurück, in dem unsere besten und treuesten Genossen fielen.“ 148 Die Kommunisten beglaubigten ihr rigoroses Eintreten für die Nichtkontinuität nationalsozialistischer Gewalt durch den Verweis auf „ihre“ Opfer dieser Gewalt. Diese Teleologie der Opfer mündet fraglos in der Errichtung einer besseren Welt, 74 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung 149 Hingewiesen sei auch auf die zahlreichen Gedenk-, Erinnerungs- und „Märtyrer“bücher sowie Publikationen zu Gedenkveranstaltungen, etwa anlässlich der Jahrestage von Lagerbefreiungen, die nach 1945 von parteinahen Stellen oder der VVN herausgegeben wurden. Auch diese Publikationen geben der Notwendigkeit Ausdruck, angesichts der antifaschistischen Opfer des Nationalsozialismus in den neuen Verhältnissen eine sozialistische, sozialdemokratische oder kommunistische Ordnung durchzusetzen. Als Beispiele dieser zahlreichen Schriften siehe Franz Ahrens, Bruno Tesch. Das Sterben eines Hamburger Arbeiterjungen. Hamburg 1946; Komitee ehemaliger politischer Gefan‐ gener, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), Hamburg (Hrsg.), Helmuth Hübener. Freiheitskämpfer der Jugend: Vorbild, Opfer, Verpflichtung. Hamburg 1948; Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Berlin (Hrsg.), „… besonders jetzt tu Deine Pflicht! “. Briefe von Antifaschisten geschrieben vor ihrer Hinrichtung. Berlin/ Potsdam 1948; Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Berlin (Hrsg.), Befreiungstag Bu‐ chenwald. 9. bis 11. April 1948. Berlin/ Potsdam 1948; Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, Württemberg-Baden (Hrsg.), Euch mahnen die Toten. Stuttgart 1948. 150 Dies traf für die katholische Kirche zu einem höheren Grad zu als für die evangelische. Siehe dazu Joachim Mehlhausen, „Nationalsozialismus und Kirchen“, in: Müller, Ger‐ hard, Theologische Realenzyklopädie (TRE) Online, Berlin 2010, hier: Kap. 7.1, Internet: ht tps: / / www.degruyter.com/ database/ tre/ html, zuletzt geprüft 30.8.2022; Jörg Thierfelder, „Einleitung“, in: Besier, Gerhard; Thierfelder, Jörg; Tyra, Ralf, Kirche nach der Kapitu‐ lation. Band 1, Die Allianz zwischen Genf, Stuttgart und Bethe, Stuttgart 1989, 8-50, hier: -8-10. für welche die Kommunistische Partei, durch das „stolze“ Andenken beauftragt, besonders prädestiniert erschien. 149 3.2 Die beiden christlichen Großkirchen Ähnliche Legitimierungsstrategien nutzten auch die deutschen Großkirchen. Die Organisationsstrukturen beider christlichen Kirchen waren während der nationalsozialistischen Herrschaft weitgehend unbeschadet geblieben. 150 Un‐ mittelbar nach Kriegsende waren sie daher die einzigen Institutionen, die einigermaßen arbeitsfähig waren und für ihre Konstituierung im besetzten Deutschland auf bestehende Hierarchien, internationale Auslandskontakte sowie eine große Vertrauensbasis innerhalb der Bevölkerung zurückgreifen konnten. Zudem galten sie in den Augen der alliierten Invasionskräfte als politisch unbelastete Kräfte, die sich im „Kirchenkampf “ erfolgreich gegen die Gleichschaltung kirchlicher Institutionen durch die nationalsozialistische Herrschaft gewehrt hatten. Aus diesen Gründen „waren sie unter den deutschen 3.2 Die beiden christlichen Großkirchen 75 151 Frank Stern, „Evangelische Kirche zwischen Antisemitismus und Philosemitismus“, Geschichte und Gesellschaft 18/ 1, Evangelische Kirche nach dem Nationalsozialismus (1992), 22-50, hier: 22; Thierfelder, „Einleitung“, 10-17; Jörg Thierfelder, „Die Kir‐ chenpolitik der vier Besatzungsmächte und die evangelische Kirche nach der Kapi‐ tulation 1945“, Geschichte und Gesellschaft 18/ 1 (1992), 5-21. Die Rolle der Kirchen während des Nationalsozialismus, die in den ersten Dekaden nach Kriegsende von Auseinandersetzungen mit „Kirchenkampf “ und christlichem Widerstand bestimmt war, ist durch die neuere Forschung durchaus kritischer beleuchtet worden. Siehe dazu etwa Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2019 [2014] (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, 10377); Thomas Brechenmacher, Harry Oelke (Hrsg.), Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat. Göttingen 2011 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 11); Georg Denzler, Volker Fabricius (Hrsg.), Die Kirchen im Dritten Reich. Christen und Nazis Hand in Hand? , 2 Bde. Frankfurt/ M., 1988; dies., Christen und Nationalsozialisten. Darstellung und Dokumente. Frankfurt/ M., 2014; Manfred Gailus, Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich. München 2021, insb. 13-50; Hubert Gruber, Katholische Kirche und Nationalsozialismus 1930-1945. Ein Bericht in Quellen. Paderborn 2006; Karl-Joseph Hummel, Michael Kißener (Hrsg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Paderborn 2009; Karl-Joseph Hummel, Christoph Kösters (Hrsg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945. Paderborn 2007; Christoph Strohm, Die Kirchen im Dritten Reich, 2., durchgesehene Auflage. München 2017 [2011]; vgl. auch Mehlhausen, „Nationalsozialismus und Kirchen“, insb. Kap. 1.2 und 6. Eine Auseinandersetzung mit der Bekennenden Kirche, insb. mit Bezug auf die evangelische Landeskirche Hannover, ist Teil der vorliegenden Untersuchung. Siehe dazu Kap.-7. 152 Eschenburg, Jahre, 184. 153 Armin Boyens, „Die Kirchenpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutsch‐ land von 1944 bis 1946“, in: Boyens, Armin, et al., Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge, Göttingen 1979 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitge‐ schichte/ Reihe-B, Darstellungen, 8), 7-57, hier: -7f.; Frederic Spotts, Kirchen und Politik in Deutschland. Stuttgart 1976, insb. 103-158; Stern, „Evangelische Kirche“, 22; Clemens Vollnhals, „Die Evangelische Kirche zwischen Traditionswahrung und Neuorientie‐ rung“, in: Broszat, Martin; Henke, Klaus-Dietmar; Woller, Hans, Von Stalingrad zur Ansprechpartnern der ersten Stunde“ der Alliierten während des unmittelbaren Wiederaufbaus. 151 „In dem geistigen und politischen Leerraum, den das Dritte Reich und der Krieg hinterlassen hatten, waren die Kirchen als bewährte Kräfte des Widerstands gegen den NS-Staat fast selbstverständlich zu Ordnungsbürgen der neuen demokratischen Staatlichkeit geworden […].“ 152 Insbesondere die Amerikaner setzten auch perspektivisch auf die Kirchen als Instrumente der Re-education der Deutschen. Die Kirchen ihrerseits boten sich den Alliierten als fähige Unterstützer bei der Überwindung des Nationalsozia‐ lismus und Vergemeinschaftung auf einen neuen nationalen Standpunkt an. 153 76 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, 3.-Aufl., München 2009 [1988] (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 26), 113-168, hier: -113f. 154 Diesen „Blutzeugen der Bekennenden Kirche“ widmete der Bruderrat der Evangelische Kirche in Deutschland u. a. 1949 eine Buchpublikation, worin den Leiden dieser „Heiligen“ als herausragende Beispiele des Widerstandskampfes der Bekennenden Kirche geschildert wurden. Dieses Gedenken beinhaltete eine Selbstbeauftragung der evangelischen Kirche, die sich in eine Traditionslinie mit den geistlichen „Märtyrer“ im Nationalsozialismus stellte: Der Bruderrat als erinnerungsstiftende Instanz erklärte sich darin zum Nachfolger der Widerständler, welcher ihr antidiktatorisches und also moralisches Potential auch in die neue Gesellschaftsordnung hinübertragen werde: „Dies Gedächtnisbuch soll die Erinnerung an jene Tage des Kampfes und der Leiden in der evangelischen Gemeinde wach und lebendig halten. Der Tod unserer Brüder ist uns eine stete Mahnung, in der Treue zu verharren, die uns gestellten Aufgaben zu erkennen und um ihre Erfüllung - komme, was kommen mag - zu ringen.“ Bernhard Heinrich Forck, und folget ihrem Glauben nach. Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche. Im Auftrage des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 1949, 6. 155 Siehe etwa Josef Schäfer (Hrsg.), Wo seine Zeugen sterben, ist sein Reich. Briefe der enthaupteten Lübecker Geistlichen und Berichte von Augenzeugen. Hamburg 1946 (publi‐ ziert vom Katholischen Pfarramt Lübeck, wo 1948 auch eine gekürzte Fassung unter gleichem Titel erschien) oder Johann Neuhäusler, Zeugen der Wahrheit, Kämpfer des Rechts gegen den Nationalsozialismus. München 1947. 156 Sören Rohrmann, „Siegerin in Trümmern? Kirchliche Vergangenheitspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit“, Deutschland Archiv (6.2.2017), Internet: www.bpb.de/ 241728, zuletzt geprüft am: 3.3.2021. Beide deutschen Kirchen beriefen sich nach 1945 dazu auf die christlichen Oppositionellen gegen den Nationalsozialismus und die zahlreichen zu „Märty‐ rern“ erhobenen Opfer christlicher Konfession. Die Evangelische Konfession verwies auf die Opfer der Bekennenden Kirche, etwa auf Martin Niemöller, der sieben Jahre im KZ Dachau inhaftiert gewesen war, oder Dietrich Bonhoeffer, den die Nationalsozialisten im KZ Flossenbürg ermordet hatten. 154 Kirchennahe Verlage der verschiedenen Konfessionen publizierten Briefe und Predigten von inhaftierten Geistlichen aus Lager und Gefängnis. 155 Die einzelnen Schicksale standen für die Verfolgung der Kirchen insgesamt. Wie Rohrmann pointiert: „Erstens ging es darum, sich in einen Opferdiskurs einzuschreiben, und zweitens gleichzeitig zu betonen, dass man zum Widerstand gegen den Nationalsozia‐ lismus zählte.“ 156 Einhellig sprach die Publizistik beider Konfessionen nach 1945 von der Vereinnahmung und Schändung durch den Faschismus, von den Kirchen als Opfer staatlich gelenkter Marginalisierung, Demontage oder des „Kirchenkampfes“. Johann Neuhäusler, ehemaliger Sonderhäftling in den KZ Sachsenhausen sowie Dachau und ab 1947 Weihbischof im Erzbistum München und Freising, legte 1946 mit Kreuz und Hakenkreuz vielleicht die umfassendste Stellungnahme des kirchlichen Opferdiskurses vor. Darin leistet 3.2 Die beiden christlichen Großkirchen 77 157 Johann Neuhäusler, Kreuz und Hakenkreuz. Der Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und der kirchliche Widerstand. Erster Teil, 2 Bde. München 1946, 5. 158 Neuhäusler, Zeugen, 3. 159 Deutsches Katholisches Episkopat, „Hirtenbrief, beschlossen von der Konferenz der katholischen Bischöfe Deutschlands in Fulda (23. August 1945)“, in: Berghahn, Volker; Poiger, Uta, Die Besatzungszeit und die Entstehung zweier Staaten (1945-1961), Deutsches Historisches Institut Washington, DC (Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, 8), 2. Neuhäusler auf über 800 Seiten in zwei Bänden eine umfassende Rechtfertigung der katholischen Kirche während des Nationalsozialismus, wobei er sich in Band 1 wesentlich mit der kirchlichen Opferschaft befasst, die er unter Kapitel‐ überschriften wie „Die Kirchenverfolgung im Dritten Reich. Eine Tatsache“ und „Fessel für die Kirche Gottes“ ausbreitet. 157 In seinem Märtyrerbuch Zeugen der Wahrheit. Kämpfer des Rechts gegen den Nationalsozialismus heißt es die gesamte Institution Kirche gegen etwaige Vorwürfe in Schutz nehmend unumwunden: „Was man auch immer aus zwölf Jahren an einzelnen Äußerungen, Maßnahmen, Vereinbarungen, Vorkommnissen, Duldungen, Entgleisungen u.ä. ausgraben, zusam‐ mentragen und als Anklage erheben will, es zerschellt an den unumstößlichen Tatsa‐ chen: ‚Die katholische Kirche Deutschlands war die ganze Zeit hindurch das stärkste Bollwerk gegen den Nationalsozialismus. Der katholische Klerus Deutschlands hat in seiner Gesamtheit verhältnismäßig mehr an Widerstand geleistet und an Verfolgung erlitten als irgendein anderer Stand. Alles Dunkle wird hier tausendfach überstrahlt vom Helleuchtenden.‘“ 158 Der erste Hirtenbrief der Konferenz der katholischen Bischöfe Deutschlands in Fulda vom 23. August 1945 spricht explizit die kirchlichen Opfer des National‐ sozialismus an: „Wir danken all den Priestern und all den Laien, die so zahlreich und so unerschrocken für Gottes Gesetz und Christi Lehre eingetreten sind. Viele sind im Kerker und durch Mißhandlungen wahre Bekenner geworden und viele haben für ihre Überzeugung das Leben geopfert. Wie erwärmt die Erinnerung daran unser Herz, daß immer und immer wieder Katholiken jeden Standes und Alters sich nicht gescheut haben, Volksgenossen fremden Stammes zu beschützen, zu verteidigen, ihnen christliche Liebe zu erweisen. Gar mancher ist für eine solche Liebestat im Konzentrationslager zugrunde gegangen! Ihm ist sein ‚übergroßer Lohn‘ geworden, uns allen aber die tröstende Gewißheit, daß in unserem Volke Christentum geübt wurde trotz aller Bedrückung und Verfolgung.“ 159 Diese Opfer, die im Geiste des Christentums zu Widerständlern gegen den Nationalsozialismus wurden, stehen hier pars pro toto für die christliche (katho‐ lische) Gemeinschaft. 78 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung 160 Philipp Küble, Die Konzentrationslager. Eine Gewissensfrage für das deutsche Volk und für die Welt, 3.-Aufl. Singen-Hohentwiel 1947 [1945], 22, Herv. im Orig. 161 Ebd., 18. 162 Ebd., 3, 6. 163 Ebd., 6, Herv. im Orig. Die beiden deutschen Großkirchen thematisierten auch die Konzentrations‐ lager nach Kriegsende in Predigten, Gemeindebriefen und anderen theologi‐ schen Veröffentlichungen. Sie erklärten die faschistische Gewalt als prinzipiell unvereinbar mit der Kirche, die KZ als Inkarnation des Abfalls vom Glauben und Offenbarung antichristlicher Denkweisen. Der Jesuitenpater Philipp Küble nimmt in seinen Predigten, die 1945 gesammelt als Die Konzentrationslager. Eine Gewissensfrage für das deutsche Volk und für die Welt an drei Verlagsorten parallel publiziert wurden, eine holistische Deutung des deutschen Faschismus als Reich des Antichristen vor: „Erstens, der eigentliche Urheber der Untaten ist Satan, der Widersacher Gottes. Zweitens, seine Werkzeuge sind vor allem die Führer des Nationalsozialismus, die das System der Konzentrationslager verschuldet und damit vor Gott eine nicht mehr vorstellbare Schuld auf sich geladen haben; dann die einzelnen Verbrecher, die dem Bösen Sein so viel Raum in ihrem Herzen gaben, um solche Missetaten auszuführen.“ 160 Die Bedeutung des KZ-Systems darin bestimmt Küble als „eine Selbstentlarvung Satans und damit zugleich eine Entlarvung seines Werkzeugs, des Nationalso‐ zialismus.“ 161 Küble wie viele ähnliche theologische Schriften führen Momente wie Rationalismus, die Entfremdung von sittlicher Moral und christlicher Ethik, letztlich die Säkularisierung als Phänomen „der Moderne“ an und bestimmen so die nationalsozialistische Herrschaft als unspezifisches wie allumfassendes Un‐ heil. Die Lager liefern darin das Bild des neunten Höllenkreises, in welchem sich die Dämonie zur Gänze entfalten konnte. Anhand der in ihnen herrschenden Gewalt leiten die geistlichen Autor: innen die dringende Notwendigkeit der Hinwendung zu Gott und christlicher Ethik ab. So schreibt Küble weiter, er wolle nichts weniger als „die christliche Lösung der Schuldfrage“ leisten, in deren Zentrum die Kunde „von den unmenschlichen Freveltaten in den Konzentrationslagern“ stehe. 162 (Im Übrigen eine Schuldfrage, die von außen, implizit als Vorwurf der Alliierten, an die Deutschen herangetragen wurde, was sie überhaupt erst zum Gegenstand einer theologischen Auseinandersetzung mache: „Und - was uns nicht zur Ruhe kommen läßt, - man macht diese uner‐ hörten Schandtaten, diese teuflischen Quälereien, diese Millionen unschuldig und grausam Getöteter, zu einer Gewissensfrage für das ganze deutsche Volk.“ 163 ) Schließlich klärt Küble auf, wer allein den Deutschen nach der praktischen wie 3.2 Die beiden christlichen Großkirchen 79 164 Ebd., 37, Herv. im Orig. Küble verweist hier auf die Stellungnahme von Papst Pius XII anlässlich seines Namenstages vor den Kardinälen im Vatikan aus dem Juni 1945. Vgl. Rohrmann, „Siegerin“. 165 Peitsch, Nachkriegsliteratur, 78-80. Zur wegweisenden Bedeutung der beiden Doku‐ mente für die Selbstverortung und „Vergangenheitsbewältigung“ der Kirchen während und nach dem Nationalsozialismus siehe Rohrmann, „Siegerin“. moralischen Niederlage die Antworten zu diesen Fragen zu geben vermag: „Das deutsche Volk hat keine Sprecher mehr, um seine Sache zu vertreten. So tief hat es Gott gedemütigt. Es kann nur noch lauschen, was andere sagen. Plötzlich vernimmt es eine vertraute Stimme, Pius-XII, spricht vor den Schranken dieses hohen Gerichts.“ 164 Am Ende von Kübles Die Konzentrationslager steht der An‐ spruch der Eingemeindung der Deutschen in die internationale Gemeinschaft der katholischen Kirche, die - in Gestalt des Papstes - einzig dazu in der Lage scheine, eine Perspektive nach den Gräueln der KZ und den Anwürfen von Schuld und Verantwortung zu geben. Texte wie Kübles Predigten sind Deutungsangebote zur Ehrenrettung der Kirche im Nationalsozialismus. Dabei verlief die Legitimation der Amtskirchen beider Konfessionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit typischerweise auf zwei Ebenen: Zum einen überbetonten sie den geistlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, worin die Kirchen als Horte von Moral und Stabilität inszeniert wurden, deren ungebrochene Traditionslinien sie als vorbildliche Wegbereiter nach dem Nationalsozialismus auswiesen. Zum anderen verla‐ gerten sie die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime in einen metaphysischen Bereich, für dessen Begriffe von Schicksal, göttlicher Strafe und Vergebung sie sich als Orientierungsinstanzen anboten. Die offiziellen Organe der Kirchen bereiteten diesen Apologien bereits unmittelbar nach Kriegsende den Weg: Die ersten offiziellen Verlautbarungen der beiden deutschen Amtskirchen nach dem Krieg - auf der Seite der evange‐ lischen Kirchen das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, auf katholischer der erste „Hirtenbrief “ des deutschen Episkopats - waren zentral für die Selbstverortung der Kirchen nach Ende des Nationalsozialismus. 165 Der in beiden Dokumenten ausgebreitete Legitimationsanspruch wird jeweils flankiert vom Verweis auf den Opferstatus der Kirchen bzw. der durch sie repräsentierten Geistlichen. Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ beginnt mit dem Ansprechen von Ver‐ tretern der Ökumene, die unter der Leitung des späteren ersten Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen, Willem Visser’t Hooft, der Versammlung des vorläufigen Rates der Evangelischen Kirchen beiwohnten: „Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüßt bei seiner Sitzung am 18./ 19. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen. Wir 80 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung 166 Vorläufiger Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, „Stuttgarter Schulderklä‐ rung“. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Internet: -https: / / www.ekd.de/ Stutt‐ garter-Schulderklarung-11298.htm, zuletzt geprüft am: 3.3.2021. 167 Ebd. 168 Deutsches Katholisches Episkopat, „Hirtenbrief “, 4. 169 „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Vorläufiger Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, „Stuttgarter Schulderklärung“. sind für diesen Besuch umso dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld.“ 166 Dem Bekenntnis einer Schuld vorausgesetzt ist eine die Kirche und „ihr Volk“ umfassende Leidensgemeinschaft. Der Bestimmung dieser umfassenden Opferschaft erst erwächst in der Folge der Vertretungsanspruch der Kirche, orientierungsstiftend für die Deutschen zu wirken: „Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.“ 167 Auch im Hirtenbrief der katholischen Bischofskonferenz begründen die kirchlichen Opfer den Anspruch des Episkopats auf Mitgestaltung des neuen Deutschland: „Das wird das erste beim Wiederaufbau sein müssen, daß Gott wieder im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft jene Stelle zuerkannt wird, die ihm als dem höchsten Herrn gebührt, und die man anderen, zweitrangigen Werten zuerkannt hatte, dem Staat, der Rasse, der Nation.“ 168 Beide Erklärungen leisten eine Selbstverortung der Kirchen nach Ende des Nationalsozialismus. Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ spricht zwar von einer (nicht näher bestimmten) Mitverantwortung der Kirchen an Krieg und Verfolgung. 169 Doch formulieren beide Texte darin einen Anspruch auf die geistliche Betreuung eines Staatsvolks innerhalb des nationalen Rahmens. Die 3.2 Die beiden christlichen Großkirchen 81 170 Zur Selbstverortung der Kirchen nach Kriegsende siehe, für die Evangelische Kirche Vollnhals, „Evangelische Kirche“, mit Fokus auf die Schuldfrage Rainer Bendel (Hrsg.), Kirche der Sünder - sündige Kirche? Beispiele für den Umgang mit Schuld nach 1945. Münster 2002 (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 1) sowie, mit Fokus auf der Hannoverschen Landeskirche, Heinrich W. Grosse, Hans Otte, Joachim Perels (Hrsg.), Bewahren ohne Bekennen? Die hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus. Hannover 1996; dies., Neubeginn nach der NS-Herrschaft? Die hannoversche Landeskirche nach 1945. Hannover 2002. Für die katholische Kirche siehe, hier mit Fokus auf dem Erzbistum Bamberg, Werner K. Blessing, „‚Deutschland in Not, wir im Glauben …‘. Kirche und Kirchenvolk in einer katholischen Region 1933- 1949“, in: Broszat, Martin; Henke, Klaus-Dietmar; Woller, Hans, Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, 3.-Aufl., München 2009 [1988] (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 26), 3-111 sowie am Beispiel des Bistums Würzburg Verena von Wiczlinski (Hrsg.), Kirche in Trümmern? Krieg und Zusammenbruch 1945 in der Berichterstattung von Pfarrern des Bistums Würzburg. Würzburg 2005, darin insbesondere die Beiträge von Wiczlinski, „Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Bistum Würzburg in der Berichterstattung des katholischen Gemeindeklerus“, 3-22 und Wolfgang Weiß, „‚Es ist wieder einmal die große Stunde des Christentums‘. Bischof Ehrenfried und Bistum Würzburg im Jahr 1945“, 49-74. Neuausformung der Nation solle eine durch die jeweilige Kirche begleitete, angeleitete und kommentierte sein. 170 82 3 Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung 171 Zu diesem Schluss kommt auch Weckel mit Blick auf die atrocity-Filme nach der Auswertung alliierter Erhebungen zu Publikumszahlen, Presseberichterstattung sowie Befragungen von Kinogänger: innen. Weckel, Bilder, insb.-498-518. 172 Classen, „Was bleibt? “, 320 f.; Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2019, 219; Dennis Meyer, „Reeducation“, in: Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N., Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld 2015 [2007], 21-23. Hinsichtlich der alliierten atrocity-Filme beleuchtet Weckel das vergleichsweise umfangreiche Material zum deutschen Reaktionsspektrum. Weckel, Bilder, insb. 408-417, 442-451. 173 Padover gibt an, dass es der Auftrag sowohl der durch die PWD durchgeführten Befragungen wie auch seines Textes sei, das „German mind“ bzw. die „German ‚public opinion‘“ zu bestimmen. Saul K. Padover, Experiment in Germany. The Story of an American Intelligence Officer. New York 1946, 111. 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs Angesichts der Anstrengungen, mit denen die Alliierten ihre Medienkam‐ pagnen durchführten, und der schieren Menge der publizierten Bilder, Berichte und Filme war es beinahe unmöglich, sich der Aufklärung zu entziehen. Die meisten Deutschen mögen die alliierte Konfrontation mit den Schockbildern, die darin enthaltene Beschuldigung sowie den Antrag auf „Umerziehung“ schweigend hingenommen haben. Auch scheint es zumindest unmittelbar nach Kriegsende in der Tat ein Interesse an Informationen über die Lager gegeben zu haben. 171 Was indessen an zeitgenössischen Debatten hinsichtlich der alliierten Umerziehungsabsichten greifbar ist, sind empörte Zurückweisung und die Wei‐ gerung, die Fakten über die Lager wahrzunehmen. 172 Diese Gesinnung war eine medial nicht vertretene und ist daher vor allem in den dafür umso zahlreicheren Bezugnahmen auf sie und Abgrenzungen von ihr greifbar. Dass sich viele Deutsche weigerten, die durch die Alliierten ausgebreitete NS-Gewalt wahr‐ zunehmen, beschreibt bereits Saul K. Padover, der zwischen September 1944 und Mai 1945 als Nachrichtenoffizier für die Psychological Warfare Division im Raum Aachen die Zivilbevölkerung verschiedener Alters- und Berufsgruppen befragte. Padover fasst hinsichtlich der Reaktionen der Bevölkerung auf die Konfrontation mit Berichten über die Deportationen und Konzentrationslager in Polen zusammen: „The Germans simply dare not face the awful truth.“ - „Die Deutschen wagen es schlicht nicht, sich der grausamen Wahrheit zu stellen.“ 173 Wo es möglich war, schauten die Deutschen weg, entzogen sich dem alliierten 174 Ulenspiegel 1/ 11 (1946), hier: vorderer Umschlag. Der ausgeschnittene Bilduntertitel im Life Magazine: „This man is an American soldier. He had been a German prisoner for three months. This is how he looked when U.S. troops freed him last week.“ „The Backwash of Battle“, Life Magazine 18/ 16 (16.4.1945), 25-31, hier: -25. Aufklärungsprogramm. Konträr zur alliierten Absicht richtete sich ihre Ableh‐ nung weniger auf den Nationalsozialismus und die von ihm errichteten Lager als auf die Besatzungsmächte, die ihnen diese Gewalt zum Vorwurf machten. Auf dem Titelblatt des zweiten Maiheftes 1946 „Zur Erinnerung“ des Ulenspiegel etwa prangt in einer Montage von Jaro Kubiček die Photographie eines in deutscher Gefangenschaft völlig unterernährten US-amerikanischen Soldaten, welches inklusive der ausgeschnittenen und ebenfalls reproduzierten Bildun‐ terschrift erstmals im April 1945 im Life Magazine erschienen war. Ulenspiegel untertitelte die Collage: „Gebrauchsanweisung: Betrachten Sie dieses Bild nur drei Minuten lang, wenn Sie vor Wut über den Augenblick zur Vergeßlichkeit neigen.“ 174 Das Titelblatt der Satirezeitschrift fasst die deutsche Ablehnung der alliierten Umerziehungspolitik konzis zusammen als Wut, einer ohnmächtigen Wut freilich, die ihre Quellen im Besatzungszustand, den negativen Kriegs‐ folgen, zahlreichen Lebenseinschränkungen und nicht zuletzt der über diesen allen schwebenden und omnipräsenten Anklage der Alliierten angesichts der von ihnen offengelegten Gräuel hatte. Die Deutschen entnahmen dem Umerziehungsantrag der Alliierten in erster Linie die kollektive Beschuldigung. Die Forderung zum Betrachten der KZ-Ma‐ terialien als Indizien der eigenen Verantwortlichkeit brachte das Narrativ der Kollektivschuldthese hervor, das wie kaum ein anderes Thema in der unmittel‐ baren Nachkriegszeit mit vergleichbarer Heftigkeit debattiert wurde. In ihr ver‐ mengten sich tatsächliche Furcht, dass die Alliierten jeden einzelnen Deutschen für die Lagergräuel zur Verantwortung ziehen wollten, und Rechtfertigungsver‐ suche mit der Zurückweisung und Diskreditierung alliierter Besatzungspolitik. Dabei kam der Begriff von offizieller Seite, etwa in Dokumenten der alliierten Militäradministrationen, nie zur Anwendung. Politisch wie juristisch hatte er, wie Jähner konstatiert, keinerlei Relevanz: „Im juristischen, völkerrechtlichen und politischen Sinn wurde eine Kollektivschuld von den Alliierten […] nie ernsthaft erwogen. In keinem Kriegsverbrecherprozess wurde auf den Nachweis individueller Schuld verzichtet. Die den Alliierten unter‐ 84 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 175 Jähner, Wolfszeit, 439. Dass viele Deutsche die Anwürfe der Alliierten als Anmaßung empfanden konstatiert auch Schütz, „Entkommen“, 45 f. Zu den Reaktionen auf die sog. Kollektivschuldthese siehe auch Elena Agazzi, „Die Schuldfrage. Einleitung“, in: Agazzi, Elena; Schütz, Erhard, Handbuch Nachkriegskultur, 281-290; Classen, „Was bleibt? “, 321; Frei, 1945, 145 ff.; Foschepoth, „Reaktion“, 151-165. Kämper weist zudem darauf hin, dass sich auch die Unbelasteten und Nichttäter, die als „teacher“ der Siegermächte auftretenden Kulturschaffenden, Intellektuellen und politisch Partizipierten, eine kol‐ lektive Beschuldigung der Deutschen häufig ablehnten: „Die Nichttäter führen den Schulddiskurs zum einen, um an der Seite der alliierten Umerzieher die Deutschen auf den demokratisch-rechtsstaatlichen Weg zu bringen. Zum andern (und vor allem? ): Der spezifische Zweck des Schulddiskurses der Nichttäter ist, die Deutschen vor der Welt zu rehabilitieren. Diesen Anspruch stellen die Nichttäter vor dem Hintergrund eines entsprechenden Selbstbildes.“ Heidrun Kämper, „Kollektivschuld. Die diskursive Instrumentalisierung eines gesellschaftlichen Konstrukts“, in: Dutt, Carsten, Die Schuld‐ frage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Heidelberg 2010, 17-44, hier: -34. 176 Peitsch, Nachkriegsliteratur, 70 ff. Vgl. dazu auch eine Umfrage des „Office of Military Government for Germany“, durchgeführt Ende 1946 an 3.000 Bewohner: innen der amerikanischen Besatzungszone. Anna J. Merritt, Richard L. Merritt (Hrsg.), Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945-1949. Urbana 1970, 149f. stellte Kollektivschuldthese diente vielmehr vielen belasteten Deutschen dazu, die Entnazifizierungsmaßnahmen der Nazis als ‚Siegerjustiz‘ zu desavouieren.“ 175 Wie etwa Peitsch ausführt, beschäftigten sich die Deutschen durchaus und vielfältig mit Fragen der eigenen Schuld und Verantwortlichkeit. 176 Die Denazi‐ fizierungs- und Umerziehungsprogramme aber sprachen sie an als Volk unter dem Oktroi fremder Besatzer, die noch bis vor Kurzem die erklärten Feinde Deutschlands gewesen waren. Diesen entnahmen die Deutschen die Mitteilung, dass sie als besiegtes Volk chancenlos gegenüber den Anwürfen seien. Dies bestätigt u. a. Weckel in ihrer jüngst erschienenen Untersuchung zu frühen KZ-Filmvorführungen in der amerikanischen Zone, welche die These kollektiver Zurückweisung relativiert. Anhand von Besucher: innenzahlen, Fra‐ gebögen und Publikumsbefragungen kommt Weckel zu dem Schluss, dass es eine mehrheitliche Aufgeschlossenheit gegenüber den (filmisch präsentierten) Informationen über die Lager gegeben habe. Der Wochenschaufilm KZ etwa wurde im fränkischen Erlangen von vielen Einwohner: innen freiwillig besucht, die Aufklärung über die Ausmaße der Lagergewalt suchten. Indessen zeigten die alliierten Befragungen trotz genereller Aufgeschlossenheit dem Film gegen‐ über die weitgehende Ablehnung, das Geschaute im Sinne einer persönlichen Verantwortung aufzufassen. Die von den Alliierten erwünschte Schockwirkung setzte bei den Deutschen ein, interviewte Kinogänger: innen verlangten auch die Bestrafung der politisch Verantwortlichen, eine Auseinandersetzung mit der 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 85 177 Weckel, Bilder, 408-417, 442-451, 498ff. 178 Zu den verschiedenen Ausprägungen dieser Delegitimationsstrategie siehe Classen, „Was bleibt? “, 314-318; Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepu‐ blik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl. München 2003 [1996], 133-136; Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung. Heidelberg 1982 (Recht - Justiz - Zeitgeschehen (RJZ), 36), 112-123; Stiepani, „Dachauer Prozesse“, 234f. 179 Das gängige Stereotyp der Amerikaner fasste diese als Vertreter einer ungleich nied‐ rigeren Kultur mit rohen Manieren und geringen intellektuellen Fähigkeiten auf, bebildert in Figuren wie dem Cowboy oder naiven Kindern. Dazu Münckler: „Dieses Klischee scheint weit verbreitet gewesen zu sein: Man hatte den Krieg zwar verloren, aber zivilisatorisch war man dem Sieger allemal überlegen. Die Anerkenntnis der mi‐ litärischen Überlegenheit der Gegner ging Hand in Hand mit dem Verdacht, es handele sich bei ihnen wohl doch um Barbaren.“ Münkler, Machtzerfall, 229. Schütz ergänzt hin‐ sichtlich der Reaktionen auf das Auftreten der Besatzungsmächte als Umerzieher: „Der Entnazifizierungs- und ‚Re-Education‘-Impetus der Amerikaner forderte die deutschen Reserven geradezu heraus, dies umso leichter, als man derart die von den Amerikanern propagierten Tugenden der Meinungs- und Pressefreiheit testen konnte. Die Vorurteile sind geläufig: Ahnungs- und kulturlos, infantil und sprunghaft, technikversessen und kontrollwütig - um nur einige zu nennen - standen die Amerikaner den Deutschen gegenüber, deren ruinierte Städte und benebelte Gehirne noch immer mehr Kultur enthalten sollten, als den Besatzern je vorstellbar war.“ Schütz, „Entkommen“, 45 f.; vgl. Classen, „Was bleibt? “, 320 f. Auch die Opferliteratur iteriert mitunter diese Stereotype, siehe etwa Kap.-6.3. eigenen Schuld folgte daraus allerdings kaum. Das vorhandene Filmmaterial wurde in der Folge umgearbeitet zu Die Todesmühlen, was im Ergebnis insbe‐ sondere die Zuspitzung des Moments persönlicher (Mit-)Verantwortung - also der Integrierung kollektiver Beschuldigung - bedeutete. Dieses Moment war denn auch mehrheitliches Ziel der ablehnenden Reaktionen der Deutschen auf den Film, welche in der Folge alle übrigen Aspekte der Rezeption überdeckten. 177 Dass diese Siegermächte über die Schuld der Deutschen urteilten, fassten sie als anmaßende Einmischung auf, als Akte von „Siegerjustiz“. 178 Dieser Vorwurf vermengte sich mit aus dem Nationalsozialismus übernommenen Vorurteilen insbesondere über die Amerikaner zu einer prinzipiellen Aversion den neuen Machthabern gegenüber. 179 Man fühlte sich ohnmächtig und hielt es für eine Form der Erniedrigung und unverhältnismäßigen Bestrafung, dass die Alliierten den Unterlegenen noch mit Ansprüchen auf Kenntnisnahme der nationalsozia‐ listischen Gewalt, der Anerkennung der eigenen Schuld und der Forderung auf „Umerziehung“ entgegentraten. Man sah sich als Opfer einer groß angelegten Kampagne zur Diffamierung aller Deutschen, einer Kampagne, gegen die sich verschiedene Abwehrreaktionen formierten. Die erste und allgemeinste Form der Abwehr gegenüber den Beschuldi‐ gungen war die Leugnung jeglichen Wissens um die Lager, die bereits unmit‐ 86 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 180 Die historische Forschung hat die vermeintliche Unkenntnis der meisten Deutschen von den Lagern mittlerweile als Mythos entlarvt. Die Konzentrationslager waren keineswegs isolierte Gewaltorte, sondern eingebunden in die Infrastruktur und Verwal‐ tung der umliegenden Städte und Gemeinden sowie deren ökonomische und sozialen Zusammenhänge. Insbesondere in der Aufbauphase der Lager sowie während des Krieges, als KZ-Insassen zunehmend zur Zwangsarbeit in nahen Betrieben sowie bei der Trümmerbeseitigung eingesetzt wurden, kam es zwangsläufig zu regelmäßigen und zum Teil engen Kontakten zwischen Lagern und zivilem Umland. Das trifft insbesondere auf jene KZ zu, die sich in unmittelbarer Nähe zu größeren Ortschaften befanden, etwa Dachau oder Buchenwald. Steinbacher, „Totenklage“, 14. Mit den Beziehungen zwischen Lager und Umland setzen sich dezidiert auseinander: Jens Schley, Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Sonderauflage der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Köln 1999 sowie der Sammelband von Volkhard Knigge, Imanuel Baumann (Hrsg.), „… mitten im deutschen Volke“. Buchenwald, Weimar und die nationalsozialistische Volksgemeinschaft. Göttingen 2008. Wenn auch nur als diffuse Drohung war die Existenz der Lager doch jedem Deutschen und jeder Deutschen bekannt. Dieser Befund gilt trotz der Versuche von NS-Obrigkeit und SS, die Lager als isolierte, rechtsfreie Räume von der Außenwelt abzuschirmen. Siehe dazu Wildt, Ambivalenz, 313-317. Einen Hinweis darauf gibt bereits der amerikanische Nachrichtenoffizier Padover: In den von der PWD durchgeführten Befragungen führten viele der befragten Deutschen die KZ als omnipräsentes und wohlbekanntes Reglementierungsinstrument des NS-Staats an. Padover, Experiment, 115. 181 Margaret Bourke-White, Dear Fatherland, Rest Quietly. A Report on the Collapse of Hitler’s „Thousand Years“. New York 1946, 73. telbar nach Ankunft der Alliierten einsetzte. 180 Anlässlich der verordneten Be‐ sichtigung Buchenwalds schreibt die an der Dokumentation mehrerer Konzen‐ trationslager beteiligte Kriegsberichterstatterin Margaret Bourke-White über die Reaktionen der Weimarer Bürgerinnen und Bürger: „‚We didn’t know! We didn’t know! ‘ I first heard these words on a sunny afternoon in mid-April, 1945. They were repeated so often during the weeks to come, and all of us heard them with such monotonous frequency, that we came to regard them as a kind of national chant for Germany.“ 181 Dass diese Leugnung tatsächlich bald zu einer Art „Nationalhymne“, einem kollektiven Muster werden sollte, bestätigt Steinbacher, die die Predigt des Dachauer Stadtpfarrers vom 12. Mai 1945 anführt, in welcher der Geistliche bereits zwei Wochen nach der Befreiung von KZ Dachau eindringlich das Unwissen und also die Unbescholtenheit der Dachauer Gemeinde beteuerte: „Wir wissen, daß der Name Dachau gerade in den letzten Wochen wie eine Schre‐ ckensparole durch die Welt raste! Wer von diesen unmenschlichen Greueltaten gehört und diese teuflischen Höllenbilder im Konzentrationslager selbst geschaut, der ist 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 87 182 Z.n.-Steinbacher, „Totenklage, 17, Herv. im Orig. 183 Erich Kästner etwa berichtete für die amerikanisch lizenzierte Presse über die Vorfüh‐ rungen in Bayern. Erich Kästner, „Wert und Unwert des Menschen“, in: Kästner, Erich, Werke, Band-2. Wir sind so frei: Chanson, Kabarett, Kleine Prosa, München 2004, 67-71, hier: 69f. (zuerst erschienen am 4. Februar 1946 in Die Neue Zeitung); vgl. Manuel Köppen, „Lizensierte Erinnerungen. Die Judenverfolgung im frühen Nachkriegsfilm“, in: Bannasch, Bettina; Hahn, Hans-Joachim, Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegen‐ wärtige Reflexionen des Holocaust, Göttingen 2018 (Poetik, Exegese und Narrative, 10), 281-313, hier: -293. zutiefst erschüttert und empört, daß Derartiges in unserer Pfarrgemarkung geschehen konnte! Wir Dachauer aber - DAS sei zum Himmel geschworen und der Menschheit für alle Zeiten auf Ehr und Gewissen versichert! ! ! - wir Dachauer sind nicht schuld und haben nicht den geringsten Teil daran! “ 182 Von den Lagern, zumindest aber von den Ausmaßen ihrer Gewalt, so die Beteuerungen vieler Deutscher, habe man nichts gewusst. Als Untertan sei man weder Gestalter dieses Staates gewesen noch über die Machenschaften der eigenen Herrschaft informiert. Aufgrund dessen sei man auch nicht für politische Entscheidungen und Gräuel zur Rechenschaft zu ziehen, hatten diese sich auch in unmittelbarer Nähe abgespielt. Die Leugnung des Wissens als Rechtfertigungsstrategie ist somit gleichbedeutend mit der Zurückweisung von Verantwortlichkeit. Dieses Muster der Schuldabwehr teilt den alliierten Maß‐ stab, der in den Lagern das delegitimierende Moment des Nationalsozialismus entdeckt. Ob geheuchelt oder nicht, die Kenntnisleugnung war gegenüber den Alliierten ein Signal, dass den Deutschen eine Parteinahme für den Faschismus nur so lange möglich war, wie die Lager unbekannt waren, deren schockierende Offenlegung diese nun gänzlich ausschloss. Eine andere Weise der Schuldzurückweisung bestritt die Authentizität der gezeigten Bilder, die Höhe der Opferzahlen und das extreme Ausmaß der Gewalt. Man warf den Alliierten Übertreibung vor. Ihre Präsentation der nationalsozialistischen Grausamkeiten sei weniger ein Offenlegen von Fakten denn auf den Schock hin bearbeitete Propaganda mit dem Ziel der moralischen Diffamierung der Deutschen und einer nachträglichen Rechtfertigung ihrer Be‐ satzung. Der Film Die Todesmühlen wurde zum ersten überregionalen Kulmina‐ tionspunkt dieser Leugnung: Wiederum dürften die meisten Besucher: innen die Vorführungen schweigend hingenommen haben. Auch von Personen, die sich schamvoll abwandten oder in Tränen ausbrachen, berichten zeitgenössische Berichterstatter. 183 Es mehrten sich aber auch Stimmen, die die Authentizität des gezeigten Materials bezweifelten oder ihrerseits den Vorwurf erhoben, es 88 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 184 Corell, Holocaust, 52-55. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den deutschen Reaktionen auf Die Todesmühlen siehe Weckel, Bilder, 418-498. 185 Jähner, Wolfszeit, 342; Corell, Holocaust, 52. Siehe auch eine Umfrage des „Office of Military Government for Germany“, durchgeführt zwischen November 1945 und Februar 1946 an 3.600 Bewohner: innen der amerikanischen Besatzungszone, Merritt, Merritt, Public Opinion, 101. 186 Eugen Fischer-Baling, „Gewissensbedenkler“, Berliner Tagesspiegel 3 (23.1.1947), 2, Herv. im Orig. sei geschmacklos, solche Brutalität auf die Kinoleinwand zu bringen. 184 Diese empörten Stimmen wirkten sich in den Augen der für die Vorführungen ver‐ antwortlichen Psychological Warfare Division derart negativ auf den Fortgang des Re-education-Programms aus, dass die Vorführungen bereits Ende 1946 eingestellt wurden. 185 Der Vorwurf alliierter Propaganda wirkte indessen weiter nach. Anfang 1947 zog Eugen Fischer-Baling im Berliner Tagesspiegel ein erstes Resümee aus eineinhalb Jahren Besatzung. Fischer-Baling, der bis 1945 Direktor der Reichstagsbibliothek war und nach Kriegsende für den Berliner Magistrat sowie als Publizist und Dozent arbeitete, spricht von einer regelrechten „Wider‐ standsbewegung“: „Wir haben eine ‚nationale‘ Widerstandsbewegung. Der dem Gefühl entspringende Widerwille gegen das Besiegt- und Besetztsein, der instinktive Zusammenschluß gegen die Nichtdeutschen, das verärgerte Kritisieren, wenn etwas nicht so ausläuft, wie es nach Versprechungen oder Vorschriften vielleicht sollte, die unüberlegte Ein‐ rede: ‚Das war unter den „Nazis“ besser‘ bei Mangelerscheinungen, […] das stupide: ‚Ich glaube es nicht‘ beim Hinweis auf Untaten deutscher Soldaten und Offiziere, das Sichverschließen gegen das schauerliche Gesamtverbrechen an Polen, Juden und Gefangenen […] - dieser mißverstandene-deutsche oder primitiv-egoistische Widerstand gegen Überlegungen aus Recht und Moral zieht sich durch alle Parteien. Es ist eine so große Macht, daß man sich schon wieder als merkwürdig betrachteter Gewissensbedenkler vorkommt, wenn man Worten wie ‚ausräubern‘ oder ‚sie wollen uns vernichten‘ oder ‚Nürnberg war nichts als Propaganda‘ oder ‚die Krippe ist dieselbe, es sind nur andere Fresser‘ im Privatgespräch von Deutschen zu Deutschen ernstlich entgegenredet.“ 186 Eine weitere Strategie, Authentizität und Wirkungsabsicht des alliierten Aufklä‐ rungsmaterials infrage zu stellen, war das Bestreiten der Glaubwürdigkeit ihrer Quellen: der befreiten Häftlinge. Mit den verschiedensten Begründungen hatten die Nationalsozialisten Menschen als „Gemeinschaftsfremde“ oder Staatsfeinde, als „kriminell“ oder „asozial“ identifiziert, die es nach politischen, ethnischen wie sozialen Kriterien aus ihrer Vorstellung einer „Volksgemeinschaft“ auszu‐ sortieren gelte. Im nationalsozialistischen Deutschland galten sie alle als Verbre‐ 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 89 187 Merritt, Merritt, Public Opinion, 186 f.; Herbert Obenaus, „‚Man spielt so gern mit dem Begriff Opfer‘. Wiedergutmachung und Annahme der NS-Vergangenheit in Nieder‐ sachsen bis zum Anfang der fünfziger Jahre“, in: Weisbrod, Bernd, Rechtsradikalismus in der politischen Kultur der Nachkriegszeit. Die verzögerte Normalisierung in Niedersachsen, Hannover 1995 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens nach 1945, 11), 33-64, hier: -46-51. 188 Z.n.-Münkler, Machtzerfall, 239-241. 189 Karl-S. Bader, Soziologie der deutschen-Nachkriegskriminalität. Tübingen 1949, 171; vgl. Baumann, „Winkel-Züge“, 297 f. Das maßgebliche SHAEF-Memorandum Nr. 39 vom 25. November 1944 (wie auch seiner überarbeiteten Form vom 16. April 1945) benennt indessen neben den nichtdeutschen lediglich die „rassisch, religiös oder politisch“ verfolgten Gefangenen als „DP“s. Christian Höschler, „Displaced Persons (DPs) im Nachkriegseuropa. Überblick und Forschung“, in: Höschler, Christian; Panek, Isabel, Zweierlei Suche. Fundstücke zu Displaced Persons in Arolsen nach 1945, Bad Arolsen 2019, 13-26, hier: 14; Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951. Göttingen 1985 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 65), 30 f.; vgl. Richard Bessel, Germany 1945. From War to Peace. London 2009, 255-270. Auch der „Harrison Report“ des Juristen und Bürger‐ rechtlers Earl G. Harrison aus dem Sommer 1945, in welchem er dem amerikanischen cher, vor denen die Gesellschaft durch ihre Inhaftierung zu schützen sei. Diese Diskreditierungen wirkten auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus auf das Sozialprestige der Befreiten. Hinzu kamen die befreiten Fremdarbeiter, die „Displaced Persons“. Einige dieser als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich Verschleppten taten sich nach ihrer Befreiung zu Banden zusammen, deren Raubzüge unter der deutschen Zivilbevölkerung weithin Angst und Schrecken verbreiteten. Die häufig am Ort oder in unmittelbarer Nähe der ehemaligen KZ errichteten Interims- und „DP“-Lager wurden in erster Linie als Banditenhorte und Schwarzmarktzentren wahrgenommen. 187 „Kaum war die amerikanische Besatzung da […] und übernahm die vollziehende Gewalt mit ihrer Militärpo‐ lizei, da regten sich die Kriegsgefangenen aller Nationen, Russen und Polen, und dazu die zahlreichen ausländischen Zivilarbeiter, die aus allen Ländern Europas nach Deutschland gekommen waren, und machten uns das Leben schwer.“ So äußert sich der Zeitzeuge Karl Orth aus dem hessischen Friedberg über die befreiten Zwangsarbeiter. „Belästigungen“ seien an der Tagesordnung gewesen, die insbesondere in den Dörfern der Bevölkerung das „Leben zur Qual“ gemacht hätten. 188 Bei ihrem Vormarsch waren besagte alliierte Truppen davon ausgegangen, bei der Befreiung der Konzentrationslager in erster Linie nichtdeutsche politi‐ sche Gefangene vorzufinden, weswegen zunächst alle Insassen als „Displaced Persons“ eingestuft worden waren, was der fortgesetzten Diskreditierung der KZ-Insassen weiteren Vorschub leistete. 189 Ob marodierender Zwangsarbeiter 90 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs Präsidenten Truman die Situation der befreiten „Displaced Persons“ als katastrophal darlegte, benennt als solche ohne weitere Erläuterung auch ehemalige Konzentrations‐ lagerinsassen. Earl G. Harrison, „Der Harrison-Bericht (September 1945)“, in: Berghahn, Volker; Poiger, Uta, Die Besatzungszeit und die Entstehung zweier Staaten (1945-1961), Deutsches Historisches Institut Washington, DC (Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, 8). Weiter weist Goschler auf die Trennung der Verantwortlichkeiten deutscher von ausländischen Verfolgten in der alliierten Fürsorgegesetzgebung hin. Danach standen die nichtdeutschen Verfolgten, die „Displaced Persons“, direkt unter alliierter Verantwortung, die deutschstämmigen, geregelt durch die Verordnungen des Alliierten Kontrollrates, unter der Aufsicht deutscher Stellen. Goschler, Schuld, 65-67. 190 Ebd., 66. Zu den Plünderungen siehe Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter, 46-50; Steinba‐ cher, „Totenklage“, 19. 191 Wachsmann, KL, 689 f.; vgl. Münkler, Machtzerfall, 217. 192 Katharina Stengel, „Einleitung“, in: Stengel, Katharina; Konitzer, Werner, Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt/ M. 2008, 7-23, hier: -8. oder kaum mehr bewegungsfähiger „Muselmann“, alle, die mit den Lagern in Verbindung gebracht wurden, wurden von der Mehrheit der deutschen Zivilbevölkerung gefürchtet, verabscheut, zumindest skeptisch gemieden. Glei‐ chermaßen galten die Befreiten als gefährliche oder doch zumindest moralisch anrüchige Kriminelle. 190 Wachsmann fasst die deutsche Stimmungslage gegen‐ über den Befreiten unmittelbar nach Kriegsende wie folgt zusammen: „Viele Deutsche fürchteten Begegnungen mit befreiten Gefangenen. […] Viele mehr hielten Abstand, denn sie betrachteten die Überlebenden als Bedrohung. […] Als klar wurde, dass gewöhnliche Deutsche wenig zu fürchten hatten von schwachen Überlebenden, die oft genauso viel Angst hatten, wich die anfängliche Panik der Abscheu, mit Beschwerden über dreckige Ausländer, die allenthalben ihren Darm entleerten, und bitteren Ressentiments wegen ihrer angeblichen Privilegien und Schiebereien. Diese Feindseligkeit entsprang seit Langem bestehenden sozialen und rassistischen Vorurteilen ebenso wie dem unmittelbareren Eindruck von Niederlage und Besatzung.“ 191 Den Gefangenen insgesamt haftete nach ihrer Befreiung, wie Stengel es aus‐ drückt, ein „Stigma“ an. 192 Ihren Berichten über Gefangenschaft und Lager begegnete man prinzipiell mit Misstrauen. Die auf sozialen Ressentiments beruhenden Zweifel und diffusen Aversionen verhärteten sich im Zuge der alliierten Praxis, nach der die Opfer des National‐ sozialismus „anzuerkennen“ und zu entschädigen seien. Nach ihrer Ankunft in den Lagern hatten die Alliierten eine (im Rahmen der logistischen Möglich‐ keiten der zum Teil noch kämpfenden Truppen) umfangreiche Erstversorgung der Inhaftierten initiiert. Hilfsgüter der alliierten Armeen und von Hilfsorga‐ 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 91 193 Jähner, Wolfszeit, 219; vgl. Goschler, Schuld, 80-83. Der zeitgenössische Kriminologe und einer der Begründer der Kriminalpsychologie Hans von Hentig unternimmt den Versuch einer sozialpsychologischen Erklärung dieses Phänomens: „Besitz gilt in den Augen der überwiegenden, durch Bombenangriffe, Vertreibung oder andere Kriegs‐ folgen besitzlos gewordenen Bevölkerung zwar nicht als Diebstahl, aber als ein durch nichts gerechtfertigtes, abänderungsbedürftiges Zufallsergebnis.“ Hans von Hentig, „Die Kriminalität des Zusammenbruchs. Ein kurzer Tatsachenbericht“, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 62 (1947), 337-341, hier: 340. Hentig beruft sich an dieser Stelle auf den Bericht eines namentlich nicht genannten „frühere[n] Schüler[s]“, einer seiner „begabtesten Doktoranden“. Ebd., 337. 194 Richard Falk, „Das Rhein-Main-Gebiet und die Stadt Lauterbach in Hessen während des Zusammenbruchs und des Einmarsches der Amerikaner im Frühjahr 1945“, Lauterba‐ cher Sammlungen 18 (1958), 1-27, hier: -13f. nisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz trafen ein, medizinische Behandlungsmöglichkeiten, eine Infrastruktur zur Repatriierung der Häftlinge und der Versorgung mit Wohnraum und Arbeit wurde eingerichtet. Bereits diese vielfach im Rahmen einer Notversorgung durchgeführte materielle Son‐ derstellung empfanden die Deutschen als Zumutung. Mit „Neid und Empörung“, so Jähner, reagierte die Bevölkerung auf das Austeilen höherer Lebensmittelra‐ tionen an die Befreiten und die Anordnung auf bevorzugte Behandlung in den Geschäften. 193 So erinnerte sich der Lauterbacher Einwohner Ralf Frank bei seinem Rückblick auf die Besetzung Hessens im Frühjahr 1945 vor allem an die Ungerechtigkeit der alliierten Versorgung der kriminellen „Ausländer“: „Das Schlimmste war aber, daß alle Ausländer, insbesondre auch die Ostarbeiter und Polen, gemäss Anweisung der amerikanischen Behörde, beim Einkaufen vor der deutschen Bevölkerung befriedigt werden mußten. So blieb für die deutsche Bevölkerung an Lebensmitteln und Bedarfsartikeln nur übrig, was die Ausländer nicht in Anspruch nahmen. Diese nützten die günstige Gelegenheit reichlich aus, sich neu einzukleiden. Viele Ausländer deckten ihren Bedarf nicht nur durch Kauf - oft kauften sie im Übermass -, sondern auch durch Plünderung. […] Die Besatzungsmacht schritt tagelang nicht ein, nahm die Ausländer auch noch in Schutz. […] Obwohl in den ersten Tagen grössere Mengen von Ostarbeitern und Polen durch die Amerikaner abtransportiert worden waren, nahm ihre Zahl offensichtlich zu, da immer neue Ausländer zuströmten und sich breit machten.“ 194 Auch Bourke-White, die als US-amerikanische Kriegsberichterstatterin 1945 Deutschland bereiste, zeigte sich frappiert von dem Neid und der Feindseligkeit, mit denen die Deutschen Befreiten aus den KZ begegneten. Sie zitiert den Wortlaut eines Gesprächs, das sie kurz nach Kriegsende mit einer Bremerin führte und in dem diese über ihre Begegnungen in verschiedenen Geschäften berichtet: 92 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 195 Bourke-White, Fatherland, 136f. 196 Goschler, Schuld, 81; Obenaus, „Begriff Opfer“, 46-51; Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel. Bonn 1997, 55f. 197 „Wie lebt der ehemalige politische Häftling heute? “, Hamburger Freie Presse 2/ 5 (18.1.1947), 3. „Just yesterday I was in a shop which sold hosiery, and there was a picture of a concentration camp on the counter. Three women came in and announced, ‚We have just come from a concentration camp. We ought to be served first.‘ They wanted all kinds of things, shirts, stockings, and drawers. A little girl pointed to the picture and said, ‚I’m sorry I haven’t been in a concentration camp. These women look well enough dressed. I would like to have privileges, too.‘ […] (obviously a repetition of much-heard talk among grownups) […] Those people from concentration camps really are behaving very badly […]. I tried to buy some flowers yesterday, and they actually wanted all the flowers. They said, ‚We have a right to buy flowers first. We come from a concentration camp.‘ The other day […] I had to wait four hours in the station for a train, and I drank a very bad coffee. Two women sitting at the next table had been in a concentration camp. One was well dressed; the other, apparently a bit of a parvenu, said, ‚Now here I have been in the concentration camp for two years just for the sake of getting a monthly allowance of two hundred marks and an extra ration card. How shall I ever live on that? ‘ Other people at nearby tables resented that. We were all very much agreed that this woman was rightly put into a concentration camp. Of course, there may have been people innocently convicted […]. But I think there were many people justly convicted. On the whole, I am suspicious. We are simply swamped with people who come from concentration camps. If things were so very bad, and if so many people were killed, I-really wonder where they all come from now.‘“ 195 In allen Lebensbereichen, so die entrüsteten deutschen Stimmen, würden sich die ehemaligen Gefangenen vordrängeln, das wenige Verfügbare an sich raffen und sich auch noch über diese ihnen angediehene Behandlung beschweren. Diese Anfeindungen spitzten sich noch zu, als die Alliierten beschlossen, dass den NS-Opfern auch eine materielle „Wiedergutmachung“ in Form von Geldleis‐ tungen zukomme. Die Debatten um die Modalitäten dieser Entschädigungsleis‐ tungen wurden begleitet von Hetze gegen die angebliche „Unersättlichkeit“ und das „Luxusleben“ der einstigen KZ-Gefangenen. 196 „Gerüchte wollen wissen“, greift die Hamburger Freie Presse diese Ressentiments auf, „daß die ehema‐ ligen Häftlinge in großen Villen wohnen und auf dicken Teppichen Fettlebe machen. Sie wollen ferner wissen, daß auch viele Asoziale im Besitz eines Betreuungsausweises sein sollen.“ 197 Man verdächtigte sie, mit Aussagen über 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 93 198 Anna J. Merritt, Richard L. Merritt (Hrsg.), Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949-1955. Urbana 1980, 9, 157 Die angeführte Studie bezieht sich auf eine 1951 an 1.200 Bewohnern der BRD durchgeführte Befragung zur jüdischen Restitution. 199 Christa Paul, „Frühe Weichenstellung. Zum Ausschluss ‚asozialer‘ Häftlinge von An‐ sprüchen auf besondere Unterstützungsleistungen und auf Entschädigung“, in: Stengel, Katharina; Konitzer, Werner, Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt/ M. 2008, 67-86, hier: 75; vgl. Goschler, Schuld, 63 f. Besonders detailliert hat Obenaus die Debatten um die materielle Entschädigung am Beispiel des Landes Niedersachsen untersucht und dabei insbesondere die Rolle der (britischen) Alliierten bei der frühen Anerkennung der ehemaligen Gefangenen sowie die dagegen konkurrierenden deutschen Opferinteressen beleuchtet. Obenaus, „Begriff Opfer“. Am Beispiel der Stadt Dachau konnte Steinbacher zudem zeigen, dass die ansäs‐ sige Zivilbevölkerung bereits unmittelbar nach Eintreffen der amerikanischen Truppen derart kompensatorische Konkurrenzdebatten initiierte. Steinbacher, „Totenklage“. 200 Padover, Experiment, 36, Herv. im Orig.; vgl. auch Bourke-White: „Throughout the Allied advance into Germany, all the Americans I knew were discussing how surprisingly few Germans were willing to accept any responsibility for either the rise of Nazism or the launching of war.“ Bourke-White, Fatherland, 4. ihre Gefangenschaft lediglich in den Genuss der materiellen Entschädigungen kommen zu wollen. Im Gegenzug machten viele einen Opferstatus geltend, der das deutsche Opfer hervorhob: die Auswirkungen des negativen Kriegsausgangs und der alliierten Besatzungspolitik, die Opfer des Bombenkriegs etwa, des Stalingrad-Winters, der alliierten Kriegsgefangenschaft, der Vertreibungen aus den besetzten Ost‐ gebieten, des Hungerwinters 1946/ 47 oder der alliierten Entnazifizierung. All das spielte in der Wahrnehmung vieler Deutscher eine ungleich größere Rolle als die Opfer der nationalsozialistischen Gefängnisse und Lager. 198 Ihnen gebühre folglich die offizielle Anerkennung und Unterstützung, so beschreibt Paul das Meinungsklima: „Die deutsche Bevölkerung war sich mehrheitlich darüber einig, dass Kriegerwitwen und -waisen, Vertriebene und Bombengeschädigte besondere Leistungen erhalten sollten, während die Bereitschaft, Opfern nationalsozialistischer Verfolgung beson‐ dere Unterstützungsleistungen zuzubilligen, wesentlich geringer war.“ 199 Als besiegtes Volk sei man ein Opfer, dessen Qualität sich nicht von den Opfern der Lager unterscheide. Bereits den ersten Nachrichtenoffizieren, die für die Psychological Warfare Division Befragungen durchführten, fiel auf, dass sich die Deutschen selbst als Opfer des NS-Regimes und dessen militärischer Niederlage betrachteten. „And so they began to cry, Man hat uns belogen und betrogen […]. And they blamed the once-revered Fuehrer for all their ills and heaped upon him all their vilifications.“ 200 Padover spricht weiter von einer durchgängigen Larmo‐ 94 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 201 Padover, Experiment, 63. 202 Bourke-White, Fatherland, 135. 203 Ebd., 141. Obwohl der Professor als „the Walther of the Walther pistol“ (ebd., 139) vorgestellt wird, ist an dieser Stelle wohl nicht der Ulmer Waffenhersteller Fritz Walther (1889-1966) gemeint, sondern der in Kiel ansässige Raketen- und Turbinenentwickler Hellmuth Walter ohne „h“ (1900-1980). 204 Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe. München 1994 [1984], 125. yanz („drenched in self-pity“), mit der die Deutschen die militärische Niederlage und die ersten Aufklärungsmaßnahmen kommentierten. 201 Bourke-White führt die Reaktion einer Bremerin auf die allgegenwärtige Berichterstattung über die Lager durch die alliierten Medienkanäle an: „The only things we get are the newspapers and bulletins which the Allies are publishing in German for us to read. Germans read all about the concentration camps. And they all say ‚Why get so excited about it, after bombing innocent women and children? ‘“ 202 Es liegt nahe, anzunehmen, dass viele Deutsche der Aussage zugestimmt hätten, mit der Bourke-White weiter den Rüstungsfabrikanten Prof. Walther zitiert: „What is happening to Germans now is worse than the concentration camps.“ 203 (Dies freilich unabhängig davon, ob sie angaben, um die Lager und die dortigen Verhältnisse gewusst zu haben, oder dies leugneten.) In den Folgejahren kam es zu Solidarisierungen mit Angeklagten der alliierten Konzentrationslagerprozesse: Mehr als die ehemaligen Häftlinge galten die angeklagten Wachtruppen als Opfer, für die sich die Deutschen einsetzten. Mit Blick auf den Bergen-Belsen-Prozess, der von September bis November 1945 unter britischem Vorsitz in Lüneburg verhandelt wurde, hält Friedrich fest, dass die Verhandlungen gerade gegen die mittleren und niederen Dienstgrade in den Augen vieler Deutscher weniger der Ahndung von Verbrechen dienten, sondern der Bestrafung von Pflichtbewusstsein und Loyalität durch mehr oder weniger willkürlich urteilende Siegermächte: „In der Lüneburger Turnhalle zeichnete sich bereits das Muster des NS-Prozesses ab, einer Veranstaltung, zu der mehr oder minder kleine Leute geschleppt werden, die sich unterdessen flugs in Opfer verwandelt haben - Opfer der Zeit, Opfer ihrer Befehlsgeber und, wieder jedermann ersichtlich, die Opfer ihrer weit überforderten Moral. Die den Tätern auf den Leib geschneiderte Opferrolle wurde im Handumdrehen zu einem nationalen Motiv, das Deutschland tiefer aufwühlte als alle Enthüllungen über Gaskammern, Einsatzschützen und Sklavenhalter zusammen.“ 204 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 95 205 Siehe dazu insbesondere den Beitrag von Robert Sigel, „Die Dachauer Prozesse und die deutsche Öffentlichkeit“, in: Eiber, Ludwig; Sigel, Robert, Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945-1948, Göttingen 2007 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 7), 67-85; vgl. auch Roland Ahrendt, „Nürnberger Nachfolgeprozesse“, in: Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N., Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld 2015 [2007], 24-26, hier: 26; Frei, Vergangenheitspolitik, 158 f., 189 f., 210 f.; Friedrich, Amnestie, 259; Wachsmann, KL, 706. 206 Friedrich, Amnestie, 265; Stiepani, „Prozesse“, 227; vgl. Torben Fischer, „Anmestien“, in: Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N., Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld 2015 [2007], 98-100. 207 Jähner, Wolfszeit, 11. 208 Padover, Experiment, 115f. Die Solidarisierungen mit den Angeklagten wurden mit zunehmender Vehe‐ menz vorgebracht, sodass die schließlich unter deutschem Vorsitz abgehaltenen Prozesse regelmäßig von mitunter heftigen Protesten, Demonstrationszügen und entsprechend befangener Berichterstattung begleitet wurden. Gefordert wurde bald nicht nur die Amnestierung der Angeklagten, sondern gleichsam das Ziehen eines „Schlussstrichs“ unter die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit überhaupt. 205 Das Ausmaß der unter deutscher Regie durchgeführten und als „Gnadenfieber“ von 1951 oder „Gnadenflut nach dem Deutschlandvertrag“ 1952 bezeichneten Abmilderung oder gänzlichen Aufhebung von Urteilen gegen NS-Täter ist Indikator sowohl für die weitgehende Ablehnung der zuvor tätigen alliierten Gerichte und ihrer Entnazifizierungsabsichten wie auch die breite Solidarisierung mit den Beschuldigten, die hier konträr zur offiziellen Anerken‐ nung zu Opfern stilisiert wurden. 206 In seiner jüngst erschienenen Monographie spricht Jähner von der gänzlichen Wahrnehmung der Nachkriegszeit als düstere „Wolfszeit“, worin insbesondere das wortreich geäußerte „Bedürfnis der Deutschen, sich als Opfer zu sehen“, zum Ausdruck komme. 207 Der frühe Vernehmer Padover vermutete, dass die Deutschen zu diesem Opferstatus griffen, um möglichen Repressalien seitens der Siegermächte sowie den vermeintlichen wie tatsächlichen Anwürfen nach Schuld und Verantwortlichkeit entgegenzuwirken: „Nearly all those who are hostile to the Nazi regime complain of their personal sufferings. They overflow with self-pity. Investigation revealed that these complaints and expressions of self-pity are a more or less conscious technique of justifying an acceptance and toleration of Nazism.“ 208 96 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 209 Ebd., 110 f. Auch die neuere historische wie kulturwissenschaftliche Forschung kommt zu dem Schluss, dass das Beharren auf dem eigenen Opferstatus die eigene Position gegenüber den Alliierten als unbescholten rechtfertigen sollte. Siehe etwa Agazzi, „Schuldfrage“, 285; Stephan Braese, „Deutschsprachige Literatur und der Holocaust“, Aus Politik und Zeitgeschichte 50 (2007), 33-38, hier: 35f.; Classen, „Was bleibt? “, 317-322; Martin Sabrow, „Den Zweiten Weltkrieg erinnern“, Aus Politik und Zeitgeschichte 36-37 (2009), 14-21, hier: -15f. 210 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Deutschland Heute, 2., auf den neuesten-Stand gebrachte Auflage. Wiesbaden 1954 [1953], 153, Herv. im Orig. Die Beteuerungen der Deutschen, so der Nachrichtenoffizier weiter, seien eine aus Furcht vor Bestrafungen („fear of revenge“) erwachsene Strategie zur Beschwichtigung der Siegermächte („please the conqueror“). 209 Tatsächlich ist ein zweiter Aspekt dieser Beteuerung des eigenen Opferstatus der Appell eines besiegten Volkes an seine neuen Machthaber. Darin äußerte sich eine Bevölkerung, die sich von ihrer Obrigkeit übergangen fühlte: Der deutsche Ruf, die alliierte Opferpolitik komme vielfach den Falschen, „Kriminellen“ und „Ausländern“ zugute, lehnt diese Anerkennungsleistungen nicht ab, sondern wendet sich bittstellend an die Herrschaft mit dem Hinweis auf die eigene anzuerkennende Opferexistenz. Die Stilisierung des nationalen Kollektivs als Opfer des negativen Kriegsaus‐ gangs und der Besatzungspolitik fand Eingang auch in die offizielle Historiogra‐ phie des westdeutschen Staates. In Deutschland Heute, einer 1953 im Auftrag der Bundesregierung Adenauer herausgegebenen Standortbestimmung der jungen Bundesrepublik „acht Jahre danach“, wie der programmatische Untertitel lautet, heißt es: „12 Millionen Deutsche und Angehörige deutscher Volksgruppen wurden in das Gebiet der vier Besatzungszonen Deutschlands hineingepreßt, in dem es keine zentrale Verwaltung, keine Länderregierungen und überall erst neugebildete Gemeindever‐ waltungen gab. Die bisher ungestörten mannigfachen wirtschaftlichen Verbindungen innerhalb des Reiches waren durch willkürliche Zonengrenzen der Besatzungsmächte zerschnitten. Gesetze wurden aufgehoben, Recht und Ordnung, die der Nationalso‐ zialismus unterhöhlt hatte, befanden sich in voller Auflösung, der Wohnraum in den ausgebombten Städten war überwiegend zerstört, die Versorgungslage katastrophal. Plünderungen durch Fremdarbeiter waren an der Tagesordnung.“ 210 Die unmittelbare Nachkriegszeit erscheint hier als das gänzlich negative Er‐ gebnis der Okkupation fremder Siegermächte, als rechtsfreier Raum, innerhalb dessen die befreiten „Fremdarbeiter“ eine zusätzliche Gefahr für die ausge‐ bombte und sich auf der Flucht befindende Bevölkerung darstellen. 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 97 211 Zuckmayers Dossier über prominente deutsche Kulturschaffende entstand 1943/ 44 und wurde 2002 unter dem Titel Geheimreport veröffentlicht. Der zweite, auf seiner europäi‐ schen Inspektionsreise entstandene, Text wurde 2004 als Deutschlandbericht publiziert. Carl Zuckmayer, Geheimreport, hrsg. von Gunther Nickel. Göttingen: Wallstein, 2002; ders. Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Gunther Nickel. Göttingen: Wallstein, 2004. Remarque verfasste sein Essay 1944. Erich Maria Remarque, „Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg (1944)“, in: Schneider, Thomas F., Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929-1966, Köln 1994, 66-83. 212 Zu den deutschen Exilierten, die im Auftrag und in Diensten der Alliierten in Nach‐ kriegsdeutschland wirkten, siehe Jähner, Wolfszeit, 303-336. 4.1 Der Wandel des Opferzum Elitendiskurs. Die Debatte um die Innere Emigration Innerhalb dieser Neuausformung eines nationalen Kollektivs aus der Opfer‐ schaft gab es auch Meldungen intellektueller Kreise, die den Status besonderer Opfer geltend machten. Aufbauend auf den deutschen Leugnungsdiskursen zielte die Debatte um die sogenannte Innere Emigration auf die Legitimation einer Schar während des Nationalsozialismus in Deutschland lebender und pu‐ blizierender Intellektueller und Künstler. In einem ausgedehnten und öffentlich geführten Streit mit Vertretern von aus NS-Deutschland Emigrierten ging es um die Frage, wer an der Gestaltung des neuen Deutschlands federführend mitwirken dürfe. Dieser wurde von Seiten der Inneren Emigranten zentral mit Verweis auf ihre Opferexistenz geführt. Darin kehrt das Muster des Opfers wieder, das sich um Anerkennung an eine höhere Instanz wendet. Ausgangspunkt der Debatte waren die Bemühungen der Alliierten um einige prominente, im Exil lebende Intellektuelle gewesen, einerseits Dossiers über ihre in Deutschland verbliebenen Kolleg: innen zu verfassen, andererseits aber auch die kulturelle Seite der Entnazifizierung in Nachkriegsdeutschland mitzu‐ betreuen. Prominente Emigranten wie Alfred Döblin kehrten als Kulturoffiziere der alliierten Armeen nach Deutschland zurück; Carl Zuckmayer bereiste als ziviler Kulturbeauftragter ein Jahr nach Kriegsende Europa und schrieb - wie etwa auch Erich Maria Remarque - interne Berichte für den amerikanischen Militärgeheimdienst Office of Strategic Services (OSS).  211 Andere hatten bereits während des Kriegs öffentlich über die Frage referiert, wie eine ideelle, intel‐ lektuelle oder kulturelle Umorientierung der Deutschen nach dem Ende des Nationalsozialismus möglich sein könnte - allen voran Thomas Mann, dessen Radioreden regelmäßig in der BBC ausgestrahlt worden waren. 212 Nach der deutschen Kapitulation verfasste Mann weiterhin Artikel und sprach im Radio über die Wandlung, die in Deutschland stattfinden müsse. In diesen griff er auch die von den alliierten Aufklärungskampagnen offen‐ 98 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 213 Hermann Kurzke, Stephan Stachorski (Hrsg.), Thomas Mann Essays. Band 6: Meine Zeit 1945-1955. Frankfurt/ M., 1997, 11-13, Fußnoten-375-378. 214 Thomas Mann, „Die deutschen KZ“, in: Kurzke, Hermann; Stachorski, Stephan, Thomas Mann Essays. Band-6: Meine Zeit 1945-1955, Frankfurt/ M. 1997, 11-13, hier: -11. 215 Christian Adam, „Bestsellerforschung. Bestsellerliste nach 1945“, Internet: http: / / www.christian-adam.net/ index.php/ bestsellerforschung, zuletzt geprüft am: 20.8.2021; vgl. ders., Traum, 310 f. Während des NS-Regimes war von Molo u. a. mit Eingaben bei Goebbels wie auch Philipp Bouhler, Reichsleiter der NSDAP, Chef der Kanzlei des Führers sowie Vorsitzender der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutz des NS-Schrifttums, gegen Verleumdungen etwa seitens der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps vorgegangen, die ihn als „unvölkischen“ Dichter diffamiert hatte. Diese Eingaben waren insofern erfolgreich, als das Reichspropagandaministerium von Molo 1941 als Friedrich II.-Experten zum Berater für Veit Harlans monumentales Filmprojekt Der große König berief. Jan-Pieter Barbian, „Zwischen Anpassung und Widerstand. Regime‐ kritische Autoren in der Literaturpolitik des Dritten Reiches“, in: Kroll, Frank-Lothar; Voss, Rüdiger von, Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“, Göttingen 2012, 63-98, hier: 86. Zu von Molos Biographie während des Nationalsozialismus siehe u. a. Carsten Wurm, „Zur Biographie eines Vertreters der ‚inneren Emigration‘. Walter von Molos autobiographische Texte“, in: Siebenpfeiffer, gelegten nationalsozialistischen Konzentrationslager auf. Mann bekräftigte den Standpunkt der Alliierten, dass von diesem Offenlegen der Fakten eine gesamtdeutsche Schuld und Verantwortlichkeit ausgehe: Basierend auf einer Rundfunkbotschaft Manns für das Office of War Information war im Mai 1945 ein Artikel mit dem Titel „Die deutschen KZ“ in verschiedenen deutschen Zeitungen abgedruckt worden; in der Bayerischen Landeszeitung firmierte der Text als Thomas Mann über die deutsche Schuld. 213 Darin schreibt Mann über die Aufklärungsleistung der Alliierten: „Der dickwandige Folterkeller, zu dem der Hitlerismus Deutschland gemacht hat, ist aufgebrochen“. Die Aufklärung über die Lager, so auch Mann, habe eine Wahrheit über den Nationalsozia‐ lismus und darin nichts Geringeres als ein nationales Schandmal öffentlich bekannt gemacht. „[O]ffen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, den fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen Bilder nun vorgeführt werden und die zu Hause melden, dies übertreffe an Scheußlichkeit alles, was Menschen sich vorstellen können.“ 214 Der Artikel rief (sich als folgenschwer herausstellende) Reaktionen unter den deutschen Intellektuellen hervor. Walter von Molo ging in einem offenen Brief auf Manns Ausführungen ein. Von Molo war Romancier und Dramatiker, der nach dem Ersten Weltkrieg mit Romanbiographien historischer Figuren zum Bestsellerautor avancierte und dessen Fridericus-Trilogie über König Friedrich II. von Preußen (auch Ein Volk wacht auf, bestehend aus den Teilen Fridericus (1918), Luise (1919) und Das Volk wacht auf (1921)) auch nach 1945 in mehreren hunderttausend Exemplaren wiederaufgelegt wurde. 215 Auch wenn von Molo während des Nationalsozia‐ 4.1 Der Wandel des Opferzum Elitendiskurs. Die Debatte um die Innere Emigration 99 Hania; Wölfel, Ute, Krieg und Nachkrieg. Konfigurationen der deutschsprachigen Lite‐ ratur, Berlin 2004, 81-98, hier: -81-88. 216 Hans Sarkowicz, Alf Mentzer, Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon, Erweiterte Neuausgabe. Hamburg 2002 [2000], 21f. 217 Wurm, „Biographie“, 81; vgl. Babette Dietrich, „Ein Auftrag von höherer Macht …“. Walter von Molo und die Mainzer Literaturklasse 1949-1956. Marburg 1995 (Edition Wissenschaft, Reihe Germanistik, 7), 19-28. 218 Walter von Molo, „Offener Brief vom 4. Aug. 1945, veröffentlicht in der ‚Münchner Zeitung‘ vom 13. Aug. 1945“, in: Grosser, Johannes F.G., Die grosse Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg 1963, 18-22, hier: -18f., 20. lismus zurückgezogen lebte und nur sporadisch öffentlich in Erscheinung trat (etwa auf dem „Weimarer Dichtertreffen“ 1938), 216 konnte er als Publizist der Nachkriegszeit auf ein breites Publikum bauen, das seine Werke kannte und seine Äußerungen zum Zeitgeschehen schätzte. Wurm konstatiert zu von Molos Stand in der Nachkriegszeit: „Molo war keine marginale Figur, sondern durch seine Stellung im literarischen Leben der Weimarer Republik ein durchaus ernst zu nehmender Gesprächspartner für Thomas Mann und andere bedeutende Exilautor/ inn/ en.“ 217 In dem am 4.-August 1945 in der Hessischen Post und der Münchener Zeitung abgedruckten Artikel bat von Molo den international renommierten Mann um seine Rückkehr aus dem kalifornischen Exil nach Deutschland: „Bitte, kommen Sie bald, sehen Sie in die von Gram zerfressenen Gesichter, sehen Sie das unsagbare Leid in den Augen der vielen, die nicht die Glorifizierung unserer Schattenseiten mitgemacht haben, die nicht die Heimat verlassen konnten, weil es sich hier um viele Millionen Menschen handelte, für die kein anderer Platz gewesen wäre als daheim, in dem allmählich gewordenen großen Konzentrationslager, in dem es bald nur mehr Bewachende und Bewachte verschiedener Grade gab. […] Ihr Volk, das nunmehr seit einem Dritteljahrhundert hungert und leidet, hat im innersten Kern nichts gemein mit den Missetaten und Verbrechen, den schmachvollen Greueln und Lügen, den furchtbaren Verirrungen Kranker, die daher wohl so viel von ihrer Gesundheit und Vollkommenheit posaunten.“ 218 Von Molo wies den Anwurf einer sich in der alliierten Aufklärung über die Konzentrationslager offenbarenden nationalen Schuld zurück, indem er die Deutschen selbst zu Opfern dieser Lager erklärte. In seiner Schilderung Deutschlands als „großes Konzentrationslager“ bestimmte er das Leben im NS-Staat als hilfloses Ausgeliefertsein einem übermächtigen Gewaltregime gegenüber, als ein Aushalten, das, gleich einer Gefangenschaft, nach beson‐ derer Anerkennung verlange. Die Konzentrationslager lieferten von Molo das Bild für die Bestimmung des Regimes als absolute Gewalteskalation, deren 100 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 219 Thomas Mann, „Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe. Antwort auf einen Brief Walter von Molos in der deutschen Presse“, in: Kurzke, Hermann; Stachorski, Stephan, Thomas Mann Essays. Band 6: Meine Zeit 1945-1955, Frankfurt/ M. 1997, 33-42, hier: 37. Der Brief erschien am 28. September 1945 zunächst im New Yorker Aufbau, anschließend in verschiedenen deutschen Zeitungen. Kurzke, Stachorski, Essays, 386f. Wirkungsbereich weit mehr Menschen umfasste als die tatsächlich in ihnen gefangen Gehaltenen. Indem von Molo derart auf die KZ rekurrierte, pflichtete er der alliierten Aufklärung über die Lager bei. Aus ihnen sei indessen keine Auseinandersetzung mit deutscher Schuld und Verantwortlichkeit zu folgern, sondern die Anerkennung einer unter der NS-Herrschaft leidenden gesamtdeut‐ schen Opferexistenz. Ebenso wie die Verweigerung jeglicher Kenntnisnahme ist diese Vereinnahmung und letztliche Verharmlosung der Lagergewalt eine Leugnungsstrategie und Weise der Rechtfertigung der Deutschen, die sich sowohl von den Alliierten wie den Emigranten aus Übersee beschuldigt sahen. Darüber hinaus ist von Molos Ausweis der eigenen Opferschaft auch Aufruf an potentielle neue Führungspersönlichkeiten: Mit dem Gestus eines Rufes de profundis verlangt der offene Brief im Namen einer Opfer gewordenen Bevöl‐ kerung nach einem Erklärer und Sinnstifter. Mann solle das Exil verlassen und nach Deutschland zurückkehren, um „seinem“ Volk, den erniedrigten, besiegten, Opfer gewordenen Deutschen, eine Orientierung zu geben. An dieser Stelle äußert sich ein aus der Opferschaft erwachsendes Bedürfnis nach geistigen Führern für die geschlagene Nation. Mann lehnte die bittstellend vorgetragene Aufforderung nach seiner Rück‐ kehr ab. „Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe“ lautete der pro‐ grammatische Beitragstitel seines Antwortschreibens vom 12. Oktober 1945. Hingegen polemisierte er darin scharf gegen die in Deutschland verbliebenen Literaten, die derart verbohrt die eigene Verantwortung abstritten und sich im Gegenteil selbst zu Opfern der Nationalsozialisten, gefangen in einer zum KZ gewordenen Nation, stilisierten: „Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.“ 219 Empfanden die in Deutschland verbliebenen Intellektuellen die von den Exi‐ lierten angetragenen Veränderungen des deutschen Kultursektors bereits als Bevormundung und vom Invasionssieg der Alliierten getragener inquisitori‐ scher Hochmut, so fühlten sie sich spätestens nach Manns Angriff geradezu herausgefordert. Die Debatte nahm an Schärfe zu, als die Deutschen ihrerseits 4.1 Der Wandel des Opferzum Elitendiskurs. Die Debatte um die Innere Emigration 101 220 Jähner, Wolfszeit, 318. 221 Etwa Thomas Mann, Frank Thieß, Walter von Molo. Ein Streitgespräch über die äußere und die innere Emigration. Dortmund 1946. Vgl. Johannes F.G. Grosser (Hrsg.), Die grosse Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hamburg 1963, 21. 222 Adam, „Bestsellerforschung“; vgl. ders., Traum, 310 f. 1933 wurden Thiess’ Romane Frauenraub (1927) sowie Die Verdammten (1930) durch die Reichsschrifttumskammer verboten. Nur durch persönliche Eingabe bei Hans Hinkel, Staatskommissar im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, als Reichsorga‐ nisationsleiter des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ (KfdK) für die „Entjudung“ deutscher Kultur zuständig und ab Mitte der 1930er Jahren in verschiedenen dem Reichspropagandaministerium angeschlossenen Positionen tätig, konnte Thiess ein Verbot aller seiner Werke abwenden. Eine ebensolche Eingabe sandte Thiess, als sein Lustspiel nach Eichendorffs Novelle Der ewige Taugenichts 1936 Aufführungsverbot erhielt. Laut Barbian stellte der 1936 erschienene Roman Tsushima, der die Seeschlacht aus Sicht der mit Deutschland alliierten Japaner schildere, ein kalkuliertes Signal in Richtung des Regimes dar. Barbian, „Zwischen“, 84 f. Gesichert ist, dass Thiess’ Roman in Hitler und Göring zwei ungemein prominente Förderer fand und Tsushima in der Folge auch in Ausgaben für die Wehrmacht und die „Organisation Todt“ erschien. Thiess’ Folgeroman Caruso. Roman einer Stimme (1942) tauchte weiterhin mehrfach auf NS-Empfehlungslisten auf. Erhard Schütz, „Lebensführer zum Gott-Tier. Frank Thiess: Skizze eines nationalrevolutionären Erfolgsautors“, Zeitschrift für Germanistik 8/ 1 (1998), 65-82, hier: -66f. die Legitimationsbasis der Exilierten torpedierten: „Wer geflohen war, hatte nun auch nicht mitzureden“, fasst Jähner die weit verbreitete Reaktion gegenüber dem als Einmischung von außen wahrgenommenen Auftreten der Emigranten zusammen. 220 Die Auseinandersetzung erregte großes mediales Interesse und wurde von Kommentaren in Zeitungen und im Rundfunk zusätzlich befeuert. International berichteten Rundfunkstationen, die Briefe und Artikel erschienen häufig in mehreren Zeitungen parallel, gesonderte Broschüren mit den gesam‐ melten Beiträgen wurden herausgebracht. 221 Bereits vor Manns Absage im Oktober, nach Deutschland zurückzukehren, hatte sich ein dritter zentraler Protagonist in die Debatte eingeschaltet: Frank Thiess (auch Thieß) war dem deutschsprachigen Publikum vor allem aufgrund seines Tatsachenromans über die Seeschlacht bei Tsushima 1905 im Russisch-Ja‐ panischen Krieg Tsushima. Roman eines Seekriegs von 1936 bekannt geworden; doch bereits sein Romandebüt Die Verdammten (1922) war in der Weimarer Zeit zum Bestseller geworden. 222 Thiess hatte in seinem Artikel „Innere Emigration“ vom 18. August 1945 in der Münchener Zeitung das zum Titel der Debatte werdende Schlagwort geprägt. Darin entwarf er eine andere Perspektive auf die anstehende Neugestaltung Deutschlands. Ausgehend vom gleichen Opferbegriff wie von Molo, geht seine Rechtfertigung der Inneren Emigranten einen Schritt 102 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs 223 Frank Thiess, „Innere Emigration“, in: Thomas Mann, Frank Thieß, Walter von Molo. Ein Streitgespräch über die äußere und die innere Emigration, Dortmund 1946, 2-3, hier: 3, Herv. im Orig. weiter, insofern in ihr Opferschaft und Quell einer zur kulturellen Führung berufenen Erfahrung zusammenfallen. „[D]ie Welt, auf die wir innerdeutschen Emigranten uns stützten, war ein innerer Raum, dessen Eroberung Hitler trotz aller Bemühung nicht gelungen ist. […] Männer wie Kasimir Edschmid, Hermann Keyserling, Walter von Molo, Erich Kästner, Werner Bergengruen, ja sogar betont ‚nationale‘ Schriftsteller wie Hans Grimm und Ernst Wiechert befanden sich sehr bald in einer Isolierung, die […] ihnen […] einen Schatz an Einsicht und Erfahrung gab, der für ihre künftige Arbeit von größtem Wert sein kann. Auch ich bin oft gefragt worden, warum ich nicht emigriert sei, und konnte immer nur dasselbe antworten: falls es mir gelänge, diese schauerliche Epoche […] lebendig zu überstehen, würde ich dadurch derart viel für meine geistige und menschliche Entwicklung gewonnen haben, daß ich reicher an Wissen und Erleben daraus hervorginge, als wenn ich aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschaute. Es ist nun einmal zweierlei, ob ich den Brand meines Hauses selbst erlebe oder ihn in der Wochenschau sehe, ob ich selber hungere oder vom Hunger in den Zeitungen lese, ob ich den Bombenhagel auf deutsche Städte lebend überstehe oder mir davon berichten lasse, ob ich den beispiellosen Absturz eines verirrten Volkes unmittelbar an hundert Einzelfällen feststellen oder nur als historische Tatsache registrieren kann.“ 223 Die von Thiess bezogene Position einer „inneren“ Emigration grenzt sich bewusst terminologisch vom äußeren Exil ab, verweist aber gleichermaßen auf eine sich gerade nicht in geographischer Distanzierung niederschlagende, negative Betroffenheit vom NS-Regime. Gegenüber den ins Ausland Gegan‐ genen seien die Inneren Emigranten besondere Opfer, die sich der wiederholten Vereinnahmungsversuche der Nationalsozialisten haben erwehren müssen und darüber hinaus die negativen Kriegsauswirkungen erlitten hatten. Das Da‐ bleiben prädestiniert sie für Thiess zudem als die künftigen tonangebende Kräfte innerhalb der nationalen Deutung. Laut Thiess sind Kunst und Kultur abhängig vom Maßstab der Nation: „Deutsche“ Literatur könne nur auf deutschem Boden, in deutscher Sprache, in der Gesellschaft von Deutschen entstehen. Während die Exilierten sich aus dem Rahmen nationaler Bestimmungen entfernt hatten, habe die deutsche Kultur nur deswegen der faschistischen Vereinnahmung und Vernichtung widerstehen können, als die Inneren Emigranten sie zum Preis des eigenen Leidens verteidigt hatten. 4.1 Der Wandel des Opferzum Elitendiskurs. Die Debatte um die Innere Emigration 103 224 Peitsch, Nachkriegsliteratur, 72 f.; siehe auch Dietrich, „Auftrag“, 29-76. 225 Der Beitrag wurde am 30. Dezember 1945 im Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) gesendet. Zusammen mit dem vorangegangenen Beitrag Manns erschien er am 5. Januar 1946 abgedruckt in verschiedenen Zeitungen, etwa der Lübecker Post oder der Ruhr Zeitung. Sonja Valentin, „Steine in Hitlers Fenster“. Thomas Manns Radiosendungen „Deutsche Hörer! “ (1940-1945). Göttingen 2015, 290. 226 Frank Thiess, „Frank Thieß antwortet Thomas Mann“, in: Thomas Mann, Frank Thieß, Walter von Molo. Ein Streitgespräch über die äußere und die innere Emigration, Dortmund 1946, 7-8, hier: -8. Das Abstecken eines „inneren Raumes“ als Trutzburg deutschen Geistes und Kultur fungiert laut Peitsch bei Thiess somit nicht nur als „Rechtfertigung gegen die Schuldanklage“. Die Identifikation des eigenen Opfers als Bewahrer deutschen Wesens begründe darüber hinaus einen eigenen, „gegen die ins Exil gegangenen Schriftsteller gerichteten“ Anspruch auf „die geistige Führungsrolle […] als die einzig berechtigten Erzieher des deutschen Volkes“. 224 Das „Erleben“ zeichnet die Inneren Emigranten gegenüber dem Exil auch darin aus, dass sie aus diesem eine Perspektive in die Zukunft ableiten können. Bei Thiess erscheint das Leiden als Erweckungserlebnis und Quell einer Erkenntnis, welches diese Opfer gestärkt aus ihm hervortreten lasse. Für die Inneren Emigranten ist es dieses Moment des Produktivmachens des Erlittenen, welches gerade sie zu geeigneten Quellen einer kulturellen Erneuerung der Nation berufe. In einem Radiobeitrag einige Monate nach seinem Zeitungsbeitrag spitzt Thiess dieses Moment einer Berufung des Opfers zum Angehen des Neuen noch zu. 225 „Denn all die Trümmer um uns, so wirklich sie in ihrer Schrecklichkeit sind, sie sind doch zugleich Symbol der Zerstörung einer Welt, die wir als nie wiederkehrend hinter uns wissen. Sie sind das Abbild einer inneren Zerstörung, dem Zerbrechen einer Schale zu vergleichen, aus der man uns herausstieß, damit wir endlich aus ihr emporsteigen in die Freiheit neuer Gesittung und wahrer Selbsterkenntnis. Wir, die wir das alles erlebten, können es verstehen, er konnte es drüben nicht.“ 226 Darin präsentiert Thiess die Inneren Emigranten als die berufenen geistigen Führer, die alleinig in der Lage scheinen, die innere wie äußere „Zerstörung“ zu überwinden und eine Neuorientierung der Nation anzustoßen. Die Debatte um die Innere Emigration verdeutlicht die Virulenz der Neuaus‐ formung eines nationalen Kollektivs aus einer Opferschaft heraus. Die Inneren Emigranten bezogen sich auf die eigene Opferexistenz zur Legitimation ihrer Position gegenüber den Exilierten. Ihre Rechtfertigung wirkte indessen nicht nur als Schuldabwehr, insofern sie als Opfer des Nationalsozialismus jegliche Parteinahme für diesen verneinte. Spätestens bei Thiess erfolgte die Bestim‐ mung des Opfers ins Positive als durch das Leiden berufene Instanz: Darin 104 4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs offenbarten sich die besonderen Qualitäten des Opfers, welches es gegenüber anderen Positionen abhob und auszeichne. Dieser Bezug auf das Opfer bei Thiess ist eine Strategie zur Präsentation neuer Führungspersönlichkeiten, die antreten, innerhalb der nationalen Deutung die Rolle von Orientierungsgebern zu übernehmen. Die Betonung des Aushaltens, des Überstehens, des gestärkten Hervorgehens aus den negativen Verhältnissen, die der Nationalsozialismus aufbürdete, als besondere Qualitäten des Opfers sind Muster, die nicht nur die Inneren Emigranten gebrauchten. Auch die tatsächlichen Opfer der KZ bezogen sich derart auf das ihnen Widerfahrene, wobei die Debatten innerhalb des Opferdiskurses der ehemaligen Häftlinge eine eigene Dynamik der Ein- und Ausgrenzung entwickelten. 4.1 Der Wandel des Opferzum Elitendiskurs. Die Debatte um die Innere Emigration 105 227 Die verschiedenen Vorarbeiter- und Funktionshäftlingsposten waren Teil einer vertikal eingezogenen Machtstruktur, der sog. Selbstverwaltung, der Lager. Sie bildeten eine Art Zwischenschicht innerhalb der Zwangsgemeinschaften. Wie ihre Mitgefangenen auch waren diese Funktionshäftlinge der SS restlos ausgeliefert, wurden von dieser aber mit zuweilen weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet. Mit diesen Stellungen einher gingen in der Regel eine bessere Versorgung sowie andere Privilegien. In der Deutung Sofskys stellten die Kapos eine „intermediäre Instanz zwischen SS-Personal und Häftlingsgesellschaft“ dar, die für die Exekution der SS-Befehle zuständig war. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager. Frankfurt/ M., 1993, 153. Strukturell verschaffte die Selbstverwaltung der Lager nach Sofsky „der absoluten Macht [der SS, J.V.] einen organisatorischen Unterbau. Die Machtstaffelung erhob eine Elite über die anderen. Sie machte Häftlinge zu Komplizen des Wachpersonals und damit zu Feinden der Häftlinge.“ Ebd., 168. Aufgrund ihrer vergleichsweise besseren Stellung sowie der häufig durch sie ausgehenden Gewalt blieben die Kapos vielen 5 Die Opfer des Nationalsozialismus zwischen offizieller Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 5.1 „Winkelzüge“. Die Übernahme nationalsozialistischer Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff Die befreiten Häftlinge der nationalsozialistischen Lager und Gefängnisse sahen sich nach 1945 oftmals mit ihrer Inhaftierung als „Stigma“ konfrontiert. In den Augen vieler Deutscher galten sie als anrüchige Personen, ihre Opferschaft als sozialer Makel, eine Aversion, die sich mit Neid ob der materiellen Anerkennung vermengte, die ihnen durch die alliierten Siegermächte zugesprochen wurde. Indessen wurden die Opfer auch bei dieser offiziellen Anerkennung sortiert. Die alliierten Truppen hatten zunächst alle Insassen aus den Lagern befreit und für diese eine Erstversorgung eingeleitet. Rasch wurde aber deutlich, dass auch ihnen die Verfolgung und Inhaftierung durch die Nationalsozialisten nicht per se als illegitime Gewaltform galt. Zu keinem Zeitpunkt bezog sich die alliierte Anerkennung der Häftlinge auf alle Befreiten gleichermaßen. Bereits die alliierten Militärgerichtsprozesse legen die Unschärfen offen, mit denen die Alliierten nach Tätern und Opfern der nationalsozialistischen Lager unterschieden. Neben Angehörigen der SS mussten sich auch zahlreiche ehe‐ malige Häftlinge für Taten während ihrer Haftzeit verantworten, vor allem die Kapos und andere Funktionshäftlinge, die die SS als Vorarbeiter und Aufseher eingesetzt hatte. 227 Wachsmann veranschlagt den Anteil der bei den Verfahren Gefangenen vor allem als Nutznießer der SS in Erinnerung. Etwa Gutman, et al., Enzyklopädie, 738. 228 Wachsmann, KL, 704 f.; vgl. auch die zeitgenössische Einschätzung von Karl S. Bader, „Der kriminelle KZ.-Häftling. Ein kriminologisches Gegenwartsproblem“, Die Gegen‐ wart 1/ 14, 15 (1946), 18-21, hier: -19. 229 Stengel, „Einleitung“, 9. 230 Vgl. Baumann, „Winkel-Züge“, 309. Die nachfolgende Darstellung bezieht sich in erster Linie auf die Situation der deutschen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Derartige Differenzierungsdebatten fanden aber auch entlang nationaler Kriterien statt. Obenaus etwa konnte zeigen, dass die Frage der Entschädigung, und damit der Anerkennung, jüdischer Verfolgter in Niedersachsen auch hinsichtlich ihrer Staatszu‐ gehörigkeit erörtert wurde. Obenaus, „Begriff Opfer“, 49. in Dachau angeklagten Häftlinge auf bis zu zehn Prozent der insgesamt Be‐ schuldigten. 228 Ein Beispiel dieser erneut verurteilten Kapos ist der ehemalige politische Buchenwaldhäftling Arthur Dietzsch, der im August 1947 im Zuge des Buchenwald-Hauptprozesses zu 15 Jahren Haft wegen seiner Tätigkeit im Block 46 verurteilt wurde und dessen Biographie 1960 Ernst von Salomon litera‐ risch verarbeitete. Im medizinischen Versuchsblock war Dietzsch an den von der SS durchgeführten Fleckfieberversuchen an Mitgefangenen beteiligt gewesen und wurde aufgrund dessen von den Alliierten wegen Mithilfe verurteilt. In den alliierten Prozessen und der juristischen Identifikation eines nicht geringen Teils der Gefangenen als Täter zeigte sich bereits, dass die befreiten Insassen mitnichten als prinzipiell anzuerkennende Opfer einer abzulehnenden Gewalt wahrgenommen wurden. Die Verfahren gegen die sich aus allen Häftlingsgruppen zusammensetzenden Funktionshäftlinge gaben nur den Auftakt zu einer Reihe von Aushandlungs‐ prozessen, die, losgetreten durch die alliierte Direktive, dass den Opfern auch materielle Anerkennung zustehe, in der Nachkriegszeit entlang der Frage geführt wurden, welche Gruppierungen als Opfer der nationalsozialistischen Gewalt anzuerkennen und welche von diesem Status auszuschließen seien. Dazu führt Stengel aus: „Viele Verfolgte wurden lange Zeit gar nicht als Opfer von NS-Unrecht angesehen. In den ersten Jahren nach Kriegsende fand ein Prozess der Ausdifferenzierung statt, in dem festgelegt wurde, wer als Opfer des NS gelten durfte. In diesem Prozess spiegelten sich gesellschaftliche Wertentscheidungen, die auch von vielen ehemaligen Verfolgten geteilt und verteidigt wurden.“ 229 Diese Debatten wurden häufig entlang der von den Nationalsozialisten exeku‐ tierten und in den Lagern anhand von Farbwinkeln auf der Kleidung nach außen sichtbaren Häftlingssortierung geführt. 230 Der Bezug auf die Winkelfarbe 108 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 231 Lieske, Unbequeme, 30. 232 Zur Opfergruppe der „Asozialen“ siehe Ayaß, „Asoziale“, 138-179, zu den „Berufsver‐ brechern“ Lieske, Unbequeme, 31-34. Zur Verfolgung der Sinti und Roma Ludwig Eiber, „Die Verfolgung der Sinti und Roma in München 1933-1945“, in: Eiber, Ludwig; Landeshauptstadt München, „Ich wußte, es wird schlimm“. Die Verfolgung der Sinti und Roma in München 1933-1945, München 1993, 21-143, hier: -46-98. 233 Baumann, „Winkel-Züge“, 292. 234 Paul, „Weichenstellung“, 71-75. 235 Ebd., 82 f.; vgl. auch das SHEAF-Memorandum Nr. 39 (Fußnote 189). Dazu ist anzu‐ merken, dass auf alliierter Seite Uneinigkeit darüber herrschte, welchen Stellenwert innerhalb der Anerkennungsdebatten kontinuierte die nationalsozialistische Häftlingssortierung und machte diese zum gültigen Maßstab der Wahrnehmung der Gefangenen auch nach ihrer Befreiung. Sachlich kam hinzu, dass die faschistische Kategorisierung in sich keineswegs frei von Unschärfen und Widersprüchen gewesen war. So weist Lieske auf die Willkür und teilweise Nichtnachvollziehbarkeit der Häftlingseinteilung hin: „Handelte es sich bei der Winkelvergabe um ein scheinbar ausgeklügeltes System, war die jeweilige Zuordnung offenbar nicht immer klar festgelegt. Darauf weisen Um- und Mehrfachkategorisierungen hin.“ 231 Insbesondere die Kategorien der „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“ bezeich‐ neten mehr oder weniger fluide Gruppierungen, die sowohl „Gemeinschaftsfremde“, „Gewohnheitsverbrecher“, Sicherungsverwahrte und Schutzhäftlinge umfassten. 232 Baumann ergänzt in Bezug auf die „Berufsverbrecher“: „Den ‚grünen Winkel‘ trugen solche Menschen, die von der Polizei - ohne richterliche Anordnung und zum Teil direkt nach der Haftentlassung - als ‚Berufsverbrecher‘ verhaftet worden waren und zur ‚vorbeugenden Verwahrung‘ (respektive ‚befristeten Vorbeugehaft‘) in ein Konzentrationslager deportiert wurden. Zur Gruppe der ‚krimi‐ nellen KZ-Häftlinge‘ zählten aber auch aus dem Strafvollzug in ein KZ ‚überstellte‘ Strafgefangene oder Sicherungsverwahrte.“ 233 Ähnliches galt auch für die politischen Häftlinge. Die Großgruppe versammelte sowohl Personen aus dem politisch linken Spektrum, kirchliche wie konserva‐ tive Oppositionelle, jüdische Gefangene, aber auch NSDAP-Funktionäre und Wehrmachtsangehörige. 234 Die diffuse und zum Teil widersprüchliche Sortie‐ rung der Nationalsozialisten entlang von Winkelfarben wurde indessen in der Nachkriegszeit ausschlaggebendes Kriterium bei der Anerkennung als Opfer. Bereits 1945 galten die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen vom Nationalsozialismus Verfolgten als eigentliche Opfer nationalsozialisti‐ scher Gewalt, die anzuerkennen und zu entschädigen seien. 235 Unter den 5.1 Nationalsozialistische Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff 109 die rassisch Verfolgten in ihrer Besatzungs- und Entschädigungspolitik haben sollten. Weckel etwa führt eine Richtlinie der US Intelligence aus dem Sommer 1944 mit dem programmatischen Titel „Military Government and Problems with Respect to the Jews in Germany“ an: Mit der Begründung, keine rassischen Kriterien der NS-Ideologie wiederholen zu wollen heißt es darin, man wolle die Juden als Opfergruppe nicht herausstellen. Zudem fürchteten einige anglo-amerikanische Geheimdienststellen, eine Betonung der jüdischen Opfer und ihres Leidens könnte durchaus auch in ihren Ländern vorhandene antisemitische Tendenzen verstärken. Weckel, Bilder, 183; vgl. Petra Marquardt-Bigman, „Nachdenken über ein demokratisches Deutschland“, in: Hei‐ deking, Jürgen; Mauch, Christof, Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1993, 122-141, hier: -132f. 236 Die dominante Stellung ehemaliger politischer Häftlinge im Nachkriegsdiskurs konsta‐ tiert Ayaß, „Winkel“, 16. 237 Zu den Gründungen der Verfolgtenverbände, oftmals aus spontanen Hilfsausschüssen unmittelbar nach der Befreiung, siehe Elke Reuter, Detlef Hansel, Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953. Die Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Berlin 1997, 71-80; Wachsmann, KL, 692 f. Zur alliierten Unterstützung dieser Organisationen sowie deren Eingliederung in die Besatzungsadministrationen siehe Goschler, Schuld, 69, 75; Timm, Hammer, 52f. darunterfallenden Häftlingsgruppierungen wurden die politischen Gefangenen rasch die tonangebende Kraft. Bereits in den in unmittelbarer Folge der Be‐ freiung gegründeten internationalen Häftlingskomitees zur Organisation von Versorgung und Verwaltung der Befreiten hatten sie die führenden Positionen inne. Die Arbeit von noch in den Lagern gegründeten Hilfsausschüssen setzte sich fort in den Verfolgtenverbänden, die sich bald die Koordination der Versorgungs- und Rekompensationsforderungen der befreiten Häftlinge zur Aufgabe machten. Durchsetzen konnten sich in erster Linie die Interessenver‐ tretungen der ehemaligen „Politischen“. Insbesondere in den politisch linken und liberalen Inhaftierten erkannten die Alliierten die antifaschistischen Kräfte, die in erster Linie für ihr Programm zur Entnazifizierung und Demokratisie‐ rung Deutschlands zu gewinnen seien. 236 Die Verbände erhielten auch die Möglichkeit zu politischer Partizipation in den „Ausschüssen für die Opfer des Faschismus“, welche von den alliierten Besatzungsmächten mit der Aufgabe der Versorgung und Betreuung der Opfer betraut und als Teil der offiziellen Administration der Militärregierungen in die jeweiligen Landesämter integriert wurden. In der Sowjetischen Besatzungszone waren die Abteilungen „Opfer des Faschismus“ in die Landesämter für Arbeit und Sozialfürsorge eingeglie‐ dert, in den westlichen Besatzungszonen wurden ähnliche Organisationen in Form von Landesbetreuungsstellen unter der Leitung von Staatskommissaren bzw. Regierungsräten installiert. 237 Besetzt waren auch diese Ausschüsse in der Mehrzahl von ehemaligen politischen Gefangenen bzw. den Funktionären 110 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 238 Goschler, Schuld, 84-99; Jascha März, Zwischen Politik und Interessenvertretung. Die Verbände der politischen Opfer des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutsch‐ land von 1947 bis 1990. Diss. Uni Köln 2016. 239 Zu den Arbeitsfeldern der Opferverbände und offiziell bestellten Ausschüsse siehe Goschler, Schuld, 68-76; März, Zwischen, insb. 17-46, 98-183; Reuter, Hansel, VVN, 87-98. Am Beispiel der Hamburger „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ konnte Schmid Arbeitsweise, Aufgabenfelder und Selbstverständnis der Verbände als Hilfsorganisation und politische Interessenvertretung aufzeigen. Harald Schmid, „‚Wiedergutmachung‘ und Erinnerung. Die Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“, in: Stengel, Katharina; Konitzer, Werner, Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt/ M. 2008, 27-47. Auf die Konkurrenz verschiedener Verfolgtenverbände hat Meyer am Beispiel der kommunistisch dominierten VVN gegenüber der Interessenvertretung der Sozialdemokraten in der „Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten“ (AvS) hingewiesen. Kristina Meyer, „Sozialdemokratische NS-Verfolgte und die Vergan‐ genheitspolitik“, in: -Stengel, Konitzer, Opfer als Akteure, 48-66, hier: -54-58. 240 Beispiele früher Gemeinschafts- und Sammelpublikationen der „OdF“-Verbände sind vor allem in der sowjetischen Besatzungszone nachweisbar, etwa: Abteilung OdF Stadtverwaltung Schwerin (Hrsg.), „Sie starben für Dich! “. Schwerin 1945; Rat der Stadt Dresden: Soziale Fürsorge, Kommunale Hilfsstelle: Opfer des Faschismus (Hrsg.), „Tatsachen klagen an! “. Berichte der Überlebenden. Dresden 1945. Siehe dazu auch Hartewig, „Proben“, 38; Peitsch, Gedächtnis, 123-132 Zur Organisation von Gedenkver‐ sammlungen, Kundgebungen und Umzügen: Reuter, Hansel, VVN, 87-94, 328-437. 241 Helga Kutz-Bauer, „Einführung“, in: Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozial‐ demokraten Hamburg (AvS), „Dass die Frage der Wiedergutmachung … zu einem öffentlichen Skandal geworden ist“. Zur Tätigkeit der ehemals verfolgten Sozialdemokraten 1945-2005, Hamburg 2008, 7-14, hier: -9; vgl. Goschler, Schuld, 65. der Verfolgtenverbände. Die Aufgabenfelder der Ausschüsse und Verbände umfassten zum einen die materielle Versorgung: Die ehemaligen Gefangenen er‐ hielten Lebensmittelkarten oder Geldleistungen; ausgegeben wurden Ausweise, die zum Bezug von Rationen berechtigten. Damit verbunden war die somit quasi aktenmäßige Anerkennung der Häftlinge als zu entschädigende Opfer. Anknüpfend an die ersten Hilfsleistungen arbeiteten die Verbände als politische Interessenvertretung der Verfolgten, insbesondere mit Blick auf die juristische Regelung der Entschädigungsleistungen. 238 Darüber hinaus organisierten die Verbände Suchdienste, Spendenaktionen und Repatriierungsmaßnahmen, aber auch Freizeitaktivitäten und Urlaubsfahrten. 239 Als Initiatoren von Buchpub‐ likationen sowie von Kundgebungen, Gedenkveranstaltungen und -stätten trugen sie maßgeblich zur öffentlichen Wahrnehmung der Verfolgten in der Nachkriegszeit bei. 240 Der mitgliederstärkste und einflussreichste Verband war die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), die Ende 1947 etwa 300.000 Mitglieder in allen vier Besatzungszonen versammelte. 241 5.1 Nationalsozialistische Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff 111 242 Vgl. Ayaß, „Asoziale“, 210; Stefanie Pilzweger-Steiner, Andrea Riedle, „Einleitung“, in: dies., Beweise für die Nachwelt. Die Zeichnungen des Dachau-Überlebenden Georg Tauber. Katalog zur Sonderausstellung, Berlin 2018, 8-11, hier: -8. 243 Lieske, „‚Berufsverbrecher‘“, 80. In den letzten Jahren sind die Schicksale dieser Opfer‐ gruppen, ihre häufig fortdauernde Kriminalisierung sowie ihr Ausschluss von offizieller Anerkennung, verstärkt in den Fokus vor allem der historischen Forschung gekommen. Siehe dazu exemplarisch Ayaß, „Asoziale“, 210-216; Baumann, „Winkel-Züge“, 313 f.; Eiber, „Verfolgung“, 128-143; Julia von dem Knesebeck, The Roma struggle for compen‐ sation in post-war Germany. Hatfield 2011; Joachim Müller, „Betrifft: Haftgruppen ‚Homosexuelle‘ - Rehabilitierung (k)ein Problem? Schlaglichter zu einigen markanten Stationen in offiziellen und öffentlichen Bereichen“, in: -Mußmann, Olaf, Homosexuelle in Konzentrationslagern. Vorträge. wissenschaftliche Tagung, 12./ 13.9.1997, Berlin 2000, 10-30, hier: 18-25; Paul, „Weichenstellung“, 67; Stengel, „Einleitung“, 9; Henning Tümmers, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangs‐ sterilisationen in der Bundesrepublik. Göttingen 2011 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, 11); Susanne Zur Nieden, „Die Aberkannten. Der Berliner Hauptaus‐ schuß ‚Opfer des Faschismus‘ und die verfolgten Homosexuellen“, in: Frei, Norbert; Brunner, José; Goschler, Constantin, Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Bonn 2010, 264-289, hier: -264-289. 244 Goschler, Schuld, 78-80. Andere Häftlingsgruppen hatten indessen nicht die Möglichkeiten einer sol‐ chen (offiziell subventionierten) Interessenvertretung. Nur vereinzelt konnten sich nichtpolitische Stimmen in den zeitgenössischen Diskurs einschalten. 242 Von den Nationalsozialisten inhaftierte Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma oder Zwangssterilisierte wurden weitgehend von der Anerken‐ nung als Opfer des Nationalsozialismus ausgeschlossen. Diese als „vergessen“ titulierten Häftlingsgruppen, so Lieske, „wurden überhaupt erst in den 1980er-Jahren als NS-Verfolgte sichtbar gemacht.“ 243 Das Übergewicht der ehemaligen „Politischen“ schlug sich in allen Bereichen der Opferbetreuung der Ausschüsse und Verbände nieder: Hilfsleistungen und „OdF“-Ausweise wurden in der Regel den ehemaligen politischen Gefangenen zugesprochen. 244 Aktiv arbeiteten die Vertreter daran, die Unterstützungen den eigenen Leuten zuzusprechen. Bereits im Juni 1945 konstatierte Karl Raddatz, Leiter des Hauptausschusses „OdF“ beim Magistrat von Groß-Berlin, der Status „Opfers des Faschismus“ komme einer Auszeichnung gleich, die in erster Linie den politischen Gefangenen, den antifaschistischen Widerstandskämpfern zustehe. Ausschließlich ihnen sollten auch die materiellen Leistungen zugesprochen werden. Raddatz fügte hinzu: 112 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 245 Z.n. Timm, Hammer, 53; vgl. Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im „antifaschistischen Staat“. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945- 1989). Berlin 2002, 45. Raddatz’ internes Rundschreiben datiert auf den 28. Juni 1945, publiziert wurde es am 1. Juli 1945 in der Deutschen Volkszeitung. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands. Obenaus liefert darüber hinaus den Hinweis, dass die Ausgrenzung unerwünschter Häftlingsgruppierungen zuweilen auch mit dem Argument der finanziellen Ersparnis zu legitimieren versucht wurde. So gab es im Vorfeld des niedersächsischen Entschädigungsgesetzes seitens der kommunistischen Abgeordneten im Landtag die Meldung, dass die von den „Politischen“ geschaffene Exklusivität in den Opferverbänden auch als fiskalische Errungenschaft anzuerkennen sei. Obenaus, „Begriff Opfer“, 61. 246 Stengel, „Einleitung“, 11; Wachsmann, KL, 19. Dazu zählen etwa die Arbeiten der ehe‐ maligen Häftlinge Benedikt Kautsky, Teufel und Verdamte [Verdammte]. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern. Zürich 1946; Bruno Bettelheim, „Individual and Mass Behavior in Extreme Situations“, The Journal of Abnormal and Social Psychology 38/ 4 (1943), 417-452 oder Kogon, SS-Staat. Zu nennen ist auch Paul Neuraths 1943 an der Columbia University eingereichte, doch erst in den frühen 2000ern veröffentlichte Schrift The Society of Terror. Inside the Dachau and Buchenwald Concentration Camps (2005)/ Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald (2004). Orth wie auch Wachsmann konstatieren, dass erst in den 1960er Jahren und angestoßen durch die Frankfurter Auschwitzprozesse eine historiographische Forschung zu den Lagern einsetzte, die nicht maßgeblich von deren Opfern bestimmt war. Karin Orth, „Die Historiographie der Konzentrationslager und die neuere KZ-Forschung“, Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), 579-598, hier: -582; Wachsmann, KL, 17-24. „Damit ist entschieden, daß Juden, Mischlinge, Bibelforscher, die meisten Fälle der Wehrkraftzersetzung, Meckerer usw. nicht in den eng gezogenen Rahmen der ‚Opfer des Faschismus‘ einbezogen werden können.“ 245 Hinzu kamen die Möglichkeiten zur Reflexion und Deutung der Gefangenschaft. Ressourcen und Infrastruktur zum Verfassen von Informationsmaterial, zum Sammeln von Aussagen oder dem Abhalten von Gedenkveranstaltungen hatten in der Regel die organisierten und vernetzten politischen Gefangenen. Bis auf einzelne Ausnahmen wurden sämtliche in den ersten Nachkriegsjahren erschie‐ nenen Publikationen über die Lager von ehemaligen politischen Häftlingen verfasst. Sie waren es auch, die die historiographische Aufarbeitung und eine erste Forschung über die Lager und deren Häftlingsgemeinschaften aus psycho‐ logischer, historischer oder soziologischer Sicht anstießen und so das öffentlich kommunizierte Bild der Gefangenschaft in der Nachkriegszeit maßgeblich prägten. 246 Dabei machten die Verfolgtenverbände bereits heraldisch deutlich, welche Opfer und Hafterfahrungen durch sie vertreten wurden: Bis hin zur VVN war der rote Winkel das allgegenwärtige Wappen der Verbände. Wie Reuter und Hansel konstatieren: „Das Zeichen der politischen Häftlinge, der rote Winkel 5.1 Nationalsozialistische Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff 113 247 Reuter, Hansel, VVN, 89. 248 Stengel, „Einleitung“, 10. 249 Baumann, „Winkel-Züge“, 301. 250 Ayaß, „Asoziale“, 210. Für ausführlichere Untersuchungen zum Umgang mit den sozial Verfolgten des Nationalsozialismus in den verschiedenen Besatzungszonen siehe Stefan Romey, „‚Asozial‘ als Ausschlusskriterium in der Entschädigungspraxis der BRD“, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009 (Beiträge zur Geschichte der national‐ sozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 11), 149-159; Susanne Zur Nieden, „‚Unwürdige‘ Opfer. Zur Ausgrenzung der im Nationalsozialismus als ‚Asoziale‘ Verfolgten in der DDR“, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009 (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 11), 138-148. mit den Buchstaben KZ, wurde zu einem allgemeinen Symbol antifaschistischen Gedenkens und antifaschistischer Aufklärung.“ 247 Nichtpolitische Häftlinge, die versuchten, an die Kameradschaftlichkeit ihrer Mitgefangenen oder einen solidarischen „Geist der Lagerstraße“ zu appellieren, scheiterten in der Regel. 248 Menschen, die die Nationalsozialisten einer nichtpolitischen Häftlingsgruppe zugerechnet hatten, wurden nicht nur materiell und ideell nicht anerkannt, son‐ dern sahen sich nach der Befreiung nicht selten fortdauernder Stigmatisierung und erneuter Kriminalisierung ausgesetzt. Dies galt insbesondere für Menschen, die als „Zigeuner“, „Asoziale“ sowie „Berufsverbrecher“ verfolgt worden waren. Dazu schreibt Baumann: „In der Beurteilung von Delinquenten, die in der NS-Diktatur zum Strafvollzug in ein Konzentrationslager überstellt worden waren, unterschieden Gerichte und Strafanstaltsbedienstete indes zwischen einer ‚berechtigten‘ und einer ‚unrechten‘ Inhaftierung. Während die Lagerhaft aus ‚politischen Gründen‘ als unrechtmäßig erachtet wurde, galt solches für ‚kriminelle‘ KZ-Häftlinge oder ‚Zigeuner‘ offenbar nicht.“ 249 Ayaß ergänzt mit Blick auf die als „Asoziale“ Inhaftierten: „Die vielfältige Unterdrückung nicht angepaßt lebender Menschen während des Dritten Reiches begriff die Nachkriegsgesellschaft weitgehend nicht als nazispezi‐ fisch. […] Das harte Vorgehen gegen ‚Asoziale‘ wurde in der öffentlichen Meinung oft zu den positiven Seiten der Nazizeit gezählt.“ 250 Konzepte zum umfassenden juristischen Zugriff auf Wiederholungstäter reichten bis in die Zeit der Weimarer Republik zurück. Auch aus diesem Grund stellte die im Nationalsozialismus verhängte Schutz- und Vorbeugehaft gegenüber wiederholt auffällig gewordenen Menschen aus der Perspektive von Politik und Justiz der Nachkriegszeit keine spezifisch nationalsozialistische 114 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 251 Baumann, „Winkel-Züge“, 291; Lieske, Unbequeme, 365. 252 Baumann, „Winkel-Züge“, 297 f.; vgl. Romey, „‚Asozial‘“, 150. 253 Baumann, „Winkel-Züge“, 298 f.; Lieske, Unbequeme, 365. Zum „Gesetz gegen gefähr‐ liche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ siehe Christian Müller, Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminal‐ politik als Rassenpolitik. Baden-Baden 1997 ( Juristische Zeitgeschichte Abt.-3, Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung, 2); Lieske, Unbequeme, 74-80. 254 Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Krimi‐ nalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Hamburg 1996 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 34), 405; vgl. Baumann, „Winkel-Züge“, 299f. Gewalt dar. 251 Waren auch die „Grünen“ von den Alliierten zunächst freigelassen worden, stellt Baumann fest, dass zumindest in einigen Regionen rasch wieder gegen sie vorgegangen wurde: „Zum Teil wurde die Befreiung durch die Alliierten rückwirkend als Begnadigung legitimiert, in anderen Fällen wurden die Entlassenen zur Fahndung ausgeschrieben oder eine solche steckbriefliche Suche zumindest angedroht. Der Freisetzung der Häftlinge folgte sehr schnell eine gegenläufige Entwicklung, die von den Strafverfol‐ gungsbehörden mit dem Ziel forciert wurde, die Kontinuität der Strafrechtspraxis nach 1945 zu gewährleisten. Zum Teil wurden viele frühere Gefangene in den Nachkriegsjahren erneut straffällig, zum Teil wurden freigesetzte Gefangene und Sicherungsverwahrte erneut inhaftiert, ohne sich zuvor strafbar gemacht zu haben.“ 252 Das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ von 1933, das die juristische Grundlage für die Verhängung von Schutzhaft bei mehrfach vorbestraften Personen lieferte, blieb auch nach Kriegsende zunächst in Kraft und wurde nach wie vor mitunter als Meilenstein des modernen Strafrechts gewertet, eingeschränkt durch den Zusatz, dass es unter den Nationalsozialisten vermehrt missbraucht worden sei. Auch die Lagerhaft erschien darin als legitimes Machtmittel der Kriminalitäts‐ bekämpfung. 253 Wagner konstatiert, dass dies für die entlassenen „BVler“ und „Asozialen“ vielfach eine erneute bzw. andauernde Kriminalisierung von Seiten der offiziellen Justiz bedeutete. „Erstaunlich stabil blieb der Glaube an das Modell Berufsverbrecher, das sich in Darstellungen der Nachkriegskriminalität aus der Feder von Polizisten in der These niederschlug, einige Tausend von den Alliierten aus den Konzentrationslagern be‐ freite kriminelle Vorbeugungshäftlinge seien zu einem großen Teil verantwortlich für die Zunahme registrierter Kriminalität in den Nachkriegsjahren.“ 254 Diese Erklärung von seit Kriegsende steigenden Kriminalitätsraten mit den Entlassungen aus den Konzentrationslagern ging einher mit der weitgehenden 5.1 Nationalsozialistische Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff 115 255 Vgl. ebd., 290-305. 256 Ebd., 305. Dies bestätigt Riedle auch für die „Asozialen“: „[I]m Verständnis der Nach‐ kriegszeit“ handelte es sich „bei den ‚Asozialen‘ und ‚Berufsverbrechern‘ pauschal um Verbrecher, die zu Recht inhaftiert waren.“ Andrea Riedle, „Georg Tauber als ‚asozialer‘ Häftling im KZ Dachau und sein vergeblicher Kampf um Anerkennung als NS-Opfer“, in: Pilzweger-Steiner, Stefanie; Riedle, Andrea, Beweise für die Nachwelt. Die Zeichnungen des Dachau-Überlebenden Georg Tauber. Katalog zur Sonderausstellung, Berlin 2018, 12-39, hier: 34; vgl. Lieske, „Berufsverbrecher“, 81. Zu diesem Ergebnis kommt auch Steinbacher mit Blick auf Akten der US-amerikanischen Militäradminis‐ tration, die das Zusammenleben von Zivilbevölkerung und ehemaligen Häftlingen in Dachau unmittelbar nach Kriegsende dokumentieren. Steinbacher, „Totenklage“, 19f. 257 Baumann, „Winkel-Züge“, 320. 258 Z.n.-ebd., 301. 259 Lieske, Unbequeme, 365. 260 Wagner, Volksgemeinschaft, 406 f.; vgl. Baumann, „Winkel-Züge“; Lieske, „Berufsver‐ brecher“, 82f. Anerkennung der durch die Nationalsozialisten verhängten Strafmaßnahmen einem Teil der Inhaftierten gegenüber. Der Wortlaut von Nachkriegsurteilen kannte ebenso wie der von vor 1945 die Begriffe „Asoziale“ und „Berufsverbre‐ cher“, deren Kriminalität als pathologischen, wenn nicht rassischen Ursprungs gewertet wurde. 255 Dazu konstatiert Baumann: „Denn in den Augen zeitgenös‐ sischer Politiker, Strafpraktiker und Wissenschaftler galten sie als ‚zu Recht inhaftiert‘ und stellten - aufgrund ihrer Veranlagung - scheinbar noch immer eine gesellschaftliche Bedrohung dar.“ 256 So wurde „in den Nachkriegsjahren nicht das Unrecht der Deportation von ‚Kriminellen‘ beklagt“, sondern im Gegenteil „ihre Befreiung aus dem KZ durch die Alliierten kritisiert“. 257 In einer Urteilsbegründung des Schöffengerichts Freiburg aus dem Jahr 1948 gegen einen wegen Betruges Angeklagten heißt es etwa, dass „[s]elbst die fünfjährige Einschließung in einem KZ. mit all ihren unmenschlichen Härten“ nicht „geeignet“ gewesen sei, „den Angeklagten zur dauernden Abkehr von seinem bisherigen Lebenswandel zu bestimmen.“ 258 Noch bis in die 1960er Jahre wurde innerhalb der Polizei- und Justizbehörden zumindest darüber debattiert, ob die Sicherungsverwahrung für wiederholt auffällig gewordene Straftäter nicht wieder einzuführen sei. 259 Die nationalsozialistische Praxis der Inhaftierung in KZ wurde darin größtenteils als begrüßenswerter Umgang mit einer problematischen, die Gesellschaft gefährdenden Gruppe gewertet. Diese Methoden, so führt Wagner weiter aus, wurden als insofern angemessen erachtet, als sie das „Problem Berufsverbrecher“ „eingedämmt“, wenn nicht gar „gelöst“ zu haben schienen. 260 Angesichts dessen überrascht es nicht, dass es dort, wo sich die „Nichtpoliti‐ schen“ in die Debatten einmischen konnten, zunächst um Verteidigungen gegen 116 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 261 Ebd., 81 f.; Riedle, „Tauber“, 30; Wachsmann, KL, 712. 262 Lieske, „Berufsverbrecher“, 81 f. Eiber konnte anhand von Akten der Münchener Stadt‐ verwaltung zeigen, dass Tauber und Jochheim-Arnim 1946 auch an der Gründung des „Komitees Deutscher Zigeuner, München“ bzw. der „Interessengemeinschaft deutscher Zigeuner“ beteiligt waren. Eiber, „Verfolgung“, 128f. 263 Z.n.-Riedle, „Tauber“, 34. 264 Ebd., 32f. den pauschalen Vorwurf der Kriminalität ging. Eines der wenigen Beispiele für das öffentliche Auftreten ehemaliger „Berufsverbrecher“ und „Asozialer“ stellen Georg Tauber und Karl Jochheim-Armin dar. Gemeinsam gründeten die beiden ehemaligen Insassen mehrerer Lager die „KZ-Arbeitsgemeinschaft ‚Die Vergessenen‘“ mit einer gleichnamigen Zeitung. 261 Zudem publizierten sie die Broschüre „Wahrheit und Recht! Schwarz-Grün - Internes Informationsblatt der Konzentrationäre Deutschlands, der Schwarzen und Grünen“. 262 Darin erheben sie Einspruch gegen die von den „Politischen“ getragene Ungleichbehandlung und fordern unter Hinweis auf die Willkür der NS-Sortierung eine von der Häftlingskategorie unabhängige Anerkennung auch ihrer Opferschaft. Der Artikel „Eine Gewissensfrage“, erschienen im Juli 1946 in Die Vergessenen, stellt kategorisch die Gleichheitsfrage: „Ist derjenige, der als Versuchstier be‐ nützt wurde in einem K.Z.-Lager, gleich, welchen Winkel er trug, nicht ein Nazi-Opfer im wahrsten Sinne des Wortes? “ 263 Die Forderung Taubers und Jochheim-Armins nach Gleichberechtigung der Opfer wurde auch begleitet von Anwürfen in Richtung der ehemaligen „Roten“. Riedle führt einen Artikel in „Wahrheit und Recht! Schwarz-Grün“ vom Mai 1946 an, der auf die besonders schwere Zwangsarbeit der „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“ in den Lagern hinweist, während die privilegierten Lagerpositionen etwa in der Schreibstube vor allem von politischen Gefangenen besetzt gewesen seien. Die einstigen Arbeitssklaven seien nun, so der Artikel weiter, entsprechend der Schwere der zu verrichtenden Arbeit anzuerkennen. 264 Die pauschal als „gewöhnliche Kriminelle“ wahrgenommenen Gefangenen treten hier gegen die gängigen Opferdefinitionen den Beweis an, dass sie der gleichen Gewalt ausgesetzt gewesen waren und also ebenfalls als Opfer der Lager anzuerkennen seien. Dabei zeigen die Aktionen „der Vergessenen“, dass sich die „Nichtpolitischen“ zunächst gegen die Dominanz der „politischen“ Narrative durchzusetzen hatten, um überhaupt den Status als „Opfer des Faschismus“ zu erlangen, von dem aus die „Politischen“ wie selbstverständlich sprachen. Ergebnis der Debatten um Anerkennung und Entschädigung der ehemaligen Opfer war ein klarer Schnitt, der die ehemaligen politischen Gefangenen affirmierte, andere Ansprüche indessen rigoros abwies. Auch Tauber und Joch‐ 5.1 Nationalsozialistische Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff 117 265 Zum Scheitern des Projektes „Die Vergessenen“ haben wohl auch die früheren Tätig‐ keiten seiner Initiatoren beigetragen: Georg Tauber war Mitglied der NSDAP und, nach eigenen Aussagen, der SA gewesen. Karl Jochheim-Armin war Mitglied in Otto Strassers „Schwarzer Front“, die 1930 als Splittergruppe der Nationalsozialisten entstanden war. Bis zu seinem Tod 1984 trat Jochheim-Armin wiederholt als Autor in der rechtsextremen Publikationsreihe Schwarze Front in Erscheinung. Riedle, 24; Wachsmann, KL, 897, End‐ note 126; Schwarze Front. Diskussionsblätter für sozialistische und nationalrevolutionäre Politik, Internet: https: / / arbeitertum.wordpress.com/ schwarze-front, zuletzt geprüft am: 9.2.2021, darin die Folgen-3 (2008), 21 (2010), 33 (2011). 266 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Bundesamt für Justiz, „Bun‐ desgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Vom 18. September 1953“, Internet: Gesetze im Internet. http: / / www.gesetze-im-internet.de/ beg/ __1.html, zuletzt geprüft am: 28.1.2021. Das „BEG“ entstand in der geistigen Nach‐ folge des 1949, noch vor Gründung der BRD, in der amerikanischen Besatzungszone erlassenen Entschädigungsgesetzes („US-EG“). Dazu sowie zur juristischen Handhabe der darin bezeichneten Kategorie politischer Verfolgter siehe Cornelius Pawlita, „Der Beitrag der Rechtsprechung zur Entschädigung von NS-Unrecht und der Begriff der politischen Verfolgung“, in: Hockerts, Hans Günter; Kuller, Christiane, Nach der Verfol‐ gung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland? , Göttingen 2003 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, 3), 79-114. heim-Armin scheiterten schnell mit dem Anliegen ihrer Verbände und ihrem Ruf nach Gleichberechtigung: Die alliierte Militärregierung verbot die KZ-Ar‐ beitsgemeinschaft, ihre Zeitschrift wurde nach wenigen Ausgaben eingestellt. 265 Rechtlich zementiert wurde diese Sortierung schließlich im „Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ (kurz „Bundesentschädigungsgesetz“/ „BEG“) aus dem Jahr 1953, dessen Paragraph 1 als „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ ausschließlich diejenigen definierte, die aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen verfolgt worden waren. 266 Auch die rechtlich kodifizierte Regelung des westlichen Nachfolgestaates übernahm somit in wesentlichen Zügen die Maßstäbe der nationalsozialistischen Sortierung seiner Opfer. Aufgrund dieser Gemengelage wundert es kaum, dass sich publizierte Texte von nichtpolitischen Gefangenen in der frühen Nachkriegsliteratur nicht finden lassen. Betroffene dieser Opfergruppen hatten in der Regel keinen Zugang zu Verlags- und Publikationsstrukturen, der den politischen Gefangenen schon qua ihrer Opfergruppe zumindest erleichtert war. Zudem mussten sie bei offener Nennung ihrer Häftlingsgruppe mit den Anfechtungen der „Politischen“ 118 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 267 Auch die seltenen Ausnahmen davon stützen diese Aussage: Eine von ihnen stellt das Drama Mauthausen! Schauspiel in drei Aufzügen (vier Bildern) (Ried-Verlag 1946) des im Nationalsozialismus als „Berufsverbrecher“ inhaftierten Arthur Alexander Becker dar, das 1946 in Salzburg als Der Weg ins Leben! uraufgeführt wurde. Allerdings weist Beckers Biographie einige Besonderheiten auf, die die verschiedenen Konkurrenz- und Anerkennungsdebatten des zeitgenössischen Opferdiskurses sowie die Schwierigkeiten der nichtpolitischen Häftlinge illustrieren: Gegenüber den alliierten Behörden gab sich Becker als politischer Gefangener aus, der aufgrund seiner angeblichen jüdischen Abstammung sowie der Mitgliedschaft in einer demokratischen Partei von den Natio‐ nalsozialisten verfolgt worden sei. Auch in seinem Antrag auf Entschädigung nach dem „Bundesentschädigungsgesetz“ gab sich Becker als politischer Gefangener zu er‐ kennen. Die zuständigen deutschen Behörden erkannten dies jedoch als Falschaussage und lehnten den Antrag ab. Unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem KZ Maut‐ hausen konnte sich Becker indessen mit diesen Aussagen bei der amerikanischen Besatzungsmacht profilieren: Als Special Investigator für eines der zahlreichen War Crimes Investigation Teams der U.S. Army führte er Befragungen von Opfern durch und nahm als Beobachter an den Dachauer Mauthausen-Prozessen teil. In die von den Alliierten angestoßenen Aufklärungskampagnen war Becker als NS-Opfer, genauer als politisches Opfer, involviert, eine Beteiligung, die kaum vorstellbar scheint, hätte er sich als „Berufsverbrecher“ offenbart. Zudem ist anzunehmen, dass die Alliierten aufgrund seiner Beteiligung an der juristischen Aufarbeitung auch Beckers publizistische Arbeit förderten, zumindest aber nicht behinderten. Zur Biographie Beckers sowie dem Publi‐ kationskontext des Dramas Mauthausen! siehe Christian Angerer, Andreas Kranebitter, „Von ‚Verbrechermenschen‘ und ‚Künstlermenschen‘. Ein Nachwort“, in: Becker, Arthur Alexander, Mauthausen! Schauspiel in drei Aufzügen (vier Bildern), Wien, Hamburg 2021 (Mauthausen-Erinnerungen. Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, 5), 111-162. Ich danke Andreas Kranebitter für den Hinweis auf Beckers Drama und dessen Tätigkeit für die U.S.-Army. 268 Baumann, „Winkel-Züge“, 307; vgl. Goschler, Schuld, 77. rechnen, so sie nicht ohnehin durch die neuen Herrschaftsorgane nach wie vor juristisch belangt wurden. 267 5.2 Konkurrierende Opferperspektiven Die politischen Gefangenen waren der seitens der neuen Machthaber sowohl materiell als auch sozial anerkannte Teil der Gefangenen. Dennoch waren auch sie einer fortdauernden Stigmatisierung ausgesetzt, ihre KZ-Gefangenschaft war ein über die Befreiung hinausreichender Makel, den es auszuräumen galt. Die „politischen Häftlinge“ begriffen, so konstatiert Baumann, „eine Gleichbe‐ handlung mit den ‚Kriminellen‘ als Diskreditierung […], nämlich als Fortfüh‐ rung des nationalsozialistischen Gedankens, es handle sich bei KZ-Häftlingen um durchweg ‚kriminelle‘ und ‚minderwertige‘ Menschen.“ 268 Auf einer Sitzung der Hamburger Bürgerschaft 1947 wies Paul Heile, Mitglied der FDP sowie 5.2 Konkurrierende Opferperspektiven 119 269 Z.n.-Paul, „Weichenstellung“, 78. 270 Z.n.-Goschler, Schuld, 77; vgl. Ayaß, „Winkel“, 16-18; Paul, „Weichenstellung“, 78. 271 Symbolische Akte wie die Wahl des roten Winkels als Emblem der VVN waren Versuche insbesondere der kommunistischen Verfolgten, den Opferbegriff als Auszeichnung umzudeuten. Vgl. Goschler, Schuld, 77, siehe auch den Versuch des Leiters des Berliner Hauptausschusses „OdF“ Raddatz’ einer derartigen Deutung, Kap.-5.1. 272 Lieske, „Berufsverbrecher“, 72 f.; dies., Unbequeme, 9 f.; Wagner, Volksgemeinschaft, 406. des „Komitees ehemaliger politischer Gefangener“, die Fortschreibung der Maßstäbe der NS-Strafjustiz wie folgt zurück: „Darüber hinaus hörte man auch das Argument, die politischen Gefangenen seien eigentlich gar nicht so sehr politische Gefangene, sondern es seien meist anrüchige Leute. Es war beinahe so weit, daß man jemand, der sich als politischer Häftling oder KZ-Mann ausgab, beinahe schon als verbrecherisches Subjekt ansah, so daß beinahe das eingetreten ist, was seit 1933 beabsichtigt war, als man ihn mitten zwischen Zuchthäusler steckte und ihn dort arbeiten ließ.“ 269 Weiter führt Goschler die Stellungnahme der hessischen Betreuungsstellen für NS-Verfolgte aus dem August 1946 an, worin es heißt: „Asoziale und kriminelle Elemente schädigen unser Ansehen. Wir haben es nicht verdient, dass man uns in einem Atemzug mit diesen Elementen nennt.“ 270 Dagegen verwiesen die „Politischen“ darauf, dass im Nationalsozialismus die Einsortierung als Verbrecher keine rein rechtliche Zuschreibung war, sondern sich nicht zuletzt politischem Kalkül oder purer Willkür verdankte. Den Beweis dafür erbrachten sie freilich unter gleichzeitiger Herabsetzung anderer Häftlingsgruppen als „kriminell“ und „minderwertig“. 271 Ihre Gegenrede affirmiert den Maßstab des an sie herangetragenen Vorwurfs und reproduziert so die Kriminalitätsbilder des Nationalsozialismus über dessen Ende hinaus. Den Verdacht, anrüchige, makelbehaftete Personen zu sein, entkräften sie, indem auch sie von den KZ-In‐ sassen als Kriminelle sprechen, lediglich mit dem Verweis darauf, selbst nicht unter diese Sortierung zu fallen. Inmitten moralisch fragwürdiger Individuen erkennen sie nur bei sich das unbescholtene, ungerechtfertigte Opfer. Einhellig sind es in den Ausführungen der ehemaligen „Politischen“ die anderen Häftlingsgruppen, die sich durch ihr Verhalten in den Lagern belastet hatten. Sie prägten maßgeblich das Bild der „Grünen“ und „Schwarzen“ als brutal prügelnde Kapos und willige Helfer der SS. 272 Ernst Wiechert, 1938 als politischer Gefangener in Buchenwald inhaftiert gewesen, schrieb 1945 in einer an die alliierte Militäradministration adressierten Denkschrift, „Der reiche Mann und der arme Lazarus“, über den deutschen Wiederaufbau und die Rolle, die den ehemaligen Häftlingen darin zukommen solle: 120 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 273 Ernst Wiechert, „Der reiche Mann und der arme Lazarus“, in: Wiechert, Ernst, Sämtliche Werke in zehn Bänden. Band 10. Spiele - Reden - Gedichte - Miscellanea, Wien 1957 [1945], 631-656, hier: -633f. 274 Eugen Kogon, „Gericht und Gewissen“, Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 1/ 1 (1946), 25-37, hier: 30. Der Absatz ist in leicht veränderter Form auch in Der SS-Staat enthalten. Kogon, SS-Staat, 330. „Und da waren die Stimmen der Leute aus den Konzentrationslagern. Wenige von ihnen bereit, zu vergeben, oder zu schenken, oder zu arbeiten. Aber die meisten von ihnen bereit, sich zu rächen, zu nehmen, an sich zu raffen, wessen sie beraubt wurden. Alle von ihnen Dulder, viele von ihnen Märtyrer, einige von ihnen Helden. Aber viele von ihnen weder Märtyrer noch Helden, sondern Verbrecher, Berufsverbrecher, und es war nicht ganz recht und billig, ihren Stimmen wie den Stimmen von erlösten Engeln zu lauschen. Es gibt, soweit ich mich erinnere, weder betrunkene noch stehlende noch raubende noch vergewaltigende noch mordende Engel.“ 273 Die wenigen „Märtyrer“ und „Helden“ der Lager sollten von diesen Trinkern, Räubern, Vergewaltigern und Mördern klar unterschieden werden. Vor diesen sollte im Gegenteil gewarnt werden, sollten sich diese doch eigentlich (wei‐ terhin) als Kriminelle eingesperrt Gehörenden aufgrund ihrer Opferexistenz Gehör zu verschaffen suchen. Auf ähnliche Art weist Eugen Kogon die Ansprüche nichtpolitischer Häftlingsgruppierungen ab, als er in der ersten Ausgabe der Frankfurter Hefte eine kleine Minderheit integrer KZ-Häftlinge gegenüber einer Masse Anrüchiger abgrenzt. „Die meisten befreiten KL-Deutschen taten noch ein übriges, um die letzten Flämm‐ chen vorhandener Sympathie zum Erlöschen zu bringen. […] Die Mehrheit […] hatte für das deutsche Volk nichts übrig als Klagen, Beschimpfungen und Ansprüche - am lautesten, wie immer, die, denen die Leiden nicht gerade ins Gesicht geschrieben standen. Ihr meist sehr eindeutiger Radikalismus, der oftmals glaubte, Methoden des Lagers auf diese andere Welt übertragen zu können, mußte das Bild, das sie sonst boten, nur noch abstoßender machen. Es gab niemanden, der nicht gesehen hätte, daß ihnen für den Führungsanspruch, den sie geltend machten, das sittliche Gesetz fehlte.“ 274 Diese beiden Stimmen sind typisch für die Weise, mit der die „politischen Häftlinge“ versuchten, die Integrität der eigenen Gruppe gegenüber den nicht‐ politischen Gruppen zu behaupten. Eine kleine Gruppe Häftlinge habe trotz der Lagererfahrung Integrität und Sittlichkeit bewahrt und arbeite nun eifrig am Wiederaufbau. Dieser gegenüber stehe das Gros von moralisch fragwürdigen bis eindeutig kriminellen Mitgefangenen, die in der Nachkriegszeit durch erneute kriminelle Handlungen oder aber durch besonders lautes Gezeter auffielen. 5.2 Konkurrierende Opferperspektiven 121 275 Bader, „KZ.-Häftling“, 19, Herv. im Orig. Zur Biographie des Freiburger Generalstaats‐ anwalts Baders siehe Baumann, „Winkel-Züge“, 306 f.; Lieske, „Berufsverbrecher“, 74; Wagner, Volksgemeinschaft, 406. Diese belasteten den Wiederaufbau zusätzlich durch ihre ungerechtfertigten Ansprüche. Während die politischen Gefangenen also darauf verwiesen, Teile des gesellschaftlichen Neuanfangs zu sein, stelle der Egoismus der „Nichtpoli‐ tischen“ eine Gefahr für das Gemeinwohl dar und markiere diese tatsächlich als „Asoziale“. Das Argument der „Politischen“ ist ein versöhnlicher Ruf in Richtung der deutschen Bevölkerung, da es zusätzliche und ungerechtfertigte Belastungen für die am Boden liegende Nation ausschloss und anstatt dessen von Integration in und Mitarbeit an der neuen Gesellschaft sprach. Als Opfer der Lager anzuerkennen seien nur sie, die den Willen und die Befähigung zu einer solchen gesellschaftlich produktiven Partizipation aufwiesen. Die Überzeugung, die politischen Gefangenen vor der als Diskreditierung aufgefassten Gleichbehandlung mit den „gewöhnlichen Kriminellen“ in Schutz nehmen zu müssen, wurde auch von nicht als Opfer betroffenen Akteuren des Diskurses geteilt. Zu diesen zählt auch eine der ganz wenigen Stimmen, die sich in der Nachkriegszeit für die „Kriminellen“ einsetzten. Karl Siegfried Bader, von der französischen Militärregierung berufener Generalstaatsanwalt am Oberlandesgericht Freiburg, veröffentlichte 1946 in Die Gegenwart den Ar‐ tikel „Der kriminelle KZ.-Häftling. Ein kriminologisches Gegenwartsproblem“, worin er eine alle Opfer umfassende Anerkennung aufgrund der Gleichartigkeit der Hafterfahrung aller Gefangenengruppierungen postuliert: „Viele kriminell vorbestrafte KZ.-Insassen, auch viele Sicherungsverwahrte, haben indessen unter den Verhältnissen im KZ ebenso gelitten wie die politischen Häftlinge. […] Ob politisch oder kriminell, ob aus rassischen oder religiösen Gründen verfolgt, waren die KZ.-Insassen bedauernswerte Opfer eines Gewalt- und Willkürsystems, das den Gedanken an das Menschenrecht als weichlich und undeutsch verachtete. […] Ausgangspunkt für die Frage, wie eine rechtsstaatlich ausgerichtete Gemeinschafts‐ ordnung die Kriminellen der KZ. einzustufen hat, ist und bleibt die Tatsache, daß auch sie Opfer des Nationalsozialismus geworden sind. Den kriminell Vorbestraften, selbst den Gewohnheitsverbrechern, ist im KZ. und durch das KZ. Unrecht geschehen. Diese Tatsache wird von vielen Seiten verkannt. Die lange Strafliste solcher Entlassener täuscht auch die Rechtspflege allzu leicht darüber hinweg, daß diese Menschen vom Regime des Dritten Reiches falsch und ungerecht behandelt worden sind.“ 275 Mit dieser Generalisierung des Opferbegriffs und der Feststellung der grund‐ legenden Illegitimität der KZ als Machtmittel stellt Bader eine Ausnahme innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft dar. Sein Stärkungsversuch der 122 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 276 Lieske, „Berufsverbrecher“, 74. 277 Bader, „KZ.-Häftling“, 19. 278 Ebd., 20. 279 Ebd., 18, 20, Herv. im Orig. „Kriminellen“ wurde seitens seiner juristischen Kollegen mit entsprechender Vehemenz abgewiesen: Bader stieß „nicht nur unter juristischen Fachkollegen auf Unverständnis, er sah sich auch mit anonymen Beschimpfungen und sogar Bedrohungen konfrontiert.“ 276 Hingegen macht Bader klar, dass die gleiche Anerkennung der KZ-Insassen als Opfer nicht gleichzeitig die moralische Gleichstellung aller Häftlinge meine. Er gibt zu bedenken, dass die „Krimi‐ nellen“ aufgrund kriminalbiologischer Eigenschaften als Kapos besonders brutal gewesen seien und häufig schlimmer als die SS gewütet hätten. „Die dem Berufsverbrecher eigene Gabe, sich allen Verhältnissen anzupassen, machte ihn nunmehr zum bevorzugten Lagerinsassen.“ 277 Eine Anerkennung auch der „Kriminellen“, beeilt sich Bader zu betonen, dürfe nicht die Rechtfertigung ihrer durchaus als kriminell und asozial geltenden Existenzen meinen. Den „Kriminellen“ dürfe „nicht eine Extrawurst gebraten werden. Das kriminalpo‐ litische Ziel muß sein, sie zu Mitarbeitern am Wiederaufbau zu machen wie alle andern. Zur Erlangung der berüchtigten Stehkragenposition berechtigt den Kriminellen nichts.“ 278 Eine derartige Skepsis legt Bader den „politischen Häftlingen“ gegenüber nicht an den Tag. Deren Partizipation an der neuen Ge‐ sellschaft scheint gesetzt. Aufgrund dessen aber müsse klar differenziert werden zwischen den Häftlingsgruppen, um trotz der grundsätzlichen Gleichartigkeit der Opfererfahrungen einer Gleichbehandlung vorzubeugen: „Eines ist klar. In der gegenwärtigen und künftigen Behandlung der KZ.-Insassen muß eine grundsätzliche und saubere Unterscheidung zwischen den politischen Häftlingen und den kriminellen eintreten. Irgendeinen Führungsanspruch im heutigen und kommenden Staat haben die Kriminellen nicht. Das Unrecht, das ihnen angetan wurde, verlangt gebührenden, ja großzügigen Ausgleich. Es darf aber nicht dadurch vergrößert und abgeleitet werden, daß vielfach rückfälligen Dieben und Betrügern Verwaltungszweige anvertraut werden, die unbedingte Sauberkeit ihrer Träger ver‐ langen.“ 279 Auch Bader, der doch als „Anwalt der Grünen“ antritt, deren Anerkennung als Opfer voranzutreiben, betrachtet die auch ideelle Gleichstellung der ver‐ schiedenen Häftlingsgruppen als Diskreditierung der „Politischen“. Diesen gesteht er gesellschaftliche Partizipation und einen „Führungsanspruch“ wohl zu. Indessen sei eine klare Differenzierung der Opfergruppen notwendig, da an‐ sonsten der deutschen Leugnung gegenüber der Aufklärung über die KZ sowie 5.2 Konkurrierende Opferperspektiven 123 280 Bader, Soziologie, 1, 4. In dieser Schrift schlägt Bader auch einen schärferen Ton an bei der Differenzierung von „politischen“ und „kriminellen“ Insassen: „Wenn sich zahlreiche Entlassene als vielfältig vorbestrafte Verbrecher erwiesen, die alsbald wieder begannen, sich dem alten Handwerk als Diebe oder Betrüger zuzuwenden, brachten sie die vom Nationalsozialismus aus politischen Gründen Verfolgten in Mißkredit und fügten ihnen zu allem anderen ein neues Unrecht zu. […] Schon auf dem Heimweg al‐ lerdings stellte sich dann heraus, daß viele der Entlassenen ihrer Befreiung nicht würdig waren, da sie alsbald zu neuen kriminellen Handlungen übergingen“. Ebd.,-171,-173. 281 Ebd., 171. dem Misstrauen gegenüber allen KZ-Insassen ein weiteres Einfallstor geöffnet werde. Eine Anerkennung der „Kriminellen“ als Opfer des Nationalsozialismus hätte, so die Befürchtung Baders, zwangsläufig eine Verschärfung der ohnehin von Aversionen geprägten Gefühle der Deutschen gegenüber den ehemaligen Häftlingen zur Folge. Hatte Bader die entlassenen „Kriminellen“ bereits im Artikel von 1946 als kriminalpolitisches, gesamtgesellschaftliches „Problem“ apostrophiert, baute er diesen Gedanken in seiner 1949 erschienenen Soziologie der deutschen Nach‐ kriegskriminalität weiter aus. Zum einen wird seine Wortwahl deutlicher. So schreibt der Jurist, die Gruppierung sei eine zu den „anderen Nöten, die unser gegenwärtiges Dasein und den Wiederaufbau eines geordneten Staatswesens belasten“, hinzugetretene „weitere Sorge“, welche eine „soziale Gefahr“ für Deutschland darstelle und die Zukunft der Gesellschaften aller Länder, „die der Sieger und die der Besiegten“ gefährde. 280 Diese sich quasi augenblicklich nach der Befreiung erneut kriminell Betätigenden seien eine Belastung nicht nur für den Aufbau eines neuen Staatswesens, sondern auch für die durch die Alliierten angestoßene Aufklärung über die Lager: „Während die Alliierten bei Öffnung der Konzentrationslager zunächst von der Annahme ausgingen, daß der weitaus größte Teil der dort untergebrachten Deutschen aus politischen Gründen festgehalten worden sei, stellte sich bald heraus, daß ein bedeutender Anteil der KZ-Häftlinge kriminell schwer belastet war. Die Erkenntnis dieser Tatsache bedeutete ein gewaltiges Hemmnis für alle, die sich verpflichtet fühlten, das deutsche Volk auf die in den Konzentrationslagern begangenen Un‐ menschlichkeiten hinzuweisen.“ 281 In seinem Appell auf Anerkennung der „Kriminellen“ vier Jahre nach Kriegs‐ ende und der Befreiung der letzten Konzentrationslager fasst Bader die Dyna‐ miken der Anerkennungs- und Konkurrenzdebatten der NS-Lageropfer in der Nachkriegszeit konzis zusammen: Das Faktum, dass die Nationalsozialisten auch „Kriminelle“ in ihren Lagern inhaftierten, hatte weitreichende Auswir‐ kungen für die Stellung aller Insassen in der Nachkriegsgesellschaft. Per se 124 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung 282 Goschler, Schuld, 77ff. sprachen die Deutschen von den KZ-Insassen als kriminelle und anrüchige Personen. Dieser Anwurf stellte nach Bader eine himmelschreiende Ungerech‐ tigkeit zumindest einem Teil der Häftlinge gegenüber dar. Darüber hinaus überschatte sie die Auseinandersetzung mit den Lagern: Der vermeintliche kriminelle Status der Insassen wurde seitens der Deutschen durchgehend als Begründung dafür angeführt, die Äußerungen ehemaliger KZ-Insassen als haltlose Ansprüche von lediglich auf den eigenen Vorteil erpichten, poten‐ tiell gemeinschaftsschädigenden Personen zurückzuweisen, deren Inhaftierung durch die Nationalsozialisten somit zumindest zum Teil gerechtfertigt erschien. Wesentliches Anliegen der „politischen Gefangenen“ sowie jener, die ebenfalls gegen diesen Leugnungsdiskurs sprachen, war es, die eigene Leiderfahrung als „besondere“, da ungerechtfertigte Opferschaft aus der Masse der übrigen Gefangenen herauszuheben, um sich so von dem Makel der Inhaftierung zu rehabilitieren. Alle Positionen der Nachkriegszeit, die sich auf einen Opferstatus bezogen, rekurrierten auf den durch die Alliierten vorgegebenen Opferbegriff, der, kodi‐ fiziert in amtlichen Erklärungen und ersten Verordnungen, festlegte, wer ideell, aber auch materiell anzuerkennen war. Diese Opferdefinition löste eine Reihe von Reaktionen aus, die das offizielle Narrativ stets unter Verweis auf ihren eigenen Status als Opfer oder die Fragwürdigkeit der offiziell Anerkannten in Frage stellten. In den sich anschließenden Konkurrenzdebatten sollte der Bezug auf einen Opferstatus die eigene Position als ideell wie materiell aner‐ kennenswert, gegenüber Schuldanwürfen unbescholten, von einem sozialen Makel zu rehabilitieren oder berechtigt zum Vorbringen von Ansprüchen für die Nachkriegsgesellschaft beglaubigen. Dieses Legitimationsmuster war ein gesamtgesellschaftliches, das der sprichwörtliche „kleine Mann“ ebenso formulierte wie die offiziellen Positionspapiere der sich neu konstituierenden Institutionen in Politik und Gesellschaft. Aus Sicht der befreiten Häftlinge waren die Anerkennungsdebatten der Nachkriegszeit bestimmt von einer „doppelte[n] Konkurrenz der Opfer“, wie Goschler festhält. 282 Diese schlug sich nach innen in der Konkurrenz der ehemaligen Gefangenen hinsichtlich der materiellen Anerkennung, darüber hinaus aber auch der historiographischen Aufarbeitung der Lager und seiner Häftlingsgemeinschaften nieder. Darüber hinaus weist sie eine äußere, gesamt‐ gesellschaftliche Dimension auf. „Dort konkurrierten sie [die KZ-Häftlinge] mit den Ansprüchen zahlreicher Bevöl‐ kerungsgruppen, darunter Vertriebene, Bombengeschädigte, Kriegsgefangene etc. 5.2 Konkurrierende Opferperspektiven 125 283 Ebd., 80 f.; vgl. Lieske, Unbequeme, 366. Dieser Wettbewerb äußerte sich in einer generell feindseligen Stimmung der deut‐ schen Bevölkerung gegenüber den NS-Verfolgten und insbesondere in Missgunst angesichts der von diesen bezogenen Fürsorge.“ 283 Die ehemaligen Häftlinge nationalsozialistischer Lager und Gefängnisse mussten sich den Status als Opfer in der neuen Gesellschaft aktiv erstreiten. Die nichtpolitischen Gefangenen kämpften überhaupt erst um Anerkennung als Opfer, während die politischen sich abseits der materiellen Entschädigungen gegen die als Verunglimpfung ihrer Opfererfahrung aufgefasste Gleichbehand‐ lung mit den „Kriminellen“ wehrten. 126 5 Die Opfer des NS zwischen Anerkennung und kontinuierter Verfolgung II Die Anmeldung von Führungsansprüchen in der Reflexion erlebter nationalsozialistischer Haft Die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungen schrieben aus dem persön‐ lichen Bedürfnis heraus, mit ihren eigenen Erfahrungen jeden Zweifel an der Menschenverachtung des Nationalsozialismus auszuräumen und so an seiner moralischen Delegitimation mitzuwirken. Mit ihren Meldungen trafen sie auf ein Deutschland, das auf diese Verbrechen nicht geschaut, diese geleugnet hatte und auch nach der Befreiung den Standpunkt der Leugnung einnahm. Diese Heuchelei aufzudecken, die bestritt, dabei gewesen zu sein, weggeschaut und mitgemacht zu haben, traten sie mit ihren Texten an. Doch sahen sich alle, die sich in die Aufklärung über die Lager oder die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gefängnisse und deren Opfer einschalteten, aufgrund der breiten Ablehnung des durch die Alliierten vorgegebenen Opferbegriffs dazu gezwungen, zunächst Strategien zu entwickeln, die Leugnung zu durchbrechen. Dabei galt es insbesondere, die eigene Position gegenüber Angriffen auf ihre Kredibilität und Vorwürfen unberechtigter Ansprüche mit Glaubwürdigkeit auszustatten. Die Äußerungen der Betroffenen zeugen gegen eine Öffentlich‐ keit, der die Wahrheit über die Lager Übertreibung und Propaganda von Siegermächten war und die von den KZ-Häftlingen als zumindest suspekte Personen sprach. Ihre Texte haben somit zwei Beweiszwecke: Sie arbeiten an der Delegitimierung des Nationalsozialismus durch Aufklärung über die durch diesen verübte Gewalt sowie an der eigenen Rehabilitation durch Richtigstellen ihres Opferstatus. Doch alle Positionen, die sich in der Nachkriegszeit als Opfer oder zu einem Opferstatus äußerten, rekurrierten auf den zeitgenössischen Opferdis‐ kurs und positionierten sich in den darin geführten Konkurrenzdebatten. Das traf insbesondere für solche Positionen zu, die den Status der Betroffenheit für sich nicht akzeptierten, sondern die anboten, auf verschiedene Weisen und an unterschiedlichen Schlüsselpositionen federführend am Wiederaufbau der Nation teilzunehmen. Ausgehend von ihrem Bedürfnis nach Aufklärung und persönlicher Rehabilitation bezogen sich auch einige Autorinnen und Autoren auf die Legitimationsmuster dieser Elitenpositionen und präsentierten in ihren Haftschilderungen das Personal für die neue Gesellschaft. 284 Knapp, Frauenstimmen, 148 f.; Wegner, Herz, 37-39. Knapp problematisiert, dass ihr biographischer Abriss von Vermehrens Biographie auf einem Interview mit der Ordens‐ schwester im Jahr 1999 basiert. Knapp, Frauenstimmen, 147. 285 Ebd., 148 f.; Wegner, Herz, 37-39. 6 Die Notwendigkeit neuer Herrschaft zur Verwirklichung von Gemeinschaft. Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 6.1 Biographische Hinführung Zur Zeit des NS-Regimes war Isa Vermehren ihren Zeitgenoss: innen in erster Linie als Kabarettistin und Schauspielerin bekannt, die auf den Berliner Bühnen freche Lieder in Eigenbegleitung zum Besten gab. Nach dem Ende des Natio‐ nalsozialismus änderte sich Vermehrens Wahrnehmung in der Öffentlichkeit drastisch: Die langjährige Katholikin trat in einen kirchlichen Orden ein, blieb jedoch ein prominentes Gesicht ihrer Konfession. Als geistliche Stimme äußerte sie sich bis ins hohe Alter in zahlreichen Interviews und Gesprächsrunden in Presse und Rundfunk zu zeitaktuellen Debatten. Immer wieder wurde sie darin auch zu ihrer außergewöhnlichen Biographie, nicht zuletzt ihrer Inhaftierung durch die Nationalsozialisten, befragt. Unmittelbar nach der Befreiung, und genau am Übergang von ihrem künstlerischen zum Leben im kirchlichen Orden, trat Vermehren mit Reise durch den letzten Akt (1946) an die Öffentlichkeit, in der sie ihre Erlebnisse in verschiedenen Lagern der Nationalsozialisten schilderte. Laut Eigenaussagen musste die damals 15-Jährige Isa Vermehren 1933 wegen Verweigerung des Grußes der Hakenkreuzfahne das Lübecker Gymnasium Ernestinenschule verlassen. 284 Es ist eine Besonderheit von Vermehrens Biogra‐ phie, dass sich diese überwiegend aus Selbstzeugnissen rekonstruieren lässt, in der Regel aus Interviews, welche die Ordensschwester mitunter mehrere Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus führte. Auch die bisher vorgelegte Sekundärliteratur zu Isa Vermehren basiert in der Regel auf diesen autobiographischen Äußerungen bzw. den Auskünften Verwandter und Be‐ kannter. Auch wenn nach dem Tadel in den 1930er Jahren kein Schulverweis ausgesprochen wurde, gibt Vermehren dieses Erlebnis im Rückblick als Zäsur an, die ihre Eltern dazu bewog, die als zunehmend repressiv wahrgenommene Stimmung in ihrer Heimatstadt zu verlassen und in das toleranter scheinende Berlin umzuziehen. 285 Die Familie Vermehren, eine der alteingesessenen Lübe‐ cker Patrizierfamilien, präsentierte sich bürgerlich-mondän, offen für politische, 286 Ebd. 287 Ebd., 45-52. 288 Knapp, Frauenstimmen, 149 f.; Wegner, Herz, 70. 289 Knapp, Frauenstimmen, 151. Finck wiederum traf im KZ Esterwegen den Schauspieler Wolfgang Langhoff und organisierte dort ein Lagerkabarett „Zirkus Konzentrazani“, von dem Langhoff auch in seiner KZ-Schrift Die Moorsoldaten berichtet. Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Köln 1988 [1935], 165-186. 290 Wegner, Herz, 63, 69f. 291 Frithjof Trapp, et al. (Hrsg.), Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933-1945. Band 2: Biographisches Lexikon der Theaterkünstler. Teil 2: L-Z. München 1999, 967; Wegner, Herz, 52f. intellektuelle oder künstlerische Diskussionen und darin seit 1933 im Dissens zum nationalsozialistischen Staat. Wegner hat in seiner Biographie darauf hingewiesen, dass die Vermehrens gesellschaftlich bestens vernetzt waren: Isas Vater, Rechtsanwalt Kurt Vermehren, unterhielt Kontakte bis in die höheren Führungsebenen der Weimarer Republik. Intellektuelle, Künstler und Politiker wurden als häufige Gäste empfangen, mit Mitgliedern des Adels waren die Vermehrens freundschaftlich wie auch verwandtschaftlich verbunden. 286 Wohl auch aufgrund dieser Bekanntschaften konnten Mutter und Tochter Vermehren nach ihrem Umzug nach Berlin in der Hauptstadt schnell Fuß fassen. Mutter Petra Vermehren nahm eine Stelle als Journalistin beim „Berliner Tageblatt“ an, während Isa von Werner Finck für die Berliner Kabarettszene ent‐ deckt wurde. Finck engagierte Isa Vermehren in seinem über die Stadtgrenzen bekannten Theater Die Katakombe, wo sie als Sängerin frecher Matrosen- und sentimentaler norddeutscher Liebeslieder auftrat, sich dabei selbst auf ihrer Ziehharmonika „Agathe“ begleitend. Rasch wurde Vermehren fester Bestandteil des Ensembles und wenig später auch als Schauspielerin in Stücken und Sketchen integriert. 287 Ihre Nummer Eine Seefahrt, die ist lustig wurde 1934 zum Gassenhauer. Mit verantwortlich für den Erfolg machte Vermehren, dass sich der zunächst unverfänglich scheinende maritime Text doppeldeutig als Posse auf die NS-Führungsriege verstehen ließ. 288 Gegen Vermehren vorgegangen waren die NS-Behörden in den 1930er Jahren nicht. Auch bei der Schließung des Kabaretts Die Katakombe, im Zuge derer Finck sowie einige Ensemblemitglieder für einige Wochen im KZ Esterwegen inhaftiert wurden, entging die Teenagerin Vermehren Repressionen. 289 Vielmehr konnte sie in den Folgejahren weiter als Sängerin und Schauspielerin Erfolge erzielen: Engagements beim Rundfunk, Plattenproduktionen und Konzerttourneen durch ganz Deutschland folgten. 290 Die „Universum Film AG“ (UFA) wurde aufmerksam und bot Vermehren Rollen an, die die singende und pfeifende Akkordeonistin auch auf die Leinwände der deutschen Kinosäle brachten. 291 Einer der erfolgreicheren dieser Filme war 1941 130 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 292 Ebd., 113-115. 293 Knapp, Frauenstimmen, 152-154. Gegenüber Knapp führt Vermehren an, dass sie den Dienst in der Truppenbetreuung dem Einsatz an der „Heimatfront“ als „kleineres Übel“ vorgezogen habe. Ebd., 152-154. 294 Zu Darstellungen der „Vermehren-Affäre“ bzw. des „Falls Vermehren“ siehe Heinz Höhne, Canaris. Patriot im Zwielicht, Sonderausgabe. München 1984 [1976], 521-525; Michael Mueller, Canaris. Hitlers Abwehrchef: Biographie, 2. Aufl. Berlin 2008 [2007], 405-411. 295 Zu Plänen, Propaganda und tatsächlichen Baumaßnahmen dieser Verteidigungsanlage siehe u. a. Roland Kaltenegger, Operation „Alpenfestung“. Das letzte Geheimnis des „Dritten Reiches“, völlig überarbeitete und stark erweiterte Neuauflage. München 2005 [2000]; ders., Die Alpenfestung. Der Endkampf um das letzte Bollwerk des Zweiten Weltkrieges. Würzburg 2015; Franz W. Seidler, Phantom Alpenfestung? Die geheimen Baupläne der Organisation Todt. Berchtesgaden 2004. „Das Mädchen von Fanö“, zu dem Günther Weisenborn, ebenfalls Gefangener der Nationalsozialisten und Autor einer Schrift über seine Hafterfahrungen, 1935 das Drehbuch verfasst hatte. Nach Ausbruch des Kriegs gibt Vermehren an, sich zunächst freiwillig zum Roten Kreuz gemeldet zu haben, bevor sie zur „Kraft durch Freude“-Truppenbetreuung dienstverpflichtet wurde. 292 Zwischen 1940 und 1943 sang sie für den „Großdeutschen Rundfunk“ und bereiste verschiedene Fronten in den besetzten Gebieten. 293 Anfang 1944 desertierte Isas Bruder Erich, der als Diplomat und Agent des deutschen Nachrichtendienstes in Istanbul stationiert gewesen war. Zu‐ sammen mit seiner Frau Elisabeth, geborene Gräfin Plettenberg, lief er zum britischen Geheimdienst über. Aufgrund ausführlicher Presseberichte im BBC über angeblich brisantes Geheimdienstmaterial, welches den Briten durch Vermehren zugetragen worden sei, erlangte der „Fall Vermehren“ oder auch die „Vermehren-Affäre“ internationale Aufmerksamkeit. 294 Wohl um Druck auf das Ehepaar auszuüben, ließ die NS-Führung Mitglieder beider Familien, darunter Erichs Schwester Isa, den gemeinsamen Bruder Michael sowie die Eltern Kurt und Petra, als Geiseln in Sippenhaft nehmen. Isa Vermehren wurde im Februar 1944 von der Gestapo verhaftet und blieb bis 1945 in verschiedenen deutschen Konzentrationslagern inhaftiert. In der Schlussphase des Kriegs wurde sie als Teil einer Gruppe aus etwa 150 prominenten Sippen- und Schutzhäftlingen nach Südtirol deportiert. In der sogenannten Alpenfestung sollten diese Politiker, Kul‐ turschaffende und gesellschaftliche Eliten dem Zugriff der Alliierten möglichst lange entzogen sein und als potentielle Druckmittel bei Verhandlungen mit den Alliierten dienen oder aber vor dem Zusammenbruch exekutiert werden. 295 In Tirol übernahmen zunächst Teile der Wehrmacht unter Hauptmann Wichard von Alvensleben das Kommando von der SS, bevor schließlich amerikanische Truppen die Gefangenen befreiten. 6.1 Biographische Hinführung 131 296 Wegner, Herz, 191f. 297 Knapp, Frauenstimmen, 164; Wegner, Herz, 191f. 298 Knapp, Frauenstimmen, 164 f., i.F.; Wegner, Herz, 192. 299 Ebd., 159. 300 Borchert, „Kartoffelpuffer“, 270. Bereits unmittelbar nach ihrer Heimkehr begann Vermehren mit dem Ver‐ fassen des Manuskripts zu Reise durch den letzten Akt. Der Text umfasst die verschiedenen Stationen ihrer Haft bis zu ihrer Befreiung in Tirol. Nach der Inhaftierung der Vermehrens deportierten die Nationalsozialisten ihre Familie nach Oranienburg ins KZ Sachsenhausen, während Isa zunächst in den Zellenblock von Ravensbrück gebracht wird. Aufgrund ihrer angeblichen Mitwisserschaft am Fluchtversuch ihres Bruders überstellt man sie später als politische Gefangene ins eigentliche Lager. Von Ravensbrück wird Vermehren zusammen mit ihrer Schwippschwägerin Gisela Gräfin von Plettenberg nach Buchenwald deportiert und von dort aus weiter über Potsdam, Schönberg im Bayerischen Wald, Dachau, Innsbruck nach Niederndorf (gemeint ist Nieder‐ dorf, ital. Villabassa, in Südtirol). Ihrer Befreiung schließt Vermehren einen Epilog in Neapel, auf Capri und in Paris an, wohin die SS-Sippenhäftlinge unter alliierter Direktive vor ihrer Rückkehr nach Deutschland gebracht wurden. Entstanden ist Reise durch den letzten Akt wohl auf Anregung und im Gespräch mit den ebenfalls inhaftiert gewesenen Eltern. Das erste Manuskript schenkte Vermehren ihrem Vater im August 1945 zum Geburtstag. Über den Vater lernte sie auch den Hamburger Verleger Christian Wegner kennen, der, wohl aufgrund der eigenen Inhaftierung wegen „Wehrkraftzersetzung“, bereits früh eine britische Verlagslizenz erhalten hatte. 296 Wegner initiierte die Publikation von Vermehrens Erinnerungen im eigenen Verlag. 297 Der Text erschien 1946 als Reise durch den letzten Akt. Ein Bericht (10.2.1944 bis 29.6.1945) in einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Der Text war so erfolgreich, dass bis 1948 mehrere Auflagen folgten, 298 weswegen der Vermehren-Biograph Matthias Wegner, gerade im Kontext der zahlreichen Publikationen über die KZ, von einem der „Bestseller der unmittelbaren Nachkriegsjahre“ spricht. 299 Ab 1979 wurde der Text als Reise durch den letzten Akt. Ravensbrück, Buchenwald, Dachau: eine Frau berichtet bei Rowohlt in einer Taschenbuchausgabe wiederaufgelegt, wo 2005 auch die neueste Auflage erschien. Im zeitgenössischen Kontext wurde Reise durch den letzten Akt wohlwol‐ lend aufgenommen. Einige Sammelrezensionen lobten Vermehrens Erstling als „ungewöhnlich interessant und spannend“ 300 und ließen gar verlautbaren, ihre Schilderung „gehört zu dem Wertvollsten, was die bisherige KZ-Literatur 132 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 301 Küstermeier, „Blick“. 302 In dem für die unmittelbare Nachkriegszeit so konstituierenden journalistischen Organ wurden (bis 1948) neben Vermehren lediglich vier weitere Texte aus nationalsozialisti‐ schen Lagern und Gefängnissen rezensiert: Ernst Wiecherts Der Totenwald (Siegried Heldwein, „Der Totenwald“, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 1/ 6 (1.11.1946), 15), Eugen Kogons Der SS-Staat (Michael Uhl, „Das organisierte Grauen“, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 1/ 11 (15.1.1947), 13-14, ebenfalls vom Vermehren-Rezensenten), Albrecht Haushofers Moabiter Sonette (Horst Lange, „Bücher nach dem Kriege. Eine kritische Betrachtung“, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 1/ 10 (1.1.1947), 9-10) sowie Anna Seghers’ Das siebte Kreuz (Walter Mannzen, „Das Netz und das Gewebe“, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 1/ 11 (15.1.1947), 15). 303 Die Rezension fällt durch Ausdrucksschwächen, etwa eine Wortdopplung unmittelbar im ersten Satz, auf: „Dies ist der Bericht einer sehr gescheiten, sympathischen und gut beobachtenden Frau […] über ihre Abenteuer im Strudel des Zusammenbruches, der sie nach mannigfachen Abenteuern in Capri ans Land schleuderte, von wo sie in Heimat und Geborgenheit zurückfand.“ Michael Uhl, „Eine Frau unter den Lemuren“, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 1/ 9 (15.12.1946), 15, Herv. J.V. Auch spricht Uhls Einschätzung „fesselnd geschriebenes Buch“, abseits individueller Leseerfahrungen, gegen die betont analytische Anlage des Textes. Vgl. Kap.-6.2. 304 Ebd. Der Vergleich von Haft- und KZ-Erfahrung mit der zoologischen Praxis der Käfighaltung von Primaten ist auffällig. Die (Hinter-)Gründe für diesen sind jedoch nicht mehr nachzuvollziehen. 305 Ebd. hervorgebracht hat.“ 301 Bemerkenswert ist auch die Vermehren-Rezension in Der Ruf, da diese Zeitschrift Texte aus nationalsozialistischen Lagern und Gefängnissen generell nur äußerst selten besprach (und nur in den ersten Heften), Reise durch den letzten Akt indessen besonders positiv herausstellte. 302 Obwohl Michael Uhls „Eine Frau unter dem Lemuren“ eher wie unter zeitlichem Druck entstandene feuilletonistische Massenware denn enthusiasmiertes Mei‐ nungsbild wirkt, 303 betont der Rezensent doch, Reise durch den letzten Akt sei „ein Buch, das unter all den Berichten aus der Lemurenwelt einen bedeutenden Rang einnimmt“. 304 Laut Uhl zeichne sich Vermehrens Text insbesondere dadurch aus, die für ihn durchaus nachvollziehbaren Einwände gegenüber dieser Opfer‐ literatur allesamt zu umgehen: „Vor diesem Bericht haben alle Ressentiments gegen KZ.-Berichte, seien sie auch noch so begreiflich, zu schweigen.“ Unter all den übrigen Texten steche Vermehrens Reise durch den letzten Akt deshalb heraus, da es ihr gelinge, das Lager analytisch-distanziert, dabei gleichzeitig feinfühlig zu schildern: „Es ist vieles, was uns an diesem Buch gefangen nimmt - sei es die unbarmherzige Zergliederung der Feindwelt, sei es eine ungemeine Beobachtungsgabe auch für die feineren psychologischen Wirkungen und die offene Kritik der Mitwelt.“ 305 6.1 Biographische Hinführung 133 306 Z.n.-Silke Schäfer, Zum Selbstverständnis von Frauen im Konzentrationslager. Das Lager Ravensbrück. Diss. TU Berlin, 6.2.2002, 186. 307 Knapp, Frauenstimmen, 165f. 308 Isa Vermehren, „Nachwort zu Ravensbrück“, Die Welt. Überparteiliche Zeitung für die britische Zone 2, Nr. 16 (6.2.1947), 2. Der Bericht in der Hamburger Allgemeinen Zeitung datiert auf den 7.-Januar 1947. 309 Schäfer, Selbstverständnis, 186. Von den insgesamt 15 Urteilen des Prozesses lauteten elf auf Todesstrafe, zwei auf 15-Jahre und zwei weitere auf zehn Jahre Gefängnis. Abseits ihrer schriftlichen Auseinandersetzung mit der Haft trat Vermehren im Zuge der juristischen Aufarbeitung des NS-Staates an die Öffentlichkeit. Beim ersten Hamburger Ravensbrück-Prozess, der von Dezember 1946 bis Februar 1947 abgehalten wurde, sagte Vermehren mehrfach aus, darunter aber auch als Entlastungszeugin für eine der SS-Aufseherinnen. So sei die angeklagte Frau Mewes, so Vermehren, mitnichten brutal, sondern „fleißig“ und „unbe‐ stechlich“ gewesen. 306 Derart positive Aussagen einer deutschen Gefangenen gegenüber dem KZ-Wachpersonal waren vor Gericht äußerst selten und wurden seitens der ehemaligen Häftlingsgemeinschaft und Verfolgtenorganisationen äußerst kritisch aufgenommen: Unmittelbar folgten Proteste seitens politischer Häftlinge aus Ravensbrück, die betonten, Vermehren habe die Aufseherin Mewe nicht als Leiterin der Außenarbeitskommandos, sondern lediglich in ihrer späteren Arbeitsstelle im Zellenblock getroffen. Zudem habe Vermehren als Sippenhäftling im Lager prädestiniert leben können, weswegen ihr über die individuelle Beurteilung der Angeklagten hinaus die „eigentlichen“ Gewaltzu‐ sammenhänge des KZ unbekannt gewesen seien. 307 Diese Gefangenen bestritten die Gültigkeit von Vermehrens Aussagen, indem sie ihren Status als Opfer angriffen. Die Kontroverse um die als Künstlerin der Berliner Kabarettszene sowie des Kinos bekannte Vermehren wurde mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt. So berichtete die Hamburger Allgemeine Zeitung in ihrer Prozessbe‐ richterstattung gesondert über Vermehrens Aussage. Diese selbst verfasste in der gleichen Zeitung einen Kommentar auf das Urteil. 308 Der Gerichtspro‐ zess endete für die Angeklagte Margarete Mewes vergleichsweise mild: Sie wurde zu einer Gefängnisstrafe von 10 Jahren verurteilt, wegen guter Führung jedoch am 26. Februar 1952 vorzeitig entlassen. 309 Literarisch verewigt hat die Person Isa Vermehren und insbesondere die häftlingsinterne Kontroverse um ihr Verhältnis zur SS die Dramatikerin Hedda Zinner in ihrem 1961 an der Volksbühne Ost-Berlin uraufgeführten Stück Ravensbrücker Ballade. Die darin auftretende Figur der Ellen Werder trägt eindeutig die Züge Vermehrens: Die frühere Kabarettistin Ellen Werder wurde aufgrund eines Spottliedes auf Goebbels im KZ Ravensbrück inhaftiert, wo sie wiederholt zum Musizieren auf SS-Kameradschaftsabenden genötigt wird. Im Figurenensemble der Ballade 134 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 310 Zur Einführung der Figur Ellen Werder siehe Zinner, Ballade, 31 f., 61-65. Zum Inhalt des Liedes, einer einen Gartenzwerg verlachenden Variante von Vermehrens Schlager Eine Seefahrt, die ist lustig, ebd., 113 ff. Zu Ellens „Verrat“, der als Spiegelung ihres Eintretens für eine der Wärterinnen beim Hamburger Prozess deutbar ist, ebd., 139ff. 311 Knapp, Frauenstimmen, 167f. 312 Zu Vermehrens Biographie unmittelbar nach ihrer Freilassung aus Ravensbrück siehe ebd., 151 f.; Wegner, Herz, 90. nimmt Ellen eine Schlüsselstellung ein: Sie ist zwar als „Politische“ inhaftiert, jedoch im Gegensatz zu den Mitgliedern des als Solidargemeinschaft gezeigten Häftlingskollektivs nicht politisch „geschult“ und in die Netzwerke der „Roten“ eingebunden. Ellen wird als kameradschaftlich und „menschlich“ gezeigt, ist jedoch auch naiv und charakterschwach. Aufgrund dessen wird Ellen im Handlungsverlauf zum Spitzel für die SS und verrät die im Block versteckte russische Kriegsgefangene Wera an die SS, was zum Tod der Blockältesten Maria - der Katastrophe des Dramas - führt. Mit Ellen Werder zeichnet Zinner die Figur einer durch Unwissenheit gegen das Häftlingskollektiv arbeitenden und zu dessen existentieller Gefahr werdenden Gefangenen. 310 Die reale Isa Vermehren war nach der Befreiung zunächst erneut als Schau‐ spielerin tätig. Sie tritt in Kabaretts auf, nimmt Filmengagements an. So spielte sie in einem der ersten Filme, die unter britischer Lizenz überhaupt gedreht wurden: Helmut Käutners Trümmerfilm In jenen Tagen (1947). Der Film entwirft eine episodenhafte Schilderung der NS-Zeit, die in sieben Stationen die Ge‐ schichten der verschiedenen Besitzer: innen eines Autos erzählt. In der sechsten Episode verkörperte Vermehren das Dienstmädchen Erna, welches Fluchthilfe leistet für ihre Arbeitgeberin, die Mutter eines der Attentäter des 20. Juli 1944. Weiter spielte sie in Georg Hurdaleks Die Zeit mit dir (1948) eine Nebenrolle. Zu dieser Zeit erachtete Vermehren das Schauspiel als Karriereoption jedoch bereits als beendet. Spätestens mit Kriegende und ihrer Befreiung jedoch, gibt Vermehren an, sei der christliche Glaube zur dominanten Größe in ihrem Leben geworden: Bereits 1938 war Vermehren zum Katholizismus konvertiert, 1945 stand nach eigenen Aussagen ihr Wunsch fest, als Nonne in ein Kloster einzutreten. Die Engagements für Bühne und Film sollten lediglich für ihren Le‐ bensunterhalt aufkommen, während Vermehren auf ihre Aufnahme wartete und ihr Studium der katholischen Theologie nebst Deutsch, Englisch, Geschichte und Philosophie an der Universität Bonn beendete. 311 1951 schließlich trat sie in den „Orden vom Heiligsten Herzen Jesu Sacré Cœur“ ein. 312 Auch nach ihrem Ordenseintritt blieb Vermehren eine Figur der Öffentlich‐ keit. Das Studium nach Kriegsende sollte Vermehren nach eigenen Aussagen auf die Funktion vorbereiten, die sie innerhalb des Ordens einnehmen sollte. 6.1 Biographische Hinführung 135 313 Knapp, Frauenstimmen, 167f. 314 Volker Kühn, „Isa Vermehren“, Internet: Universität Hamburg, Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, https: / / www.lexm.uni-hamburg.de/ object/ lex m_lexmperson_00002684, zuletzt geprüft am: 24.11.2020. 315 Knapp, Frauenstimmen, 170. 316 Trapp, et-al., Handbuch, 967. Lehrerinnen, so habe es ihr ihre Oberin gesagt, würden nun gebraucht. 313 Die nunmehr ausgebildete Pädagogin sollte Kindern und Jugendlichen Glaubens‐ inhalte sowie die Bedeutung christlicher Werte für die moderne Massengesell‐ schaft vermitteln. Als Ordensschwester war Vermehren bis zu ihrem Tod 2009 als Lehrerin und Schulleiterin tätig, eine Arbeit, für die sie u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. 314 Ihr brisanter Lebensweg von der Bühne ins KZ ins Kloster war über Dekaden auch immer wieder Thema von Zeitungsberichten sowie in Interviews für Funk und Fernsehen. 315 Ab 1984 trat Vermehren wiederholt als Sprecherin der seit 1954 ausgestrahlten Sende‐ reihe Das Wort zum Sonntag in der ARD auf, wiederum als Vermittlerin von Glaubensfragen sowie als geistliche Kommentatorin aktueller politischer wie gesellschaftlicher Themen. Diese Auftritte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit einer Einschaltquote von mehreren Millionen pro Sendung dürften sie zu einer der prominentesten Persönlichkeiten des bundesdeutschen Katholizismus ihrer Zeit gemacht haben. 316 6.2 Schock und Deutung des Lagers Reise durch den letzten Akt beginnt mit der Schilderung des Verhörs der Ver‐ mehrens auf dem Reichsicherheitshauptamt und der Inhaftierung der Familie. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder Michael wird Isa im Februar 1944 aufgrund des Überlaufens ihres Bruders Erich zu den Westalliierten als Sip‐ penhäftling gefangen genommen. Während ihre Eltern ins KZ Sachsenhausen deportiert werden, kommt Isa Vermehren zunächst in den Zellenblock des KZ Ravensbrück. In einer Einzelzelle ist Vermehren isoliert vom Alltag des unmittelbar neben dem Zellenblock gelegenen Lagers. Zwar nimmt sie Kontakt zu den übrigen Insassen im „Block“ auf, die sich ungesehen über Spalten in den Fenstern unterhalten. Doch zunächst ist Vermehren Beobachterin der Vorgänge im Lager. Was sie beobachtet, schockiert die gerade sechsundzwanzig gewordene Vermehren. Sie wird Zeugin der katastrophalen hygienischen Zustände, der 136 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 317 Die KZ-Aufseherinnen waren uniformierte Zivilangestellte der SS und somit formal nicht deren Mitglieder. Simone Erpel, „Einführung“, in: dies., Im Gefolge der SS. Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück: Begleitband zur Ausstellung, 3.-Aufl., Berlin 2018 [2017] (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 17), 15-47, hier: 20f. Erpel weist weiter darauf hin, dass, obwohl die Aufseherinnen mit der direkten Bewachung der Häftlinge betraut waren und also am ehesten mit diesen in Kontakt kamen, Frauen in Ravensbrück nur etwa 10-% des KZ-Personals ausmachten. Ebd., 23. 318 Vermehren, Reise durch den letzten Akt, 57-61. Die Primärtexte werden nach ihrem ersten Erscheinen im Text mit Siglen versehen. Alle Verweise auf diese Textausgabe erscheinen im Folgenden mit dem Kürzel Reise. desaströsen Verfassung der Häftlinge sowie der brutalen Strafen und Schikanen, denen die Insassen durch die KZ-Aufseherinnen ausgesetzt sind. 317 Insbesondere die Aufseherinnen verstören Vermehren. Reise durch den letzten Akt schildert diese durchgängig als niedere Figuren, die sie durch ihren Stumpf‐ sinn und die Banalität ihres Miteinander abstoßen. Wiederholt weist Vermehren auf die zerrütteten bürgerlichen Lebensläufe der Wärterinnen hin, ihr häufiges „naives Reinfallen“ auf Männer sowie ihre schlichte Unfähigkeit zu produktiver Arbeit und mokiert sich über die „Peinlichkeit“ ihrer stets um das Essen oder Faulenzen kreisenden Gespräche. 318 Bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten im KZ wirken die SS-Wärterinnen inkompetent, besonders gegenüber Häftlingen, die im Gegensatz dazu regelmäßig „über die Bedeutung des Krieges, Europas Zukunftsaussichten und ähnliches mehr“ konversieren (Reise, 57). Vermehrens abfälliges Urteil über die Wärterinnen: „Ich würde ihre seelische Entwicklung auf höchstens vierzehn Jahre ansetzen.“ (Ebd., 60) Dabei haben sie alle „[…] ‚Visagen‘ im schlimmsten Sinne, in denen sämtliche Bosheit, Dummheit, Frech‐ heit, Brutalität, kurz, eine der schlimmen Möglichkeiten des menschlichen Wesens seine besondere Prägung fand. Man wird meinen, ich übertreibe hier, aber was nützt die eine oder andere Ausnahme, wenn sie nur um so deutlicher die Regel unterstreicht? “ (Ebd., 53) Diese sich gleichzeitig großspurig gebärdenden Figuren sind für Vermehren im Wechsel zu verlachen oder zu bemitleiden. Immer wieder scheint bei ihren Schilderungen der Blick der Kabarettistin durch, welcher mit scharfem Spott die Lächerlichkeit dieser Gestalten einfängt und bloßstellt: „[S]chwerfällig niedersackend sagte die dicke Freundin in breitem Mecklenburgisch: Du Frieda, weißt du, was ich jetzt möchte? Griesbrei! ahmmmm, ühmmm, usw.‘ Die andere bemerkte, daß sie persönlich es vorziehen würde, zu schlafen, womit das Gespräch nicht etwa beendet war, sondern dank der offenbar abstrusen Gefräßigkeit der dicken Freundin wieder zum Essen zurückkehrte, worüber sie sich dann lange 6.2 Schock und Deutung des Lagers 137 und ohne jegliches Gefühl für ihre peinliche Wirkung unterhielten. Wie kränkend zu allem Überfluß noch diese Lächerlichkeit ist! Da sind sie und bilden sich ein, das berufene Volk der Welt zu sein, reden von der Verpflichtung, als ‚Herrenrasse‘ die Welt beherrschen zu müssen und träumen von Griesbrei! Nicht einmal die Eitelkeit konnte sie vor einem solchen Sich-gehen-lassen bewahren, dafür waren sie zu dumm.“ (Ebd., 58) Die Wärterinnen erscheinen Vermehren nicht als kaltblütige Sadistinnen, wes‐ wegen sie sich deren Vorgehen gegen die Insassen schlicht nicht erklären kann. „Wer möchte sich zwingen lassen zur Brutalität“, schreibt sie, „zwingen lassen, vor zu Tode gequälten Wesensgefährtinnen eben jene Autorität zu vertreten, die die Schwester so zugerichtet hat? “ (Ebd., 55) Noch mehr schockiert Vermehren, dass die scheinbar gleiche Gewalt auch unter den Häftlingen herrscht. Gleich zu Beginn ihrer Haft wird Vermehren Zeugin einer Konfrontation zwischen Häftlingen: Eine Gefangene hatte sich über acht Tage verborgen gehalten in verschiedenen Blocks, um dem aus Arbeit und Appell bestehenden Lageralltag zumindest zeitweise zu entgehen. Eine Gruppe Insassen konfrontiert die Flüchtige und wirft ihr allerlei Repressionen vor, die ihre Absenz in der Zwischenzeit für den ganzen Block bedeutet habe. Vermehren schildert die Auseinandersetzung als Aufbäumen eines Mobs „wild‐ gewordene[r] Weiber“, die der Flüchtigen Vorwürfe machen, sie beschimpfen, schlagen und schließlich der Lagerobrigkeit ausliefern. Vermehren resümiert: „Die Art des Verhörs da unter meinem Fenster war ein Hohn auf jede Gerechtigkeit, schlimmer noch: auf jede Kameradschaftlichkeit. Das waren doch alles Häftlinge unter sich, die da miteinander wetteiferten, eine der Ihren schuldig zu sprechen! “ (Reise, 51) Vermehren findet unter den Gefangenen nicht nur Konkurrenzdenken und eine auf den eigenen Vorteil bedachte „nimmersatte Gier“ (ebd., 68). Vielmehr konsti‐ tuiere eine rigorose Missgunst ihr Zusammensein. In „gemeiner, vernichtender Art“ (ebd., 51) versuche man, sich zur Richterin über die andere aufzuspielen, um das Gegenüber die eigene Macht spüren zu lassen. Anstatt „sich gegenseitig ihr schweres Los zu erleichtern“, haben die Gefangenen im Gegenteil daran teil, „dieses seiner äußersten Vollendung zuzutreiben“. „Es fand sich keineswegs im Lager jene selbstverständliche Kameradschaft unter den Häftlingen, die nur um so zäher und erfinderischer wurde, je härter der Druck von oben lastete, sondern ein böser Egoismus sich gegenseitig befehdender einzelner Häftlinge und kleinerer Cliquen trieb die skrupellosesten Blüten gegenüber nur ganz wenigen, wahrhaft zauberhaft schönen Erscheinungen sich vollendender Nächsten‐ liebe.“ (Ebd., 86) 138 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt Dieses Verhalten ist Vermehren angesichts der Gewalt, denen die Häftlinge ohnehin seitens der SS ausgesetzt sind, angesichts ihrer Hilfsbedürftigkeit und Angst unerträglich. Dazu trägt auch bei, dass sich in Gefangenschaft die „erklärten Gegner“ der SS wiederfänden, die „doch alle mit Leidenschaft den Nationalsozialismus und seine Lehren ab[lehnten]“ (Reise, 90). Sie erwartet daher zumindest einen Grundkonsens von Kameradschaft und Solidarität unter den Häftlingen. Hingegen konstatiert Vermehren bestürzt, dass sich in Ravensbrück das Verhalten der Opfer von dem der Täter gar nicht oder nur graduell unterschieden habe. Es gebe „erstaunliche[..] Parallelen, die die seelische Situation der Häftlinge mit der der SS aufzuweisen hat, und ihre Weise sich zu äußern, kommt wie aus einem Munde.“ (Ebd.) In ihrem Verhalten, aber auch ihrer Ausdrucksweise, der charakterlichen Disposition und dem abstrakten „Seelenzustand“ stellt Vermehren eine frappierende Ähnlichkeit zwischen Opfern und Tätern der Lager fest. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Gewalt der Häftlinge gegeneinander die Gewalt der SS sogar noch übertreffe: „Die Gleichgültigkeit der Lagerleitung gegen die unmenschlichen Lebensbedin‐ gungen war nicht größer als die der Häftlinge selber, in deren Hand es ja gegeben war, aus dem Wenigen, was sie hatten, viel zu machen, die statt dessen aber das Wenige wie Nichts achteten, veruntreuten und verschleuderten. Die Schläge, die von Häftlingen ausgeteilt wurden, waren nicht weniger heftig als die der Aufseherinnen, im Gegenteil, sie waren nicht nur hart und gut gezielt, sondern überdies noch häufiger.“ (Ebd., 91) Reise durch den letzten Akt ist der Versuch einer Beantwortung der Frage nach den Ursachen für das eklatante Missverhältnis von Vermehrens Erwartung und Erleben im Umgang von Wachpersonal und Gefangenen. Zwar firmiert die Schrift im Untertitel als schlichter „Bericht“, es wird jedoch deutlich, dass Vermehren die Schilderung von Haft und Lager lediglich zum Ausgangspunkt einer umfangreichen Deutung des Nationalsozialismus und des Subjekts in diesem nimmt. Der Deutungscharakter der Schrift deutet sich bereits formal mit Blick auf das Inhaltsverzeichnis an, in dem der Text weniger als Nacherzählung von Vermehrens Haftstationen strukturiert scheint denn als Sachtext, der einen nach thematischen Schwerpunkten geordneten, systematischen Zugriff auf das Erlittene vornimmt: Die Kapitelüberschriften lauten etwa „Entfesselte, gefesselte Menschheit und sich vollendende Personen“, „Die Häftlinge - das äußere Bild“, „Die Häftlinge - das innere Bild“, „Chaos oder Das Individuum in den Trümmern der Tradition“. Vermehrens Rückblick entwirft eine umfängliche Bilanz, eine Teleologie, die den Zusammenbruch NS-Deutschlands als den „letzten Akt“ eines zwangsläufigen Auflösungsprozesses bestimmt. 6.2 Schock und Deutung des Lagers 139 319 Die auf mehreren Seiten ausgebreitete Auseinandersetzung abstrahiert vom Lagerge‐ schehen auf die Begriffe „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“. Bei den Aufseherinnen erkennt Vermehren ein Missverhältnis dieser beiden Begriffe, deren Ursache sie schließlich in der „Akedeia“, der auf Vernachlässigung fußenden Traurig- und Antriebslosigkeit, identifiziert: „Mit der Abwendung von der Wahrheit begibt sich der Mensch auf die Flucht, und anstelle der Lebensfreude tritt die Lebensangst. Die Akedeia, die Traurigkeit, die nichts mehr wissen will von dem Hohen, Guten, zu dem der Mensch berufen ist, sitzt wie der todbringende Krebs in der Seele des modernen Menschen, und langsam versinken ihm Wahrheit und Wirklichkeit im Begriff des Möglichen.“ Reise, 52-58, hier-56. Vermehrens Kapitelstrukturierung und insbesondere die Formulierung von „Psychologien“ von Opfern und Tätern erinnert an Kogons Der SS-Staat. Es scheint indessen unwahrscheinlich, dass Vermehren, die das Manuskript zu Reise durch den letzten Akt bereits im Herbst 1945 fertigstellte, Kogons 1946 erscheinenden Text bereits bei der Verschriftlichung ihrer Hafterlebnisse kannte. Die Ähnlichkeit in der Anlage beider Texte unterstreicht indessen die Annäherung von Vermehrens „Bericht“ an die systematische, sachliterarische Untersuchung des Lagergegenstandes. 320 Gemeint ist das Essay „Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas und an die Jugend der Welt“ von 1945. 321 Vermehren heißt ihn „Dr.-Karl Schmitt“. Reise, 35. 322 Albrecht Hagemann, Hermann Rauschning. Ein deutsches Leben zwischen NS-Ruhm und Exil. Göttingen 2018; Hans Wolfram von Hentig, „Rauschning, Hermann Adolf Reinhold“, in: Hockerts, Hans Günter, Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Berlin 2003, 212-213; Theodor Schieder, Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ als Geschichtsquelle. Opladen 1972 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, 178). Zur Fälschung der Hitler-Gespräche siehe Fritz Tobias, „Auch Fälschungen haben lange Beine. Des Senatspräsidenten Rauschnings ‚Gespräche mit Hitler‘“, in: Corino, Karl, Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, Nördlingen 1988, 86-100. Erklärter Anspruch ist neben der Darstellung des Umgangs der Wärterinnen auch der „Versuch einer Psychologie des Lagers“ oder einer „Psychologie der Aufseherinnen“, worin sie aufklären will über die Geistesverfassung und mentalen Prozesse, die zu diesem Verhalten geführt hatten. 319 In ihrer Ausein‐ andersetzung mit den Ursachen der Lagergewalt beruft sich Vermehren auf die Theorien verschiedener (bürgerlichbis rechtskonservativer) Intellektueller: So zitiert sie aus Ernst Jüngers Über den Frieden  320 und nimmt Bezug auf das in verschiedenen Texten ausgebreitete Freund-Feind-Denken Carl Schmitts. 321 Ausführlich setzt sie sich mit Hermann Rauschnings Die Revolution des Ni‐ hilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich von 1938 auseinander. Rauschning, ehemaliger Senatspräsident in Danzig und NSDAP-Funktionär, trat 1934 aus der Partei aus und emigrierte im Folgejahr. Rauschning trat in der Folge mit einigen kritischen, theoretischen Schriften über den Nationalsozialismus in Erscheinung. Aufsehen erregte er indessen mit seinem 1939 publizierten Buch Gespräche mit Hitler, vor allem, weil sich dieses im Nachhinein zum Großteil als Fälschung herausstellte. 322 Weiterhin verweist Vermehren auf die 140 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 323 Gemeint sind Piepers Schriften über die christlichen Kardinaltugenden, die gesammelt bspw. als Kleines Lesebuch von den Tugenden des menschlichen Herzens (Kolmar im Elsaß: Alsatia-Verlag, 1943 sowie Berlin: Morus-Verlag, 1946) erschienen. Die Zitate in Reise durch den letzten Akt sind (in loser Worttreue) aus zwei Schriften Piepers entnommen: Über die Hoffnung von 1935 sowie Zucht und Maß. Über die vierte Kardinaltugend von 1939, beide erschienen bei Hegner in Leipzig. 324 Wiechert widmete Picard seine 1949 erschienene Autobiographie Jahre und Zeiten. Ernst Wiechert, „Jahre und Zeiten. Erinnerungen. 1945/ 1946“, in: Wiechert, Ernst, Sämtliche Werke in zehn Bändern, Band 9. Wälder und Menschen - Der Totenwald - Jahre und Zeiten. Lebenserinnerungen, Wien 1957 [1949], 331-800, hier: -331. 325 Es sei darauf hingewiesen, dass sich neben Vermehren auch viele weitere Texte dieser Opferliteratur auf die Physiognomik beziehen: Wiederkehrendes Muster ist die Identifikation von groben, hässlichen bis hin zu grotesk verzerrten Gesichtszügen bei den SS-Angehörigen, wohingegen in den Reihen der (politischen) Häftlinge feine und edle Antlitze ausgemacht werden. Diese Kontrastierung wird von der inneren Disposition dieser Figuren flankiert, spiegelt deren Inneres nach außen. 326 Magdalena Beljan, „Max Picard: Hitler in uns selbst“, in: Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N., Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bielefeld 2015 [2007], 35-36; Christian Filk, „Alles ist abgerissen im Inneren und abgerissen im Äußeren“. Max Picards Geschichtsphilosophie, Medientheorie und Kulturkritik. Berlin: Avinus-Verlag 2010 (AVINUS Magazin Sonderheft, 9/ 2010). 327 Kurt Flasch, Katholische Wegbereiter des Nationalsozialismus. Michael Schmaus, Joseph Lortz, Josef Pieper: Essay. Frankfurt/ M., 2021, 121ff. 328 Munzinger Online/ Personen Internationales Biographisches Archiv, „Eintrag ‚Pieper, Josef ‘“, Internet: -http: / www.munzinger.de/ document/ 00000015628, zuletzt geprüft am: 28.6.2022; Berthold Wald, „Pieper, Josef “, in: Hockerts, Hans Günter, Neue Deutsche Biographie (NDB). Band-20, Berlin 2001, 427-428. Schriften der zivilisationskritischen Philosophen Max Picard (Die Flucht vor Gott von 1934) und Josef Pieper (Über die Tugenden  323 ). Picard, der u. a. Ernst Wiechert persönlich nahestand 324 , wurde zuerst als kulturphilosophischer Autor etwa zur menschlichen Physiognomik bekannt (Das Menschengesicht (1929), Die Grenzen der Physiognomik (1937)). 325 Sein durchschlagendster Erfolg und wohl am virulentesten aufgenommener Text indessen wurde 1946 Hitler in uns selbst, eine psychologische Zeitanalyse, die die Ursache der „Krise der Moderne“ in der Auflösung gültiger überpositiver Zusammenhänge identifizierte. 326 Pieper wiederum trat in erster Linie als Philosoph in direkter Tradition katholischer Theologen in Erscheinung und beschäftigte sich in seinem Werk vor allem mit dem Scholastiker Thomas von Aquin. Als Zivilisationskritiker und Gegner insbesondere des Bolschewismus gilt Pieper als geistiger Wegbereiter des Faschismus, der in seinen Texten aktiv versuchte, faschistische Ideologie und katholische Theologie in Einklang zu bringen. 327 Während der NS-Herrschaft wurden einige seiner Texte indessen verboten. 328 Die zum Teil umfangreichen Zitate aus diesen Texten stellen Versuche Vermehrens dar, das Erlebte intellek‐ 6.2 Schock und Deutung des Lagers 141 tuell einzuordnen, wobei Vermehren mit der Autorität dieser (prominenten) Intellektuellen ihre eigene Anschauung und Deutung beglaubigt. Explizit wirbt sie im Vorwort für ihren Blick, der erklärtermaßen über die objektive Schilderung ihrer Lagererfahrung hinausgeht: Dort nämlich, wo Reise durch den letzten Akt „sich um eine Interpretation bemüht, sucht er [der Text, J.V.] Freunde für die hier angewandte Methode zu gewinnen: mit der Sonde verzeihender Liebe das Unrecht zu bekämpfen, um nicht neues auf sich zu laden.“ (Reise, 9) Reise durch den letzten Akt geht inhaltlich zwar von den Stationen von Vermehrens Haft aus, leistet aber in erster Linie eine intellektuelle Reflexion des Lagers. Bereits formell, durch das Erscheinen einiger der Quellen, auf die sich ihre Auseinandersetzung stützt, nach 1945, wird deutlich, dass es sich um eine Auseinandersetzung handelt, die aus der Perspektive der Nachkriegszeit versucht, das Erlebte einzuordnen. In dieser Aufarbeitung tritt Vermehren programmatisch an, von ihrem eigenen Schicksal zu abstrahieren und eine umfangreiche Erklärung des Gewesenen vorzunehmen: Reise durch den letzten Akt leistet eine Deutung und Kritik des Nationalsozialismus mit Blick auf das Verhältnis dieser sich im Handeln konstituierenden „Autorität“ zum Subjekt (ebd., 55), ein Verhältnis, das sich im Lager besonders deutlich wie drastisch offenbart hatte. 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte Klares Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist die Identifizierung des National‐ sozialismus als „Manifestation eines alles verheerenden Nihilismus“ (Reise, 165). Vermehren erklärt, der deutsche Faschismus sei eine Herrschaft bar von Inhalt und Orientierung gewesen, ein Regime reiner Willkür, welches Macht einzig um der Macht willen angehäuft habe. Dieses begegnet Vermehren in den Lagern als „sinnlos um sich schlagende Macht“ (ebd., 70). Weiter heißt es bei ihrer Ankunft im KZ-Dachau: „Das Merkmal der letzten Tage wurde hier nur noch deutlicher: alle Vernunft hatte endgültig kapituliert vor der wilden Gier des Wahnsinns, in der Anwendung der Macht sich ihres Besitzes zu erfreuen, auch wenn sie sich damit zugrunde richtete.“ (Ebd., 141) Begrifflich lässt sich für Vermehren der Nationalsozialismus einzig in Nega‐ tionen oder der metaphysischen Abstraktion fassen. Die Herrschaft einer kleinen Machtelite aus Partei- und SS-Kadern, einer „Clique“ (ebd., 68), übte 142 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt einen „diabolischen Zauber scheinbar vollendeter Kühnheit, totaler Gewissen‐ losigkeit“ auf das deutsche Volk aus (ebd., 64, vgl. 113). Während Hitler für Vermehren die „diabolische Kraft selber“ verkörpert (ebd., 118), ist ihr auch bei den niederen Rängen ein rationeller Zugriff verunmöglicht: „[D]er Mann im Mond könnte einem nicht fremder sein“, lässt sie über die Entscheidungen ihres SS-Transportführers verlautbaren (ebd., 140). Der Nationalsozialismus begegne der Zeitgenossin zwar als staatliche Herrschaft, doch ist für Vermehren eindeutig klar, dass es sich um eine metaphysische Macht, agierend fernab politischer Maßstäbe gehandelt hatte. Im historischen Rückblick und vom Telos des verwüsteten Deutschland aus erscheint es ihr nur folgerichtig, dass diese Herrschaft einzig die völlige Zerstörung, und darin auch die eigene, gebracht habe. Unmittelbar nach ihrer Inhaftierung wird Vermehren von der Gestapo von Berlin aus über Fürstenberg nach Ravensbrück deportiert. Während der Fahrt durch die bombenverwüstete Reichshauptstadt bemerkt sie: „Das trostlose Bild der schwerverwundeten Stadt war wie eine geniale Inszenierung dieser Fahrt - der Hintergrund für das Wirken mächtiger Willkür hätte nicht besser gewählt sein können: die bizarren Trümmer der ausgebombten Häuser waren wie die sich immer wiederholende Versinnlichung des waltenden Prinzips: Macht in un‐ demütigen, vermessenen Händen kennt nur die Zerstörung als Akt ihrer Herrschaft.“ (Reise, 13) Später, von Buchenwald aus nach Dachau deportiert, kommentiert sie ihre Ankunft im Lager mit: „Das Merkmal der letzten Tage wurde hier nur noch deutlicher: alle Vernunft hatte endgültig kapituliert vor der wilden Gier des Wahnsinns, in der Anwendung der Macht sich ihres Besitzes zu erfreuen, auch wenn sie sich damit zugrunde richtete.“ (Ebd., 141) Vermehren wirbt für ihre teleologische Perspektivierung, die bereits in der Form der NS-Herrschaft dessen historischen Misserfolg vorbestimmt sieht: „Das Ende ist im Anfang immer schon enthalten“ (ebd., 66). Dass Vermehren dem Nationalsozialismus abspricht, überhaupt über Inhalte verfügt zu haben, auf die sich rationell zu beziehen möglich wäre, hat zur Folge, dass Reise durch den letzten Akt Aspekte nationalsozialistischer Ideologie und Politik überhaupt nicht oder lediglich als Negativbestimmungen beinhaltet. Ergebnis dieser Deutung des NS-Faschismus ist eine Verortung des Subjekts in der Krise: Auf beiden Seiten der Stacheldrähte habe die NS-Herrschaft gleichermaßen fatale Auswirkungen gehabt. 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte 143 329 Dabei macht Vermehren keinen Unterschied zwischen den staatlichen Verwaltungs‐ stellen und den SS-Ämtern, die für die Einstellung des KZ-Wachpersonals zuständig waren. Gemäß ihrer Verortung des Nationalsozialismus als dämonische Herrschaft ist auch für seine Personalentscheidungen eine nicht näher zu bestimmende Macht verantwortlich. Diese Eigenschaft des Nationalsozialismus offenbart sich Vermehren als Ursache der im Lager beobachteten Gewalt. Die SS-Wärterinnen werden durch die Obrigkeit mit Macht ausgestattet über die Insassen. Die dafür ausgewählten Figuren sind in Vermehrens Einschätzung der Verantwortung, die diese Macht mit sich bringe, nicht gewachsen. Sie seien noch Kinder auf dem Niveau von 14-Jährigen, die für die Arbeit im Lager gänzlich ungeeignet seien. Es wäre ratsam, diese Figuren würden ihren „Lebensraum enger ab[..]stecken nach dem Maße der eigenen Verantwortungskraft“ (Reise, 60), sich also ihren Charakteren gemäßer scheinende, d. h. weniger anspruchs- und verantwortungsvolle Tätig‐ keiten suchen. Indessen seien die Frauen mit falschen Versprechen von leichter Arbeit, viel Freizeit bei guter Bezahlung und freier Logis in die KZ gelockt worden (ebd., 53 f.). Derartig „irregeleitet“ und „verführt“ (ebd., 54), seien die SS-Aufseherinnen von ihren Stellungen schlicht überfordert. Die Auswirkungen dieser Überforderung manifestierten sich in der von ihnen ausgehenden Gewalt. Die SS-Wärterinnen prügelten nicht aus Bosheit, sondern aus der Unsicherheit „lebhaftester Gewissensnot“ (ebd., 63). Der Nationalsozialismus habe nicht nur zu verantworten, derart inkompe‐ tente Figuren Machtpositionen zuzuweisen, 329 sondern auch, seinen Repräsen‐ tantinnen keinerlei ideelle Orientierung zu bieten und diese mit der Verant‐ wortung ihrer Positionen der Verwahrlosung zu überlassen. Dies formuliert Vermehren zum einen praktisch als Mangel von angemessener Informierung und Anleitung über die Arbeit im Lager, adressiert aber auch die Absenz eines orientierenden Maßstabs für Sinn und Zweck ihrer Tätigkeit innerhalb des NS-Staates. „Die Würde einer Uniform entscheidet sich am Wert der Sache, der sie dient. Das Ziel, dem die SS sich verschrieben hatte, war, die Macht zu erlangen, zu haben und zu behalten. Macht aber ist noch kein Inhalt, sondern nur ein Mittel, um einem Inhalt zum Durchbruch zu verhelfen; wie weit also Macht gut ist, liegt bei dem Inhalt, für den sie sich einsetzt.“ (Reise, 54) Dies führe zu einer Verschlimmerung der Gewalt, die sich in erster Linie und unmittelbar negativ für die Häftlinge auswirkt, die den alltäglichen Schikanen der Wärterinnen ausgesetzt sind: „Macht in den Händen des kleinen Mannes, des kleinen Mädchens, ist verheerend, weil sie das Fundament so wenig kennen 144 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt wie die Last der damit aufgebürdeten Verpflichtung.“ (Ebd., 84) Darüber hinaus aber offenbare sich darin auch eine Gefährdung der Wärterinnen selbst. „Dieses Fehlen jeglicher positiven Aufgabe hemmte nun vollends die sowieso kärgli‐ chen Entwicklungsmöglichkeiten dieser durchweg sehr trivialen Mädchen, von denen kaum eine mehr zu bedenken schien als die nächste Mahlzeit.“ (Ebd., 57) Die permanente Überforderung, denen die Wärterinnen in ihren Stellungen begegnen, sowie die Erfahrung einer Obrigkeit, der ihre Tätigkeit schlicht gleichgültig zu sein scheint, führe dazu, dass sie in ihrer charakterlichen Entwicklung auf einer adoleszenten Stufe verblieben. Die „merkwürdigen Ver‐ zerrungen“ dieser Figuren seien „auffindbar wohl nur in“ und also Ergebnis „der Seelenpresse dieses Aufseherinnenberufes“ (ebd., 128). In der Uniformierung der Aufseherinnen identifiziert Vermehren ein Symbol dieser geistigen Vernachlässigung. Nach außen ist die Uniform der SS zunächst ein Zeichen der Macht, die sie über die Insassen ausüben. Für Vermehren ist sie hingegen ein Aspekt, der diese Figuren der Lächerlichkeit preisgibt. Ihr stößt die Uniform als militärische Kostümierung auf, die an den Wärterinnen nicht Autorität und Schneid bewirkt, sondern die „Karikatur einer Köchin in Generalsattitüde“ produziert und diese der Lächerlichkeit preisgebe (Reise, 53). Nach innen habe die Uniformierung zudem verheerende Auswirkungen: Die Uniform ersetze den Aufseherinnen „- unter dem moralischen Deckmantel des ‚blinden Gehorsams‘ - das Gewissen. Nicht ich bin mehr verantwortlich für das, was ich tue, sondern jener, der mir den Befehl gab; nicht ich gab den Befehl, sondern der Dienst an der Sache erforderte ihn. Diese Logik scheint zwingend, ist aber falsch […].“ (Ebd., 55) Diese durch die Uniform gestiftete moralische Dispens hat aber nicht nur negative Auswirkungen auf die Häftlinge, sondern vor allem auf seine Trägerin. Am Beispiel der SS-Frau Mewe schildert Vermehren die mentalen und seelischen Auswirkungen der Uniformierung: „Die Uniform dispensierte sie von jeder Herzensbindung, jeder Gewissensbindung, jeder in ihrem eigenen Wesen lagernden Verpflichtung. So war sie wohl ‚selbstlos‘ geworden in ihrem Dienst, aber diese Selbstlosigkeit ist nicht mehr die schönste Frucht der Tugend der Selbstüberwindung, sondern ihr ist vorausgegangen furchtbarste Selbstvernichtung, […] die leergebrannten, fensterlosen Fassaden unserer zerstörten Städte sind die rechte Versinnbildlichung dieser Seelenverfassung.“ (Ebd., 59 f.) Der Nationalsozialismus steht bei Vermehren für keinen Inhalt ein, ist sich selbst verzehrende Machtlust. Die Tätigkeit für diese Herrschaft führe kon‐ 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte 145 sequenterweise zu einer analogen Vernichtung des Subjekts. Dieser Prozess ist dadurch katalysiert, dass Vermehren in den SS-Aufseherinnen besonders schwache und instabile Figuren begegnen, die nicht in der Lage sind, „sich mit der eigenen Terminologie herauszulösen als einzelne Person aus dem fatalen Wir-Bewußtsein ihrer verbrecherischen Kameraderie“ (ebd., 62). In diesem Umfeld, so Vermehren, verlören sie ihr „Ich-Bewußtsein“ (ebd., 138 f.). Auch auf Seiten der Häftlinge gibt es für Vermehren einen zwingenden Zusammenhang zwischen der beobachteten Gewalt und der Lageruniformie‐ rung. Die nach außen sichtbare Sortierung in Häftlingsgruppen führe zu einer folgenreichen Negativbestimmung. „An diesem Bilde des gestreiften Konzentrationärs, wie die SS es bestimmt hatte, hat sich die ganze höllische Menschenunwürdigkeit der Konzentrationslager entfaltet, denn in diesem Bilde war das den Menschen kennzeichnende Merkmal, ‚Person‘ zu sein, nicht mehr enthalten. […] Mit dem Anlegen der Uniform war ihm die Menschenwürde genommen worden […]. Menschsein gibt es nur in der Form des ich- und selbstbewußten Person-Seins, wo dieses ausgelöscht wird, hört jenes auf.“ (Reise, 89) Im Lager gelten nur noch die Maßstäbe des Staates, der in den Häftlingen die „Kriminelle“ oder den „Staatsfeind“ identifiziert. Innerhalb dieser Sortie‐ rung gelten sie nicht mehr als Personen, sondern nur noch als Bestandszahl an Verbrecherinnen: Im „Zentrum der internen Lagerverwaltung [ist] der einzelne Häftling nur eine Nummer, und die Masse der gefangenen Frauen war eine Summe, die stimmte oder auch nicht stimmte.“ (Ebd., 47) Die Exeku‐ tion nationalsozialistischer Maßstäbe trage sich sichtbar nach außen in der Häftlingsuniformierung mit dem farbigen Winkel als „unauslöschliches Zeichen ihrer Zugehörigkeit“ (ebd., 88). Einen Extremfall erfährt Vermehren in der Tätowierung der Häftlingsnummer, auf die sie zutiefst erschüttert reagiert: „[N]ie werde ich meine wilde Empörung vergessen können beim Anblick der täto‐ wierten Nummer auf dem Unterarm eines Auschwitzer Häftlings. In ihr enthüllte sich wirklich mit beißender Schamlosigkeit die ganze satanische Frechheit dieser bis zum Wahnsinn gesteigerten Macht- und Besitzgier, die über die Arbeitskraft des Menschen hinaus auch den ganzen Menschen als Staatseigentum deklariert.“ (Ebd., 76) Dieser allumfassende, sich als Besitzanspruch äußernde Zugriff hat indessen auch Konsequenzen auf die innere Disposition der Gefangenen. Wie die Wär‐ terinnen übernähmen sie die von außen an ihnen exekutierten Maßstäbe, was zu einer Verkümmerung ihres inneren Potentials führe. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein großes „Maß sittlicher Verwahrlosung“, eine „moralische 146 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 330 Auf gleiche Weise erkennt Vermehren in den meisten Aspekten des Lageralltags keine planmäßigen Schikanen, sondern Aspekte einer Vernachlässigung durch die SS: Das Einkleiden neuer Häftlinge (Reise, 69), die (fehlende) Organisation der Essensausgabe, bei der die Schnellen und Starken die (guten) Rationen bekämen, während die übrigen leer ausgingen (ebd., 67, vgl. 73), die Beurteilung von Geisteskrankheiten (ebd., 77), ins‐ gesamt die ärztliche Versorgung, alles erscheint ihr durch „außerordentlich dumme[..], eingebildete[..] Flegel“ durchgeführt, die „von der caritativen Pflicht [ihres] Berufes nie etwas vernommen […] haben“. Ebd., 74, vgl. 31. Die Appelle ziehen sich für Vermehren aufgrund mangelnden Interesses über mehrere Stunden und sind nicht in den 30 Minuten, die sie dafür veranschlagt, erledigt. Ebd., 85. Auch klagt sie darüber, dass es im Lager „bei weitem nicht genügend Arbeitsplätze“ für alle Arbeitsfähigen gebe, eine Vernachlässigung, die deren Verwahrlosung nur befeuere. Ebd., 70, 84f. Verwahrlosung“, nach der die Häftlinge ebenso grausam nach außen wirken wie die SS (ebd., 88, 164). 330 Reise durch den letzten Akt verhandelt die Gefangenen zunächst unter‐ schiedslos als Opfer der Lager, welche ihr Verhalten grundlegend bedingen. „Wenn man vom Häftling reden will, muß man über das Lager berichten, und wenn man über das Lager schreibt, spricht man vom Häftling.“ (Reise, 66) So grundlegend bedingten die Haftumstände die Gefangenen, dass für die Schilderung des jeweiligen Phänomens das andere mitgedacht werden müsse. „Immer wieder drängt sich das Wort ‚grau‘ in die Schilderung: graue Mauern, graue Häftlingsgestalten, graue Gesichter […]. In der Sprache der Begriffe aber ist gerade dieses Grau unentbehrlich, soll es doch bedeuten, daß das Schwarz des Todes so weit schon Besitz ergriffen hat vom Weiß des Lebens, daß dieses aufgehört hat, weiß und also das Leben zu sein, während umgekehrt das Schwarz des Todes vom Weiß des Lebens so weit noch durchdrungen wird, daß auch kein ganzer Tod ist.“ (Ebd., 141) Die Häftlinge fristeten ein Dasein zwischen Leben und Tod, welches völlig fremdbestimmt jede Form von Individualität verneine. Darin fördere das Lager die egoistische Bedürfnisbefriedigung, welche in der Abwertung des Anderen seine Legitimation findet. So wird Vermehren erklär‐ lich, wie das Verhalten der Häftlinge untereinander sich dem der SS-Wachen angleichen konnte: „Da jedes Sorgen für Wohl und Sicherheit der eigenen Person auf Kosten eines anderen Häftlings ging, bedurfte es der totalen Lösung von jeglicher moralischen und menschlichen Bindung, um in den Besitz dieser unbekümmerten Freiheit zu gelangen, und man erschrickt vor der Ähnlichkeit, die deutlich wird im Gesicht der gefesselten Menschheit mit dem der entfesselten.“ (Reise, 88) 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte 147 So komme es zu einer „innere[n] Bewußtseinsverschiebung“, die „sich nicht nur im sittenlosen und unmoralischen Verhalten“ äußert, sondern „sich entspre‐ chend ihrer Totalität auf den ganzen Menschen aus[wirkt].“ (Ebd., 92) Die gezeigten Prozesse innerer Verwahrlosung treten auf beiden Seiten des Stacheldrahtes, bei „entfesselten“ SS-Wachen wie den im Lager „Gefesselten“ gleichermaßen und in ihren Auswirkungen lediglich graduell zu unterscheiden auf. Das Lager wird so zum Brennglas der destruktiven und quälenden Auswir‐ kungen, die eine solche Herrschaft eben nicht nur auf die von der Gewalt unmittelbar betroffenen Häftlinge, sondern auch auf Staatsdiener hat: „Was wird aus dem Menschen für ein Ungeheuer, wenn er die Achtung verliert vor der Würde der Person, und was für ein böses, verschlagenes Wesen wird aus der Person, wenn sie ihre Würde nicht bestätigt findet im Respekt, den der andere ihr entgegenbringt! “ (Reise, 90) Der ihr bei den Häftlingscliquen auffallende „moralische Deckmantel der Selbsthilfe und Kameradschaft“ sei eine genauso „unmenschlich[e]“ Berufungsinstanz wie die von der SS praktizierte „‚Tugend‘ des ‚blinden Gehorsams‘.“ (Ebd., 92) Überfordert von den Anforderungen ihres Dienstes seien die SS-Wärterinnen ebenfalls als Opfer des Nationalsozialismus zu betrachten. Und so sind sie selbst es, die laut Vermehren feststellen, dass zwischen ihrer und der Situation der Häftlinge lediglich eine graduelle Differenz besteht, und die ein Bewusstsein gemeinsamer Opferschaft entwickeln. „In dieser Zeit merkten sie, daß kein wesentlicher Unterschied bestand zwischen ihrer und unserer Freiheit bzw. Unfreiheit, und hin und wieder war fast so etwas wie ein kameradschaftlicher Unterton zu hören, wenn sie mit uns sprachen.“ (Ebd., 61 f.) Nicht zuletzt deswegen beginnt Vermehren ihre Auseinandersetzung mit der Psychologie der Aufseherinnen, bevor sie sich den Häftlingen widmet. Auf beiden Seiten des Stacheldrahts findet Vermehren ein Übergewicht materieller Interessen, rigorosen Egoismus, fehlende ideelle Orientierung und die Vernachlässigung ethischer Verpflichtungen. Diesen als Mangel problema‐ tisierten Befund reflektiert sie als Ergebnisse einer allgemeinen Krise und „See‐ lenkrankheit des modernen Menschen“ (Reise, 56, 93). Aufgrund des Nihilismus des deutschen Faschismus habe sich diese Krise nun besonders gewaltsam manifestiert. Diese Herrschaft, so Vermehren, erkenne im Subjekt nicht mehr die „Person“, d. h. den Menschen, sondern lediglich das Instrument seines Machtgewinns und -erhalts bzw. Objekt seiner Gewaltausübung. Die Unifor‐ mierung der SS markiert ihre Entmenschlichung hin zu den Repräsentantinnen einer willkürlichen Gewalt, jene der Häftlingsindividuen ihre Verwandlung in entpersonalisierte Sträflinge. Auswirkung ist eine alles nivellierende „Gleich‐ gültigkeit“, welche noch „irgendeine Art der primitivsten Fürsorge“ verneine und so jede/ n Betroffene/ n existentiell gefährde (ebd., 67, 90). 148 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt Reise durch den letzten Akt beginnt mit dieser Bestimmung der Lagerinsassen sowie des -personals. Indessen erachtet Vermehren ihre Schlüsse über das Lager als gültig für die gesamte deutsche Bevölkerung und den Wirkungsbereich des Nationalsozialismus. Im Lager herrschte die Gewalt eines „schrecklichen und totalen Unrechts […], das über jedem einzelnen hier lag, aber auch über jedem Deutschen, ja, durch diesen entsetzlichen Krieg nun schon seit fünf Jahren die ganze Welt heimsuchte.“ (Reise, 30) Die Verhältnisse im Lager korrespondierten mit Entwicklungen, die in ganz Deutschland virulent seien: „Daß und wie in den sechs Jahren seiner Existenz [der von KZ Ravensbrück, J.V.] seine ursprüngliche Gestalt sich verwandelte, ist nicht anders zu werten als die gesamte Veränderung überhaupt, die wir in Deutschland erleben mußten, nämlich als das Offenbarwerden des eigentlich waltenden Prinzips ‚Macht um der Macht willen‘, als die zerstörende Auswirkung des sich vollendenden Nihilismus.“ (Ebd., 66) Weiter heißt es angesichts eines Flüchtlingszuges gegen Ende von Reise durch den letzten Akt: „[…] das Phänomen war hier wie dort das gleiche: Angst und Verzweiflung, hoffnungs‐ lose, zerstörte Menschheit. […] Der seelische Zustand dieser Flüchtlinge unterschied sich eigentlich in nichts vom seelischen Zustand der meisten Häftlinge […]. Nur die herzlose Dialektik mag es noch unternehmen, einen realen Unterschied heraus‐ zustellen zwischen dieser Verfolgtheit [der deutschen Flüchtlinge, J.V.] und jener, wie sie im KZ deutlich wurde - ein Entrinnen gab es hier wie dort nicht. Der Stacheldraht zog sich um das ganze deutsche Volk. Für uns Deutsche bestand nur ein gradueller Unterschied zwischen der Freiheit in und außerhalb des KZ, ein essentieller Unterschied war erst außerhalb unserer Landesgrenzen zu finden.“ (Ebd., 111, 113) In den Lagern ließen sich schließlich Entwicklungen ablesen, die überall im kriegsverheerten Deutschland gültig seien. So greift Vermehren den Aspekt der existentiellen Vernachlässigung noch einmal auf, wenn sie von den Ame‐ rikanern nach Frankfurt am Main verbracht wird und über das Bild der ausge‐ bombten Stadt und seiner Bewohner schreibt: „Alle schlimmsten Befürchtungen waren zu nüchternsten Realitäten geworden: hier stand das zerschlagene Individuum in den Trümmern seiner Tradition. Alle Spiegel seines Lebens hatte es zerbrochen; blind und verwirrt irrte es durch das chaotische Ei‐ nerlei vollendeter Zerstörung, nirgendwo mehr ein Merkmal, ein Zeichen entdeckend, das seiner Orientierung hätte dienen können.“ (Reise, 187) In der Auseinandersetzung mit den Lagern erschließt sich für Vermehren die Besonderheit der NS-Gewalt, die sich auf das gesamte Land und die ganze 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte 149 331 Diese Deutung des Lagers als Modell einer auf Gesamtdeutschland oder gar die gesamte Menschheit bezogenen Entwicklung, die hier in extremis ausgeformt und entsprechend deutlich sichtbar sei, ist ein wiederkehrendes Merkmal der KZ-Literatur. So schreibt Eugen Kogon im Vorwort von Der SS-Staat, das Lager sei „ein Ecce Homo-Spiegel […], der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben, muß er uns vorgehalten werden.“ Kogon, SS-Staat, 5, Herv. im Orig. Die Untersuchung des Lagers ermögliche es daher „kurzum die tragoedia humana in absonderlichster Weise exemplifiziert“ zu betrachten. Ebd., 9. Ab der Ausgabe von 1949 fügte Kogon seiner Schrift zudem den Passus hinzu: „Es war in der Tat ein SS-Staat geplant, und die Konzentrationslager waren ein grausiges Hohlmodell - die Probekammern rings um den Circus Maximus des Tausendjährigen Reiches, auf dessen großdeutscher Rennbahn, im Angesicht einer teils begeisterten, teils gezwungenen Volksgemeinschaft die zum Tode bestimmte Freiheit unter die Hufe jenes entsetzlichen Viergespanns geworfen wurde, das als Führeranbetung, Rassenwahn, Nationalismus und Militarismus der Geschichte dieser Zeit die blutigen Spuren eingestampft hat.“ Ders., Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Neuausgabe. München 1974 [1946], IX. 332 In einem längeren Zitat aus „Der Friede“ beruft sich Vermehren Ernst Jüngers Interpre‐ tation der Kriegszerstörungen als Ergebnis und Bebilderung des inneren Zustandes der Bevölkerung: „Der Mensch darf nie vergessen, daß die Bilder, die ihn jetzt erschrecken, das Abbild seines Innern sind. Die Feuerwelt, die ausgebrannten Häuser und die Ruinenstädte, die Spuren der Zerstörung gleichen dem Aussatz, dessen Keime lange im Innern sich vermehrten, ehe er an die Oberfläche schlug. So hat es seit langem in den Köpfen und in den Herzen der Menschen ausgesehen.“ Reise, 107; vgl. Ernst Jünger, „Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas und an die Jugend der Welt“, in: Jünger, Ernst, Sämtliche Werke. Band 9: Essays I - Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 2015 [1945], 195-263, hier: -218. Welt verheerend ausgewirkt habe. 331 Vermehrens Perspektivierung des Lagers ermögliche somit nicht nur eine Erklärung der Lagergewalt, sondern liefere nicht zuletzt Erkenntnisse über die Conditio humana selbst. 332 Denn, so Ver‐ mehren im Vorwort über den Wert des Individuums: „Und ich glaube, wir tun gut daran, das vordringlichste Merkmal dieser Kostbarkeit in seiner äußeren, mehr noch in seiner inneren Verwundbarkeit zu erkennen.“ (Reise, 9) Wer also das „Wesen“ des Nationalsozialismus und seine zerstörerischen Auswirkungen auf das Subjekt ergründen wolle, müsse sich, so Vermehren, zwangsläufig mit den Lagern auseinandersetzen. Vermehrens Auseinandersetzung geht vom Faktum der selbst erlittenen Gewalt aus, für die sie Maßstäbe sucht, nach denen sich ihr das zunächst Unerklärliche erschließen lässt. Im Modus ihrer Perspektivierung des Lagers und in den Kriterien ihrer Analyse ist eine ganze Weltsicht des Subjekts und seiner Obrigkeiten enthalten, die ex negativo Auskunft gibt auch darüber, welche politisch-sozialen Konsequenzen aus dieser Gewalt zu schließen seien. 150 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt Vermehren spricht vom Standpunkt der „Menschlichkeit“ aus, ein Begriff, der für sie definiert ist durch die sittlichen Regeln einer humanistischen Kulturtradition, vor allem aber durch die ethischen Gebote des Christentums. Ihr „Bild des Menschen“ ist das der „christlichen Weltanschauung“ (Reise, 102) und fordert die allgemeine Verpflichtung auf die Werte Mitleid, Caritas und Demut dem Anderen gegenüber. Nur dessen „Primat des Geistes und der Seele“ könne gegen den „wütenden nihilistischen Materialismus“ ankommen (ebd., 107). Jeder Mensch ist für Vermehren eine Gottesschöpfung und darum wertzuschätzen und mit Respekt zu begegnen. Im Vorwort erklärt sie, Reise durch den letzten Akt mit der Wirkungsabsicht verfasst zu haben, diese Werte zu vermitteln und einzufordern. Der Text solle „[…] helfen, Wert und Bedeutung des einzelnen Menschen wieder ein wenig mehr in den Mittelpunkt der allgemeinen Diskussion zu rücken. Es ist an der Zeit, sich endgültig loszumachen von dem harmlos optimistischen Bilde des natürlicherweise ‚guten‘ Menschen - die letzten Jahre haben diese oberflächliche Ansicht zu grausam ad absurdum geführt, als daß man noch wagen dürfte, ihr bedenkenlos zu trauen. Unter dem verhängnisvollen Einfluß der vernunftlosen Propaganda der letzten zwölf Jahre ist das Bewußtsein von der Würde des Menschen in einem beängstigenden Ausmaße verlorengegangen. Wollen wir aber einmal wieder in menschenwürdigen Zuständen leben, so müssen wir zuerst und vor allem anderen uns darauf besinnen, daß der Mensch das Kostbarste ist, was es auf der Welt gibt.“ (Ebd., 9) Der Nationalsozialismus, gleichsam das Reich des Antichristen, habe nichts Geringeres denn „mit frevelnden Händen den schützenden Mantel der Heiligkeit Gottes vom verborgenen Gesicht des Lebens gezerrt“ (ebd., 89). Die Dominanz einer christlich geprägten Deutung der unmittelbaren Vergan‐ genheit wird auch anhand der Auswahl der von Vermehren zitierten Sekundär‐ literatur augenfällig: Piepers Tugenden basieren auf einer Auseinandersetzung mit den christlichen Kardinaltugenden; die darin enthaltenen Verweise auf den heiligen Augustinus und vor allem Thomas von Aquin übernimmt auch Vermehren (vgl. Reise, 94 f.). Sowohl Picards Gesellschaftswie Rauschnings Faschismusanalyse erkennen im Verfall einer christlich-abendländischen Kul‐ turtradition sowie einer spezifisch christlichen Ethik das wesentliche Problem 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte 151 333 Zu Rauschnings NS-Deutung siehe Wolfram Ender, Konservative und rechtsliberale Deuter des Nationalsozialismus 1930-1945. Eine historisch-politische Kritik. Frankfurt/ M., 1984 (Europäische Hochschulschriften. Reihe III, Geschichte und Hilfswissenschaften, 208), insb. 98-105. Zur Dimension der nationalem Exkulpation in den Werken Rausch‐ nings: Eckhard Jesse, Diktaturen in Deutschland. Diagnosen und Analysen. Baden-Baden 2008, 266-277. Zu Picards Zivilisationskritik: Filk, „Alles abgerissen“, 21 ff. sowie, mit Blick auf Picards 1946 erschienene Schrift: Beljan, „Picard“. der „Moderne“ und darin die wesentliche Voraussetzung für die Machtüber‐ nahme der Nationalsozialisten. 333 Durch ihr eigenes Erleben im Lager sah Vermehren Menschlichkeit und die Werte der ihr zugrunde liegenden Kulturtradition kategorisch negiert. „[N]ichts wurde so verfolgt und bekämpft wie hilfreiche Menschlichkeit, wenn sie einem Häftling sich zuwenden wollte, der im besonderen Sinne Opfer seiner grausamen Obrigkeit geworden war“ (Reise, 49). Auf beiden Seiten des Stacheldrahtes sah sie sich konfrontiert von einem „Schauspiel, das nicht von Menschen gespielt wird“ (ebd., 46). Doch findet sie überall in Deutschland den Menschen in der Krise und also existentiell gefährdet. Entlang des universellen Maßstabs Humanität sortiert Vermehren das Personal ihrer Lagerschilderung in Täter und Opfer, nach welchem sich sowohl Insassen wie auch SS-Wachposten diskreditieren. Das erklärt auch, weswegen Vermehren ihrem Text ein Motto aus dem Vaterunser voranstellt: „Und vergib uns unsere Schuld,/ wie auch wir vergeben/ unseren Schuldigern“ (ebd., 6). Entlang dieser Perspektivierung sind auch die Opfer der Lager in die Verantwortung genommen, nach den Geboten der Humanitas zu handeln und beurteilt zu werden. Vermehrens Untersuchung der Gründe der Lagergewalt abstrahiert erklärter‐ maßen von den politischen oder sozialen Zusammenhängen und verhandelt das KZ als Schauplatz des absolut Unmenschlichen, installiert von der bösen Macht schlechthin, auf dem sich die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Wandels hin zu den Grundsätzen der Menschlichkeit offenbart. Dabei erbringt sie den Beweis der illegitimen Herrschaft gerade, indem sie dem NS-Regime als Manifestation des Nihilismus abspricht, überhaupt über Inhalte verfügt zu haben. Vermehrens Faschismusinterpretation deutet dessen Herrschaft als eine Anmaßung, als groß angelegte Täuschung und Verführung, die sich zerstörerisch auf alle auswirkt, die von ihm betroffen sind, inklusive der eigenen Staatsdiener. Reise durch den letzten Akt wirft gleichermaßen einen Blick „von oben“ auf das darin auftretende Personal. Vermehren hat die Perspektive eines obrigkeitlichen Zugriffs verinnerlicht, welcher die Bevölkerung einteilt nach ihrer Nützlichkeit für den Staatsgedanken, wonach sich nicht wenige ihrer Mitgefangenen auf‐ grund ihrer „kriminelle[n] Energie“ diskreditieren (vgl. ebd., 66, 88, 98, 164). 152 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt In der Uniform identifiziert Vermehren den gültigen Marker einer durch die Obrigkeit gestifteten Verantwortung, die sich im Träger als Ansammlungen verpflichtender Wertvorstellungen, aber auch eines gewissen Sozialprestiges manifestiere. „Sie [die SS-Aufseherinnen, J.V.] meinten wohl, daß das Ansehen ihrer Uniform einen so lächerlichen Eindruck leicht aushalten könne, anstatt, wie es eigentlich sein müßte, durch die ständige Hingabe aller besten Bemühungen die Würde des Rockes stets neu zu beleben. Die ‚Pflicht‘, die sie bewußt mit dieser Uniform übernommen hatten, war wohl nur die, ständigen Gebrauch zu machen von den mit ihr verliehenen Rechten, die den Häftlingen gegenüber in dem Begriff des Herrschens zusammengefaßt werden können, wobei man nur hinzusetzen muß, daß gesetzlose Herrschaft dasselbe ist wie Willkür. Willkür aber ist verheerend, unabhängig davon, ob sie in den Händen eines großen Mannes liegt oder in den ungeschickten Fingern dicker, dummer Mädchen.“ (Reise, 58) Dieses Personal nun „beschmutze“ das Ansehen der Uniform, da hier die Gültigkeit des sozialen Markers untergraben wurde. Ex negativo bekräftigt Vermehren den „Wert“ der Uniform als Symbol der Stellung innerhalb des Staates, die mit herausgehobenem sozialem Ansehen verbunden ist. Dagegen unterbreitet Vermehren Vorschläge für die sich in dieser Rolle lächerlich ma‐ chenden Wärterinnen, die ihren „Lebensraum enger ab[..]stecken“ sollten „nach dem Maße der eigenen Verantwortungskraft“ (ebd., 60). Vermehren tritt hier auf als Figur, die gültige Maßstäbe zur Beurteilung verinnerlicht hat, welches Personal sich in Uniform blamiert und welches der „Würde des Rockes“ gerecht wird. Durchgängig erscheinen die SS-Aufseherinnen als für ihre Stellung im KZ und die damit verbundenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten inkompetente, falsche Figuren. Doch über die charakterliche Ablehnung dieses Personals hinaus formuliert Vermehren Kriterien des Wärterinnenberufs, an denen sich die SS blamiert. „Mit der Vorstellung einer idealen Aufseherin verbinden sich wenigstens drei Tu‐ genden: Verantwortungsfreudigkeit, Gerechtigkeit und selbstlose Hingabe an jenes Ideal, in dessen Dienst sie sich sichtbar durch das Tragen ihrer Uniform gestellt hat. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß ich keine dieser drei Tugenden auch nur andeutungsweise jemals verwirklicht gefunden habe. Dahingegen lohnt es sich festzustellen, daß diese Tugenden gar nicht verwirklicht werden konnten, und zwar deshalb nicht, weil das Ideal, dem die uniformierte SS sich verschrieben hatte, von vornherein das Wachsen jeder echten Tugend unmöglich machte.“ (Reise, 54) 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte 153 Wiederum äußert sich Vermehren von der Position einer Beurteilenden, sie unterscheidet, ob und wie dieses Personal den Anforderungen seiner Tätigkeit „gerecht“ werde. Entlang der aufgelisteten Qualitäten entwirft Vermehren die Vorstellung einer positiven Gefängniswärterin, deren Tätigkeit zudem als „Tugend“ mit einer moralischen Qualität versehen und überhöht ist. Vermehrens Kritik des NS-Lagerpersonals als inkompetente, blamable, die „falschen“ Figuren für diese Arbeit rechtfertigt doch die Existenz dieses Berufsstandes sowie der Institutionen, in denen sie arbeiten. Indem Vermehren ein Ideal der Wärterin formuliert, anerkennt sie gleichzeitig die Notwendigkeit der Existenz von uni‐ formiertem Personal, das durch die Staatsmacht in die Position gesetzt wurde, als kriminell identifizierte Staatsbürger: innen (in Lagern) zu bewachen. Die „verpflichtende Idealvorstellung von einem ‚gut funktionierenden‘ KZ [habe es] nur in einem negativen Sinne gegeben“ (ebd., 67). Vermehren lehnt die KZ als Gewaltorte nicht per se ab, sondern bemerkt, dass die Lager mit anderem Personal und Anleitung nicht nur keine Gewalt, sondern zudem effizienter hätten sein können. Die Planmäßigkeit der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspraxis sowie die Rolle der KZ als Mittel der Durchsetzung der Vorstellung einer politisch wie rassisch „gesäuberten“ „Volksgemeinschaft“ kommen in dieser Deutung indessen nicht in den Blick. Im gleichen Modus der Legitimation spricht sie vom „Befehl“ als Machtmittel. Von der SS nach Tirol verschleppt, äußert sich Vermehren empört über das Verhalten der Wachtruppen den Häftlingen gegenüber, einen „Dilettantismus“, der ihr „als Symptom der beginnenden Auflösung“ erscheint. Es stößt ihr auf, dass die SS „[…] die Kunst des Befehlens nicht beherrscht. Der gute Befehl berücksichtigt in seiner Forderung die Durchführungsmöglichkeiten, der schlechte hingegen überschätzt jene immer bzw., und das ist eben so dilettantisch, traut dem Befehl selbst so etwas wie eine ihm innewohnende Zauberkraft zu, eine Fehlanschauung, die durch die Propaganda sehr gefördert wurde. Befehlsgewalt ist noch keine Allmacht.“ (Reise, 130) Vermehrens Kritik des Befehls zielt auf die nationalsozialistische Form seiner Anwendung. Diese disqualifiziere sich im Erachten des Befehls als Allmachts‐ befugnis des Befehlenden über den Adressaten seines Befehls. Erneut zeige sich hier eine falsche Weise des Zugriffs auf Machtmittel. Tatsächlich sei die im Befehl verbalisierte Gewalt nur dann legitimiert, wenn sie ihre Machtposition reflektiere. Darin schränkt Vermehren diese Gewalt nur insofern ein, als der „gute“, gerechtfertigte Befehl die Möglichkeiten seiner Realisierung bedenkt. Vermehren bestimmt das Subjekt als bedingt durch die Verhältnisse, in denen es sich befindet. Negativ wird es durch die Uniformierung der Lächerlichkeit 154 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt preisgegeben, sinkt herab in einen subhumanen Status, wird vernachlässigt. Dabei bestimmt bereits der Begriff der Vernachlässigung die Obrigkeit als für das mentale Wohl seiner Bevölkerung zuständige Betreuungsinstanz. Auch ins Positive gewendet gilt es, das Subjekt anzuleiten und auf Inhalte hin zu orientieren, die notwendigerweise außerhalb seiner selbst liegen. Das Subjekt brauche Orientierung, da die Maßstäbe, die ihm selbst entsprängen, nicht per se „menschlich“ seien und, wie die Lager zeigten, rasch in Gewalt gegen andere wie sich selbst ausarten könnten: „Einem Hilflosen freundlich zu begegnen, glaubten wir in der Natur des Menschen begründet zu wissen, aber wir müssen erkennen, daß nicht die Natur, sondern die Kultur ihm diesen Schutz gewährte.“ (Reise, 35) Wo diese Kulturtradition indessen in der Krise liege oder keinen Einfluss mehr auf das Subjekt habe, offenbare sich diese Natur des Menschen. „Das ‚natürliche‘ Gefühl gibt es nicht wie etwas, was man als stabil voraussetzen kann. Das ‚Natürlich‘ [sic! ], das ‚natürlich Menschliche‘, wie es in diesem Zusammenhange als umfassender ethischer Begriff gebraucht wird, ist das kostbarste Produkt einer ungebrochenen Tradition. Wo aber diese zerstört ist, muß auch jenes zugrunde gehen, und das Absinken in die Barbarei wird unaufhaltsam.“ (Ebd., 55) Daher ist Vermehrens Blick stets der eines (positiven oder negativen) Zugriffs auf das Subjekt. Ihre Schilderung konzeptualisiert das Subjekt als Teil einer Be‐ völkerung, der über sein Verhältnis zur Herrschaft und seine Funktion innerhalb des Staatswesens definiert ist. Ohne dieses erscheint das Subjekt schlicht hilflos und zwangsläufig Tendenzen zu Gewalt und „Entmenschlichung“ preisgegeben. Die Absenz einer Orientierung des Subjekts auf einen höheren Maßstab „führt zu einer endlosen Irrfahrt“ und „mutet etwa so an wie der Versuch, unter Wasser atmen zu wollen“ (ebd., 56 f.). Die SS-Aufseherinnen zeigten das „das böse Gesicht der Macht des entfesselten Menschen“ (ebd., 86). Über die innere Verwahrlosung der Häftlinge in Ravensbrück wiederum schreibt Vermehren: „Nur wenige brachten die Voraussetzungen mit, dieser Hölle von Versuchungen und Verführungen unverändert standzuhalten, die Mehrzahl stellte nur unter Beweis, wie abhängig der Mensch ist von der geordneten Rechtlichkeit der ihn umgebenden Verhältnisse, soll er nicht zum Verbrecher werden.“ (Ebd., 92) Die obrigkeitlichen Maßstäbe erscheinen hier als existentielle Bedingung des Subjekts. Das Recht, welches seine Bevölkerung entlang konformen und krimi‐ nellen Verhaltens sortiert, entspricht bei Vermehren einem moralischen Kom‐ 6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte 155 334 An anderer Stelle spricht Vermehren davon, dass die „erste historische Erscheinungs‐ form“ des Hasses der „Klassenhaß“ sei, „der erst in dem Augenblick seinen Feind im Geldbeutel der bevorzugten Schicht erblicken konnte, als man die menschliche Not zu einem ‚Fehler‘ degradiert hatte, den man ‚vermeiden‘ kann, wodurch sich dem Notleidenden die Not in Recht wandelte und aufhörte, Pflicht der Barmherzigkeit des anderen zu sein. Man hört solange Fehler auf Fehler häufen in der Bekämpfung der Not [sic! ], als man verkennt, daß sie ihre Wurzel nicht in der Ungerechtigkeit hat, sondern in der Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit.“ Reise, 94. Soziale Verwerfungen und Armut seien somit nicht Ergebnis und Problem der politischen oder wirtschaft‐ lichen Sphäre, sondern gesetzte Eigenschaften jeder Gemeinschaft, auf die es mit moralischer Verantwortung zu reagieren gelte. Gegen den Versuch einer Änderung der polit-ökonomischen Ordnung verwehrt sich Vermehren, als diese der Ausgangspunkt von Hass sei. pass, dessen Durchsetzung erst die Möglichkeit für integres Verhalten schafft. 334 Die Häftlinge selbst zeugten dafür, dass die staatliche Vernachlässigung dieser Maßstäbe ein nicht auf das nationalsozialistische Personal beschränktes Pro‐ blem darstelle, welches auch über das Ende der NS-Herrschaft bestehen bliebe: „Ich glaube, nach allem Vorstehenden ist die folgende Spekulation nicht mehr unbe‐ rechtigt: wenn es nicht gelingt, das Vakuum, in das das Personalbewußtsein sich verirrt hat, wieder von innen her zu füllen - eine andere Wehr gegen den Nihilismus gibt es nicht -, dann wird aus der Reihe der heute entlassenen KZ-Häftlinge die in der nächsten Generation entsprechende neue SS erwachsen.“ (Ebd., 94) Mitnichten sei die Gewalt mit der Befreiung der Lager und der Zerschlagung des NS-Regimes verschwunden. Derartig losgelöst von den politisch-ideologischen Zusammenhängen des Nationalsozialismus betrachtet Vermehren die sich in den Lagern manifestierende Gewalt, dass sie die Elite eines neuen Antihuma‐ nismus sich aus den Reihen der ehemaligen KZ-Opfer rekrutieren sieht. Aufgrund dessen ist Vermehrens Schluss aus der im Lager erlittenen Gewalt nicht die Ablehnung der Machtverhältnisse, die diese hervorgebracht hatten. Vielmehr formuliert sie selbst die Maßstäbe, nach denen eine Herrschaft ihr Personal auszuwählen habe, auf welche Weise dieses zu verpflichten und anhand welcher Kriterien es zu kontrollieren sei. Indem Vermehren den Na‐ tionalsozialismus als „falschen“ Zugriff auf die Bevölkerung diskreditiert, der in deren „Selbstvernichtung“ kulminiert, entwirft sie gleichzeitig Momente, nach denen eine Herrschaft sich als „menschlich“ legitimieren und so der faschistischer Negation eine positive Version entgegensetzen könnte. 156 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 335 In den Blöcken 1-3 waren überwiegend Funktionshäftlinge des Lagers untergebracht. Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes. Paderborn 2003, 189. Vermehren verwendet durchgängig die römische Nummerierung der Bara‐ ckenblöcke, der hier gefolgt wird. 6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses Zu Beginn von Reise durch den letzten Akt schildert Vermehren den Zellenblock von Ravensbrück, präsentiert ihre dortigen Beobachtungen und Erkenntnisse zu den Lagerinsassen und ihre Deutung des Nationalsozialismus als Herrschaft des Nihilismus. Konsequenz dieser Auseinandersetzung mit dem Lager ist die Notwendigkeit einer neuen Herrschaft. Darin stellt der Text die ideelle Beauftragung einer Obrigkeit dar, welche die als Mängel erkannten Weisen nationalsozialistischer Machtausübung ins Positive wendet. In den darauffolgenden Teilen des Textes verlässt Vermehren den zunächst eingenommenen Beobachterposten im Zellenblock, kommt ins reguläre Lager, wird daraufhin wiederholt deportiert, nach Potsdam, Buchenwald, Dachau und schließlich in die „Alpenfestung“ nach Tirol. Auf diesen Abschnitten ihrer Reise durch den letzten Akt kommt Vermehren mit mehr Häftlingen, aber auch Personal der SS und der Wehrmacht zusammen, erlebt schließlich die Befreiung durch die amerikanischen Truppen. Darüber hinaus füllt sie hier den zuvor formulierten Ruf nach einer neuen Herrschaft positiv aus, indem sie vorbildliche Führungspersönlichkeiten präsentiert und Kriterien etabliert für das ideale Ver‐ hältnis von Obrigkeit und Subjekt in den neuen Herrschaftszusammenhängen. Aus dem Zellenblock ins reguläre Lager überführt, kommt Vermehren in Block II des KZ Ravensbrück. 335 Die dortige Blockälteste Danuta imponiert Vermehren als Idealmodell einer Führungsfigur. Die Blockältesten waren selbst Häftlinge, die die Aufgabe hatten, die Lagerordnung sowie die Befehle der Lagerführung in der ihnen unterstellten Baracke durchzusetzen. Danuta nun fällt Vermehren zunächst auf als besondere Figur innerhalb der Lagerbrutalität: „Danuta war immer liebenswürdig und höflich, immer gleichmäßig und freund‐ lich, immer offen gegen die Not und die Bedürfnisse des anderen.“ Aufgrund ihrer „vorbildlich diszipliniert[en] Selbstlosigkeit“ sowie ihres „ebenso begabten wie passionierten Gerechtigkeitssinn[s]“ ist sie überaus beliebt unter den Gefangenen. Man „mag“ sie, ist bemüht, ihre Wünsche zu erfüllen, die sie aber selten und wenn, dann nie zum eigenen Vorteil einfordert. Im Gespräch strahlt die resolute Gefangene den „Eindruck echter Überlegenheit“ aus. Darüber hinaus ist Danuta maßgeblicher Bestandteil der Untergrundorganisation des Lagers und tritt als solche mit dem Anspruch auf, für eine Verbesserung der Lebensbedingungen aller Insassen von KZ Ravensbrück zu arbeiten (Reise, 6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses 157 99-104). Was Vermehren am Personal des Lageruntergrunds besonders positiv herausstellt, ist die Orientierung ihrer Arbeit auf den humanistischen Gedanken: „Die etwa zwanzig Mädchen, die zu dieser geheimen Clique gehörten, waren weder durch Rasse noch Nationalität, noch Weltanschauung miteinander verbunden, son‐ dern nur und ausschließlich durch die ihnen gemeinsame Achtung vor dem Wert des Menschen und die unbeirrbare Hilfsbereitschaft für jede notleidende Gefährtin.“ (Ebd., 104 f.) Was Vermehren an Danuta besonders positiv hervorhebt, ist ihr Verhältnis zu den Insassen des ihr unterstellten Blocks: „Sie verhalf ihnen [den Häftlingen in Block II, J.V.], wo sie konnte, zu anständiger Kleidung und manierlichem Aussehen, hielt sie an, sich ordentlich zu frisieren und sauber zu waschen in Anerkennung der natürlichen Rechte des Menschen auf diese Dinge wie auch seiner natürlichen Verpflichtung zu ihnen und aus Furcht vor der demoralisierenden Wirkung einreißender Schlampigkeit.“ (Reise, 100) Danuta führt ein striktes Regiment und hält die Häftlinge zu penibler Sauberkeit und Ordnung an, etwa dem Putzen „auch unter den Betten, auch in den Ecken, auch auf den Schränken“ (ebd., Herv. im Orig.). Die durch Danuta durchge‐ setzten Maßnahmen erscheinen zunächst als Äußerlichkeiten. Äußerlichkeiten zudem, mit deren Durchsetzung sich Danuta vor allem durch die besonders effektive Umsetzung der Lagerordnung auszeichnet. Vermehren versteht diese Maßnahmen indessen als Dienst an den Häftlingen: Mehr noch als individuelle Zuneigung oder die Linderung akuter Gewalt- und Angsterfahrungen offenbare sich Danuta durch diese ihre Führung als Streiterin im „Kampf um die Würde des Menschen“ (ebd., 104). Erfolgreich exekutiert Danuta die eigenen Maßstäbe von Ordnung, Disziplin, Moral und Integrität auf die ihr Untergebenen. Indem sie dieses strikte Regularium von Rechten und Pflichten mit entsprechenden Strafen bei Nichteinhaltung entwirft, ihren Untergebenen Aufgaben zuteilt und sie einer strikten zeitlichen Ordnung unterwirft, bewirkt sie in Vermehrens Augen, dass die Gefangenen von Block II nicht (weiter) verwahrlosen. Sie macht die Häftlinge für die peinliche Einhaltung der Lagerordnung verantwortlich und leistet darin nichts weniger als einen Beitrag zur Bewahrung des Subjekts: „Nur diese Möglichkeit, glaube ich, gibt es“, vermerkt Vermehren, „die Masse wieder zu individualisieren.“ (Ebd., 103) Die derart als Masse titulierten und Danutas Ordnung unterworfenen Ge‐ fangenen wiederum gehorchen Danutas Befehlen mitnichten als denen einer in der Lagerhierarchie höhergestellten Person, bei deren Nichtachtung zum Teil schwere Strafen folgen. Die Gefangenen sind eingenommen von dieser 158 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 336 Vermehrens auffällige Bekanntschaft mit diesen prominenten Figuren fiel bereits ihren zeitgenössischen Rezensenten auf. Uhl, „Lemuren“. Wegner versammelt die Persönlichkeiten, die Vermehren in Gefangenschaft (wieder-)trifft: Dazu gehören in Ravensbrück Wolf-Heinrich Graf von Heldorff (ehemaliger Polizeipräsident), General‐ oberst Franz Halder (ehemaliger Chef des Stabes), Helmuth James von Moltke, Julius Leber (Chefredakteur des „Lübecker Volksboten“ und SPD-Reichstagsabgeordneter), Hjalmar Schacht (ehemaliger Reichsbankpräsident und NS-Wirtschaftsminister), in Buchenwald Mitglieder der Familie Stauffenberg, Fritz Thyssen, Frau und Kinder Carl Goerdelers, Maria von Hammerstein (die Witwe des Heeresoffiziers Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord), Dietrich Bonhoeffer, sowie in Innsbruck Martin Niemöller, Kurt Schuschnigg (ehemaliger österreichischer Bundeskanzler), schließlich in Tirol mehrere internationale Politiker und Militärs, etwa der ungarische Ministerpräsident von Kallay oder der ehemalige französische Präsident Léon Blum. Wegner, Herz, 180- Persönlichkeit an der Spitze, fühlen sich gezogen in den „Bannkreis ihres Verant‐ wortungsbewußsteins“ und können folglich gar nicht anders, als die Ansprüche Danutas zu verinnerlichen (Reise, 101). Wirkung ihrer Leitung ist die fraglose Verbesserung des Gefangenenzustands. Lediglich in Block II fasst Vermehren die Gefangenen als nicht verwahrlost auf, ist im Gegenteil beeindruckt von der dortigen Disziplin. Es verwundert nicht, dass sich Vermehren schnell mit ihrer resoluten Blockleiterin anfreundet. Die Beschreibung von Danutas Leitung von Block II ist als Gegenentwurf zu den SS-Aufseherinnen formuliert und erhält Bedeutung insbesondere durch Vermehrens Konzeption einer idealen Aufseherin. Wo die SS-Aufseherinnen als charakterschwache Figuren die Macht und Verantwortung ihrer Stellung im Lager ins Lächerliche verkehren, gelingt es Danuta durch ihre Charakter- und Wertefestigkeit, einen positiven Einfluss auf ihre Untergebenen auszuüben. An Danutas immerhin durch die Lagergegebenheiten arg limitiertem Einfluss zeigt sich eine Eigenschaft guter Herrschaft. „Wie groß war im Grunde die Bereitschaft, sich vom Guten führen und beeinflussen zu lassen.“ (Reise, 103) Im Kleinen zeigt sich hier die Bereitschaft, sich einem strengen, doch für Vermehren zweifelsfrei durchweg positiv zu beurteilenden Regiment unterzuordnen. Mit Vermehrens Auseinandersetzung der Sphäre des Militärs kommt ein weiterer Aspekt ihrer Verhandlung von Herrschaft hinzu, den sie insbesondere anhand der Gegenüberstellung von Wehrmacht und US-Armee illustriert. Über ihr Elternhaus war Vermehren bereits als Kind mit verschiedenen Figuren aus der Sphäre der gesellschaftlichen Eliten in Kontakt gekommen. Insbesondere im Lübecker Haushalt gingen Figuren aus Politik, Ökonomie wie auch des Militärs aus und ein. Einige dieser prominenten Figuren trifft Vermehren im Lauf ihrer Gefangenschaft wieder, insbesondere die Protagonisten, die im Zusammenhang mit dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 inhaftiert worden waren. 336 Vermehren imponieren die Haltung und Würde, die diese Personen 6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses 159 187. Darüber hinaus verweist Vermehren auf die Prozesse gegen einige Personen aus ihrem persönlichen Umfeld, etwa den „Popitz-Langbehn-Prozess“, geführt gegen einige Diplomaten, die in einen Putschplan Himmlers eingeweiht sein sollten, sowie den „Kiep-Thadden-Prozess“ gegen Personen aus dem Umfeld des Attentatsversuchs um den 20.-Juli. Reise, 26-28. 337 Darüber hinaus hebt sich von Moltke für Vermehren insofern positiv von den übrigen Gefangenen um den Attentatsversuch ab, als er sich dem aktivem Widerstand erklär‐ termaßen verweigert habe: „Sein Interesse an Politik war, wie er mir selber sagte, mehr theoretischer als praktischer Natur, und ganz gewiß ist er nicht unter die revolutionären Aktivisten zu zählen. Im Gegenteil, er ist von Anfang an ein Gegner radikaler Handlungen gewesen, also auch ein Gegner der Attentatsgläubigen; er war klug genug, vorauszusehen, daß ein gelungenes Attentat nicht weniger verhängnisvoll gewesen wäre, als das mißlungene es wurde für alle direkt und indirekt Beteiligten und schließlich für das ganze Volk. Hitler, so meinte er, müsse unbedingt sich selbst und sein Regime ungestört zugrunde richten, damit den alten Nationalsozialisten kein Argument zu ihrer Verteidigung blieb.“ Reise, 28. Von Moltke imponiert Vermehren, da er politischen Maßnahmen weniger Bedeutung beimisst als seinen Verpflichtungen gegenüber Sittlichkeit und christlicher Ethik. im Lager ausstrahlen. Inmitten des „klägliche[n] Bild[es] zerrupfter Würde und verstörter Männlichkeit“, das sich beim Hofgang offenbare, tragen diese (zu einem Großteil zum Tode verurteilten) Häftlinge Ruhe und Gelassenheit nach außen (Reise, 40). Aus dieser Gruppe sticht Helmuth James Graf von Moltke besonders hervor, den Vermehren als ihren „Freund“ begrüßt und der als Einziger „im Bekenntnis der Wahrheit“ zum „Märtyrer“ geworden sei (ebd., 18, 29). 337 Es ist jedoch vor allem das Militär, aus dessen Kreisen sich die Widerstands‐ gruppe um den 20. Juli zu großen Teilen rekrutiert hatte, auf das Vermehren im weiteren Verlauf ihrer Reise durch den letzten Akt besonders eingeht. Ange‐ sichts von Vermehrens Erfahrungen mit den Stabsoffizieren der Wehrmacht stellt sie einen prinzipiellen Dissens fest, den die Wehrmacht gegenüber dem nationalsozialistischen Regime eingenommen habe. Angesichts einiger Dienst‐ überstellungen von Wehrmacht zur SS formuliert sie: „Die Feindschaft zwischen Wehrmacht und SS ist bekannt und ihre Gründe sind gerechtfertigt, und es ist dem ‚Zwölfender‘ der Wehrmacht seine blinde Empörung nicht zu verdenken, wenn er sich in letzter Stunde unter die Schar seiner ärgsten Feinde gestellt sah.“ (Reise, 144, vgl. 154) Die Wehrmacht taucht nicht als Ausführende der NS-Ex‐ pansionspläne auf, sondern als gänzlich in Opposition zu den Parteiorganen des NS-Staates stehende Instanz. Ausgehend von ihren persönlichen Bekannt‐ schaften aus den höheren Offiziersrängen erblickt Vermehren in der Wehrmacht eine Schule der Moral, ausgestattet mit einem festen, häufig im christlichen Glauben gründenden Wertekosmos. Zu einer praktischen Durchsetzung dieser Werte kommt es bei der kurzen Machtübernahme der Wehrmacht über die 160 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 338 Am 30. April 1945 übernahm Hauptmann der Wehrmacht Wichard von Alvensleben das Kommando von der SS. Hans-Günter Richardi, SS-Geiseln in der Alpenfestung. Die Verschleppung prominenter KZ-Häftlinge aus Deutschland nach Südtirol. Bozen 2005, 201-218. Zu den zum Teil widersprüchlichen Aussagen zum Abrücken der SS siehe Volker Koop, In Hitlers Hand. Die Sonder- und Ehrenhäftlinge der SS. Köln 2010, 224-233. Bei Vermehren taucht Alvensleben nur bei der Kapitulation und Gefangennahme der Wehrmacht vor den Alliierten auf: „Noch am Nachmittag desselben Tages verließ die kleine feldgraue Kompanie mit müden Schritten den Hof. Auch die beiden Offiziere - ausgerechnet zwei Barone Alvensleben - mußten sich verabschieden.“ Reise, 168. Bei dem anderen „Baron Alvensleben“ handelte es sich um Wichards Cousin Gebhard von Alvensleben. Richardi, SS-Geiseln, 222. durch Tirol ziehenden Gefangenen: In der Endphase des Kriegs transportiert die SS Vermehren und einige besonders prominente Häftlinge nach Südtirol, um sie in der „Alpenfestung“ möglichst lange dem Zugriff der Alliierten zu entziehen bzw. davor zu exekutieren. Bald jedoch ändert sich das rigorose Auftreten der schwerbewaffneten Bewacher, die aufgrund des Kriegsverlaufs zunehmend unentschlossenen auftreten. Wiederholt setzen sich Kontingente von der Truppe ab. Kontaktiert vom gefangenen Oberst von Bonin entmachtet die Wehrmacht in Niederdorf in Südtirol die SS und übernimmt das Kommando (ebd., 153, 161). 338 Diese Gegnerschaft schlägt sich in einem Hilfeakt nieder, der die deportierten Häftlinge vor der Ausführung des Exekutionsbefehls bewahrt (ebd., 154). Die Wehrmacht nimmt für die Häftlinge nicht nur gegenüber der SS die Rolle von Verteidigern ein, sondern auch gegenüber den „großteils gefürchteten“ italienischen Partisanen, die „mehr als einmal“ versuchten, „sich unserem Gelände in nicht vertrauenserweckender Zahl und Attitüde zu nähern.“ (Ebd., 161, 168) In Ravensbrück trifft Vermehren auf im Umkreis des 20. Juli 1944 gefangen gesetzte Stabsoffiziere, vor allem aber auf ihrer Deportation nach Tirol kommt sie in Kontakt auch mit niedrigeren Rängen und Mannschaften. Abseits der hö‐ heren Offiziersränge jedoch stellt Vermehren die gleiche Vernachlässigung wie im Lager fest: Dort, wo die individuellen Führungsqualitäten herausgestellter Offiziere fehlten, schlügen sich die zerstörerischen Mechanismen der national‐ sozialistischen Herrschaft auch innerhalb der Wehrmacht nieder. So schildert Vermehren einige junge Wehrmachtsoffiziere, die als Sippenhäftlinge gefangen gehalten werden. Doch noch in Haft interessierten sie sich weiter für den strategischen Verlauf des Kriegs und „mit großer Sachlichkeit konstatierten sie den Unsinn unserer letzten Kriegsführung“ (Reise, 115). Die bloße Fokussierung auf den sachlichen Aspekt des Kriegs und seine möglichst erfolgreiche Durch‐ führung versteht Vermehren als innere Verkümmerung, als „Begriffsarmut“ und 6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses 161 339 Auf ähnliche Weise schilderte Vermehren bereits einen der Polizisten, welche die Häftlinge auf ihrem Transport von Potsdam nach Buchenwald bewacht hatten. Dieser hebt sich insofern von den vorigen SS-Bewachern ab, dass er den weiblichen Gefan‐ genen mit dem Gepäck hilft. Daraufhin äußert Vermehren: „Es war nebenbei bemerkt kein SS-Mann, sondern ein ordentlicher Polizist, das ist ein großer Unterschied.“ Über den Kommandoführer heißt es, er sei ein „guter Vertreter der Schicht der wirklich Betrogenen, die selber im vollen Vertrauen zur Führung und ohne eine Funken selbst‐ ständigen Denkens die ganzen vergangenen zwölf Jahre mit allen Opfern hingenommen hatten.“ Reise, 123. „Unvermögen“ (ebd., 116). Für Vermehren sind diese Offiziere Beispiele für die leichte Verführbarkeit des Militärs durch die nihilistische NS-Führung. Tatsächlich schildert Vermehren das Verhältnis der NS-Führung zur Wehr‐ macht als eines des Missbrauchs: Die „armen Jungens, die Deutschen“, so Vermehren, seien schlicht „verführt“ worden (Reise, 168). Die Truppen seien Objekte einer Macht geworden, die sie zum Werkzeug ihrer Zerstörungswut gemacht habe. Auch die Wehrmacht sei Opfer dieser Herrschaft des Nihilismus geworden. Dieses Opferbild transportiert Reise durch den letzten Akt vor allem in Gestalt eines „dicke[n] Feldwebel[s]“, dessen rührige Art ihn für Vermehren einnimmt. Angesichts des drohenden Zusammenbruchs in Tirol bricht der Unteroffizier zusammen: Erst im Moment der Niederlage offenbarten sich ihm die Ausmaße des Betruges, dessen sich der Nationalsozialismus an den Deutschen schuldig gemacht habe: „Das Erschütterndste aber an seinem wilden Schmerz war die hilflose Empörung über das, was ihm und seinem Volke angetan worden war. Er begriff erst in dieser Stunde des letzten Zusammenbruchs, mit welchem Ausmaß von frecher Lüge er und alle seine Kameraden verführt worden waren, und in seinen bebenden Zorn mischte sich ein gut Teil Scham.“ (Ebd.) 339 Vermehrens Schilderung der Wehrmacht exkulpiert die Truppe als Verführte und Opfer des NS-Regimes, aus deren Rängen sich zudem Widerstand gegen dieses Regime formiert hatte. Noch diese Darstellung zielt auf einen falschen Zugriff der Herrschaft auf ihre Soldaten, der in Zerstörung und millionenfachem Tod gipfelte: Die Landser in Vermehrens Darstellung wünschen sich einzig eine Umgebung, in der sie endlich frei und sich selbst gemäß existieren“ können (Reise, 169). Dass das positive Beispiel eines solchen Verhältnisses von Obrigkeit und seinen Soldaten in der Tat existiert, offenbart sich Vermehren bei der Ankunft der amerikanischen Truppen in Tirol. Vermehrens beinahe heroische Schilderung der Wehrmachtsabteilung, welche für kurze Zeit die Führung von der SS übernimmt, die Gefangenen zum ersten Mal „befreit“ und gegen die Zugriffe militanter italienischer Partisanen 162 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 340 Zu Ankunft und Befehlsübernahme der amerikanischen Truppen in Tirol siehe Koop, Hand, 232 ff.; Richardi, SS-Geiseln, 240ff. abschirmt, unterscheidet sich drastisch von ihrer Beschreibung der Amerikaner, die am 4. Mai 1945 das Hotel „Pragser Wildsee“ erreichen. 340 Die Ankunft der Alliierten hatte Vermehren betont widerwillig erwartet, gleichsam als letzte Option der Beendigung des Nationalsozialismus, nachdem alle innerdeutschen Kräfte geschlagen schienen: „Was blieb übrig, als auf den Sieg der Feinde zu hoffen, nachdem doch erwiesen war, daß in Deutschland keine Hand sich mehr erheben würde und erheben konnte zur Be‐ freiung der dahinsiechenden Millionen in Buchenwald, Belsen, Mauthausen, Dachau, Papenburg, Ravensbrück, Neuengamme, Sachsenhausen und wie diese Todesstätten alle hießen? Wahrhaftig eine Situation nicht ohne Bitterkeit und tiefe Betrübnis.“ (Reise, 130) Ihre ambivalenten Gefühle den Amerikanern gegenüber verdeutlicht die Titu‐ lierung ihrer von den anderen Häftlingen ersehnten Ankunft als „Eintreffen des feindlichen Freundes, des freundlichen Feindes, kurz, unseres amerikanischen Befreiers“ (ebd., 144). Immerhin, angesichts der Drohung einer Deportation nach Osten und der Aussicht, der Roten Armee in die Hände zu fallen, erscheinen die Amerikaner als das kleinere Übel (ebd., 135). Vermehrens Zweifel hinsichtlich ihrer Befreier bestätigt sich bei deren Ein‐ treffen in Tirol: Die Quartier beziehenden GIs stoßen Vermehren als Faulenzer ab, die sie am ehesten dabei antrifft, betont lässig mit den Händen in den Hosentaschen herumzustehen und, wahlweise mit Kaugummi oder Zigarette im Mundwinkel, ein kaum verständliches Englisch vor sich hin zu kaudern (Reise, 167). Befehle indessen führten sie durchweg umständlich und gelangweilt aus. In den Lieblingsbeschäftigungen der Soldaten, dem ständigen Ballspiel sowie dem Sammeln von Autogrammen prominenter Häftlinge, erblickt Vermehren „harm‐ lose Vergnügen“, in denen sich eine partikulare „Kindlichkeit“ niederschlage. So ist sie „erschüttert von soviel unbeschwertem und vielfach trägem Jungsein, das auch vom verantwortungsbewußten Ernst im einen oder anderen nicht wirklich überwunden wurde.“ (Ebd., 169, 172 f.) Insgesamt erblickt sie in den GIs wenig Kämpferisches, ist vielmehr erstaunt ob der „unaggressive[n] Harmlosigkeit des einzelnen Amerikaners“ (ebd., 172). „An keinem von ihnen beobachtete ich ein Auftreten, wie es dem lange erwarteten Befreier würde entsprochen haben, sondern eher machten sie einen verlorenen Eindruck, als wüßten sie nicht recht, wohin mit sich, und wozu sie überhaupt hier 6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses 163 seien. Eine wie tiefe Richtigkeit diesem ersten Eindruck innewohnte, habe ich selbst erst im Laufe unzähliger Gespräche mit ihnen erfahren […].“ (Ebd., 167) Die eigene Anschauung bestätigt Vermehren die gängigen nationalen Stereo‐ type über die Amerikaner, die sie als kulturlos und oberflächlich, der Pflege und Zurschaustellung des Körperlichen besonders Raum gebend und dabei naiv zeichnete. Dass sich diese Unbekümmertheit auch auf ihre politische Kultur auswirkt, offenbart sich Vermehren auf Capri, wohin die Tiroler Sippenhäftlinge kurz nach ihrer Befreiung gebracht werden. Dort, immer noch unter US-amerika‐ nischer Bewachung, wohnt Vermehren einem „Brain-trust-Nachmittag“ der US-Armee bei. Auf der basisdemokratisch geführten Debatte sollte die Frage erörtert werden, ob und in welcher Weise die USA Italien unterstützen sollten. Bei der Besprechung dürfen alle Dienstgrade vorsprechen, was zur Folge hat, dass zwar viel geredet wird, aber, so Vermehrens Eindruck, weder Aussicht auf einen Konsens oder auch nur eine gangbar zu machende Entscheidung bestehe. „Die beiden erbitterten Gegner dieses Nachmittags, der Colonel und der Sergeant, fanden sich dann wieder im selbstzufriedenen Lob ihrer wohlge‐ lungenen Demokratie, die es gestattete, daß selbst ein Colonel und ein Sergeant zweierlei Meinung sein konnten.“ (Reise, 172) Der demokratische Anspruch der Amerikaner erscheint als wenig effektiver Selbstzweck, den die Amerikaner mehr als eine inhaltliche Entscheidungsfindung feiern. Tatsächlich schlussfolgert Vermehren von den wenig überlegen scheinenden kämpferischen Eigenschaften der sie bewachenden Truppen sowie ihren aus‐ ufernden Debatten auf die Gründe ihrer militärischen Intervention in Europa: „Europa zu erobern war ihnen kein erstrebenswertes Ziel, sie haben übergenug Unbekanntes, noch zu Erringendes in ihrem eigenen Lande. Ihre Teilnahme ist etwa jener vergleichbar, die man für seinen Nachbarn aufbrachte, wenn dessen Haus von einer Bombe Feuer gefangen hatte. Die Anstrengungen, mit denen man ihm zu Hilfe eilte, galten weniger dem Schutze seiner Habe, als der Vernichtung des Feuers.“ (Reise, 171) Die alliierte Invasion erscheint hier als zwangsläufige Intervention, die abseits jeglicher politischen oder militärischen Interessen schlicht als Hilfsleistung firmiert, wie sie auch bei Naturkatastrophen zu erwarten wäre. Einen daraus abgeleiteten Machtanspruch der Alliierten kann Vermehren darin aber nicht entdecken: Angesichts der Probleme „in ihrem eigenen Lande“ scheint es zweifelhaft, dass diese sich längerfristig in Deutschland aufzuhalten gedenken. Sie hätten, wie es weiter heißt, kein wirkliches Verständnis für die „europäische 164 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt Seelenverfassung“ (ebd.). In der Invasion Europas entdeckt Vermehren wie‐ derum die beinahe instinktiven Handlungen einer Nation kindlicher Menschen. Es wundert nicht, dass Vermehren im Folgenden die Konfrontation mit den verschiedenen Instanzen dieser Militärorganisation, die Transporte und Befragungen durch die verschiedenen alliierten Stellen als umständlich und unnötig aufstoßen. „Sehr langsam, so hatte man den Eindruck, setzte sich die amerikanische Maschinerie in Gang.“ (Reise, 180) Das Verbringen der Gefan‐ genen nach Paris erachtet sie als sinnlosen Umweg (ebd., 185), auf dem sie die Amerikaner zweimal auf den Bahnhöfen zu vergessen scheinen, was ihr Auftreten überdies planlos und inkompetent erscheinen lässt (ebd., 185 f.). Als schließlich die deutschen Gefangenen von den übrigen Nationalitäten getrennt werden sollen, um sie gesondert zu bewachen, erkennt sie darin ein wenn auch „verständliche[s] wie sachlich notwendige[s]“ „da capo“ der Inhaftierung nach der Befreiung (ebd., 176). Vermehren zeigt die Amerikaner weder als überlegene Kämpfer noch als Repräsentanten einer überlegenen Politik oder Ideologie. Ihre Besatzung er‐ scheint im Gegenteil schlecht organisiert und zudem kaum von längerfristigen Plänen motiviert. Den militärischen Erfolg der Alliierten sieht Vermehren nicht durch überlegene Waffengewalt, Kampfgeist oder Ideologie begründet. Vielmehr findet Vermehren in der Ausstattung der amerikanischen Truppen eine den Menschen gemäße Behandlung: „Man macht sich als Deutscher keine Vorstellung von dem Reichtum der amerikani‐ schen Armee, der ausschließlich dazu verwandt wird, so hatte man den Eindruck, dem amerikanischen Soldaten das Gefühl vom normalen Menschenrecht zu erhalten, sofern er es mitbrachte, und zu vermitteln, soweit es ihm fehlte. Es ist ein Recht des Menschen, zum Beispiel anständig gekleidet zu sein. […] Es ist das Recht des Menschen, sauber gewaschen zu sein. […] Ein schönes Spielzeug gehört ebenfalls zu den gerechten Ansprüchen des Menschen […]. Ja, es ist das Recht des Menschen, die Güter dieser Erde zu seiner Ernährung zu verwenden, und die Erfahrung hat bewiesen, daß das Laster der gierigen Unmäßigkeit und Völlerei eher bei jenen zu finden ist, die wenig haben, als bei jenen, denen alles zur Verfügung steht.“ (Reise, 170) Im Gegensatz zum Nationalsozialismus spricht das US-Militär seine Unterge‐ benen „als Menschen“ an. Das bedeutet für Vermehren, dass die Amerikaner ihre Truppen eben nicht nur materiell versorgen, sondern deren innerliche Sorgen und Bedürfnisse anerkennen und betreuen. Diese Behandlung habe sich auch im Erfolg ihrer militärischen Aktionen manifestiert. Denn wo sie auf amerikanischer Seite Anleitung und Wertschätzung der Soldaten „als Men‐ schen“ findet, offenbaren sich ihr auf deutscher Seite die Ursachen für den 6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses 165 negativen Kriegsausgang in der konsequenten Vernachlässigung der „Menge der deutschen Landser“: „Es hatte ja wirklich nicht an ihnen und ihrem fehlenden Mut gelegen, daß der Krieg verloren war. Ihre Kraft war vergeudet worden, vergeudet und verschwendet auch das Blut und das Leben unzähliger Kameraden, verpraßt und verschlissen die materiellen Güter eines ganzen Volkes, verkauft und verspielt worden waren sie mit allem, was sie hatten, von einer Clique gewissenloser Halunken.“ (Ebd., 159) Vermehrens Exkurs in die militärische Sphäre bekräftigt die bereits im Lager festgestellte Notwendigkeit einer Herrschaft, die ihre Bevölkerung als „Men‐ schen“ anspricht. Während die Wehrmacht spätestens im Moment des Zusam‐ menbruchs den an ihr verübten Betrug feststellt, ist bei den Amerikanern der Maßstab des Menschlichen bereits durchgesetzt. Darin sind sie überlegen und Vorbilder bei gleichzeitigem negativem Bezug auf die von ihnen vertretenen Inhalte. Anhand dieser Gegenüberstellung zeigt Vermehren die Tragweite des faschistischen Nihilismus sowie Überlegenheit einer „menschlich“ geführten Armee. In Tirol werden die Sippenhäftlinge immer mehr sich selbst überlassen. Während der durch immer unwegsameres Gelände führenden Deportation der Sippen und Sonderhäftlinge in die Alpen kommt es innerhalb der Gefan‐ genen zu Veränderungen: Ein „starker Wechsel“ im Gange „und unter dem Druck der noch bestehenden äußeren Situation des Häftling-Seins schmolz das ganze internationale Vielerlei zu einer starken Einheit zusammen, ohne der Mannigfaltigkeit Abbruch zu tun.“ (Reise, 149) Es bildet sich wieder so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl, das seine gemeinsamen Dominanten im christlichen Glauben und einer „Haltung des Opfernden und Dankenden, die Haltung der Ehrfurcht und der Anbetung“ findet (ebd., 158). Dieser Wandel ist der Ausgangspunkt für eine Selbstorganisation, die als Mikrokosmos einer idealen Herrschaft am Ende von Reise durch den letzten Akt steht. In Tirol übernimmt die Wehrmacht für einige Interimstage das Kommando über die Gefangenen von der SS. Für die „Ehren-Sonder-Sippen- und sonstigen -Häftlinge[..]“ bedeutet diese Veränderung vor allem die eigenverantwortliche Organisation ihres Zusammenlebens in relativer Freiheit bis zur Ankunft der Amerikaner (Reise, 147). Man ist dem unmittelbaren Zugriff der SS und damit der drohenden Todesgefahr entronnen. Entsprechend gelöste bis euphorische Stimmung herrscht unter den Gefangenen, die in den Tiroler Ortschaften zumeist in Kureinrichtungen und Hotels einquartiert werden. Auch in dieser Gemeinschaft taucht erneut die Notwendigkeit einer guten Organisation und Führung mit Virulenz auf. Die Probleme hatten für Vermehren 166 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt bereits einige Tage zuvor im bayerischen Dorf Schönberg begonnen. Dort waren die damals noch von der SS bewachten Häftlinge von der ansässigen Bevölkerung verpflegt worden, was jedoch mitnichten zu Akten solidarischen Teilens untereinander geführt hatte, sondern unmittelbar zum argwöhnischen Horten: „Aber an der allgemeinen Freude über diese Zutaten entfachte sich auch die gierige Angst, der Wurstzipfel des anderen könne größer ausfallen als der eigene“ (Reise, 136). In Tirol schließlich werden die Sonderhäftlinge im „Pragser Wildsee“ einquartiert, einem Sommerhotel in touristisch traumhafter Lage mit einigem Komfort und trotz der Kriegslage vergleichsweise guter Versorgung. Vermehren jedoch empfindet das Verhalten ihrer Mitgefangenen als schnöde Eskalation des Egoismus, der die tiefe Verwahrlosung auch dieser prominenten Figuren offenlege. Vermehren liefert einen ganzen Katalog von Vergehen, derer sich die Häftlinge schuldig gemacht haben, von Holzdiebstahl über das unver‐ antwortliche Überbenutzen elektrischer Geräte, Völlerei zu Lasten der Wirtin bis hin zur Mitnahme von Geschirr auf die Zimmer (ebd., 163). Auch wenn diese Negativbeispiele, wie sie hinzufügt, lediglich „Randbemerkungen“ gewesen seien, zeige sich gerade an ihnen die tiefliegende menschliche Verwahrlosung: „Das etwa war der Spiegel, in dem die moralische Verwahrlosung deutlich wurde, von der auch diese Gruppe von Häftlingen nicht freigeblieben war […]. Auch hier konnte man die schon erwähnte Beobachtung machen, daß sich die ausgestandene Not in furchtbares Recht zu wandeln drohte.“ (Ebd., 164) Anhand dieser Erlebnisse und irritiert durch die ihr so frappierend aufstoßenden Kollisionen egoistischer Interessen formuliert Vermehren ein Modell des We‐ sens von Gemeinschaft: „Für eine Gruppe von Leuten, die ihre Zusammensetzung nicht der Freiwilligkeit der einzelnen zu ihr gehörigen Glieder verdankt, gibt es für die grundsätzliche Formung ihres Zusammenlebens nur zwei Möglichkeiten: entweder der Akt der Freiwilligkeit wird nachträglich vollzogen, das heißt, der einzelne beschließt, daß er die Gemeinschaft will, und dann wird Gemeinschaft nach dem Maß seines Wollens, oder aber der einzelne bleibt sich selbst der Nächste, dann muß man sich gefaßt machen auf eine Fülle von Gefährdungen und Versuchungen.“ (Reise, 137) Vermehren konstatiert die Gemeinschaft als außerhalb des Subjekts liegenden Begriff. Sie selbst ist durch die Umstände ihrer Haft und also nicht freiwillig mit Menschen zusammen, die ihr auf die Nerven fallen und die sie als abstoßend empfindet. Gegen den Kontakt und ein Zusammensein mit diesen Menschen sträubt sich ihr Wille. Als Konsequenz aus dieser sie belastenden Situation formuliert sie zwei Optionen: das Unterwerfen unter den Gedanken der Gemein‐ 6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses 167 schaft als freiwillige Pflicht oder die Isolation zur Außenseiterin. (Vermehren selbst reagiert auf solche „Außenseiter“, die etwa Angaben zu Namen und Herkunft verweigern, mit Misstrauen (vgl. ebd., 134).) Einzige Möglichkeit scheint somit das Aufgehen in der Gemeinschaft auch über die Unterdrückung des eigenen Willens. Wiederum ist diese Forderung erklärtermaßen von Grund oder Inhalt der Gemeinschaft gänzlich unabhängig - Vermehren bringt die Verinnerlichung und Unterordnung auch praktisch als einzige Option des Subjekts vor. Die Vergemeinschaftung habe zweierlei Auswirkungen: Zum einen werde das Zusammenleben harmonisiert, da jede/ r Einzelne sich den Verpflichtungen der Gemeinschaft unterordne. Sie verhindert die egoistische Befriedigung lediglich der eigenen Interessen, wodurch sie als moralischer Akt legitimiert ist. Dass zum anderen die „Gemeinschaft nach dem Maß seines Wollens“ geschaffen wird, feiert Vermehren als besonders subjektgemäßen Akt. Die freiwillige Unterordnung, das Zurücknehmen der eigenen Interessen zum Wohle eines außerhalb ihrer selbst Liegenden wird zum Marker der „menschlichen“ Qualitäten der Beteiligten. Nach diesem Modell der Freiwilligkeit zur Pflicht wird in Prags die aus diesem Verhalten gefolgerte Notwendigkeit einer „menschlichen“ Herrschaft tatsäch‐ lich eingelöst. Um obige Probleme anzugehen, wählen die Häftlinge ein Komitee, das die Leitung im Hotel „Pragser Wildsee“ übernehmen soll. Es werden Regeln des Zusammenlebens aufgestellt, die zu leistende Arbeit wird organisiert sowie eine „gerechte“ Aufteilung der heizbaren Zimmer verwirklicht. Letzteres ist eigentlich eine „Selbstverständlichkeit“, wie Vermehren kommentiert, die „aber keineswegs zur Verwirklichung gekommen wäre, hätte man der freien Wahl auch nur den geringsten Spielraum belassen.“ (Reise, 162) Alles, was sich im Folgenden positiv am Zusammenleben der Häftlinge verändert, führt Vermehren direkt auf die Arbeit dieses selbstgewählten Gremiums zurück, das wohl in seinen Aktionen, zudem aber auch in der Form ihrer Darbietung zu loben sei: „Diese wohlorganisierte und zum Teil schon differenzierte Ordnung ist dem rührigen Komitee zu danken […]. Die Methoden, mit denen die Organisation durchgeführt wurde, waren angenehm und wohltuend in ihrer zuverlässigen Höflichkeit, aber die Anlässe zu vielen Maßnahmen waren erschreckend.“ (Ebd., 163) Für Vermehren ist die Arbeit des Komitees aber nicht nur praktische Lebenshilfe in einem zuvor orientierungslos scheinenden Raum der Rechtsfreiheit und Anarchie. Im Zusammenkommen dieses Gremiums scheint der Mikrokosmos eines idealen Verhältnisses von Herrschaft und Bevölkerung abgesteckt. In Prags scheint Vermehren ein Umfeld errungen, in dem die „Sorge um das Wohl 168 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt und Heil des Menschen bzw. der Menschheit“ als höchstes Gut gilt und wo „in der gütigen und gerechten Anerkenntnis menschlicher Bedürftigkeiten“ der Rahmen der durchzusetzenden Aktionen abgesteckt ist. Hier, so Vermehren, „war es ganz einfach, sich einig zu werden über Vorschläge, die der Allgemein‐ heit dienen konnten.“ (Reise, 166) In der Isolation der Tiroler Alpenlandschaft offenbart sich die Ausformung eines Ideals von Herrschaft. „Nur in solcher Losgelöstheit, so schien es, könnte die Welt menschlich regiert werden, denn nur in ihr vermag der Mensch seine vordergründige Position zu behaupten. Kein Argument aus einer anderen Sphäre, sei es der nationalen, der wirtschaftlichen oder sogenannten politischen, vermöchte hier die Wucht seiner personal ausgerichteten Argumentation zu entkräften […]. Das vertrauenerweckende Merkmal dieser ausschließlich auf das Wohl der Person bedachten Argumentation ist ihre tiefe Sittlichkeit. Ihre Grundlage ist der Glaube an die Würde des Menschen. […] Jene Denkungsweise ist zutiefst sittlich, denn ihre einfachste Formel lautet: Ich liebe meinen Nächsten wie mich selbst.“ (Ebd.) Über die Zeit ihres Zusammenseins mit den verschiedenen Staatschefs, Wirt‐ schaftsgrößen, Militärs und Intellektuellen in Prags resümiert Vermehren: „Ein Traum schien in Erfüllung zu gehen, wenn auch in mikrokosmischer Form: ein einiges, ein heiteres Europa, eine heitere, einige Welt, in der der Friede herrscht.“ (Ebd., 167) Im Kleinen realisierte sich in Tirol ein idealer Herrschafts‐ zusammenhang, dessen besondere Qualität schlicht die „Besinnung auf das dem Menschen Gemäße“ war (ebd., 165). 6.5 Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos Vermehren macht deutlich, dass auch die Obrigkeit sich höheren Maßstäben als ihrem Machtstreben zu verpflichten hat. Sie konzeptualisiert ideale Herrschaft als Vehikel überpositiver Maßstäbe, denen sie zur Durchsetzung verhilft. „Mit der Unterordnung des Menschen unter die neutrale Vorstellung vom obersten Prinzip des Staats hat der Mensch den Grundstein gelegt zu seiner Entpersön‐ lichung.“ So habe die Entwicklung Deutschlands unter den Nationalsozialisten verdeutlicht, „was aus einem Volke wird […], was aus jedem Volke wird, das um eines selbstgesteckten Zieles willen die uns von Gott gesetzte Ordnung der zehn Gebote verläßt.“ (Reise, 116 f.) Vermehren sieht den Menschen in einer geistig-existentiellen „Krise der Moderne“. Am vielleicht drastischsten im Lager sei das Subjekt durch die Absenz einer Orientierung auf die Maßstäbe eines höheren Zusammenhangs der Welt 6.5 Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos 169 341 Vgl. Vermehrens Rekurs auf die Physiognomik. Siehe Fußnote-325. gefährdet. Um es aus dieser Krise zu befreien, brauche es eine Herrschaft, die selbst höheren Maßstäben verpflichtet ist, denen sie zur Durchsetzung verhelfe. Diese identifiziert Vermehren in den Leitsätzen der christlichen Ethik. Gleich‐ zeitig wehrt sich Vermehren gegen den Oktroi staatlicher Zwangsmaßnahmen: „Sittlichkeit und Gerechtigkeit können nicht durch autoritäre Staatsmaßnahmen ersetzt werden, so wie man Barmherzigkeit und Liebe nicht organisieren kann. Nur das Leiden, das Mitleiden im eigenen Herzen kann mich bewahren, durch Lieblosigkeit den Grundstein zu neuer Feindschaft zu legen. […] Diese Wandlung muß der einzelne in sich selber vollziehen, sie kann nicht von oben diktiert werden.“ (Reise, 188 f.) Die Obrigkeit müsse der Bevölkerung als Vorbild dienen, indem sie selbst die christlichen Werte zu Leitsternen ihrer Politik erklärt, diese verbreitet und vermittelt. „Fruchtbar ist Macht nur, wenn sie dient, nicht wenn sie herrscht.“ (Ebd., 13) Mit der Orientierung auf diese höheren Zusammenhänge erscheint die Herrschaft Vermehren nicht als Gewalt, sondern menschlich. In diesem Verhältnis erst sieht sie den Menschen „betreut“, unter die Fittiche einer höheren Absicht genommen und so seiner zwangsläufigen eigenen Destruktion entrissen. Es wird deutlich, dass diese neue Herrschaft noch im Modus des National‐ staates firmieren müsse. Zwar spricht Vermehren von einer „notwendigen Überwindung“ des „veralteten Nationalismus“ und einer Neuorientierung in‐ nerhalb eines europäischen Kontextes (Reise, 81). Dennoch bleiben auch ihre Bezugsgrößen die von Volk und Nation. So stellt Vermehren die Frage: „Man fragt sich, wie ein Volk etwas wert sein kann, das sich aus lauter ‚nichts-wür‐ digen‘ Einzelnen zusammensetzt, und es ist eine schwierige Frage, aus welchen Quellen dem Deutschen wieder ein heilsames Selbstbewußtsein zufließen kann.“ (Ebd., 165) Dennoch gibt Vermehren der Überzeugung von einem „natürlichen Patrio‐ tismus“ Ausdruck, der sich noch in der vollständig scheinenden Diskreditierung der deutschen Nation an der Existenz eines ursprünglichen nationalen Zen‐ trums manifestiere, eines „Wesenskerns“, den es wieder zu emanzipieren gelte: „Die Liebe zum eigenen Volke mußte sich erschöpfen in der Treue, die man durch alle Wirrnis hindurch, trotz aller Verzerrung und Verheerung, dem Wesenskern des deutschen Volkes hielt, wie er unauslöschlich und unentbehrlich den Zügen des europäischen Antlitzes eingeprägt ist.“ (Ebd., 117) 341 170 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 342 Angesichts der Unruhe bis hin zu Panik, die die Häftlinge in Buchenwald befällt, konstatiert Vermehren auch: „Mit am vernünftigsten benahmen Gisela und ich uns.“ Reise, 129. Die Gewalt, deren Zeugin sie in verschiedenen KZ wird, erlebt Vermehren als Exzess der Vernachlässigung der Betreuung des Menschen. Vermehrens Vergegenwärtigung und Analyse von Ravensbrück, Dachau und Buchenwald, ihrer Insassen und der Ursachen der Gewalt formuliert als Konsequenz die Stärkung der Humanität. „Wert und Bedeutung des einzelnen Menschen“, so Vermehren, sollten mithilfe ihres Textes „wieder ein wenig mehr in den Mittelpunkt der allgemeinen Diskussion“ gerückt werden (Reise, 9). Dabei taucht Vermehrens Humanitätsbegriff einzig als Resultat des Verhältnisses von Herr‐ schaft und Subjekt auf. Menschlichkeit konzeptualisiert sie als Orientierung auf die Gewissheiten höherer, göttlich gestifteter und dadurch universell gültiger Zusammenhänge. Die Antipode dieses Entwurfs ist eine Verwahrlosung des Subjekts, das, auf sich selbst und die profane Weltlichkeit zurückgeworfen, in der Selbstzerstörung endet. Menschlichkeit erscheint Vermehren somit als zunächst außerhalb des Subjekts liegendes Ideal, die von diesem einzufordern ist über die Exekution eines Regulariums. Dies scheint ihr nur durch eine neue Obrigkeit realisierbar. Daher ist Vermehrens Ruf nach mehr Humanität gleichzeitig der Ruf nach einer Herrschaft, die dieser zur Durchsetzung verhilft. Reise durch den letzten Akt ist eine ideelle Beauftragung einer neuen Herr‐ schaft von unten. Vermehren selbst erscheint darin als Figur, der unmittelbares Erleben und die nachträgliche Analyse die Notwendigkeit der neuen Zusam‐ menhänge offenbarten. Doch ist Vermehren nicht nur Beauftragende des Neuen, sondern gleichzeitig auch als Vorreiterin selbst Trägerin der Maßstäbe, die es nach der Befreiung durchzusetzen gelte. Sie selbst verhält sich nach dem eigenen Verhaltenskodex, bleibt stets ruhig, im Umgang mit anderen höflich und hilfsbereit, ist sich der Verpflichtungen des sittlichen Anspruchs bewusst. 342 Ihr gelingt es, ein Moment der Distanz in der Betroffenheit zu erringen, das überhaupt erst zur Reflexion und Deutung des Lagers sowie der Entlarvung des Nationalsozialismus als nihilistischer Schein befähigt. „Etwa eine Woche nach meiner Einlieferung hatte ich Geburtstag und ich fand, das sei ein Anlaß, mich anders aufzuführen als die vergangenen Tage. So entschloß ich mich also, mein Bett zu verlassen, eine gründliche Wäsche zu halten, meine Sachen auszupacken und zu ordnen, kurzum, das Möglichste zu tun, meinen Zustand menschenwürdig zu gestalten.“ (Reise, 20) Vermehren gelingt es, die Frage eines „menschenwürdigen“ Zustands nicht von den äußeren Umständen abhängig zu machen, sondern von der eigenen 6.5 Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos 171 343 Vgl. Jünger, „Der Friede“, 229. Entscheidung und somit der Stellung des Subjekts zu den Verhältnissen. Gleich‐ zeitig ist ihr persönliches Ergebnis der Haft nicht das Nach-außen-Tragen von Aggression, weder Hass noch Rachegefühl: „Haß ist die einzige Antwort dessen, der von der Demut nichts mehr weiß und der nie erfahren hat, daß Verzeihen eine Wohltat ist.“ Vielmehr begegnet Vermehren auch dem Leiden mit Affirmation, da dieses die Möglichkeit biete, dem Gegenüber nahe zu kommen: „In ihrem Schmerz einander zu finden, ist der Anfang des Friedens.“ (Ebd., 84, 184) Von Beginn an tritt Vermehren als Sprachrohr des Überzeitlichen auf, in dessen Diagnose und Analyse der Entmenschlichung sich nichts Geringeres als ein tieferes Wissen um das Wesen der Welt nach außen trage. Eben solche Figuren brauche es laut Vermehren auch, um in den neuen Verhältnissen als Vermittlungsinstanzen der „menschlichen“ Verhältnisse aufzutreten: „Wer würde die Rolle des Richters übernehmen, um Schuld und Unschuld zu be‐ stimmen, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden? […] Wer würde sich der unübersehbaren Aufgaben annehmen, die gestellt sind in der allgemeinen Wesens- und Charakterbeschaffenheit der Häftlinge? Wer vor allem würde sich einsetzen für das Primat der seelischen Not vor allen anderen wirtschaftlichen Sorgen? Wer würde überhaupt überzeugungsstark genug sein können, um gegen diesen wütenden nihilistischen Materialismus das Primat des Geistes und der Seele zu vertreten? “ (Ebd., 107) Vermehren beantwortet die Frage nach den Eigenschaften dieser neuen Elite im Folgenden anhand eines längeren Zitats aus Ernst Jüngers „Der Friede“: „Wir haben den Punkt erreicht, an dem vom Menschen, wenn noch nicht Glauben, doch Frömmigkeit, Bestreben, im höchsten Sinn gerecht zu leben, gefordert werden kann. Die Toleranz muß ihre Grenzen haben, und zwar insofern, als den Nihilisten, den reinen Technikern und den Verächtern jeder verbindenden Moral die Menschen‐ führung nicht zugebilligt werden kann. Wer nur auf Menschen und Menschenweisheit schwört, kann nicht als Richter sprechen, wie er als Lehrer nicht weisen, als Arzt nicht heilen und als Beamter dem Staat nicht dienen kann. Es führen diese Existenzen auf Wege, die damit enden, daß Henker die großen Herren sind.“ (Ebd.) 343 Rigoros gelte es, die Materialisten, Atheisten und Bürokraten, die „reinen Tech‐ niker“, zu entmachten und durch eine auf Sittlichkeit orientierte Führungsriege zu ersetzen, die sich durch eine Sensibilität für die großen Zusammenhänge auszeichne. Namentlich verweist Vermehren damit auf die bereits im Lager 172 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 344 Die Bedeutung des Christentums verdeutlicht auch Vermehrens Verhandlung der Kom‐ munisten: Auch diese fielen ihr als kameradschaftlich und nach einem humanistischen Wertekosmos handelnd auf. Neben Moltke stellten sie die „würdige Ausnahme unter den Männern“ des Ravensbrücker Zellenbaus dar. Reise, 26. Dennoch, oder gerade deshalb, weil ihr Verhalten sie in der Erzähllogik von Reise durch den letzten Akt ebenfalls moralisch ins Recht setzt, schildert Vermehren sie als ein Problem für die Nachkriegsgesellschaft: „Welch eine Frage an die Zukunft liegt in der Tatsache, daß neben den Christen vor allem ein paar Kommunisten es waren, die vom Glauben an den liebenswerten Menschen keinen Schritt abgewichen sind.“ Ebd., 86. Diesen Konflikt löst Vermehren etwa im Porträt ihres kommunistischen Mithäftlings Sepp, genannt „der Neuner“, auf: Dieser „besondere[..] Freund“ fällt Vermehren durch „eine fast brüderliche Teilnahme für seine Mitgefangenen“ auf. Ideologisch indessen entlarvt er sich, da sich sein „Idealismus als ein ebenso naiver wie eigentlich antiquierter Materialismus“, sein Humanismus als das Ergebnis seiner „christlich-personalistische[n] Erziehung in einer bayrischen Klosterschule“ erweist. Ebd., 31 f. Das moralisch positive Grundrepertoire des Wertekataloges auch dieses Kommunisten machten die Überreste einer christlichen Sozialisation aus, während sich Sepps politisch-soziale Positionen als kaum ernst zu nehmende ideologische Verbrämung disqualifizieren. aufgefallenen konservativen Eliten und Widerständler um den 20. Juli, die allesamt einen christlichen Wertekanon verinnerlichten. 344 Innerhalb dieser Riege präsentiert Vermehren sich selbst als Orientierungs‐ figur, die als Trösterin einen ganz unmittelbaren Bezug zu den Menschen aufzubauen in der Lage ist. Dreimal in Reise durch den letzten Akt gelingt es Vermehren selbst, mit musikalischen Darbietungen die Häftlinge - und einmal sogar eine der SS-Aufseherinnen (Reise, 63 f.) - zumindest für kurze Zeit aus ihrer „abgründigen Armut“ herauszuholen (ebd., 98). Im Kontrast gerade mit dem Gesang der Arbeitskolonnen, einem erzwungenen Gebrüll, der ihr „Ausdruck einer Besessenheit zu sein schien, die die Seele verbrannt hatte“, meint Vermehren mit ihren Auftritten in den Gefangenen Ahnungen echter Emotion - „ein Hauch von Wärme, Weichheit, Menschlichkeit“ - erzeugen zu können (ebd., 36, 97). Vermehren ist in der Lage, die Menschen auf einer emo‐ tionalen, gänzlich vorbegrifflichen Ebene anzusprechen. Besonders deutlich zeigt sich dies auf dem Transport nach Buchenwald, als der Zug aufgrund einer Bombardierung halten muss und einzig Vermehren in der Lage scheint, die Angst der Menschen zu spüren und diese mit ihrem Gesang zu beruhigen und zu trösten (ebd., 124 f.). Einzig Vermehren gelingt so das Durchbrechen der Apathie und mentalen Verkümmerung sowohl bei den Wärterinnen wie den Häftlingen. Für einen kurzen Moment kann sie die Menschen durch ihren Gesang in ihrem Innersten erreichen und so auf den Wert des Gegenübers hinweisen. Derart gelingt es Vermehren, den verinnerlichten Humanitätsgedanken nach außen zu tragen. Diese Rolle als Lehrerin von Ethik und Sittlichkeit wird Vermehren in der Nachkriegszeit tatsächlich einnehmen: Ab 1951 Mitglied im „Sacré Cœur“, 6.5 Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos 173 übernahm Vermehren vor allem pädagogische Aufgaben, war über Jahrzehnte Leiterin mehrerer katholischer Gymnasien. Für Reise durch den letzten Akt bedeutet diese Setzung, dass Vermehren über die gesamte Länge des Textes als gültige Beurteilerin auftaucht. Sie selbst wird zum Maßstab für das Menschliche. Immer wieder müssen sich die Mitgefangenen messen lassen an Vermehrens Ansprüchen. Wer der Beurteilung nicht standhält, wird von Vermehren als Unmensch gebrandmarkt. Die Gewalt‐ verhältnisse des Lagers sind dabei erklärtermaßen ohne Bedeutung. Im Lager stellt Vermehren das Verhalten heraus als besonders „menschlichen Standpunkt, der die allgemeine Not zum Ausgangspunkt machte und als Unterschied nur noch den Zuverlässigkeitsgrad gelten ließ, den man sich als Häftling erwarb. Not oder nicht war kein gültiger Maßstab mehr.“ (Reise, 26) Auch und gerade von und auf Seiten dieser Opfer aber betont Vermehren die Notwendigkeit eines „menschlichen“ Verantwortungsbewusstseins: „Gewissenlosigkeit ist wie eine ansteckende Krankheit, und jeder, der ihr begegnet, muß sich hüten, im Unrecht, das der Andere begeht, nicht auch einen Dispens zu sehen von seiner eigenen sittlichen Norm. Nichts ist so irreparabel wie eine zerbrochene Tradition, nichts so untröstbar wie eine geplünderte und enttäuschte Seele und nichts so gefährlich wie ein Mensch in der Verzweiflung.“ (Ebd., 66) Die Lagergewalt unterstreicht für Vermehren gerade die Universalität dieses sittlichen Anspruchs, der durch die äußeren Umstände, so bestimmend sie auch sein mögen, nicht auszusetzen ist. Vermehren erklärt: „[…] daß auch die schlechtesten Lebensumstände nur eine Erklärung, niemals aber eine Entschuldigung sind für das Böse, das der Mensch in ihnen tut. […] Es gibt nichts, was den Menschen von seiner sittlichen Verpflichtung entbinden kann, es sei denn, er will von ihr entbunden sein, und kein Mensch wird zwangsläufig schlecht, solange er nicht nachläßt im Willen, gut zu bleiben.“ (Ebd., 98) Der gottgegebene Wert des Menschen verlange nach einer sich auch im eigenen Handeln niederschlagenden Anerkennung dieses Wertes in sich selbst wie im anderen und ist somit Quell einer Verpflichtung: „Den Wert des Menschen bestimmte sein Schöpfer, und ihm gilt es zu entsprechen, unabhängig von aller weltanschaulichen und politischen Gegnerschaft. […] Ein Qualitätsunterschied tritt objektiv gesehen erst dort auf, wo der Wert der von ihnen vertretenen Ansichten eine solche Divergenz aufweist; subjektiv kann man zu einer Qualifikation wohl nur kommen […], indem man festzustellen versucht, in welchem Maße der einzelne zuerst in der Wahl seiner Anschauung und dann in der Verwirklichung derselben den für jeden Menschen geltenden Forderungen nach 174 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt 345 Siehe etwa bei Lilje oder Rinser, Kap.-7.6 und 9.2. 346 Ein entfernter Verwandter von Hauptmann Wichard von Alvensleben, der in Tirol im Namen der Wehrmacht das Kommando von der SS übernahm. ernsthaftem Bemühen um rechte Erkenntnis, nach Lauterkeit der Motive und Treue gegenüber den beschworenen Idealen - kurz, der Grundregel sittlichen Verhaltens - nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln entsprochen hat.“ (Ebd., 188) Vermehren äußert sich vom Standpunkt überpositiver Gesichtspunkte, anhand derer sie die Menschen eindeutig in Gut und Schlecht zu sortieren vermag. Jedes Urteil im und über das Lager liefert Vermehren mit Verweis auf diesen universellen Maßstab und präsentiert sich darin als Sprachrohr dieser höheren Zusammenhänge. Daher sind ihre Verdikte im Modus universeller und also nicht zu hinterfragender Wahrheiten vorgebracht. Es wird jedoch deutlich, dass Vermehren von diesem Standpunkt in erster Linie ihre ganz persönlichen Ver‐ haltensmaßstäbe mit Autorität versieht. Indessen liefert Reise durch den letzten Akt unter Berufung auf den von Gott gegebenen Wertekatalog Vermehrens gänzlich subjektive Deutung. Diese Anschauungslogik entlarvt sich darin, dass Vermehren wirklich jedes Verhalten im Lager und zum Teil banalste Vorgänge als Marker des Überzeitlichen entlang des Maßstabs dieser Moral identifiziert. Gerade angesichts der mörderischen Haftbedingungen im Lager fällt auf, dass Vermehren in Angewohnheiten ihrer Mitgefangenen, wie dem Unterbrechen der ausgemachten Ruhezeiten durch Diskussionen oder Skatspiel, oder auch der alleinig ihr selbst auf die Nerven fallenden Gewohnheit einer Zimmergenossin, „den Tag in aller Frühe mit einem trällernden Liedchen“ zu beginnen, sich verdichtende Zeichen eines Dispenses der Moral und also ein „ungewolltes Bekenntnis langsam versinkender Sittlichkeit“ erkennt (Reise, 138 f.). Auch ihre Begeisterung für Danutas Sinn für Ordnung und Sauberkeit in Block II veranschaulicht, nach welchen Gesichtspunkten der Verfall oder eben die Aufrechterhaltung von Moral und Sittlichkeit für Vermehren vonstattengeht. Auf der anderen Seite stellen Bestechungen, die die meisten anderen Texte dieser Opferliteratur als Zusammenarbeit mit der SS ächten, 345 für Vermehren keine moralische Fragwürdigkeit dar. Tatsächlich erklärt sie die pragmatische Möglichkeit, durch das „Schmieren“ von SS-Wachen Informationen oder zu‐ sätzliche Rationen zu erlangen, gar zur „Tugend“: „Gott sei Dank, daß es die Bestechlichkeit gibt! Sie wird in solcher Lage fast zur Tugend, und wo wären wir soundso oftmals geblieben, wäre sie uns nicht zu Hilfe gekommen.“ (Ebd., 133) Den Häftling Freiherr Werner von Alvensleben 346 tadelt sie gar dafür, dass dieser mit seinen „unvorsichtigen“ Bestechungsversuchen „uns die Preise verdarb“ (ebd., 42). 6.5 Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos 175 347 Ähnlich pauschale Urteile entlang nationaler Stereotypen bringt Vermehren gegenüber Häftlingen griechischer sowie italienischer Herkunft vor. Reise, 155, 160. Gleichermaßen beredt sind Vermehrens zum Teil pauschale Urteile über Häftlinge bzw. Gruppen. So fallen ihr bereits im Ravensbrücker Zellenbau insbesondere jene Figuren mit einem verkrachten bürgerlichen Lebenslauf negativ auf; deren „erschütternde Andersartigkeit“ wirkt bei einem Zusammen‐ treffen auf Vermehren „einfach vernichtend“, was bei ihr „eine tiefe Depression hinterließ“ (Reise, 25). Die militärische Uniformierung von Frauen wiederum verstößt für sie gegen das „Wesen der Frau“, deren „natürliches Bedürfnis nach ‚hübscher Sauberkeit‘“ sich doch wohl eher feine Seidenunterwäsche wünsche denn die schweren Kommissstiefel (ebd., 53, 68). Weiter vermerkt Vermehren zwar, „im anderen zuerst den Nächsten, den Mitmenschen zu erblicken und erst in zweiter Linie den Vertreter einer Nation“ (ebd., 165). Diese Erklärung hält sie aber mitnichten davon ab, die Häftlinge wiederholt nach Sozialstatus, Herkunft, Nationalität oder Ethnie zu sortieren, die Vermehren als Marker ihrer moralischen Integrität deutet (vgl. ebd., 79-82). Wer etwa keine Angabe zu Namen, Nationalität oder gesprochenen Sprachen machen kann oder will, wird von Vermehren umgehend als Spion verdächtigt (ebd., 134). Besonders deutlich wird diese Sortierung anhand der durchweg negativ auffallenden „Zigeuner“: „So undefinierbar bei den [‚Zigeunern‘] auch ihre nationale und politische Zugehö‐ rigkeit sein mag, so unverwechselbar hoben sie sich von der Masse der gesamten Häftlinge ab. Ihre Gesten, ihre Nasen, ihre Hautfarbe, ihre dunklen, schnellen Augen, die Art, wie sie das Schultertuch trugen - ein möglichst buntes Schultertuch -, wie sie mit hexenhafter Schnelligkeit und drei entwendeten Kohlköpfen unter dem Arm um die Ecke huschten, das alles machte sie ganz unverkennbar. Natürlich legten sie einem auch die Karten, lasen aus der Hand, stahlen wie die Raben und lehrten ihre Kinder das gleiche.“ (Ebd., 80) 347 Indem für sie die als „Zigeuner“ Inhaftierten pauschal aus gewerbsmäßigen Betrügern und Dieben bestehen, stellt Vermehren eine Identität zwischen ihrer Zugehörigkeit zu einer Häftlingsgruppe und ihrer moralischen Integrität fest. Diese Bewertung übernimmt nicht nur die Maßstäbe der nationalsozialistischen Häftlingssortierung, sondern identifiziert gleichermaßen in den „Zigeunern“ eine per se asoziale und kriminelle Bevölkerungsgruppe, mit welcher nach den entsprechenden Mitteln der Kriminalitätsprävention und -ahndung zu verfahren sei. Der Katalog von Vermehrens Verhaltenskodex versammelt Aspekte eines in erster Linie bürgerlichen Wertekanons, der sich insbesondere in Momenten 176 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt der Ordnung und Sauberkeit, einem höflichen und respektvollen Umgang miteinander sowie einem Arbeitsethos - einem „geordneten Arbeits- und Dienstbegriff “ (Reise, 61) - ausdrückt. In Vermehrens Schilderung des Lagers sind aber noch diese weltlichen Begriffe Ausdruck eines höheren Maßstabs. Indem Vermehren ihre eigenen, bürgerlichen Ansprüche als Ausdruck gottge‐ gebener Moral schildert, überhöht sie diese in den Rang des Überzeitlichen und damit nicht hinterfragbar Gültigen. Noch die Forderung nach Ruhe im Schlafsaal am Morgen ist somit als Durchsetzung des Christlich-Sittlichen legitimiert und mit entsprechender Dringlichkeit versehen. Vermehrens eigene Anschauung erscheint so als Ausdruck höherer Zusammenhänge der Welt, während alle, die den darin mit ausgedrückten Ansprüchen nicht genügen, sich vor dieser letztgültigen Ordnung disqualifizieren. Diese Perspektivierung ihres Hafterlebens hat weitgreifende Auswirkungen auch auf Vermehrens Beurteilung von Herrschaft sowie auf ihren Ruf danach. Sie fordert eine Herrschaft, die diese höheren Verbindlichkeiten einlöst, indem sie den Menschen als Gottesschöpfung wahrnimmt und anspricht, ihn aber gleichzeigt sensibilisiert für die damit einhergehenden Verpflichtungen. „[W]ie weit also Macht gut ist, liegt bei dem Inhalt, für den sie sich einsetzt.“ (Reise, 54) Damit sind jedoch weder die politisch-ideologischen Ziele einer Herrschaft gemeint noch die durch sie gestifteten Zusammenhänge, die Reise durch den letzten Akt an keiner Stelle verhandelt. Der Nationalsozialismus entlarvt sich für Vermehren als falsche, betrügende und verführende Herrschaft, nicht jedoch als Weltanschauung, auf die das Subjekt sich frei beziehen könnte. Die Wärterinnen mögen zwar charakterlich fragwürdig und unzulänglich sein, doch kommt für Vermehren nicht in Betracht, dass sie die Arbeit im KZ verüben, weil bei ihnen die materielle Existenzsicherung höher rangiert als ethische Regeln oder aber, weil sie die NS-Ideologie teilten. Die letzte Konsequenz dieses Blicks ist die Gefahr, dass die NS-Opfer nach ihrer Befreiung zur neuen SS werden könnten. Indem Vermehren das Unmenschliche des Nationalsozialismus in dessen Nihilismus, dem Fehlen einer Orientierung identifiziert, kommen seine Machtmittel sowie die Inhalte und Zwecke seiner gesellschaftlichen Sortierung lediglich entlang ihrer Anwendung in die Kritik. Sie kritisiert die Lager mit‐ nichten als Instrumente staatlichen Zugriffs auf eine Bevölkerung, implizit erscheinen sie angesichts der „Kriminellen“ und insbesondere der „Zigeuner“ sogar als durchaus gerechtfertigte wie schlicht notwendige Einrichtungen, so sie „gut funktionierten“ (Reise, 67) und sich ihre Anwendung mit den Reglementierungen „menschlicher“ Herrschaft vereinen ließe. 6.5 Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos 177 348 Susanne Beyer, Joachim Kronsbein, „‚Ich hing am Angelhaken‘. Die Ordensfrau Isa Vermehren über ihre Karriere als Kabarettstar, ihre Internierung im KZ und eine Gesellschaft ohne Gott“, Der Spiegel 4 (2004), 145-147, hier: -147. 6.6 Fazit Vermehren erlebt das Lager als verheerenden Verstoß gegen die Menschlichkeit und darin gegen die göttliche Schöpfung. In ihnen identifiziert sie den Exzess eines Prozesses, der die Menschen näher an die Prinzipien der Ratio und der Durchdringung der Welt brachte, aber gleichzeitig von Gott, den Werten christ‐ licher Nächstenliebe und dem Respekt dem Leben gegenüber entfernte. In einem 2004 geführten Interview mit dem Spiegel gab Vermehren auf die Frage nach der Theodizee angesichts der KZ zur Antwort: „Auschwitz ist die Welt, die die Menschen sich bauen, die von Gott nichts mehr wissen oder wissen wollen.“ 348 Die Lager der Nationalsozialisten erscheinen ihr als Mahnung, diesen als absolute Entgrenzung empfundenen Gewaltexzessen eine Rückbesinnung auf einen in den ethischen Idealen des Christentums kodifizierten Wertehorizont folgen zu lassen. Die Verpflichtung jedes Einzelnen auf einen derart universellen wie abstrakten moralischen Katalog erscheint ihr die einzige Möglichkeit einer dauerhaften Nichtkontinuität der erlebten Gewalt. Vermehren entwirft in Reise durch den letzten Akt eine Perspektivierung des Lagers, welche die eigenen Hafterlebnisse zu Indizien umfangreicher Wer‐ teverstöße erklärt. Ihre Haft erlebte Vermehren als Krise der Menschlichkeit, die in den nationalsozialistischen KZ die letzte Eskalationsstufe erreichte, und fordert entsprechend eine künftige Berücksichtigung und Zentralstellung der Humanitas. Nachdrücklich wirbt Vermehren für diesen Zugriff als humanisti‐ sche Vergegenwärtigung der Lager. In dieser Setzung kommt der Schilderung des Lagers eine gänzlich andere Bedeutung zu als der rein sachlichen Informie‐ rung. Das Lager wird darin zum Material, an welchem sich in erster Linie die nötigen Konsequenzen für die Zeit nach der Befreiung erschließen. Reise durch den letzten Akt formuliert so eine Darstellung des Lagers wie auch eine umfangreiche Faschismusinterpretation, der aber in erster Linie der Antrag auf Änderung in der postfaschistischen Zeit eingeschrieben ist. Das Lager liefert darin ex negativo die Maßstäbe, die, ins Positive gekehrt, nun nach 1945 zur Durchsetzung kommen sollen, um die Kontinuität dieser Unmenschlichkeit zu verhindern und im Gegenteil den Aufbau einer friedlichen Gemeinschaft zu ermöglichen. In Reise durch den letzten Akt meldet sich eines der Opfer der KZ zu Wort. Indessen wird im Laufe der Haftdarstellung deutlich, dass es sich dabei um eine Figur handelt, welche sich verschiedentlich von den Mitgefangenen 178 6 Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt abhebt. Vermehren präsentiert sich als besonderes Opfer, welches in der Lage ist, das eigene Hafterlebnis zu reflektieren und zum Ausgangspunkt einer umfangreichen Analyse zu machen. Zwar gibt es weitere Häftlinge, die durch ihr Verhalten anderen gegenüber oder ihre Haltung positiv auffallen, doch einzig Vermehren ist dazu in der Lage, dem Erleben Konsequenzen für eine Welt nach der Befreiung folgen zu lassen. Konsequenzen, die aufgrund des Bezugs auf einen höheren, von der christlichen Schöpfung gestifteten Maßstab ohnehin mit dem Nimbus universeller Gültigkeit und absoluter Dringlichkeit versehen sind. Diese Autorität nutzt Vermehren zur ideellen Beauftragung einer neuen Herrschaft, welche die sich im Lager offenbarenden Maßstäbe im Positiven durchsetzen werde. Vermehren formuliert die sich aus dem Lager ergebenden Konsequenzen aus einer Position eines staatlichen Zusammenhangs, der zufolge auch das Einlösen universeller Werte wie Menschlichkeit einzig im Rahmen eines Nationalstaates realisierbar ist. Entsprechend bedenkt Vermehren auch die eigene Position als Rolle, die sie mit den Erfahrungen des Opfers in den neuen Verhältnissen einnimmt: als Orientierungsgeberin auf die christlichen Zusammenhänge der Welt sowie als Trösterin der Menschen. Diese Erkenntnis ist ihr Schluss angesichts der Befreiung: „Damit ging ein langes Kapitel unseres Schicksals gnädig zu Ende, und im Bewußtsein der bevorstehenden Arbeit spannten sich langsam die Kräfte zu einem neuen und besseren Anfang.“ (Reise, 189) In dieser Perspektivierung des Lagers als Ausgangspunkt für die neuen Zusammenhänge liefert Reise durch den letzten Akt das Muster vieler anderer Auseinandersetzungen mit der Inhaftierung im Nationalsozialismus. Die Ori‐ entierung nach vorne, die Beauftragung einer neuen Herrschaft sowie die Präsentation des besonderen Opfers als prädestiniert zur Forderung und For‐ mulierung der neuen Zusammenhänge sind wiederkehrende Merkmale dieser Literatur. Wo indessen bei Vermehren der eigene Führungsanspruch hinter dem Ruf nach einer neuen Herrschaft zurücksteht, unterstreichen einige dieser Texte insbesondere den Aspekt der Berufung des Opfers als künftige Führungsper‐ sönlichkeit in den neuen Verhältnissen. 6.6 Fazit 179 349 Siegmund, Bischof, 601. 350 Zur Geschichte der BK sowie ihrer Einordnung als Oppositionsbewegung bzw. „Wi‐ derstandsbewegung wider Willen“ siehe Ulrike Haerendel, Claudia Lepp (Hrsg.), Bekennende Kirche und Unrechtsstaat. Bad Homburg 2015; Gerhard Ringshausen, „Der 7 Rehabilitation des geistlichen Unterstützers als Seelsorger der Nation. Hanns Lilje: Im finstern Tal 7.1 Biographische Hinführung Mit Hanns Lilje veröffentlichte eine weitere exponierte Kirchenfigur nach Kriegsende eine Schrift über seine Erlebnisse in nationalsozialistischer Haft. Lilje war im kirchlichen Kontext die vielleicht am besten vernetzte Figur seiner Zeit und in den Öffentlichkeiten von Weimar, des NS-Regimes wie der Nachkriegsgesellschaft medial außerordentlich präsent. Unmittelbar nach seiner Befreiung entstand Liljes Gefängnisbericht Im finstern Tal. Darin wies er seine Inhaftierung als das Ergebnis einer langjährigen Opposition aus, eine Rechtfertigung, die vor allem an die britische Besatzungsmacht adressiert war, welche die Entnazifizierung und personelle Neubesetzung der Landeskirchen durchführte. Dieser Versuch lässt sich konkret als Bewerbung verstehen für die Nachfolge des vakanten Amtes des Hannoveraner Landesbischofs, für das sich Lilje nach Kriegsende, und letztendlich erfolgreich, bewarb. Die Karriere des evangelischen Theologen Hanns Lilje begann in der Wei‐ marer Republik als Studentenpfarrer und Generalsekretär der „Deutschen Christlichen Studentenvereinigung“. Bis zum Beginn der 1930er Jahre avan‐ cierte der Hannoveraner zu einer angesehenen Figur innerhalb der internatio‐ nalen christlichen Ökumene. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 stellte für Liljes Karriere innerhalb der Kirche keine Zäsur dar. Im Gegenteil gehörte Lilje über Jahre zu den etablierten Figuren der evangelischen Kirche im NS-Staat, der führende Positionen etwa im „Lutherischen Weltkonvent“ oder dem „Christlichen Studenten-Weltbund“ innehatte. 349 Indessen ist seine Biogra‐ phie, insbesondere in der Anfangszeit des nationalsozialistischen Regimes, geprägt von seiner Beteiligung am „Kirchenkampf “ und somit der kirchlichen Opposition gegen den Nationalsozialismus: Der Theologe war Gründungsmit‐ glied der Bekennenden Kirche (BK) und für diese seit 1933 vor allem publizistisch tätig als Herausgeber der Schriftenreihen Junge Kirche (1933-1936) und Die Furche (1934-1941). 350 Wie Oelke herausstellt, war Liljes Beteiligung in erster 20. Juli 1944 als Problem des Widerstandes gegen die Obrigkeit. Die Diskussion in der evangelischen und katholischen Kirche nach 1945“, in: Ueberschär, Gerd R., Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994, 191-202; Bastian Scholz, Die Kirchen und der deutsche Nationalstaat. Konfes‐ sionelle Beiträge zum Systembestand und Systemwechsel. Wiesbaden 2016, 348-390. Zur Beurteilung der BK als Oppositionsbewegung schreibt etwa Vogel: „[D]ie Bekennende Kirche trat 1933 keineswegs - wie es nach dem Krieg häufig dargestellt wurde - gegen den Nationalsozialismus an, den sie vielmehr wie die allermeisten Deutschen als eine Befreiung begrüßte, sondern gegen die Machtansprüche der Deutschen Christen innerhalb der evangelischen Kirche. Ihr Widerstand richtete sich gegen die Verquickung nationalsozialistischen Gedankenguts mit der christlichen Lehre und gegen Versuche, die Freiheit der Verkündigung anzutasten. Es war ein Kampf, der innerhalb der evange‐ lischen Kirche ausgetragen wurde und der sich erst im Laufe der Entwicklung auch nach außen verlagerte. Aber auch dann richtete er sich nicht gegen den nationalsozialisti‐ schen Staat als solchen, sondern fast ausschließlich gegen die Übergriffe dieses Staates auf den Raum der Kirche und blieb also letztlich eine innerkirchliche Angelegenheit.“ Johanna Vogel, Kirche und Wiederbewaffnung. Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949-1956. Göttingen 1978 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, 4), 34. Zu Liljes publizistischer Tätigkeit siehe Ralph Ludwig, Hanns Lilje. Ein frommer Weltbürger. Berlin 2016, 141; Ronald Uden, Hanns Lilje als Publizist. Eine Studie zum Neubeginn der kirchlichen Nachkriegspublizistik. Erlangen 1998 (Studien zur christlichen Publizistik, 1), 31-35. 351 Oelke, Lilje, 158 ff., 206ff. 352 Ludwig, Lilje, 43-45; Oelke, Lilje, 250. 353 Evangelische Kirche in Deutschland, „Barmer Theologische Erklärung“, In‐ ternet: -https: / / www.ekd.de/ 11294.htm, zuletzt geprüft am: 30.4.2020. Linie durch seine Ablehnung gegenüber der nationalsozialistischen Kirchenpo‐ litik und den „Deutschen Christen“ motiviert, denen er die Vermengung von Politik und Glauben vorwarf. 351 Vehement wehrte sich Lilje gegen die wieder‐ holten Zugriffsversuche des NS-Staates auf die institutionalisierten Kirchen. 352 Die Mitglieder der BK protestierten gegen die Gleichschaltungsversuche der „Deutschen Christen“, welche die Auflösung der Landeskirchen und die Bildung einer nach dem Führerprinzip geordneten „Reichskirche“ vorsahen. Dagegen betonte die BK die Unabhängigkeit der Kirchen gegenüber den herrschenden politischen Verhältnissen: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“, heißt es in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, dem Kerndokument des „Kirchenkampfes“. 353 Diese Kritik am NS-Regime meinte in‐ dessen keine Ablehnung der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland: Erklärtermaßen galten die Beanstandungen nicht dem politischen Programm oder der Ideologie des Nationalsozialismus. Einige Mitglieder der BK, darunter 182 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 354 Z.n. Joachim Perels, „Theologie und Politik bei Hanns Lilje nach 1945“, in: Grosse, Heinrich W.; Otte, Hans; Perels, Joachim, Neubeginn nach der NS-Herrschaft? Die hannoversche Landeskirche nach 1945, Hannover 2002, 235-258, hier: -251. 355 Hanns Lilje, Christus im deutschen Schicksal. Berlin 1933, 3. Zu den im Folgenden aufgeführten Aussagen Liljes zu Faschismus und NS-Staat siehe auch Hartwig Hohns‐ bein, „Hanns Lilje und der Krieg des NS-Regimes“, in: Grosse, Heinrich W.; Otte, Hans; Perels, Joachim, Bewahren ohne Bekennen? Die hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus, Hannover 1996, 461-470, hier: 462-466; Ludwig, Lilje, 42; Oelke, Lilje, 150 ff., 250-255, 361 ff., 373 f., 387; Perels, „Theologie“, 252f. 356 Hanns Lilje, „Bemerkungen des Herausgebers“, Die Furche 25/ 11, 12 (1939), 488. 357 Ebd. Lilje, versuchten im Gegenteil, ihre Kritik am Nationalsozialismus einzuordnen und zu relativieren. Dazu führt Perels einen Beitrag Liljes aus dem Jahr 1937 an: „Wir selber denken nun freilich nicht für einen Augenblick daran, die Grundlagen der nationalsozialistischen Weltanschauung, wie sie in den großen Worten von ‚Rasse, Blut und Boden‘ zum Ausdruck kommen, zu kritisieren. Aber wir halten es für völlig ausgeschlossen, diese Grundlage auch zur Grundlage der Kirche zu machen. […] Es scheint keine Brücke zu bestehen zwischen den alten Glaubensaussagen der Kirche und ihrem neuen Glauben an Führer und Volk. Man kann nur mit aller Dringlichkeit bitten: Macht daraus keinen falschen Gegensatz! Die evangelische Kirche hat niemanden gelehrt, die Obrigkeit zu verachten.“ 354 Abseits seiner kritischen Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Kir‐ chenpolitik stellte sich Lilje in seinen publizistischen Äußerungen wiederholt auf den Standpunkt des Nationalsozialismus und seiner ideologischen Ziele. Bereits die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 hatte Lilje gefeiert als „neuen deutschen Morgen, [auf] daß etwas Großes und Gewaltiges daraus werde und unser Volk seine Gottesstunde begreife“. 355 Auch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs änderte nichts an dieser Haltung: Den Attentatsversuch auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1939 etwa verurteilt Lilje als ausländisches Komplott, das die deutsche Kriegsentschlossenheit zerrütten solle: „Kein Wort ist scharf genug, um die Fluchwürdigkeit dieses Verbrechens auszudrü‐ cken. […] Daß durch solche Anschläge der Siegeswille des nationalsozialistischen Deutschland nicht gelähmt werden kann, bedarf keines Wortes.“ 356 Weiter dankt Lilje dem Schöpfer, dessen schützende Hand über „dem Leben des Führers gewaltet hat“, und befiehlt Hitler und „unser ganzes deutsches Volk in Gottes Gnade.“ 357 Wiederholt und bis weit in den Krieg hinein bekräftigte Lilje seine Fürsprache zum Krieg der Nationalsozialisten und rief die Bevölkerung 7.1 Biographische Hinführung 183 358 Z.n.-Perels, „Theologie“, 252. 359 Z.n. Hohnsbein, „Lilje“, 465, Herv. im Orig., vgl. Siegmund, Bischof, 258; Uden, Publi‐ zist,-37. 360 Oelke, Lilje, 363; Perels, „Theologie“, 252. 361 Dietrich Kuessner, „‚Der Krieg als geistige Leistung‘. Eine Schrift aus dem Jahr 1941 von Hanns Lilje, Generalsekretär des Lutherischen Weltkonventes“, in: Schmid, Rainer, et-al., Texte zur Militärseelsorge im Hitlerkrieg, Düsseldorf 2019, 218-226, hier: -223. 362 Ebd., 225. zur Verinnerlichung der Kriegsaufgabe und zur Aufopferung auf. Seinen Vortrag „Der Weg der Kirche Jesu Christi im Kriege“, gehalten am Ewigkeitssonntag 1939 in der Marienkirche in Hannover, schließt Lilje mit: „Laßt uns in aller Treue darum ringen, diese Aufgabe, die uns heute bis zum letzten Blutstropfen erfüllen kann, um unseres Volkes, um des Führers und seiner Räte, um des Heeres zu Wasser, zu Lande und in der Luft willen mit Vollmacht und Kraft zu tun.“ 358 In seiner 1942 gehaltenen „Predigt zum Heldengedenktag“ heißt es: „Der Krieg und das Sterben des Soldaten sind die größten Gelegenheiten der Bewäh‐ rung […]. Der Soldatentod ist die größte und höchste Bewährungsprobe des Mannes […]. Größeres ist von einem Mann auf Erden nicht möglich als der Tod für das eigene Volk.“ 359 Von Liljes zahlreichen Vorträgen, Predigten und Artikeln zum Krieg sticht eine Schrift bezüglich ihres Inhalts sowie ihrer Verbreitung im Nationalsozialismus heraus: Die 1941 erschienene Schrift Der Krieg als geistige Leistung, in der Lilje Gedanken mehrerer im Vorfeld gehaltener Vorträge weiterführt und gleich‐ zeitig Ansätze vorformuliert, die er in seinen späteren Kriegspredigten wieder aufgreifen wird. Der Text erschien zunächst als Aufsatz in Die Furche sowie als separater Druck im Furche-Verlag, wo er noch im Jahr ihres Erscheinens eine Auflagenstärke von 10.000 Exemplaren erreichte. 360 Darüber hinaus war die Schrift als Beitrag zur Feldseelsorge für die Wehrmacht im Umlauf: Wie Kuessner aufzeigt, ließ etwa der bayerische Landesbischof Hans Meiser die Broschüre an alle bayerischen Pfarrer im Feld verschicken. 361 Für Kuessner stellt die Schrift die zentrale Publikation Liljes während der NS-Herrschaft dar, was sie zum Schlüsseltext seines Verhältnisses zu Krieg und NS-Regime mache. 362 Aufgrund dessen soll der Text an dieser Stelle kursorisch vorgestellt werden als Äußerung eines bereits seinerzeit prominenten evangelischen Geistlichen im Nationalsozialismus, welcher Einblick gibt in Liljes Verständnis von politischer Herrschaft und der Rolle des Glaubens und seiner Institutionen darin. 184 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 363 Hanns Lilje, Der Krieg als geistige Leistung. Berlin 1941 (Furche-Schriften, 26), 3. Alle Verweise auf diese Textausgabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel Krieg. Exkurs: Der Krieg als geistige Leistung Lilje eröffnet seine Schrift mit dem Verweis auf Max Schelers Vom Genius des Krieges (1915). In seiner Auseinandersetzung mit der Schrift des Philosophen und Anthropologen bekräftigt Lilje die Besonderheit des Kriegs als außerge‐ wöhnliches Menschheitsereignis. Der Geschichtsphilosoph, so Lilje, betrachte den Krieg als „Wetterleuchten“, das „mit einer grellen Deutlichkeit die verbor‐ genen Quellen und Gründe des geschichtlichen Lebens“ entdecke und „das geschichtliche Schicksal der Völker“ forme. Wo im Frieden die eigentlichen „Triebkräfte“ der Geschichte unter Ideologien verborgen lägen, sei der Krieg die „Stelle, in der sich das geschichtliche Leben der Völker aus dem Dunkel ge‐ heimnisvoller Hintergründe heraus in der überhellen Deutlichkeit eines Schein‐ werfers sammelt.“ 363 Indessen grenzt sich Lilje von einem rein „geschichtsphilosophischem“ Verständnis des Kriegs ab, der „Vorstellung, daß der Krieg sozusagen das schöpferische Prinzip der Geschichte schlechthin sei“ (Krieg, 3). Für Lilje erweist sich angesichts moderner Kriege auch der Satz Heraklits, dass der Krieg um seiner selbst willen zu würdigen sei als „Ordnungsprinzip der Geschichte“, als nicht haltbar. Mit Verweis auf den Dreißigjährigen Krieg gemahnt Lilje, dass es genügend Kriege gegeben habe, die nicht nur mit Blick auf die produzierten Opferzahlen, sondern auch auf die politischen, kulturellen und sozialen Folgen lediglich oder hauptsächlich „zerstörend“ gewirkt hätten (ebd., 4). Lilje nähert sich seinem Thema aus einer Rechtfertigungsperspektive: Seine Auseinandersetzung beschäftigt sich weder mit den Ursachen für Kriege oder ihrer Bedeutung innerhalb des Geschichtsverlaufs. Eine Auseinandersetzung mit diesem Kriegsziel verbietet sich für Lilje. Vielmehr betrachtet er den Krieg durch den begrifflichen Dualismus „schöpferischer“ gegenüber „zerstöre‐ rischer“ Qualitäten hinsichtlich seiner moralischen Legitimation. Denn gerade für den Theologen stelle sich die Frage, wie der Krieg als Teil der göttlichen Schöpfung zu beurteilen sei. Unter Verweis auf Luther kommt Lilje zu dem Schluss, dass der Krieg beides sei: „Größe und Grauen“ - was Lilje eine „realis‐ tische“ Kriegsauffassung nennt (ebd.). Am Krieg offenbare sich Gottes Wille, weswegen er als „gleicherweise Zeichen seiner Gnade wie seines Zornes“ gelte (ebd.). In der Folge erarbeitet Lilje Gesichtspunkte, unter welchen der Krieg, unter Verweis auf die in ihm zum Ausdruck kommende göttliche Ordnung, zu affirmieren sei: 7.1 Biographische Hinführung 185 „Schöpferisch ist der Krieg nur in dem Sinn, daß er Teil aus Gottes Wirken ist, und Gottes Wirken kann darin bestehen, daß er dem Neuen Raum schafft, indem er Altes der Zerstörung anheimfallen läßt. Der Krieg kann also seinen Sinn nicht in den zerstörenden Wirkungen haben, die er notwendigerweise auslöst, sondern er wird aus den großen Zusammenhängen des Geschichtslaufs je und je notwendig, um einer neuen geschichtlichen Ordnung Raum zu schaffen. Darin […] besteht seine Würde.“ (Ebd., 5, Herv. im Orig.) Für Lilje offenbart sich ein gerechter Krieg einzig teleologisch, nämlich darin, ob und welche neuen Verhältnisse als Konsequenzen aus den Verheerungen folgten. Die sich in seinem Ausgang stiftende Beurteilung ist das einzige Kriterium für Liljes Legitimation des Kriegs. Im Rückblick seien denn auch alle Kriegsleiden als zwangsläufige Begleiterscheinung einer geschichtlichen Neu‐ ordnung zu akzeptieren. So äußert sich Lilje über die im Zuge der Kriegsführung eingesetzten Gewaltmittel entsprechend unzweideutig wie drastisch: „Er weiß, daß das oberste Gesetz des Krieges Gewalt heißt und daß es für ihre Anwendung keine Grenze geben darf “ (ebd., 5 f.). Die „geistige Leistung“, die der Krieg den kriegsführenden Parteien abver‐ lange, sei, ihn zu führen als Mittel der Durchsetzung neuer geschichtlicher Verhältnisse, wogegen Lilje einerseits eine „realistische“ Auffassung des Kriegs als Abfolge von Befehlsäußerung und -erfüllung (er spricht von „Söldner“- und „Landsknecht“-Mentalität), andererseits die „romantische“ Überhöhung des Kriegs als Feiern um seiner selbst willen abgrenzt. Die sich nur in seinem Ausgang offenbarende Kriegslegitimation ist so zurückverlagert in die Kriegs‐ führenden und erscheint dort als Anspruch zur Änderung der bestehenden Verhältnisse. „Der Krieg ist weder eine Katastrophe, die mit naturgesetzlicher Wucht über ein Volk hereinbricht, noch auch einfach das schöpferische Prinzip der Geschichte; sondern er ist die zusammengeballte Form, unter der ein Volk seinem geschichtlichen Schicksal begegnet. Und eine Nation, die in eine solche Schicksalsstunde gerät, muß wissen, mit welchen Kräften sie ihr begegnen will.“ (Krieg, 6 f., Herv. im Orig.) Die Partei, die mit diesem Anspruch antritt, führe nach Lilje einen gerechten, gottgefälligen Krieg (ebd.). Als lobenswerte Beispiele einer solchen „geistigen“ Kriegsführung stellt Lilje die preußischen Militärs heraus. „Es kann kein Zweifel 186 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 364 Derart lobend bespricht Lilje hier den preußischen Heeresreformer Carl von Clause‐ witz, wenig später erweitert er den Kreis um alle preußischen Machthaber seit dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm-I. Krieg, 11. darüber bestehen, daß die großen geistigen Väter des Preußentums in dieser Unterscheidung der Linie der Reformatoren folgen.“ (Ebd., 5 f.) 364 In diesem ersten Teil von Der Krieg als geistige Leistung liefert Lilje die Ge‐ sichtspunkte eines gerechten, gottgefälligen Kriegs. Ein solcher werde geführt, wo die kriegsführenden Parteien die Regeln der göttlichen Ordnung verinner‐ licht hätten, um so einen höheren Plan des Geschichtsverlaufs zu verwirklichen. Das sei die „geistige Leistung“, die der Krieg seinen Konfliktparteien abverlange. Ein solcher Krieg sei dann mit aller Gewalt zu führen, da alle Zerstörungen und Opfer zu affirmierende Mittel des höheren Gottesplans seien. Ob dieser zur Durchsetzung komme, könne sich indessen nur ex post und in der Reflexion des Kriegsausgangs überhaupt manifestieren. Diese Perspektivierung des Kriegs ist eine Legitimation des historischen Siegers, der dazu in der Lage ist, auf Basis der Niederlage des Gegners eine neue Ordnung durchzusetzen. Die zweite Abteilung des Textes beschäftigt sich mit dem Verhältnis des Kriegs auf das kriegsführende Subjekt. Denn im Krieg, so Lilje, zählten nicht nur die Strategen und Offiziere, sondern die Entscheidungen und Leistungen jedes einzelnen Soldaten. Der Krieg stelle eine existentielle Gefahr dar, welche das kriegsführende Subjekt mit den Grundsätzen des eigenen Daseins konfrontiere und damit nichts Geringeres offenbare als die Conditio humana. Mit einem Schlage steht plötzlich sein eigenes Leben in dem Lichtkegel großer geschichtlicher Entscheidungen, und mit blitzartiger Deutlichkeit werden ihm selber daran die Hintergründe seines eigenen Lebens deutlich - aus welchen Fundamenten heraus lebt er überhaupt? Hat er überhaupt Fundamente, die sich jetzt bewähren und das Gebäude seines Lebens zu tragen fähig sind? […] Durch den Krieg erfährt er auf eine ganz unüberhörbare Weise, daß die elementare Bedrohung seiner Existenz immer da ist und ihn ständig auffordert, den Mut zum gefährlichen Leben aufzubringen. Inso‐ fern ist das ‚Leben eine Handbreit vom Tode‘ nur die plötzlich und fast übermenschlich erhellte Grundsituation des Menschen überhaupt.“ (Krieg, 8 f.) Der Krieg erscheint so als reinste Form individueller Welterfahrung. Darin wird er zur Prüfung, anhand derer das Subjekt die für Lilje fraglos vorhandenen „Fundamente“ seines Daseins - Begriffe eines universellen Wertekosmos oder einer Ideologie, nach denen das Subjekt handle - auf die Probe gestellt finde. Auch für das Subjekt „setzt [der Krieg] eine eminente geistige Leistung voraus“, die jedem Soldaten „ein Höchstmaß persönlichen, charakterlichen, geistigen 7.1 Biographische Hinführung 187 Einsatzes“ abverlange (ebd., 10). Diese Prüfung des Subjekts bestimmt Lilje als zu begrüßendes Moment individueller Selbsterfahrung. „Wer das Schlimmste zu ertragen vermag, dessen geistige Kraft wird den Wechselfällen des Krieges und seinen geistigen Belastungen gewachsen sein. Wer aber von diesem Ausblick nicht einmal zu reden wagt, was will der seinem Volk in der Stunde der Gefahr nützen? “ (Ebd., 11) Der Modus des „Bestehens“ des Kriegs bedeutet für Lilje mitnichten die körper‐ liche oder mentale Unversehrtheit des Subjekts. Vielmehr sieht er dieses in die größeren Zusammenhänge eines Volkes oder einer Nation eingebunden, dem es sich unterzuordnen und für das es sich nutzbar zu machen habe. Seine Perspektivierung des Subjekts ist stets die eines möglichst vollständigen Utilisierens seiner Effektivität im Feld: „Wenn er recht kämpfen soll, muß er wissen, wie er recht leben und wie er recht sterben kann.“ Es gehe nicht darum, den Krieg nur zu überstehen - „an Tod und Teufel […] vorbeizusehen“ -, sondern darum, diesen „gerade und furchtlos ins Auge schauen [zu] können.“ (Ebd., Herv. im Orig.) Zum Bestehen dieser Bewährung zu möglichst effektiver Kriegsteilnahme bedarf es laut Lilje notwendigerweise des Glaubens - „der Gnade Jesu Christi“. Denn der gläubige Soldat sei den härtesten Situationen nicht nur gewachsen, er könne auch „Unglück ungebeugt“ tragen (Krieg, 11). Sich in Gottes Hand zu begeben, die eigene Sterblichkeit und Gefährdung zu akzeptieren, ja zu affirmieren und in der Folge mit besonderer Opferbereitschaft zu kämpfen, sei die vom Subjekt abverlangte „geistige Leistung“ des Kriegs. „Oder wo weiß man mehr, wie köstlich das Leben ist, als im Kriege? Wann ist das Atmen in Gottes Luft reiner und der Blick auf das Himmelsblau und das Licht des Tages schöner als da, wo man weiß, daß die nächste Minute das alles enden kann, und man darum diese alltäglichste und größte Gabe - anders als im bürgerlichen Dasein - wieder bewußt aus den Händen des Schöpfers entgegennehmen lernt? “ (Ebd., 13, Herv. im Orig.) Die existentielle Gefährdung im Krieg bringe die Erkenntnis des eigenen Daseins als Teil der Schöpfung und erzeuge darüber hinaus ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem göttlichen Schöpfer. Darin stifte oder erneuere der Krieg die Verbindung von Subjekt und Gott sowie ein neues Glaubensbewusst‐ sein, das im Frieden nicht zu erlangen sei. Das Subjekt erkenne sich im Krieg als Teil der Schöpfung, als Instrument eines höheren Plans und erlange so die Bereitschaft zum individuellen Opfer. Dass diese nur vom gläubigen Subjekt zu leisten sei, ist der zentrale Ertrag von Der Krieg als geistige Leistung: 188 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 365 So in einem Interview für den NRD 1973, in dem Lilje die Schrift wie auch seine Kriegspredigten als mentale Stärkungsangebote für die deutschen Soldaten bestimmte. Auf die Frage von Eike Christian Hirsch nach Liljes „Befangenheit in den nationalen „Diese größte Erkenntnis aber, die das Leben am meisten adelt, ist die, daß unser Leben nicht uns selber gehört, sondern daß wir bereit sein müssen, es zu opfern. Auch im Frieden gehört uns unser Leben nicht. Aber der Krieg deckt es mit stürmischer Hand auf, ob einer in Furcht und Schande nur an sein eigenes Ich gebunden ist oder ob die Kräfte der Hingabe und des Opfers in ihm lebenskräftig sind. An dieser Probe zerbricht alle Phrase. Man muß von stichhaltigen Gründen wissen und von einer mehr als menschlichen Vollmacht, wenn man den einzelnen oder ein Volk zu diesem Opfer rufen will. Erst hier wird die Unzulänglichkeit der Kriegsromantik oder des landläufigen Heroismus vollends deutlich. Es muß nicht nur auf den Koppelschlössern der Soldaten, sondern im Herz und Gewissen stehen: Mit Gott! Nur im Namen Gottes kann man dies Opfer legitimieren.“ (Ebd., Herv. im Orig.) Lilje setzt den Krieg als Grundkonstante menschlichen Daseins überhaupt voraus, dem sich das Subjekt zwangsläufig zu stellen habe. „Wer wüßte aber auch deutlicher als er [der Soldat], daß man das Leben - als einzelner wie als Volk - nur haben kann, wenn man bereit ist, es gegen Tod und Grauen zu verteidigen? “ (Krieg, 13) Diese Konfrontation überhöht Lilje zum Offenba‐ rungsmoment einer inneren Qualität des Subjekts. Dieses wird vorgestellt als a priori in höheren Sinnzusammenhängen und Abhängigkeitsverhältnissen ver‐ haftet. Auszeichnung im Sinne der Erfüllung der letztgültigen Zusammenhänge der Welt erhält es darin, diese Unfreiheit zu verinnerlichen. Als besonders „lebenswert“ schließlich bestimmt Lilje das Dasein, das zur Aufopferung für die Durchsetzung dieser höheren Gesichtspunkte bereit ist. Darin erhält der christ‐ liche Glaube seine Bedeutung sowohl als Quelle der Erkenntnis der prinzipiellen Unfreiheit des Subjekts wie als Stifter der geforderten Opferbereitschaft. Nur „Mit Gott! “ sei diese herzustellen. Für das Subjekt offenbare sich die Bedeutung des Glaubens als letztgültiger Sinn und Stärkungsangebot erst im Moment existentieller Gefahr: „Was will der davon sagen und wissen können, für den es theoretisch oder praktisch nur den Lebensgenuß gibt? Was für eine traurige und leere Weisheit ist das, wenn der satte Bürger am Tisch in friedlichen Zeiten über den Glauben spöttelt! Wovon will er denn leben, wenn es auch für ihn Ernst wird? Und wie bald kann ihm das im totalen Kriege widerfahren! “ (Ebd., Herv. im Orig.) Lilje selbst hat in der Nachkriegszeit darauf verwiesen, dass Der Krieg als geistige Leistung als seelsorgerischer Text zu verstehen sei. 365 Es sei ihm nie 7.1 Biographische Hinführung 189 Gefühlen“ zu Beginn des Krieges antwortete dieser: „Nein, das würde ich so nicht gelten lassen. Was macht der christliche Mann, der in diese Maschinerie hineingerät? Das hat mich sehr bewegt. Also es gab doch unzählige Leute, die Christen waren und im Felde standen, die Soldaten waren, die Hitlers Soldaten waren. Und die Frage hat mich sehr beschäftigt: was kann man so jemandem sagen? Und da kommen alle diese Fragen vor. ‚Im Felde, da ist der Mann noch was wert‘ - da habe ich also das Problem der menschlichen Existenz im Angesichte des Krieges in christlicher Sicht zu beleuchten versucht.“ Z.n.-Uden, Publizist, 432 f.; vgl. Vogel, Kirche, 88f. um eine Legitimation des von Deutschland ausgehenden Kriegs gegangen, sondern stets nur um Fragen individueller Bewältigung der Gewalt. Gegen diese Selbstdeutung ist einzuwenden, dass Der Krieg als geistige Leistung den Krieg überhaupt nur legitimatorisch betrachtete und vom Subjekt einfordert, sich als Teil einer größeren Wesenheit zu erkennen und sich willentlich für diese zu opfern. An keiner Stelle aber spricht Lilje seelsorgerisch die Probleme und Krisen des Subjekts im Krieg an oder bezieht sich auf dieses im Modus empathischer Hilfestellung. Eine solche lehnt er sogar explizit ab, wenn es mit Blick auf die vom Subjekt abverlangte „geistige Leistung“ im Krieg heißt: „Da wir hier nicht unverbindliche Spekulationen vorzutragen haben, kann es auch nicht unsere Aufgabe sein, in scheinbarer Objektivität zu untersuchen, welche ver‐ schiedenen Möglichkeiten etwa für den Menschen gegeben sind, wenn er diesen Kampf seines Lebens überhaupt und dann unter der besonderen Bedrohung durch den Krieg bestehen will. Sondern wir können hier nur sehr deutlich davon reden, daß es nach dem Zeugnis des christlichen Glaubens für den Menschen nur dann möglich ist, diesen Kampf zu bestehen, wenn er weiß, wie sein Weg an Tod und Teufel vorüberführen kann.“ (Krieg, 10 f.) Der Krieg als geistige Leistung bestimmt den Krieg als existentielle Erfahrung und progressive Kraft der Geschichte, entwickelt legitimatorische Gesichtspunkte entlang eines Erfolgsmaßstabs. Vom kriegsaffizierten Subjekt spricht die Schrift einzig als möglichst effektiv „nutzbar“ zu machendes Instrument der Kriegs‐ führung, von dem Entschlossenheit und Opferbereitschaft eingefordert wird. Einzig als Adressat eines Anspruchs kommt das Subjekt bei Lilje vor, nicht aber im Sinne einer individuellen psychischen Betreuung. Der Krieg als geistige Leistung ist mitnichten als seelsorgerische Unterstützungsschrift angelegt. Es ist vielmehr ein Signal an die Herrschenden, dass die erfolgreiche Aktivierung des maximalen Kriegspotentials der Soldaten nur mithilfe des Glaubens und unter Hinzuziehung der Kirchen als betreuende Instanzen möglich sei. Für den Krieg, dessen Ursachen, Ziel und Vernichtungsmethoden aufgrund von seiner geschichtlichen Unvermeidbarkeit nicht zu thematisieren seien, bietet Lilje den Glauben somit als Stärkungsangebot der kriegsführenden Herrschaft an, dessen 190 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 366 Kuessner, „‚Krieg‘“, 218 f.; Oelke, Lilje, 384. 367 Ebd., 360. Zu diesem Schluss kommt auch Perels, wenn auch mit der Einschränkung, dass „Liljes Selbstbild und seine theologisch-politische Rolle im Dritten Reich […] nicht identisch“ gewesen seien. Ersteres sei vielmehr durch seine „klare Gegenposi‐ tion“ gegenüber der NS-Kirchenpolitik bestimmt gewesen, womit sich Lilje auch in der Selbstwahrnehmung von der evangelischen Mehrheitsmeinung absetzte. Perels, „Theologie“, 252. 368 Z.n. Alexander Schwabe, „Entzauberung eines vermeintlichen Märty‐ rers“, Internet: https: / / www.spiegel.de/ panorama/ widerstand-gegen-hitler-entzaube‐ rung-eines-vermeintlichen-maertyrers-a-309390.html, zuletzt geprüft am: 11.2.2020. 369 Ludwig, Lilje, 60; Uden, Publizist, 38f. Zweck nichts anderes als die Erhöhung der deutschen Durchsetzungsfähigkeit an den Kriegsschauplätzen ist. Obgleich hinsichtlich seiner Elaboriertheit sicherlich außergewöhnlich, stellte Liljes Traktat dennoch mitnichten eine singuläre Äußerung eines Kir‐ chenvertreters in Kriegsdeutschland dar: Der Krieg als geistige Leistung, so Kuessner, sei lediglich eine unter zahlreichen Unterstützungsäußerungen der evangelischen Kirche gewesen. Insbesondere aufgrund der kritischen Haltung einiger Kirchenkreise gegenüber den „Deutschen Christen“ und der national‐ sozialistischen Kirchenpolitik sollten keine Zweifel an der prinzipiellen Un‐ terstützung der Kirche aufkommen. Demnach sei es erklärtes Ziel gewesen, den Verdacht zurückzuweisen, „nur halbherzig die Kriegspolitik Hitlers zu unterstützen.“ Oelke ergänzt, dass Lilje mit seinen Schriften und öffentlichen Äußerungen im Nationalsozialismus insgesamt als „typische[r] Vertreter des Luthertums“ agierte. 366 Auch mit seiner „affirmative[n] Haltung“ dem von Deutschland ausgehenden Krieg gegenüber zähle er somit, so Oelke weiter, zur Mehrheit der evangelischen Geistlichen. Diese Mehrheit habe sich mit dem Regime arrangiert und dieses trotz einiger Vorbehalte prinzipiell unterstützt. 367 Polemischer urteilt Hohnsbein über Liljes Stellung zum NS-Staat: „Er war ver‐ lässlicher Parteigänger für die NS-Machthaber, bis er, sehr zufällig, selbst in das Räderwerk ihrer brutalen Unrechtsordnung kam.“ 368 Unstrittig ist indessen, dass sich Lilje mit Erklärungen wie Der Krieg als geistige Leistung das Wohlwollen der nationalsozialistischen Machthaber sicherte. Ludwig sowie Uden erklären, dass die Reichsschrifttumskammer den Theologen aufgrund seiner Predigten wie auch seiner publizistischen Arbeiten ausschließlich als „förderungswürdig“ empfahl. 369 Resultat dieser Einschätzung war eine ungestörte publizistische Tätigkeit sowie die Möglichkeit zu deutschlandweiten Vortragsreisen und Predigten. Bis weit in den Krieg hinein zeigte sich Lilje auf Linie mit den Zielen der Nationalsozialisten, bis er kurz vor der Niederlage des Deutschen Reiches 7.1 Biographische Hinführung 191 370 Vgl. Ludwig, Lilje, 53-56, 66f. 371 Oelke, Lilje, 378f. 372 Ebd., 375-377. Oelke konnte zeigen, dass es sich bei dem in Im finstern Tal auftau‐ chenden „Graf X“ höchstwahrscheinlich um Berthold Graf von Stauffenberg handelt, den Bruder von Claus Graf von Stauffenberg. Den dritter Bruder der von Stauffenbergs, Alexander, der nach dem Anschlag auf Hitler in Sippenhaft genommen wurde, trifft Lilje ebenfalls in Haft. 373 Ebd., 379 f.; Uden, Publizist, 40. 374 Ludwig, Lilje, 72 f.; Oelke, Lilje, 380; Siegmund, Bischof, 92; Uden, Publizist, 42. selbst als potentieller Widerstandskämpfer von der Geheimen Staatspolizei festgenommen wurde. * Im Umfeld des Hitlerattentats vom 20. Juli wurde Lilje am 19. August 1944 verhaftet und vor dem Volksgerichtshof angeklagt. Die Anklagepunkte lau‐ teten auf Landesverrat und Feindbegünstigung. Der erste Punkt bezog sich wahrscheinlich auf Liljes Auslandskontakte als Vertreter verschiedener inter‐ nationaler protestantischer Institutionen, denen er mutmaßlich Informationen über innerdeutsche Oppositionskreise übermittelt hatte, 370 der zweite auf seine persönlichen Bekanntschaften mit verschiedenen ihrer Mitglieder. 371 Wie Oelke zeigt, hatte Lilje im Vorfeld des Anschlags Kontakte zu Helmuth James Graf von Moltke und anderen Mitgliedern des Kreisauer Kreises sowie mit Teilen des mi‐ litärischen Widerstands, namentlich Ludwig Beck und Berthold Graf von Stauf‐ fenberg. Des Weiteren war Lilje mit einigen Personen der Widerstandsgruppe um Carl Friedrich Goerdeler bekannt. 372 Die Verdachtsmomente gegen den Theologen erhärteten sich, da die Gestapo nachweisen konnte, dass, nachdem am 14. Juli 1944 Haftbefehl gegen Goerdeler erlassen worden war, dieser Lilje aufgesucht und Fluchthilfe erbeten hatte. Lilje sollte seine Auslandskontakte aktivieren, um Goerdeler die Ausreise nach Schweden zu ermöglichen. Zum Ausgang der Bitte konstatieren Oelke und Uden, dass Lilje Goerdeler eine aktive Unterstützung ausgeschlagen und diesem lediglich geraten habe, nach Leipzig zurückzukehren - dies im Übrigen entgegen der gegenteiligen Aussage in Im finstern Tal. 373 Nach mehreren Monaten Haft in Berlin-Moabit wurde Lilje am 18. Januar 1945 vom Volksgerichtshof wegen Feindbegünstigung zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Aufgrund der sich zuspitzenden Kriegslage wurde er bald nach der Urteilsverkündung nach Nürnberg verbracht, wo er schließlich durch die Ankunft der Alliierten befreit wurde. 374 Nach Kriegsende konnte sich Lilje unschwer in den sich neu konstituierenden Strukturen der deutschen Evangelischen Kirche etablieren: Im Juli 1945 wurde er Oberlandeskirchenrat in Hannover und Ratsmitglied der neugegründeten 192 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 375 Zu Liljes Karriere in der evangelischen Kirche siehe Siegmund, Bischof, 601 f.; vgl. Uden, Publizist, 44f. 376 Siegmund, Bischof, 602; Uden, Publizist, 55. 377 „Hanns Lilje - Kirchenführer, Prediger, Publizist“, in: Schwennsen, Carola; Dah‐ ling-Sander, Christoph, Jahrbuch 2016/ 2017 der Hanns-Lilje-Stiftung. Hanns Lilje neu entdecken: Dialoge stiften damals und heute, Hannover 2016, 8-11, hier: 11. Insbesondere sei verwiesen auf die Monographie von Ronald Uden, Hanns Lilje. Bischof der Öffent‐ lichkeit. Hannover 1998. Diese beinhaltet zahlreiche der Photographien, auf denen Lilje mit verschiedenen Staatsführern, aber auch bei öffentlichen Auftritten, Truppen- oder Flugplatzbesuchen abgelichtet ist. 378 Das Erste, „Das Wort zum Sonntag. Sprecherinnen und Sprecher seit 1954“, Internet: https: / / www.daserste.de/ information/ wissen-kultur/ wort-zum-sonntag/ ge‐ schichte/ sprecher-und-sprecherinnen-1954-bis-2033-100.html, zuletzt geprüft am: 29.4.2020. 379 Oelke, Lilje, 234 f., 389 f.; Uden, Publizist, 130-136. 380 Heinrich W. Grosse, „Niemand kann zwei Herren dienen“. Zur Geschichte der evange‐ lischen Kirche im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, 2. durchges. Aufl. Hannover 2010 [2008] (Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln, 23), 239; Uden, Publizist, 92-96. „Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD), 1947 Landesbischof der Evange‐ lisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, 1948 Stellvertretender Vorsitzender des Rates der EKD, 1950 Abt des Klosters Loccum und 1955 Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. 375 Bis zu seinem Tod 1977 wurde Lilje mit zahlreichen Auszeichnungen honoriert, u. a. mit elf Ehrendoktortiteln, dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. 376 Auf Auslandsreisen wurde der Theologe häufig als hoher Staatsgast empfangen und mit Regie‐ rungsführern abgelichtet, etwa mit Kaiser Hirohito in Japan, dem ägyptischen Staatschef Nasser oder Präsident Eisenhower in den USA. 377 Auch abseits offizieller Ehrungen und Reisen suchte und pflegte Lilje den Kontakt zu den Massenmedien seiner Zeit. Bereits seit der Weimarer Republik war der Theologe in der deutschen Medienlandschaft gut vernetzt gewesen und trat für einen Kirchenvertreter ungewöhnlich öffentlichkeitswirksam auf. Nach Kriegsende konnte Lilje rasch an diese Beziehungen anknüpfen: Ab 1946 hielt er Predigten und Vorträge im Radio, im Fernsehen war er als einer der Moderatoren der Sendereihe Das Wort zum Sonntag zu sehen, 378 war gern geladener Interview‐ partner von Printmedien, Radio und Fernsehen. 379 Zudem erhielt der Theologe bereits 1948 von der Britischen Militäradministration die Lizenz zur Herausgabe einer Zeitschrift, welche überregional als Sonntagsblatt erschien. 380 Durch sein Bischofsamt und leitende Positionen innerhalb der EKD, mehr aber noch durch seine zahlreichen internationalen Kontakte durch die kirchliche Ökumene 7.1 Biographische Hinführung 193 381 Uden, Öffentlichkeit, 54. 382 International galt die Bekennende Kirche nach Kriegsende als kirchliche Oppositions‐ bewegung. Vogel, Kirche, 33-36. Symptomatisch dafür steht eine Rede Bischof Bells von Chichester aus dem Februar 1946, in der dieser über die BK äußert: „Sie war wirklich das Herz der Kirche und das Herz des Widerstandes. […] Als die Befreiung kam, war es Sache der Bekennenden Kirche, die Führung zu übernehmen.“ Z.n. ebd., 33. Mithin wurde auch die personelle Organisation der EKD bei deren Gründung 1945 von dem Leumund beeinflusst, den die Mitglieder der BK und insbesondere jene wie Martin Niemöller oder Lilje, die in NS-Deutschland inhaftiert gewesen waren, genossen. Ebd.,-32. 383 Uden, Öffentlichkeit, 53; vgl. Uden, Publizist, 43f. sowie die massenmedial geschickt inszenierten Auftritte etablierte sich Lilje als einer der prominentesten Kirchenvertreter der Nachkriegszeit und BRD. Dazu entwirft Uden das Bild eines sich vom Norddeutschen Tiefland über die ganze Welt aufspannenden Netzwerks aus Positionen und Beziehungen: „Auf internationalem Parkett bewegte sich Lilje als Weltreisender und Diplomat in kirchlichem Gewand sicher wie kaum ein anderer. Er begann eine glänzende Karriere und bekleidete zahlreiche Ämter, die sich wie konzentrische Kreise um seine Heimatstadt Hannover zogen“. 381 Maßgeblichen Beitrag zu Liljes raschem Aufstieg in der Nachkriegsgesellschaft hatten seine Verhaftung durch die Gestapo sowie seine Verurteilung durch den Volksgerichtshof (VGH). In den Augen zumal der alliierten Machthaber handelte es sich bei Lilje sowohl aufgrund seiner Beteiligung in der Bekennenden Kirche, vor allem aber seiner Inhaftierung im Umfeld des 20. Juli um einen Vertreter der geistlichen Opposition gegen den Nationalsozialismus. 382 Seitens der Kirchenoberen in Hannover wurde dieser Status mitunter aktiv dazu genutzt, um im Protegieren Liljes einen kirchenpolitischen Neuanfang im Geiste des kirchlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu inszenieren. Dazu hält Uden fest: „Lilje profitierte vom Nimbus der Märtyrer, in deren Nähe er mit seinem Gefängnisauf‐ enthalt gerückt war. Für viele wurde seine persönliche und geistliche Autorität durch eine Art von ‚Heiligenschein der Haft‘ unangreifbar. […] Er wurde im In- und Ausland als Stimme eines anderen Deutschland gesehen, das mit der Kirche gegen Hitler opponiert hatte, ein Deutschland, das den Bildern des Terrors und des aggressiven Vernichtungskrieges, den Bildern des Holocausts und der Konzentrationslager wider‐ sprach. Damit gehörte Lilje zu der Gruppe von Kirchenführern, die dem werdenden deutschen Staat Gehör verschafften und seine Glaubwürdigkeit wieder herzustellen halfen, damit der Weg zurück in die weltweite Völkergemeinschaft geebnet wurde.“ 383 194 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 384 Uden, Öffentlichkeit, 56. 385 Ebd., 54. 386 Hanns Lilje, Memorabilia. Schwerpunkte eines Lebens. Nürnberg 1973, 140. 387 Axel Wunderlich, „Entnazifizierung in der hannoverschen Landeskirche“, in: Grosse, Heinrich W.; Otte, Hans; Perels, Joachim, Neubeginn nach der NS-Herrschaft? Die hannoversche Landeskirche nach 1945, Hannover 2002, 85-104, hier: 89f. Zum Selbst‐ bild der hannoverschen Landeskirche, welche nach Kriegsende ihre weitgehende Autonomie vom NS-Regime propagierte, sowie ihres Landesbischofs Marahrens, der u. a. von 1934-1936 Vorsitzender der Bekennenden Kirche gewesen war, siehe Joachim Perels, „Die hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus 1933-1945. Kritik eines Selbstbildes“, in: Grosse, Heinrich W.; Otte, Hans; Perels, Joachim, Bewahren ohne Bekennen? Die hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus, Hannover 1996, 153-178. 388 Z.n.-Grosse, „Niemand“, 108. Dass auf der anderen Seite die Nähe zum Nationalsozialismus drastische Aus‐ wirkungen für das Kirchenpersonal haben konnte, erlebte Lilje in seinem direkten Berufsumfeld: August Marahrens hatte seit 1925 das Amt des Landes‐ bischofs in Hannover inne. Lilje und Marahrens kannten einander bereits vor Kriegsende, Marahrens gehörte zu den wenigen, die Lilje im Gefängnis in Berlin besuchten, 384 1945 hatte Marahrens Lilje als Oberlandeskirchenrat unter sich nach Hannover berufen. 385 Zu seinem Dienstherrn hatte Lilje ein außerordent‐ lich enges Verhältnis; „so etwas wie ein Adjutant“ will er für seinen Bischof gewesen sein. 386 Gegen Marahrens wurden nach 1945 sowohl innerkirchlich durch die EKD wie auch seitens der britischen Besatzungsmacht Vorwürfe laut, mit dem NS-Staat sympathisiert und dessen Ideologie unterstützt zu haben. 387 Perels und Wunderlich versammeln die Momente, die Marahrens’ Kritiker, allen voran Martin Niemöller, gegen diesen vorbrachten. Dazu gehörten insbesondere Marahrens’ Unterschrift unter die von Reichskirchenminister Hanns Kerrl in Auftrag gegebene Denkschrift „Grundsätze für eine den Erfordernissen der Gegenwart entsprechende neue Ordnung der Deutschen Evangelischen Kirche“ von 1939, die den unverbrüchlichen Zusammenhalt zwischen NS-Regime und den Kirchen propagieren sollte und in der es lautete: „Die nationalsozialistische Weltanschauung bekämpft mit aller Unerbittlichkeit den politischen und geistigen Einfluß der jüdischen Rasse auf unser völkisches Leben. Im Gehorsam gegen die göttliche Schöpfungsordnung bejaht die Evangelische Kirche die Verantwortung für die Reinerhaltung unseres Volkstums.“ 388 Daneben kamen Marahrens’ bis 1945 anhaltende Unterstützungsrhetorik zum nationalsozialistischen Krieg sowie seine euphorischen Segenswünsche zu Hitlers Überleben des Anschlagsversuchs vom 20. Juli 1944 im vom ihm mit‐ 7.1 Biographische Hinführung 195 389 Vgl. Perels, „Landeskirche“, 156 f., 163-166, 175 f.; Wunderlich, „Entnazifizierung“, 86f. 390 Siegmund, Bischof, 601; Uden, Publizist, 135. 391 Kuessner, „‚Krieg‘“, 219 f.; Ludwig, Lilje, 57. 392 Lilje, Memorabilia, 190. Siehe dazu auch Oelke, Lilje, 364. herausgegebenen Amtsblatt der hannoverschen Landeskirche in die Kritik. 389 Marahrens konnte sich bis 1947 im Amt halten, musste aber schließlich aufgrund des Drucks vor allem der britischen Behörden als Bischof zurücktreten. 390 Marahrens’ Mitarbeiter Hanns Lilje, der seit seiner Ernennung zum Oberlan‐ deskirchenrat innerhalb der Landeskirche als sicherer Nachfolger im Amt des Landesbischofs gehandelt wurde, schien dagegen aufgrund seiner Hafterfah‐ rung in Bezug auf seine Vergangenheit im Nationalsozialismus über alle Zweifel erhaben zu sein. Weder seine frühe Begeisterung für die Machtübernahme der Nationalsozialisten noch die langjährige Unterstützung des Kriegs und Aufforderung zur Aufopferung wurden in der frühen Nachkriegszeit themati‐ siert angesichts der Tatsache, dass es sich bei Lilje fraglos um ein Opfer der Nationalsozialisten gehandelt hatte. Wie Kuessner und Ludwig feststellen, kam die Frage nach Liljes Verhältnis zum NS-Regime erst in den späten 1960er Jahren auf: Auf dem 14. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1969 kam es zum Eklat, als Raubdrucke von Liljes Schrift Der Krieg als geistige Leistung verteilt wurden. 391 In seinen Reaktionen auf die unmittelbar laut werdenden Vorwürfe auf seine Befürwortung des nationalsozialistischen Regimes noch im dritten Kriegsjahr bestand denn auch Lilje selbst auf dem Standpunkt, dass der Fakt seiner Inhaftierung durch die Gestapo die Möglichkeit einer persönlichen Zustimmung zum Faschismus einwandfrei widerlege. Diese entkräfte auch die Vorwürfe gegen seine drei Jahre zuvor publizierte Schrift. In seinen Memoiren Memorabilia. Schwerpunkte eines Lebens von 1973 äußert er dazu: „[Es] ging selbstverständlich nicht um eine Verherrlichung des Krieges und schon gar nicht des von den Nationalsozialisten entfesselten Krieges, sondern die Absicht […] war die, dem Mann, der schicksalshaft in das Kriegsgeschehen verwickelt war, geistige Hilfestellung zum Bestehen dieser Situation anzubieten. Daß meine gesamte übrige Tätigkeit, einschließlich der Tatsache, daß ich in Gestapohaft war, diese böswillige Interpretation widerlegte, blieb unberücksichtigt.“ 392 Auch wenn sich Lilje zumindest in den ersten Nachkriegsdekaden keinerlei Vorwürfen der Teilhabe am NS-Staat ausgesetzt sah, arbeitete er mit zuneh‐ mender zeitlicher Distanz aktiv an seiner Inszenierung als kirchlicher Oppo‐ sitioneller. Uden weist darauf hin, dass die unmittelbar nach der Befreiung entstandene Schrift Im finstern Tal die historischen Begebenheiten, „abgesehen von einigen Überzeichnungen und historischen Ungenauigkeiten[,] noch re‐ 196 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 393 Uden, Publizist, 43. 394 Der Spiegel 44, „Widerstands-Bischof Lilje“ (1961), vorderer Umschlag. Darin: Her‐ mann Renner und Werner Harenberg, „Widerstand bis zum Martyrium? “, 32-45, Internet: https: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ index-1961-44.html, zuletzt geprüft am. 17.5.2021. 395 „Lutheraner und Kosmopolit“, z.n.-Uden, Publizist, 427-449, hier: -434. 396 Siehe etwa Siegfried Hermle, „Lilje, Hanns (1899-1977)“, in: Müller, Gerhard, Theolo‐ gische Realenzyklopädie. Teil II, Band XXI, Berlin 1991, 202-205. Die TRE lässt Liljes Kriegsreden und -schriften unerwähnt und betont seine Arbeit in „Jungreformatori‐ scher Bewegung“ und Bekennender Kirche. 397 Grosse, „Niemand“, 203. 398 Perels, „Theologie“, 241-245; Uden, Publizist, 304 f. Tatsächlich ist das Dokument wohl aufgrund eines Versehens oder einer Indiskretion an die Presse weitergegeben worden. Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945-1949. Die Last der lativ authentisch wieder[gebe]“. Diesen widersprechend jedoch bezeichnete sich Lilje in einer Gesprächsrunde im Süddeutschen Rundfunk 1952 selbst als Widerstandskämpfer „in einer Gruppe von Christen, die wie Moltke zu keinerlei Kompromiß mit dem NS-Regime bereit waren.“ 393 Lilje unterstrich die eigene Beteiligung am „Kirchenkampf “, die in der Bundesrepublik verbreitet und zum Oppositionsimage zugespitzt wurde: So widmete Der Spiegel Lilje am 24. Oktober 1961 die Titelseite unter dem Aufmacher „Widerstands-Bischof Lilje“, begleitet von einem zwölfseitigen Titelinterview: „Widerstand bis zum Martyrium? “ 394 Noch in den 1970er Jahren wurde Lilje bis hin zum religiösen Märtyrer stilisiert. Als solchen bezeichnete ihn Eike Christian Hirsch in einem für den NDR geführten Interview, erstmals ausgestrahlt am 2. Dezember 1973. 395 Bis heute sprechen einschlägige theologische Nachschlagewerke von Lilje als NS-Oppositionellem. 396 Als derart exponierter wie moralisch zunächst nicht zu hinterfragender Kirchenvertreter trat Lilje in der Nachkriegszeit vor allem als Verfechter eines schnellen Schlussstriches unter die als „Vergangenheitsbewältigung“ apostro‐ phierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein. Zwar war der Theologe noch 1945 einer der Unterzeichner des „Stuttgarter Schuldbekennt‐ nisses“, welches eine Mitschuld der Kirchen an den Verbrechen des NS-Regimes einräumte und so prompt die „am meisten umstrittene öffentliche Erklärung des deutschen Protestantismus nach dem verlorenen Krieg und dem Ende des NS-Regimes“ wurde. 397 Hingegen weist Uden darauf hin, dass Lilje das Dokument zwar mitunterzeichnet habe, an dessen Ausarbeitung aber nicht beteiligt gewesen war. Vielmehr brachten ihn einige kritische Zuschriften rasch dazu, seine Beteiligung am Schuldbekenntnis schnell zu relativieren: Die Erklärung sei lediglich für interne Zwecke verfasst worden und nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. 398 Weiter weist Ludwig darauf hin, dass 7.1 Biographische Hinführung 197 nationalsozialistischen Vergangenheit. München 1989 (Studien zur Zeitgeschichte, 36), 37; ders., „Im Schatten der Stuttgarter Schulderklärung. Die Erblast des Nationalpro‐ testantismus“, in: -Gailus, Manfred; Lehmann, Hartmut, Nationalprotestantische Menta‐ litäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005 (Veröffentlichungen des Max- Planck-Instituts für Geschichte, 214), 379-431, hier: 396-398. 399 Ludwig, Lilje, 85; vgl. Perels, „Theologie“, 242. 400 Grosse, „Niemand“, 204 f.; Joachim Perels, „Die hannoversche Landeskirche im Na‐ tionalsozialismus als Problem der Nachkriegsgeschichte“, in: Grosse, Heinrich W.; Otte, Hans; Perels, Joachim, Neubeginn nach der NS-Herrschaft? Die hannoversche Landeskirche nach 1945, Hannover 2002, 49-60, hier: -50. 401 Grosse, „Niemand“, 220; Axel Wunderlich, „Hanns Lilje und der Umgang mit NS-Ver‐ brechern“, in: Grosse, Heinrich W.; Otte, Hans; Perels, Joachim, Neubeginn nach der NS-Herrschaft? Die hannoversche Landeskirche nach 1945, Hannover 2002, 187-200, hier: 193-196. Der Brief der bischöflichen Kanzlei datiert auf den 9. Februar 1951, z.n.-ebd., 194. 402 Wunderlich, „Entnazifizierung“, 98ff. Lilje es ablehnte, von einer „allgemeinen Kriegsschulderklärung“ oder auch „[v]on einer deutschen ‚Schuld‘ zu sprechen“. 399 In der Einschätzung der For‐ schungsliteratur nahm Lilje bereits ab 1946 in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit und die Schuldfrage eine revisionistische Position ein. 400 Mit der amtlichen Autorität als Landesbischof sowie der moralischen als Opfer des Nationalsozialismus verwandte sich Lilje mehrfach bei den offiziellen Stellen für die Amnestierung von juristisch belangten nationalsozialistischen Größen, so für Paul Blobel, der sich 1947/ 48 u. a. für das Massaker von Babi Jar 1941 vor Gericht verantworten musste, bei dem 30.000 Juden in einer Schlucht bei Kiew ermordet worden waren. „Herr Landesbischof “, so ein Brief aus der Bischofs‐ kanzlei an die Schwester Blobels, habe sich mehrfach „für eine Begnadigung der Verurteilten eingesetzt.“ 401 Den (britischen) Alliierten unterbreitete er sogar den Vorschlag einer generellen Neuausrichtung der Entnazifizierungsverfahren weg von der als „negative“ Linie apostrophierten juristischen Ahndung mit wenig Aussichten auf Erfolg hin zu einer „positiven“, die auf Anreize zum politischen Umbesinnen ausgerichtet sein sollte. Weiter zeigt Wunderlich, dass Lilje anlässlich der Übertragung der Entnazifizierungsverfahren in der briti‐ schen Besatzungszone auf die niedersächsische Landesregierung im Frühjahr 1948 das Fallenlassen der Verfahren und die Amnestierung des Großteils aller „Minderbelasteten“ forderte. 402 In einem Offenen Brief an die Abgeordneten der Landesregierung schrieb Bischof Lilje: 198 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 403 Z.n.-Grosse, „Niemand“, 218. 404 Hanns Lilje, „Die Kirche in der Friedlosigkeit unseres Volkes“, Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 76 (1949 (1950)), 38-40, hier: 38; vgl. Grosse, „Niemand“, 218. 405 Siegmund, Bischof, 274. „Wir können es uns nicht leisten, auf lange hinaus einen Herd der inneren Beunruhi‐ gung zu erhalten, indem wir Monat um Monat immer noch mit der Liquidation der Vergangenheit beschäftigt sind.“ 403 Diese Forderung sollte Lilje öffentlich mehrfach wiederholen, so etwa in einem Artikel im Sonntagsblatt am 7. April 1949 unter dem Titel „Mahnung zum inneren Frieden“: „Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation einer unglückseligen Vergangenheit Schluß zu machen. Vier Jahre nach dem Ende des Krieges hat es keinen Sinn mehr, nach Vergeltung zu rufen.“ 404 Der Herd potentieller nationaler „Beunruhigung“ gehöre laut Lilje befriedet. Wichtiger sei der Wiederaufbau eines auch auf Außenwirkung bedachten Nationalismus. Derart zumindest verhandelte Lilje auch den Holocaust, über den der Theologe auf der Synode der EKD vom 24.-April 1950 sprach: „Es wird also auch nicht anders gehen, als daß Deutschland ein ernstes und aufrich‐ tiges Wort der Buße in der Judenfrage spricht, statt einer neuen Verhärtung und Verstockung auf diesem Gebiete zu verfallen. […] Es wäre unser als Nation nicht würdig, wenn wir mit ganz billigen Ressentiments einer solchen Frage ausweichen wollten.“ 405 Den millionenfachen Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden, von Lilje hier schlicht als „Judenfrage“ tituliert, nötige erzwungenermaßen zu nachfolgender Auseinandersetzung und Aufarbeitung, die für den Theologen dann aber mit einem etwas lapidaren „Wort der Buße“ zu tätigen sei. Die Option indessen, sich nicht oder in der falschen Art mit dem von Deutschland ausgehenden Genozid zu beschäftigen, erscheint Lilje als eine nach außen sichtbare Blamage der nationalen Würde, die es, auch zum Preis eines mitunter peinlichen Bußwortes, zu verhüten gelte. Liljes Wunsch nach dem Erhalt deutschen Ansehens als Ziel der Auseinander‐ setzung mit dem Nationalsozialismus und dessen mörderischen Verfolgungen korrespondieren mit seinem Engagement zur Wiedererlangung nationaler Schlagkraft in der Wiederbewaffnungsfrage. Mitte der 1950er Jahre machte Lilje als Verfechter der Adenauer-Regierung und insbesondere der Gründung der Bundeswehr Schlagzeilen, eine Position, die ihm den Titel „NATO-Bischof “ 7.1 Biographische Hinführung 199 406 Im sich verschärfenden Ost-West-Konflikt bezog Lilje bald eine klar antikommunisti‐ sche Position und bekannte sich zur Bindung an den Westen, mit dem er die „Rettung des ‚christlichen Abendlandes‘ und des von ihm verwalteten Menschenbildes“ identi‐ fizierte. Vogel, Kirche, 96. Zusammen mit Akademieleiter Eberhard Müller war Lilje Mitbegründer des „Kronberger Kreises“, eines kirchlichen Zirkels, der sich klar für die Politik der Regierung Adenauer, Westbindung und Remilitarisierung aussprach. Schlüs‐ selschrift des Kreises war die von einigen Landesbischöfen, darunter Lilje, unterschrie‐ bene Denkschrift „Wehrbeitrag und christliches Gewissen“ aus dem Februar 1952, die theologische Einwände in der Debatte um die Wiederbewaffnung prinzipiell ausschloss: „Die Behauptung, es sei dem Christen gewissensmäßig unmöglich, für einen deutschen Wehrbeitrag zu stimmen oder sich an seiner Verwirklichung zu beteiligen, ist nicht in göttlichen Weisungen begründet,“ heißt es an zentraler Stelle der Schrift. Z.n. Lutz Hoeth, Die Evangelische Kirche und die Wiederbewaffnung Deutschlands in den Jahren 1945-1958. Diss. TU Berlin 2008, 141-154, hier: 152; vgl. Hendrik Meyer-Magister, Wehrdienst und Verweigerung als komplementäres Handeln. Individualisierungsprozesse im bundesdeutschen Protestantismus der 1950er Jahre. Tübingen 2019 (Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 7), 202-213. Die behauptete Neutralität der Theologen wurde einhellig als Zustimmung zur Wiederbewaffnung verstanden. Vogel, Kirche, 166 ff.; Uwe Walter, Welt in Sünde - Welt in Waffen. Der Streit um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die Evangelische Akademie Bad Boll. Bad Boll 2006, Internet: On‐ line-Texte der Evangelischen Akademie Bad Boll, https: / / www.ev-akademie-boll.de/ fil eadmin/ user_upload/ 04_Akademie/ 01_Akademie/ Walter_Welt_in_Suende.pdf, zuletzt geprüft am: 30.8.2022, 7. Da die Schrift zudem den Anschein erweckte, für die Gesamt‐ heit der evangelischen Kirche zu sprechen, löste sie nicht nur eine Debatte innerhalb der EKD, sondern auch ein entsprechend breites Echo in der westdeutschen Presse aus: „Bischöfe warnen vor Waffenlosigkeit“ titelte etwa die Wiesbadener Kurier am 19.-Februar 1952. „Theologen bejahen Wehrbeitrag“ lautete die Überschrift in Die Welt am gleichen Tag. Meyer-Magister, Wehrdienst, 211; Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises. München 1999 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 2), 100-102; Walter, Welt, 6. Zum „Kronberger Kreis“ und insbesondere seiner Unterstützung der Bonner Politik siehe Anselm Doering-Manteuffel, „Die ideologische Blockbildung im Kalten Krieg und ihre Bedeutung für den westdeutschen Protestantismus in den 1950er und 1960er Jahren“, in: Mehlhausen, Joachim; Siegele-Wenschkewitz, Leonore, Zwei Staaten - zwei Kirchen? Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. Ergebnisse und einbrachte. 406 Dabei trat er nach wie vor für eine möglichst weitreichende Eigenständigkeit der kirchlichen Organisationsstrukturen innerhalb der natio‐ nalen Herrschaft ein. Liljes Verständnis des Verhältnisses von Kirche zum neuen Staat äußert sich besonders beredt in einem Schreiben aus dem unmittelbaren Vorfeld der bundesrepublikanischen Staatsgründung. Am 3. März 1949 schrieb der Landesbischof im Auftrag des Rates der EKD an den Parlamentarischen Rat, als dieser über die verfassungsmäßige Verankerung der Schulpflicht für die BRD debattierte. Gegen diesen Passus insistierte Lilje auf der Unabhängigkeit der Kirchen und ihrer pädagogischen Einrichtungen. Die Freiheit der Schulwahl und die Selbstbestimmung konfessioneller Erziehungsinstitutionen müssten, so 200 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal Tendenzen der Forschung, Leipzig 2000, 33-45, hier: 39-42; Sauer, Westorientierung. Seine Position in der Remilitarisierungsdebatte kostete Lilje 1961 die Wahl zum EKD-Ratsvor‐ sitzenden, da sich Mitglieder der ostdeutschen Kirchen weigerten, den „NATO-Bischof “ ins höchste Amt der damals noch gesamtdeutschen evangelischen Kirchenorganisation einzusetzen. „Frieden schaffen - mit oder ohne Waffen? Die evangelische Kirche und die Wiederbewaffnung“, in: Schwennsen, Carola; Dahling-Sander, Christoph, Jahrbuch 2016/ 2017 der Hanns-Lilje-Stiftung. Hanns Lilje neu entdecken: Dialoge stiften damals und heute, Hannover 2016, 13; vgl. Perels, „Theologie“, 255. Obwohl von den ostdeutschen Teilnehmenden geprägt, war die Bezeichnung „NATO-Bischof “ bald in Gesamtdeutschland für Lilje geläufig. Siegmund, Bischof, 381; Uden, Publizist, 48. 407 Hanns Lilje, „Schreiben D. Liljes an den Parlamentarischen Rat“, Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 76 (1949 (1950)), 44-45; vgl. Michael J. Inacker, Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918-1959). Neukirchen-Vluyn 1994, 261; Scholz, Kirchen, 463. 408 Uden, Öffentlichkeit, 49 f.; ders., Publizist, 264. Lilje, gegenüber dem Staat gewährleistet bleiben. In seiner Begründung heißt es, dass ein staatlicher Einfluss auf die Kirchen der „Machtvollkommenheit“ stets wechselnder Regierungsfraktionen Vorschub leiste und somit „Ausdruck einer totalitären Staatsauffassung“ sei. Solange indessen die staatliche Herrschaft die konfessionellen Selbstbestimmungsrechte unangetastet ließe, werde die Kirche keinerlei Einspruch erheben gegen die Verfasstheit des neuen Staates. Die Verantwortung der Christen, so Lilje, finde einzig vor Gott statt und sei „von dem Wechsel der Staatsform unabhängig“. 407 Über den Wechsel der politischen Systeme hinweg trat Lilje als rigoroser Verfechter der kirchlichen Unabhängigkeit auf, während er gleichzeitig das Aufgehen der Kirche in der staatlichen Manifestation der Nation als ihre Raison d’Être begriff. Eben dieses Verhältnis von Kirche und Staat steht auch im Zentrum von Liljes Faschismuskritik, die er 1947 in seiner Schrift Im finstern Tal ausbreitete. Erschienen im Jahr von Liljes Weihe zum Landesbischof, steht die Haftschilderung gewissermaßen am Beginn seiner Karriere in der Nachkriegszeit und leistete einen wichtigen Beitrag zu seiner Stilisierung als Gegner des Nationalsozialismus. Darin formulierte Lilje zudem prinzipielle Gedanken zur Verfasstheit einer seitens der Kirche zu stützenden Herrschaft. Im finstern Tal schildert Liljes Verhaftung, Verurteilung vor dem Volksgerichtshof sowie die Gefangenschaft in den Gefängnissen Berlin-Moabit, Berlin-Tegel und Nürnberg bis zur Befreiung durch die Alliierten. Bereits bei Erscheinen erreichte der Text laut Uden einen überaus „großen Rezipientenkreis“ und stellt mit seinen 70.000 Exemplaren Auflage bis heute eine „Ausnahmeerschei‐ nung“ unter Liljes Schriften dar. 408 Viele Zeitgenoss: innen lasen den Text als christliche Märtyrerschrift und also als Zeugnis der stärkenden Wirkung des 7.1 Biographische Hinführung 201 409 Uden, Öffentlichkeit, 49f. 410 Ludwig, Lilje, 74; „Hanns Lilje - Kirchenführer“, 9. 411 Simon Benne, „Hanns Lilje: Der Bischof, der Krieg und die Haft“, Internet: Hanno‐ versche Allgemeine, https: / / www.haz.de/ Nachrichten/ Kultur/ Uebersicht/ Neue-Biogra fie-ueber-Hanns-Lilje-wird-imHistorischen-Museum-vorgestellt, zuletzt geprüft am: 12.2.2020. 412 Oelke, Lilje; Perels, „Theologie“; Siegmund, Bischof; Uden, Publizist. 413 Uden, Publizist, 43, vgl. 264f.-i.F. Glaubens angesichts des Hafterlebnisses. 409 Bis heute wurde Im finstern Tal in vier Sprachen übersetzt 410 und in der BRD immer wieder aufgelegt, zuletzt 2016 im Lutherischen Verlagshaus. Die Neuausgabe besprach die Hannoversche Allgemeine Zeitung wohlwollend als überaus lesenswertes „Zeitdokument und bewegendes Glaubenszeugnis“. 411 Als solchen liest ihn auch die Mehrheit der Sekundärliteratur: Im finstern Tal stelle einen authentischen Bericht dar, mit dessen Hilfe sich der historischen Person Lilje angenähert werden könne, 412 auch wenn mitunter die historische „Korrektheit“ des im Text Geschilderten angezweifelt bzw. widerlegt wurde. 413 7.2 Apologie des belasteten Anwärters Die Debatte um den Rücktritt des belasteten Hannoveraner Landesbischofs August Marahrens hatte gezeigt, welche Nachwirkungen die Betätigungen auch kirchlicher Würdenträger während des NS-Regimes für deren Posten in den Strukturen des besetzten Nachkriegsdeutschlands haben konnten. Obwohl Marahrens eine der zentralen Figuren des „Kirchenkampfes“ auf Seiten der BK gewesen war (dessen Vorsitz er bis 1936 immerhin innehatte), überzeugten innerkirchliche Bedenken hinsichtlich seiner Äußerungen zum Krieg sowie die darin vermutete Nähe zur Ideologie des NS-Regimes schließlich auch die britische Siegermacht davon, dass die belastete Figur vom exponierten Posten des Landesbischofs entfernt werden müsse. Die Vermutung liegt nahe, dass die Umstände des Rücktritts seines Dienstherrn Lilje, mit Blick gerade auf seine eigenen Äußerungen zu Krieg und der Notwendigkeit des persönlichen Opfers, besonders aufwühlten. Als Marahrens’ „Adjutant“ dürfte Lilje zumin‐ dest indirekt auch im Schussfeld der Kontroverse gestanden und folglich das Bedürfnis verspürt haben, sein Verhältnis zum Nationalsozialismus sowie seine Rolle in diesem klarzustellen. In jedem Fall galt es, dies im Zuge der Marahrens-Nachfolge zu tun. Lilje musste davon ausgehen, dass im Rahmen der alliierten Denazifizierung jeder Aspirant auf den zu besetzenden Posten des 202 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 414 „Dies Büchlein ist nichts anderes als ein Bericht, der nur wahrheitsgetreu erzählen, aber nicht dramatisieren oder heroisieren will und der mit der Öffentlichkeit so viel und so wenig zu tun hat wie ich selbst.“ Lilje, Im finstern Tal, 9. Alle Verweise auf diese Textausgabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel Tal. Hannoveraner Landesbischofs einer besonderen Untersuchung ausgesetzt sein würde. Im finstern Tal schildert Liljes Inhaftierung durch die Geheime Staatspolizei im Umfeld des Attentatsversuchs vom 20. Juli 1944, die Haftbedingungen sowie Bombardierungen im Gefängnis Berlin-Moabit, die politischen Prozesse vor dem Volksgerichtshof, an deren Ende in den meisten Fällen eine Verurteilung zum Tode stand. Anders als etwa Vermehrens Reise durch den letzten Akt, in dem das persönliche Erleben Ausgangspunkt elaborierter Analysen mit Allgemeingültigkeitsanspruch wird, fokussiert Im finstern Tal ganz auf die Erlebnisse seiner Hauptfigur mit der NS-Gewalt. Bereits im Vorwort stellt Lilje seinen Text als subjektiven Bericht vor, der in seiner beschränkten Sicht weder Anspruch auf das Erläutern historischer Zusammenhänge erhebe noch einen besonderen Stellenwert innerhalb der Literatur über die nationalsozialistischen Verfolgungen anmelde. „[T]ausend Andere“, so der Theologe, hätten „Ähnliches wie ich, Ungezählte noch Schlimmeres durchgemacht“. Lilje spricht von einem ganz privaten Bedürfnis, mit seinem Text einigen Personen - seiner Familie, Gemeinde, aber auch seinem „alten Bischof “ (d. i. Marahrens) - für die Stärkung zu danken, die diese ihm in der Haft bedeutet hatten. 414 Das Vorwort ist eine Einladung, den Text als Bericht eines „schlichten Christenmenschen“ (Tal, 9, 120) zu verstehen, seine Sprecherfigur als Person minus seines öffentlichen Status, seiner Titel, Auszeichnungen und Rollen innerhalb von Kirchen- und Staatsstrukturen. In ähnlicher Weise ist Liljes Verhandlung seiner eigenen Beteiligung in „Kirchenkampf “ und Bekennender Kirche auffällig, die er einerseits andeutet, andererseits aber nicht explizit zur Sprache bringt. Im finstern Tal beginnt mit der Schilderung von Liljes morgendlichem Aufbruch von der Burg Bodenstein im Eichsfeld ins Tal. Allein reist er von der dortigen Bahnstation heim nach Berlin, wo er am selben Nachmittag verhaftet wird (Tal, 11-13). Lilje will den Frühzug nehmen, weswegen er noch im nächtlichen Dunkel aufbricht. Die Wanderung durch den Augustmorgen schildert eine Naturidylle, in der sich jedoch Vorzeichen eines kommenden Übels mischen, die sich verdichten, je mehr Auswirkungen des Kriegs Liljes Weg nach Berlin begleiten: Luftalarm, ungewisses Warten und die Sorge um die Zerstörung des Heims (ebd., 12). Der Aufenthalt auf dem Burgberg war, so scheint es, lediglich ein kurzer Dispens vom Aufenthalt im „finstern Tal“ von Krieg und - ex post - Gefangenschaft, in 7.2 Apologie des belasteten Anwärters 203 415 Jobst von Wintzingerode, Gräfin Gisela von Wintzingerode-Bodenstein und die Burg Bodenstein als Treffpunkt der Bekennenden Kirche. Persönliche Mitteilung, Telephonat. Gehrden-Leveste, 24.3.2020. 416 Uden, Publizist, 36f. welches er sich nun wieder begibt. Indessen scheint es keinen Grund dafür zu geben, dass Lilje die Nachtwanderung auf sich nimmt: Angekommen in Berlin erwarten ihn keine Terminverpflichtungen bis zum folgenden Sonntag, an dem er eine Predigt halten soll. So legt er sich erst einmal schlafen, um den Schlaf nachzuholen, der ihm einzig durch den frühen Aufbruch in Thüringen fehlt (ebd.). Burg Bodenstein war bis Kriegsende im Besitz von Gisela Gräfin von Wintzingerode-Bodenstein, geborene Gräfin von der Schulenburg. Diese hatte in den 1940er Jahren die Burg der BK als Treffpunkt zur Verfügung gestellt; an den Treffen nahmen neben Lilje auch die späteren sächsischen Bischöfe Hugo Hahn sowie Ludolf Hermann Müller teil. 415 Davon berichtet Im finstern Tal nichts, sondern liefert einzig den Verweis auf den Ort, von welchem aus Lilje an diesem Augustmorgen 1944 aufbricht. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass Lilje implizieren will, sich auf einem konspirativen Treffen befunden zu haben, und den frühen Aufbruch nutzt, möglichst unerkannt wieder in Berlin zu er‐ scheinen, sodass seine Absenz nicht auffalle. Indessen bleibt der Verweis derart vage, dass sich die Anspielung nur den in den „Kirchenkampf “ Eingeweihten erschlossen haben dürfte. Mit Bedacht verortet Lilje seine Inhaftierung gleich zu Beginn im Kontext seiner Beteiligung an der NS-Opposition, ohne aber dabei konkrete Treffen, Ereignisse oder Handlungen auch nur zu benennen. Mit besonderem Nachdruck weist Lilje darauf hin, dass sein Text wahrheits‐ getreu Auskunft geben solle über die inneren Vorgänge und Reaktionen auf seine Inhaftierung. Mitnichten aber sei Im finstern Tal etwa mit Blick auf die außerliterarische Öffentlichkeit hin verfasst. Sowohl der Zeitpunkt der Publikation im Jahr der Ernennung zum Landesbischof, die Umstände des Rück‐ tritts seines Vorgängers und nicht zuletzt das ostentative Zurückweisen seiner außerliterarischen Bedeutung sprechen indessen für ein geplantes Lancieren von Im finstern Tal in ebenjener Öffentlichkeit, in der sich der Kirchenmann Lilje für die Marahrens-Nachfolge ins Spiel brachte. Hanns Lilje wurde im Umfeld des Attentatsversuchs vom 20. Juli 1944 inhaftiert und vor dem Volksgerichtshof angeklagt. In seiner Reflexion der Haft indessen gibt Lilje an, zunächst im Unklaren über die Zusammenhänge zu sein, die zu seiner Gefangennahme durch die Gestapo führten. Seit den 1920er Jahren war Lilje ein gefragter Vortragsredner, dessen Reisen ihn noch während des Kriegs in verschiedene deutsche Städte geführt hatten. 416 Im Zusammenhang mit diesen Reisen gibt er an, bereits vor seiner Verhaftung mit „Ausweisungen, 204 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 417 Vgl. ebd., 40. befristete[n] Redeverboten, Entzug des Reisepasses, […], wiederholte[n] Ver‐ höre[n]“ belegt worden zu sein. Lilje wertet diese Maßnahmen zunächst schlicht als Nebenwirkungen der Prominenz, gegenüber welcher das Regime besonders misstrauisch aufgetreten sei. Dies gelte insbesondere für seine Vorträge, die von bis zu mehreren Tausend Menschen gehört wurden, sowie für seine kirchlichen Auslandskontakte, die ihm Zugang zu internationalen Debatten und Publikationen gewährt hatten (Tal, 24, 41). „Das alles war nun zwar weit entfernt davon, staatsgefährlich zu sein. Für jeden Christen, ja schon für jeden halbwegs vernünftigen Menschen war ganz klar, daß hier überhaupt keine politischen Dinge im eigentlichen Sinne verhandelt wurden; aber natürlich war ich nicht naiv genug zu übersehen, daß alles dies trotzdem das höchste Mißfallen der Gestapo erwecken mußte. Was ihnen schon bei uns zuhause als christliche oder kirchliche Opposition vorkam, das mußte natürlich, wenn es aus dem ‚Ausland‘ kam, doppelt verdächtig erscheinen.“ (Ebd., 22 f.) Ohne staatsfeindlichen oder überhaupt politischen Inhalts zu sein, wertet Lilje seine Betätigungen während der NS-Herrschaft als mit einem kalkulierten Risiko behaftet. Die verschiedenen Ahndungen seitens des nationalsozialisti‐ schen Staates seien somit schlicht „lauter Mahnmale, wie sie den Weg vieler rechtschaffener Deutscher, die das öffentliche Leben nicht ganz vermeiden konnten, zierten.“ (Ebd., 25) In die Verhöre durch die Gestapo begibt sich Lilje somit zunächst unbesorgt, da er den NS-Organen im Bewusstsein der eigenen Rechtschaffenheit begegnen kann. Er gibt an, nicht den Grund seiner Verhaftung in Erfahrung bringen zu können. Ein konkreter Anlass läge nicht vor. Lilje tritt auf in „dem Bewußtsein, ein friedlicher Bürger zu sein, dem im Ernst nichts nachzuweisen war“, als welcher er meint, die Gestapo begegne insbesondere seiner Vortragstätigkeit mit unverhältnismäßiger und irrtümlicher Aufmerksamkeit. Erst im Verlauf der Verhöre erschließt sich ihm, dass er aufgrund der Aussage Carl Friedrich Goer‐ delers ins Visier der Gestapo kam. Dieser hatte den Theologen als Anlaufstelle bei seinen Fluchtplänen benannt (Tal, 47). 417 In der Folge wurde Lilje hinsichtlich seiner Bekanntschaften und Tätigkeiten innerhalb der Widerstandsgruppen um den 20. Juli sowie seiner Auslandskontakte befragt (ebd., 31 f., 37 f.). „Das sachliche Ergebnis des ersten Vernehmungstages war ganz eindeutig; es stand fest, daß meine Beziehungen zu den ‚Verschwörern‘ rein seelsorgerlicher Natur waren, so zahlreich sie auch waren.“ (Ebd., 37) Da die Gestapo keine direkte In‐ volvierung in das Hitlerattentat feststellen kann, konzentrieren sich die Verhöre 7.2 Apologie des belasteten Anwärters 205 418 Vgl. Oelke, Lilje, 233, 355, 374 f.; Uden, Publizist, 39. 419 Laut Uden bezog Lilje diese Position auch nach Kriegsende wiederholt in Abgrenzung zu etwa Dietrich Bonhoeffer. Diesen bezeichnete Lilje als „politischen Theologen“, der weitaus aktiver (und kritisch) die Tagespolitik kommentiert habe. Ebd., 40f. bald auf Liljes Vortrags- und Predigttätigkeit. Bald ist Lilje davon überzeugt, in diesen den „wahre[n] Grund für meine Haft“ gefunden zu haben, da Orte, Zeiten und Inhalte von der Gestapo seit Jahren genauestens dokumentiert worden zu sein scheinen (ebd., 41 f.). 418 Liljes Schluss aus dieser Überzeugung ist die Feststellung, die Gestapo habe ihn „der gefährlichsten Gruppe zugeordnet“, „der höchsten Gruppe der staatsgefährlichen Gefangenen zugerechnet“, und suche nur nach einem Anlass, das Todesurteil über ihn fällen zu können (ebd., 15, 31 f., vgl. 77). Ging Lilje „sozusagen mit privatem Optimismus“ in seine Verhöre, konstatiert er an deren Ende, Teil eines Prozesses geworden zu sein, in dem ihm „der heiße Atem schwerster geschichtlicher Entscheidungen“ anwehe (ebd., 31). Lilje identifiziert sich in Im finstern Tal eindeutig als Kritiker des Nationalso‐ zialismus: „Was man mir von dieser Seite her vorwerfen konnte, war uferlos“, meint er mit Blick auf seine Haltung dem Regime gegenüber (Tal, 25 f.). Weiter nimmt er für sich in Anspruch, mit den Widerständlern um den 20. Juli eine „gemeinsame politische Oposition [sic! ]“ gehabt zu haben (ebd., 57). Indessen habe Liljes Vorsicht, weder in Wort noch Tat Anlass zu einer juristischen Ahndung zu geben, ihn bislang vor der Verhaftung bewahrt. Gegenüber dem Verhörführenden insistiert er: „Sie müssen aber doch zugeben, daß ich mich bemüht habe, keinen berechtigten Anstoß zu geben.“ (Ebd., 41) 419 Mit Bedacht habe Lilje seine Vorträge und Aufsätze derart formuliert, dass bei den Vertretern des NS-Staates kein Verdacht habe aufkommen können über die vermeintliche Opposition des Theologen. In den Verhören jedoch muss er feststellen, dass diese Tarnung gegenüber dem Verhörführer nicht den erhofften Erfolg brachte: „Die ‚Verschwörer und Verräter‘ würden mich nicht in dem Maße seelsorgerlich und als Pfarrer in Anspruch genommen haben, wenn sie nicht Anlaß gehabt hätten zu der Überzeugung, daß ich, auch ohne politische Aktivität im einzelnen, einer der entschlossensten geistigen Gegner des Nationalsozialismus sei. Hier erwies sich, daß die Gestapo von meiner Vortragstätigkeit viel mehr verstanden hatte, als meine Freunde immer anzunehmen geneigt waren; er jedenfalls hatte sich durch geschickte Formulierungen nicht täuschen lassen.“ (Ebd., 40) Liljes Vorträge und Predigten hätten an keiner Stelle konkrete Anliegen verhan‐ delt, sondern sich ausschließlich mit theologischen Fragen von „prinzipielle[r] Tiefe“ beschäftigt (Tal, 39). Mit „Fragen zweiter Ordnung“ (ebd., 42) oder gar Debatten um das tagespolitische Geschehen habe er sich nicht aufgehalten. 206 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal Lilje selbst versteht sich als Verkündiger und Exeget des Evangeliums als einer höheren Wahrheit, welche über weltliche Belange hinausweise und diese nur unwesentlich tangiere. Kritische Aussagen zum NS-Regime und dessen Politik habe die Gestapo somit nicht dokumentieren können. Mit Erstaunen stellt Lilje während des Verhörs fest, wie kritisch seine Reden tatsächlich aufgefasst werden konnten: „Warum greifen Sie den Nationalsozialismus fortgesetzt an? […] Sehen Sie - Schuß um Schuß ins Schwarze! ,“ konstatiert einer seiner Verhörführer. „Es war unerwartet aufschlußreich für mich, eine so unmittelbare, gleichsam amt‐ liche nationalsozialistische Reaktion auf meinen Vortrag anzuhören; ich kann nicht leugnen, daß meine Ausführungen mir plötzlich in einer Schärfe erschienen, die mir bis dahin selber kaum bewußt gewesen war. Ich hatte das Evangelium verkündigen und christliche Grundüberzeugungen erklären wollen, weiter nichts; […] ich hatte weder billigen rhetorischen Ruhm noch den Glanz des Märtyrers gesucht. Nun erwies sich, daß diese Tätigkeit in viel höherem Maße, als mir während meines Dienstes bewußt geworden war, auch eine Eingliederung in jene große geschichtliche Frontbildung gewesen war, die mir bei meinem ersten Verhör so blitzartig bewußt geworden war.“ (Ebd., 41 f.) Lilje habe lediglich durchgesetzte Dogmen der Kirche geäußert und diese mitnichten im Sinne einer politischen Exegese vorgebracht. Um „billigen rhe‐ torischen Ruhm“ und „den Glanz des Märtyrers“ sei es ihm nicht gegangen. So erstaunt es ihn, dass sich die Gestapo nicht an seiner getarnten Kritik stößt, sondern an der gänzlich unpolitischen, rein christlichen Botschaft: „Genau wegen solcher Reden sitzen Sie hier! “ (Ebd., 41) An dieser Stelle offenbart sich Lilje die prinzipielle Unvereinbarkeit von nationalsozialistischer Staatsdoktrin und christlichem Glauben. Die „Zwänge“ der staatlichen Herrschaft überschritten die politischen Sphären, wo sie mit dem individuellen Glauben konfligierten. Entsprechend ist die Auseinander‐ setzung mit der NS-Euthanasie vorgebracht als Kritik einer als „heidnisch“ abzulehnenden Praxis. Dem Regime wiederum gelten noch die Grundsätze des Christentums als feindlich und also als zu ahnende oppositionelle Äußerungen. Lediglich durch das Verkünden christlicher Grundlehren also gerät Lilje in Im finstern Tal als Oppositioneller ins Visier der Gestapo. Die Einsicht dieser prinzipiellen Unvereinbarkeit stellt Lilje in der Folge auch auf Seiten des Regimes, bei seinem - freilich rhetorisch inkompetenten - Verhörführer, fest: „Er spürte selber deutlich die Unentrinnbarkeit und das Unausweichliche in dem Gegensatz zwischen christlichem Glauben und Nationalsozialismus; wenn er die Formulierungen dafür gehabt hätte, würde er selber zugegeben haben, daß es 7.2 Apologie des belasteten Anwärters 207 420 Nach derzeitigem Kenntnisstand ist die obige Änderung der einzige nachträgliche Eingriff in den Text. Eine dezidierte textkritische Untersuchung der verschiedenen Ausgaben stellt indessen ein Desiderat der Forschung dar. zwischen der Ersatzgläubigkeit des NS-Fanatismus und dem, was der Christ im Glauben bekennt, keine Verbindung geben konnte, daß jene fanatische Gläubigkeit des Nationalsozialismus, die eine vollständige Ersatzreligion, wenngleich nihilistischer Prägung war, den christlichen Glauben ausschloß, weil sie das Erste Gebot: ‚Du sollst keine andern Götter haben neben mir‘, nicht gelten lassen konnte, und darum auch alle anderen Gebote nicht.“ (Ebd., 43, Herv. im Orig.) Lilje gibt sich als Systemkritiker, der aufgrund maßgeblicher Kontakte zur militäri‐ schen Opposition um den 20.-Juli festgenommen wurde. Für die Gestapo aber ist es vor allem die von Lilje in Wort und Schrift ausgebreitete christliche Botschaft, die ihn zum zu beseitigenden Staatsfeind macht. Sowohl aus der Sicht des Christen Lilje wie auch aus der Perspektive des NS-Staates erscheint das Christentum unvereinbar mit der nationalsozialistischen Ideologie. Wie kritisch der Nationalsozialismus die Äußerungen eines Gläubigen aber auffasst, geht auch Lilje erst im Nachvollzug ihrer quasi amtlichen Deutung auf. Im finstern Tal präsentiert den Glauben selbst als staatsfeindliche Haltung, dessen (öffentliches) Einstehen ein Risiko berge, das sogar mit Haft und Todesurteil bestraft wurde. Es sind Liljes Äußerungen als Gläubiger und Theologe, die zu seiner Festnahme und der Anklage vor dem VGH führen; sie sind der Inhalt seines Antifaschismus: Der „eigentliche Anstoß, den die Gestapo an mir genommen hatte“, war „seit langem an meiner Verkündigung entstanden“ (Tal, 52). Im Epilog fasst Lilje seine Schrift zusammen als „Bericht eines schlichten Christenmenschen, der, obwohl er nichts anderes als ein Prediger des Evangeliums war, in die Hände der Gestapo fiel“ (ebd., 120). In diesem Zusammenhang scheint Lilje auch eine Textänderung vorge‐ nommen zu haben, mit der Im finstern Tal ab der 2. Auflage erschien. Bei der Schilderung von Goerdelers Hilfegesuch an Lilje für seine Flucht nach Schweden wurde ein Satzteil gestrichen. 420 Erstausgabe 1947 Folgende Ausgaben „Auch Goerdeler scheint über dies At‐ tentat anderer Meinung gewesen zu sein als Stauffenberg; aber als er später auf der Flucht um meinen Rat bat, habe ich ihm geholfen, wie es die Kirche in vergan‐ genen Jahrhunderten oft getan. Die als „Auch Goerdeler scheint über dies At‐ tentat anderer Meinung gewesen zu sein als Stauffenberg; aber als er später auf der Flucht um meinen Rat bat, habe ich ihm geholfen, wie es die Kirche in ver‐ gangenen Jahrhunderten oft getan. Diese 208 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 421 Innerhalb der Lilje-Forschung herrscht Uneinigkeit über die ausgesetzte Belohnung. Relativ sicher ist, dass Lilje eine solche nie erhalten hat. Unklar ist hingegen, ob ihm die Million angeboten worden war, „weil er Goerdelers Besuch bei Hitlers Schergen angezeigt hatte,“ oder ob er das Weitergeben der Information trotz des ausgesetzten Geldbetrages ausschlug. Schwabe, „Entzauberung“; vgl. Siegmund, Bischof, 87; Oelke, Lilje, 379f. Erstausgabe 1947 Folgende Ausgaben Belohnung für seine Ergreifung ausgesetzte 1-Million schlug ich also aus, und daß ich ihm geholfen habe, habe ich später vor der Gestapo zugestanden.“ (Tal, 25, Herv. J.V.) Tatsache habe ich später vor der Gestapo zugestanden.“ Hanns Lilje, Im finstern Tal, 61.-63. Tausend. Nürnberg, ca. 1960 [1947], 26. Innerhalb der Erzählstrategie von Im finstern Tal lässt sich die Streichung viel eher so verstehen, dass Lilje gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen mochte, profane Belange wie ein Lösegeld interessierten ihn und hätten gar Einfluss auf seine Entscheidung zu Gewähren oder Ablehnen einer Fluchthilfe. Der Gedanke an einen eigenen Vorteil in Form eines materiellen Profits sei an Lilje gänzlich verschwendet. 421 Auch habe er Goerdeler nicht etwa aus Sorge oder Freundschaft - für ihn Befindlichkeiten - geholfen, sondern einzig unter Berufung auf die Kirchentradition. Seine Hilfe zeuge mitnichten davon, Goerdelers umstürzlerische Absichten persönlich zu unterstützen, sondern sei ein Glaubensakt ähnlich der Gewährung kirchlichen Asyls. Lilje verweist darauf, dass sich, ähnlich wie Goerdeler, viele Menschen im Verlauf der NS-Herrschaft wieder den Kirchen zugewandt hätten. „Je weiter die innere Zerstörug [sic! ] fortschritt, um so mehr hatten Viele in den christlichen Kirchen den Hort geistiger und geistlicher Unabhängigkeit sehen gelernt. […] Es war klar, daß der einzige Boden einer unabhängigen geistigen Existenz in jenen Jahren die Kirche war; und die Männer und Frauen suchten dort mehr, als nur geistige Unabhängigkeit im Sinne des älteren Liberalismus.“ (Tal, 57 f.) Die Kirchen seien Rückzugs- und Schutzräume vor dem Zugriff der Obrigkeit gewesen, Orte, an denen eine freie Verständigung weitgehend möglich war und blieb. Lilje selbst erlebte die Teilnahme an Versammlungen einer ökumenischen Gruppe als „Tafelrunde“, an der die Queste vom Bewahren dieser Freiheit geplant und durchgesetzt worden schien (ebd., 57). Als Sprecher des christlichen Glaubens befindet sich Lilje in Im finstern Tal im prinzipiellen Widerspruch zum Nationalsozialismus. Die Grundwerte des Chris‐ tentums scheinen unvereinbar mit der Ideologie des NS-Staates, die Gestapo 7.2 Apologie des belasteten Anwärters 209 identifiziert in ihnen gar eine staatsgefährdende Bedrohung. In den Modus eines negativen Bezugs zum NS-Staat begibt sich Lilje jedoch erklärtermaßen nicht: Äußerungen zur Politik oder ideologischen Inhalten des Nationalsozialismus, geschweige denn eine Kritik an diesen kommen in Im finstern Tal schlicht nicht vor. Lilje äußert sich ausschließlich als Christ. Das aber wird ihm von außen als Widerstand attestiert. Noch das Bewusstsein einer oppositionellen Haltung wird von der Gestapo erst an Lilje herangetragen: Erst in Haft - und damit quasi nachträglich - akzeptiert er die Rolle des Staatsfeindes, mit der die Gestapo ihn konfrontiert: „Wenn ich das alles im Dritten Reich nicht sagen darf, sitze ich gerne hier“ (Tal, 42). Diese Schilderungen stehen in augenfälligem Kontrast zu Liljes Äußerungen bis zu seiner Inhaftierung im August 1944. Noch auffälliger ist jedoch, dass Lilje in Im finstern Tal schildert, sich in Haft kritisch mit der eigenen Biographie auseinanderzusetzen, seine Kriegspredigten und seit 1933 publizierten Schriften indessen mit keinem Wort erwähnt werden: „Und nun beginnt die große Revision. Das ist zunächst Schritt für Schritt ein Weg in die Tiefe. Bild um Bild steigt aus der Vergangenheit auf, längst vergessene Szenen aus völlig vergessenen Winkeln. […] Es ist ein Gefühl völliger Wehrlosigkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit; nichts, keinen einzigen Handschlag kann ich mehr an ihr ändern, mit unabänderlicher Abgeschlossenheit steht sie da.“ (Tal, 80 f.) Die Zelle als Mönchsklause biete Lilje die Möglichkeit zu innerer Einkehr und Selbstrevision. Die „Revisionen“, die Lilje sich dann aber vorlegt und aufgrund derer er Schuld verspürt, betreffen einzig seine Funktion als Seelsorger und Theologe: So versetzte Lilje einmal - unverschuldet - einen Soldaten auf dem Weg zur Front und „betrog“ ihn so um ein geistliches Gespräch, bevor dieser seinem potentiellen Tod entgegenfuhr (ebd., 79-81). Indem Lilje sich einzig als Christ äußert, erklärt er sich zur vom Zugriff der politischen Sphäre unabhängigen Figur, die überdies in der Lage ist, die Zusammenhänge der Welt vom Standpunkt letztgültiger Wahrheit zu erkennen. 7.3 Das Leid als geistige Bereicherung Als Christ lebt Lilje mit der Gewissheit göttlicher Gerechtigkeit, nach welcher alle weltlichen Phänomene lediglich als Teile des Gottesplans vorkommen. Diese Gewissheit kommuniziert Im finstern Tal von Beginn an: Als Motto stehen dem Text zwei Verse aus dem Buch Hiob voran (Hiob 12, 22 und 16): „Er öffnet die finstern Gründe und bringt heraus das Dunkel an das Licht. Sein ist, der da irrt und der da verführt.“ Die „unsichtbare Hand Gottes“ lenke allmächtig 210 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal die Geschehnisse der Welt nach Maßstäben, die außerhalb menschlichen Ver‐ ständnisses lägen. Indem er seine Hafterfahrungen vom Standpunkt dieser Abstraktion auf die Maßstäbe göttlicher Zusammenhänge schildert, erscheint ihm auch die Gewalt des Nationalsozialismus als befriedet: Die NS-Opfer, „deren Leben nach Gottes heiligem Ratschluß in jener Zeit der Prüfung zu Ende ging und die ihn durch ein getrostes, gläubiges Sterben gepriesen haben“, seien in Leben und Sterben lediglich von Gott geprüft und darin Teil seines Friedens geworden (Tal, 7, 10, 99). Das biblische Buch der Weisheit zitierend schreibt Lilje: „Ob sie wohl vor den Menschen viel Leidens haben, so sind sie doch gewisser Hoffnung, daß sie nimmermehr sterben. Sie werden ein wenig gestäupt, aber viel Gutes wird ihnen widerfahren; denn Gott versucht sie und findet, daß sie sein wert sind. Er prüft sie wie Gold im Ofen und nimmt sie an wie ein vollkommenes Opfer.“ (Ebd., 10) Irdisches Leid erhält bei Lilje die Qualität eines zu erduldenden Schicksals, welches in der Vorstellung einer göttlichen Weltordnung ins Recht gesetzt ist. So gelte es, das Leid bewusst anzunehmen, es als göttliche Prüfung anzuerkennen und zu affirmieren: „Aber nicht die Bitterkeit darf im Gedenken an sie das letzte Wort behalten, sondern nur das Bewußtsein, daß sich Gottes heiliger Plan über ihrem Leben erfüllt hat, und die Dankbarkeit dafür, daß er ihnen erlaubt hat, im getrosten Glauben in den Tod zu gehen.“ (Ebd., 63) Derart erfährt Lilje auch seine eigene Gefangenschaft als eingeordnet in den ewigen Verlauf des göttlichen Planes. Unmittelbar nach seiner Befreiung schreibt er mit Blick auf die Maiszenerie außerhalb der Gefängnismauern: „Ein Frühling von einer Üppigkeit ohnegleichen deckt das geschlagene, blutende Land, wie ein tröstliches Zeichen dafür, daß unter so viel schmählichem, drückenden Zusammenbruch Gottes ewige, gütige Ordnung weitergeht, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (Tal, 118) Die Phänomenologie des Frühlings gemahnt Lilje an die Ewigkeit der Tag-Nacht- und Jahreszeitenzyklen, in denen er Indizien für die höheren Zu‐ sammenhänge der Welt und darin die göttliche Gerechtigkeit erblickt. Entlang dieser sich im Frühlingsbild offenbarenden zeitlosen Gültigkeit erscheinen ihm individuelles wie kollektives Leid als befriedet. Im finstern Tal präsentiert eine Sprecherfigur, die sich durch das unerschüt‐ terliche Vertrauen darin auszeichnet, dass sein persönliches Leid wie der tausendfache Tod um ihn als Teil des Gottesplans einen Sinn aufweisen, nach 7.3 Das Leid als geistige Bereicherung 211 welchem sie legitimiert sind - auch wenn dieser sich den Maßstäben mensch‐ lichen Denkens verschließt. Lilje schreibt dies vom Telos seiner Befreiung und der Sicherheit des eigenen Überlebens aus. Von diesem aus verlagert er den Gedanken der - insofern erfolgreichen - Erduldung der Gewalt zurück in die Schilderung seiner Haft. In der Erzähllogik der Reflexion offenbart sich so eine Figur, die durch ihren unerschütterlichen Glauben besonders gewappnet ist gegenüber allen Bedrückungen und Qualen im scheinbaren Unwissen über deren Ausgang. Liljes unerschütterlicher Glauben hat direkte Auswirkungen auf sein Erleben der Gefangenschaft. Über die gesamte Länge des Textes scheint Lilje durch nichts betroffen; stets begegnet er der an ihm verübten Gewalt mit Distanz und Überlegenheit. Zu Beginn der Handlung, am Tag der Rückkehr aus dem Eichsfeld in das kriegsgezeichnete Berlin, wird Lilje von der Gestapo seiner Wohnung aufgesucht. Lilje reagiert gelassen, gerade so, als habe er den Besuch und die folgende Inhaftierung bereits länger erwartet: „Ich bin innerlich eigent‐ lich längst gerüstet, und wie ein selbstverständliches Staunen sagt eine dunkle Stimme in mir: Jetzt also ist es so weit.“ (Tal, 13) Lilje begegnet der sich in Gestalt der beiden Gestapo-Beamten auftretenden existentiellen Gefahr mit auffälliger Souveränität. Die folgende Hausdurchsuchung erscheint ihm in ihrer „dilettantische[n]“ Ausführung lediglich aus ein „Vorwand“, die bereits festste‐ hende Verhaftung zu begründen (ebd.). Weiter meint Lilje, einen eingehenden Anruf entgegennehmend, nur gelassen, eine für den Folgetag geplante Predigt nicht werde halten zu können. Als ihn der just vorbeischauende Freund P. zu „einer seltenen Flasche Wein einlädt“ - es ist der Tag vor Liljes Geburtstag -, erwidert dieser nur „mit grimmigem Humor, daß wir diesen hübschen Plan ein wenig verschieben müssen.“ All dies, während die zwei Gestapobeamten „wie böse, wachsame Hunde“ das Gespräch im Nebenraum mit anhören (ebd., 13 f.). Zwar wirkt die Situation bedrohlich, der abgeführte Lilje jedoch tritt betont gelassen auf, während die Repräsentanten der Staatsmacht als die eigentlich Verunsicherten gezeigt sind. Dieser Gestus der Überlegenheit setzt sich nahtlos in der Untersuchungs‐ haft fort. Gegenüber den Gefängniswärtern zeigt er sich missbilligend: Diese „Schrumpfgermanen“, die „nur ein merkwürdiges Deutsch“ beherrschten, seien wenig respekt- oder gar furchteinflößend. Sie genössen lediglich die Mög‐ lichkeit, einmal Macht über Menschen auszuüben, die gesellschaftlich höher stünden als sie selbst. „Nun war es den meisten einfach zu Kopf gestiegen, daß sie als junge Soldaten Generäle und Professoren kommandieren und dabei allen unterdrückten subalternen Komplexen freien Lauf lassen konnten.“ Diese „Komplexe“ müsse man eben ertragen. Doch gibt Lilje den Schikanen mitunter 212 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 422 Vgl. den Rekurs auf die Interpretation des Nationalsozialismus als Nihilismus, etwa bei Vermehren, siehe Kap.-6.3. auch Paroli: „Warum brüllen Sie uns eigentlich so an? […] Regen Sie sich nicht auf - ich bin schon verhaftet - ich bin sogar schon vom Volksgericht verurteilt! Warum gehen Sie völlig überflüssigerweise so grausam mit Gefangenen um? “ Auch die Schikanen der Wachmannschaften beeindrucken Lilje keineswegs, sondern werden von ihm „mit lebhaftem Gegengebrüll“ beantwortet (Tal, 16 f., 26, 64, 100). Der harsche Umgangston hindert Lilje indessen nicht daran, Verständnis für die Wärter aufzubringen: „Es war in den ersten schweren Tegeler Tagen, als der Befehl zur Fesselung noch ganz neu war. Dieser Alte hatte eines Abends vor dem Schlafengehen meine Fesseln abschließen müssen, und als er fertig war, hatte ich es mir nicht versagen können, mit höflichem, weltmännischem Tonfall ‚Danke sehr‘ zu sagen. Wie benommen stand er auf und ging hinaus, kam aber dann sofort wieder herein und sagte fast rauh: ‚Für so etwas brauchen Sie sich doch nicht auch noch zu bedanken‘, worauf ich erwiderte: ‚Sie haben doch nur Ihre Pflicht getan‘ - Zauberwort für jede gute deutsche Beamtenseele! Wenn er noch gewußt hätte, wie man zärtlich wird, wäre er es jetzt geworden. So schritt er nur unverständlich grunzend von dannen.“ (Ebd., 29) Lilje wendet sich auch den Wärtern als Seelsorger zu, zeigt Verständnis und spricht sie in einem Ton an, der diese Figuren auf einer emotionalen, ganz menschlichen Ebene zu erreichen vermag. Liljes Überlegenheit hat aber auch ganz praktische Ausformungen. So zeigt er einmal seinem noch jugendlichen Wärter, wie dieser ihn zu fesseln habe, da der Wärteraspirant die richtige Technik nicht kennt (Tal, 86). Gegenüber den ausländischen Wachmannschaften spricht er sich gar bemitleidend aus. Diese treten zwar ebenso roh wie die übrigen Wärter auf, doch Lilje identifiziert sie als die „bei weitem traurigste und niederdrückendste Menschengruppe in unserem Verließ“. Sie, die zur SS gelockt oder gepresst worden seien, stellten selbst „in einer besonderen Weise Opfer des Dritten Reichs“ dar: „Die meisten von ihnen verkamen einfach, und zwar nicht einmal auf sehr dramatische Weise; Nichtstun und Inhaltslosigkeit, dazu die erzwungene Brutalität fraßen sie von innen her auf. Hinter wievielen dieser immer leerer werdenden Gesichter konnte man noch ohne Mühe den frischen Bauernburschen von einst entdecken! Es ist bitter und schmerzlich zu denken, daß das Dritte Reich unter ihnen nicht weniger Opfer gefordert hat als unter uns.“ (Tal, 26-28) 422 7.3 Das Leid als geistige Bereicherung 213 Faktisch ist Lilje den Wärtern im Gefängnis gänzlich ausgeliefert. Für die meisten von Liljes Mitinsassen stellen sie alltägliche Tyrannen dar. Doch als Christ, der um den Wert jedes einzelnen Menschen weiß, betrachtet Lilje noch diese als der Liebe werte Gottesschöpfungen. Durch seine distanzierte Perspek‐ tive hat er die Fähigkeit, sie noch als Opfer zu sehen, als scheue „Sklaven“, wie es gegenüber den Justizbeamten und Schutzpolizisten des Volksgerichtshofes heißt, gegenüber denen sich die Gefangenen „im Wesen unabhängiger und freier“ fühlten (ebd., 90). Auch den Umständen der Haft, gekennzeichnet durch willkürliche Gewalt und eine sich durch den Kriegsverlauf drastisch verschlechternde Versorgungs‐ situation, begegnet Lilje ab dem Moment seines Betretens der Zelle völlig ungerührt. Mit der lapidaren Einschätzung: „Ich bin mir sofort darüber klar, daß sich vor Montag nichts ereignen kann; heute ist mit allem Schluß“, kommentiert er den „Abschluß“ seines Einlieferungstages (Tal, 17). Auch über den weiteren Haftverlauf heißt es lediglich: „Da im ‚Hausgefängnis‘ der Gestapo ohnehin keine Regel galt, blieb auch die tägliche Willkür ohne sonderlichen Eindruck auf mich; sie war einfach die Atmosphäre, in der wir lebten, und ich war nicht naiv genug, etwas anderes dort zu erwarten.“ Tatsächlich gelingt es ihm, an den Haftzuständen positive Aspekte festhalten. Immerhin, so Lilje, könne man in der Zelle säumigen Schlaf nachholen, während die Haftrationen „die Bedeutung eines guten Trainings oder einer asketischen Disziplinierung“ haben (Tal, 44 f., 105). Noch in der Schlussphase des Kriegs angesichts ausbleibender Nahrungs‐ lieferungen und der allmählich existentiellen Hungergefährdung meint Lilje: „Man kann mit zwei Doppelschnitten Brot auch siebzig Stunden auskommen; wirk‐ lich, man kann es. Im Ernst - ich spüre den Hunger nicht einmal; denn es braucht nun wirklich nicht viel Gemerk, um zu spüren, daß wir Zeugen eines geschichtlichen Zusammenbruchs werden.“ (Ebd., 103, vgl. 109 f.) Über mehrere Wochen wird Lilje in isolierter Einzelhaft gefangen gehalten, un‐ terbrochen nur durch die Verhöre der Gestapo. Dennoch biete ihm gerade diese Isolation die „Möglichkeit zu einer ganz geordneten, durch keine äußerlichen Eindrücke gestörten mentalen und geistlichen Disziplinierung und Übung im Glauben“ (Tal, 46). Als eine solche „Übung“ schildert Lilje auch seine weiteren Verhöre mit der Gestapo. Ihm gelingt der Balanceakt, stets nur die Wahrheit zu sagen und dennoch keinen seiner Bekannten zu denunzieren. Insgesamt erscheinen die Verhöre denn eher als Wortgefechte mit verschiedenen rhetorischen „Geg‐ nern“, für die Lilje „bei aller Absonderlichkeit und Verschiedenheit jenen leisen, unverkennbaren Zug von Sympathie“ verspürt. Den Versuch, ihn einer 214 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 423 Eine ähnliche Szenerie schildert Lilje beim Transport nach Nürnberg: In Leipzig muss der Personenzug aufgrund eines Fliegerangriffs halten. Niemand, auch nicht die Wachbeamten, will den Zug verlassen und so Sitzplatz und Gepäck gefährden. Verunsicherung und Angst breiten sich aus. Einzig Lilje bleibt ruhig und übernimmt die Führung bei der Evakuierung des Zuges. Tal, 102. staatsfeindlichen Tätigkeit zu überführen, empfindet Lilje als das „aufregende schöne Spiel um Tod und Leben“ (Tal, 43 f., vgl. 33). Bei einem Fliegeralarm bleibt Lilje völlig ruhig, wohingegen sein Verhörführer aus Angst mit ihm in den Luftschutzbunker flüchtet. Dort angelangt „kompromittiert“ sich der Beamte gegenüber seinem Gefangenen obendrein dadurch, sich als Frauenheld zu offenbaren, der sich indessen nicht gegen einen aufdringlichen betrunkenen SS-Mann durchsetzen kann (ebd., 34-38, 43). 423 Der „unter seinen Genossen berühmte[..] Interrogator[..]“ und „kriminalistische[..] Kopfjäger“ entpuppt sich dem stoischen Christen als furchtsamer Hanswurst. Durch Liljes Haltung kommt es zu einer merkwürdigen Verdrehung innerhalb der Verhörepisoden: Der Delinquent erscheint als der eigentlich souveräne Part, während lediglich ein dünnes Firnis amtlicher Autorität die Unsicherheit der Gestapobeamten verbrämt. Konfrontiert mit Lilje geraten sie rasch aus dem Konzept, brausen auf und stellen gänzlich unsachliche Fragen. Die Beamten zeigen sich beeindruckt von seinem Detailwissen oder seiner Fähigkeit, bis „auf die Viertelstunde“ genau Begebenheiten terminieren zu können. Auch weist Lilje sie hinsichtlich ihrer Missverständnisse in internationalen kirchlichen Beziehungen zurecht. In dieser Fähigkeit zur Distanz unterscheidet sich Lilje von seinen Mitge‐ fangenen und erlebt deren Betroffenheit sogar als abstoßend. In den ersten Hafttagen wird Lilje von Angst befallen: Er schildert, „der Schrecken beginnt langsam weiterzuwachsen und wird immer größer und furchtbarer, je mehr mir die Einzelheiten meiner Lage erkennbar werden.“ (Tal, 18) In dem Moment dringen die Leidensrufe eines anderen Häftlings an ihn: „Und nun vernehme ich ganz deutlich in der Zelle nebenan ein langes, bald steigendes, bald schwächer werdendes Stöhnen, hin und wieder durch winselnde Aufschreie unterbrochen, dann kommt jedesmal der Posten und fährt den Unbekannten scharf an - ist er krank, oder leidet er unter den Folgen einer Folterung? Viel mehr noch als die physische Not dieses Unglücklichen macht mir die Einbuße an Menschen- und Manneswürde zu schaffen, die sich in diesen klagenden Ausbrüchen kundtut.“ (Ebd., 19) Weder vergrößern die Rufe des Mitgefangenen Liljes Angst, noch lösen sie eine mitfühlende Reaktion mit diesem aus. Dass der Häftling seinem physischen Leid durch „Winseln“ Ausdruck gibt, deutet der Theologe als Schwäche und 7.3 Das Leid als geistige Bereicherung 215 mangelnde innere Haltung. Gegen diese Stellung zur Haft grenzt sich Lilje klar ab und verbietet sich in der Folge, derartig Schwäche zu zeigen: „In diesem Augenblick steht mein Entschluß fest: alle Kräfte des geistigen und seelischen Widerstandes in mir zu mobilisieren, damit ich unter keinen Umständen solchen Zusammenbrüchen erliege. Da wird mir eine der köstlichsten Gaben zuteil, die mir schon unzählige Male in meinem Leben geholfen hat: der Schlaf. Ich lege mich auf der Pritsche schlafen.“ (Ebd., 19 f.) Liljes Stellung zur Haft ist in keiner Weise abhängig von äußeren Faktoren wie Hunger, Prügel, Kälte oder anderen Schikanen der Gestapo, sondern gänzlich vom Inneren des Gefangenen bestimmt. Durch seinen Glauben kann sich Lilje eine Distanz bewahren, die das Leid negiert. Die praktischen Stärkungen, die Lilje durch den Glauben erfährt, belaufen sich auf mentale Exerzitien wie das Durchgehen von Bibelstellen, das Singen von Chorälen oder auch das Lauschen der läutenden Kirchenglocken (Tal, 20 f.). Doch auch Naturphänomene wie der Flug eines Falken erscheinen Lilje als Stärkung bringende, göttliche Zeichen: „Und doch fehlt es an Tröstungen Gottes nicht.“ Für Lilje ist die Gewissheit einer göttlichen Macht Quelle innerer Stärkung: „Man kann auch mit gefesselten Händen beten.“ Lilje führt Gott als alleinigen Grund dafür an, die Bedrängnisse der Haft zu bestehen: „Es hat Gott, in dessen Händen unser aller Schicksal lag, gefallen, mir mit Hilfen beizustehen, die nicht von dieser Welt waren.“ (Ebd., 29 f., 47, 66) In Leid und Zerstörung gewähre der Glauben einen gültigen Fixpunkt, nach welchem sich der Gläubige ausrichten könne: „Es ist eine sehr nervöse Welt; immerfort droht eine Saite zu reißen. Aber einen Punkt gibt es in dieser nebelhaften Ungewißheit, in dieser erniedrigenden Sage von der Haltlosigkeit der Menschlichkeit - das Wort Gottes.“ (Ebd., 116 f.) Der Glauben verleiht Lilje die Stärke, die Entbehrungen der Haft zu erdulden, einen ethischen Verhaltenskodex aufrechtzuerhalten und nach wie vor Demut vor dem Leben und Sterben zu empfinden. Doch hat diese Haltung mit einer per‐ sönlichen Überlebensstrategie wenig zu tun. Lilje erlebt seine Gefangenschaft nicht im Modus eines zu bewältigenden Übels, sondern überhöht das erlebte Leid zur besonderen Erfahrung. Die Haft wird zur Prüfung des Subjekts, worin ihm die Verhöre rhetorisches, die Isolation mentales und der Hunger körperliches Training bedeuteten. In der Reflexion stilisiert er die Haft zur Bereicherung, die „für mich noch heute ein Geschenk von unverlierbarer Kostbarkeit“ darstelle (Tal, 46). Im finstern Tal enthält eine ganze Reihe Episoden, in denen Lilje das 216 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal Erlebte als Hinwendung zu Gott und Weg zum Verständnis der letztgültigen Zusammenhänge der Welt schildert. „Ich habe nicht gewußt, daß ein Dasein, das noch ganz irdisch und menschlich ist, schon so offen sein kann für die Welt Gottes. Gesegnete Stille. Gesegnete Einsamkeit. Gesegnete Haft. […] Aber es ist gerade dies Gefühl völliger Wehrlosigkeit, das mir den Weg zu Gottes Erbarmen öffnet. Denn mit der gleichen Wehrlosigkeit stehe ich ja meinen großen Sorgen gegenüber.“ (Ebd., 80 f.) Lilje akzeptiert die Haft nicht nur als Teil des göttlichen Plans, sondern begrüßt sie als einen Abschnitt, der die Möglichkeit wahrer Erkenntnis biete. „Ich habe damals begriffen, daß Gott einem Menschen das alles nur in der Tiefe des Leidens und der Gottverlassenheit kundtun kann. Darum wird einer, den Gott in diese Schule der Erkenntnis genommen hat, ihn dafür als für das bedeutsamste Geschenk seines Lebens preisen.“ (Ebd., 85) Im Epilog bezeichnet er die Haft gar als „unvergeßliche, köstliche Schule der Anfechtung“, eine Zeit der Reflexion und Einkehr, die eine moralische Reinigung von den eigenen Verfehlungen ausgelöst habe (ebd., 120-122). Die Haft als moralische „Schule“ begreifen könne indessen nur derjenige, der sein Geschick als göttliches „Geschenk“ anzunehmen verstehe: „Es trägt einen inneren Adel, wenn man vom Tode bedroht ist. Der instinktive Hochmut, mit dem der Frontsoldat dem Mann der Etappe begegnete, entsprang der gleichen Wurzel: der vom Tode Bedrohte ist dem ‚Gesicherten‘ überlegen. Denn es vermehrt die geistige Freiheit, wenn man mit dem Leben abgeschlossen hat. […] Denn wer wirklich auf Gottes Hilfe trauen lernen will, muß auch bis an die äußerste Grenze der Hilflosigkeit geführt worden sein; er muß tief hinabgeführt sein in jenes finstre Tal, von dem der dreiundzwanzigste Psalm spricht. Wann aber erführe der Mensch das Bewußtsein, völlig preisgegeben zu sein, je im bürgerlichen Dasein? “ (ebd., 66 f.) Lilje verweist auf die Ähnlichkeit der existentiellen Bedrohung in Krieg und Haft - insbesondere angesichts der Bombennächte auf Berlin im Winter 1944/ 45. Seine Formulierung in Haft ähnelt dem, was er in Der Krieg als geistige Leistung über die „Köstlichkeit“ des Lebens im Krieg schreibt (Krieg, 13, Herv. im Orig.). Diesen Erfahrungen gelte es mitnichten auszuweichen. Man müsse das titelgebende „finstre Tal“ begrüßen als Moment, in welchem das Subjekt seinen Platz innerhalb der göttlichen Schöpfung erfahre. „Unter solchen Erkenntnissen tut sich eine neue Tiefendimension des Daseins auf.“ (Tal, 83) Lilje erscheint die Haft als eine Prüfung des Glaubens, aus der der Über‐ lebende gestärkt hervortrete. Aus diesem Grund feiert der Theologe seine 7.3 Das Leid als geistige Bereicherung 217 424 Perels, „Theologie“, 246. Inhaftierung als einzigartiges Erlebnis, dessen Beendigung durch die Befreiung Berlins Lilje mit zumindest gemischten Gefühlen begegnet. „[U]nd da ist auch - ganz anderer Klang - irgendwo ein ganz leises Verwundern (oder muß ich es gar Bedauern nennen? ), daß nun plötzlich und unwiderruflich die Zeit der Prüfung vorbei ist - hat sie geleistet, was sie an Reinigung, Läuterung, neuer Kraft schenken sollte? “ (Tal, 111 f.) Bereits im Moment der Befreiung fragt sich Lilje, ob die Haft Erfolg gehabt habe, die Leidenszeit also „ausreichend“ lange und hart war, das Subjekt hinlänglich zu stärken. Eingesperrt, von den Wärtern willkürlich misshandelt und mit oder ohne Gerichtsurteil getötet, sind die Häftlinge in Gestapohaft der NS-Gewalt restlos ausgeliefert. Lilje aber findet im Glauben Trost und praktische Hilfe, die diese Gewalt überwindet. Doch ist diese Haltung mehr als Stärkung zum Überstehen der Haft. Sie eröffnet eine Perspektive, die Zumutungen und Leiden der Welt als Ausdruck einer höheren Ordnung anzuerkennen, wodurch diese ihre unmit‐ telbare Bedrohung verlieren. Diese offenbart sich auch darin als erfolgreich, dass Lilje allen Aspekten seiner Haft, den Wärtern wie den Mitinsassen gegen‐ über, überlegen auftritt. Liljes Fokussierung auf den Glauben meint indessen mitnichten eine Abkehr von der Welt. Im Gegenteil befähigt diese Perspektive ihn zur Beurteilung der Phänomene der Welt vom Standpunkt einer höheren Wahrheit. 7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit Die überwiegende Mehrzahl der in Im finstern Tal auftretenden Figuren sind Mitglieder der am Attentatsversuch vom 20.-Juli 1944 beteiligten Widerstands‐ gruppen sowie deren Umfeld. Aus dieser Gruppe hatte Lilje bereits viele im Zusammenhang mit seinen Vorträgen und Predigten kennengelernt, zu einigen von ihnen unterhielt er auch engere Kontakte als Pfarrer und Seelsorger (Tal, 23-25, 50 f., 73 f.). 424 Lilje kannte diese Figuren aus einem institutionellen oder persönlichen religiösen Kontext, von ihrem Attentatsversuch jedoch und politischen Motivationen ihres Putsches distanziert er sich. Wiederum tritt Lilje nur als Christ und in konfessioneller Funktion auf. Mit dieser Distanzierung bedient Lilje eine weitverbreitete zeitgenössische Meinung, die die Mitglieder des Widerstandskreises um den 20. Juli als Verräter 218 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 425 Adolf Hitler, „Rundfunkansprache zum Attentat vom 20. Juli 1944, 21.7.1944, 1.00 Uhr“ [Transkript], Internet: 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, https: / / www.1000dokumente.de/ index.html? c=dokument_de&dokum ent=0083_ahr&object=translation&st=&l=de, zuletzt geprüft am: 29.1.2020. Anderer‐ seits sei angemerkt, dass sich laut Padover bereits 1944/ 45 Teile des deutschen Militärs in amerikanischer Gefangenschaft zum Beleg der Existenz eines „anderen Deutschland“ auf den 20. Juli bezogen: „Their [the Wehrmacht’s generals’, J.V.] revolt of July 20 is cited as an example of their wisdom and their patriotism - ‚they knew the war is lost, so they didn’t want to continue shedding German blood in vain.‘“ Padover, Experiment,-117. 426 Ernst Friedlaender, „Siegfried und Hagen“, Die Zeit 1947/ 46 (13.11.1947). 427 So etwa in Hans-Ulrich Rudels Dolchstoss oder Legende? von 1951. Gerd-R. Ueberschär, Stauffenberg. 20. Juli 1944. Frankfurt/ M., 2004, 182 f.; ders., „Von der Einzeltat des 20. Juli 1944 zur ‚Volksopposition‘? Stationen und Wege der westdeutschen Historiographie nach 1945“, in: ders., Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Wider‐ standes gegen das NS-Regime, Köln 1994, 101-125, hier: -89f., 102. 428 Peter Steinbach, „Widerstand im Dritten Reich - die Keimzelle der Nachkriegsdemo‐ kratie? Die Auseinandersetzung mit dem Widerstand in der historischen politischen Bildungsarbeit, in den Medien und in der öffentlichen Meinung nach 1945“, in: -Ueber‐ schär, Gerd R., Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994, 79-100, hier: -89. 429 Theodore S. Hamerow, Die Attentäter. Der 20. Juli - von der Kollaboration zum Wider‐ stand. München 1999 [1997], 409-411. und Landesfeinde identifizierte. Diese Markierung geht zurück auf die Diktion der nationalsozialistischen Propaganda unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat. In einer Rundfunkansprache vom 21. Juli 1944 hatte Hitler von einer „Verschwörung“ gesprochen, in der die Attentäter nicht nur ihren soldatischen Treueeid gebrochen, sondern auch das kämpfende deutsche Militär und die Nation verraten hätten. Auch von einem „neuen Dolchstoß“ sprach er. 425 Dieses Urteil hielt sich in weiten Teilen der Bevölkerung auch nach Ende des Kriegs. „Die neue Dolchstoßlegende beginnt durch Deutschland zu wandern. Dem Volk der schlechten Verlierer wird sein Sündenbock angeboten“, schreibt etwa Ernst Friedlaender 1947 in der ZEIT. „Man begegnet der neuen Dolchstoßlegende erstaunlich oft und in ganz verschiedenen Schichten unseres Volkes.“ 426 Auch wenn die „neue Dolchstoßlegende“ nach Ansicht der historischen Forschung lediglich auf extreme rechtsradikale Kreise beschränkt blieb, 427 habe doch in großen Teilen der Bevölkerung der unmittelbaren Nachkriegszeit die Meinung geherrscht, „die Angehörigen des 20. Juli 1944 hätten Verrat begangen und den deutschen Lebensinteressen entgegengehandelt.“ 428 Zumindest jedoch hätte das Attentat auch bei Erfolg aus Sicht der Zeitgenossen nichts am Ausgang des Kriegs und der gegenwärtigen Situation von Niederlage und Besatzung ändern können. 429 7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit 219 Obgleich ebenfalls Kritiker ihrer Opposition, nimmt Lilje die Widerständler doch gegenüber solcher Kritik aus obiger Richtung in Schutz: „Die Kritik an den Männern des 20. Juli, die merkwürdig rasch nach dem Zusam‐ menbruch einsetzte, hat […] im allgemeinen mit der etwas plumpen Behauptung gearbeitet, hier habe eine politische Kaste, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlte, um ihre Selbstbehauptung gekämpft. Ich bin sicher, daß die geschichtliche Einzelfor‐ schung, falls es noch nötig sein sollte, die Unrichtigkeit dieser Darstellung enthüllen wird.“ (Tal, 53) Bei allem berechtigtem Einwand gegen den Attentatsversuch hatten die Betei‐ ligten doch nicht eigennützig gehandelt und seien zumindest in ihrem Ansatz moralisch rehabilitiert. Mitnichten sei der Umsturzversuch das Resultat der Angst einer gesellschaftlichen Kaste um ihre „Selbstbehauptung“, sondern der Versuch einer „Rettung der Nation“. Für Lilje „gab es nicht den leisesten Zweifel, daß diese Männer zur Blüte der Nation gehörten“ (ebd.). Über den prominentesten aus ihrer Reihe, den Attentäter Graf von Stauffenberg, heißt es: „Eine große geschichtliche Rechtfertigung haben sie [die Attentäter] für sich: sie haben für ihre Überzeugung mit dem Leben bezahlt. Stauffenberg, der aktivste unter ihnen, der ein treuer Sohn seiner katholischen Kirche war, wurde durch seine flammende Vaterlandsliebe zu dem Entschluß getrieben, die politische Reinigung und Rettung Deutschlands solle aus seinem eigenen Innern kommen und dürfe nicht erst dem Zusammenbruch und den Alliierten überlassen bleiben.“ (Ebd., 52) Unter dem Gesichtspunkt der „Vaterlandsliebe“ erscheine Stauffenbergs An‐ schlag als lobenswertes Opfer, nämlich insofern dieser die Überwindung des Nationalsozialismus als nationales Aufbegehren ermöglicht hätte und nicht als durch die militärische Invasion von außen gestiftet. Die Art seiner Verteidigung verweist bereits darauf, dass der Inhalt von Liljes Maßstab göttlicher Wahrheit eine nationale Deutung ist. Die Prominenz des Nationenbegriffs fällt insbesondere in ihrer Harmonisie‐ rung mit dem Glauben auf, verkörpert in Gestalt Stauffenbergs, der sowohl treuer Christ wie flammender Patriot gewesen sei. Im weiteren Verlauf schildert Lilje die Beteiligten des 20. Juli als gottergebene Christen, deren Glauben in Haft noch gestärkt werde: „Je länger unsere Haft währte, desto deutlicher trat hervor, daß eine andere Kraft die meisten unter uns viel stärker bestimmte als die gemeinsame politische Oposition [sic! ]. Das war der christliche Glaube. Es war aufschlußreich zu sehen, wie einem nach dem andern dieser Tatbestand deutlich wurde, und war er erst erkannt, auch immer bewußter ergriffen wurde.“ (Tal, 57) 220 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 430 An einer Stelle des Textes wird die göttliche Präsenz im gemeinsamen Ritus sogar körperlich spürbar: Im Gefängnis hat Lilje einem der Insassen die Sterbesakramente zu erteilen. Das schlichte Abendmahl erscheint ihm anrührend, weil der „menschliche“ Kommandant (der aufgrund seiner „zu großer Menschlichkeit“ auch bald darauf abgelöst wird) dem Sterbenden nicht nur das Sakrament, sondern auch einen Violinisten zur Messe gestattet, bevor er selbst sich überschwänglich bei Lilje für dessen Ansprache bedankt. Wärter und Häftlinge scheinen hier für einen Moment im Glauben vereint: „Ja, der Friede Gottes war wirklich und gegenwärtig wie man eine Hand fühlt! “ Tal,-74-76. In Gefangenschaft finden auch die inhaftierten Oppositionellen zurück zum Glauben als verbindlicher Gemeinsamkeit. Im weiteren Handlungsverlauf mit seinem Kulminationspunkt im VGH-Prozess führt Lilje jegliche positive Ei‐ genschaft der Inhaftierten, ihre Haltung und Moral, auf ihren (auch durch Liljes eigenes Zutun wiedergefundenen oder -erstarkten) Glauben zurück. Zu Helmuth James Graf von Moltke schreibt er: „Ohne die leiseste Selbsttäuschung über sein warscheinliches [sic! ] Ende lebte er in einer heiteren Klarheit der Seele, das leuchtendste Beispiel einer ungebeugten Haltung aus Glauben. Als Christ war er der klarste und selbstverständlichste unter uns.“ (Ebd., 62) Über Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg hält Lilje fest, dass sein Glauben es ihm auch ermöglichte, eine Perspektive über die Gefangenschaft hinaus auf die Herausforderungen der postfaschistischen Welt zu entwerfen (ebd., 69 f.). Für Lilje „unvergeßlich“ bleibt zudem der Ausspruch Helmuth James Graf von Moltkes vor dem Volksgerichtshof: „‚Das Reich muß uns doch bleiben‘ (was im Munde Helmuth von Moltkes nicht nationalistisch gemeint war)“ (ebd., 54, 121). Für Moltke sei explizit kein politisches Konstrukt die letztgültige Bezugsgröße, sondern das Gottesreich im Sinne des zitierten lutherischen Kirchenliedes „Ein feste Burg ist unser Gott“. Moltkes Gottvertrauen angesichts der ihn zum Tode verurteilenden Obrigkeit imponiert dem ebenfalls angeklagten Lilje. Und wie als allgemeine Bekräftigung von Moltkes Glaubensstärke liegt im Augenblick des Ausspruchs „für einen Augenblick die Überlegenheit einer ganz andern Wirklichkeit spürbar über diesem traurigen Raum.“ (Ebd., 92) 430 Mit Blick auf den Umsturzversuch vom 20. Juli hat Lilje jedoch einen substantiellen Einwand, der die Beteiligten auch moralisch diskreditiert: Er scheiterte. „Der Plan Gottes hatte dem Tyrannen bestimmt, in völliger Blindheit seinen Weg zuende zu gehen, bis nichts, gar nichts mehr übrig blieb“. Zwar nimmt Lilje die Widerständler um den 20. Juli gegenüber Kritik zunächst in Schutz, bemerkt jedoch, dass jene Anwürfe „sich ja auch nicht auf diese christlichen Bedenken gestützt“ hätten. In Haft und im ständigen Kontakt mit 7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit 221 431 Ringshausen, „20.-Juli“, 196-201. den Beteiligten nun offenbart sich ihm, dass dieses christliche Bedenken Indiz einer umfassenden Krise ist: „Deutschland besaß nicht mehr die Kraft, die schwere Krise, die das Dritte Reich darstellte, von sich aus und von innen heraus zu überwinden.“ (Tal, 53) Lilje erkennt im Scheitern des Attentats die Erfüllung des Gottesplans, der es schlicht nicht vorgesehen hatte, den Nationalsozialismus durch einen Staatsstreich enden zu lassen. Liljes Kritik beläuft sich einzig auf den mangelnden Erfolg des Plans. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Umsturzversuch, etwa hinsichtlich seiner Zielsetzungen oder Mittel, liefert er nicht. Dieser Einwand entlang des Erfolgsmaßstabs kann sich nur im historischen Rückblick manifestieren und geht zwangsläufig vom Telos des Scheiterns des Umsturzplanes aus. Dass „der große, kühne Gegenspieler Hitlers […] nicht unter ihnen“ gewesen sei, ergibt sich zwangsläufig erst ex post (ebd., 56). Indessen verlagert Lilje in Im finstern Tal den Gedanken des Scheiterns in das Vorhaben der Opposition zurück und kann diesen so als inhaltliches Bedenken vorbringen. Der Umsturzplan erscheint darin als Verstoß gegen die göttlichen Regeln des Geschichtsverlaufs. Diesen in ihrem Scheitern zu offenbaren erachtet Lilje als den eigentlichen „geschichtlichen Auftrag der innerdeutschen Opposition“ (ebd., 50). Gegen den Versuch eines aktiven, auch gewaltsamen Vorgehens, gegen die weltliche Obrigkeit hält Lilje den Gedanken des Erduldens auch der gewalttätigsten Herrschaft als gottgegeben. Einzig diese Haltung der freiwilligen Unterordnung sei ein auch gottgefälliger Akt. „Natürlich ist es schwer, daß der Aktivist, auch der edle Aktivist, den Sinn für die Hintergründigkeit der Geschichte behält. Aber er sollte nicht vergessen, daß auch eine Gottesgeißel von Gott verordnet ist.“ (Ebd., 52) Mit dieser Position rekurriert Lilje auf eine theologische Gesellschaftstheorie, die seit den 1920er Jahren innerhalb der protestantischen Kirche virulent diskutiert wurde: die Zwei-Reiche- oder auch Zwei-Regimenter-Lehre. Das Dogma untersucht die Stellung des Subjekts zur weltlichen Obrigkeit im Ver‐ hältnis zum Regiment Gottes, wobei als zentrale Frage problematisiert ist, wie das Individuum (und vermittelt auch die Kirche als Institution) sich zu einer abzulehnenden Form von Obrigkeit zu stellen habe. 431 Ausgangspunkt war eine Lesart der Schriften Martin Luthers, der sich 1523 in seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei prominent dem Verhältnis von weltlicher und geistlicher Herrschaft gewidmet hatte. Die Beschäftigung mit Luther und insbesondere seiner gesellschaftstheoretischen Schriften erfuhr 222 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 432 Reiner Anselm, Wilfried Härle, Matthias Kroeger, „Zweireichelehre“, in: Müller, Ger‐ hard, Theologische Realenzyklopädie. Teil III, Band XXXVI, Berlin 2004, 776-793; Eilert Herms, „Zwei-Reiche-Lehre/ Zwei-Regimenten-Lehre“, in: Dietz, Hans Dieter, et al., Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswis‐ senschaft. Band-8, 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 2020 [1909], 1936-1941. 433 Perels, „Theologie“, 253; vgl. Uden, Publizist, 299-306. 434 Römer-13: 1-2. Deutsche Bibelgesellschaft. Lutherbibel 2017. 435 Perels, „Theologie“, 246. 436 Oelke, Lilje, 367. 437 Perels, „Theologie“, 253. während und nach der nationalsozialistischen Herrschaft eine Hochzeit und war Ausgangspunkt verschiedener innerkirchlicher Debatten. 432 Laut Perels begriffen Lilje und andere evangelisch-lutherische Theologen nach dieser Lehre „die staatliche Sphäre […] als gottgesetzte Ordnung […], die nicht eigentlich den Weisungen des Evangeliums unterliegt, sondern den Machtgesetzen der Welt, wie sie die Henker und Kriegsleute exemplarisch repräsentieren.“ 433 Ausgangspunkt der Debatten war somit auch für Lilje die Identifikation des Nationalsozialismus als abzulehnende Obrigkeit. In ihrer Lesart der Zwei-Reiche-Lehre sei aber noch eine derartige Gewaltherrschaft als gottgegeben zu akzeptieren, habe sich das Subjekt dieser unterzuordnen. Wesentlicher Bezugspunkt für diese Position war eine Bibelstelle aus dem „Rö‐ merbrief “, in welchem nach christlicher Überlieferung der Apostel Paulus den heidnischen Römern die Grundzüge des von Christus vermittelten Evangeliums darlegt. Darin heißt es in Kapitel-13: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“ 434 Für Liljes geschichtstheologisches Verständnis hatte diese Position maßgeb‐ lichen Einfluss. In Im finstern Tal legitimiert er die nationalsozialistische Herrschaft grundsätzlich als gottgewollte Obrigkeit, auch wenn oder, im Nach‐ vollzug von Römer 13, gerade weil sie eine abzulehnende Form von Herrschaft darstelle. Jegliche Form von Widerstand gegen die weltliche Obrigkeit hingegen stelle eine theologisch illegitime Handlung dar. 435 Oelke betont jedoch, dass es sich bei dieser Deutung der Zwei-Reiche-Lehre um eine Partikularität Liljes handle, die keineswegs theologischer Konsens gewesen sei. 436 Auch Perels spricht von „einer verkürzten Rezeption von Römer 13“. 437 Lilje indessen vertrat sie mit Vehemenz auch nach dem Ende des Nationalsozialismus. Laut Perels wurde die Position fragloser Unterordnung unter die weltliche Obrigkeit gar zur 7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit 223 438 Ebd., 245-250; siehe auch Liljes Lutherbuch aus dem Jahr 1946: Luther, Anbruch und Krise der Neuzeit. 439 „Da auch die größte geschichtliche Tat nie ganz von Schuld frei ist, müssen wir hinzufügen, dass die Männer des 20. Juli, wo auch Schuld in ihrer Tat gewesen sein mag, mit ihrem Leben gesühnt haben.“ Z.n. Schwabe, „Entzauberung“. Laut Perels ist Liljes Beurteilung des Widerstands in erster Linie als Konzession an den öffentlichen Konsens der Nachkriegszeit zu verstehen: „In der Ambivalenz, den politischen Widerstand als sühnewürdig zu qualifizieren und die Oppositionellen doch aus dem Willen Gottes han‐ deln zu sehen, gelingt es Lilje, der Mehrheitssichtweise des national gestimmten Pro‐ testantismus, der den Widerstand ablehnte, zu entsprechen und doch die Gefährten, mit denen er gerade in der Haft verbunden war, als Personen in ihrer Glaubensmotivation nicht zu desavouieren. Der Umgang mit dem Widerstand folgt den Unterscheidungen der Zwei-Reiche-Lehre, den politischen Widerstand theologisch auszuschließen, den persönlichen Glauben der christlichen Oppositionellen aber in vollem Maße anzu‐ erkennen.“ Perels, „Theologie“, 249. Innerhalb eines Nachkriegsdiskurses, der den Attentatsversuch in erster Linie als Verrat auffasste, habe Lilje die Beteiligten, die er zum Großteil persönlich kannte oder in Haft kennenlernte, wiederholt gegenüber Vorwürfen des Treuebruchs in Schutz genommen, indem er ihren christlichen Glauben nebst der nationalen Gesinnung als zentrale Bezugspunkte ihres Handelns identifizierte, ohne ihre Tat selbst zu rechtfertigen. Ringshausen, „20. Juli“, 195 f. Bekräftigt wird diese Lesart durch den Wandel von Liljes Einschätzung des Attentats innerhalb nur weniger Jahre: Anlässlich des 10jährigen Gedenktages des Anschlags vom 20. Juli verfasste Lilje 1954 für das Sonntagsblatt einen Beitrag, in welchem seine vorigen Bedenken bezüglich des Attentats verschwunden sind: „[Die Beteiligten] haben alles darangesetzt, um die pervertierte staatliche Ordnung sofort durch eine neue, gerechte und gute Ordnung zu ersetzen … Man kann deshalb von einem geordneten Aufstand sprechen. Vielen ist deutlich geworden, daß es auf den Staat als Gottes Ordnung ankommt.“ Z.n. Uden, Publizist, 302 f., Herv. im Orig. Drei Jahre nach seinem reservierten Artikel spricht Lilje nun vom Nationalsozialismus nicht mehr als zu akzeptierender Obrigkeit, dem Vorwurf von Schuld und der Aufforderung zur Sühne. Innerhalb dieser wenigen Jahre hatte sich auch die öffentliche Wahrnehmung zum 20. Juli grundlegend gewandelt: Galt der Attentatsversuch bis in die frühen 1950er Jahre weitgehend als Hochverrat und Treuebruch, markieren die Reden von Bundespräsident Theodor Heuss zum Jahrestag des Anschlags in der Bendlerstraße 1954 sowie die Gedenkrede Bundeskanzler Konrad Adenauers, in der er von den Attentätern als „Vorbild“ für „Recht und Gerechtigkeit“ Grunddeterminante seiner theologischen Schriften nach 1945. 438 An eine brei‐ tere Öffentlichkeit gelangten diese Gedanken wiederholt in Liljes Äußerungen zum Widerstand. So schrieb er noch 1951 im Sonntagsblatt, die Beteiligten am 20.-Juli hätten sich durch ihre Tat „schuldig“ gemacht am göttlichen Willen. 439 Auch den Nationalsozialismus, der seine eigene Inhaftierung verantwortete, gelte es laut Lilje zu akzeptieren. Aufgrund dessen hatten die Oppositionellen des 20. Juli in ihrem Vorgehen gegen Hitler moralische Schuld auf sich geladen. Den Grund für diesen Verstoß identifiziert Lilje im vermeintlichen historischen Abfall des Adels vom Glauben. Denn trotz der lobenswerten persönlichen Frömmigkeit einzelner Mitglieder sei die gesellschaftliche Schicht dieser „Träger 224 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal sprach, einen Wandel in der offiziellen Erinnerung an die Widerständler. Konrad Adenauer, „Ihr Vorbild: Recht und Gerechtigkeit. Die Ansprache des Bundeskanzlers bei der Gedenkfeierstunde in Bad Godesberg“, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 134 (22.7.1954), 1205; vgl. Hamerow, Attentäter, 409-413; Steinbach, „Widerstand“, 86, 90; Ueberschär, Stauffenberg, 182-184. Zur Rede von Heuss siehe Peitsch, Nachkriegsliteratur, 76f. 440 Vgl. auch Liljes Lob der preußischen Herrscher in Der Krieg als geistige Leistung, 170. Den durch die Säkularisierung hervorgebrachten Mangel an geistlicher Orientierung und also der Befähigung, höhere Sinnzusammenhänge der Welt wahrzunehmen oder zu verfolgen, identifiziert Lilje darüber hinaus auch in anderen gesellschaftlichen Schichten. Wiederum den vermeintlichen Glaubensabfall mit dem Schwinden sozialer Bedeutung parallelisierend schreibt er etwa über das Bürgertum: „[D]ie geschichtliche Stunde des Bürgers war im Dritten Reich schon vorbei, oder seine Sendung war zum mindesten auf das Tiefste bedroht, weil er in der Verdiesseitigung und damit in der Selbstsucht versunken und darum keines Opfers mehr fähig war.“ Tal, 107. hoher, alter Kultur“ (Tal, 56) durch eine fortschreitende Säkularisierung negativ betroffen - ein Prozess, der nach Lilje Hand in Hand geht mit dem Verlust politisch-sozialen Einflusses: „Wenngleich an dem bitteren geschichtlichen Urteil kaum etwas zu ändern sein wird, daß der Adel durch ein unbegreifliches Versagen die geschichtliche Führung verwirkt hatte, und daß er den Verlust der Glaubenssubstanz fast immer mit einem doppelt tiefen Absturz in den Nihilismus hat bezahlen müssen, so haben doch in diesen Tagen manche seiner Glieder diese geschichtliche Schuld mit Blut gesühnt. Im Einzelnen wurden einige der edelsten Züge des Adels durch Todesnähe und Glaubenszuversicht verklärt und neu geadelt.“ (Ebd., 53 f.) 440 Immerhin hätten die inhaftierten Aristokraten (durch tüchtigen Beitrag Liljes) in Haft wieder zum christlichen Glauben zurückgefunden und diesen als geteiltes, dominantes Moment ihrer Gemeinschaft erkannt. Analog dazu urteilt Lilje über die Zeugen Jehovas, diese hätten die an ihnen verübten Qualen mit ungetrübtem Gottvertrauen erduldet und seien so zu „beispiellose[n] Blut‐ opfer[n]“ der „christliche[n] Gemeinschaft[en]“ geworden (ebd., 59). Lilje reflektiert den Nationalsozialismus als metaphysisches Übel, welches er in den Termini von „Gottesgeißel“ und „Verderben“ fasst. Dabei macht er deutlich, zu keiner Zeit daran gezweifelt zu haben, dass es die NS-Herrschaft als Prüfung zu überstehen gelte, diese aber historisch keinen Bestand haben könne. „Freilich ist mir zu keiner Minute ungewiß gewesen, daß der Weg Hitlers ins Verderben führen müsse, ihn und das von ihm geführte Volk.“ (Tal, 52) Indessen wiederholt Lilje, dass sich ihm aktives Eingreifen verbiete, er „nicht die Berufung zu unmittelbarem politischem Einsatz empfinden konnte.“ (Ebd., 24) Indessen 7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit 225 betont er, dass die Akzeptanz der gottgegebenen Obrigkeit mitnichten deren Affirmation bedeute: „Aber dem Gedanken eines Anschlags auf Hitlers Leben stand ich selber fern. […] Weil es an diesem Punkte ein besonders zählebiges Mißverständnis gibt, will ich hinzufügen, daß die lutherische Reformation ausdrücklich, wie die andern Reforma‐ toren auch, ein Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit kennt; es ist grotesk, die gedankenlose, von jeglichem Ethos gelöste Unterwürfigkeit unter die Obrigkeit, wie auch immer sie sei und was auch immer sie gebiete, für lutherisch auszugeben.“ (Ebd., 51) Immerhin stelle der Christ durch sein unbeirrbares Festhalten an Gottes Wort die eigentliche oppositionelle, da als unvereinbar mit dem Nationalsozialismus bestimmte Kraft dar. Tatsächlich existiere gegen die Tyrannei kein substantiel‐ lerer Einwand denn die biblisch vermittelte Position des Glaubens, es könne keine „mächtigere Waffe geben als eben dies Wort, das Felsen zerschlägt“ (ebd.). Während sich bei den Oppositionellen ihre Verfehlung im Scheitern ihres Attentatsversuchs offenbare, gewährt diese distanzierte Haltung dem Gläubigen Einsicht in die höhere Wahrheit des Gottesplans. In Im finstern Tal ermöglicht dies Lilje eine einzigartige Perspektive auf das Wesen der NS-Herrschaft. Als Christ hat Lilje keinen Zweifel am letztlichen Scheitern der NS-Herr‐ schaft. Dieser habe einen Platz im Gottesplan als Prüfung, die jedoch nicht von historischer Dauer sein könne. In Haft hat er vielfach Gelegenheit, mit der „symbolhafte[n] Selbstenthüllung einer politischen Ordnung [konfrontiert zu sein], die unmittelbar vor dem Zerfall stand“ (Tal, 27). Die Haft und ihre Folgen, die Festigung und Vergewisserung des Glaubens, werden für Lilje auch insofern zur Bereicherung, als er sich nun in die Lage versetzt sieht, in den Formen der NS-Herrschaft selbst Zeichen ihres Scheiterns zu erkennen. Diese Symbole werden durch die militärische Lage gegen Kriegsende zwar verstärkt, äußern sich Lilje aber als Eigenschaften dieser Herrschaft. Am deutlichsten offenbart sich Lilje diese Erkenntnis über das wahre Wesen des Nationalsozialismus anhand seiner Verhandlung vor dem Volksgerichtshof unter Roland Freisler. Auf dem Weg zu seiner Verhandlung erhascht Lilje einige Blicke auf das bom‐ bengeschädigte Berlin. Die Verwüstung, die er aus dem Polizeitransportwagen beobachtet, findet in Gerichtsgebäude und -saal ihre Entsprechung. „[D]raußen erhaschte das Auge immer größere und grauenvollere Partien jenes Trümmerfeldes, das Berlin hieß. Auch das Haus des Volksgerichtshofes war schwer betroffen. Vernagelte Fenster, beschädigte und mühselig wieder geflickte Innenwände hatten dem höchsten deutschen Gericht Wesentliches von seiner Würde genommen. 226 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal Umso mehr hatte man sich bemüht, dem Verhandlungsraum den Charakter amtlicher Feierlichkeit zu geben. Aber es war ein kläglicher Versuch.“ (Tal, 88) Die Schilderung des Gerichtsraums ist Topographie einer Kritik an der NS-Rechtsprechung: Es gibt keinen Platz für Zeugen, der ganze Raum erscheint als „Anklagebank“, dazu geschaffen, eine Schuld aufzudecken oder zu fingieren. Ein Abwägen zwischen Schuld und Unschuld auf Grundlage der Feststellung der wahrheitsgemäßen Hergänge scheint hier unmöglich. Die geladenen Vermittler werden als parteiische identifiziert, während die Gestapo als Funktionsarm der Regierung die Justiz überwacht. Lilje zeichnet in seiner Beschreibung des Saales das Bild einer Verhandlung, die lediglich auf die Verurteilung der Angeklagten ausgelegt ist. Inmitten der sich sinnlich aufdrängenden Zerstörung durch den Krieg scheinen auch Recht und Gerechtigkeit zerstört. Anhand dieses Eindrucks blamiert Lilje dieses Gericht gleichzeitig: Nichtvor‐ handensein oder ramponierter Zustand des Interieurs, die Richteruniformen und die Qualität des Hitlerporträts erscheinen ihm als peinliche Mängel, die eine zuvor durch Prunk verbrämte Wahrheit des Nationalsozialismus freilegten. „Aber weder das Bild des Staatsoberhauptes, das als einziges Schmuckstück in einer etwas mittelmäßigen Bildwiedergabe drohend von der Wand blickte, noch die scharlachroten Roben der ‚Volksrichter‘ und noch weniger das grelle Licht aus zwei Jupiterlampen, das auf uns gerichtet wurde, sobald wir an den Verhandlungstisch traten, vermochten dem Ganzen einen wirklich feierlichen Glanz zu geben; der Saal wirkte wie das Bundeslokal eines vorstädtischen Kriegervereins. Es war wieder dieser geisterhafte Zug - das Symbol einer schon langsam zerfallenden politischen Existenzform.“ (Tal, 88) Die Verhandlung in einem Saal, dessen derangierte Erscheinung jeglicher Würde entbehre und an einen „vorstädtischen Kriegerverein“ erinnern lasse, disqualifiziert das Verfahren dieses Gerichtshofes, das immerhin als höchste Instanz im NS-Staat Recht spricht, als Farce. In Liljes Rückschau wird das unzulängliche Äußere des Gerichts nicht nur zum Symbol eines verlorenen Kriegs, sondern des ganzen politischen Systems. Die Zeichen des Verfalls erhärten sich beim Vorsitzenden dieses Scheinge‐ richts: Roland Freisler. Lilje lobt diesen zunächst als fähigen Juristen. Seine „formale Begabung“ ist ihm sofort „unverkennbar“. Freisler „erscheint als vorzüglicher Kenner der Akten, der sich zur Stützung seines Gedächtnisses nur eines kleinen Zettels bedient.“ (Tal, 91) Eine solche Expertise sei in diesem Recht aber verschwendet. Freisler tritt auf als williger Durchsetzer der nationalsozia‐ listischen Doktrin, der seine juristischen wie rhetorischen Fähigkeiten lediglich zum Zweck der Diffamierung der Delinquenten nutze: 7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit 227 441 Vgl. auch Vermehrens Rekurs auf die Physiognomik. Siehe-Fußnote-325. „Aber diese Kenntnis ist nicht echt und offenbar weder durch das Interesse an der Sache noch gar am Menschen diktiert; am nächsten Tage wird er in der mündlichen Begründung meines Urteils nur lauter Sachen sagen, die mit meinem Falle überhaupt nichts zu tun haben.“ (Ebd.) Indem Freisler sich als fanatischer Nationalsozialist offenbart, diskreditiert er sich für Lilje als „unechter“ Jurist, der zudem wiederholt aufbraust und derart erregt gänzlich willkürliche Urteile fälle. „Im Vertrauen auf die Rechtsordnung hat er [Theodor Haubach, SPD-Politiker und Jurist, als Mitglied des Kreisauer Kreises am 23. Januar 1945 hingerichtet, J.V.] das dem Angeklagten zustehende Schlußwort zu ernsthaften Ausführungen über die Hintergründe seiner Tat und Haltung benutzt und damit so sehr den Zorn Freislers hervorgerufen, daß er sofort die Verhandlungen neu aufnahm und sie statt mit der schon beantragten Freiheitsstrafe mit dem Todesurteil endete.“ (Ebd., 91 f.) Eindeutiges Ergebnis von Liljes Einschätzung Freisler ist: „[M]it seinem ganzen richterlichen Dasein befindet er sich [Freisler] am entgegengesetzten Ende von jener Klarheit und objektiven Überlegenheit, die den Richter zieren.“ (Ebd., 91) Lilje etabliert einen Maßstab für das Amt und die Autorität, die sich in verklausulierten Charaktereigenschaften wie „objektiver Überlegenheit“, einer besonderen Haltung und Würde niederschlügen. Ansprüche, die als allgemein‐ gültig verobjektiviert auftauchen: Sie „sollen“ den Richter nicht zieren, sondern „zieren“ ihn schlicht. Anhand dieser Normierung entlarvt sich Freisler in Im finstern Tal als falscher Richter, Vorsitzender der Farce im Scheingericht. Als Vorsitzender des Volksgerichtshofes stellt Freisler die oberste Instanz des NS-Rechts dar. Lilje blamiert diese Figur, indem er diese als jähzornigen Leiter eines „vorstädtischen Kriegervereins“ zeigt. Doch als Repräsentant der Führungsriege der nationalsozialistischen Obrigkeit trägt Freisler überdies untrügliche Anzeichen des Verfalls in sich. „Ich habe den gleichen Eindruck wie bei einigen andern führenden Männern des Dritten Reiches: ein ursprünglich gutes, beinahe edles Gesicht, mit scharfgeschnit‐ tenen, klaren, geistigen Zügen; aber dies Bild ist gleichsam von innen her zerfallen, die Zeichen eines grauenhaften inneren Verkommens scheinen unverkennbar durch.“ (Tal, 90) Freislers Physiognomie trägt den Ausblick auf den zwangsläufigen Zusammen‐ bruch bereits nach außen. 441 Die körperliche Verfasstheit seiner Vertreter wird so zum Symbol für eine historische Tatsache ex ante, die sich lediglich demjenigen 228 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal erschließe, welcher mit der Perspektive höherer Zusammenhänge die Dinge betrachte. Für Lilje steht die Beteiligung am Nationalsozialismus seinen Anhän‐ gern als charakterliche Verkommenheit buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Bestätigt wird diese Perspektive - und darin für Lilje die Gewissheit göttlicher Fügung - durch ein Ereignis unmittelbar nach Ende der Gerichtsverhandlung: Binnen weniger Wochen erfahren die Gefangenen, dass Freisler bei einem Bombenangriff am 3. Februar 1945 ums Leben kam. Lilje stiftet einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verkommenheit Freislers und dessen göttlicher Vergeltung mittels der alliierten Bomben. Darin erkennt er die in der Bibel vorgezeichnete „majestätische Welt Gottes“ als realisiert. „‚Die Rache ist mein, ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit des Unglücks ist nahe, und was über sie kommen soll, eilt herzu.‘ (5. Mos. 32,35). […] Drei Wochen später kam Freisler bei einem Luftangriff um. Drei Monate später war das Dritte Reich zu Ende. ‚Was über sie kommen soll, eilt herzu‘.“ (Tal, 97) In Freislers Tod werden die zahlreichen Indizien für den Verfall des National‐ sozialismus noch innerhalb des Handlungsrahmens eingelöst - der endgültige Zusammenbruch wird einige Monate darauf folgen. Die Episode beglaubigt die ultimative Gültigkeit einer höheren Gerechtigkeit, nach der jeder Mensch beurteilt und bestraft werde. Lilje aber hat die Gewissheit des göttlichen Plans in den Verfallssymbolen bereits erkannt. Lilje allein ist in der Lage, das wahre Wesen des Nationalsozialismus zu entlarven. In diesem identifiziert der Theologe eine Gottesprüfung, die es zu erdulden gelte. „[D]er Wille Einzelner vermochte die niederstürzende Lawine nicht aufzuhalten, wie mit naturhafter Gewalt mußte sich dies Schicksal ausschäumen und erfüllen. Es gehört zu den spukhaften Zügen dieses dämonischen Abschnittes deutscher Geschichte, daß er ohne eigentlichen geschichtlichen Gegenspieler zuende ging.“ (Tal, 56 f.) Im Bild einer niedergehenden Lawine taucht die NS-Herrschaft hier als erup‐ tive Katastrophe auf, zu der man sich nicht anders stellen könne als zur unveränderlichen Natur, die den Menschen zum Objekt seiner Gewalten macht. Diese Herrschaft, so Lilje, sei ein „Spuk“ gewesen, gleichsam das „finstre Tal“ deutscher Geschichte. Lilje konstatiert, der Nationalsozialismus habe keinen „eigentlichen ge‐ schichtlichen Gegenspieler“ hervorgebracht. Diese Einschätzung zielt erklär‐ termaßen nicht auf die politischen Ereignisse, die militärische Invasion der Alliierten, die verschiedenen Umsturzversuche - aufgrund eines von ihnen wurde Lilje immerhin inhaftiert - oder die in den ersten Jahren seiner Herrschaft 7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit 229 aktive und in der Folge verfolgte politische Opposition. Liljes Auseinanderset‐ zung abstrahiert auf die Ebene höherer Zusammenhänge, auf welcher der Nationalsozialismus sich als Herrschaft des Nihilismus offenbarte (Tal, 43), als inhaltliche Leerstelle, die noch nicht einmal die Antithese in Gestalt eines Ge‐ genspielers zulasse. Als „Dämonie“ bestimmt Lilje diese Herrschaft schließlich als moralisches Absolutum, das jenseits jedes menschlichen Zugriffs wirke. 7.5 Die Kirche innerhalb der nationalen Deutung Trotz der Verortung als „Dämonie“ empfindet Lilje seine Inhaftierung als Angriff auf seinen Nationalismus. Verblieb ihm bereits während seiner Verhöre „als ekler Nachgeschmack die Erkenntnis, daß Menschen meines Blutes offenkundig beschlossen hatten, mich unter jedem sich bietenden Vorwand zum Tode zu bringen“, (Tal, 38) tritt seine Empörung bei seiner Urteilsverkündung offen zutage: „Daß hier Männer im Namen des deutschen Volkes und mit der Autorität des Reiches solche völlig willkürlichen Urteilssprüche auszusprechen wagten, hat mich im Tiefsten empört. […] Darum empfand ich diesen Urteilsspruch […] als einen fundamentalen Angriff auf das ethische Zentrum meiner Persönlichkeit. Es war der einzige Augenblick meiner gesamten Haftzeit, da mein Blut kochte; aus der Tiefe fühlte ich die dunkle Woge des Hasses emporsteigen.“ (Ebd., 95 f.) Einzig an dieser Stelle fällt Lilje aus dem Modus prinzipieller Überlegenheit und Distanziertheit heraus, der die übrige Darstellung von Im finstern Tal bestimmt. Nicht die eklatante Willkür der Urteilsentscheidungen als Strategie der Besei‐ tigung politischer Gegner sind Auslöser seines empörten Ausbruchs, sondern dass das Regime dazu für sich in Anspruch nimmt, „im Namen des deutschen Volkes und mit der Autorität des Reiches“ zu agieren. Diese nationalistische Anmaßung empfindet Lilje als Angriff auf sein Innerstes. Aufgrund dieser Dominanz des Nationalismus eröffnen sich Lilje auch beim Blick auf den im Namen Deutschlands geführten Krieg die negativen Folgen für einen deutschen Patriotismus. „Sollte in diesem verwirrten und benommenen Volk, das durch Bombennächte und Hunger, durch Leid und Wunden, durch Betrug und Verführung gegangen ist und noch schwereren Dingen entgegengeht, noch ein Nationalgefühl lebendig sein, dann muß diese Schmach brennen und brennen. Sie haben dem deutschen Namen Unvorstellbares angetan.“ (Tal, 116) 230 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 442 Mitunter identifiziert Lilje auch das Personal des NS-Staats als Opfer dieser Herrschaft. Bei seiner Gerichtsverhandlung stellt er heraus, gegen die Pflichtverteidiger „keinen Groll“ zu hegen. Die anwesenden Schupos schildert er ob ihrer Verpflichtung gegenüber dem NS-Regime als „arme Menschen! “, denen das Befolgen ihrer „Pflicht“ sogar als Tugend anzurechnen sei. Tal, 90-93. Weiter äußert er auf seinem Transport nach Nürnberg über die Begleitmannschaften: „Alle halten sich an die Vorschrift, daß man Gefangenen und nun erst Gestapo-Gefangenen nichts [von den eigenen Vorräten, J.V.] abgeben darf - wer will sie tadeln, wenn sie sich an ihre Bestimmungen halten? “ Ebd., 103. Am deutlichsten exkulpiert Lilje die Befehlstreue der Wehrmacht: „Denn der Soldat - das ist eine redliche, gerade, tapfere Existenz.“ Ebd., 114f. Der militärische Zusammenbruch erscheint als „Schmach“, als letzte Niederlage eines Kapitels „deutscher Geschichte“, das „so ruhmlos zu Ende gegangen“ war (ebd.). Noch aus der Haft kommentiert er die alliierte Besatzung, der Deutsch‐ land nun entgegensehe, als Peinlichkeit: „Da ist die jäh aufsteigende Bitterkeit, daß es Fremde sein müssen, die uns das kostbare Gut der Freiheit wiedergeben, das die eigenen Volksgenossen uns geraubt haben […].“ (Ebd., 111 f.) Doch sieht Lilje zumindest darin eine Linderung der nationalen Erniedrigung, dass die Niederlage derart vollständig wie endgültig war, dass wirklich niemand mehr der Illusion des Führerkults verfallen könne und der nationale Wiederaufbau von nationalsozialistischen „Altlasten“ befreit sei: „Der Plan Gottes hatte dem Tyrannen bestimmt, in völliger Blindheit seinen Weg zuende zu gehen, bis nichts, gar nichts mehr übrig blieb - auch nicht mehr der zweideutige Schimmer einer politischen Märtyrerkrone. Indem Gott dem Tyrannen diesen billigen Scheinruhm versagt, der das Denken vieler Deutscher schwer verwirrt haben würde, hat er unserm Volke eine qualvolle Selbstzerfleischung erspart.“ (Ebd., 53) Im Lichte dessen erhält auch Liljes Schilderung der patriotischen Widerständler um den 20. Juli die Nuance der Verteidigung eines unbeschädigten Bildes der Nation. Angesichts der sich zuspitzenden Kriegslage im Sommer 1944 nimmt er sie sogar explizit vor dem Vorwurf des Landesverrats in Schutz: „War jemandem zu jener Zeit klar, wohin der Weg gehen würde - und mir war nicht mehr der leiseste Zweifel daran, daß wir auf die Katastrophe zutrieben -, dann war es Vaterlandsverrat, sich über die Zukunft keine Gedanken zu machen.“ (Tal, 25, Herv. im Orig.) Bemerkenswert ist auch die Pauschalität, mit welcher Lilje die deutsche Be‐ völkerung zu Opfern nicht nur des Kriegs und seiner Folgen, sondern einer systematischen Täuschung durch den Nationalsozialismus inszeniert. 442 Auch im Gefängnis sorgt er sich um „dies unwahrscheinlich geduldige deutsche Volk! 7.5 Die Kirche innerhalb der nationalen Deutung 231 443 Hanns Lilje. „Gott hat das Leben lieb.“ Ansprachentext ohne Datum [November 1945], z.n.-Uden, Publizist, 44. 444 Vgl. dazu auch Liljes Schilderung der bei den Nürnberger Prozessen angeklagten NS-Führer, deren augenfälligste Eigenschaft ihm die Absenz ihrer zuvor angepriesenen Tugenden zu sein scheint: „Monate später habe ich durch einen Zufall auf der Ankla‐ gebank in Nürnberg die Führer des Dritten Reiches gesehen und war […] betroffen, daß sie weder das eine noch das andere waren - weder glühende, bis zum Letzten kämpfende Repräsentanten einer großen (oder wenigstens einmal für groß gehaltenen) Idee, noch auch harte und entschlossene Streiter gegen erkannten Wahnsinn und Rechtsbruch. Da war weder flammender Protest noch angreifende Verteidigung, und was war es um einst gerühmte Ehre und Treue? “ Tal, 56f. Bezeichnenderweise wird der einzige Gefängnisbeamte, der gegenüber den Alliierten seine Zugehörigkeit und Sympathie zum Nationalsozialismus bekennt, von Lilje im gleichen Satz nicht nur als „rechtschaffen“, sondern zudem als „ordentlich“ und „menschlich“ bezeichnet. Ebd., 115. Größe und Grenzen in einem! “ (Tal, 102) Formulierungen im Übrigen, die Lilje in einer der ersten öffentlichen Ansprachen im Herbst 1945, wenige Monate nach seiner Befreiung, wiederholte: „Dies deutsche Volk, das heute tiefer leiden muß als irgendein anderes Volk der Welt, könnte Stätte einer großen Verheißung werden, wenn es nämlich begriffe, daß hinter aller äußeren Mühsal und Traurigkeit der Segen Gottes wartet.“ 443 Als besonders schändliche Begebenheit hebt Lilje entsprechend hervor, dass die NS-Oberen unmittelbar vor dem Zusammenbruch die Bevölkerung noch zum Aufbegehren bis zum Letzten aufstachelten, während sie selbst flüchteten. „Dies Schauspiel, das sich nun Tag für Tag und Mann für Mann wiederholt, ist so unwahrscheinlich würdelos, daß der Beobachter nur zu dem Schluß kommen kann: es brauchte gar keine Kzs gegeben zu haben und keinen totalen Vernichtungskrieg bis zum letzten - […] diese atemberaubende Feigheit ist das schlimmste Selbstgericht über die eben zusammengebrochene politische Ordnung, die man sich denken kann.“ (Tal, 114-116) Dass das treue „Volk“ noch in den letzten Kriegstagen verheizt werde, während die eigentlich Verantwortlichen sich absetzten, empört Lilje. Hier zeige sich eine „würdelose Feigheit“, deren Gewicht noch über die Zerstörungen des Kriegs und den Massenmord in den Konzentrationslagern hinausgehe. Indem Lilje seine Betonung von Ehre, Treue und Pflicht als Heuchelei demaskiert, delegitimiert er den Nationalsozialismus entlang der eigenen nationalen Phrasen. 444 Nach Lilje habe der Nationalsozialismus an der Zerstörung der Nation gearbeitet, ja, sein eigentliches „Wesen“ habe sich darin erfüllt, das „deutsche Volk einer sinnlosen Vernichtung“ zuzutreiben (Tal, 51). Liljes Kritik verläuft entlang dieser Exkulpationsstrategie, die die Nation von diesem in Differenz 232 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal setzt und sie zum Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft erklärt. Letztlich, so Lilje, sei der Nationalsozialismus keine Herrschaft gewesen, die für sich in Anspruch nehmen könne, Ausdruck der deutschen Nation gewesen zu sein. Sein heftigster Einwand fällt dahingehend während eines seiner Verhöre. Die Gestapo befragt Lilje zu seinen Vorträgen und deren vermeintlicher Kritik am NS-Regime. Im weiteren Verlauf der Episode wird beiden Seiten die prinzi‐ pielle Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und faschistischer Ideologie auffallen. „Das Gespräch gewann bald grundsätzlichen Charakter“, schreibt Lilje: „Ich beklagte mich in bitteren Worten, daß uns Christen kein öffentlicher geistiger Lebensraum in der Nation gewährt würde.“ (Tal, 41) Zentrum von Liljes Kritik am Nationalsozialismus ist dessen als Vereinnahmung aufgefasste Fassung des Nationenbegriffs. Dass diese Konzeption erklärtermaßen ohne den christlichen Glauben stattfinde, empört den Nationalisten Lilje. Der Rekurs auf die „Lebensraum“-Metapher verweist auf Liljes Engagement innerhalb der Bekennenden Kirche: Dort hatte er sich vehement gegen die Gleichschaltungs‐ versuche der Kirche und die Beschneidung kirchlicher Kompetenzen durch den NS-Staat gewehrt. Die Beteiligung der Kirche an der Nation - überhöht als „Lebensraum“ - sah Lilje durch den Zugriff der Obrigkeit gefährdet. Im Zusammenhang von Im finstern Tal beklagt dieser Vorwurf, dass die national‐ sozialistische Vorstellung der deutschen Nation ohne den christlichen Glauben und dessen institutionalisierte Strukturen errichtet werden sollte. Mit ausgesuchter Genugtuung kommentiert Lilje den Zusammenbruch des Nationalsozialismus als gerechte Strafe für dessen Abwendung vom Glauben. Angesichts der fatalen Kriegsnachrichten fragt ihn ein besonders „schneidige[r] und brutale[r]“ SS-Unterführer provokant zu Gottes Gerechtigkeit: „‚Sie wollen doch Pfarrer sein - wie kann Gott denn nun mit einem Mal die Bolschewisten über uns siegen lassen? ! ‘ Worauf ich nur erwiderte: ‚Zwölf Jahre habt Ihr Euch nicht um Gott gekümmert und alles allein gekonnt - nun soll er gut genug sein, die Verantwortung zu tragen? ‘ Und als er darauf plötzlich ernsthaft, fast bekümmert aussah, fügte ich hinzu: ‚Ich fürchte, einige werden jetzt lernen müssen, was in der Bibel steht: Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten.‘“ (Tal, 99) Kern von Liljes Faschismuskritik ist der Vorwurf, dass dieser die Harmoni‐ sierung von Glaube und Nationalismus verunmöglicht hatte. Als Sprecher der göttlichen Zusammenhänge der Welt verkörpert Lilje gleichzeitig diese Harmonisierung und verwehrt sich noch im Moment des Zusammenbruchs gegen die Versuche nationalsozialistischer Vereinnahmung. 7.5 Die Kirche innerhalb der nationalen Deutung 233 445 Lilje erachtete es als Beweis innerer Haltung, wenn die Häftlinge den Verhören und Foltern standhalten, sich von den Haftbedingungen nicht betroffen zeigen oder ange‐ sichts der Todesstrafe ihre „Würde“ bewahren, womit er etwa meint, beim Besteigen des Schafotts die „Knie nicht zittern“ lassen. Tal, 50, 82. Wer auf der anderen Seite mit der Gestapo verhandelt, sich als Kapo „auf die Seite der Peiniger“ schlägt, oder auch nur den Misshandlungen allzu deutliche Reaktionen folgen lässt, identifiziert er als mangelhaftes und darob fragliches Individuum. Ebd., 57. 7.6 Offenbarung des geistlichen Führers Gegenüber seinen Mitgefangenen steht Lilje in mehrfacher Hinsicht auf er‐ höhter Position. Er ist fähig zur Distanzierung von den unmittelbaren Haftzu‐ ständen, lebt innere Haltung und Disziplin vor und lässt im Gegensatz zu ihnen keine Betroffenheit erkennen. 445 Der Glaube ist ihm nicht nur Stärkung zum Überstehen der Haftzustände, er stiftet auch die Möglichkeit zur Reflexion der NS-Gewalt. Als Verkünder des Evangeliums ist Lilje zudem in der Lage, auf seine Mitgefangenen einzuwirken und unter ihnen den Glauben erneut zu stärken. Nicht nur, dass die NS-Gewalt keine Auswirkungen auf Lilje hat, in ihrem Zugriff auf ihn entlarvt sie sich als Farce; zwar habe sie tausendfach Leid und Tod gebracht, zeige sich ihm aber als mangelhafte „Kunst mit einem blinden Fleck im Auge.“ (Tal, 34) Als Sprecher der göttlichen Sphäre scheinen Lilje alle weltlichen Belange nicht zu betreffen. Die Folge dieser konsequenten Abstraktion auf die Ebene höherer Zusammenhänge ist eine Perspektivierung des Nationalsozialismus und seiner Gefängnisse, die deren Gewalt nicht inhaltlich verhandelt, sondern die Stellung zu ihnen als gültigen Maßstab der Kritik etabliert. Aus diesem Grund erscheinen Haft und Gericht in Im finstern Tal nicht als systematische Gewalt einer politischen Herrschaft, sondern als „finsteres Tal“ des Subjekts, das es als stärkende Prüfung zu begrüßen gilt. Lilje lobt insbesondere den Nationalismus der Oppositionellen des 20. Juli, ihren (wiedererstarkenden) Glauben sowie ihre würdevolle Haltung in Haft. Bezeichnenderweise mit der Einschränkung: „Gewiß, nicht alle von ihnen waren ‚Helden‘. Vereinzelte litten sogar zu sichtbar unter Haft und Entehrung.“ (Tal, 53) Der Heroismus seiner Mitgefangenen endet für Lilje dort, wo die Gewalterfahrung eine auch nach außen tretende Wirkung auf sie hat. Das Wesen der nationalsozialistischen Gewalt erscheint demnach als innere Prüfung. Den Nationalsozialismus selbst schildert Lilje als dämonisches Absolutum, welches die Dimension des Politischen gänzlich verneine und dem einzig auf der Ebene höherer Gewissheiten begegnet und widerstanden werden könne. Auf dieser Ebene konstatiert Lilje die eigene prinzipielle Differenz gegenüber dieser Herrschaft: Er selbst begegnet dem Regime nicht als Staatsfeind, wird lediglich von der Gestapo als solcher erkannt. 234 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal Durch sein Beharren auf dem Standpunkt abstrakter Glaubensbekenntnisse als Dissens besteht für Lilje schlicht keinerlei Notwendigkeit, sich gegenüber den Inhalten der nationalsozialistischen Herrschaft zu positionieren oder sich gar mit den eigenen Schriften nach 1933 - den Kriegspredigten und -aufsätzen - auseinanderzusetzen. Die alle Aspekte von Im finstern Tal dominierende Abstraktion weg von der Sphäre des Weltlichen ist programmatische Strategie der Selbstlegitimation: In ihr zeigt sich eine Figur, die nur als Christ auftritt, in den Zusammenhängen der göttlichen Ordnung denkt, spricht und agiert und also von der Sphäre des Weltlichen prinzipiell nicht zu tangieren ist. Darin inszeniert sich Lilje als jedweden politischen Verhältnissen überlegen. In seiner Selbststilisierung geht Lilje aber noch einen Schritt weiter. Die Auseinandersetzung mit der Sphäre des Weltlichen verläuft in Im finstern Tal entlang des Erfolgsmaßstabs. Liljes Diskreditierung des Nationalsozialismus bestimmt vom Telos des letztlichen Zusammenbruchs die Formen dieser Herr‐ schaft als mangelhaft und zum Scheitern verurteilt. Ebenso Liljes Auseinander‐ setzung mit dem 20. Juli, durch dessen Scheitern lediglich der Beleg geliefert sei, dass Deutschland „nicht mehr die Kraft [besaß], die schwere Krise, die das Dritte Reich darstellte, von sich aus und von innen heraus zu überwinden.“ (Tal, 53) Der historische Misserfolg beglaubigt für Lilje den Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Eine andere Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus oder der Opposition gegen diesen schließt er hingegen kategorisch aus. Entlang dieses Maßstabs stellt für Lilje jede Herrschaft eine legitime Staatsform und „würdige“ Ausformung der deutschen Nation dar, die sich im historischen Rückblick durchzusetzen vermochte. Auch der Inhalt der Nation ist ihr Erfolg. Darin äußert sich Lilje als Fürsprecher eines starken Staates, der sich durch seine Durchsetzungsfähigkeit legitimiert. Indem sich für ihn die Frage ihrer Zustim‐ mungswürdigkeit nur über den letztlichen Erfolg bemisst, etabliert er eine Sicht auf jede Staatsmacht, die deren Programmpunkte und Herrschaftsformen als gänzlich irrelevant kennzeichnet: Unter Verweis auf den christlichen Glauben liefert Lilje darin eine Affirmation der Unterordnung unter jede Obrigkeit inklusive der Markierung der eigenen Beteiligung an dieser als unwesentlich, da menschliches Tun ohnehin keinen Einfluss auf den Determinismus des Gottesplans haben könne. In Lilje jedoch tritt ein Sprecher dieser Zusammen‐ hänge auf, der, ohne jede inhaltliche Positionierung gegenüber den politischen Verhältnissen und also ohne von diesen in jeglicher Form affiziert zu sein, immer auf der Seite des historischen Siegers steht. Diese Haltung überhöht Lilje als die eines reinen Glaubens. In der Allgemeingültigkeit seines Anspruchs geht diese Haltung über die Klä‐ rung von Liljes persönlichem Verhältnis zum Nationalsozialismus hinaus und 7.6 Offenbarung des geistlichen Führers 235 446 Dass die (evangelische) Kirche für Lilje per se eine antifaschistische Kontinuität darstellt, zeigt sich u. a. auch darin, dass sich zahlreiche Mitglieder der NSDAP und anderer NS-Organisationen gegenüber den siegreichen Alliierten zum Beweis ihres Leumundes zuerst auf ihre „Kirchentreue“ berufen. Tal, 115. preist diesen als Figur an, die sich generell durch ihre Haltung der Sphäre des Weltlichen gegenüber auszeichnet. Lilje ist der Einzige, der die Haft als „geistige Freiheit“ erlebt (Tal, 66 f.). Doch ist er zudem in der Lage, diese Überlegenheit auch in die neue Gesellschaft zu transferieren und dort unmittelbar wirksam zu machen: Im Chaos des militärischen Zusammenbruchs und der Befreiung zeigt Im finstern Tal Lilje mit einem Talar angetan in der Gefängniskirche, wo er seinen Mitgefangenen eine Predigt hält. Gegenüber seinen geschundenen und verwirrten Mitinsassen steht er als geistlicher Orientierungsgeber bereit und präsentiert sich so für die neuen Zusammenhänge als Opfer und darin unverrückbarer Sprecher der göttlichen Schicksalspläne. Diese Sonderstellung des Geistlichen findet ihre institutionelle Fortsetzung im Auftreten weiterer Kirchenfiguren: Wenig nach diesem Auftritt wird Lilje von drei Vertretern des Hannoveraner Landesbischofs mit dem Auto abgeholt (ebd., 117-119). Inmitten vermeintlich vollumfänglicher Hilflosigkeit und Zerstörung scheinen die Kirchenstrukturen noch einigermaßen intakt. Sowohl auf theologischer wie praktischer Ebene zeigt Lilje eine Kontinuität auf, die ohne die Zwischenzeit des Wiederaufbaus sofort weiterwirken kann. 446 Diese Berechtigung unterstreicht Lilje im Epilog von Im finstern Tal, in dem er den eigenen Anspruch ausformuliert, die Erkenntnisse der Haft in die neuen Verhältnisse zu tragen und dort produktiv zu machen. „Nach jener königlichen Stille aber, […] die ihn innerlich frei gemacht hat wie nie zuvor, wird er noch oft zurückblicken und wird immer aufs neue von der Frage bewegt werden, ob es denn das, was ihm im Angesichte jener Todesgrenze an schönsten und köstlichsten Gaben Gottes erkennbar wurde, nicht auch mitten im Leben gibt. Noch stärker aber bewegt ihn die Verpflichtung, die jene Zeit auf ihn gelegt hat. […] Und er weiß, daß es […] nur eine irdische Verheißung gibt: den unerschütterlichen Gehorsam gegenüber der heiligen Ordnung Gottes, der göttlichen Wahrheit, dem ewigen Recht, den jene durch ihr Sterben über alle Schranken verschiedener religiöser und politischer Überzeugungen hinweg bewährt haben. Und er hofft, daß hier eine Stelle sei, von der aus die chaotische Verwirrung, die noch immer unser Volk niederdrückt, geheilt werden könne.“ (Tal, 121 f.) Lilje resümiert seine Hafterfahrung als Zeit der Stärkung, der indessen auch eine persönliche „Verpflichtung“ erwachse, die in die postfaschistische Zeit verweist: Das Andenken der Opfer des Nationalsozialismus sei verbunden 236 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 447 Perels, „Theologie“, 253f. mit der Drohung einer Kontinuität dieser Gewalt, der es entgegenzuwirken gelte durch die Orientierung auf die christlichen Glaubensgrundsätze und die Gewissheit einer göttlichen Ordnung. Nur mit einer derartigen geistlichen Anleitung könne sich die „Heilung“ des „Volkes“ vollziehen, also die Stärkung des durch militärischen Zusammenbruch und alliierte Besatzung erniedrigten Nationalismus. Programmatisch erklärt Lilje, sich ausschließlich als Christ zu äußern. Im Kontext von Im finstern Tal bedeutet das, sich als Nationalist zu äußern: Die Nation ist sowohl gültiger Maßstab für seine Ausführungen zum Gottesplan wie letztgültiger Bezugsrahmen für die Beurteilung des Individuums. Für Lilje schlägt sich der Determinismus der göttlichen Ordnung in der weltlichen Sphäre in den Begriffen „Volk“ und „Nation“ nieder. Lilje vertritt eine Synthese von Glauben und Staat insofern, als in seiner Vorstellung die Maßstäbe politischen Handelns mit denen der christlichen Glaubenssätze in eins fallen. Wo er diese Synthese gefährdet sieht, erhebt er Einspruch. So gegen den Nationalsozia‐ lismus, dessen Kirchenpolitik die Sphären des christlichen Glaubens und der Nation entzweit habe. Diese Ideologie ist der Inhalt von Liljes Faschismuskritik in Im finstern Tal, ist darüber hinaus aber konstituierendes Moment seines staatstheoretischen Denkens. Perels konstatiert, dass Lilje grundsätzlich in seinen Schriften einen starken Staat mit christlicher Orientierung verfechte: „Für ihn ist das staatsvermittelte Christentum […] ein zentraler, positiver Bezugs‐ punkt, aus dem sich auch Kriterien für seine Rolle als Zeitgenosse ergeben. […] Das gewaltsame Vorgehen Karls des Großen gegen die Sachsen mit dem Ziel, sie zu christianisieren, wird ebenso gerechtfertigt wie Luthers Wort im Bauernkrieg, daß man die Bauern erschlagen soll wie einen tollen Hund, weil die Bauern wie tolle Hunde gewütet hätten. […] Die Staatsgewalt, die dem Willen des Volkes entgegengesetzt ist, erscheint als christlich geboten. […] Im Sinne eines neokonstantinischen Denkens, einer staatsnahen Version des Christentums, strukturiert sich Liljes Handeln nach 1945, insbesondere in seinem höchst wirksam gewordenen Zeitungsprojekt, dem ‚Sonntagsblatt‘. Liljes Stellung zu den großen politischen Streitfragen der Bundesre‐ publik orientiert sich weitgehend an den Leitlinien einer Regierung, die von einer christlich firmierenden Partei festgelegt werden.“ 447 Für Lilje braucht es die Wechselbeziehung und gegenseitigen Bekräftigungen von Glauben und Staat, um beiderseitigen Erfolg zu sichern. Gegen Ende von 7.6 Offenbarung des geistlichen Führers 237 Im finstern Tal taucht diese Notwendigkeit gleichsam als Warnung in Bezug auf das Recht und die von diesem erstrebte Gerechtigkeit auf: „Wo die Gerechtigkeit allein in die Hände der Menschen gerät und kein Schimmer von der neuschaffenden Gewalt der Vergebung mehr darauf fällt, versinkt sie unauf‐ haltsam im Hoffnungslosen. Die Hüter der Gerechtigkeit in einem Volke mögen es wohl bedenken, daß eine verweltlichte Justiz eine furchtbare Angelegenheit ist; wer will sie, wenn erst ihre metaphysische Bindung gelöst ist, vor dem Verkommen im Flugsand wechselnder menschlicher Ziele bewahren? “ (Tal, 108) Der Bezug auf die höhere Gerechtigkeit Gottes wird nicht im Sinne eines Naturrechts ausgebaut, sondern mahnt zur Vorsicht vor der menschlichen Anmaßung: Positives, also vom Menschen gesetztes Recht könne keinen An‐ spruch auf die Gerechtigkeit haben, die jenseits des Weltlichen in der Sphäre göttlicher Ordnung existiere. Die Gewissheit dieser Ordnung müsse auch für eine staatliche Herrschaft die Maßstäbe ihrer Handlungen liefern. An der Schnittstelle dieser beiden Sphären bietet er sich an als Vermittler zwischen pragmatischen Entscheidungen und höheren Zusammenhängen der Welt. Beständig verlange es nach der Orientierung hin zur göttlichen Wahrheit und diese kann er liefern. Im finstern Tal preist Lilje als in jeglicher Hinsicht „besonderes Opfer“ an, der die Haft als Stärkung erlebt und die darüber hinaus seine Befreiung als Möglichkeit versteht, die gewonnenen Erkenntnisse als Seelsorger der Nation produktiv zu machen. Darin äußert sich die Stimme einer geistlichen Machtelite, die ihren Anspruch anmeldet auf Teilhabe an den neuen Verhältnissen. Aufgrund seiner Schilderung der eigenen Opferschaft glorifiziert sich Lilje als besonders geeignet dazu, als Führungskraft an der Schnittstelle zwischen staatlicher und göttlicher Machtsphäre - etwa in Position eines Landesbischofs - in die neue Gesellschaft zu treten. 7.7 Fazit Trotz eines beiderseitig größtenteils wohlwollenden Verhältnisses, der langjäh‐ rigen Förderung durch die NS-Organe einerseits, einer nur von einigen kirchen‐ politischen Einwänden überschatteten Staatstreue Liljes andererseits, wurde der Theologe noch kurz vor dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands als Staatsfeind identifiziert und verfolgt. Es bestehen wenig Zweifel, dass Lilje bei einem nur kurzfristig längeren Andauern der Kampfhandlungen, wenn nicht das Todesurteil, dann eine längere Inhaftierung, die Deportation in ein KZ oder die Ermordung gedroht hätte. Im finstern Tal verhandelt dieses Gewalterleben entlang der faktisch belegbaren Station von Liljes Inhaftierung. Indessen schil‐ 238 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal dert Im finstern Tal die Geschehnisse eingeordnet in den höheren Verlauf des Gottesplans, der sich erklärtermaßen erst im historischen Ausgang erschließe. Vom Haftalltag abstrahiert die Schrift auf die Ebene höherer Zusammenhänge, auf welcher die systematische NS-Gewalt lediglich Indizien der göttlichen Ordnung darstellt. Diese Darstellungsart lässt Im finstern Tal zunächst wie eine Einkehrschrift wirken, in der die individuelle Beschäftigung des isolierten Subjekts mit Gott im Vordergrund steht. Indessen ist das Exponieren von Liljes Haltung und die Inszenierung seiner Perspektive auf die Haft als gültige Weise der Betrachtung der Welt keine Durchhaltepsychologie und rein persön‐ liche Überlebensstrategie. Vielmehr offenbart sich in Liljes Hafterfahrung eine besondere Qualität des Opfers, welche es über die Dauer der Inhaftierung hinaus emporhebt. Sein Beharren auf den letztgültigen Zusammenhängen prädestiniert ihn zum geistlichen Führer auch über das Ende des NS-Regimes hinaus. Ausschließlich als Christ auftretend, identifiziert sich Lilje als unberech‐ tigtes Opfer, das gleichermaßen herausgehoben ist aus den politisch-sozialen Zusammenhängen. Lilje ist gleichermaßen überrascht über seine Inhaftierung durch die Gestapo, weiß nicht um die Gründe seiner Befragungen und fühlt sich gleichzeitig innerlich „längst gerüstet“ für das ihm Bevorstehende (vgl. Tal, 13). Die in Im finstern Tal ausgebreitete Distanzierung von allen weltlichen Interessen offenbart sich mit Blick auf Liljes Faschismuskritik, vor allem aber auf seine Biographie sowohl im Nationalsozialismus wie in der Nachkriegszeit, als persönliche Rechtfertigungsstrategie: Als Theologe beschäftigte sich Lilje nicht mit ausschließlich moralischen, kirchenhistorischen oder rein theologischen Fragen. Vielmehr hatte er sich bereits in der Weimarer Republik, während des Nationalsozialismus und weiter in Nachkriegsdeutschland und BRD wiederholt zu zeitaktuellen politischen wie gesellschaftlichen Debatten geäußert, wozu er zudem als einer von äußerst wenigen Geistlichen die massenmedialen Möglichkeiten der Zeit intensiv ausschöpfte. Im finstern Tal ist fraglos eine Rechtfertigungsschrift, in der Lilje das Faktum seiner Inhaftierung durch den Nationalsozialismus ausbreitet, um die eigene Unbescholtenheit gegenüber Vorwürfen nationalsozialistischer Affizierung her‐ auszustellen. Die Schrift zeichnet ein Bild von Lilje als fraglos antifaschistisches Opfer. Diese Figur steht im Widerspruch zu ihrem historischen Vorbild, welches bis weit in die 1940er Jahre in Reden und Schriften zur Unterstützung des Nationalsozialismus aufgerufen hatte. Liljes Aussage in Im finstern Tal, das Scheitern der NS-Herrschaft schon längst erkannt zu haben, steht in scharfem Widerspruch zu seinen Kriegspredigten, die die Kampf- und Opferbereitschaft der Deutschen forcierten. Aufgrund dessen entwirft Lilje die Figur des nur auf die Botschaft des Evangeliums bedachten und prinzipiell von weltlicher 7.7 Fazit 239 448 Ludwig, Lilje, 76-80; Uden, Publizist, 45f. 449 Vgl. Kuessner, „‚Krieg‘“, 219f. Ideologie unantastbaren Christen. Liljes Willen zur Unterordnung unter die weltliche, da gottgegebene Obrigkeit bei gleichzeitiger Betonung seiner Distanz gegenüber dem Nationalsozialismus ist eine Schimäre, die den Versuch darstellt, das eigene Verhältnis zu dieser Herrschaft ex post zu rechtfertigen. Der Schluss liegt nahe, dass Lilje mit Im finstern Tal sein Bild in der deutschen Nachkriegsgesellschaft und insbesondere gegenüber den alliierten Besatzungsmächten vom Verdacht persönlicher Teilhabe an der NS-Herrschaft angesichts seiner Schriften und Kriegspredigten entlasten wollte. Die Immu‐ nisierung gegenüber Vorwürfen nationalsozialistischer Sympathien erschien notwendig, da Lilje am Beispiel seines Dienstherrn und Landesbischofvorgän‐ gers Marahrens unmittelbar erlebt hatte, welche Folgen die Unterstützung des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit haben konnte. Dies galt insbesondere für Lilje, der sich seit Kriegsende für die Marahrens-Nachfolge ins Spiel gebracht hatte 448 und davon ausgehen musste, seitens der britischen Behörden besonders gründlich geprüft zu werden. Der Nachfolger des Hannoveraner Landesbischofs musste über jeglichen Zweifel erhaben sein. Aufgrund dessen schien es Lilje als notwendig zu erachten, die Schilderung der eigenen Haft zur grundlegenden Abrechnung mit dem NS-Regime auszubauen. Auch die Verhandlung des Wi‐ derstands scheint mit Bedacht auf die öffentliche Meinung gegen Ende der 1940er Jahre hin geschrieben. Der Aspekt der Rechtfertigung von Im finstern Tal beinhaltet somit auch die Anmeldung für eine konkrete Position, die in besonderem Maße die Integrität der sie bekleidenden Person erforderte. Mit dieser Anmeldung war Lilje erfolgreich und wurde 1947 in Hannover zum Bischof geweiht, weitere Posten innerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche folgten. Bereits 1948 erhielt er die Möglichkeit zur Herausgabe einer Zeitschrift. Bis in die späten 1960er Jahre und noch darüber hinaus war Liljes Status als Widerstandskämpfer gegen den NS-Staat unumstritten. 449 Die Konsequenz dieser Darstellungsweise ist die konsequente Subsumption der nationalsozialistischen Gewalt sowie des Leides, das diese hervorrief, unter zwingend deterministische Gesichtspunkte höherer Zusammenhänge der Welt. In Liljes Verhandlung der Haft als Erleuchtungserfahrung indessen sind die Auswirkungen dieser Gewalt als positive Erfahrungen zurück in das Subjekt verlagert. Somit komme es letztlich auf die individuelle Haltung an, ob die Gewalt nur als solche oder aber als Chance und Gewinn erlebt werden könne. Die staatlichen Machtmonopole, die der Nationalsozialismus willkürlich und maßlos in Gefängnissen und Lagern nutzte, sowie die Art, wie Menschen 240 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal 450 Ludwig, Lilje, 90-92, 98f. dort inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, kommen darin keinesfalls kritisch in den Blick. Eher noch affirmiert Lilje diese als Momente nationaler Durchsetzungsfähigkeit. Nicht nur die Bestimmungen der Haft, sondern auch die politischen Verhält‐ nisse gelte es nach Lilje zu erdulden. In Auslegung der Zwei-Reiche-Lehre propagiert er die Akzeptanz und Unterordnung unter die staatliche Obrigkeit. Die Rolle des Glaubens innerhalb dieser Ordnung sieht er mitnichten als Kontrollinstanz oder moralische Orientierung. Vielmehr solle das Christentum durch die staatliche Durchsetzungsfähigkeit florieren und in dieser aufgehen, worin sich auch ein Machtanspruch der Kirchen als vermittelnde Instanz der göttlichen Sphäre formuliert. Ex negativo ist auch Im finstern Tal der Ruf nach einer Herrschaft, die die kirchliche Sphäre innerhalb der Nation unangetastet lasse und darin eine Harmonisierung von Glauben und Herrschaft hervorbringe (klarer eine Herrschaft, die die kirchliche Einflusssphäre unangetastet lässt). Einer derartig erfolgreichen Herrschaft könne Lilje als Sprecher der göttlichen Wahrheit zustimmen. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus bot Lilje diese Vorstellung die Möglichkeit, den erniedrigten deutschen Nationa‐ lismus durch die Verbindung zum Göttlichen zu stärken. Entsprechend ist Liljes Auftreten in der Nachkriegszeit zu verstehen, in der er wiederholt die Nähe zu staatlichen Organen und Repräsentanten suchte: Zwar setzt er sich unmittelbar nach dem Krieg vehement für die Trennung von Kirche und Staat ein und agitierte für einen universellen Pazifismus. 450 Im Zuge des Aufstiegs der BRD zu staatlicher Souveränität wandelte sich sein Auftreten rasch: Von seinem Eintreten für eine schnelle Erledigung der Schuldfrage bis zur Unterstützung der Wiederbewaffnung blieb Liljes Handeln stets dem Primat des starken Staates unterworfen. Keinesfalls aber erachtete Lilje explizit die von den Briten angestoßene demokratische Ordnung, die später die BRD werden sollte, als Ausformung dieser Synthese von Glauben und Nation. Tatsächlich trifft dies auf wirklich jede Form erfolgreicher staatlicher Herrschaft zu. Wie austauschbar die jeweilige Herrschaftsform entlang seines rigorosen Erfolgsmaßstabs ist, illustriert eine frühere Äußerung Liljes, publiziert 15 Jahre vor Erscheinen von Im finstern Tal - nur bezog er sich diesmal auf den Faschismus, den Lilje damals als die Zukunft Deutschlands anpries. In einem Artikel in der von der Landeskirche Hannover publizierten Monatsschrift Evangelische Wahrheit schreibt Lilje 1932 über den wachsenden Einfluss der NSDAP in Deutschland: „Das gewaltige Anwachsen des Nationalsozialismus ist fast selbstverständlich. Man wird sich vor der Unart hüten müssen, ihn zunächst immer erst auf seine ‚Grundsätze‘ 7.7 Fazit 241 451 Z.n.-Grosse, „Niemand“, 136. schulmeisterlich zu verhören, sondern wird zuerst eine einfache geschichtliche Tatsache festzustellen haben: Es ist diejenige Bewegung, die die entscheidende politische Grundforderung - Aufhebung des Unrechts von Versailles - seit Jahren am wirkungsvollsten vertreten hat, und deren Wirkung es vor anderm zuzuschreiben ist, daß diese Forderung in Deutschland - und damit in der Welt - nachdrücklich ausgesprochen und gehört und anerkannt wird. Der Nationalsozialismus ist also - trotz seiner eigenen Aussagen - nicht in erster Linie als umfassendes politisches oder gar weltanschauliches Programm zu werten, sondern als geschichtliche Bewegung, als Volksbewegung. Ihr umfassender Opfermut wird durch die über 200 Tote auf das Eindrücklichste erwiesen, die diese Bewegung heute schon im Dienst ihres Zieles verloren hat - eine Tatsache, die auch der politisch Andersdenkende nur mit größter Achtung hinnehmen kann. Es ist mit großer Bestimmtheit zu erwarten, daß der Nationalsozialismus noch im Laufe dieses Jahres […] in irgendeiner Form an der Regierung beteiligt wird. Die Frage, ob das wünschenswert ist, ist mit Ja zu beantworten. […] Zwei kritische Fragen sind […] an den Nationalsozialismus zu richten: Eine Frage des äußeren politischen Gelingens: ob es ihm in weitergehendem Maße als bis jetzt gelingen wird, in die ‚marxistische‘ Front einzubrechen und damit die vorläufige Erstarrung der innenpolitischen Frontenbildung wieder in Fluß zu bringen. […] Die zweite Frage ist eine geschichtliche: ob er wirklich im entscheidenden Augenblick über die geistigen Führer verfügen wird, die ihm dem äußeren Anschein nach jetzt noch zu fehlen scheinen.“ 451 Bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus den frühen 1930er Jahren sind die maßgeblichen Fragen, die Lilje an dessen Programm interessieren, jene nach der internationalen Vormachtstellung der deutschen Nation, die in der Aufhebung des „Diktats von Versailles“ zentral von den Nationalsozialisten vorgebracht wurde. Liljes „kritische“ Fragen indessen beziehen sich auf den Erfolg, den man sich von der nationalsozialistischen Außenpolitik gegen Kommunismus und Sowjetunion versprechen könne, sowie die Installation einer zentralen Führerfigur. Erklärtermaßen verwahrt er sich gegen die „Unart“, den Nationalsozialismus erst noch „schulmeisterlich“ nach seinen Inhalten, Zielen und Methoden zu befragen. Vielmehr legitimiere sich die „Bewegung“ bereits über die Anzahl ihrer Mitglieder, die bereits für sie starben und darin die Inbrunst ihrer nationalen Forderungen belegten. Es erscheint zynisch, dass Lilje in Im finstern Tal auf die gleiche Weise den „Opfermut“ Stauffenbergs rühmt, der gleichfalls im Namen der deutschen Nation handelte, nur eben diesmal gegen die Nationalsozialisten (vgl. Tal, 52). Der Lilje 1932 noch so als Verheißung scheinende Nationalsozialismus disqualifizierte sich 242 7 Hanns Lilje: Im finstern Tal für ihn in dessen Zusammenbruch 1945. Dennoch blieb der Erfolg der Nation das bestimmende Moment in Liljes Denken. Auch an den postfaschistischen Folgestaat stellt Lilje nach wie vor die gleichen Ansprüche nationaler Größe. An einem solchen nationalen Erfolg wollte er als geistlicher Führer, als Vermittler zwischen staatlicher und metaphysischer Ebene teilhaben. Sowohl 1933 wie 1945 gelang ihm dies. 7.7 Fazit 243 452 Günter Wirth, „Anatomie des Widerstandes. Ernst Wiecherts Bericht Der Totenwald“, in: -ders., Landschaften des Bürgerlichen. Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 2008 (Lite‐ rarische Landschaften, 10) [1988], 201-212, hier: 202; vgl. Jörg Hattwig, Das Dritte Reich im Werk Ernst Wiecherts. Geschichtsdenken, Selbstverständnis und literarische Praxis. Frankfurt/ M., 1984 (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur, 739), 14 f., 22 f.; Sarkowicz, Mentzer, Literatur, 406f. 453 Ferdinand van Ingen, „Zwischen ‚Totenwolf ‘ und ‚Totenwald‘. Ernst Wiechert und die völkische Literatur“, in: Onderdelinden, Sjaak, Interbellum und Exil, Amsterdam 1991 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 90), 140-161, hier: 153; Hans-Martin Pleßke, Der die Herzen bewegt. Ernst Wiechert, Dichter und Zeitzeuge aus Ostpreußen. Hamburg 2003, 33ff. 8 Die Verkörperung deutscher Kulturtradition als Avantgarde ihres Wiederaufbaus. Ernst Wiechert: Der Totenwald 8.1 Biographische Hinführung Mit der Verhaftung von Ernst Wiechert am 6. Mai 1938 wurde ein Star der deutschsprachigen Literaturwelt zum Opfer der nationalsozialistischen Gewalt. Obgleich heute weitgehend in Vergessenheit geraten, war Wiechert seit der späten Weimarer Republik und bis in die 1950er Jahre hinein Verfasser von Bestsellern, Liebling seines Publikums und Kanonliterat. Nach vergleichsweise kurzer KZ-Haft entlassen, lieferte Wiechert mit Der Totenwald eine der frühesten wie prominentesten literarischen Bearbeitungen von Lagererfahrung. Seinen literarischen Erfolg begründete Wiechert Anfang der 1920er Jahre mit den Romanen Der Wald (1922) und Der Totenwolf (1924). Unter dem Eindruck der Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg entstanden, entwarfen bereits diese litera‐ rischen Erstlinge scharfe Kritiken der modernen Lebenswelt: Einer zunehmend urbanisierten Massengesellschaft hielt Wiechert in den Romanen idealisierte Naturdarstellungen und die einsame Kontemplation in ihnen entgegen. 452 Mit diesem „Naturmystizismus“, welcher die Hinwendung zur Natur und eine „einfache“, bäurische Lebensweise feiert, sowie mit dem Überhöhen dieser Erfahrung als Prozess spiritueller Einkehr benennt van Ingen die zentralen Themen, die Wiechert in zahlreichen Romanen und Erzählungen bis zu seinem Tod 1950 immer wieder bearbeitete. 453 Dabei konnte Wiechert über den Wechsel der politischen Herrschaftssysteme hinweg mit Veröffentlichungen wie Die Majorin (1934), Das einfache Leben (1939) und Missa sine nomine (1950) immer wieder Bestsellerstatus erreichen und ein treues, internationales Publikum um 454 Durchgängig wurden Wiecherts Texte in die meisten europäischen Sprachen übersetzt. Marcin Gołaszewski, Vom konservativen Schriftsteller zum Inneren Emigranten. Ernst Wiechert: Eine Fallstudie. Łódź, 2017, 11. 455 Marcin Gołaszewski, „Ernst Wiecherts Weg von einem der meistgelesenen Autoren im Dritten Reich zu seiner Inneren Emigration“, Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik 3/ 1 (2013), 45-54, hier: -45; ders., Fallstudie, 11. 456 Leonore Krenzlin, „Arrangement oder Widerstand? Zum literarischen Umgang mit der KZ-Erfahrung bei Ernst Wiechert“, in: Gołaszewski, Marcin; Krenzlin, Leonore; Wilk, Anna, Schriftsteller in Exil und Innerer Emigration. Literarische Widerstandspo‐ tentiale und Wirkungschancen ihrer Werke, Berlin 2019 (Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 6), 96-109, hier: 96f.; vgl. Gołaszewski, Fallstudie, 93-101. 457 Ebd., 14; Leonore Krenzlin, „Zwischen allen Stühlen. Ernst Wiechert in der politi‐ schen Öffentlichkeit 1933 bis 1947“, in: Beutner, Bärbel; Pleßke, Hans-Martin, Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert und sein Werk, Frankfurt/ M. 2002 (Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 3), 21-41, hier: -37. 458 Bärbel Beutner, „Ernst Wiecherts Darstellung des ‚Dritten Reiches‘ in Selbstzeug‐ nissen“, in: Gołaszewski, Marcin; Krenzlin, Leonore; Wilk, Anna, Schriftsteller in Exil und Innerer Emigration. Literarische Widerstandspotentiale und Wirkungschancen ihrer Werke, Berlin 2019 (Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 6), 79-95, hier: 87f.; Hattwig, Dritte Reich, 28-32; Leonore Krenzlin, „Erziehung hinter Stacheldraht. Wert und Dilemma von Ernst Wiecherts konservativer Opposition“, in: Ehrlich, Lothar; John, Jürgen; Ulbricht, Justus H., Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus, Köln 1999, 149-162, hier: -151; dies., „Zwischen“, 23. sich scharen. 454 Gołaszewski spricht von einem regelrechten „Wiechert-Kult“, der Leserinnen und Leser aus allen Altersstufen und Gesellschaftsschichten über Dekaden versammelte. Diese feierten den Schriftsteller als literarischen „Seelsorger“, dessen Texte überzeitliche Fragen verhandelten und vorbildhafte Lebensmodelle präsentierten. 455 Zudem war Wiechert nicht nur einer der meistgelesenen, sondern auch einer der meistrezipierten Autoren seiner Zeit, dessen Veröffentlichungen regelmäßig im Feuilleton besprochen und in akade‐ mischen Veröffentlichungen diskutiert wurden: Gefeiert von „teilweise schwär‐ merische[m]“ Publikum und Literaturkritik rangierte Wiechert, so konstatiert Krenzlin, über Jahre „unter dem romantisierenden Signum ‚Dichter der Wälder‘ oder ‚Dichter der Stille‘.“ 456 In der frühen Bundesrepublik schließlich wurden Wiecherts Texte als Schullektüre endgültig Teil des offiziell anerkannten litera‐ rischen Kanons. 457 Bereits mit seinem literarischen Debüt der frühen 1920er Jahre hatte sich Wiechert einen Namen als „Autor von militant nationalistischer Gesinnung“ gemacht. Zudem war er selbst seit der frühen Weimarer Republik in den Netzwerken der völkisch-konservativen Literaturszene aktiv, die mehr oder weniger offen gegen die demokratische Ordnung polemisierte. 458 Einhellig konstatiert die Wiechert-Forschung, dass sich der Schriftsteller als dezidierter Antiparlamentarier gerierte, der in der Demokratie die „Grundwurzel alles 246 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 459 Aus einem Brief an Wiecherts Freund Friedrich Tucholski vom 24. April 1922, z.n.-Hattwig, Dritte Reich, 28. 460 Ebd., 32. 461 Ebd., 15f. 462 Ebd., 28. Übels, sogenannte Herrschaft des Volkes, damit der Masse, damit des Unsinns“ identifizierte. 459 Als „völkischer“ Autor nahm er es sich zur Aufgabe, dem deutschen Volk in seinen Schriften jene vorbildhaften Leitbilder aufzuzeigen, die im Zuge der Zivilisierung des 20. Jahrhunderts - gefasst in Schlagwörtern wie Urbanisierung, Demokratisierung, Technisierung usw. - verschwunden seien. Hattwig fasst Wiecherts in Weimar etabliertes poetologisches Programm als Propagierung folgender Elemente zusammen: „Überbewertung von Blut und Boden im Sinn des Sozialdarwinismus; Verherrlichung des Kampfes und Krieges; Idolisierung eines Deutschland, das sich auf germanische Traditionen rückbesinnt; Kritik der christlich-unterwürfigen Moral und der als ent‐ artet bezeichneten Zivilisation; Antikommunismus und reaktionäre Zielprojektion; Ablösung demokratischer Gesellschaftsformen zum Zweck der Errichtung eines Führer-Gefolgschaft-Systems“. 460 Das prominenteste poetologische Merkmal in Wiecherts Œuvre wurde die rigorose Differenzierung zwischen dem zum Führer berufenen besonderen Individuum und der als Masse erscheinenden Mehrheitsbevölkerung. Dieser Dualismus fungiert als theoretische Untermauerung von Wiecherts Zivilisati‐ onskritik. Seine Konzeption untersucht Hattwig, hier insbesondere mit Blick auf den Roman Der Totenwolf von 1924: „Die Einsamkeit des Waldes erzieht die Menschen, die in ihm leben, zu Einzelgängern. […] Dieser sozialdarwinistische Individualismus schützt vor den Verführungen des städtischen Lebens und formt das Gesetz der Natur im Menschen aus. Individualismus und Naturgesetzlichkeit ergänzen sich somit in zirkulärer Weise […]. Die Masse setzt sich zusammen aus einer Ansammlung von Menschen, die auf sich gegenseitig ange‐ wiesen sind und durch ihr Zusammenleben den Gesetzen des Waldes widersprechen. So wird die Masse nicht aus Individuen gebildet, sondern aus Menschen, die durch die Zivilisation verdorben sind und damit, bewußt oder unbewußt, gegen die ewigen Gesetze der Natur verstoßen.“ 461 Dem folgend verbildlichen Wiecherts Texte einen geistigen Elitarismus, der die nach dem „Naturgesetz“ Lebenden als Führer begreift, als eine „Aristokratie“ nicht der Herkunft, sondern des intellektuell-moralischen Potentials. 462 Die Überbetonung des besonderen Individuums als „geistige Aristokratie“ oder 8.1 Biographische Hinführung 247 463 Ebd., 69, 118. 464 Vgl. van Ingen, „Zwischen“, 146f. 465 Carola Schiefke, „Ernst Wiechert: Der Totenwald (1946)“, in: Agazzi, Elena; Schütz, Erhard, Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945- 1962), Berlin 2013, 291-293, hier: 291; vgl. Manfred Franke, Jenseits der Wälder. Der Schriftsteller Ernst Wiechert als politischer Redner und Autor. Köln 2003, 24 f.; Gołas‐ zewski, „Weg“, 46. 466 Krenzlin, „Erziehung“, 151. 467 Hattwig, Dritte Reich, 13 ff. In einem Brief an seinen Verleger Georg Naumann vom 20. Juni 1924 ließ Wiechert hinsichtlich einer gewünschten Entfernung des Symbols vom Umschlag verlautbaren: „Das Hakenkreuz […] muß unter allen Umständen fort, obwohl ich ihm nahe genug verwandt bin oder vielleicht gerade deshalb […].“ Z.n. Guido Reiner, Ernst Wiechert im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Mit einem Verzeichnis der Ernst-Wiechert-Manuskripte im Haus Königsberg (Ernst-Wiechert Bibliographie 2. Teil). Paris 1974, 39. 468 Hattwig, Dritte Reich, 12 f.; vgl. Reiner, Bibliographie-2, 40f. 469 Krenzlin, „Erziehung“, 152. Figur mit „geistesaristokratischer Disposition“ gegenüber dem Negativbild des „vermassten“ Kollektivs identifiziert Hattwig als dominantes Merkmal in allen Werken Wiecherts seit den 1920er Jahren bis in die Nachkriegszeit. 463 Lediglich dieser individualistische Fokus, darauf weist van Ingen hin, löste nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Skepsis seitens der NS-Kulturbe‐ hörden an dem Starautor Wiechert aus, schien doch die darin ausgedrückte Aversion gegen „die Masse“ schwer vereinbar mit ihrem Ideal einer „Volksge‐ meinschaft“. 464 Jedoch kann es kaum verwundern, dass Wiechert nach 1933 von offizieller Seite zunächst umworben wurde und bald „zu den wohlwollend geförderten Hoffnungsträgern der völkischen Literatur“ gehörte. 465 Wie Krenzlin feststellt, präsentierte sich der „haßerfüllt[e]“ Gegner der Demokratie als ideologischer Sympathisant, wenn nicht gar als offener Bekenner zum nationalsozialistischen Programm: 466 Bereits 1924 war Der Totenwolf mit dem Hakenkreuz auf dem Schutzumschlag erschienen. 467 Zudem leistete, Hattwig folgend, Wiecherts vertraglich festgeschriebene Weigerung, den Roman in jüdischen Zeitungen ab‐ drucken zu lassen, „einer faschistischen Rezeption de[n] größte[n] Vorschub“. 468 Zu Beginn der 1930er Jahre schien es, das neue Regime hätte in Wiechert seinen Poeta laureatus gefunden. Nach der Auswertung staatsinterner Beurteilungen zu einer längeren Auslands-Lesereise 1933/ 34 kommt Krenzlin zu dem Schluss, dass Wiechert als „Sendbote, Vermittler und Fürsprecher des nationalsozialisti‐ schen deutschen Staates“ galt. 469 Entsprechend arbeiteten sowohl die parteiliche Journalistik wie auch die NS-nahen germanistischen Fachpublikationen daran, 248 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 470 Eine Übersicht dieser Untersuchungen liefert van Ingen, „Zwischen“, 141-153. Gołas‐ zewski versammelt in seiner Wiechert-Monographie einige kritische Stimmen aus NS-Organisationen, die es seit 1933 durchaus auch gab. In erster Linie unternehmen diese jedoch den Versuch, strittige Aspekte der Werke des Erfolgsautors mithilfe einiger Anmerkungen oder Änderungsvorschläge ebenfalls in die NS-Ideologie einzuordnen. Vgl. Gołaszewski, Fallstudie, 224f. 471 Krenzlin, „Arrangement“, 99-101; Gołaszewski, Fallstudie, 203-205; vgl. Hattwig, Dritte Reich, 242 f.; Sarkowicz, Mentzer, Literatur, 407. 472 Fang, „Wahrheit“, 98; Hattwig, Dritte Reich, 44-47; Krenzlin, „Arrangement“, 100; dies., „Erziehung“, 153; Sarkowicz, Mentzer, Literatur, 407; Schiefke, „Wiechert“, 291. 473 Für eine Untersuchung der beiden Reden, auch hinsichtlich der Analyse ihrer Kritik am Nationalsozialismus, siehe Franke, Wälder, 24-48; Gołaszewski, Fallstudie, 190-223; Hattwig, Dritte Reich, 44-68; Krenzlin, „Erziehung“, 153; Klaus Weigelt, „Ernst Wie‐ cherts Reden an die Jugend“, in: Beutner, Bärbel; Pleßke, Hans-Martin, Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert und sein Werk, Frankfurt/ M. 2002 (Schriften der Internatio‐ nalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 3), 59-86, hier: 66-73 sowie Reiner, Bibliographie-2, 48-70. 474 Gołaszewski, „Weg“, 46; vgl. Fang, Täterbild, 101; Hattwig, Dritte Reich, 70-79. Wiechert als faschistischen Schriftsteller zu verorten, dessen Texte künstleri‐ sche Bearbeitungen und Erweiterungen der Ideologie der NSDAP seien. 470 Wiechert selbst stand dem nationalsozialistischen Staat bei dessen Machtan‐ tritt ambivalent gegenüber: Er begrüßte etwa den Ausschluss „volksfremden Schrifttums“ durch die NS-Kulturpolitik, 471 kritisierte aber das Regime in den ersten zwei Jahren seiner Herrschaft wiederholt öffentlich. Insbesondere in zwei Reden, die im Auditorium Maximum der Universität München vor der dortigen Studierendenschaft gehalten wurden, übte Wiechert Kritik an der aktuellen Politik: Der Dichter und die Jugend, gehalten am 6. Juni 1933, sowie Der Dichter und seine Zeit vom 16. April 1935 sind aggressiv nationale Appelle an die „Jugend“, die sich gegen deren „Vereinnahmung“ durch die Nationalsozialisten aussprechen. 472 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gleichschaltung von Bildung und Jugendorganisationen formuliert Wiechert darin Warnungen vor einer Herrschaft, welche ihre ursprüngliche revolutionäre Energie in der Konstituierung eines Staatsapparates verfälsche, die „Jugend“ der „Vermassung“ preisgebe und so ihr nationales Ideal gefährde. 473 Beide Reden wurden in den Worten Gołaszewskis einhellig „als Warnung vor dem Regime der Nationalsozialisten wahrgenommen“ und lösten durch die Prominenz ihres Autors international ein entsprechend heftiges Medienecho aus. 474 Blieben nach der Rede 1933 Konsequenzen staatlicherseits noch weitgehend aus, begann 1935 ein Prozess der Ausgrenzung: Wiechert wurde von der Gestapo überwacht, die, nachdem Abdrucke der Reden in ausländischen Zeitschriften erschienen waren, nach möglichen illegalen Auslandskontakten fahndete. Nach außen beließen es die NS-Organe bei einer Rüge im Völkischen Beobachter, wäh‐ 8.1 Biographische Hinführung 249 475 Die Angaben zu den staatlichen Repressionsmaßnahmen stützen sich auf die Darstel‐ lungen in Gołaszewski, „Weg“, 46; ders., Fallstudie, 231 f.; Hattwig, Dritte Reich, 71 f.; Krenzlin, „Erziehung“, 149-153. 476 Gołaszewski, „Weg“, 50. Zu der Erzählung mitsamt einer Untersuchung der in ihr vorgebrachten NS-Kritik siehe Hattwig, Dritte Reich, 101-104. 477 Vgl. Gołaszewski, „Weg“, 46-50; Wirth, „Anatomie“, 204. 478 van Ingen, „Zwischen“, 153; vgl. Gołaszewski, „Weg“, 47-49. 479 Gołaszewski, Fallstudie, 272. 480 Beutner, „Darstellung“, 85; Hattwig, Dritte Reich, 109-113; Krenzlin, „Zwischen“, 38. Beutner spricht von Wiecherts Verhaftung am 8.-Mai 1938. rend Wiechert weiterhin am literarischen Leben NS-Deutschlands teilnahm, Dichterlesungen besuchte und Reisen unternahm, die ihn auch ins europäische Ausland führten. Nach wie vor galt Wiechert dem Regime als Schriftsteller, den es für die nationale Idee der Nationalsozialisten zu gewinnen oder zumindest für die Öffentlichkeit als deren Verfechter auszustellen galt. 475 Dieser offizielle Kurs änderte sich 1937/ 38. Wiecherts 1937 vorgelegte Erzählung Der weiße Büffel oder Von der großen Gerechtigkeit erhielt als vermeintlich kritisches Gleichnis auf das nationalsozialistische Deutschland keine Druckerlaubnis. 476 Ein Reiseverbot wurde ausgesprochen, öffentliche Auftritte wurden untersagt. 477 Die Frage, ob und wie Wiechert in den offiziell geförderten Kanon völkischer Literatur einzugliedern sei, endete laut van Ingen zu diesem Zeitpunkt: „Das Fazit lautet ohne Umschweife auf irrationale Gefühlsduselei, und die nicht wenigen Versuche bis zum Jahr 1938, den vielgelesenen Wiechert für den neuen Staat zu ‚retten‘, wenn nicht zu vereinnahmen, waren - mit Einschränkung [weniger] Titel - als gescheitert anzusehen.“ 478 Am 2. März 1938 erging gegen den Theologen Martin Niemöller das Urteil eines NS-Sondergerichts zu sieben Monaten Haft, eine Strafe, die Niemöller bereits in Untersuchungshaft abgesessen hatte. Dennoch wurde er als „persönlicher Gefangener“ erneut inhaftiert und ins KZ Sachsenhausen deportiert. Wiechert protestierte in einem Brief an eine lokale Parteidienststelle, wahrscheinlich die Gauleitung München, 479 gegen die Inhaftierung und stellte zudem in Aussicht, Zahlungen an Wohlfahrtseinrichtungen wie das Winterhilfswerk künftig zu verweigern und Niemöllers Familie zukommen zu lassen. Dies nahm das Regime zum Anlass für drastische Repressionen gegen den Schriftsteller: Am 6. Mai wurde Wiechert selbst verhaftet und nach Verhören im Polizeigefängnis München Anfang Juli in das KZ Buchenwald verbracht. 480 Unsicher ist, warum Wiechert nur eine relativ kurze Haftstrafe zu verbüßen hatte und, nach persön‐ 250 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 481 Wiechert wurde am 24. August aus Buchenwald entlassen und nach Berlin transportiert, wo er, nach seinem Gespräch mit Goebbels am 30.-August, freigelassen wurde. Reiner, Bibliographie-2, 118. 482 Hattwig, Dritte Reich, 115. Für Wiecherts Freilassung setzten sich neben Landesforst‐ meister Wilhelm Hug, der Himmler persönlich kannte und an diesen schrieb, u. a. der Pianist Wilhelm Kempff und Heinz Hilpert, Intendant des Deutschen Theaters Berlin, ein. Klaus Briegleb, „Shoah 1938“, in: Wiechert, Ernst, Der Totenwald, Frankfurt/ M. 2008, 139-182, hier: 163f.; Franke, Wälder, 79; Gołaszewski, Fallstudie, 275, i.F. Für eine Auflistung weiterer potentieller, prominenter Fürsprecher siehe Reiner, Bibliographie 2, 112 f. Darin enthalten ist auch das Faksimile der Briefe Hugs an Himmler. Ebd., 108ff. 483 Beutner, „Darstellung“, 85; Pleßke, Herzen, 25. 484 Hattwig, Dritte Reich, 115. 485 Krenzlin, „Erziehung“, 158; vgl. Gołaszewski, Fallstudie, 276 f.; Krenzlin, „Arrangement“, 106. Auch mit Blick auf die Schilderungen in Der Totenwald fallen die vergleichsweise privilegierten Haftbedingungen auf: Zunächst nur in einer Doppelzelle untergebracht, kann Johannes noch im Gestapogefängnis Sonderrationen empfangen: „Das Frühstück kommt, eine täglich neue Freude für den Gefährten, der wieder Kaffee, Brötchen, Butter und ein Ei erhält wie in einem kleinen Hotel.“ Totenwald, 30. Seiner Familie ist es ge‐ stattet, ihn deutlich häufiger als üblich, und auch außerhalb der regulären Besuchszeit, zu besuchen. Ebd., 34; vgl. Hattwig, Dritte Reich, 112. Siehe auch die Tagebucheinträge von Goebbels, der am 5. August von einer auf drei Monate terminierten Haft spricht, bevor er sich Wiechert „persönlich kaufen“ wolle. Am 30. August folgt der Eintrag: „Ich lasse mir den Schriftsteller Wiechert aus dem K.Z. vorführen und halte ihm eine Philippika, die sich gewaschen hat. Ich dulde auf dem von mir betreuten Gebiet keine Bekenntnisfront. Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab. Eine letzte Warnung! Darüber lasse ich auch keinen Zweifel. […] Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernichtung. Das wissen wir nun beide.“ Joseph Goebbels, Tagebücher. Band 3: 1935-1939, 3.-Aufl. München 2003 [1992], 1247 f., 1263; vgl. Hattwig, Dritte Reich,-115. licher Ermahnung von Goebbels in Berlin, Ende August freigelassen wurde. 481 Indessen konnten Bemühungen von Wiecherts Ehefrau Paula Marie nachge‐ wiesen werden, welche Interventionen aus Kreisen der Regimeführung sowie einiger exponierter Kulturschaffender anstieß. 482 Hinzu kamen laut Pleßke und Beutner wohl auch Bedenken des Regimes, nach Carl von Ossietzky, der im Mai 1938 an den Folgen seiner KZ-Haft verstorben war, den Tod eines weiteren Prominenten zu verantworten zu haben. 483 Hattwig wiederum beurteilt die Inhaftierung als „letzte Warnung, als Mittel, Wiecherts Starrsinn und Ableh‐ nung nationalsozialistischen Behörden gegenüber zu brechen.“ 484 Dem schließt sich Krenzlin an, welche Wiecherts Inhaftierung als öffentlichkeitswirksame Drohung gegenüber dem als Unruhestifter auffällig gewordenen Autor wertet. Sie erachtet seine Verhaftung wie auch „relativ schnelle Entlassung nach acht Wochen“ als Indizien einer „Erziehungsmaßnahme gegenüber einem waghal‐ sigen Schriftsteller“ und „symbolische[..] Warnung an die Oppositionellen im konservativen Lager überhaupt.“ 485 Dafür spricht auch, dass Wiechert, obgleich nach seiner Gefangenschaft von Seiten der Regierung lediglich toleriert, wei‐ 8.1 Biographische Hinführung 251 486 Adam, Traum, 285. Zu Wiecherts Stellung nach seiner Freilassung 1938 siehe Go‐ łaszewski, „Weg“, 46, 52 f.; Krenzlin, „Erziehung“, 158; van Ingen, „Zwischen“, 153; Waltraud Wende-Hohenberger, Ein neuer Anfang? Schriftsteller-Reden zwischen 1945 und 1949. Stuttgart 1990, 19. 487 Zum Werbeverbot siehe Beutner, „Darstellung“, 90 f. Den Bestsellererfolg von Das einsame Leben stellen dar: Hattwig, Dritte Reich, 137; Guido Reiner, Ernst-Wiechert-Bi‐ bliographie 1916-1971. 1. Teil. Werke - Übersetzungen - Monographien und Dissertationen mit kritisch-analytischen Kurzbesprechungen. Paris 1972, 33. 488 Zum ersten Schreiben siehe Fang, „Wahrheit“, 98. Für das Faksimile des Briefes: Gołaszewski, Fallstudie, 529 f.; vgl. auch Briegleb, „Shoah“, 166f. 489 Gołaszewski, „Weg“, 46. 490 Wende-Hohenberger ergänzt, dass dazu wohl auch eine nach seiner Freilassung aus dem KZ verhängte Vorzensur aller neu eingereichten Manuskripte beitrug. Wende-Ho‐ henberger, Anfang? , 19. terhin Mitglied der Reichsschrifttumskammer blieb und als solches publizieren konnte. Auch wurde er unmittelbar nach seiner Freilassung dazu genötigt, am „Weimarer Dichtertreffen“ teilzunehmen, einer der wichtigsten kulturellen Veranstaltungen des „Dritten Reiches“, auf der, ausgerichtet vom Propagan‐ daministerium, einem internationalen Publikum die deutsche Literaturszene präsentiert werden sollte. In den Worten Adams: „Wer sich dort zeigte, wurde zum literarischen Establishment der Zeit gerechnet.“ 486 Trotz offizieller Diskreditierung und des Verbots, seine Texte in Verlagspro‐ spekten und Buchhandlungsauslagen zu bewerben, konnte sich Wiechert auch nach seiner Inhaftierung ein treues Publikum erhalten, wie der durchschlagende Erfolg seines Romans Das einfache Leben von 1939 belegt, welcher mit einer Auflage von 260.000 bis 1942 zu einem Bestseller der ersten Kriegsjahre wurde. 487 Dabei zeigen mehrere Dokumente, dass sich seine Leserschaft bis in die höheren Ebenen der Reichsführung erstreckte: So bespricht ein internes Schreiben des Reichspropagandaministeriums vom Januar 1940 Wiecherts Werke weiterhin lobend im Sinne der „Blut-und-Boden-Dichtung“. Noch am 11. Juni 1943 lud Hans Frank, damals Reichsminister und Generalgouverneur in Polen, den Autor in einem Fanbrief auch zu einer Lesereise ins Generalgouvernement ein. 488 Indessen blieb Wiechert nach der Veröffentlichung von Das einfache Leben der Öffentlichkeit weitestgehend fern und lebte isoliert auf seinem Hof Gagert in Wolfratshausen nahe München. Waren öffentliche Stellungnahmen und Kommentare zum Zeitgeschehen des Autors bereits ab 1935 rar geworden, zog er sich nach seiner Freilassung laut Gołaszewski vollständig in die im Rückblick so genannte Innere Emigration zurück. 489 Bis nach Kriegsende publizierte Wiechert keine weiteren Texte. 490 Unmittelbar nach Kriegsende trat Wiechert erneut als Publizist in Erschei‐ nung und versuchte, anknüpfend an seinen anhaltenden Publikumserfolg, 252 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 491 Hattwig, Dritte Reich, 189. 492 Wiechert verfasste den Text in englischer Sprache als „The rich man and the poor Lazarus“ für den internen Gebrauch der alliierten Behörden. Reiner, Bibliographie 1, 36. seinen Geltungsanspruch als kulturelle Führungsfigur zu restaurieren. Laut Hattwig sah sich Wiechert in der Rolle eines orientierungsstiftenden „Sehers“ und „Nestors“ 491 insbesondere der deutschen Jugend. Wiechert, der ausgebil‐ deter Pädagoge war und bis 1933 als Gymnasiallehrer in Königsberg und Berlin gearbeitet hatte, sah sich auch als Literat in der Rolle eines Erziehers. Mit diesem Anspruch stieß er mitten hinein in die Debatte, die zwischen Schriftstellern und Intellektuellen der „äußeren“ gegen jene der „inneren“ Emigration entbrannt war. Beim Ringen um die Frage, wer sich während des Nationalsozialismus als Bewahrer eines „anderen“, „besseren“ Deutschland hervorgetan habe und aus dieser Position zum Vorreiter der wiederaufzubauenden Nation legitimiert sei, bezog Wiechert den Standpunkt der Inneren Emigranten. Exkursorisch sollen zwei Schriften Wiecherts aus der Zeit unmittelbar nach der Befreiung vorgestellt werden, in denen Wiechert diese Selbstlegitimation sowohl gegenüber den alliierten Besatzungsmächten wie der deutschen Öffentlichkeit vortrug. Exkurs: „Der reiche Mann und der arme Lazarus“ und die dritte Rede an die deutsche Jugend Noch im Spätsommer 1945 verfasste Wiechert „Der reiche Mann und der arme Lazarus“, eine Denkschrift, in der er Grundzüge einer Neuaufstellung Deutschlands und darüber hinaus Kritik an einigen Maßnahmen der alliierten Besatzung artikulierte. 492 Vor allem aber legt der Text Wiecherts eigenen Füh‐ rungsanspruch gegenüber einer Reihe anderer Positionen dar. Konkret heißt es dort über die emigrierten Schriftstellerkollegen: „Und da waren die Stimmen der großen Emigranten, wie die Stimmen Thomas Manns und Franz Werfels, und vielleicht war es nicht ganz recht und billig, nur auf sie zu lauschen. Denn sie hatten das gefährdete Schiff verlassen, sobald der erste Sturmwind die Oberfläche des einst blauen Ozeans bewegt hatte. Sie hatten in Frieden und Sicherheit gelebt, sie waren reich und wohlgenährt geworden, während ihr Volk im Schatten der Galgen und des Stacheldrahtes leben musste, in Armut und Hunger, in Krieg und Zerstörung. […] Es ist kein guter Pfarrer, der zu den Armen geht und niemals Hunger oder Not kennengelernt hat, und dessen Wangen noch vom letzten 8.1 Biographische Hinführung 253 493 Wiechert, „Lazarus“, 633. Alle Verweise auf diese Textausgabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel „Lazarus“. Die gleiche Delegitimation äußert Wiechert 1949 in seiner Autobiographie Jahre und Zeiten. Dort heißt es: „Sie [die Emigranten] dürfen nicht mit einem Anspruch des Ruhmes zurückkehren. In ihrem Fortgehen lag eine bittere Notwendigkeit, aber kein Ruhm. Wer vor Bluthunden flieht, kann bedauert und getröstet und verbunden werden, aber er braucht nicht gerühmt werden. Nur die in der Hölle gewesen sind, könnten vielleicht gerühmt werden, aber auch von ihnen haben viele sich hinter den Kesseln versteckt.“ Ernst Wiechert, „Jahre“, 748, Herv. J.V. 494 Siehe Kap.-5.2. Glas Portwein schimmern, während er den Armen erzählt, daß Wasser die beste Gabe des Allmächtigen Gottes sei.“ 493 Beim Wiederaufbau, so Wiechert, sollten diejenigen in vorderster Reihe stehen, die den Nationalsozialismus tatsächlich erlebt und - als Opfer - erlitten hatten. Zentrale Determinante für die Partizipation am Wiederaufbau ist laut Wiechert die persönliche Betroffenheit. „Externe“ Positionen diskreditierten sich indessen als saturierte Heuchler. Gegenüber diesen preist Wiechert sich als Vorbild an, explizit mit der Begründung einer aus der Haft geschöpften Perspektive: „Ich hatte Krieg und Not kennengelernt, und was mir an den Horizonten meiner Seele gefehlt hatte, hatten Gefängnis und Lager mir mehr als genug gegeben.“ („Lazarus“, 649) Hingegen gilt diese Legitimierung mitnichten für alle Opfer der National‐ sozialisten. Bereits in der Einleitung wurde angeführt, dass Wiechert ganze Häftlingsgruppen pauschal als „betrunkene“, „stehlende“, „raubende“, „verge‐ waltigende“ und „mordende Engel“ abstraft. 494 Lediglich auf das „besondere“ Opfer komme es an, das Wiechert gegenüber einer als Masse apostrophierten Mehrheit ehemaliger Gefangenen wie der ganzen Bevölkerung herausstellt: „Und der beste Teil des Volkes ist es, um den der beste Teil der Amerikaner sich kümmern sollte. Es braucht keine Verbrüderung mit der Masse des Volkes zu geben. Sie verdient keine Verbrüderung, sondern eine harte und kalte Hand. Aber mit denen, die guten Willens sind, sollte es eine Verbrüderung geben.“ („Lazarus“, 654 f.) Um diese wenigen Eliten, so Wiecherts Appell, sollten sich die Alliierten bemühen, diese als Repräsentanten des eigentlichen, „besseren“ Deutschlands anerkennen und zu Trägern von Neubeginn und Wandel bestellen. Als besonders geeignet zur federführenden Teilhabe dieses Wandels setzt Wiechert sich selbst, hatte er sich doch schon während des NS-Regimes nicht nur als antifaschistische Kraft, sondern zudem als Berater und „Seelsorger“ der Bevölkerung hervorgetan. 254 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 495 Reiner, Bibliographie-1, 36. 496 Wende-Hohenberger, Anfang? , 16. 497 Ebd., 16. „Und obwohl ich alle Eitelkeit seit vielen Jahren beiseitegelegt habe, bin ich doch berechtigt, zu sagen, dass in diesen Jahren Millionen von Deutschen meinen Worten gelauscht haben, in einer Zeit, in der niemand wagte, Worte statt der Phrasen zu gebrauchen. Daß sie meinen Büchern und Reden an die Münchner Studenten (1933 und 1935) gelauscht haben. Daß ich eines der wenigen Lichter in der Finsternis der Tyrannei für sie war. Dass ich so etwas wie der ‚Vater der Gerechtigkeit‘ für sie war, für die Gebildeten wie für den kleinen Mann.“ („Lazarus“, 631 f.) Einen derart nachdrücklichen Bescheidenheitshabitus bedienend stilisiert sich Wiechert zum schlichten Diener an der Gemeinschaft, der keinerlei persönliche Genugtuung über seine herausgehobene Stellung empfinde. Dennoch präsen‐ tiert sich der Autor darin als nichts Geringeres denn die beste und einzige Option eines kulturellen Führers des neuen Deutschland. „Der reiche Mann und der arme Lazarus“ entstand als Schrift für die alliierten Besatzungsstellen und war nicht für die Publikation vorgesehen. Nichtsdesto‐ trotz formulierte Wiechert den darin enthaltenen Führungsanspruch auch an anderer, sehr viel öffentlichkeitswirksamerer Stelle. Etwa zur gleichen Zeit wie die Denkschrift entstand ein Vortragstext, der die dritte Rede sein sollte, in der sich Wiechert explizit an die „Jugend“ richtete. 495 Die Rede an die deutsche Jugend gilt als eine der ersten öffentlichen Auseinandersetzungen eines prominenten deutschen Autors mit der Zeit des Nationalsozialismus sowie der Frage der Perspektivierung eines gesellschaftlichen Neubeginns. 496 Am 11. November 1945 hielt Wiechert vor einem zum Großteil aus Kriegs‐ heimkehrern und Ausgebombten bestehenden Publikum in den Münchner Kammerspielen die Rede an die deutsche Jugend. 497 Darin äußert sich Wiechert als Erklärer, der einer Orientierung bedürfenden Bevölkerung den Nationalso‐ zialismus als Schändung deutscher Geschichte und Kultur verortet: „Denn eben dieses war doch geschehen, daß in das Haus dieses Volkes, gefüllt mit den Schätzen einer tausendjährigen Kultur, eines Tages ein Landfremder getreten war, ohne Kenntnisse, ohne Wissen, ohne Kultur, ohne Takt oder Geschmack […]. Er ging durch die edlen Räume, wie ein Knecht durch ein erobertes Herrenhaus geht, mit schmutzigen Stiefeln, mit gestohlenen Ketten behangen, und er begann von den Wänden zu reißen […] und dafür hängte er auf, was er aus seinen finsteren Schächten mitgebracht hatte: die Tafeln der Gewalt, der Empörung, des Hasses, der Rachsucht. 8.1 Biographische Hinführung 255 498 Ernst Wiechert, Rede an die deutsche Jugend. München 1945 (Europäische Dokumente, Heft 1), 23 f. Alle Verweise auf diese Textausgabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel Rede dt. Jugend. 499 Explizit nimmt Wiechert die deutschen Soldaten gegenüber möglichen Schuldvor‐ würfen in Schutz: „Viele glaubten, daß es um das Vaterland gehe, und sie wußten nicht, daß es um die Partei ging. […] Ihre Hände blieben rein, auch wenn das Blut sie rötete.“ Rede dt. Jugend, 29. In Ausführung ihrer Gehorsamspflicht seien die Soldaten einem „Irrtum“ aufgesessen, über den im historischen Rückblick nicht zu richten sei. Ebd., 30; vgl. Wende-Hohenberger, Anfang? , 23 f., 28. Tatsächlich hatte sich Wiechert explizit gegen „Gehorsamsverweigerung“ oder gar aktiven Widerstand, bspw. den Attentatsversuch vom 20.-Juli 1944, ausgesprochen. Hattwig, Dritte Reich, 169. Und über allem das Bild des Antichrist, der die Erde verwüstet, um Gottes Werk zu stürzen.“ 498 Wiechert deutet den Nationalsozialismus als die gewaltsame Vereinnahmung der Nation, dessen Herrschaft ihre hehren Leistungen, Werte und Ideale ins Negative gewandelt habe und ihm darob als das manifestierte Böse begegnet. Wiechert wisse auch um die Gedanken der Deutschen, die sich von der externen Gewalt, dem „Einbruch des Landfremden“, vereinnahmen ließen und nicht aufbegehrt hätten gegen die Schändung der Nation: „[M]it dem ersten Stacheldraht, den man um das erste Lager schlang, war das Urteil über ein ganzes Volk gesprochen. Über ein Volk, das in seiner Mehrzahl das Böse schon erkannte, aber sich in seinen Hütten und Palästen verkroch, um die Schreie nicht zu hören. Das die Hände an die Augen preßte, um den Blutstrom nicht zu sehen, der langsam, langsam aber immer breiter und röter sich über die deutsche Erde ergoß.“ (Rede dt. Jugend, 17) Die Deutschen spricht Wiechert kategorisch an als vom Nationalsozialismus gewaltsam Vereinnahmte, Getäuschte und „Berauschte“: „Und die Pauken und Trompeten dröhnten, die Arme hoben sich wie Arme von Automaten, und der Rausch der Masse ergriff die Gesunden und Kranken.“ (Ebd., 15) Das Befür‐ worten seiner Inhalte schließt Wiechert ebenso aus wie dessen historisches Gewachsensein innerhalb Deutschlands. Im Gegenteil: „Unter der Führung von Räubern und Mördern wurde ein Volk gezwungen, aufzustehen, um die Welt zu erobern.“ (Ebd., 19) 499 Diese Passivität und die darin aufgeladene moralische Schuld verdeutliche die Besonderheit jener, die sich gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen hatten und als Konsequenz verfolgt und inhaftiert worden waren: „Die Helden und Märtyrer jener Jahre, sie sind nicht diejenigen, die mit dem Kriegs‐ lorbeer aus den eroberten Ländern zurückkehrten. Sie sind diejenigen, die hinter 256 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald Gittern und Stacheldraht zur Ehre des deutschen Namens starben und verdarben. Zu seiner alleinigen Ehre, denn eine andere gab es nicht mehr landauf und landab.“ (Ebd.) Es seien die NS-Opfer, die laut Wiechert den Gedanken und Wesenskern des „wahren Deutschlands“ auch während des Nationalsozialismus bewahrt hatten. Brauche es ohnehin „nicht viel mehr als die Finger einer Hand, um sie zu zählen“ (Rede dt. Jugend, 22, 41), stellt Wiechert unter diesen „Helden“ und „Märtyrer[n] der Lager“ in erster Linie die eigene Opferexistenz heraus. Bereits mit dem Titel knüpft Wiechert an seine Auftritte der 1930er Jahre an und verweist damit auf seine unter der NS-Herrschaft vorgebrachte Kritik. Im Text von 1945 unterstreicht er, mehrfach versucht zu haben, Antworten auf die Frage „Was sollen wir tun? “ zu geben. Dies sei der Grund für Wiecherts eigene Verfolgung und Inhaftierung gewesen: „Ich habe diese Antwort gebüßt, und Sie haben gebüßt, daß ihre Herzen sie nicht gehört haben.“ (Ebd., 32) Mehrfach in der Rede verweist Wiechert auf seine KZ-Haft in Buchenwald (vgl. ebd., 20, 38). Hatte er sich bereits in der Vergangenheit als (seinerzeit nicht erhörter) Orientierungsgeber hervorgetan, bekräftige seine Opferschaft die Rolle des Auserwählten auch für die Zukunft: „Ich weiß, was ich für viele Menschen in diesen bitteren Jahren gewesen bin: ein Licht, eine Hoffnung, und vielleicht so etwas wie das Gewissen eines verstörten Volkes. […] Ihr sollt wissen, daß auch mir nichts geschenkt worden ist in diesen Jahren, und erst wer gelitten hat, darf zum Leiden aufrufen.“ (Ebd., 38) Als berufener Sprecher der Nation sei Wiechert in der Lage zur Reflexion von Nationalsozialismus und des zwangsläufigen Wandels als seiner Konsequenz. Trost schöpft der Redetext daraus, dass die NS-Herrschaft nicht „Zufall und Versäumnis und Verschuldung“, sondern Zeichen dafür war, „daß das große gerechte Schicksal seine Hand aufgehoben hatte, um ein Volk zu stürzen, damit es in der Erkenntnis seiner Sünde einen neuen Anfang setze.“ (Ebd., 25 f.) Inhalt dieses Anfangs ist eine Neuausdeutung der Nation, die Wiechert am Ende seiner Rede beschwört: „Die Spaten der Totengräber sind zerbrochen, laßt uns die Spaten der Auferstehung in die Hand nehmen. Eine reinere Form wollen wir schaffen, ein reineres Bild, und einmal vielleicht werden wir das Schicksal segnen, weil es ein Volk zerbrach, damit aus den Trümmern eine neue Krone geglüht werde.“ (Ebd., 41) Wiecherts Rede an die deutsche Jugend entfaltet eine Faschismusinterpretation, die eine klare Differenz zwischen der Vorstellung eines „deutschen Geistes“ und einer externen Gewalt eröffnet. Bereits in seiner Anlage zielt der Text auf die Tilgung der moralischen Diskreditierung Deutschlands, zu der die 8.1 Biographische Hinführung 257 500 Wiechert, „Jahre“, 539; vgl. Franke, Wälder, 19. 501 Wiechert, „Jahre“, 686f. 502 Zu den Lesereisen siehe Hattwig, Dritte Reich, 116, 165-67. 503 Wiechert, „Jahre“, 680; vgl. Hattwig, Dritte Reich, 107-109; Reiner, Bibliographie 2, 103 f.; Wende-Hohenberger, Anfang? , 18, i.F. In Der Totenwald wird Johannes’ Nichtteilnahme mit Verweis auf die Farce der „‚geheimen und freiwilligen‘ Wahlen“ im Nationalsozia‐ lismus geschildert. Totenwald, 20. Alliierten die Verbrechen im Krieg und in den Lagern einer Weltöffentlichkeit ausbreiteten: „Gekrönt“ will Wiechert Deutschland wieder sehen unter den anderen Nationen. Für diese Neuausdeutung der Nation präsentiert sich der Autor als qua seiner Opferschaft berufene Führungsinstanz. * Unmittelbar nach Kriegsende machte Wiechert seinen Opferstatus als Ausweis einer besonderen Eignung zur Führung der diskreditierten Nation geltend. Diesen führte er ebenfalls zur Richtigstellung von Äußerungen und Tätigkeiten während des Nationalsozialismus an. Aktiv arbeitete er daran, den Verdacht persönlicher Teilhabe zu bereinigen, indem er sein Verhältnis zur NS-Führung in der Reflexion als beiderseitig von deutlichen Aversionen geprägt schilderte: So schreibt er in seiner 1949 veröffentlichten Autobiographie Jahre und Zeiten, das auf dem Umschlag seines Romans Der Totenwolf von 1924 abgedruckte Hakenkreuz sei nicht als nationalsozialistische Anbiederung zu verstehen, sondern lediglich als „Zeichen des Sonnenrades“ und darüber hinaus „gegen meinen zornigen und vergeblichen Protest“ aufgedruckt worden. 500 Weiter heißt es dort, er sei nach seiner Freilassung aus Buchenwald zumindest zeitweise aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen worden und hätte unter ständiger Kontrolle der Gestapo gestanden. 501 Unter diesen Maßgaben wären jedoch weder seine danach genehmigten Auslandsreisen noch die Publikation und der durchschlagende Erfolg seines Romans Das einfache Leben von 1939 möglich gewesen. 502 Hinzu kommt Wiecherts angebliche Weigerung, an der Abstimmung zum „Anschluss Österreichs“ am 10. April 1938 teilzunehmen. Zum Zeitpunkt der Wahl befand sich Wiechert im Urlaub, bei der Jagd bei SA-Obersturmbannführer und Landesforstmeister Hug im Schwarzwald. 503 Während die faktischen Zusammenhänge dieser Begebenheiten aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen sind, etwa die Gründe, warum Wiechert zu genau dieser Zeit die Einladung seines Freundes annahm, ist sein Insistieren auf der Weigerung ein deutliches Indiz für die Dringlichkeit, mit der er gegenüber der Nachkriegsgesellschaft seine Distanz zum Nationalsozialismus auszustellen suchte. 258 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 504 Wende-Hohenberger, Anfang? , 17. Die Auflage des Redeabdrucks allein im Zinnen-Verlag Kurt Desch erreichte 100.000 Exemplare. Reinhard Wittman, „Kurt Desch Verlag“, Internet: https: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Le‐ xikon/ Kurt_Desch_Verlag, zuletzt geprüft am: 4.9.2020. In den verschiedenen Ausgaben der Rede konnten textliche Differenzen identifiziert werden. Die Unterschiede in den Redeversionen belaufen sich auf schärfere Formulierungen bzw. gänzlich gestri‐ chene Sätze. Bis heute ist unklar, welche Version der Rede Wiechert im November 1945 in München hielt. Siehe dazu Joachim Hensel, „Ernst Wiecherts Rede an die deutsche Jugend“, Mitteilungen der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft (IEWG) 18 (2020),-70-93. 505 Süddeutsche Zeitung, 12.-November 1945, z.n.-Wende-Hohenberger, Anfang? , 17. 506 Die Neue Zeitung, 15.-November 1945, z.n.-Hattwig, Dritte Reich, 191. 507 Hans Mayer, „Zwei Bücher von Ernst Wiechert“, in: Hermlin, Stephan; Mayer, Hans, Ansichten. Über einige neue Schriftsteller und Bücher, Wiesbaden 1947, 61-68, hier: -62. 508 van Ingen, „Zwischen“, 153. 509 Gołaszewski, Fallstudie, 270; Reiner, Bibliographie-2, 96. Wiecherts Selbststilisierung zum Orientierungsgeber der Nation schien ein Großteil der deutschsprachigen Öffentlichkeit zunächst anzuerkennen. Seine Rede an die deutsche Jugend etwa wurde breitenwirksam in der deutschen Presse besprochen und abgedruckt, sowohl in Auszügen als auch vollständig, zum Bestseller. 504 Wiechert, so drückte es Carl Puetzfeld in der Süddeutschen Zeitung aus, habe als „berufener Sprecher der Zeit“ gesprochen. 505 Die Neue Zeitung aus München sprach von „einer religiösen Weihestunde“, die das Publikum lautlos, wie „aus einer Kirche“ aus dem Theater entlassen habe. 506 Auch der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der bis zu seinem Umzug in die Sowjetische Besatzungszone 1948 als Chefredakteur für Radio Frankfurt arbeitete, lobte Wiechert: In diesem begegne den Deutschen ein „wirklicher Schriftsteller“ und „ein Künder des halb wortlosen, tief innerlichen Leides“. 507 Obwohl Wiechert jahrelang weitgehend zurückgezogen gelebt und seit 1939 keine Schriften publiziert hatte, konnte er seine Rückkehr in die kulturelle Öffentlichkeit Nachkriegsdeutschlands quasi nahtlos vollziehen. Van Ingen konstatiert, dass Wiechert „nach 1945, ohne die Thematik und den Stil zu ändern, ein Buch nach dem anderen publizieren“ konnte, die sofort wieder breit rezipierte Bestseller wurden. 508 Laut Gołaszewski und Reiner sahen auch die alliierten Kontrollinstanzen im Fakt von Wiecherts Inhaftierung ein hinlängli‐ ches Zeichen seines Status sowohl als Oppositioneller wie auch als moralisch nicht hinterfragbarer Literat. 509 Unbestritten galt Wiechert in der Nachkriegszeit aufgrund seiner beiden Münchner Reden sowie seiner Inhaftierung nach der Intervention in der Causa Niemöller als Oppositioneller gegen den Nationalso‐ zialismus. Öffentlichkeitswirksam untermauert wurde diese Anerkennung 1953 in der Aufnahme in Günther Weisenborns Der lautlose Aufstand. Bericht über 8.1 Biographische Hinführung 259 510 Günther Weisenborn (Hrsg.), Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewe‐ gung des deutschen Volkes 1933-1945. Reinbek bei Hamburg 1962, 203-207. 511 van Ingen, „Zwischen“, 153-155. 512 Ebd., 141. 513 „Geburtstag auf Hof Gagert. Ein Gedenkbuch für Ernst Wiechert“, Der Spiegel 21 (1947), 17-18, hier: -17. 514 Ebd., 18. die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-1945, worin Wiechert als Oppositioneller seit den 1930er Jahren geehrt wurde. 510 Entsprechend schnell fand eine Umdeutung von Wiecherts Œuvre statt: Was die Nationalsozialisten als in ihrem Sinne völkisch anknüpfungsfähig empfunden hatten, wurde in der Nachkriegszeit gerade als antiideologisch gedeutet, in den Worten van Ingens als Ausdruck eines Zugangs ins unpolitisch „Mystische“ bzw. ahistorisch „Mythische“. 511 In Besatzungszeit und BRD wurde Wiechert vor allem als Autor besprochen, dessen Texte überzeitliche Themen verhandelten. 512 In einem längeren Beitrag anlässlich des 60. Geburtstages des Schriftstellers 1947 fasst Der Spiegel u.a. die beredten journalistischen Geburtstagswünsche zusammen: „Man feierte den Dichter[…] als einen der ‚wesentlichsten Rufer gegen die drohende Entseelung des Menschengeschlechts.‘ […] Man erinnerte an den ‚unbeugsamen Streiter für die Humanitätsidee‘, dem die Tausendjährigen nach seiner Rede an die Jugend, nach seinen Vorlesungen über das Thema ‚Recht und Gewalt‘, nach seinem Protest gegen die Behandlung Pastor Martin Niemöllers Rede und Reise verboten und den sie ins Lager Buchenwald brachten. […] In Erinnerungen und Würdigungen, Gedichten und Grüßen bekennen sich hier Dichter und Gelehrte, bekannte und unbekannte Menschen, Jugend und Alter zu Ernst Wiechert.“ 513 Zwar fährt der Artikel fort, dass Wiechert es nicht vollbracht habe, die derart lobpreisenden Zuschreibungen literarisch zu erfüllen: Sein zuletzt erschienener Roman Die Jeromin-Kinder (1945/ 47) sei „eine Enttäuschung für viele gewesen“, die darin „nur wenige gültige Antworten auf drängende Fragen gefunden“ hätten. Darin bestätigt Der Spiegel freilich Wiecherts Status als kulturelle Leit‐ figur, von dem das Publikum nachgerade davon ausging, in seinen Texten gültige Orientierungen zu aktuellen wie überzeitlichen Problemen zu formulieren. „Und die Deutschen bedürften doch seines Wortes, sie warteten auf ein Wort des Trostes und der Hoffnung und auf den Seher, der den Weg weise. Und es wäre doch unter den vielen, die heute schreiben, keiner berufener als Wiechert.“ 514 Wiecherts runder Geburtstag 1947 gab dem Verlag Kurt Desch zudem Anlass zur Publikation eines Gedenkbuches, in dem Autor: innen sowohl der „äußeren“ 260 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 515 Bekenntnis zu Ernst Wiechert. Ein Gedenkbuch zum 60. Geburtstag des Dichters. Mün‐ chen-1946. 516 Hattwig, Dritte Reich, 105; Schiefke, „Wiechert“, 291; Wirth, „Anatomie“, 210. 517 Fang, „Wahrheit“, 102. 518 Reiner, Bibliographie-2, 95 f.; van Ingen, „Zwischen“, 141. 519 Fang, „Wahrheit“, 101. 520 Ebd. 521 Tilman Krause, „Die Vernichtung begann schon 1938“, Die Welt 2008 (28.6.2008). wie „inneren“ Emigration Wiechert gemeinsam beglückwünschten. Bekenntnis zu Ernst Wiechert: Ein Gedenkbuch zum 60.-Geburtstag des Dichters versammelt Beiträge u. a. von Ricarda Huch, Hans Carossa und Werner Bergengruen, aber auch Johannes R. Becher, Schalom Ben-Chorin oder Hermann Hesse, die Wiechert als Leitfigur der deutschen Literatur ehrten. 515 Der erste größere Text, mit dem Wiechert nach Kriegsende an die Öffent‐ lichkeit trat, war eine Verarbeitung seiner Gefangenschaft: Der Totenwald. Ein erstes Manuskript entstand noch während der NS-Herrschaft, wahrscheinlich im Oktober 1939 unter dem Eindruck des einen Monat zuvor begonnenen Kriegs. 516 Wiechert vergrub die Schrift bis Kriegsende in seinem Garten. 517 Der Totenwald erschien 1946 bei Max Rascher, Zürich, sowie im Zinnen-Verlag Kurt Desch in München. Nachdem ein Vorabdruck des Textes bereits im Sommer 1946 im „Aufbau“, der Monatsschrift des Kulturbundes, erschienen war, erschien im Folgejahr zudem die Buchausgabe im Aufbau-Verlag Berlin. Begünstigt sowohl von der alliierten Aufklärungspolitik als auch der ungebrochenen Prominenz seines Autors erreichte der Text eine für die publizistischen Gegebenheiten der Zeit enorme Breitenwirkung. Zahlreiche zeitgenössische Rezensionen lobten den Text als eine der ersten „dichterischen“ Verarbeitungen der Lager. 518 Bis heute liegen mehr als zwanzig Ausgaben in verschiedenen Sprachen vor. 519 Fang konstatiert im Rückblick, Der Totenwald gehöre zu den „Bestsellern der frühen Lagerliteratur“. 520 Mit diesem legte Wiechert eine der wirkmächtigsten Interpretationen der Lager und seiner Häftlingsgemeinschaften seiner Zeit vor. Bis heute ist er Schlüsseltext für zahlreiche Untersuchungen zu den frühen literarischen Verarbeitungen der nationalsozialistischen Lager. So stellte Tilman Krause Der Totenwald 2008 anlässlich der Neuauflage bei Suhrkamp in Die Welt heraus als „einen, wenn nicht den Basistext der deutschen Nachkriegsliteratur zu den NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. 521 Während Wiechert somit sowohl von der kulturellen Prominenz als auch von großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit hofiert wurde, seine Werke weiterhin meist wohlwollend besprochen und massenhaft gelesen wurden, mehrten sich auch die kritischen Stimmen. In die Kritik kam der Bestseller‐ autor, nachdem seine an die US-amerikanische Besatzungsmacht adressierte 8.1 Biographische Hinführung 261 522 Reiner, Bibliographie-1, 36. 523 Pleßke, Herzen, 28. 524 Gołaszewski, Fallstudie, 357 f.; vgl. Krenzlin, „Erziehung“, 161; Reiner, Bibliographie 1, 36; Wende-Hohenberger, Anfang? , 47 Zu Wiecherts (öffentlichem) Bekenntnis zur Invasion der Alliierten als Befreiung siehe Krenzlin, „Zwischen“, 22 f.; vgl. auch Rede dt. Jugend, 33. 525 Krenzlin, „Arrangement“, 108 f.; dies., „Zwischen“, 32 f.; Guido Reiner, Ernst-Wie‐ chert-Bibliographie. 3. Teil. Ernst Wiechert im Urteil seiner Zeit. Literaturkritische Presse‐ stimmen (1922-1975). Paris 1976, 94-112. 526 Die Parodie erschien zunächst im französisch lizenzierten Der Kurier, unterschieben mit „Hipponax“ [d.-i. Wolfgang Harich]. Reiner, Bibliographie-3, 60f. 527 Alexander Parlach [Erich Kuby], „Die erste und einzige Rede deutscher Jugend an ihren Dichter“, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 2/ 10 (15.5.1947), 10; vgl. Krenzlin, „Zwischen“, 33; Wende-Hohenberger, Anfang? , 48. Denkschrift „The rich man and the poor Lazarus“ aus dem Sommer 1945 an die Presse weitergegeben wurde und in Auszügen in deutscher Übersetzung am 4. März 1946 in der Münchner Neuen Zeitung erschien. 522 Laut Pleßke machte die Publikation hinsichtlich der darin geübten Kritik an den alliierten Maßnahmen Schlagzeilen, da sie einige rechtskonservative Kreise habe glauben lassen, in Wiechert einen Fürsprecher wider die Besatzung gefunden zu haben. 523 Dabei hatte sich Wiechert in dem Text doch emphatisch gerade für den militärischen Sieg der Alliierten ausgesprochen: „Und so glaubten wir an unsere Befreier von ganzem Herzen. Niemals in der Geschichte ist ein siegreiches Heer mit soviel gutem Willen, mit soviel Liebe, ja mit soviel Begeisterung empfangen worden.“ („Lazarus“, 638) Aus diesem Grund wurden auf der anderen Seite Stimmen laut, die Wiechert aufgrund seiner vermeintlichen Anbiederung gegenüber den Alliierten angriffen. Vor allem aber Wiecherts im gleichen Monat erschienener und im Ton weitaus versöhnlicherer Folgebeitrag „Vom Wolf und vom Lamm“, in welchem er zuvor geäußerte Kritik abschwächte und zum Teil zurücknahm, wurde laut Gołaszewski vielfach als peinlicher Rückzieher gewertet. 524 Das Bild des „Sehers“ begann zu bröckeln. Reiner spricht gar von einer regelrechten „Pressekampagne“ gegen den Schriftsteller mit dem Ziel der Demontage des Schriftstellers als gesellschaftlich akzeptierbare Figur. 525 In der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift Der Ruf erschienen gleich zwei Parodien auf Wiecherts Rede an die deutsche Jugend: im August 1946 die anonym veröffentlichte „500. Rede an die deutsche Jugend … frei nach Ernst Wiechert“ 526 sowie im Mai 1947 - anlässlich von Wiecherts 60. Geburtstag - die von Alexander Parlach (d. i. Erich Kuby) verfasste „Die erste und einzige Rede deutscher Jugend an ihren Dichter“. 527 Beide Beiträge parodieren Wiecherts typischen hohen Ton und verzerren ihn zum wortreich-pathetischen Gerede: 262 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 528 „500. Rede an die deutsche Jugend. Eine Parodie, frei nach Ernst Wiechert“, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 1/ 1 (15.8.1946), 12. „Wahrlich, ich aber sage euch, daß meine Worte Sakramente sein sollen allen Bedürf‐ tigen, und daß euch Bedürftigkeit not tut nach aller gleißnerischen Verblendung. Daß ihr nicht zu rächen und zu richten euch mehr aufwerfet und die Hand nicht zurückstoßt, die nicht von Blut befleckt ist. Gehöret niemals zu denen, bei denen das Fett dieser Erde ist, sondern werdet zu Lauschenden. Uns Dichtern aber ist gegeben, zu singen und zu leiden, und wenn da ein Sinn sein soll in den Träumen und Bitternissen meiner Einsamkeit, so geht und tilgt in Scheu und Redlichkeit das HJ.-Abzeichen von euren kärglichen Rockaufschlägen und kränzt mit dem unsichtbaren Orden der Versöhnung euch in der Zeit des großen Versöhnens! “ 528 Während der erste Beitrag den Sprecher Wiechert karikiert, liefert Parlachs Artikel eine deutlich schärfere Form der Bloßstellung. Dem Beitrag vorangestellt wurde der offizielle Verlagsaufruf zum Jubiläum des Autors abgedruckt: „Mitteilungen für Presse und Rundfunk Verlag Kurt Desch München April 1947 Sehr geehrte Herren, am 18.-Mai 1947 wird Ernst Wiechert sechzig Jahre alt. Wir dürfen annehmen, daß Sie aus diesem Anlaß eine mehr oder minder umfangreiche Würdigung des Dichters und seines Werkes bringen werden und erlauben uns, Ihnen heute eine Reihe von Unterlagen zu schicken, die Ihnen zu diesem Zweck dienlich sein können.“ Mit deutlicher Süffisanz beantwortete die Ruf-Redaktion das Anliegen Deschs: „Wohlan - es sei! So dringlichem Gebot nicht zu gehorchen, stünde uns nicht an, die wir am Tisch der Großen nur geduldet, uns ihrem weisen Urteil willig beugen.“ Der folgende Artikel spricht Wiechert die Position als Orientierungsgeber ab, von der er wie auch sein Verlag wie selbstverständlich sprachen. Für die „junge Generation“ zielten Wiecherts in hohem Ton formulierten Tröstungsangebote an ihrer Lebensrealität vorbei: „So manches Mal haben wir uns vorgestellt, wie Dich der Schlaf floh, weil eine Stimme in Dir war, die schrie: Johannes, steh auf und schreibe, Deine Gemeinde harret Deines Wortes! Gehorsam dem inneren Befehl, erhobst Du Dich, armer müder Mann, um zum andern Male die deutsche Sprache zu Schlagrahm zu quirlen und daraus eine Mauer um uns zu bauen, auf daß uns die böse Welt nicht überwältige. 8.1 Biographische Hinführung 263 529 Parlach [Kuby], „Rede“. 530 Ebd. Ach, hättest Du Dich doch darauf beschränkt, Bücher zu schreiben, vom Einfachen Leben zum Beispiel - worin freilich nur wenig echte Einfachheit zu finden ist - oder Märchen: Wir brauchten keine Notiz von Dir zu nehmen. Aber welcher Wahn erfüllt Dich, daß Du glaubst, Deuter unserer Sehnsüchte zu sein, unser Stecken und Stab im finsteren Tal? “ 529 Es macht die besondere Gehässigkeit des Artikels aus, dass dieser Wiecherts Prosa als eskapistische, harmlose und getrost zu ignorierende Literatur identi‐ fiziert, die öffentlichen Auftritte des Autors und seine wiederholten Adressie‐ rungen der deutschen Bevölkerung aber nachgerade als Provokation. Diese verunmögliche das wohlverdiente Ignorieren und fordere zur Reaktion heraus: „Vielleicht ist es aber auch unser Unglück, daß wir Erfahrungen hinter uns haben, die uns gegen die aufgeblähten Gefühle des Johannes, in dem sich martyriumsüchtige Demut und hoffärtigste Eitelkeit wunderlich mischen, empfindlich machen. Wir haben uns unser Zeitalter nicht ausgesucht. Wir müssen mit ihm so wie es ist, fertig werden. Das wird nur sein, wenn wir zwischen uns und die Wirklichkeit keine schöngefärbten Schleier hängen, wie Du sie aus Moral und Gefühl zu weben pflegst. Daß Dir ein Gott gab, zu sagen, was Du nicht leidest, ist Deine Sache. Du bist weder der erste noch der einzige, der dabei vortrefflich gedeiht. Daß Du Dich aber vermißt zu sagen, was wir leiden, veranlaßt uns nun unsererseits zu diesem Dementi.“ 530 Parlach entlarvt Wiecherts aus dem Opfer erwachsenden Führungsanspruch als Anmaßung, die es zurückzuweisen gilt. Seine Kritik bestreitet unter Verweis auf andere Opferexistenzen Wiecherts Status als besonderes Opfer. Für Parlach offenbare Wiecherts Leidensgestus einen Moment der Eitelkeit, die Schilderung seiner Haft als Martyrium eine Stilisierung, die im Vergleich mit dem Opfer‐ schicksal jedes und jeder Deutschen rasch den Nimbus des Besonderen verlöre. „[ J]ede Arbeiterfrau in der Großstadt [hat] während des Krieges Hundertfaches erlitten“. Immerhin bekräftigt auch Parlachs Zurückweisung von Wiecherts Führungsanspruch die Anerkennung des Opfers zur kulturellen Orientierungs‐ figur, erkennt in der Inszenierung des Autors jedoch die Selbstüberhöhung. Die Zurückweisungen der selbsternannten „jungen Generation“ waren viel‐ leicht die schärfsten Polemiken gegen Wiechert. Ob der Autor mit seinen Texten aber den Zeitgeist treffe und der Rolle als Orientierungsfigur gerecht werden könne, wurde in Abstufungen der Deutlichkeit gegen Ende der 1940er Jahre 264 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 531 Ernest Landau [? ], „Kommentare“, Neue Welt 2/ 1 (3.1.1948), 4. 532 Hans-Martin Pleßke, „‚Des ewigen Kampfes mit der Bürokratie müde‘. Die letzten Lebensjahre Ernst Wiecherts“, in: Beutner, Bärbel; Pleßke, Hans-Martin, Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert und sein Werk, Frankfurt/ M. 2002 (Schriften der Interna‐ tionalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 3), 43-57, hier: 45; vgl. Gołaszewski, Fallstudie, 355 ff.; Hattwig, Dritte Reich, 192. häufiger problematisiert. Die deutsch-jüdische Zeitung Neue Welt lobte in einem Artikel 1948 Wiecherts Haftdarstellung in Der Totenwald, stellt aber gleichzeitig fest: „Um Wiechert und seine Dichtungen, insbesondere den ‚Totenwald‘, ist in letzter Zeit nun eine Kontroverse entstanden. Während die Idealisten gerade das eindring‐ lich-pastellhaft Gezeichnete seines Stils und seine bilderreiche Sprache schätzen, tadeln die Realisten an Wiechert seinen ‚gefährlichen‘ Mangel an klarer Denkkraft, sein ‚Schwimmen in der (jeder Vernunftkontrolle entzogenen) Innerlichkeit‘, in die unterzutauchen eine deutsche Schwäche immer war.“ 531 An Wiechert ging diese Kritik nicht spurlos vorüber: Obwohl nach wie vor Massenautor, sah sich der Schriftsteller angesichts der vor allem bei seinem Stil ansetzenden Reaktionen zusehends missverstanden und in die gesellschaftliche Außenseiterrolle gedrängt. Pleßke bemerkt dazu: „Der Autor muß nun erkennen: sein Erneuerungskonzept baut keine politischen Gegensätze ab, mit denen sich vor allem die jüngere Generation in vier Besatzungs‐ zonen ganz unterschiedlich konfrontiert sieht. Das ist für Ernst Wiechert eine seiner bittersten Erkenntnisse, die er nicht mehr überwindet.“ 532 Wiecherts Enttäuschung fand ihren Ausdruck in einem im Oktober 1946 geführten Interview mit der schwedischen Zeitung Stockholm Tidning. In pes‐ simistischem Ton heißt es darin: „Wenn Hitler morgen wieder käme, so würden ihn 60 bis 80 Prozent mit offenen Armen aufnehmen. Es gibt keine Hoffnung mehr für dieses Volk. Nie wieder will 8.1 Biographische Hinführung 265 533 Titel des Interviews mit Lennart Gothberg: „Möte med Wiechert“, erschienen am 10. Dezember 1946, in deutscher Sprache am 15. Februar 1947 in der Rhein-Neckar-Zei‐ tung unter dem Titel „Ernst Wiechert hat Hoffnung für Deutschland aufgegeben“ abgedruckt, z.n. Wende-Hohenberger, Anfang? , 50. Wie Reiner aufzeigen konnte, gab Wiechert, nachdem die Übersetzung des Interviews in der deutschen Presse eine Welle empörter Reaktionen hervorgerufen hatte, eine Erklärung ab, nie offiziell mit der schwedischen Presse gesprochen zu haben. Diese habe vielmehr lediglich privat Geäußertes ungenau und überzogen abgedruckt. Reiner, Bibliographie 3, 94-96; vgl. Leonore Krenzlin, „Thomas Mann und Ernst Wiechert. Eine Beziehung zwischen Animosität und Einsicht“, in: Weigelt, Klaus; Krenzlin, Leonore, Ernst Wiechert im Gespräch. Begegnungen und Einblicke in sein Werk, 2. Aufl., Berlin 2010 (Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 4), 15-33, hier: 25, i.F. Auf ähnliche Weise äußerte sich Wiechert in einem Brief an H.G. Adler vom 15. April 1947. Enttäuscht über die Entwicklung der Bevölkerungs„masse“ in Nachkriegsdeutschland heißt es dort insbesondere über das Verhältnis zu den Jüd: innen, Wiechert könne „nicht verhehlen, daß diese Dinge heute in Deutschland nicht so geworden sind, wie wir sie alle erwartet haben. D.h. daß die große Läuterung durch ein schreckliches Grauen nur die Auserwählten erfaßt, nicht die Menge.“ Das Leid habe viele nicht „zur Weisheit und Läuterung geführt […], sondern zu den irdischen Dingen. Und obwohl ich das alles begreife, macht es mich doch traurig, weil die Reaktion bei der Bevölkerung eben primitiv ist und zu denselben Folgerungen führt wie ehemals.“ Z.n. Franke, Wälder, 230f. ich zu Deutschland sprechen, auch nicht zur deutschen Jugend. […] Den[en], die das Dritte Reich an Ort und Stelle überlebten, verekelt man Deutschland“ 533 . Insbesondere jene „Jugend“, die Wiechert so emphatisch ansprach und der er als Pädagoge und Dichter eine Orientierungsfigur sein wollte, wandte ihm nicht die erhoffte Aufmerksamkeit zu. Mit deutlicher Besorgnis äußerte sich Wiechert auch in dem programmatischen Artikel „Wir haben die neue Zeit nicht richtig angefangen“ aus der ersten Ausgabe der Zeitschrift Prisma vom November 1946. Wiederum preist Wiechert darin die Möglichkeiten einer „wirklichen“ Erneuerung an, die sich im Folgen der „Stimme des Evangeliums“, der Verwandlung des Herzens „statt der Hände“, und im Vollzug einer „neuen Wiedergeburt und einer neuen Taufe […] von innen heraus, aus dem Blute heraus“ manifestierten. Gleichzeitig äußert er sich resigniert insbesondere über die Entwicklungen des Kulturbetriebs in Nachkriegsdeutschland: „Sind diese Künstler der heute beginnenden sogenannten neuen Zeit sich bewußt, welche ungeheure Aufgabe vor ihnen liegt, welche schwere, kaum zu tragende Verantwortung in ihren Händen ruht? Meinen sie denn, diese Zeit der sogenannten Freiheit sei nur deswegen für sie gekommen, daß sie ungehindert und unbeschränkt die Spiele ihres Geistes auf das Medium ihrer Kunst projizieren dürften? Bedenken sie denn nicht, daß das Trösten, das letzte, unwidersprechliche Trösten das letzte Ziel der Religion und vielleicht auch der Kunst ist? Erinnern die Dichter sich daran, die 266 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 534 Ernst Wiechert, „Wir haben die neue Zeit nicht richtig angefangen“, Prisma 1/ 1 (1946),-3-4. 535 Krenzlin, „Zwischen“, 30f. 536 Manfred Franke, „Dichtung und Wahrheit“, Internet: https: / / www.spiegel.de/ ge‐ schichte/ schriftsteller-ernst-wiechert-a-950008.html, zuletzt geprüft am: 22.1.2021; vgl. Wende-Hohenberger, Anfang? , 51. 537 Hattwig, Dritte Reich, 192. 538 Peitsch führt darüber hinaus Konflikte mit dem konfessionellen Christentum und eine zunehmende Distanz von der Kirche als Grund für Wiecherts Emigration an. Peitsch, Gedächtnis, 179. Zu Wiecherts Verhältnis zur Religion siehe auch van Ingen, „Zwischen“, 148. 539 Gołaszewski, Fallstudie, 360 ff.; Hattwig, Dritte Reich, 192; Wende-Hohenberger, An‐ fang? , 49-51. Maler, die Musiker, die Theater, die sogenannten Humoristen? […] Nein, wir haben die neue Zeit wohl nicht richtig angefangen.“ 534 Zudem folgten für Wiechert Konflikte mit den amerikanischen Behörden. Die Uraufführung seines Theaterstücks Okay oder die Unsterblichen scheiterte sowohl an der Weigerung verschiedener Theater, das Stück zu produzieren, wie auch an den alliierten Zensurbehörden. 535 Hinzu kamen Bestrebungen des Landessiedlungsamtes, Flüchtlinge auf Wiecherts Hof einzuquartieren, ein Vorhaben, das Wiechert vehement ablehnte. Wiechert hatte sich wohl brieflich an den bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard gewandt und mit Verweis auf die Bauart seines Hofes sowie die notwendige Ruhe seines Schriftstellerberufes die Unmöglichkeit einer Unterbringung erklärt. 536 Auch wenn letztlich keine Geflüchteten auf Hof Gagert einquartiert wurden, fühlte sich Wiechert doch, so Hattwig, in der „Exklusivität seines zurückgezogenen Dichterlebens angetastet“. 537 Ob nun die negativen Polemiken gegen ihn, Konflikte mit der Obrigkeit oder die fehlende Beachtung als herausragende intellektuelle Figur der ausschlagge‐ bende Faktor für Wiecherts Entscheidung waren, Deutschland zu verlassen, kann nicht abschließend geklärt werden. 538 Einig sind sich die Wiechert-Biogra‐ phen indessen darin, dass seine Emigration als Ergebnis seiner Resignation über die Entwicklung in Nachkriegsdeutschland zu werten sei und den endgültigen Schlussstrich unter seine Bemühungen nach gesellschaftlicher Partizipation an der deutschen Nachkriegsordnung markiert. 539 Wiechert zog 1948 in die Schweiz und bewohnte alleine - seine Ehefrau blieb in Deutschland - den abgelegenen Rütihof bei Zürich. Der Autor begleitete seine Auswanderung mit dem Artikel „Abschied von der Zeit“, der als eine seiner letzten öffentlichen Erklärungen in der Süddeutschen Zeitung erschien. Der Führungsanspruch, den sich Wiechert in seinen unmittelbar nach Kriegsende geschriebenen Texten erwünscht hatte, 8.1 Biographische Hinführung 267 540 Reiner, Bibliographie-2, 118. 541 Wiechert, Der Totenwald, 7. Alle Verweise auf diese Textausgabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel Totenwald. war nicht eingelöst worden und der selbsternannte „Seher der Nation“ verließ Deutschland für immer: 1950 verstarb Wiechert in der Schweiz. 8.2 Die Johannes-Figur als Verkörperung der Nation Ernst Wiechert wurde im Frühjahr 1938 in München inhaftiert, danach ins KZ Buchenwald deportiert, wo er vom 7. Juli bis zum 26. August 1938 gefangen gehalten wird. 540 Der Totenwald schildert Wiecherts Inhaftierung durch die Münchener Gestapo, die Untersuchungshaft, seine Überstellung ins KZ Buchen‐ wald, die dortige Zwangsarbeit und schließlich die Umstände seiner Freilassung. Besonderes Gewicht legt der Text dabei auf die stärkenden Begegnungen und Gespräche mit einigen Kameraden. Die Tragweite der Schrift reicht indessen viel weiter, als der Untertitel, der sie als schlichten „Bericht“ ausweist, ihr zugesteht. Der Totenwald beginnt mit einer Beschreibung seines Protagonisten Johannes, eines gesetzten Menschen, der die Prüfungen und Krisen des Lebens hinter sich glaubt. In seiner Profession als Dichter weiß er sein Leben „sicher, beneidet und wohl auch nicht unberühmt“. 541 Dieser Mensch wird erneut in eine Krise gestürzt: Prophetische Ahnungen eines drohenden Unheils erreichen ihn aus einem „ungekannten Zwischenreich“ (Totenwald, 8). „Bedachte er in seinem stillen Zimmer, wo die vertrauten Bücher an den Wänden standen und der Blick durch die Fenster auf das Schweigen der großen Wälder ging, woher nun diese Trauer rühre und wohin die dunkle Ahnung sich wohl richte, die ihn Tag wie Nacht beschattete, so konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß sein eigenes, ihm allein gehöriges Leben nicht allein den Anlaß dazu bot, sondern daß vielmehr auch der weitere und umfassendere Begriff des Volkes und des Vaterlandes, mit dem er doch fast ohne sein Wissen verhaftet war, den Keim dieser Traurigkeit in sich tragen mußte.“ (Ebd.) Ohne Zutun gehört diese Figur zu Volk und Vaterland und ist empfindlich für einen drohenden Schaden an diesen. Johannes erfährt von der Bedrohung nicht durch Reflexion und Analyse, sondern erfährt sie durch seine unmittelbare Verhaftung als Gefühl und Ahnung: Das Schweigen der Wälder wirkt auf ihn wie eine omnipräsente Warnung, eine Trauer befällt ihn, noch bevor es einen Anlass gibt, auf den sich diese Trauer richten könnte. In seiner unmittelbarsten 268 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 542 Fakt und Fiktion stehen in Der Totenwald in einem beständigen Spannungsverhältnis. Zahlreiche Literarisierungen stehen einer auf die Wiedergabe des Faktischen hin orientierten paratextuellen Gestaltung gegenüber: Der Totenwald ist untertitelt mit „Ein Bericht“, womit bereits auf dem Umschlag die Ansprüche nach objektiver Schilderung und informierender Absicht formuliert sind. Indessen wies Wiechert in einem Brief an seinen Verleger vom 23. November 1945 darauf hin, dass der Untertitel „Ein Bericht“ entfallen könne, was aus nicht zu rekonstruierenden Gründen nicht erfolgte. Briegleb, „Shoah“, 141. Wiecherts ambivalenter Umgang mit seinem faktischen Material wird insbesondere anhand seines Personal deutlich. In vielerlei Hinsicht fallen der Autor Wiechert und der Protagonist seines Textes zusammen. Hofmann, „Seele“, 59. Dennoch ist dieser in der Figur Johannes von Wiecherts eigenem Erleben distanziert. Zum einen kommen Figuren vor, die entweder auf historisch verbürgte Personen verweisen, oder deren Namen eine solche Faktizität zumindest nahelegen. Zu nennen ist hier etwa der badische Landesforstmeister und SA-Obersturmbannführer Wilhelm Hug, dessen Gesuche maßgeblichen Einfluss auf die Freilassung Wiecherts hatten, was seinen Namen „heller leuchten“ lasse als jeden anderen. Totenwald, 141. Andere historische Personen chiffriert Wiechert, etwa den Martin Niemöllers. Wirth zufolge lassen sich die meisten in Der Totenwald erwähnten Häftlingsnamen in der Buchenwalder Häft‐ lingskartei finden und verweisen folglich auf historische Personen. Wirth, „Anatomie“, 212; vgl. Briegleb, „Shoah“, 142. Indessen tauchen auch Figuren auf, deren Benennung ihre Fiktionalität gleich der Hauptfigur unterstreicht: „Karl - so wollen wir seinen Gefährten nennen“ heißt es über einen Gefangenen oder auch: „nennen wir ihn Martin“. Totenwald, 22, 45. Im Nachwort lässt Wiechert weiter verlautbaren, dass der Text die Existenz ergriffen wird Johannes zum Seismographen einer umfänglicheren Betroffenheit. Diese Bedrohung wird von ihm selbst weg ausgebreitet, denn Johannes ist in seiner Existenz nicht gefährdet. Seine Vorahnung ist Zeichen einer allgemeinen Bedrohung von Volk und Vaterland, Begriffe, die der Erzähler stiftet, da Johannes selbst keinen Begriff von den Quellen seiner Ahnung hat. Johannes fasst die Welt nicht begrifflich und tritt gänzlich unmittelbar auf. Indem er vorgedanklich mit einem großen Ganzen verbunden ist, dessen Bedrohung ihn unmittelbar betrifft, wird Johannes zum Repräsentanten dieser Gesamtheit und somit Träger des Leids der gesamten Nation. Diese Setzung erklärt auch, warum Wiechert die Geschichte seiner eigenen Inhaftierung fiktionalisiert und von Johannes durchleben lässt. Diese Figur hat eine unvermittelte Verbindung zur Nation: Als deren Verkörperung korrespon‐ diert sie mit ihr im Modus des Ahnens und des Gefühls. Die Reflexion dieses Zusammenhangs wird notwendigerweise von außen gestiftet und also vom Erzähler übernommen, der von seiner Figur getrennt sein muss. An mehreren Stellen stellt Wiechert die Trennung von Figur und Erzähler besonders heraus, indem er explizit auf die Fiktionalität seiner Hauptfigur hinweist: „Johannes - so sei der angenommene Name des Handelnden und Leidenden in diesen Auf‐ zeichnungen - hatte die Mitte des Lebens schon überschritten […].“ (Totenwald, 7) 542 Der Erzähler nimmt eine betont distanzierte, reflektierende Position ein, 8.2 Die Johannes-Figur als Verkörperung der Nation 269 wahrheitsgemäße Wiedergabe der „Erinnerungen“ seines Verfassers darstelle. Weiter heißt es dort aber: „Der Verfasser […] hat diese Erinnerungen nicht um des Ruhmes willen geschrieben oder um noch vergänglicherer Dinge willen. Er gehört zu den Menschen, die mit den Dingen des Lebens eine Verwandlung vornehmen müssen, um sie in sein Schicksal einordnen zu können. Nicht eine Verwandlung in eine andere Wirklichkeit, sondern in eine höhere Wahrheit, eben in die der Kunst.“ Totenwald, 153. Während Wiechert also von der faktischen Wahrheit ausgeht, benötige es das Abwägen und Umformulieren des Materials, um eine persönliche „Einordnung“ des Ge‐ schehens und damit auch die Formulierung eines allgemeingültigen Schlusses aus dem Lagererlebnis leisten zu können. Die Mehrheit der Sekundärliteratur indessen deutet Der Totenwald als authentisches Dokument und „Zeugnis“text, der in erster Linie die Bewältigungsstrategien seines Autors ausbreite. Fang, Täterbild, 26-28; Gołaszewski, Fallstudie, 21, 331 ff.; Krenzlin, „Erziehung“, 151, 160. Einige Analysen identifizieren gar in der Trennung von Erzählinstanz und Protagonist ein objektivierendes Moment, das gerade Wiecherts „Funktion als Berichterstatter […] betont.“ Krenzlin, „Arrangement“, 106 f.; vgl. Hattwig, Dritte Reich, 134; Wirth, „Anatomie“, 206. 543 An mehreren Stellen tritt Wiecherts Erzähler aus der erzählten Gegenwart 1938 heraus, etwa bei der Erwähnung der Tode von Mitgefangenen nach seiner Entlassung, etwa [Hubert] Richter, Walter Husemann oder eines nicht namentlich erwähnten ersten Lagerältesten. Totenwald, 129, 141. 544 „Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.“ Johann Wolfgang von Goethe, Die-Wahlverwandtschaften. Potsdam 2018 [1809], 3; vgl. Schiefke, „Wiechert“, 292. von welcher er frei über sein Material verfügt. 543 Zugleich schreibt sich Wiechert mit dem ersten Satz gezielt in eine europäische Kulturtradition ein. Dieser zitiert den Beginn von Goethes Die Wahlverwandtschaften (1809) und leitet in einen in ostentativ hohem Ton verfassten Text ein, der übervoll ist von Archaismen, elaborierter Metaphorik, literarischen Anspielungen und Zitaten. 544 Bereits der erste Satz verbindet Handeln und Leiden als einander bedingende Momente der folgenden Erzählung, der Johannes zunächst noch unwissend gegenübersteht. Zugleich ist Johannes’ ahnende Unmittelbarkeit Quelle einer Gewissheit. Auf seinem Hof ist Johannes von aller Welt abgeschieden. Wohl hat er Nachbarn, aber auch deren bäurischer Arbeit begegnet er nur als Beobachter. Johannes’ Position inmitten von Wiesen und Wäldern, „das Tal des fernen Flusses und die noch fernere blaue Kette des Gebirges“ überblickend ist ein Bild einsamster Abgelegenheit (Totenwald, 8). Gleichzeitig ist der Hof Zentrum dieser Welt: „[A]us allen Teilen des Landes, aus allen Ständen und Lebensaltern“ erreichen ihn Briefe. Diese bringen nicht nur Nachrichten, sondern man erfährt den Umstand, dass die Schreibenden Johannes als Ratgeber wollen. Sie verlangen Rat in Bezug auf das umfassende Problem, das Volk und Vaterland befällt. „Er sollte raten und wußte sich selbst keinen Rat.“ (Ebd.) Doch wird klar, dass er nicht nur keinen Rat hat, sondern dass diesem Problem nicht mit Rat beizukommen ist. 270 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald Im Modus des Wissens spricht er davon, dass das „Evangelium der Zeit“ (ebd.), der Faschismus, sich des Volkes gänzlich bemächtigte und dieses zu „Knechten“ machte (ebd., 9). Er weiß, dass er raten und helfen sollte, weiß aber auch, dass es hier den Modus von Rat, Hilfe und Lösung nicht gibt. Während er dieses Wissen hat, ermangeln die noch um Rat Suchenden dieses Wissens. Indem er in seinem unmittelbaren Gefühl diesen wissenden Zugriff zu den Problemen der Zeit hat, ist Johannes in eine außerordentliche Position erhoben: Er ist Seismograph, der, ohne in seiner Existenz betroffen zu sein, weiß, dass etwas Furchtbares geschieht. Nur er hat dieses Wissen. Zugleich ist er darin als der Einzige markiert, der aus der universellen Vereinnahmung der das Volk zu Knechten machenden Kraft ausgespart ist. Doch auch er verspürt das negative Potential dieser Vereinnahmung: Es gelingt ihm, auf die „Knechtung“ des Volkes nicht mit Hass zu reagieren, dennoch spürt er diese Emotion im Bild des seine Pflanzen befallenden Rostes als negative Affiziertheit, als „Zerstörung seiner Seele“ sich ausbreiten (ebd., 11). Er spricht von „dem Hass“ als ihn befallende Abstraktion, als falsches, nicht zu ihm gehörendes Gefühl, letztlich als Negation seiner selbst. Mit diesem Wissen bleibt Johannes allein: Er liest Bücher und schreibt Tagebuch, beschäftigt sich also gänzlich allein mit diesem Problem und ist einziger Adressat seines Wissens (ebd.). Wiechert inszeniert Johannes als Seher, der das Unheil in sich selbst sieht und um dessen Wesen er allein weiß. Diese Seherposition wird durch Johannes’ Zweifel an seiner Befähigung dazu nur bestärkt: Er befragt sich, ob er die Instanz sein könne, diese Bestimmung des Unheils vorzunehmen und darin aus der universellen Vereinnahmung heraus‐ zutreten. Ob „das Richten ihm zustehe“ (Totenwald, 9), ob seine nicht unmittelbar gefährdete Stellung den Einspruch nicht eigentlich allzu einfach mache, „wie es auch keine besondere Leistung sei, mit einem kugelsicheren Panzer in einen Kampf zu gehen.“ (Ebd., 10) Er sieht nur noch die Möglichkeit des Martyriums, des Auf-sich-Nehmens von Leiden. Einziger Ausweg scheint ihm der „des Mär‐ tyrertums, das die Schuld des Lebens mit Leiden zahlt und dessen Siegel mitunter das Zeichen des Todes trägt“ (ebd.). Der „Schuld“, also der drohenden Negation seiner selbst durch die Vereinnahmung vom durch den Nationalsozialismus induzierten Hass, kann sich einzig durch das Annehmen von Leiden entzogen werden. Gleichzeitig grenzt er sich ab von einem „falschen“ Martyrium, in dessen Berechnung er eine „Eitelkeit“ erkennt: Indem er aber noch im Gestus des Leidens ein Moment der Selbstinszenierung erkennt, ist er davor gefeit (ebd.). Aus ihm spricht kein Wille zum Märtyrersein, sondern er gibt sich als vom Schicksal berufenen Märtyrer zu erkennen. Der Niemöller-Prozess wird danach lediglich zum Anlass seiner Berufung: „Damals erkannte Johannes, daß es ihm bestimmt sein würde, mit diesem Haupt zusammen zu leiden.“ (Ebd., 13) 8.2 Die Johannes-Figur als Verkörperung der Nation 271 Der VGH-Prozess und die folgende davon unabhängige KZ-Internierung Martin Niemöllers im März 1938 kommen in Der Totenwald nur andeutungsweise vor. Niemöller selbst taucht nur als Antonomasie chiffriert auf, als „Pfarrer, dessen Name in vieler Munde war, dessen Lebensweg von der Kommandobrücke eines Schiffes zur Kanzel geführt hatte und der als ein tapferer Bekenner für viele ein Licht in der Finsternis gewesen war“ (ebd., 11). Doch für Johannes bringt der eklatante Rechtsbruch dieser Inhaftierung ohne Urteil den „Becher des Leidens zum Überfließen“ (ebd., 13). Kurz zuvor hatte Hitler anlässlich des „Anschlusses Österreichs“ in einer Reichstagsrede geäußert: „Recht muß Recht sein, auch für Deutsche! “ (Ebd.) Johannes ist empört, dass sich Hitler auf den Standpunkt des Rechts gestellt hatte, dass er es „gewagt“ hatte (ebd.), sich auf das Recht zu berufen, wo es wenig später zu einen so eklatanten Rechtsbruch wie in der Causa Niemöller kommt: „Hier war nun etwas geschehen, was Johannes den Sinn aller menschlichen und göttlichen Ordnung zu zerstören schien. Hier war Recht und Gesetz gebrochen, Menschlichkeit und Dankespflicht, Anstand und Sitte. […] [H]ier wollte man weder strafen noch bessern noch sühnen. Hier wollte man nur vernichten, wie der Mörder seinen Zeugen vernichtet.“ (Ebd., 12) Einzig diesem Seher ist es gegeben, ein solches Erweckungserlebnis zu haben und vom Gesicht Niemöllers aus dem „Zwischenreich“ in die „Gemeinschaft der Leidenden“ gerufen zu werden (ebd., 20). Diese Einführung in Der Totenwald und insbesondere die aktive Rolle des Protagonisten sind einmalig in der frühen Literatur zu den nationalsozialistischen Lagern: Zwar ist die Stilisierung des Protagonisten als eine den Haftzumutungen überlegene Figur ein häufig auftretender Aspekt dieser Texte, doch nur Wiecherts Johannes entscheidet sich willentlich noch zu den Qualen des KZ: Johannes wendet sich mit einem Protestbrief an die Öffentlichkeit. Dabei ist sich Johannes des Nominellen seines Einspruchs durchaus bewusst. Auswirkung seines Briefes und seiner daran anschließenden Inhaftierung ist aber seine Befreiung vom Zugriff des Nationalsozialismus auf ihn: In der körperlichen Festnahme macht er sich frei von der fortschreitenden innerlichen Vergiftung und drohender Knechtschaft. „Keinem Menschen würde geholfen werden, aber dem Gesetz würde geholfen werden, das nicht an sich da ist, ein Außenseiendes, sondern das in den Händen der Menschen ruht, die sich zu ihm bekennen und das zerbröckelt und zerfällt, wenn die Hände des Tragens und die Lippen des Bekennens müde werden.“ (Ebd., 13) Diese Figur allein ist in der Lage, sich eine „Freiheit des Gewissens“ zu be‐ wahren (ebd.). Durch dieses Bekenntnis wird Johannes zum Stellvertreter von 272 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald Grundsätzen einer allgemeinen Menschlichkeit, die der Nationalsozialismus prinzipiell verneint. Seine Gedanken kreisen um „die Ideen der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und des Reiches Gottes auf Erde [sic! ]“. Er ist einer der „Rechtlichdenkenden“, dessen Krise den „Widerspruch eines reinen fleißigen und gütigen Lebens gegen ein Reich der Halbbildung, der Gewalt und der Lüge“ bezeichnet (ebd., 7, 13, 15). Später spricht er von sich als „Wesen des Geists“ ge‐ genüber „einer analphabetischen ‚Herrenschicht‘“ (ebd., 142). Indem sich diese Figur nach außen wendet, durchbricht Johannes seine vorige Unsicherheit und behauptet darin eine Unabhängigkeit. Entsprechend gerüstet fühlt Johannes sich, als die Gestapo ihn abholen kommt (ebd., 15). Gleichzeitig macht Wiechert deutlich, dass Johannes sich keineswegs auf die Ebene eines politischen Ein‐ spruchs oder gar des Widerstands gegen das NS-Regime begibt: „Weder war er ein Verschwörer noch hatte er jemals Fäden mit solchen angeknüpft, die auf einen Umsturz der Ordnung ausgingen.“ (Ebd.) Johannes’ Selbstverortung als unliebsamer Oppositioneller betrifft den Bereich des Intellektuellen und der Kultur, dessen Erzeugnisse als Dichter, seine „Bücher kein ganz geringer, obwohl verschwiegener Grund zu seiner Verhaftung gewesen waren.“ (Ebd., 141) Diese Position hebt Johannes aus der Masse des Volkes heraus. Dieses ist bestimmt als ein Volk der Knechte, deren sich der Nationalsozialismus bemächtigt hat und die er zu seinen Handlangern machte. Johannes wusste, „[d]aß die Ämter von Unwürdigen besetzt, die Zeitungen von Marktschreiern geleitet wurden. Daß man Gott und sein Buch verhöhnte, die Götzen auf den Thron setzte und die Jugend unterwies, das zu verachten und anzuspeien, was die Hände der Alten aufgerichtet und verehrt hatten. Er wußte, daß ein ganzes Volk in wenigen Jahren zu einem Volk von Knechten geworden war. Knechte auf den Lehrstühlen der Universitäten, auf den Sesseln der Richter, auf den Pulten der Schulen, hinter dem Pfluge, der die Erde umbrach, auf den Kommandobrücken der Schiffe, vor der Front der Armeen, hinter dem Schreibtisch der Dichter. Knechte überall, wo ein Wort zu sprechen, eine Gebärde zu vollführen, eine Anklage zu unterlassen, ein Glaube zu bekennen war.“ (Totenwald, 9) Ohne inhaltliche Kritik an ihnen zu üben verwirft Johannes jede öffentliche Figur und jeden Berufsstand, die zusammen schaffen, was er als Klima der „Gewalt“, „Phrase“ und „Lüge“ tagtäglich „triumphieren sah“ (ebd., 11). Dennoch ist Johannes von dieser Volksmasse nicht abgegrenzt, sondern steht für eine allgemeine Qualität dieses Volkes. Er ist vom Schicksal ausgewählt und so aus der Volksmasse herausgehoben. Diese Erwähltheit soll indessen zeigen, dass die Deutschen diese Knechte eigentlich nicht sind. In seiner Behauptung von Freiheit verkörpert Johannes allgemeine Eigenschaften dieses Volkes, die durch 8.2 Die Johannes-Figur als Verkörperung der Nation 273 545 Hattwig, Dritte Reich, 119. die Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus negiert sind. Individuelle Teilhabe an dieser Herrschaft bestimmt Wiechert als die Negation von Freiheit: In Bildern der Einverleibung und des Überbordens der Bevölkerung erscheint die Entscheidung zum Knechtsein als unfrei. Gegenüber dieser umfassenden Vereinnahmung kann nur Johannes als zum Leiden Auserwählter eine Freiheit behaupten. Er erkennt den nationalsozialistischen Mummenschanz, wenn er beim Verhör auf der Gestapozentrale reflektiert: „Zuerst hat Johannes das meiste als würdelos empfunden. Dann gewinnt er sein stilles Lächeln wieder, mit dem er sein Leben lang die Theaterallüren der Menschen betrachtet hat; daß dies hier schlechtes Theater ist, ändert nichts daran. Und sollte das große Theater dieses Staates nicht von den ganz kleinen Leuten wiederholt werden? Beide spielen schlechte Rollen mit geringen Mitteln, und diese hier sind wenigstens ehrlicher und bescheidener als die Großen.“ (Ebd., 31) Dazu schreibt Hattwig, dass der Nationalsozialismus bei Wiechert als „‚mas‐ sengerechte‘ theatralische Inszenierung von politischem Handeln“ erscheint, welche „generell die Aufgabe individuellen Denkens und Handelns und bedin‐ gungslose Unterordnung“ fordere. 545 Darin aber ist der Nationalsozialismus bestimmt als uneigentliche Herrschaft, als allumfassende Negation dessen, was den Menschen - und darin vor allem die Deutschen - ausmacht. Im Münchener Gefängnis reflektiert Johannes über dieses „Ursprungsbild“ des Deutschen: „Damals tauchte zum erstenmal vor Johannes’ Augen die schaurige Vision der Lager auf, die nachher Wirklichkeit werden sollte. Er glaubte nicht alles […]. Er wollte nicht glauben. Hinter allen Schatten und Flecken im Bilde seines Vaterlandes wollte er immer noch das Ursprungsgesicht sehen, ein einfaches, gläubiges, verträumtes Gesicht, nicht ohne Dumpfheit, Enge und Roheit, aber voll guten Willens, voll Ehrfurcht, voll Menschlichkeit. […] Es war ihm, als häufe man Schande auf die Namen aller seiner Väter und als bestätige sich hier sein Gefühl aus dunklen Stunden der Vergangenheit, daß er sich nämlich mitunter seines Vaterlandes schämen müsse.“ (Ebd., 39 f.) Der Nationalsozialismus überdecke das Urbild der Deutschen und verunmög‐ licht darin eine auch nach vorne perspektivierte Traditionslinie eines „deut‐ schen Geistes“. Johannes ist derart betroffen vom Bruch des Deckungsverhältnisses von Volk und Nation, dass ihm der Tod wünschenswerter erscheint als das Erleben der nationalsozialistischen „Schande“ über Deutschland. Darin beglaubigt er das 274 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 546 Siehe dazu auch Hattwigs Deutung des „Blut“begriffes bei Wiechert als Entität, in der „die gemeinsamen Grundwerte und Lebenseinstellungen einer ganzen Nation verkörpert“ seien. Ebd., 189. 547 Peitsch konnte aufzeigen, dass es sich bei den (im Text nicht namentlich genannten) Schriftstellern um Hans Carossa und Ina Seidel handelte, an die Wiechert Briefe während seiner Haft schrieb bzw. seine Frau damit beauftragte. Bei dem in der Antonomasie als „vielgewandte[r] Dichter[..]“ Vorstellten, „der im Dritten Reich zu einem hohen Amt gekommen war und der ihm einmal auf eine Beschwerde tadelnd erwidert hatte, daß erst dieses Reich seit Goethes Zeiten zum erstenmal die Würde der Kunst wiederhergestellt habe“ (Totenwald, 65), handelte es sich Peitsch folgend um den Präsidenten der Reichsschrifttumskammer Hanns Johst. Peitsch, Gedächtnis, 186. „Urbild“ der Deutschen als historisch durchgesetzte und erst kürzlich gebro‐ chene Lebensweise, überlagert und vereinnahmt durch die faschistische Nega‐ tion. Wiecherts Nationenbegriff ist gänzlich frei von Begriffen des Politischen oder Staatlichen. Das „wahre“ Deutschland ist gedacht als eine vorstaatliche Gemeinschaft, die sich in deutschem Wald, Liedgut, Glauben und einer in der „Goethe-Eiche“ symbolisierten Kulturtradition manifestiert (ebd., 83 f.). 546 Aus diesem Grund ist Johannes auch besonders betroffen von den Anbiederungen seiner Schriftstellerkollegen an den Nationalsozialismus, gegen die er immer wieder empört polemisiert (ebd., 50, 65, 141). 547 Diese Vorstellung der Nation ist die einer immateriellen Verknüpfung von Volk und Land, deren Wirkungsmacht Wiechert als nicht hinterfrag- und angreifbar bestimmt. Als Mensch des Geistes und der Kultur verkörpert Johannes dieses Deutschland gerade durch seine vorgedankliche Verbundenheit mit den Begriffen „Volk“ und „Nation“. 8.3 Entgrenzte Gewalt und Bewahrung der nationalen Deutung im Lager Der Totenwald schildert den Nationalsozialismus als „Macht der Knechte über die Herren“ (ebd., 25, 30). Das Polizei- und Wachpersonal schildert Wiechert als ausnahmslos brutal und dumm, worin sie jedoch „ja nur ein getreues Abbild ihres Staates“ darstellen (Totenwald, 142, vgl. 16 f., 127). Dass derart unfähige Figuren, er nennt sie „Dilettant[en] der Dialektik“, staatlich legitimierte Macht ausüben dürften, reflektiert er als empörende Anmaßung. „Welche Scham für das Menschengeschlecht, zu meinen, daß mit körperlicher Züchti‐ gung Weltanschauungen zu rächen oder auszutreiben wären! Welch ein vernichtender Maßstab auch für die Kultur so mancher Völker der Gegenwart! Und waren nicht hundertfünfzig Jahre vergangen, seit Mozart die Arie reiner Menschlichkeit in der ‚Zauberflöte‘ geschrieben hatte? “ (Ebd., 133) 8.3 Entgrenzte Gewalt und Bewahrung der nationalen Deutung im Lager 275 Die nationalsozialistische Herrschaft als „das barbarische Zeitalter und das Reich des Antichrist“ steht außerhalb der Maßstäbe von Kultur und Zivilisation, die für Wiechert die abendländische Geschichte bezeichnen. „Es gab keine Verständigung zwischen diesen beiden Welten. Sie schlossen einander aus. Es war Feindschaft zwischen ihnen gesetzt von den Urbegriffen an.“ (Ebd., 12, 26) Im Rekurs über die jüngere deutsche Geschichte reflektiert Johannes: „Er hatte Armut, Hunger und Not kennengelernt, Krieg und Revolution. Er hatte gesehen, wie ein gequältes Volk den rechten Weg verloren und im Haß seine Hände beschmutzt hatte. Aber es war in der Qual oder im Rausch des Gefühls geschehen und nicht in der vollen Überlegung entarteter Gehirne. Es war immer noch ein abendländischer Zorn und nicht eine asiatische Rache gewesen.“ (Ebd., 40) Diese Bestimmung als aus dem europäischen Geschichtsverlauf herausfallendes Phänomen wiederholt Wiechert am Ende von Der Totenwald mit Blick auf die erlebte Lagererfahrung: „Das Volk war wie durch ein Sieb gefallen, und die Spreu hatte die Herrschaft über den Weizen gewonnen. Gottes Wind war des Teufels Wind geworden. Niemals war die Nacktheit der Macht schamloser verbrämt worden, niemals das ‚Ebenbild Gottes‘ tiefer geschändet worden.“ (Ebd., 149 f.) Noch Krieg und Revolution - die Umbruchsjahre nach dem Ersten Weltkrieg - erscheinen Wiechert nach Regeln zu verlaufen, die „dem Abendland“ ent‐ springen und sich auf eine Tradition moralischer Leitsätze humanistischer Ethik beriefen. Dagegen stellt die NS-Herrschaft eine Transgression dar, die mit ihren „asiatischen Methoden“ mehr Leid „über das deutsche Volk gebracht“ hatte, als 276 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 548 Die Verurteilung kriegerischer Gewalt meint für Wiechert mitnichten eine Kritik der Unterordnung unter eine Herrschaft oder der Machtmittel von Staaten, diese zu einsetzen. Zwar hätten sich die Sinnstiftungen vergangener Kriege disqualifiziert, doch existierten in diesen zumindest verbindliche Ideen, denen das Subjekt hatte folgen und sich unterordnen können. Seine Kritik am nationalsozialistischen Krieg ist, dass dieser eine solche Sinnstiftung vermissen lasse: „Den Krieg konnte man vergessen, nicht immer, aber doch zuweilen. Er war eine Sache zwischen Männern gewesen, die einander bekämpft hatten, nicht aus eigenem Willen oder aus Haß, sondern auf einen höheren Befehl, auf den Befehl des Idols, das sie die Gerechtigkeit nannten, oder die Nation, oder mit sonst einem klingenden, nicht sehr überzeugenden Namen. Er war häßlich gewesen, ein Rückfall in primitive Zeiten, auf das Totschlagen lebendiger Wesen gerichtet. Er war der Vater vieler Dinge, und die meisten von ihnen waren nicht schön, sobald der Glanz der Suggestionen von ihnen abgefallen war. Aber vielleicht konnte man meinen, daß er notwendig sei, solange die Völker sich denen beugten, die über die Notwendigkeiten entschieden, ohne danach zu fragen, was sie dazu berechtigte.“ Totenwald, 148f. „es in hundert Jahren abendländischer Geschichte möglich gewesen war.“ (Ebd., 16) 548 Für diese absolut gesetzte Differenz zwischen Deutschland und dem Natio‐ nalsozialismus bemüht Wiechert ein Bild der Hölle, in der das Teufelsregiment ungebremst wütet. „Wenn in der Frühe, Ende August noch in der Dämmerung, die Tausende zum Morgenappell zogen, gebeugt und frierend, im strömenden Regen, im Schlamm des Platzes, der ihnen bis über die Knöchel reichte, viele an langen Stöcken, um sich aufrecht zu erhalten, manche schwer krank auf den Schultern der Kameraden, manche auf behelfsmäßigen Bahren; wenn der Wind die Nebelfetzen um die Kolonnen trieb, sie einhüllend und wieder in das bleiche Licht entlassend; wenn am Fuß eines der Bäume oder eines Lichtmastes ein Sterbender lag, das schon jenseitige Gesicht dem Morgenschein preisgegeben: dann war das Ganze wohl ein Bild der Verfluchten, oder eine Vision einer Hölle, an die kein Pinsel eines der großen Maler, keine Nadel eines der großen Radierer heranreichte, weil keine menschliche Phantasie und nicht einmal die Träume eines Genies an eine Wirklichkeit heranreichten, die ihresgleichen nicht in Jahrhunderten, ja vielleicht niemals gehabt hatte.“ (Totenwald, 81 f.) Im Lager erblickt Johannes eine Vision der Unterwelt, deren Beschreibung über die menschliche Einbildungskraft hinausgehe. Die Leiden in der Buchenwalder Krankenbaracke kann er nur als „Chronik des höllischen Grauens“ greifen, welches bereits während eines kurzen Aufenthalts „über menschliche Maße hinauszugehen“ scheint (ebd., 111). Indessen meint diese Bestimmung eben nicht die Unbeschreibbarkeit des Lagers - welches Wiechert hier detailreich und elaboriert schildert -, sondern dient als Verdeutlichung der absoluten 8.3 Entgrenzte Gewalt und Bewahrung der nationalen Deutung im Lager 277 549 Vgl. Hattwig, Dritte Reich, 112. 550 Johannes hatte zunächst einen Einzeltransport beantragt. Totenwald, 58f. Laut Hattwig besteht sein „Trost“ darin, „daß man ihm die besten Pritschen und die ersten Züge an den Zigaretten überläßt.“ Hattwig, Dritte Reich, 113. Transgression aller zivilisatorischen Maßstäbe. Im Lager erkennt Johannes das Zentrum der Herrschaft des Bösen, deren Agenten alle Weisungen der Humanität abgelegt haben und selbst nur noch dem Namen nach „Mensch“ zu nennen ist. „Er fühlte, […] wie durch das Bild Gottes ein Sprung hindurchlief, der nicht mehr heilen würde“ (ebd., 77). Die existentielle Gefährdung im Lager erfährt Johannes in erster Linie als eine innere Bedrohung. Diese verspürt er bereits beim Verhör in München, wo ihn zwei Gestapobeamte mustern, „als wäre es verächtlich für sie, einem Gefangenen gegenüber zu stehen. Sie machten Johannes den Eindruck von Konkursverwaltern, die eine kümmerliche ‚Masse‘ beachteten.“ (Totenwald, 51) Als „schwerste Erfahrung“ seiner Münchener Haft bezeichnet es Johannes, für das „Verbrecheralbum“ der Gefängnisverwaltung photographiert zu werden. Diese Akteneintragung und also offizielle Kriminalisierung lässt ihn sogar an Suizid denken (ebd., 51 f.). Die Überbelegung der Zellen und das zwangsweise permanente Zusammensein der Gefangenen bebildert Wiechert weiter mit zahl‐ reichen Tiervergleichen, die ihre Erniedrigung in einen „viehischen“ Zustand illustrieren. 549 Über die Haftzeit seines Kameraden Martin, der Johannes im Münchener Gefängnis zum Zellengenossen hat, reflektiert Johannes: „Die Gemeinschaft war das Schwerste. Sie waren wie eingesperrte Tiere, immer bereit, einander zu zerreißen, und nur wenige bewahrten ihr Licht schweigend hinter der Hand. Da man sie von allem andern ausschloß, sanken sie in das Animalische zurück. Das Essen beherrschte ihr Denken, die geheimen Laster, der fressende Haß gegen die Kerkermeister, der das ganze Haus wie ein Geschwür erfüllte.“ (Ebd., 55) Auch wenn Johannes später, auf Transport, von einem „Trost der Gemeinschaft“ spricht (ebd., 61) 550 oder wiederholt einzelne gute Kameraden herausstellt, das Zusammensein der Häftlinge bleibt stets mit der Gefahr der „Vermassung“ behaftet. Dabei bezieht sich Wiechert weniger auf den Nationalsozialismus als Urheber dieser Zwangsmaßnahmen, sondern auf die Häftlinge selbst, die ihn mit animalischem Knurren, obszönen Wandzeichnungen oder dem „Mit‐ teilungsbedürfnis einfacher Naturen“ verstören (ebd., 36, 60, 63). Er urteilt: „In primitiven Verhältnissen sinkt der Mensch leicht zu der Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse herab, und Essen, Schlafen und etwa Rauchen erfüllen seine beraubte Welt.“ (Ebd., 64) In Haft begegnet Johannes das ganze Spektrum dessen, was der Nationalsozialismus als verbrecherische Existenz identifizierte 278 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald und inhaftierte. Welche Auswirkungen diese Gesellschaft auf einen derart sensiblen Menschen haben kann, zeigt sich wiederum an Martin, dessen Leiden für Wiechert von bestechender Allgemeingültigkeit sind: „Es gab alle Verbrechen, die der menschliche Geist sich ausdenken konnte. Viele Homosexuelle waren da, Geistliche und Staatsanwälte darunter. Eine Reihe derer, die den Ertrag des ‚Winterhilfswerkes‘ zu ihrer eigenen Hilfe gebraucht hatten. Ärzte und Bankdirektoren, Lehrer und Gärtner, Arbeiter und Bettler, Erblindende und Krüppel, Greise und Sterbende. Und eine unendliche Zahl von ‚Hochverrätern‘, so tapfer und hilfreich, wie Johannes sie später kennengelernt hat. Was für eine Welt für einen jungen Menschen, der im dämmerigen Abendlicht unter dem hohen Klappfenster steht und das griechische Testament in den Händen hält! […] Niemals war das Gewebe menschlichen Schicksals so vor ihm ausgebreitet worden.“ (Ebd., 56) An dem die Bibel im Original lesenden jungen Intellektuellen Martin wirke sich die Gefangenschaft besonders drastisch aus, da bei ihm die Gefahr des moralischen „Verderbens“ inmitten all der Kriminellen viel drohender sei als bei diesen fragwürdigen Gestalten selbst. Der Lagergewalt ausgesetzt zu sein ist existentielle Bedrohung, deren ver‐ nichtende Konsequenz sich Johannes in den „Muselmännern“ im Buchenwalder Steinbruch offenbart: „Er sah die gekrümmten Gestalten, Skelette mit gespenstischen Armen und Beinen, von Wunden bedeckt, gefärbt von geronnenem Blut. Und er sah den Blick ihrer Augen. […] Irre, verstörte Augen, die wie leere Linsen in ihren Gesichtern standen. Die wohl die Formen dieser Erde noch spiegelten, aber nur auf eine mechanische, automatenhafte Weise. Die nichts mehr begriffen, weil alles Begreifbare in der Hölle der Qualen untergegangen war. Der Begriff des Menschen und auch der Begriff Gottes. Kinder und Tiere in der letzten Todesangst mochten solche Augen haben, wenn das Dunkel schon über ihnen zusammenschlägt und die Tafeln aller Gesetze, auch der einfachsten, klirrend in Scherben zerbrachen.“ (Ebd., 90 f.) Die als „Skelette“ geschilderten Häftlinge sind bereits aus dem Leben getilgt. Wiechert jedoch fokussiert über die physische Vernichtung auf einen Subjekt‐ status: Die „toten“ Augen dieser Häftlinge markieren einen Bewusstseinszu‐ stand, der nicht mehr über das unmittelbar vor ihnen Befindliche und die schlichte Bedürfnisbefriedigung hinausgeht. Sie haben sich abgefunden mit den Bedingungen, die das Lager ihnen auferlegt, und keinen auch nur theoretischen Einspruch mehr gegen das sie vernichtende Lager. Wiechert wiederholt diese Deutung bei der Schilderung des besonders demütigenden Latrinenkommandos: 8.3 Entgrenzte Gewalt und Bewahrung der nationalen Deutung im Lager 279 551 Die „Sense des Saturn“ alludiert auf Friedrich Schillers Gedicht „Gruppe aus dem Tartarus“ aus der Anthologie auf das Jahr 1782, das die Leiden der Verdammten der Unterwelt bebildert. Die Zerstörung der Sense, des astrologischen Symbols des römischen Gottes der Aussaat meint eine Ewigkeit, die die Ordnung der Natur und den Wechsel der Jahreszeiten, die Zeit selbst aufhebt. „Hohl sind ihre Augen - ihre Blicke […] Fragen sich einander ängstlich leise: / Ob noch nicht Vollendung sey? -/ Ewigkeit schwingt über ihnen Kraise/ Bricht die Sense des Saturns entzwey.“ Julius Petersen, Friedrich Beißner (Hrsg.), Schillers Werke. Nationalausgabe: Erster Band - Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799. Weimar 1992, 109, Herv. im Orig. „Diesen Zug der Schatten, die aus der Nacht aufstanden, um wieder in sie zurückzu‐ sinken. Verfluchte, deren Werk sich mit jeder Sonne erneuerte und denen niemals etwas anderes gegeben sein würde als eben dieses Werk des Ekels, des Schmutzes und der Schande. Morgen, übermorgen, in einem Jahr. Bis die ‚Sense des Saturn‘ zerbrach. Ihre Augen sahen nicht mehr, ihre Ohren hörten nicht mehr.“ (Ebd., 145) 551 In diesen Schilderungen beschreibt Wiechert die letzte Station dessen, was die Lagerhaft den Menschen antut: An ihnen ist kaum noch Menschliches er‐ kennbar, nichts individualisiert sie, während sie als diese geisterhaften Gestalten nur als Ergebnis des Lagers denkbar sind. Im Bild der toten Häftlingsaugen konzentriert sich das Resultat dieser Gewalt zum vernichteten Subjekt, das ebenfalls nur noch Masse ist. Die Vernichtungsstrategien des Lagers begreift Johannes als Bewährungs‐ probe. Seine Inhaftierung reflektiert er im Bild der „große[n] Mühle“ des Schicksals, die nun auch ihn ergriffen habe, „um zu sehen, wie sein Korn beschaffen sei.“ (Ebd., 15) Im Lageralltag, angesichts von Mangelversorgung und Schwerstarbeit, sieht er sich mit einer letztlichen Prüfung konfrontiert: „Hier stand die wahre Bewährung fordernd auf, nicht zu vergleichen mit einer früheren, die erbarmungslos ihren Finger auf das Letzte im Menschen legte, um zu prüfen, ob er bestehen werde. Auch erkannte Johannes schon am dritten Tage, daß, so unerschütterlich er im Seelischen bleiben werde, sein Körper diesem nicht gewachsen sein würde. Der dritte Tag reihte sie ein in die große Mühle, und am Abend wußten sie, wie ihre Steine mahlten.“ (Totenwald, 84) Diese Bewährung besteht jedoch nicht in Überleben oder physischer Unver‐ sehrtheit. Vielmehr gilt es Johannes, körperlichem Leid und Erniedrigung innere Disziplin und Haltung entgegenzusetzen. „Das Zukünftige würde sich erweisen, und er hoffte nur, daß er sich bewähren würde. Haltung war das einzige, was der Gewalt entgegengesetzt werden konnte, stärker als sie, weil sie nicht der Ketten und Riegel bedurfte. Auch hatte er nun zu erweisen, 280 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald daß das Menschliche in ihm dem gleichkam, was er in seinen Büchern gelehrt hatte.“ (Ebd.,-24) Diese Haltung des Erduldens bei gleichzeitigem Insistieren auf einer theoreti‐ schen Überlegenheit den Haftbedingungen gegenüber wird zum Beleg seiner Menschlichkeit. Gleichzeitig ist sie Überlebensstrategie: Johannes ist es möglich, den Nationalsozialismus und dessen Gewalt als das Niedere, das Andere zu erkennen. Das Wissen um dieses „wahre Wesen“ des Nationalsozialismus ver‐ unmöglicht es diesem, Johannes gänzlich zu vereinnahmen und zu vernichten. Da Johannes das Lager erduldet, gelingt es ihm, sich einen unantastbaren Wesenskern zu bewahren, den er der Gewalt wirksam entgegenhalten kann. „[D]er stärkste Helfer [kehrt] zurück, die innere Würde, mit der man im Strom einer fremden Welt steht, einer Welt, deren Beweger so niedrig sind wie ihre Äußerungen, deren primitives Hilfsmittel die Demütigung ist und die doch ohnmächtig vor einem stillen, unbewegten Gesicht zurückweicht, weil sie keine Wirkung bemerkt, die ihrem Begreifen angemessen wäre.“ (Ebd., 28) Johannes’ Anstoß an Schmutz, Obszönitäten und den allzu einfachen Gemütern der Häftlinge bestätigt ihn als von diesen Anderen prinzipiell unterschiedene Figur. Wenig später stellt Wiechert die Bewahrung einer inneren Haltung als einzige Strategie der Bewältigung der nationalsozialistischen Gewalt aus: „Es war schwer, etwas zu wissen in diesem dunklen Haus, aber etwas mußte man wissen, um durch das Reich der Schatten hindurchgehen zu können. Und wenn es nur das war, dass man seine Würde bewahrte.“ (Ebd., 54) Johannes übersteht die Arbeit im Steinbruch, das Kipploren- und Rodungskom‐ mando. Schließlich kommt er - Ergebnis massiver Hilfe seitens der kommunis‐ tischen Untergrundorganisation - in das Strumpfstopfkommando, in dem er körperlich vergleichsweise leichte Arbeit leisten muss. Über die vermeintliche Niedrigkeit der dort zu verrichtenden Tätigkeiten nachsinnend, reflektiert Johannes über die Würde des Menschen und ihre Gewährleistung auch in widrigster Situation: „Da hatte nun also ein neues Kapitel seines Lebens vielversprechend begonnen. Ein seltsames Kapitel, wenn er seiner bisherigen Lebensarbeit gedachte, aber weshalb sollte er nicht in die Wiederherstellung eines Strumpfes die gleiche selbstlose Kunst‐ fertigkeit legen können wie in die Nachschaffung eines Schicksals, das er in seinen Büchern aus dem dunklen Urgrund der Phantasie in die Klarheit eines neuen Lebens aufsteigen ließ? Und was die Frage der Würde anging, so lag sie ja nicht im Objekt, sondern im Subjekt.“ (Ebd., 119 f.) 8.3 Entgrenzte Gewalt und Bewahrung der nationalen Deutung im Lager 281 Für Wiechert ist die Menschenwürde abhängig von der Haltung des Gefan‐ genen, während die äußeren Umstände, die „Objekte“, diesen nur insofern bedingen, als sie dem Subjekt die Möglichkeit geben oder nehmen, sich „würdig“ zu ihnen zu stellen. „Würdig“, und darin menschlich, ist das Subjekt, solange es sich noch in den widrigsten Umständen etwas Eigenes, einen Einspruch bewahrt, der die bewusste Differenz zum Nationalsozialismus beinhaltet und sich darin der Vereinnahmung zur Masse widersetzt. So steht am Ende von Johannes’ Haft die Gewissheit, dass einzig derjenige der Gefangenschaft etwas entgegensetzen und so deren Bewährung bestehen könne, „der sich das Gefühl für Recht und Würde bewahrt hatte, im Gegensatz zu denen, die es schändeten.“ (Ebd., 132) Jene, die die Bewährung der Haft bestehen können, sind die Märtyrer der Lager. Nicht nur, dass diese ein besonders vorbildliches Verhalten an den Tag legen, indem sie die Qualen der Gefangenschaft erdulden. Wiechert identifiziert sie als Bewahrer eines durch den Nationalsozialismus verneinten Positivs. Im Bild des Samenkorns perspektiviert er eine Orientierung nach vorne, die in ihrem Leid einen über das Lager hinausreichenden Sinn stiftet. „Wofür hatte er gehungert, gestrebt und gearbeitet, wenn immer wieder nur das geschah, was zu allen Zeiten geschehen war? Der Sieg der Gewalt über das Recht, der Knechtung über die Freiheit, der Lüge über die Wahrheit? Aber vielleicht war die Idee nur ein Samenkorn, das auf seine Zeit wartete, wie man von denen erzählte, die man bei den ägyptischen Mumien fand? Ihre Hände zerfielen, sobald man sie berührte, aber das Korn blieb. Vielleicht lebte man nur für solch ein Samenkorn, und man konnte ruhig zerfallen, wenn nur das Korn sich bewahrte.“ (Totenwald, 53 f.) Das Lager begegnet Johannes als Sieg der „Gewalt über das Recht“, als Sphäre absoluter Inhumanität. Hier, wo diese am verlorensten scheinen, offenbaren sich aber auch die Werte der Kultur, der Moral, des Glaubens. Die Märtyrer selbst sind die Samenkörner einer Zukunft nach der NS-Herrschaft. Erst durch das Leiden offenbaren sich diejenigen, die die Einheit von Volk und Nation verkörpern und die erstrebenswerte Kontinuität deutscher Kulturtradition und Humanität repräsentieren. Unter der „Goethe-Eiche“, die als geschändetes Symbol einst für die Kultur einer zivilisierten Welt, nun als Teil von Buchenwald für dessen Vernichtung steht, reflektiert Johannes: „Es gab keine Kultur, die auf Menschenblut sich aufbauen ließ. Staaten konnte man auf Blut oder Gewalt bauen aber Staaten waren nur Kartenhäuser vor dem Wind der Ewigkeit. Was blieb, das stifteten die anderen. Nicht die Henker und Mörder. Nicht einmal die Feldherren. Und diese anderen vergossen kein Blut, außer daß sie ihr eigenes in das unsterbliche Werk verströmten. […] Es war nichts verloren 282 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald gegangen von dem großen Leben, und auch wenn er mit fünfzig Jahren an eine Galeere geschmiedet worden wäre, würde nichts verloren gegangen sein. ‚Edel, hilfreich und gut …‘ sein, nicht einmal dies war untergangen, solange ein einziger Mensch es vor sich hinsprach und es zu bewahren versuchte bis in seine letzte Stunde hinein.“ (Ebd., 93 f.) Im Lager offenbaren sich Verkörperungen des „eigentlichen“ Deutschland, das von der nationalsozialistischen Vereinnahmung frei ist. Die Märtyrer sind die Bewahrer von Moral und deutscher Kulturtradition, die hier im Zitat von Goethes Hymne Das Göttliche (1783) als die Träger der „edlen, hilfreichen und guten“ Qualitäten des „Humanen“ und darin überhaupt als „Menschen“ erkannt sind. Darin sind sie auch über das Lager hinaus ins Recht gesetzt. In den Leidenden identifiziert Wiechert die „Saat“, die dereinst in einem neuen Deutschland aufgehen soll. Indessen gesteht Wiechert diesen Status des Opfers mitnichten allen Insassen des Lagers zu. 8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer Wiechert spricht von „den Deutschen“ als Universalie, als gänzlich geknechtetes Volk. Gegenüber der auch ihm selbst drohenden Vereinnahmung erscheint ihm die Gefangennahme als innere Befreiung. Indessen dementiert er, dass diese Befreiung von allen Mitgefangenen gleichermaßen erlebt oder geteilt werde. Johannes trifft in Gefangenschaft eine Gesamtheit der aus der nationalsozia‐ listischen Gesellschaft Aussortierten, aber mitnichten eine Gemeinschaft der Märtyrer. „Vom Geringsten bis zum Größten lag ihrer Hände Arbeit, ihr Schweiß, ihre Tränen, ihr Blut in allem, was man sah. […] Ihrer war die Arbeit und die Knechtschaft, jener war die Wacht und das Herrentum. Ihrer war die Leistung, das Wissen, die Planung, das Schöpfertum aus dem Nichts, jener war die Unwissenheit, die Peitsche, der Kolben, das Richten, die Marter. Hier war das ganze Volk vom Bettler bis zum Reichstagsabgeordneten, vom namenlos Geborenen bis zum Freiherrn, Handwerker und Gelehrte, Ärzte, Juristen und Pfarrer. Dort war die Uniform, unter der sich nichts verbarg als das Gleichmaß der Weltanschauung.“ (Totenwald, 82 f.) Wiechert identifiziert die besondere Gewalt des Lagers im Invertieren einer normierten Gesellschaftsordnung sowie in der konsequenten Verneinung der Individualität der Häftlinge durch deren Subsumtion unter die Kategorie des Staatsfeindes. „Siebzehnjährige und Siebzigjährige“ haben im Lager den glei‐ chen Arbeitseinsatz zu leisten (ebd., 85, vgl. 89). Nicht einmal mehr nach dem Maßstab der Eignung zu Arbeitskommandos und erbrachter Arbeitsleistung 8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer 283 werden sie unterschieden. Zentrale Eigenschaft der Lagergewalt ist, dass sie sich unterschiedslos gegen alle Insassen richtet: „Sie waren nun alle wie die anderen.“ (Ebd., 80) Entlang ihrer Kleidung werden die Häftlinge uniformiert, in ihrem Aussehen durch Ganzkörperrasur gleich gemacht, private Gegenstände müssen abgegeben werden. „Er hörte Kommandos, Meldungen, eine Stimme, die durch den Lautsprecher Num‐ mern aufrief, nicht Namen, hörte Flüche und Schläge und stand regungslos, nach rückwärts lauschend, wo seine Zukunft vor sich ging, in die er bald eingereiht würde wie die anderen auch, ein Mensch mit einer Nummer, mit kahlgeschorenem Kopf, abgetrennt vom Leben, der Schönheit, der Güte, der Sauberkeit, angeschmiedet an die Galeere eines Staates, der seine Zweifler in den Tod schickte.“ (Ebd., 77 f.) Von der uniformen Kleiderordnung über das Ignorieren von Fähigkeiten und Alter der Häftlinge bei der Arbeitszuteilung bis hin zur mutwilligen Verwun‐ dung und Tötung exekutiert sich die Lagergewalt unterschiedslos an Häftlingen. Und dennoch existiert gegenüber diesem „Gleichmaß der Weltanschauung“ im Lager ein Modell von Gemeinschaft. Wiecherts soziale Hierarchisierung hat die folgenden Abstufungen: „An der Spitze von Haltung und Achtung, wenn von einer solchen die Rede sein konnte, standen die Roten. Hinter ihr folgten die Grünen, die Berufsverbrecher, die schwarzen Abzeichen der Arbeitsscheuen, die rötlichen der Homosexuellen, die violetten der Bibelforscher und die gelben der Juden.“ (Ebd., 80 f.) Entlang der von den Nationalsozialisten vollzogenen Häftlingskategorien gibt es auch für Wiechert eine moralische Sortierung der Gefangenen. Wohl gibt es darin auch in Haft abstoßende Kriminelle. Einen Transport „Schwerverbrecher“ beschreibt er als „aussätzig gleichsam an Leib und Seele“, sodass ihm das Zusammensein mit diesen erscheint, „als sei er in dieser Nacht für immer gezeichnet worden.“ (Ebd., 69) Abzulehnendes Verhalten im Lager fällt in den meisten Fällen zusammen mit einem bereits zuvor gescheiterten bürgerlichen Lebenslauf und wird zurückgeführt auf einen defizitären Charakter. So sind die brutalsten Kapos gleichzeitig die, die „niemals über die Ebene eines schalen und platten Witzes“ hinausgehen und deren Karrieren „in vielen Schiffbrüchen gescheitert“ waren (ebd., 105, 109). Gerade die Beschreibung des „Berufsver‐ brechers“ [Hubert] Richter zeigt, dass auch unter den Häftlingen „Knechte“ des Nationalsozialismus existieren. Richter weist nicht nur eine kriminelle Vergangenheit auf, sein Auftreten als Lagerhenker bestätigt für Wiechert, er ist „ein verbrecherischer Mensch bis in die Wurzeln seines Lebens hinein“ (ebd., 129). An Richter offenbart sich ein Passungsverhältnis von Nationalsozialismus 284 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 552 Siehe etwa die Charakterisierung Josef Biesels, der „in seiner geringsten Gebärde, in seinem zerrissenen Kleid mehr wert und würdig [war] als die Gesamtheit derer, die ihn hinter dem Stacheldraht bewachten.“ Totenwald, 96. Weiterhin die Einführung „Ro‐ thermunds“ oder auch die eines namenlos bleibenden Fabrikbesitzers aus Sachsen nebst einem fränkischen Büroangestellter. Ebd., 70, 138. Diese Miniaturporträts belegten laut Schiefke Wiecherts Zeugnisdruck beim Verfassen von Der Totenwald, welcher „offenbar in der Sorge [entstand], sein Bericht könne die einzige Überlieferung von deren Schicksal bleiben.“ Schiefke, „Wiechert“, 293; vgl. Krenzlin, „Erziehung“, 160. und Gefangenen, hier zeigt sich, dass Herrschaft und Knecht „einander wert“ sind (ebd., 130). Weiterhin stoßen Wiechert die Häftlinge negativ auf, die im Lager mit egoistischen oder materiellen Motiven auftreten und sich so um ihrer Würde begeben. So heißt es über einen ehemaligen Schriftsteller: „Johannes war nicht besonders stolz auf diesen Zunftgenossen.“ (Ebd., 108) Grund für diese Diskreditierung ist, dass der Autor sich „blöde“ stellt, um so die leichtere Arbeit der geistig Behinderten leisten zu müssen. Dass gerade ein Kulturschaffender sich zum Zweck der materiellen Besserstellung derartig demütigt, empfindet Johannes als Schmähung. Dagegen begegnen Johannes einzelne Gefangene, aber auch Häftlings‐ gruppen, die ihm als kameradschaftlich, vorbildlich und menschlich auffallen. Tatsächlich besteht der Großteil von Der Totenwald aus Porträts einzelner Gefangener, die Wiechert als die „Adlige[n] der Geburt oder des Geistes“ so bereits stilistisch aus der drohenden Vermassung im Lager heraushebt. 552 Darin nehmen die politisch Linken eine besondere Stellung ein. Die Kommu‐ nisten helfen Johannes vielfach im Lager; in Person von Josef Biesel, einem Saarländer KPD-Mitglied, sind sie unmittelbar daran beteiligt, Johannes von den körperlichen Schwerstkommandos zu den Strumpfstopfern zu überstellen (Totenwald, 113 f.). Einem überwiegend mit politischen Gefangenen belegten Block zugeteilt, findet Johannes dort ein „Muster kameradschaftlicher Gemein‐ schaft“ (ebd., 94). So durchgesetzt scheint diese moralische Deutung, dass die „wenigen ‚Politischen‘“, deren Verhalten vom Ideal kameradschaftlicher Hilfe herausfallen, dadurch ihren Farbwinkel, „ihr Abzeichen schändeten“ (ebd., 97). Weiter zeigt sich Johannes beeindruckt vom langen Leidensweg der Kommu‐ nisten. Begleitet von dem Ostinato „Mein lieber Mann …“ erzählen diese ihm von ihren Hafterlebnissen, die durch verschiedene Lager mitunter bis ins Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 zurückreichen. Dass diesen Gefangenen dennoch „die Sonne der Hoffnung, des Frohsinns, der Freiheit“ nicht unterging, sie im Gegenteil kameradschaftliche Hilfe organisieren, impo‐ niert ihm ungemein (ebd., 132-137). Die Kommunisten bestätigen Wiecherts Deutung des Nationalsozialismus als Vereinnahmung der Nation. An ihnen erlebt Johannes, dass diese sich im Gespräch scheuen, über ihre Vergangenheit 8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer 285 553 Vgl. Hattwig, Dritte Reich, 123. in Gefangenschaft und gerade über die Zeit der Errichtung Buchenwalds zu sprechen: „Wenn noch ein Rest von Scham im deutschen Volk verblieben war, so bewahrten sie ihn, die ‚asozialen und verbrecherischen Elemente‘, wie es in den offiziellen Verteidigungen der Lager so schön hieß. […] Denn es war, als schämten sie sich, von ihrer schrecklichen Vergangenheit laut zu sprechen, weil es ja ihr eigenes Volk war, über das dabei der Stab gebrochen wurde.“ (Ebd., 131) Wiechert hält an den Kommunisten positiv fest, dass sie es unterlassen, über die an ihnen verübte Gewalt zu sprechen, weil sie dabei Kritik an ihrem eigenen Volk äußern würden. Diese Opfer haben einen zu äußernden Einwand gegen die an ihnen verübte Gewalt, mehr noch aber ein Bewusstsein dafür, welche Auswirkungen diese Gewalt für das Ansehen von Volk und Vaterland hat. An diesen Opfern belegt sich für Wiechert, dass die nationalsozialistische Gewalt eine Vereinnahmung und Negation des eigentlichen Deutschland ist. Gleichzeitig macht Wiechert deutlich, dass er sich trotz dieser Hilfe nicht vom Kommunismus hat affizieren lassen, und verurteilt diesen als gleichermaßen totalitär wie den Nationalsozialismus: „Auch wurde Johannes nun nicht etwa in diesen Monaten zu jener Lehre der Gleichheit bekehrt. Er machte niemals ein Hehl daraus, daß er es für ein Unglück halten würde, wenn einmal, nach einem Wechsel der Macht, nichts anderes vor sich ginge als ein Wechsel der Richtung um einhundertachtzig Grade.“ (Totenwald, 131 f.) Es bestehe lediglich eine quantitative Differenz zwischen den beiden Welt‐ anschauungen, wenn Wiechert meint, dass der Kommunismus „seit seinem Bestehen im deutschen Volke nicht so viele Verbrechen begangen [habe], wie seine Bekämpfer sie in fünf Jahren begingen.“ (Totenwald, 131) 553 Die Ideologie bietet den Sozialdemokraten und Kommunisten im Lager die Möglichkeit einer zumindest mentalen Überwindung des Lagers. Wiechert macht jedoch sehr deutlich, dass sich ihre Ideologie für ihn als ebenso totalitär wie seine faschistische Antipode diskreditiert. Doch auch wenn Wiechert die Ideologie der Kommunisten als genauso gewalttätig wie den Nationalsozialismus bestimmt, hält er positiv an den inhaftierten Kommunisten fest, dass diese sich doch getrennt zu ihrer Ideologie verhalten können. „Wer ihm im Lager geholfen hatte, hatte dies nicht als Kommunist getan, sondern als Mensch, der sich das Gefühl für Recht und Würde bewahrt hatte, im Gegensatz zu denen, die es schändeten.“ (Ebd., 132) Trotz ihrer Ideologie offenbaren die Kommunisten 286 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald auch eine allgemeine Menschlichkeit, die Wiechert als alleiniges Movens ihrer Güte festhält. Als Verfechter der Humanität sind die Kommunisten somit wert‐ zuschätzen, auch wenn Wiechert hervorhebt, dass er die politische Dimension ihres Lagerdaseins verwirft. „Aber was wollte es hier im Lager sagen, daß der eine dieses und der andere etwas anderes glaubte? Die Sehnsucht des Menschen im Lager ging nach dem Menschen, und beider gemeinsame Sehnsucht ging nach der Freiheit. Und vielleicht nicht einmal so sehr nach der Befreiung von Fesseln als nach der Wiederherstellung der Menschenwürde, gleichviel, in welchem Glauben sie nun münden sollte.“ (Ebd., 140) Gleichermaßen ist Johannes erstaunt darüber, dass die praktizierte Solidarität der Kommunisten nicht von feinfühligen kulturellen Eliten, sondern von „ein‐ fachen Leuten“ ausgeht. So elaboriert er über den Saarländer Arbeiter und Kapo des Kipplorenkommandos Hans Becker: „Du wußtest nichts von Goethe oder Mozart. Du glaubtest an keinen Gott und warst ein Hochverräter, aber wenn ein Gericht sein wird, von dem die Bücher sagen, werden die Richter aufstehen und sich neigen vor dir, weil du vieler Menschen Kreuz auf dich genommen hast. Und wenn Johannes verzweifeln wollte oder will an seinem Volk, so braucht er nur deiner und deinesgleichen zu gedenken. Nicht der Großen des Rechtes oder der Wissenschaft, nicht des Adels oder der Uniformen, nicht der Dichter oder Redner. Sondern allein des einfachen Mannes, der so ist, wie du warst.“ (Totenwald, 103 f.) Lobt Wiechert auch an dieser Stelle die menschlichen Qualitäten der Kommu‐ nisten im Lager, ist diesem Lob doch der fade Beigeschmack eines elitären Denkens beigemischt, welches derart positive Eigenschaften nicht bei solch ungebildetem Volk erwartet. Dagegen steht das Beispiel eines sozialdemokratischen Journalisten, der seine Ideologie noch in den Arbeitskommandos des Lagers rigoros vertritt. Wiechert äußert sich abgestoßen von dieser Figur, die ihre Ideologie insofern verkörpert, als sie ihr Denken und Handeln gänzlich aus dieser schöpft: „Wenn die Enge und Dogmatik eines politischen Systems einen ganzen Menschen bis in seine kleinsten Äußerungen erfassen, ausdörren und aushöhlen konnte, so war es hier geschehen. Die gestaltende oder mißstaltende Kraft, die im Typus eines kleinen Parteisekretärs herrschend sein mochte, hatte sich hier bis in den Tonfall der Sprache, in das Gebärdenspiel der Hände, ja bis in die Grundsätze des Strumpfstopfens hinein als mächtig erwiesen.“ (Totenwald, 122) 8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer 287 Wiechert verlacht diesen Journalisten, dessen ideologische Schulung ihm als Lehre der Haft noch offenbart, wie man so professionell Strümpfe stopfen kann, dass seine Frau diese Tätigkeit nicht mehr anrühren dürfe. Wer derart keine Differenz zwischen Ideologie und „Menschlichkeit“ machen könne, dessen gelebte Weltanschauung führe sich selbst ad absurdum. „Graue Schematiker des Lebens“, urteilt Wiechert über diese Ideologen (ebd., 123). Auf die gleiche Weise diskreditiert Wiechert die Zeugen Jehovas. Diese im‐ ponieren ihm zunächst durch ihre Wehrhaftigkeit gegen staatliche Vereinnah‐ mung, das Verweigern von Hitlergruß und Wehrdienst. Aufgrund ihrer strengen Moral- und Glaubensvorschriften bezeichnet er sie als die „einzig Unbeugsamen im Lager.“ (Totenwald, 116) Indessen wird rasch deutlich, dass Wiechert ihren Glauben als einen falschen Glauben, ihre Überwindungsstrategie als Irrweg verwirft. „Was nun allerdings bei näherem Zusehen auf dem Grunde dieser Weltanschauung lag, war so beschaffen, daß es sich jeder ernsthaften Diskussion völlig entzog.“ (Ebd., 117) In ihren Überzeugungen entdeckt er eine Anmaßung, die historische Erkenntnisse verneint aufgrund eines vermeintlichen Wissens um das genaue Datum der Entstehung der Welt (ebd.). So stand- und vorbildhaft die Zeugen im Lager nach außen auch wirken mögen, eigentlich müsse man sie ob der Falschheit ihres Glaubens bemitleiden. „Doch lag begreiflicherweise keine beispielgebende Kraft in der Starrheit dieser Haltung, weil ihre Wurzeln in einen dumpfen Boden reichten. Man konnte sie alle achten, aber man mußte sie auch bedauern. Der Märtyrer, der für den Glauben stirbt, daß man nur Gras essen dürfe, begibt sich des Heiligenscheins um seine Stirn.“ (Ebd., 118 f.) Wiecherts Urteil disqualifiziert die Zeugen als „falsche“ Märtyrer, deren Bereitschaft zum Leiden auf falschen Überzeugungen beruhe. In den Denkweisen dieser Häftlingsgruppen erkennt Wiechert Formen der mentalen Überwindung des Lagers, denen gegenüber er sich in einem Kon‐ kurrenzverhältnis sieht. In Johannes’ Inhaftierung vollzieht sich eine innere Befreiung, die beispielhaft für eine Allgemeinheit der Deutschen steht. Im Lager aber trifft Johannes gleich mehrere Gefangenengruppen, die nach dieser Bestimmung der Haft ebenfalls von der nationalsozialistischen Vereinnahmung „Befreite“ sind, deren Anschauungen aufgrund dessen potentiell gleichermaßen mit allgemeiner Gültigkeit versehen sind. Dagegen Einspruch erhebend ent‐ deckt er in ihren Formen von Gemeinschaftlichkeit lediglich eine behauptete Einheit oder schlicht die Idiotie. Die Einwände gegen Kommunisten und Zeugen Jehovas leiten sich somit nicht aus Wiecherts Weltanschauung ab, sondern weisen diese als konkurrierende Gemeinschaftsansprüche ab, bestenfalls mit der Zubilligung, dass sich deren Träger wie die Kommunisten ihrer Ideologie zum Trotz etwas Menschliches haben bewahren können, deren Träger aber 288 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald auch in ihrer Menschlichkeit bis zur Schrecklichkeit entstellt sind. So die Zeugen Jehovas, deren „holzgeschnitzte Gesichter“ alle gleich ausschauen und die so die formelhafte Dogmatik ihrer falschen Überzeugungen nach außen tragen: Es liegt „etwas Unheimliches darin, daß ihre Köpfe einander fast alle ähnlich waren. Dumpfe, holzgeschnitzte Gesichter hinter Brillengläsern, mit asketischen Lippen und der leisen beschwörenden Stimme von Eiferern.“ (Totenwald, 117) Die anderen Denkweisen zur Überwindung des Lagers treten der Gewalt durch Reflexion entgegen: Sie erläutern, erklären und argumentieren. Johannes zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er nicht argumentiert, sondern seine Annahme des Leidens als unvermittelt und vorgedanklich, darin nicht hinter‐ fragbar bestimmt ist. Die Haft ist darin eine sich an ihm vollstreckende Wahrheit der Welt. In diesem Sinne können sich neben Johannes lediglich zwei Figuren im Lager als Märtyrer behaupten. Dies gilt zum einen für Vater Kilb, den Johannes im Strumpfstopfkommando kennen und schätzen lernt. „Was aber diesen Raum für Johannes mit dem Licht einer leuchtenden Erinnerung bestrahlt, das ist die Gestalt des ‚Vater Kilb‘. Die kleine, gedrungene Gestalt eines stillen Bürgers aus einer deutschen Stadt, der nach seinem bescheidenen Tagwerk die Rosen seines winzigen Gartens schneidet und gießt, der vor seiner Haustür den Mond aufgehen sieht und in seiner Art und seinem Gemüt alle Tugenden einer schon vergangenen Zeit still und schmucklos in sich versammelt. Einer Zeit, die in Ludwig Richters Zeichnungen bewahrt ist, in der man weder nach Macht noch nach Ruhm noch nach Größe trachtete, sondern in einem gottseligen Leben und Sterben den Kreis des Daseins umfing.“ (Totenwald, 119) Das Leben des Eisenbahners und Kolonialwarenhändlers Vater Kilb scheint aus einer idealisierten Vergangenheit zu stammen, deren Beschaulichkeit und Genügsamkeit zwischen Romantik und Biedermeier in den Landschaftsbildern und Dorfansichten des Malers Ludwig Richter (1803-1884) aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbildlicht sind. Diese Existenz schildert Wiechert als im Einklang mit den naturgegebenen Daseinsregeln. Doch erfährt Vater Kilbs Biographie Zäsuren in einem Unfall, der ihn arbeitsunfähig macht, sowie einer „falschen Denunziation“, aufgrund derer er ins Gefängnis kommt (Totenwald, 120). Derart negativ betroffen insistiert er gegenüber einem Lokalpolitiker auf seinem Recht als „ein zweiter, bescheidener Michael Kohlhaas“, woraufhin er schließlich ins Lager verbracht wurde. Hier erst zeigt sich die eigentliche Dimension seiner Tugendhaftigkeit: Er ist kameradschaftlich, teilt das Wenige, was er hat, mit anderen und strebt einzig danach, anderen von den bescheidenen 8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer 289 Freuden seines Rosengartens zu berichten (ebd., 120 f.). Vater Kilb erduldet sein Leiden still und geht nicht wie Michael Kohlhaas im auf seinem Recht beharrenden Gewaltexzess zugrunde. In ihm vollzieht sich die Harmonisierung von Freiheit und Leiden, weswegen er, wenn er sich nach außen wendet, als Tröster auf Johannes wirken kann: „Er erzählte von seinem Leben, und nachdem er solange [sic! ] geschwiegen hatte, strömten ihm die Erinnerungen zu. Nichts Großes und nichts Besonderes, aber es war alles in die Güte seines reinen Herzens getaucht, und dort gewann er das Tröstende und Bezaubernde einer vergangenen Welt.“ (Ebd., 121) In Vater Kilb findet Johannes das im Nationalsozialismus verschüttete Ursprungsbild der Deutschen verlebendigt. Dieses offenbart sich einzig im Leiden Vater Kilbs, das ihn als Märtyrer bestätigt. Zum anderen gilt die Bestimmung für Vater Hermann. Dieser wird mit einer Prügelstrafe belegt, einem Leiden, das Wiechert als Kreuzigung inszeniert: „Sie zwangen ihn, den schweren Bock fortzutragen. Der alte Mann brach zusammen, und sie stießen ihn vor ich her. Auf Händen und Füßen kroch er über die Erde, die schwere Last auf seinem geschändeten Körper. Es dämmerte schon, und aus der Ferne sah es aus wie ein ungefüges Kreuz, das ein Gemarterter zu seiner Richtstätte schleppte. Deutsche Dichter hatten sich mit feurigem Pathos zur Wehr gesetzt, daß man dieses Reich den Rückfall ins Mittelalter nannte. Ach, er ging viel weiter zurück, eintausendfünfhundert Jahre zurück und noch weiter, bis zu den Zeiten, in denen man die Kreuze aufrichtete und die Schädelstätten baute. Einmal würden sie es alle wissen, würde man fragen, wo ihre Stimme gewesen sei, als der deutsche Mann ans Kreuz geschlagen wurde. Als der Vorhang noch einmal zerriß und der Schrei noch einmal über die Erde ging: ‚Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? ‘“ (Totenwald, 101 f.) Vater Hermann erfährt Leid, das über den Bereich physischer Gewalt hinaus‐ geht. Sein Opfer ist überhöht als Szenerie biblischen Ausmaßes, in der der Gefangene als Jesusfigur am Kreuz stirbt. Die Episode hat jedoch einen allge‐ meingültigen Anspruch: Vater Hermann leidet, doch leidet er stellvertretend, wird doch eigentlich der „deutsche Mann ans Kreuz geschlagen“. In seinem Martyrium offenbart sich Vater Hermanns Stellvertreterfunktion für das deut‐ sche Volk. Nur an dieser Stelle spürt Johannes eine alle Gefangenen umfassende Reaktion: „Er wurde ausgepeitscht, fünfzehn oder zwanzig Schläge, und es war Johannes, als spüre er das Zittern der Empörung und des Hasses durch das ganze Lager gehen.“ (Ebd., 101) Allein nimmt er Leid auf sich, das eigentlich das gesamte Volk betrifft, und verstirbt an „seiner Schande, die doch nicht die seinige war.“ Er ist der Märtyrer, der in seinem Tode das Leid und die Schuld des ganzen Volkes auf sich lädt. Mehrfach artikulieren die Gefangenen Zweifel an 290 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 554 Ebd., 121 f.; Schiefke, „Wiechert“, 293. Dagegen betont Fangmeier die zahlreichen pro-jüdischen Figuren in Wiecherts Texten sowie Wiecherts persönlichen Philosemi‐ tismus. Jürgen Fangmeier, „Juden bei Ernst Wiechert“, in: Beutner, Bärbel; Pleßke, Hans-Martin, Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert und sein Werk, Frankfurt/ M. 2002 (Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, 3), 133-147; ders., „Keinen Keil zwischen Wiechert und die Juden“, in: Beutner, Pleßke, Von bleibenden Dingen, 149-153. Wiechert selbst erklärte in einem Brief an H.G. Adler vom 15. April 1947, er lehne jeglichen Antisemitismus ab und habe lediglich der folgenden Beobachtung Ausdruck verleihen wollen: „Aber es gab Erscheinungen vor 1933, die mich - ich lebte damals drei Jahre im Grunewald - die mich damals schon mit der tiefsten Sorge erfüllten. Es gab eine bestimmte Schicht in der Presse z. B., beim Theater, der Existenz Gottes: Für die im Lager ist Gott gestorben und die Gewissheiten einer höheren Ordnung von Leben und Tod sind ihnen verwehrt: „Gott hatte sie verlassen und war gestorben.“ (Ebd., 152, vgl. 33, 92, 101, 130) Diese Zweifel kulminieren hier im Zitat der „Sieben letzten Worte Jesu“: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ Doch so wie Jesus in seinem Martyrium die Schuld der Welt auf sich lud, um darin die göttliche Heilsbotschaft zu erneuern und zu bestätigen, nehmen auch die Märtyrer der Lager unermessliches Leid auf sich, um so die Nichtvereinnehmbarkeit der deutschen Nation und des deutschen Volkes von der nationalsozialistischen Negation zu beglaubigen. Im Kern ist Der Totenwald auf diese nationale Deutung hin geschrieben. Zwar umkreist Wiechert unentwegt die Zentralbegriffe humanistischer Wertideale, der Wahrheit und des Rechts. Dabei aber lässt er an keiner Stelle einen anderen Maßstab als den der Nation gelten. Gemeinschaft und die Werte der christlich-abendländischen Kulturtradition erscheinen nur in der nationalen Klammer überhaupt möglich. Besonders deutlich wird die Dominanz dieser Perspektivierung anhand von Wiecherts Beschreibung der im Steinbruch arbei‐ tenden jüdischen Häftlinge: „Und mochten jene [die Juden, J.V.] schuldig sein an manchem in der Summe ihres Lebens, mochte das ganze Volk schuldiger sein als andere Völker: hier zerging ihre Schuld in nichts vor der Schuld derjenigen, die sich als das neue Volk priesen. Furchtbarer war niemals gebüßt worden, als jene büßten. Und mehr Schande war niemals auf die Stirn eines Volkes gefallen als auf jenes, das nun ihre Henker stellte. Sein Volk, dachte Johannes, sein eigenes Volk! Für dessen Erhellung und Reinigung und Tröstung sie alle ihr Leben verbracht hatten, zu denen auch er als ein Arbeiter im Weinberg gehörte.“ (Totenwald, 92) In der Sekundärliteratur wird zuweilen auf den latent antisemitischen Ton dieser Passage hingewiesen, der von einer „Schuld“ des jüdischen Volkes ausgeht. 554 Entscheidend jedoch zeigt die Episode, dass Wiechert von einer 8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer 291 im Rundfunk, in der reichen Welt, auch in der Literatur, die nicht so lebten, wie man leben sollte.“ Z.n.-Franke, Wälder, 230. 555 Vgl. dazu auch die Charakterisierung eines Polen, dessen charakterliche „leise Dumpf‐ heit“ Wiechert als „das Erbteil östlicher Erde“ bestimmt. Totenwald, 62. 556 Siehe dazu auch Wiecherts Aussage im Vorwort: „Ich habe nur am Tor gestanden und auf die dunkle Bühne geblickt, und ich habe aufgeschrieben, nicht so sehr was meine Augen gesehen haben, sondern was die Seele gesehen hat. Der Vorhang hatte sich erst zum Teil gehoben, die Lampen brannten noch matt, die großen Schauspieler standen noch im Dunklen. Aber die Speichen des schrecklichen Rades begannen sich schon zu drehen, und Blut und Grauen tropften schon aus ihrem düster blitzenden Kreis.“ Ebd., 5. Wiechert gesteht ein, kein erlebtes Wissen um die Entwicklung des Lagers während des Krieges zu haben und nur quasi distanzierter Zuschauer der Präliminarien und „ersten Akte“ Buchenwalds gewesen zu sein. 557 Vgl. Hattwig, Dritte Reich, 129f. Identität von Subjekt, Volk und Nation ausgeht. 555 Schuld wie Buße, Schande wie Ansehen, das Handeln und letztlich die Existenz tauchen bei Wiechert als Subjektkategorien auf, die durch die völkische Zugehörigkeit determiniert und nur als deren Ausdruck erkennbar sind. Diese Ausschließlichkeit dieser Setzung belegt die absolute Dominanz des nationalen Maßstabs der Lagerdarstellung in Der Totenwald. In der Offenbarung der Märtyrer präsentiert Wiechert nicht lediglich sich durch das Erdulden von Leid bewährende und aus der Masse der Gefangenen herausstechende Figuren, sondern nationale Vorbilder, in denen die Maßstäbe der Nation und individueller Freiheit zusammenfallen. Sie verkörpern eine Vorstellung von Volk und Nation, die außerhalb der Lager durch den National‐ sozialismus vereinnahmt und nicht zu finden ist. Die Märtyrer sind notwendige Vorbilder, die in ihrem Opfer Leiden und innere Freiheit vereinen und so die Vereinnahmung abschütteln. Aufgrund dessen braucht es das Leiden als Moment der Selbstversicherung. In dieser Deutung fungieren die Märtyrer als Belege der Differenz zwischen Nationalsozialismus und dem „eigentlichen“, durch sie verkörperten und in ihnen leidenden Deutschland. Das Erleben des Lagers eröffnet Johannes das Wesen der dort herrschenden Gewalt: „Einmal war der Schleier von den letzten Dingen fortgezogen worden, und Johannes hatte in das Entschleierte hineingesehen.“ (Totenwald, 150) 556 Bestimmt ist diese Gewalt als ein universelles Übel, das abseits politischer, nationaler oder schlicht inhaltlicher Sphären existiert. 557 „Die ganze Menschheit war geschändet worden und wer sagte ihm, daß dies hier nur bei seinem eigenen Volke möglich war und bei den anderen ‚Diktaturen‘? Die Zeit hatte den Grund der Völker aufgegraben, und aus der Tiefe waren stinkende Quellen aufgebrochen. Aber man wußte nicht, wie weit sie sich unter der Erde verzweigten 292 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 558 Vgl. Gołaszewski, Fallstudie, 347; Hattwig, Dritte Reich, 126. und was mit anderen Völkern sein würde, wenn man ihren Grund aufgrübe. Es waren trübe Brunnen, in denen Gott sich spiegelte, und man ging von dannen wie von einem aussätzigen Feld, selbst die Fußsohlen brennend von dem Gift der Krankheit.“ (Ebd.,-149 f.) Die Völker als Überbau über diesem Untergrund haben die Gewalt durch Geist und Kultur überwunden. Doch die Gewalt als Verstoß gegen Wahrheit, Recht und Moral brach sich Bahn. Diese Topographie eines universellen Kräfteringens leistet zum einen die Bestimmung des auf deutschem Boden herrschenden Nationalsozialismus. Dieser war nicht selbst dieses Übel, sondern dieses Uni‐ verselle hatte sich in dieser Herrschaft manifestiert. Damit verbunden ist die Warnung, dass die Wurzeln dieses Übels überall sein und sich auch in anderen Völkern Bahn brechen können. Die nationale Gemeinschaft als Kultur- und Geistestradition ist darin vom Makel des universell Bösen reingewaschen, das sich im Nationalsozialismus manifestierte. Vielmehr erscheint sie als die einzige Instanz, die dieses Übel in Schach zu halten vermag. Scheint im Zusammenbruch des Nationalsozialismus dieses Böse nach außen hin überwunden, gilt es dennoch, nach innen umzusetzen, was Johannes erkannt hat, um ihm dauerhaft Einhalt zu gebieten. Dazu benötige es den Märtyrer, der durch seine Erwähltheit, das Leid zu durchleben, dazu berufen scheint, dieses Wissen um das Wesen der Gewalt wachzuhalten. „Johannes sah alles und er vergaß nichts“ (Totenwald, 145). Indessen macht das Ende des Totenwalds klar, dass diese Beauftragung nur für Wiecherts Johannes gilt, der noch unter den wenigen als Märtyrer offenbarten Insassen heraussticht. Denn wo Vater Kilb die Verbindung von Freiheit und Leid lebt und Vater Hermann darüber stirbt, ist einzig Johannes in der Lage, die Qualen in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen und die Bedeutung des Märtyrerstatus zu erahnen. Darin ist ihm ein einzigartiges Leiden aufgeladen: „Das Blut aller dieser Leidenden war in sein Blut hineingeflossen und hatte es schwer und dunkel gemacht mit allen ihren Qualen. Noch schwerer und dunkler, als es schon gewesen war.“ (Ebd., 148) Durch diese Sonderstellung trägt Johannes zusätzlich zu den seinen auch noch die Leiden der anderen Märtyrer. Derart bereits im Lager eine singuläre Figur, konsolidiert das Ende des Totenwalds Johannes’ Sonderstellung, als er als Einziger das Lager verlässt und also die Botschaft des Märtyrers aus dem Lager in die Außenwelt trägt. Darin erklärt sich auch die Benennung des Protagonisten nach dem biblischen Evangelisten. 558 Wie dieser im Buch der Offenbarung das Ende der Welt bebildert, auf die die Versicherung einer neuen Herrschaft Gottes 8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer 293 559 Siehe auch Hattwig: „Wiecherts ‚Bericht‘ empfiehlt sich somit als Buch, das im Sinne eines Evangeliums Wort und Ideologie seines Autors zur Richtlinie allgemeinen Handelns erhebt und mit dem allumfassenden Anspruch, authentisch, umfassend und wahrhaftig zu berichten, verkündet: ‚Johannes sah alles, und er vergaß nichts.‘“ Ebd.,-131. folgt, tritt auch Wiecherts Johannes als Verkünder einer aus dem Leid im KZ erwachsenden „guten Botschaft“ auf. 559 „Gestählt und geläutert nun, unverwundbar gemacht durch das Drachenblut, aufge‐ rufen bei seinem Namen. […] Und da das Schicksal mehr mit ihm gewollt hatte, so hatte es ihn hierher geworfen, in den großen Tiegel der Qualen, und er würde nun zu zeigen haben, ob es ihm zum Segen geworden sei. Er wollte nichts missen davon. Er würde sich schon wieder aufrichten. Er würde nichts vergessen, aber er würde nun zusehen müssen, daß aus dem Unvergeßlichen mehr wüchse als nur die bittere Frucht des Hasses.“ (Ebd., 150 f.) Begleitet wiederum von Bescheidenheitsversicherungen und Selbstbefragungen entwirft Wiechert im Ausgang seines Textes eine Figur, die nicht nur das Lager vorbildhaft überwunden hat, sondern aufgrund des Erlebten auch in Zukunft als Vorbild anzuerkennen ist. Johannes anerkennt das Leiden als Bereicherung und als Quell eines Erkenntnisgewinns. Aus dem Leid muss etwas folgen und der befreite Märtyrer ist damit beauftragt, diesen konstruktiven Blick nach vorne zu entwerfen. In seinem unmittelbaren Rückblick erscheint das Leid als mythisches Drachenblut, dessen Bad den Märtyrer zum bis zur Unverwundbarkeit erstarkten Siegfried werden und darob umso heftiger als Instanz der Liebe und des Humanen streiten lässt. Wiecherts Erleuchtung ist die Perspektive nach vorne, das produktive Überwinden des Leids und die Beauf‐ tragung des Leidenden. Darin verweist das 1938 spielende Handlungsende über das Ende der Lager und des Nationalsozialismus hinaus auf die zeitgenössische Öffentlichkeit des Jahres 1946. Im Bild des Samenkorns ist der Märtyrer selbst die fruchtbare Saat, welche auf den kriegszerpflügten Feldern Deutschlands neue Blüten zu tragen und reiche Ernte einzubringen verspricht. In diesem agrarwirtschaftlichen Bild macht Wiechert den Märtyrer zum Instrument eines größeren Zusammenhangs: der Prosperität Deutschlands in der postfaschisti‐ schen Welt. Darin bietet sich Wiechert der deutschen Nachkriegsgesellschaft selbst als kulturelle Führungspersönlichkeit an, deren Leiden die Quelle einer Perspektive für die Zukunft des nationalen Wiederaufbaus waren. Der Märtyrer, der das Leid der Nation auf sich nahm und dieses als Quelle einer Perspektive für den nationalen Wiederaufbau überwand, ist Wiecherts Angebot an die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Diese Figur ist Strategie zum 294 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald Reinwaschen der Nation, die sich mit dem von deutschem Boden ausgehenden Weltkrieg und den KZ in den Augen der internationalen Öffentlichkeit delegi‐ timiert hatte. In ihr verbindet sich die NS-Opferschaft mit dem unversehrt gebliebenen Idealbild der Nation zur Hoffnung auf Überwindung der natio‐ nalsozialistischen Gewalt. Darin beglaubigt Der Totenwald die Existenz eines „anderen Deutschland“, das als Opfer in der postfaschistischen Gesellschaft zu berücksichtigen sei. 8.5 Fazit Nach dem Ende des Nationalsozialismus und seinem Jahre währenden Schweigen konnte Wiechert rasch an seine Erfolge der 1930er und 1940er Jahre anknüpfen. Ungebrochen waren seine Werke auch im „Dritten Reich“ gelesen worden und Äußerungen des „Dichters der Stille“ galten auch nach 1945 als gewichtige Weisungen. Zum einen repräsentierte Wiechert eine literarische Kontinuität, der in seinen Werken seit den 1920er Jahren wohl zeitaktuelle Stoffe verarbeitete, vor allem aber als Dichter des Innerlichen und Ausdeuter des allgemein Menschlichen wahrgenommen wurde. Zum anderen war Wiechert durch seine Gefangenschaft nach seinem Eintreten für Niemöller unzweifelhaft als Antifaschist und Vertreter eines „anderen“ Deutschland hervorgetreten. Als Streiter für das „Humane“, für dessen Anerkennung er selbst zum Opfer der Nationalsozialisten geworden war, repräsentierte Wiechert nach 1945 wie kaum ein anderer eine unbelastete, anknüpfungsfähige Kulturtradition. Der Verlag Kurt Desch bringt das Urteil im Vorwort zum Gedenkbuch anlässlich von Wiecherts 60.-Geburtstag auf den Punkt: „Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, daß dieser Johannes-Geist, den der Dichter als einsamer, aber durchaus nicht stummer, vielmehr innerhalb und außerhalb des großdeutsch überschatteten Machtbereiches wohl vernommener Zeuge für ‚das andere Deutschland‘ dem Ungeist der Gewaltinhaber entgegensetzte, nichts anderes ist als der Geist einer kämpferischen Humanität, der einzigen, die diesen Namen verdient, ob sie nun in der gesättigten Prosa Goethes oder in den dahingerissenen 8.5 Fazit 295 560 Bekenntnis zu Wiechert, 6. Zu diesem Schluss kommt auch die 1946 von Gunter Groll herausgegebene Lyrikanthologie De profundis. Diese tritt an, „die Situation des deutschen Geistes in den letzten zwölf Jahren“ zu beleuchten und Zeugnis abzulegen von „Existenz und Wesen des ‚anderen Deutschlands‘“. Wiechert leitet die Anthologie als vorbildhaften Orientierungsgeber ein: „Seit Kriegsende bedeutet sein Name, der eine geheime Parole des Widerstandes gewesen war, wieder eine repräsentative Position innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung um die Schicksalsfragen der deutschen Gegenwart.“ Gunter Groll (Hrsg.), De profundis. Deutsche Lyrik in dieser Zeit. München 1946, vorderer Schutzumschlag, 462; vgl. Adam, Traum, 126f. Strophen Hölderlins, im Dur der Neunten Symphonie oder im Moll der Dichtung Wiecherts verkündet wird.“ 560 Aus dieser Position wandte sich Wiechert in der Debatte um den intellektuellen Führungsanspruch in Deutschland als einer der Inneren Emigranten gegen den exilierten Schriftsteller. Die „Stimmen der großen Emigranten“, wie er in „Der reiche Mann und der arme Lazarus“ ausführt, böten der geschlagenen Nation keine Perspektive („Lazarus“, 633). Dagegen stilisierte sich der Schriftsteller in der Nachkriegszeit selbst als erwählter Seher Deutschlands. Der Totenwald ist dabei insofern zentral für diese breit angelegte Werbestrategie, weil in ihm die Bestimmung des Opfers als vom Schicksal erwählter Vertreter der Nation geleistet wird, der einzig in der Lage scheint, eine positive Bestimmung aus dem Leiden zu gewinnen und also eine Perspektive nach vorne aufzuzeigen. Diese Deutung des Opfers ist der Kern für Wiecherts Legitimationsstrategie nach Kriegsende, auf den er sich wiederholt zur Beglaubigung seiner Partizipa‐ tionsansprüche bezog. Hattwig wie auch Gołaszewski konstatieren, dass Der Totenwald mit seiner Setzung des leidenden Subjekts als Protagonist einen Angelpunkt in Wiecherts Werk darstelle: Dominierte zuvor eine vor allem auf die Innerlichkeit ausgerichtete Setzung des Individuums, wurde das gequälte Opfer zum Zentralmotiv in Wiecherts Œuvre seit Mitte der 1940er Jahre. Dazu Hattwig: „Hat Wiechert vor der Haft versucht, sein dichterisch-künstlerisches Charisma tradi‐ tioneller Färbung zu profilieren, so gesellt sich jetzt die Komponente des politisch 296 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 561 Hattwig, Dritte Reich, 116; Gołaszewski, Fallstudie, 345. Das leidende Ausharren, das Selbstbespiegeln und das Zurückziehen in die Innerlichkeit stellen laut Hattwig für Wiechert Akte widerständigen Handelns gegen die Lagerwelt und, weiter, gegen den Nationalsozialismus dar. Diese, mit Der Totenwald beginnende Setzung, begreife das Opfers als Verkörperung des Humanismus. „Der ‚Gemeinschaft der Leidenden‘ […], auf die sich Wiecherts Zukunftshoffnungen bauen, wird ein Märtyrerstatus zugesprochen, der angeblich frei von Weltanschauungen ist. Der Häftling als Märtyrer verkörpert die Idee einer Welt, die auf humanistisch-ethischem Gedankengut beruht. Sein Widerstand besteht in seinem Glauben an diese Menschheitsutopie. Dadurch wird das Leiden an und in der Realität zum Grundsatz erhoben.“ Aus diesem Grund gewinne er „selbst dem Lager noch eine positive Seite ab. Nur wer dort sich selbst treu bleibt, entspricht dem Bild des idealen Menschen.“ Hattwig, Dritte Reich, 125. 562 Krenzlin, „Arrangement“, 103. 563 Gołaszewski, Fallstudie, 345; siehe auch Gernot Böhme, „Es war ihm bestimmt, mit Martin Niemöller zu leiden“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (6.11.2008). Böhme grenzt diese Ethik gegen die „Ethik des Handelns“ der Widerständler ab, für die Verfolgten, Leidenden und Märtyrers dazu, die für seine weiteren Arbeiten ein dominantes Merkmal bleiben wird.“ 561 Insofern steht Der Totenwald im Zentrum von Wiecherts mit Insistenz vorge‐ tragenen Anstrengungen, sich als Führungspersönlichkeit für die Nachkriegs‐ gesellschaft ins Spiel zu bringen. In der in ihm vollzogenen Offenbarung der Märtyrer legt Wiechert die Opferperspektive dar, die er aus seiner Gefangen‐ schaft in Buchenwald schloss und welche er in etlichen Texten und Äußerungen als Legitimationsgrundlage für seine Forderungen nach geistiger Erneuerung im neuen Deutschland anführte. Für Krenzlin repräsentiert Der Totenwald in erster Linie Wiecherts Versuch, die Krise seines Nationenbegriffs zu bearbeiten, also Opfer einer Gewalt geworden zu sein, die im Namen Deutschlands und des deutschen Volkes verübt worden war: Es „zerbrach Wiecherts bis dahin intakter Vaterlandsbe‐ griff, als er mit ansehen musste, dass im Konzentrationslager Deutsche von Deutschen, also von ihren eigenen Landsleuten, misshandelt wurden.“ 562 Der Totenwald beantwortet und überwindet im Kern diese Krise. Das Bild der Nation bleibt aufgrund der Deutung des Nationalsozialismus als Manifestation eines metaphysischen Übels und als Vereinnahmung Deutschlands unbeschädigt. Gleichzeitig belegt die Offenbarung der Märtyrer, dass sie sie gerade in den Gewaltzentren dieser Herrschaft erhalten konnte. Dabei ist diese Positionierung innerhalb der nationalen Deutung nur die Voraussetzung für die Selbststilisie‐ rung des Dichters. Was Gołaszewski als „ausgeprägte Sinngebung des Leidens“ bestimmt, für die der Schmerz „fast eine heilende Funktion“ erhält, und was Böhme eine „Ethik des Leidens“ tituliert, „eine Ethik, in der das moralische Verhalten gerade darin bestehen kann, bewusst Leiden auf sich zu nehmen“, 563 ist 8.5 Fazit 297 das „Nicht-Handeln schuldhaft sein könnte“, ein Vorwurf, gegenüber dem Wiecherts Opferbezug und Leidensethik in Schutz zu nehmen seien. Gołaszewski wie Böhme identifizieren in dieser Setzung des Leidens in erster Linie eine Bewältigungsstrategie des Autors Wiecherts. 564 Zweifelsfrei stellte bereits das zeitgenössische Publikum die Identität der Johannesfigur mit seinem Autor fest und erkannte in Der Totenwald die biographische Schilderung von Wiecherts KZ-Gefangenschaft im Sommer 1938. Vgl. Schiefke, „Wiechert“, 292. Siehe dazu auch die Artikel in Der Ruf von Parlach [Erich Kuby], „Rede“ sowie von Heldwein, „Totenwald“, in dem es heißt: „Für ihn: wer ist das? Johannes also Wiechert.“ 565 Peitsch, Gedächtnis, 190 f. Dass Der Totenwald in der deutschen Presse überwiegend positive Reaktionen hervorrief, konstatiert auch Reiner. Reiner, Bibliographie-3, 62-64. Siehe auch Kap.-12.5. 566 Karl Zimmermann [? ], „Das war kein Traum. Zu dem Buch ‚Der Totenwald‘ von Ernst Wiechert“, Die Gegenwart 1/ 2, 3 (24.1.1946), 28. Auch Karl Bader führt Wiecherts Text in seinem Artikel über „Den kriminellen KZ-Insassen“ an als „Ernst Wiecherts mehr schweigend als wortreich anklagender ‚Totenwald‘“. Bader, „KZ.-Häftling“, 19. Strategie, mit den Mitteln der Literatur für den Märtyrer als Orientierungsgeber und Erzieher zu werben. Wiecherts programmatische Verwandlung seiner Buchenwalder Hafterlebnisse in die höheren Sphären der Kunst leistet so im Kern die Offenbarung des Leidenden als Inkarnation der Nation, Träger abendländischer Kulturtradition und schließlich als durch das Martyrium Aus‐ erwählter. Der Totenwald belegt die Eignung dieser in allen Aspekten aus der Bevölkerungsmasse herausstechenden Figur als Seher, der einzig in der Lage scheint, der Nation Perspektiven in Richtung einer postfaschistischen Gesellschaft aufzuzeigen. Dabei ist an keiner Stelle unklar, dass Wiechert seine Leiden zwar die Spiegelfigur Johannes durchleben lässt, aber er selbst als der Märtyrer firmiert, in dessen Biographie alle Deutungen und Perspektiven des Totenwaldes zusammenlaufen. 564 Die Reaktionen auf Der Totenwald griffen in erster Linie das apologetische Potential der Schrift auf und lasen Wiecherts Setzung des Opfers als Angebot, an seine Vorstellung von einem intakt gebliebenen Nationenbegriff anzuknüpfen. Wie Peitsch konstatiert, hoben zahlreiche deutsche Rezensionen insbesondere hervor, dass Der Totenwald aufgrund seines Anklageverzichts seine Wirkung entfalte. 565 So hob etwa Die Gegenwart besonders positiv hervor, dass bei Wiecherts Schilderung seines KZ-Erlebens „kein Haßgesang entstanden, erst recht keine Aufforderung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten“, sei. 566 Auf der anderen Seite wiesen einige der „Stimmen von außen“ Wiecherts KZ-Text mit der Begründung zurück, dieser arbeite an einer Verwässerung der Schuld‐ frage. Max Frisch und Erika Mann beschäftigen sich in Artikeln mit den Textzeugnissen Ernst Wiecherts und Werner Bergengruens in Bezug auf die Emigrationsdebatte. Die Frage, ob man Wiechert vor dem Hintergrund seiner 298 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald 567 Neue Schweizer Rundschau (8) 1946, z.n. Max Frisch, „Stimmen eines anderen Deutsch‐ land? Zu den Zeugnissen von Wiechert und Bergengruen“, in: Frisch, Max, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Band II.I 1944-1949, Frankfurt/ M. 1976, 297-311, hier: 297, 303-305. 568 Ebd., 304. 569 Ebd., 300. 570 Erika Mann, „Die ‚Innere Emigration‘“, in: Mann, Erika, Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen, Reinbek bei Hamburg 2000, 382-387, hier: 385. Das englische Typoskript wurde vermutlich im Oktober 1946, eventuell als Artikel für den Evening Standard, verfasst. Erstmalige Veröffentlichung, Übersetzung und Betitelung erfolgten im vorliegenden Band. Erika Mann, Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen, hrsg. Irmela von der Lühe, Uwe Naumann. Reinbek bei Hamburg 2000, 499. Opposition gegen und Gefangenschaft im Nationalsozialismus als Stimme eines „anderen Deutschland“ ernst nehmen könne, verneint Frisch in seinem 1946 in der Neuen Schweizer Rundschau erschienenen Beitrag „Stimmen eines anderen Deutschland? “. Zu diesem Schluss kommt er insbesondere mit Blick auf Der Totenwald, da dieser sich eben nicht mit der zeitaktuellen Wirklichkeit befasse, sondern erklärtermaßen antrete, die erlebte NS-Gewalt in die zeitlose Sphäre der Kunst zu überhöhen. 567 Frisch kritisiert insbesondere Wiecherts hymnische Sprache, „die sich auch dort, wo man die Dinge durchaus beim Namen nennen kann, im Ahnungshaften begnügt und berauscht“. Er wirft Wiechert vor, einen Ton anzuschlagen, der nur „einlullende Wehmütigkeit [sei], die nicht einmal Trauer, sondern nur Selbstgenuß der Trauer ist“, und mit Der Totenwald vollends „die Ausflucht in den Nebel, die Ausflucht ins Gemüthafte“ vorzunehmen. 568 Für besonders „gefährlich“ hält Frisch es schließlich, wenn Wiechert davon spricht, dass „sich das Menschengeschlecht - nicht der Deutsche, sondern das Men‐ schengeschlecht - schämen muß über Dinge, die in Buchenwalde geschehen sind“. 569 Erika Mann nimmt in ihrem unveröffentlichten Artikel Bezug auf Frisch und kommt zu einem ähnlichen Schluss. Wiechert, der „einst seine Stimme zur Verteidigung Martin Niemöllers erhob[en] und der einzige echte Märtyrer der ‚Inneren Emigration‘“ sei, biete eine verklärende Deutung des Vergangenen und problematisiert insbesondere seine Relativierung deutscher Schuld als in Schicksalsbegriffe aufgelöst: „Die Nazi-Tyrannei, ihre Begleiterscheinungen und ihre fürchterlichen Folgen, sie alle sind Teil der deutschen ‚Schicksalstragödie‘, in der ‚Schuld‘ nur eine sehr kleine, wenn überhaupt irgendeine Rolle spielt. […] Aber laut Wiechert ist es vor allem die Menschheit - nicht die Deutschen -, die sich angesichts von Buchenwald schämen sollte, auch wenn sich ‚so manche Völker der Gegenwart‘ als besonders entehrt ansehen müssen.“ 570 8.5 Fazit 299 571 Heldwein, „Totenwald“. 572 Borchert, „Kartoffelpuffer“, 268 f.; vgl. Heldwein, „Totenwald“. Die Emigrierte Mann wie der Schweizer Frisch erkennen in Wiecherts Buchen‐ waldtext in erster Linie die Rechtfertigung, welche von den konkreten Gewalt‐ erfahrungen während des Nationalsozialismus wegabstrahiere und deutsche Schuld und Verantwortlichkeit ins Unspezifische und Allgemein-Menschliche auflöse. Als weitere Partei äußerten sich die Stimmen der „Jungen Generation“, die Wiecherts Literatur als nicht zeitgemäß zurückwiesen. Siegfried Heldwein in Der Ruf wie auch Wolfgang Borchert bemängelten Wiecherts hohe Sprache, in der sie verbrämte Geschwätzigkeit vermuteten. Eine Sprache, die nur unzuläng‐ lich Wiecherts Unfähigkeit kaschieren könne, allgemeingültige Orientierungen aufzuzeigen. So kritisiert Heldwein bei allen christlichen Begriffen in Wiecherts Text das Fehlen der Gewissheit göttlicher Allmacht, die auch das Leid in einen positiven Sinnzusammenhang zu stellen vermag: „Dann schaute ich zum Fenster hinaus. Ich sah, wie der Gewitterwind Steine von den Ruinen riß und sah schwarze Wolken am Himmel, die sich über die ausgebrannte Kirche hinschoben. Mir war, als sei etwas, das den Namen Grauen trägt, dagewesen; da, neben mir. Oder in mir? ‚Gott hatte sie verlassen und war gestorben.‘ […] Ich dachte nach. Wie heiß solche Erinnerungen in der Brust sein können. ‚Du warst bei mir, mein Gott. Immerzu. Auch in der Stunde, die die letzte sein sollte. Alles Grauen war wie ein Vorhang vor Dir. Aber zuinnerst wußte ich: Du bist; ich leide auf Dich zu: Ich verzweifle, aber zu Dir hin.‘ Das steht nicht im Buche Wiecherts.“ 571 Das vermeintliche Fehlen einer Perspektive, die aus der Haft hinaus in den Verhältnissen nach der Befreiung produktiv zu machen sei, fiel auch Wolfgang Borchert auf: „Mit müder, kraftloser Melancholie tönt seine weltschmerzliche Klage aus dem Totenwald bei Weimar und wenn man am Ende der Wiechert-Johannis-Passion [sic! ] angelangt ist, legt man das Buch etwas enttäuscht aus der Hand. […] Eigentlich hätte man von Wiechert mehr erwartet - oder hat die Mühle des tausendjährigen Reiches ihre Opfer so unbarmherzig zermahlen, daß dieser Vorwurf ungerecht ist? “ 572 300 8 Ernst Wiechert: Der Totenwald Missverstanden und als Nestor der „Jugend“ verlacht, rieb sich Wiechert in den Debatten der Nachkriegszeit zunehmend auf und flüchtete schließlich in die Emigration. Der selbsternannte Märtyrer Wiechert starb am 24. August 1950 zurückgezogen in der Einsamkeit der Schweizer Berge, zutiefst enttäuscht von den Entwicklungen in Nachkriegsdeutschland. Auch wenn Wiecherts Einfluss als öffentliche Persönlichkeit mit Einfluss auf das kulturelle Geschehen zusehends schwand, an der Bedeutung des Autors als moralische Instanz änderte diese Entwicklung beileibe nichts. Unbestritten galt Wiechert als Widerstands‐ kämpfer und als Stimme des „anderen“ Deutschland. Dabei wurde Der Totenwald bis weit über Wiecherts Tod hinaus als nationalistisches Dokument verstanden, was der Klappentext einer Ausgabe aus den 1980er Jahren im Ullstein-Verlag illustriert: „Dieser Bericht des Dichters erfüllt eine große Aufgabe, weil er aufzeigt, wie ein unpolitischer, der Humanität tief verpflichteter Deutscher an dem, was aus unserer Vergangenheit noch auf uns lastet, nicht schuld sein kann.“ (Totenwald, hinterer Umschlag) 8.5 Fazit 301 573 Jose Sánchez de Murillo, Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt/ M., 2011, 9. 574 Welt im Bild 13/ 1952 (23.9.1952) [Film], BRD: Allianz-Film GmbH, Internet: Das Bun‐ desarchiv, Bestand Film: https: / / www.filmothek.bundesarchiv.de/ video/ 583076, zuletzt geprüft am: 9.7.2021. 575 „Richters Richtfest“, Der Spiegel 43 (1962), 91-106, hier: 94; vgl. Michael Kleeberg, „Luise Rinsers Vergesslichkeit. Wie sich die prominente Nachkriegsautorin zur Widerständ‐ lerin stilisierte“, Der Spiegel 2 (2011), 100-106, hier: -101. 576 Wolfgang Saxon, „Luise Rinser Is Dead at 90; Wrote on Horrors of Nazism“, The New York Times (24.3.2002); Carola Wiemers, „‚In die Nesseln setzen‘ als Lebensma‐ 9 Die Wandlung der faszinierten NS-Anhängerin zur Stimme eines neuen Menschenbildes. Luise Rinser: Gefängnistagebuch 9.1 Biographische Hinführung Während mit Ernst Wiechert ein außergewöhnlich prominenter Autor eine Schrift über seine Gefangenschaft publizierte, legte mit Luise Rinser im selben Jahr 1946 eine Newcomerin der deutschsprachigen Literaturszene eine Ver‐ schriftlichung ihrer Hafterlebnisse vor. Ihr Gefängnistagebuch steht ganz am Anfang einer äußerst erfolgreichen literarischen Karriere in der Bundesrepu‐ blik. In der deutschen Nachkriegsliteratur zählte Luise Rinser zu einer der bedeut‐ samsten Schriftstellerinnen, deren Romane und Erzählungen sich insgesamt mehr als 5 Millionen Mal verkauften und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Mit Mitte des Lebens von 1950 erzielte sie ihren literarischen Durch‐ bruch in der jungen Bundesrepublik. 573 Anlässlich der „Woche des Buches“ 1952 berichtete die Wochenschau Welt im Bild über Rinser als: „Eine meisterhafte Erzählerin. Eine Dichterin voll fraulichen Wissens und Künderin tiefer Lebens‐ geheimnisse“. 574 Von da an wurden die Veröffentlichungen ihrer belletristischen, autobiographischen wie Reportagetexte stets begleitet von einem großen Me‐ dienecho in beiden Teilen Deutschlands. Dabei wurde Rinser literarisch zumin‐ dest in den 1940er Jahren zuweilen in Frage gestellt und als pathosliebende „Erbauungsschriftstellerin“ oder Autorin von Kitschromanen despektiert. So geschehen, als sie beim Treffen der Gruppe 47 1949 vortrug und durchfiel. 575 Auf der anderen Seite galt die Schriftstellerin als moralische Instanz, die etwa mit der Erzählung Jan Lobel aus Warschau 1948 bereits sehr früh den Holocaust thema‐ tisiert und in der Figur des Flüchtlings Jan Lobel literarisch verarbeitet hatte. 576 Bis zu ihrem Tod verfasste die Schriftstellerin 14 Romane, mehrere Erzählbände, xime“, Internet: https: / / www.deutschlandfunk.de/ in-die-nesseln-setzen-als-lebensma‐ xime-100.html, zuletzt geprüft am: 31.8.2022. 577 Sánchez de Murillo, Rinser, 9. 578 Jan-Pieter Barbian, „Luise Rinser“, Internet: Informationsmittel (IFB): digitales Rezensi‐ onsorgan für Bibliothek und Wissenschaft - Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Würt‐ temberg, http: / / ifb.bsz-bw.de/ bsz335721923rez-1.pdf, zuletzt geprüft am: 13.7.2021. 579 „Luise Rinser“, Der Spiegel 21 (1984), Internet: https: / / www.spiegel.de/ po‐ litik/ luise-rinser-a-be81e3b1-0002-0001-0000-000013509367, zuletzt geprüft am: 17.5.2021. Kinder- und Jugendbücher, Reiseberichte und Tagebücher, schrieb zahlreiche Artikel und Kolumnen. Ihr Œuvre wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, etwa dem „Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis“ der Stadt Alzey oder dem „Heinrich-Mann-Preis“ der Akademie der Künste der DDR. Einem breiten Publikum bekannt war Rinser indessen nicht nur aufgrund ihrer Schriften: Regelmäßig äußerte sie sich zu Politik und Zeitgeschehen, positionierte sich in den aktuellen Debatten und polemisierte öffentlichkeits‐ wirksam gegen ihre Kontrahent: innen. Sie trat international als Friedensstifterin auf, engagierte sich für die Gleichstellung von Frauen, die Rechte von Tieren und Vegetarismus. 1972 unterstützte sie Willy Brandts Wahlkampf aufgrund seiner für sie vorbildhaften Ostpolitik. Rinser protestierte gegen Atomkraft, demonstrierte 1986 zusammen mit Heinrich Böll, Günter Grass und anderen Künstler: innen und Intellektuellen gegen die Stationierung der Pershing-II-Ra‐ keten in der BRD gemäß dem NATO-Doppelbeschluss. 577 Seit einem Jahr Mitglied der Partei, kandidierte sie 1984 für Die Grünen und gegen Richard von Weizsäcker für das Amt der Bundespräsidentin. Über ihre zahlreichen Auslandsreisen verfasste sie nicht nur einige zum Teil sehr erfolgreiche Reise‐ berichte (etwa Nordkoreanisches Reisetagebuch (1981)), ihre Treffen mit dem nordkoreanischen Staatsführer Kim Il Sung 1980 oder dem Dalai Lama 1994 wurden darüber hinaus breit und zum Teil kontrovers in den Medien der BRD besprochen. Rinser polarisierte und erntete scharfe Kritik, etwa, da sie sich klar als Verfechterin der kommunistischen Herrschaft Il-Sungs positionierte. Auch wurden Rinser seit den 1970er Jahren wiederholt Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus vorgeworfen: Verschiedene Zeitschriften führten insbesondere ein Lobgedicht auf Adolf Hitler aus dem Jahr 1935 an, um Rinser in den zeitaktuellen Debatten als „Nazi-Dichterin“ zu diskreditieren: 1972, anlässlich ihres vermeintlichen „Sympathisierens“ mit Mitgliedern der Rote Armee Fraktion, trugen sowohl Die Welt als auch die Illustrierte Quick diese Vorwürfe an Rinser heran, um sie als öffentliche Figur zu diskreditieren. 578 Zwölf Jahre später wiederholte der Spiegel die Anwürfe, als Rinser für das Amt der Bundespräsidentin kandidierte. 579 1988 konfrontierte der Historiker 304 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 580 Elke Frederiksen, „Luise Rinser: Im Dialog mit der Vergangenheit? Zur Schwierigkeit der ‚Vergangenheitsbewältigung‘“, in: Ibsch, Elrud; van Ingen, Ferdinand, Literatur und politische Aktualität, Amsterdam 1993 (Amsterdamer Beiträger zur neueren Ger‐ manistik, 26), 225-238, hier: -231. 581 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 102. Später bezeichnete Rinser das Gedicht auch als Satire. Sarkowicz, Mentzer, Literatur, 337. 582 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 101. 583 Anja Hirsch, „Zum 100. Geburtstag Luise Rinsers. Ein Phänomen“, Frankfurter Rund‐ schau (29.4.2011). 584 Sánchez de Murillo, Rinser, 9. 585 Hirsch, „100. Geburtstag“; Elisabeth Hurth, „Vorbild oder Ärgernis? Luise Rinser in den Ambivalenzen ihres Lebens“, Herder Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft Bernd Sösemann in der Fernsehsendung „Schreiben unterm Hakenkreuz“ die Schriftstellerin mit ihrem Gedicht. 580 Wenn Rinser überhaupt auf die Vorwürfe einging, dementierte sie die Autorinnenschaft mit Nachdruck. 581 An ihrer Stellung als mitunter kontroverse, doch fraglos moralische Größe der Bundesrepublik änderten diese Stimmen kaum etwas. Zeitlebens galt Rinser als rigorose Antifaschistin, die, 1944 aufgrund hochverräterischer Aussagen gegen das Regime denunziert, Opfer des Nationalsozialismus geworden war und sich seit Kriegsende mit Vehemenz für Demokratie, Freiheit und Völkerverstän‐ digung einsetzte. Maßgeblich für dieses Engagement war Rinser mit mehreren Ehrendoktorwürden ausgezeichnet worden (Accademia Tiberina, Rom (1985), Universität Pjöngjang (1986)), 1977 erhielt sie das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der BRD. Unbestritten, so Kleeberg, war Rinser „eine morali‐ sche Autorität“, die vielen „als linkes Gewissen der Nation“ galt. 582 Eine „Iden‐ tifikationsfigur“ für „Generationen junger Frauen“ sei sie gewesen, schreibt Hirsch in der Frankfurter Rundschau.  583 Rinser-Biograph Sánchez de Murillo schließlich spricht von Rinser als „Integrationsfigur“, die die Grundwerte des westdeutschen Nachkriegsstaates in sich vereinte: „Über ein halbes Jahrhundert spielte die Schriftstellerin Luise Rinser als Integrati‐ onsfigur und moralische Instanz eine wichtige Rolle in der deutschen Gesellschaft. Weit über die nationalen Grenzen hinaus wurden ihre literarische Begabung, ihre demokratische Gesinnung und ihre menschliche Ausstrahlung anerkannt.“ 584 Erst 2011, anlässlich von Rinsers 100. Geburtstages, kam es zu einer kritischeren, posthumen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der 2002 verstorbenen Schriftstellerin. Mehrere Artikel beleuchteten insbesondere Rinsers Biographie während des Nationalsozialismus und wiesen auf zahlreiche Widersprüche in den Selbstauskünften hin, die die Autorin über ihr Leben während der NS-Herrschaft gegeben hatte. 585 Ausgangspunkt dieser neuen Beschäftigung 9.1 Biographische Hinführung 305 und Religion 5 (2011), 250-255; Kleeberg, „Vergeßlichkeit“; Florian Stark, „Luise Rinser fälschte ihre Lebensgeschichte“, Die Welt (13.4.2011). 586 Vgl. Sánchez de Murillo, Rinser, 9f. 587 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 103. 588 Ebd., 101; Peitsch, Gedächtnis, 470. 589 Sánchez de Murillo, Rinser, 96 f., 102, 126. 590 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 101; Sánchez de Murillo, Rinser, 105f. mit der Autorin war die von Sánchez de Murillo vorgelegte Biographie Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen, in der dieser erstmals Briefe und amtliche Dokumente auswertete, die ein ambivalentes Lebensbild zeichnen. Der Biograph konnte zeigen, dass Rinsers Engagement in NS-Organisationen zum einen weiter reichten als zuvor vermutet, und zum anderen, dass die Autorin ihre Biographie an entscheidenden Stellen umgeschrieben hatte, um ihre Stellung im NS-Staat zu verschleiern. Demnach war Rinsers Status einer engagierten Antifaschistin, die aufgrund ihrer systemkritischen Haltung am Ende sogar inhaftiert wurde, eine nachträgliche Inszenierung. 586 Tatsächlich trat Rinser in den frühen 1930er Jahren laut Kleeberg als „be‐ geisterte Jungnationalsozialistin“ in Erscheinung, 587 die seitens der NS-Organe als zu fördernde Wegbereiterin der neuen Herrschaft betrachtet wurde. Nach ihrem Studium der Pädagogik und Psychologie arbeitete die Tochter eines Volks‐ schullehrers zunächst ebenfalls als Lehrerin. 588 In seiner Biographie zeichnet Sánchez de Murillo das Bild einer jungen Frau, die den Machtwechsel 1933 als Chance erlebte und geschickt die neuen politischen Gegebenheiten nutzte, um sich Vorteile zu verschaffen und ihre Karriere voranzutreiben. So denun‐ zierte Rinser noch als Aushilfslehrerin ihren damaligen jüdischen Schulleiter in Wessobrunn, der daraufhin aus dem Schuldienst ausscheiden musste. Sie suchte die Nähe zu den neuen Machthabern, übernahm noch 1933 die Leitung für den Bau eines Projektlagers des Freiwilligen Arbeitsdienstes und leistete politische Aufklärungsarbeit für die NSDAP in München und Umgebung. 589 Rinser wurde Gruppenleiterin eines BDM-Lagers, eine Aufgabe, bei der sie so‐ wohl für die Organisation des Tagesablaufs, der Gemeinschaftsaktivitäten, aber auch der politischen Ausbildung der dort geschulten angehenden Lehrerinnen verantwortlich war. 590 Über diese letzte Tätigkeit und die dort verrichtete natio‐ nalsozialistische Schulungsarbeit publizierte sie 1935 in Herdfeuer. Zeitschrift der deutschen Hausbücherei einen emphatischen Bericht. Dieser Artikel sowie das bereits angesprochene Gedicht sollen in der Folge kursorisch besprochen werden, da Rinser darin wichtige Aspekte ihres Verständnisses von Kulturarbeit und ihrer eigenen Rolle als Schriftstellerin innerhalb und für die politische Herrschaft formulierte. 306 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 591 Luise Rinser, „Aus einem oberbayrischen B.d.M.-Führerlager“, Herdfeuer. Zeitschrift der deutschen Hausbücherei 9/ 2 (1934), 127-131, hier: -127. 592 Ebd., 131, Herv. im Orig. 593 Sämtliche Zitate aus dem Gedicht verweisen auf Luise Rinser, „Junge Generation“, Herdfeuer. Zeitschrift der deutschen Hausbücherei 10/ 1 (1934), 436. Exkurs: Rinsers Schriften der 1930er Jahre In ihrem Bericht über die BDM-Schulung feiert Rinser die Disziplin im Lager als notwendige Maßnahme zur Erschaffung einer nationalsozialistischen Elite, welche erst durch die vollständige Durchdringung der deutschen Bevölkerung vom Faschismus ermöglicht werde: „Führerschulung tut sehr not. Dieser bren‐ nenden Erkenntnis entstammte der Plan zu unserm Führerlager.“ 591 Unmittelbar hatten sich die Aspirantinnen dieser Elite mit der Aufgabe konfrontiert gesehen, die zuweilen skeptische Bevölkerung der umliegenden oberbayerischen Dörfer durch politische Abende wie folkloristische Aufführungen für die neue Herr‐ schaft zu begeistern. Der Bericht gibt der Vorstellung Ausdruck, als Führungs- und spätere Erziehungsfiguren der NS-Herrschaft die Menschen vom Natio‐ nalsozialismus zu überzeugen und sie auch angesichts anfänglicher Zweifel für diesen gewinnen zu können. Darin äußert sich eine künftige Elite dieser Herrschaft, die selbst fraglos in den Maximen faschistischer Ideologie aufgeht: Rinsers Bericht gipfelt in der Aussicht auf die Qualitäten dieser weiblichen na‐ tionalsozialistischen Elite: Diese müsse „gesund“ sein, „leistungsfähig, sportlich durchtrainiert, mutig, offen, frei, natürlich in jeder Bewegung ihres Körpers, ihres Herzens und Geistes, frei von aller Überkultur und Überproblematik, aber aufgeschlossen allem Lebendigen, auch allem Hilfebedürftigen, aufgeschlossen - je nach ihrer inneren Höhenlage - gebend oder nehmend, aller kulturellen Schöpfung.“ Als „obersten Programmpunkt“ formuliert Rinser die biopolitische Aufgabe der Frau im Nationalsozialismus: die „Züchtung gesunder Menschen“. 592 In der gleichen Zeitschrift Herdfeuer erschienen bis 1937 mehrere Texte Rinsers, Gedichte und Erzählungen im Stil der erwünschten und offiziell geför‐ derten „Blut-und-Boden-Dichtung“, darunter auch das Jahrzehnte später in der BRD wiederholt angesprochene Gedicht „Junge Generation“. Das Gedicht gibt der Vorstellung Ausdruck, Teil eines sich Bahn brechenden Aufbruchs zu sein. Es feiert die Herrschaft der Nationalsozialisten als ursprüngliche Kraft, die als sich mit Leben füllender Geist entschlossen zur Tat schreitet. Darin nimmt Rinser den Standpunkt einer Jugend ein, die als „des großen Führers gezeichnet Verschworene“ die Avantgarde dieser Herrschaft ist. 593 Rinsers Verbildlichung dieser verschworenen Jugend schildert eine wachsame Gemeinschaft, die sich scharf abgrenzt von der schlafenden Saturiertheit der „guten Bürger“, die „In den weichen Dunstnestern des Tales […] liegen/ Eng sich wärmend und 9.1 Biographische Hinführung 307 satt, […] schnarchend vom ewigen Frieden [träumen],/ Den ihnen ein sanfter verbindlicher Bürgergott schenkt.“ Rinsers Aufbruchsbild ist unmittelbar integriert in ein Kriegsszenario: Das Gedicht huldigt der Jugend als Seismograph für die Gefahren, die der Nation - fraglos von außen - drohen: „Kühl, hart und wissend ist dies wache Geschlecht“, wissend um die Kriegsvorbereitungen, die außerhalb der Grenzen getätigt werden. „Von den Grenzen des Lands hören wir nächtens Fieberndes Wühlen dumpf und böse in der Erde. In den Fabriken schlagen die Hämmer, schmieden Eisen hart und kalt zu nackter Todeswaffe. Gefährlich riecht es um Mitternacht aus Feindland, Geheim brauen giftig schwelende gelbe Mordgase. Um die Ecken der Städte schleicht grinsend der Tod. Unter uns schüttert der Boden vom Bohren schlafloser Wühler.“ Angesichts dieser Bedrohung bietet Rinser sich und die Jugend als einzuspan‐ nendes Material im sich anbahnenden Konflikt an: „Todtreu verschworene Wächter heiliger Erde, Des großen Führers verschwiegene Gesandte, Mit seinem flammenden Zeichen auf unserer Stirn, Wir jungen Deutschen, wir wachen, siegen oder sterben, Denn wir sind treu! “ Rinsers Begrüßung des Faschismus und die simultane Integration in das Kriegsszenario haben keinerlei politische Kategorie: Von Ursache und Zielset‐ zung kriegerischer Konflikte abstrahiert Rinser auf den Krieg als sich Bahn brechenden Ausdruck des Lebens selbst. Im Kriegerischen verabsolutiert sich schließlich diese Lebenskraft, in der sich die Jugend wiederfindet: „Nüchtern, und heiliger Trunkenheit voll, Tod oder Leben, ein Rausch, gilt uns gleich-- Wir sind Deutschlands brennendes Blut! “ Rinsers BDM-Lagerschrift fokussiert auf die Unterordnung des Subjekts unter die Disziplin und Ordnung der neuen Herrschaft. In ihrer Einordnung in die Vorstellung einer „Volksgemeinschaft“, institutionalisiert in einer der national‐ sozialistischen Jugendorganisationen, geht das Subjekt auf, das sich als Reprä‐ sentations- und Führungsfigur dieser Herrschaft präsentiert. Die literarische Überhöhung dieser Herrschaft als Lebensmodus im Gedicht gibt Auskunft 308 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 594 Sánchez de Murillo, Rinser, 82, vgl. 146 f.; Peitsch, Gedächtnis, 470. 595 Sánchez de Murillo, Rinser, 178. 596 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 103. 597 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 103; Sánchez de Murillo, Rinser, 160, 178ff. 598 Ebd., 162-165. 599 Sarkowicz, Mentzer, Literatur, 337 f.; vgl. Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 103; Sánchez de Murillo, Rinser, 197. über Rinsers individuelle Faszination am Faschismus. Ihre lebensphilosophische Huldigung begrüßt diesen als das deutsche Blut entzündende Flamme, welche eine reine Lebenskraft entfacht und als „Rausch“ in der Harmonisierung des Gegensatzpaars nüchterner Trunkenheit vollumfänglich erfahrbar macht. In diesem Rausch fallen Subjekt, Nation und das Drängen puren Lebens in eins. Völlig abseits aller politischen Inhalte präsentiert sich in seiner Dichterin eine vom Nationalsozialismus begeisterte Figur, deren Texte dieser Faszination seiner ungezügelten Lebenskraft Ausdruck verleihen. * 1939 quittierte Rinser den Schuldienst, um zu heiraten (Lehrerinnen durften in der Zeit der NS-Herrschaft nicht verheiratet sein), und widmete sich von nun an ganz der Arbeit als Schriftstellerin und Publizistin. 594 Sie verfasste Kinderbücher für den Atlantis-Verlag und arbeitete im Feuilleton der Kölnischen Zeitung. 595 Dort erschienen von 1939 bis Kriegsende Rezensionen und Berichte, aber auch Erzählungen und Romanvorabdrucke. 596 Zudem arbeitete sie eng mit dem Propagandaministerium zusammen und erarbeitete 1942 für die UFA das Drehbuch für den - letztlich nicht realisierten - Auslandspropagandafilm Schule der Mädchen über den weiblichen „Reichsarbeitsdienst“. 597 Ihren ersten literarischen Durchbruch legte Rinser 1941 mit der Erzählung Die gläsernen Ringe im renommierten S. Fischer Verlag vor, die die Autorin quasi über Nacht bekannt machte: Noch im Erscheinungsjahr erschien der Text in zweiter Auflage mit insgesamt 10.000 Exemplaren. 598 Wiederaufgelegt bei Suhrkamp wird die Adoleszenz-Erzählung und Sinnstiftung der Unterordnung bis heute publiziert. Rinsers Eloge auf den „Führer“ sowie ihr tatkräftiges Engagement für und in NS-Organisationen trugen dazu bei, dass die Publikationen der jungen Autorin über die gesamte Dauer der nationalsozialistischen Herrschaft von der „Reichsschrifttumskammer“ wohlwollend unterstützt wurden. Rinser erhielt Auftragsangebote und Papierzuteilungen, bis die kriegsbedingte Lage die wei‐ tere Versorgung verunmöglichte. 599 In ihrer Tätigkeit für den BDM war Rinser Teil der politischen Schulung angehender Lehrerinnen, leitete also die Ausbil‐ dung derer, die daraufhin die (staatlich akzeptierte und geforderte) Erziehung in 9.1 Biographische Hinführung 309 600 Peitsch, Gedächtnis, 191; Sánchez de Murillo, Rinser, 198f. 601 Ebd., 199. 602 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 104; Sánchez de Murillo, Rinser, 202. den Schulen besorgen sollten. Für die UFA war sie direkt propagandistisch tätig und wirkte mit an dem Bild, das der NS-Staat von sich selbst nach innen wie außen zeigen wollte. Für diese Bereitschaft wurde Rinser bis weit in den Krieg tatkräftig gefördert. Obgleich nicht mit höheren Ämtern bekleidet, gehörte Rinser zu den nationalsozialistischen Kadern, der die Staatsführung bis zuletzt Vertrauen entgegenbrachte. Inhaftiert wurde Rinser schließlich am 12. Oktober 1944 aufgrund einer Denunziation ihrer Nachbarin Lisl Grünfelder: Verängstigt ob der sich ver‐ schlechternden Kriegssituation und des Näherrückens der Front fragte Frau Grünfelder ihre ehemalige Schulfreundin Rinser um Rat. Diese sprach ihr zu, sich gemeinsam mit ihrem Ehemann abzusetzen und unterzutauchen, da der Krieg vermeintlich ohnehin bald verloren sei. Dies teilte Grünfelder ihrem Gatten per Brief mit, der als Wehrmachtsoffizier in Ostpreußen stationiert war und der Rinser daraufhin denunzierte. Dies wohl auch aus Angst vor einer Postkontrolle und Repressalien gegen sich selbst bei Verschweigen der als defätistisch geltenden Äußerung. 600 Von zwei Dorfpolizisten verhört und mit der Begründung des Verdachts auf „Wehrkraftzersetzung“ wurde Rinser ins Ge‐ fängnis Traunstein verbracht. 601 Zwei Monate später, am 21. Dezember, wurde die Angeklagte auf Hafturlaub über Weihnachten entlassen. Nach dem Ende dieses Interims kehrte Rinser aber weder ins Gefängnis zurück, noch wurde ein neuer Haftbefehl ausgestellt. 602 Dennoch wurde die Autorin erneut juristisch belangt: Ende März 1945 erfolgte der Versand eines Anklageschreibens, ihre Prozessunterlagen gingen nach Berlin, wo ihr nun ein Verfahren vor dem „Volksgerichtshof “ drohte. Zwar war es Rinser möglich, eine Gegenüberstellung mit Lisl Grünfelder beim „Reichssicherheitshauptamt“ zu erwirken, doch die Schulfreundin blieb bei der Denunziation. Derart bedroht, wandte sich die Angeklagte direkt nach Berlin und an die NS-Führung. Karl Ritter war leitender Produzent bei der UFA, vor allem bekannt als Herstellungsleiter des Propagandafilms Hitlerjunge Quex, und langjähriges NSDAP-Mitglied mit Kontakten bis in die Führungsriege des Regimes. Rinser und Ritter kannten sich über die gemeinsame Arbeit an dem UFA-Filmprojekt, für welches Rinser das Drehbuch beisteuerte und bei dem Ritter Regie führen sollte. Ritter wandte sich auf Rinsers Bitte hin an Goebbels, die Anklage gegen die Schriftstellerin fallen zu lassen. Sánchez de Murillo vermutet weiterhin, dass das Anliegen auch an Hitler weitergeleitet wurde, dem Rinser über ihre 310 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 603 Ebd., 204 ff.; vgl. Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 104. 604 Sánchez de Murillo, Rinser, 202, 207. 605 Ebd., 207. 606 Ebd., 206. 607 Hermann Hesse, „Brief nach Deutschland“, in: Hesse, Hermann, Krieg und Frieden. Betrachtungen zu Krieg und Politik seit dem Jahr 1914, Zürich 1946, 253-266, hier: 258, Herv. im Orig. Mitarbeit bei der UFA ebenfalls bekannt gewesen sei. 603 Ob durch persönliche Intervention einer NS-Elite, den Verlust von Aktenmaterial auf dem Weg von Berlin nach Bayern oder schlicht durch Nichtbearbeitung aufgrund des sich zuspitzenden Kriegsverlaufs: Zu einem Prozess oder Urteil gegen Rinser kam es nicht mehr. 604 Doch unmittelbar nach der Befreiung, im Sommer 1945, lässt sich Rinser ihre Inhaftierung sowie „ein Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung“ amtlich bestätigen. 605 In der Nachkriegszeit gehörte Rinser als Opfer des Nationalsozialismus und zudem ehemalige „politische Gefangene“ zu den moralisch fraglos Unbelasteten. Juristisch bestätigte dies ihr Spruchkammerverfahren, das sie am 23. April 1947 als „unbefangen“ eingestufte. 606 Doch auch aus dem Ausland gab es prominente Fürsprecher, die Rinsers öffentliches Renommee stärkten. In einem offenen Brief an die Autorin spricht der in der Schweiz lebende Schriftsteller Hermann Hesse von einer langjährigen Bedrohung Rinsers durch die Nationalsozialisten, gründend in der rigorosen antifaschistischen Arbeit der Autorin. „Tag für Tag“, so klagt der im Tessin Lebende in dem „Brief an eine junge Deutsche“, erreiche ihn eine „kleine Sintflut“ an Klagen und Heucheleien verschiedener Deutscher, die sich nach Kriegsende mit Beteuerungen ihrer Unschuld und Nichtbeteiligung an ihn wandten: „Jetzt erzählen sie ausführlich, daß sie in all diesen Jahren stets mit einem Fuß im Konzentrationslager gewesen seien, und ich muß ihnen antworten, daß ich nur jene Hitlergegner ganz ernst nehmen könne, die mit beiden Füßen in jenen Lagern waren, nicht mit dem einen im Lager, mit dem anderen in der Partei.“ 607 Auch für Hesse gilt der Fakt einer sich in der Inhaftierung manifestierenden Opferschaft als gültiger Beleg der Opposition zum NS-Regime. Rinser, die mit Hesse seit einigen Jahren eine Briefkorrespondenz pflegte, hatte diesem von Repressionen berichtet, aus denen Hesse einen auch moralischen Status ableitet: „So sind also auch Sie […] lange Zeit bewacht, bespitzelt, in die Kerker der Gestapo gesteckt, ja sogar zum Tode verurteilt worden! Ich bin beim Lesen tief erschrocken, […]. Denn ich hatte mir Sie niemals mit dem einen Fuß im Gefängnis oder Lager, mit dem andern aber in der Partei vorgestellt, sondern habe nie daran gezweifelt, dass 9.1 Biographische Hinführung 311 608 Ebd., 262. 609 Ebd., 265f. 610 Vgl. Peitsch, Gedächtnis, 194. 611 Sánchez de Murillo, Rinser, 225f. 612 Ebd., 225 f., 240. Sie tapfer und wach, wie es Ihren hellen Augen und Ihrer Klugheit zukommt, auf der richtigen Seite standen. Und da waren Sie freilich in schwerster Gefahr.“ 608 Darüber hinaus aber sieht Hesse in Rinser eines der wenigen Zeichen für das Überdauern der Partikularität einer deutschen Kulturtradition, die sich gegen den Nationalsozialismus gewehrt und diesen überdauert habe: „Zu den guten Dingen, für deren Aufnahme und Genuß ich noch Organe habe, die mir noch Freude machen und das Dunkle übertönen können, gehören die seltenen, aber eben doch vorhandenen Zeichen für das Weiterleben eines echten geistigen Deutschland, die ich nicht in der Betriebsamkeit der jetzigen Kulturmacher und Kon‐ junkturdemokraten Ihres Landes suche und finde, sondern in solchen beglückenden Äußerungen der Entschlossenheit, Wachheit und Tapferkeit, der illusionslosen Zu‐ versicht und Bereitschaft, wie Ihr Brief eine ist. Dafür sage ich Ihnen meinen Dank. Hütet den Keim, bleibt dem Licht und Geiste treu. Ihr seid sehr Wenige, aber vielleicht das Salz der Erde.“ 609 Hesses Brief erschien zunächst am 26. April 1946 in der Basler National-Zeitung, als „Offener Brief “ folgten zahlreiche Nachdrucke in deutschsprachigen Zei‐ tungen. Als „Brief nach Deutschland“ wurde dieser Teil seiner Korrespondenz mit Rinser weiterhin in Hesses Krieg und Frieden. Betrachtungen zu Krieg und Politik seit dem Jahr 1914 (1946) abgedruckt. 610 Derart von den Behörden und Instanzen der Kultur juristisch wie moralisch beglaubigt, konnte sich Rinser nach 1945 rasch wieder als Publizistin und Schriftstellerin etablieren: Sie erhielt Angebote, für den Bayerischen Rundfunk oder im „Sonderministerium für Entnazifizierungsfragen“ zu arbeiten, nahm aber schließlich eine Stelle in der unter amerikanischer Lizenz erscheinenden Neuen Zeitung unter Feuilletonchef Erich Kästner an. Abermals hielt sie poli‐ tische Vorträge, diesmal im Zuge des Re-education-Programms der amerikani‐ schen Besatzungsmacht, u. a. vor gefangenen SS-Männern. 611 Zur Stärkung der Interessen ehemaliger NS-Häftlinge wurde sie Mitglied in der VVN, gründete die „Lessing-Gesellschaft zur Förderung der Toleranz“ und engagierte sich in der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“. 612 Von nun an trat Rinser öffentlich an für Demokratie und die Freiheitsrechte aller Menschen. 312 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 613 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 102; Sánchez de Murillo, Rinser, vgl. 10. 614 Hirsch, „100.-Geburtstag“. 615 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 105. 616 Sánchez de Murillo, Rinser, 422. Einhellig kommen die aktuellen biographischen Untersuchungen zu dem Schluss, dass Rinser in der Nachkriegszeit aktiv daran arbeitete, ihre Biographie während der NS-Herrschaft nachträglich zu beschönigen, die eigene Beteiligung in seinen Organisationen herunterzuspielen oder schlicht zu dementieren. Ihre fraglose, wenn auch nur anfängliche Begeisterung für die nationalsozialistische Herrschaft deutete sie um und zeichnete ein Selbstbild als prinzipielle Anti‐ faschistin seit 1933. Kleeberg stellt Rinser daher in eine Linie mit anderen prominenten Autoren der „Stunde null“, die ihrerseits ihre Teilhabe am NS-Staat geheim hielten, um ihre Karrieren in der Nachkriegszeit nicht zu gefährden. „Denn auch Luise Rinser gehört, wie Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, Walter Jens, Günter Eich oder Wolfdietrich Schnurre zu jener Generation von Literaten der Stunde null, die, wie sich spät herausstellte, ein berufliches Vorleben hatten und zu Gefangenen ihrer verschwiegenen Vergangenheit wurden.“ 613 Das Selbstbild der prinzipiellen Dissidentin habe Rinser über Jahrzehnte auf‐ gebaut und gepflegt. Mit „jedem Klappentext“ arbeitete sie am „Mythos der Antifaschistin, die Berufsverbot hatte und wegen angeblichem Widerstand gegen das NS-Regime im Gefängnis saß“, so Hirsch. 614 Kleeberg ergänzt: „Nach und nach schuf sie eine Legende, auf der sie ihr gesamtes weiteres Leben und ihre Karriere aufbaute.“ 615 In seiner Biographie setzt sich Sánchez de Murillo dezidiert mit Rinsers 1981 erschienener Autobiographie Den Wolf umarmen auseinander, in welcher die Zeit während des Nationalsozialismus zentrales Thema ist. Mit Blick auf die in diesem Werk ausgebreitete „Alternativbiographie“ zu dem, was er aus historischen Quellen, Akten, Briefen u.Ä. rekonstruieren konnte, kommt er zu dem Schluss: „Da nun der Leser mit dem wahren Leben Luise Rinsers konfrontiert ist, das in wesentlichen Aspekten völlig anders verlief als bisher angenommen, sei hier eine Antwort auf die oben gestellte Frage versucht, wie ein derart falsches Bild von ihr überhaupt entstehen konnte. Zweifellos geht die Irreführung auf Luise Rinser selbst zurück, auf ihre sogenannten autobiographischen Schriften.“ 616 In ihrer Autobiographie zeigt sich Rinser als dem Nationalsozialismus zunächst skeptisch gegenüberstehende Frau. Seine Ideologie, Kulturpolitik und die zu‐ nehmende Ausgrenzung Andersdenkender hätten sie derart bestürzt, dass 9.1 Biographische Hinführung 313 617 Luise Rinser, Den Wolf umarmen. Frankfurt/ M., 1981, 366; vgl. Kleeberg, „Vergeßlich‐ keit“, 103. 618 Ebd., 104; Sánchez de Murillo, Rinser, 192-194. 619 Rinser, Wolf, 365f. 620 Sánchez de Murillo, Rinser, 104. 621 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 103 f.; Sánchez de Murillo, Rinser, 168, 182 f., 197. sie rasch zur Oppositionellen der neuen Herrschaft geworden sei. Den Wolf umarmen verschweigt die heiklen NS-Gedichte, beschönigt die Leitung des BDM-Lagers sowie die Arbeit für die UFA, zeigt seine Autorin als deutlich schlechter gestellt, als die historischen Quellen ihr Verhältnis zur NS-Obrigkeit schildern, und macht darüber hinaus einige Falschaussagen. So behauptet Rinser etwa, dass nach dem Erscheinen von Die gläsernen Ringe ein Publikationsverbot über sie verhängt wurde, was sich bereits angesichts ihrer in den 1940ern erschienenen Texte in der Kölnischen Zeitung als Unwahrheit offenbart. 617 Weiterhin schreibt sie, ihr erster Ehemann, der Dirigent Horst-Günther Schnell, sei als politisch Belasteter in eine Strafkompanie versetzt worden, an der Ostfront gefallen und habe sie und ihre zwei Söhne in Deutschland ohne die Unterstützung des Gatten und Vaters zurücklassen müssen. Zum Zeitpunkt seines Todes 1943 waren er und Rinser aber schon ein Jahr lang geschieden und lebten nicht mehr zusammen. Weiter heißt es, ihren zweiten Ehemann, den Literaten Klaus Herrmann, habe Rinser 1944 nur zum Schein geheiratet, um den angeblich als Kommunisten und Homosexuellen hochgradig Belasteten zu schützen. Rinser stilisiert sich darin zur aufopferungsvollen Helferin. Kleeberg wie Sánchez de Murillo weisen aber darauf hin, dass ihre Heirat rein sachlich keinen Schutz bedeutet haben könne, wäre Rinser tatsächlich derartig antifa‐ schistisch aufgefallen, wie sie von sich behauptete. 618 Indessen schildert sich Rinser in Den Wolf umarmen als den Behörden langjährig bekannte Oppositio‐ nelle, gegen die mit der Denunziation ein adäquater Anlass zum Ausschalten einer unliebsamen Querulantin gegeben schien. 619 Die im März 1945 ausge‐ stellte Anklageschrift vermerkt indessen keinerlei vorige Verdächtigungen. 620 In Bezug auf ihre Inhaftierung sprach Rinser wiederholt davon, aufgrund von „Hochverrat“ angeklagt zu sein, in NS-Deutschland typischerweise der Anklagepunkt zur juristischen Widerstandsbekämpfung. Tatsächlich lautete ihre Anklage aber auf „Wehrkraftzersetzung“, einen weitaus breiter auslegbaren Tatbestand. Obendrein behauptet sie, ihr Fall habe beim „Volksgerichtshof “ und dessen berüchtigtem Vorsitzenden Freisler gelegen, zu einem Zeitpunkt, da der NS-Jurist bereits tot war. Doch auch zuvor waren weder Freisler noch der „VGH“ tatsächlich in Rinsers Prozess involviert gewesen. 621 314 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 622 Ebd., 214. 623 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 102f. 624 So führt Sánchez de Murillo Stellen aus dem Text zum Teil als Belege historischer Begebenheiten an. Vgl. Sánchez de Murillo, Rinser, 223-225. 625 In Rinsers Autobiographie wird daraus einer der ersten Texte überhaupt, die nach Kriegsende publiziert werden konnten: „Ich habe meine Gefängniszeit beschrieben in meinem ‚Gefängnistagebuch‘, das als eines der allerersten Bücher nach dem Krieg erschien.“ Rinser, Wolf, 380. 626 Nicht zu verwechseln mit Rinsers gleichnamigem Roman von 1953. In Bezug auf Den Wolf umarmen stellt Sánchez de Murillo fest: „Das gängige Bild von Luise Rinser stellt also in entscheidenden Punkten, die sowohl ihr Leben als auch ihre Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus betreffen, geradezu eine Fälschung dar.“ 622 Doch auch die Angaben in Gefängnistagebuch stimmten laut Kleeberg „vorn und hinten nicht“, sodass die auch darin ausgebreitete „ganze Mär der Widerständlerin Rinser und ihres ebenso widerständlerischen Mannes keiner Nachprüfung standhält.“ 623 Auch wenn der Text von den Rinser-Bio‐ graphen hinsichtlich der Differenz von historisch belegbarem Fakt und der Selbstinszenierung ihrer Autorin wiederholt angeführt wurde, fand eine dezi‐ dierte - historische oder literaturwissenschaftliche - Auseinandersetzung mit Rinsers Gefängnistagebuch bislang nicht statt. 624 Indessen war der Text im Jahr 1946 ein Start in mehrfacher Hinsicht. Gefängnistagebuch gilt als erste literarische Schilderung der nationalsozialistischen Gefängnisse überhaupt. 625 Für Rinser selbst war es die erste Publikation nach Kriegsende, die den Start ihrer Karriere als Schriftstellerin in der Nachkriegszeit entscheidend bedingte: Nach wohlwollenden Rezensionen erschien noch im selben Jahr und ebenfalls im Verlag Kurt Desch ihr Erzählungsband Erste Liebe (in dessen dritter und letzter Erzählung „Daniela“ Rinser ihre Hafterlebnisse auch belletristisch verar‐ beitete 626 ). Diese ersten Publikationen nach 1945 brachten Rinser den Ruf einer literarischen Neuentdeckung ein, von der noch Großes zu erwarten sei. In einer Sammelrezension in den Nordwestdeutschen Heften zum Weihnachtsgeschäft 1946 etwa bewirbt Axel Eggebrecht die Zeitlosigkeit der Themen, die die Autorin in ihren Texten verhandle. „Zuletzt - ein neuer Name, der uns gewiß noch oft begegnen wird: Luise Rinser. Ihr ‚Gefängnistagebuch‘ erregte lebhafte Hoffnungen; ein neuer Novellenband ‚Erste Liebe‘ hat sie schon erfüllt (beides bei Desch, München). Drei Frauenschicksale am ersten Wendepunkt des Daseins. Jedes vor düsterem Hintergrund. Mit behutsamer Hand sind zarteste Regungen nachgezeichnet. Alles wächst heraus aus den Verhält‐ 9.1 Biographische Hinführung 315 627 Axel Eggebrecht, „Kleines Bücher-ABC zur Weihnacht“, Nordwestdeutsche Hefte 1/ 9 (1946), 41-44, hier: -44. 628 Hugo Seeger, „RINSER, LUISE: Gefängnistagebuch (234 Seiten, gebunden 5,- RM). Zinnen-Verlag Kurt Desch, München“, Welt und Wort. Literarische Monatsschrift 3 (1946), 94. 629 Else Feldbinder, „Vor dem Richterstuhl des Weltgewissens“, Der Morgen. Tageszeitung der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands 2/ 123 (28.5.1946), 5; Wolfgang Schim‐ ming, „Nichts als die Wahrheit“, Der Tagesspiegel 2/ 122 (25.5.1946), 4. (Die Sammelre‐ zension erschien anlässlich der Neuausgabe von Wolfgang Langhoffs erstmals 1935 erschienenem Text Die Moorsoldaten bei Kurt Desch in München.) 630 „Neue deutsche Bücher“, Neue Westfälische Zeitung 2/ 100 (28.5.1946), 3. 631 Feldbinder, „Richterstuhl“. Kritik kam lediglich von der Frankfurter Rundschau, die einen ideellen Gehalt in dem Text vermisste: Rinsers mit „photographischer Treue“ wiedergegebene Schilderung des Gefängnisses, so der Rezensent „Kilian“, liefere weder eine „gültige Anklage des Nazismus noch analysiert es einen Zustand, der das Problem der Asozialen einer menschlicheren Lösung zuführt.“ Der Text präsentiere dadurch lediglich ein „Zerrbild des Menschen“. Kilian, „LUISE RINSER: ‚Gefängnistagebuch‘ Zinnenverlag“, Frankfurter Rundschau 2/ 55 (12.7.1946), 4. nissen, den Nöten unserer Zeit - und weitet sich doch sogleich ins Allgemeine, ins gültig Bleibende. Mit einem Worte: Eine Dichterin. Bald werden viele sie lieben.“ 627 Der Erzählband mag die bedeutsamere Publikation für Rinsers literarische Kar‐ riere gewesen sein. Doch es war ihr Gefängnistagebuch, mit dem sich die Autorin innerhalb des Nachkriegsdiskurses als fraglos antifaschistische Schriftstellerin etablierte. So heben die Rezensionen von Rinsers Nachkriegsdebüt insbesondere diese Qualität seiner Autorin wiederholt hervor: Diese sei, so Hugo Seeger in Welt und Wort, „eine jener „Politischen“, die den Kampf gegen die Machthaber draußen im Volk führten, bis sie eines Tages in die Falle gingen.“ 628 Ihr Text schildere die „Erlebnisse einer illegalen Kämpferin gegen das Hitler-System“ (Der Tagesspiegel, Berlin), einer Oppositionellen, die „im Dunkel der Illegalität“ agieren musste (Der Morgen, Berlin). 629 Aufgrund dessen sprachen die Rezen‐ sent: innen von Rinser als einer Vorreiterin eines (demokratischen) Wandels im postfaschistischen Deutschland: Immerhin litt sie, wie die Neue Westfälische Zeitung hervorhebt, im „Glauben an ein besseres Deutschland“. 630 Und Der Morgen ergänzt, dass man es Oppositionellen wie Rinser verdanke, „wenn wir heute von einem ‚anderen Deutschland‘ sprechen dürfen, dem ‚besseren, anständigen‘ nämlich.“ 631 Insofern steht der Text am Beginn einer nicht nur schriftstellerischen Karriere, sondern ist auch zentrales Moment für Rinsers Wahrnehmung nach dem Krieg. Als Opfer galt sie als moralische Instanz, die am Umerziehungsprozess unter den Alliierten teilzunehmen angehalten wurde. Immerhin wurde sie als Teil des Re-education-Programms seitens der neuen Machthaber wiederum in der Rolle einer Erzieherin eingesetzt, um die belastete 316 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 632 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 101. 633 Rinser, Gefängnistagebuch, 14 f., 103-105, 123 f., 196. Alle Verweise auf diese Textaus‐ gabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel Gefängnistagebuch. Bevölkerung für den Wiederaufbau Deutschlands unter demokratischen Vor‐ zeichen zu gewinnen. 632 9.2 Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens Obgleich als autobiographische Schrift gekennzeichnet, die keinen Zweifel daran lässt, dass das geschilderte Hafterleben das der Autorin war, distanziert sich Luise Rinser narratologisch insofern von den Geschehnissen in Gefängnis‐ tagebuch, als sie diese aus der Sicht von H. darstellt. In Traunstein trifft H. auf Gefangene aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus und Altersgruppen, die aufgrund verschiedenster „politischer“ wie „krimineller“ Vergehen inhaftiert wurden: von „Schwarzhören“ über das Verteilen illegaler Flugblätter bis zu Kapitalverbrechen. Als „Arbeitsverweigerer“ Angeklagte teilen sich die Zelle mit Diebinnen und Schmugglerinnen, Zeuginnen Jehovas leisten Zwangsarbeit neben Häftlingen, die aufgrund sexueller Beziehungen mit Fremdarbeitern inhaftiert wurden. Weiterhin zeigt der Text eine ganze Reihe von Tatbeständen, die unter den Begriff der „Wehrkraftzersetzung“ fielen, vom Erzählen politischer Witze bis zum Unterschlagen von Wehrmachtsbeständen. 633 Eine Reihe, wenn nicht gar eine Mehrheit der Traunsteiner Gefangenen sind indessen offene Anhängerinnen Hitlers. Auch wenn Verurteilte unterschiedlichster Tatbestände den „Terror und die Nazi-Tyrannei“ als verheerend beurteilen,- „[…] der Führer selbst sei gut. Er wisse von nichts, und genau so wie man den Papst nicht für die Fehler einiger Pfarrer verantwortlich machen dürfe, so könne man auch nicht Hitler die Mißgriffe seiner Parteibeamten zur Last legen. Man müsse nur daran denken, wie sehr der Führer die Kinder liebt. So ein Mensch könne nicht böse sein.“ (Gefängnistagebuch, 90) H. schildert das Aufeinandertreffen mit einer als Schwarzhörerin angeklagten Frau, die nur aufgrund ihrer Führerliebe, um Feindpropaganda zu entkräften, die ausländischen Sender einschaltete. „Aber der Führer ist halt doch ein Mann, wie’s keinen anderen gibt.“ (Ebd., 175) Hinzu kommen rigorose Gegner des Regimes: Mitglieder der KPD oder sozialistischer Organisationen, deportierte KZ-Häftlinge aus Auschwitz sowie Verfolgte der Euthanasieaktionen oder Opfer schlichter Willkür. Besonders drastisch steht aus dieser letzten Gruppe das 9.2 Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens 317 Schicksal von Frau R. hervor: R.s Bruder, ein NS-Minister, war mit der Schwester aufgrund einer Erbschaft zerstritten und verübte auf sie einen Mordanschlag. Da dieser fehlschlug, nutzte der Minister seinen politischen Einfluss, um R. zu denunzieren und verhaften zu lassen (ebd., 146-150). In Traunstein lernt H. die ganze Bandbreite jener Vergehen kennen, die der Nationalsozialismus als „kriminell“ ahndete. Aus verschiedensten Gründen inhaftiert, unterscheidet der nationalsozialistische Justizapparat die Gefangenen nur noch hinsichtlich der Härte der ihnen zukommenden Bestrafung: „Alle diese Verbrechen werden heute bestraft mit Haft, von der vier, acht oder zwölf Wochen langen Polizeihaft bis zu Gefängnis, Zuchthaus und Konzentrationslager.“ (Ebd., 65) Gefängnistagebuch schildert, wie der Nationalsozialismus alle Insassinnen als gleichermaßen minderwertige Individuen betrachtet, die es aus der Gesellschaft auszusortieren und die es vor ihnen zu schützen gelte. Jeglicher Rest von „Menschlichkeit“, den H. den alten Gefängnisräumen noch anhaften sieht, ist „nur mehr Fassade“ (Gefängnistagebuch, 80). Die Aufseherinnen verhalten sich den Häftlingen gegenüber als „Aufsichtsmaschinen“ (ebd., 30), die zu keinerlei empathischer Regung zu bewegen scheinen. Vielmehr geben deren Worte und Handlungen der Überzeugung Ausdruck, dass sie in den Insassinnen nur auszubeutende Arbeitssklaven erkennen: „Solches Volk wie ihr braucht keinen Luftschutz. Um euch ist es nicht schade. Wär besser, die Bomben würden unter solchem Gesindel aufräumen. […] Für euch ist Dachau noch zu gut.“ (Ebd., 50, 63) Diese Haltung begegnet H. auch außerhalb des Gefängnisses: Auf dem Weg zu ihren Zwangsarbeitsstellen treffen die Gefangenenkolonnen regelmäßig mit der Zivilbevölkerung zusammen, welche die Gefangenen beschimpft und anspuckt. „Ach was. Zuchthäusler sind’s, Diebinnen halt oder so was. […] Solches Pack, solche Zuchthäusler. Schläge sollt ihr kriegen.“ (Ebd., 117, 217, vgl. 133) H. erlebt, dass auch die Bevölkerung im Nationalsozialismus in allen Gefangenen prinzipiell eine kriminelle und anrüchige Figur erkennt, die es wegzusperren und zu bestrafen gilt. Zu Beginn ihrer Haft schildert H. ihren Gefängnisalltag als Qual. Sie ist überfordert vom Zusammensein mit den Mitgefangenen, von denen sie die Mehrheit als abstoßend empfindet. Ihr Leid empfindet sie als Überborden von Gefühlsäußerungen, so etwa wenn sie über das Schluchzen einer Gefangenen in einer der Nachbarzellen schreibt: „Diese maßlose Verzweiflung fällt mir auf die Nerven.“ (Gefängnistagebuch, 22) Insgesamt schildert Rinser die Traunsteiner Insassinnen als einzig der Sphäre des Körperlichen verhaftet: „ein wenig hyste‐ risch und […] offenbar mannstoll“ (ebd., 69, vgl. 83, 104). Besonders angeekelt ist H. vom Vorhandensein von Sexualität unter ihren Mitgefangenen: Obwohl den Häftlingen sedierendes Brom verabreicht wird, welches „den dünnen 318 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch Morgenkaffee schäumen“ lässt (ebd., 10), erlebt H. die Zellen als mit pornogra‐ phischen Abbildungen an den Wänden und Anzüglichkeiten in den Gesprächen ihrer Insassinnen übervoll. Zudem gehen die Insassinnen dem „sexuelle[n] Vergnügen“ in den Zellen „ungeniert [nach], jede mit sich selbst oder paarweise, wie es gerade kam.“ (Ebd., 163) Auch finden sie Möglichkeiten zu sexuellen Beziehungen mit männlichen Besuchern und Häftlingen, improvisieren sogar Methoden der Verhütung und Abtreibung (ebd., 86, 163 f.). Selbst mit dem Gefängnispfarrer versuchten sie, „eine kleine Liebschaft“ anzufangen (ebd., 168-170, 198). Mit Abscheu spricht H. davon, dass neben Sex das Essen Haupt‐ thema ihrer Konversationen zu sein scheint und sie ihre Energien auf allerlei Bestechungen, Diebstähle und Erpressungen konzentrierten (ebd., 35). Darüber hinaus stoßen sie die allgemeine Unsauberkeit der Gefangenen, die nicht einmal versuchten, die körperliche Hygiene aufrechtzuerhalten, sowie der Lärm ab, mit dem diese alle Tätigkeiten verrichten und gegenseitig kommentieren (ebd., 50 f.). H.s Ekel kulminiert in der Aussage: „Ich hasse diese Geschöpfe hier. Ich kann sie nicht mehr ertragen.“ (Ebd., 215 f.) Gegenüber diesen abstoßenden Mitgefangenen grenzt sich H. ab. Gefäng‐ nistagebuch erhebt Einspruch gegen die Gleichstellung und -behandlung der Insassinnen als „Kriminelle“, die es, zumindest in Bezug auf H., richtigzustellen versucht. Dies geschieht zunächst über den Grund ihrer Inhaftierung: H. ist als politische Gefangene inhaftiert, eine Häftlingskategorie, unter die in Traunstein verschiedene, für H. auch moralisch „fragwürdige“ Figuren versammelt sind, deren „Verbrechen recht lächerlich“ scheinen: nationalsozialistische Parteige‐ nossinnen etwa, die aufgrund von „Schwarzhören“, Unterschlagungen und Ähnlichem verhaftet worden waren. Eine von ihnen ist eine Nationalsozialistin der ersten Stunde, „eine alte ‚Illegale‘ aus Salzburg, das heißt eine Vorkämpferin des Nationalsozialismus in Österreich.“ (Gefängnistagebuch, 54 f.) Auch begegnet H. ein SS-Major, der „irgendetwas Politisches verbrochen“ habe, eine derart vage wie desinteressiert vorgebrachte Aussage, dass sie in ihrer Wahrnehmung die Willkür und Austauschbarkeit der offiziellen Häftlingskategorisierung un‐ terstreicht (ebd., 61). Dabei gilt der Inhaftierungsgrund „politisch“ in Traunstein als Auszeichnung, den die Gefangenen als „vornehme“ Dekorierung gegenüber den „gewöhnlichen Kriminellen“ ausstellen - eine Praxis, die H. als anmaßende Form der Selbstinszenierung ablehnt (ebd., 111 f.). Dabei sind die meisten Gefangenen Kritikerinnen des NS-Staates. Ihre Ein‐ wände beschränken sich indessen auf die eigene, als ungerechtfertigt aufge‐ fasste Kriminalisierung, die individuelle Posten- und Ämtervergabe in einem ansonsten affirmierten Führersystem, die schlechte Versorgungslage und die sich abzeichnende negative Kriegssituation. Sie alle erzählen „wirre Dinge von 9.2 Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens 319 634 Dabei handelt es sich um eine Verballhornung des Refrains des populären „Durchhal‐ teschlagers“ „Es geht alles vorüber“. Auch: „Auf Posten in einsamer Nacht“, geschrieben 1942 von Kurt Feltz und Max Wallner und vertont von Fred Raymond. 635 Rinser deutet zwar an, dass hinsichtlich der Motivationen des Rädelsführers der Gruppe „noch einiges dahinter[steckt]“, was der Text aber nicht weiterverfolgt. Gefängnistage‐ buch, 62. ihrer Unschuld oder Schuld.“ „Also überall dasselbe“, resümiert H. (Gefängnis‐ tagebuch, 51). Bei der Nachricht von einer zunächst erfolgreichen deutschen Gegenoffensive im Dezember 1944 hingegen „triumphiert“ ein Großteil der Gefangenen und bricht in Jubel aus: „Nun gewinnen wir den Krieg.“ (Ebd., 226) Diese „gewöhnlichen“ Kriminellen offenbaren sich H. als Sympathisanten und brave Mitmacher, deren Kritik neben der Ablehnung der eigenen Inhaftie‐ rung allenfalls die Symptome des mangelnden Erfolgs des Nationalsozialismus umfassen. Was in Traunstein an Antifaschismus existiert, ist eine Opposition der „tröstlichen Sprüche[..]“, die als Kehrreime die Zellenwände zieren: „Es geht alles vorüber,/ es geht alles vorbei; / bald geht der Hitler./ Und dann die Partei.“ (Ebd., 9) 634 Selbst eine Gruppe von Personen aus dem politisch linken Spektrum, die wegen der Verteilung von Flugblättern inhaftiert ist, prangert in ihrer Agitation weder Politik oder Ideologie des NS-Staates an; Quelle ihres „Hasses“ ist die Verschlechterung der materiellen Versorgung der Bevölkerung: „Einer der gefangenen Männer […] ist der Anführer einer Bande von fünf Burschen aus R., die ebenfalls politisch verhaftet sind. Sie schienen ‚links‘ zu sein, jedenfalls macht der Lange kein Hehl aus seinem Haß gegen die Nazis. Er hat mit den anderen ein ‚Tischgebet‘ verfaßt, in dem er Hitler dankt dafür, daß er uns nacheinander alles genommen hat, das Fett, die Eier, den Zucker, das Mehl und schließlich auch noch die Schüssel, aber - und das ist der Refrain (leider weiß ich es nicht mehr wörtlich) - wir dankten dem Führer für all seine Liebe zu uns. Es ist recht bitter und aufsässig.“ (Ebd.,-62) 635 Das gilt auch für die Zeuginnen Jehovas, die H. ganz zu Beginn ihrer Haft zunächst überaus positiv auffallen: Voller Demut ertrügen sie und ihre Männer ihr Leid, von denen nicht wenige aufgrund der Verweigerung des Kriegsdienstes hingerichtet wurden. Alle wirken sie „von einer wundervollen Ruhe, Tapferkeit und Glaubensstärke und äußerst pflichtbewußt.“ (Gefängnistagebuch, 3) Mit Eifer gehen sie auch erniedrigendsten Arbeiten im Gefängnis an, opfern sich hilfsbereit auf für ihre Glaubensgenossinnen und bewahren dabei innere Hal‐ tung, was H. imponiert: „Es scheint ihnen selbstverständlich, für ihre Lehre zu leiden. ‚Es steht in der Bibel‘, so beginnt fast jeder ihrer Sätze. ‚Es steht in der Bibel, daß der Gerechte leiden muß.‘ Auch ohne daß ich mich auf die Bibel berufe, 320 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch muß ich ihnen recht geben.“ (Ebd., 19) Indessen wendet sich H. rasch gegen die stete Berufung auf die Bibel sowie deren „fanatische“ Auslegung und befindet, dass ihre nach außen vorbildhafte Haltung auf einer falschen Grundlage basiere (vgl. ebd., 50). Alles Tun der Zeuginnen, so H., beruhe auf dem Streben nach dem jenseitigen Seelenheil, wobei sie die Konflikte und das Unrecht der diesseitigen Welt gänzlich außer Acht ließen. Diese Abstraktion auf eine Metaphysik lehnt H. letztlich als Weltfremdheit ab, da sie Einfallstor für die Selbstsucht sei. „Ich halte ihnen vor, daß man das politische Heil nicht von etwas Außermenschlichem erwarten dürfe, das sei zu bequem […]. Sie sind in einem undurchdringlichen Fanatismus befangen. Es gelingt mir nicht, aus ihren Glaubenslehren klar zu werden. Es scheint, als hätten sie außer dem Haß gegen die Macht und der Hoffnung auf Christus keine Ideen. Ich bin mißtrauisch gegen diese Lehre, wenn ich sehe, wie lieblos ihre Anhänger sind. Ich beobachte beispielsweise, daß Frau W. ein Päckchen von ihren Angehörigen bekommen hat. Sie verbirgt es ängstlich in einer Ecke und ißt ab und zu einen Bissen, ohne auch nur einen Happen uns zu geben. - Oder mittags: Aus Versehen ist ein Essentopf zuviel in unsere Zelle gekommen. Frau P. als die Älteste teilt. Es ist etwas Zusammengekochtes aus Kartoffeln und Möhren. Sie sucht sich Möhren heraus, ebenso die Sauce und überläßt uns anderen die Kartoffeln.“ (Ebd., 14 f.) Das scheinbar vorbildliche Verhalten der Zeuginnen entpuppt sich für H. als Scheinheiligkeit. Ihre vermeintlich auf den Gesichtspunkten höherer Wertvor‐ stellungen fußende Kritik am Nationalsozialismus entlarvt sich nicht zuletzt durch ihre mangelnde Kameradschaftlichkeit als Irrglauben und falsche Oppo‐ sition. Dagegen besteht von Beginn an kein Zweifel an dem prinzipiellen Einspruch, den H. selbst gegen das NS-Regime vorzubringen hat. Selbstbewusst bekennt sie sich bereits bei der ersten Konfrontation mit einer der Aufseherinnen als Oppositionelle (Gefängnistagebuch, 8). Wiederholt spricht H. von sich selbst als Sozialistin (ebd., 14, 134). Bei ihrer Verhaftung gelingt es ihr nur knapp, die „verdächtigsten Briefe, Broschüren, Bücher und Manuskripte“ vor den beiden Gendarmen verschwinden zu lassen, die sie abholen. Weiter konstatiert sie, dass ihr in Anklageschrift und Verhören nur ein Bruchteil dessen vorgeworfen würde, was sie tatsächlich getan oder geäußert habe (ebd., 71-74, 158). Längst habe das nationalsozialistische Regime H. als widerständige Person überwacht und aufgrund des Verdachts auf das Verfassen kritischer Schriften mit einem Schreibverbot belegt (ebd., 196). Gleiches gilt für ihren Ehemann Klaus, welcher ebenfalls „politisch schwer belastet“ ist (ebd., 157). Der Inhalt ihrer Kritik bleibt indessen in Gefängnistagebuch eine Leerstelle: Weder gibt der Text Auskunft 9.2 Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens 321 über das, was H. sagte, tat oder schrieb, noch darüber, was die Momente ihres Einwands gegen den Nationalsozialismus waren. Bis auf einen einzelnen emotionalen Ausbruch gegen Hitler gegen Ende des Textes, „[d]iese[n] Wahn‐ sinnigen, diese[n] Schwindler“, den sie für „das alles, den Dreck, den Hunger, euren Jammer“ verantwortlich macht (ebd., 229), bleibt H.s Antifaschismus im Modus einer prinzipiellen wie diffusen Ablehnung. H.s Kritik hat ihre Quelle in einem Wissen um eine verborgene Wahrheit über den Nationalsozialismus: Sie weiß um die Vergeblichkeit eines Rechtsbeistandes, dass etwa Beschwerden beim Oberstaatsanwalt über die Haftbedingungen zwar möglich sind, aber gerade in politischen Fällen keinen Erfolg versprechen (Gefängnistagebuch, 12, 47-50, 60 f., 119, 226). Sie weiß, dass die Nationalsozia‐ listen in den psychiatrischen Kliniken Euthanasiemorde begehen und in den Zuchthäusern foltern (ebd., 59, 201). H. weiß schließlich um „die gefährlichere Wahrheit“ des Nationalsozialismus (ebd., 72). Rinser bestimmt das Wesen des Nationalsozialismus als hinter vermeintlich ordentlichen Institutionen und scheinbarer Rechtssicherheit verborgene Gewalt. H. offenbart sich als diejenige, die sich von den Fassaden des Regimes nicht täuschen lässt und hinter diese blickt. Das Tragen dieses Wissens lasse H. keine andere Möglichkeit, als sich prinzipiell gegen dieses Gewaltregime zu stellen. Mit dieser Perspektivierung des Nationalsozialismus zeichnet sich H. als singuläre Figur in Traunstein aus. Die in Gefängnistagebuch ausgebreitete Faschismuskritik ist in erster Linie Strategie zum Herausstellen eines „besonderen“ Opfers als prinzipielle antifaschistische Kraft. Weiter ist H. darin eine singuläre Erscheinung in Traunstein, dass sie als Einzige gegen die Haftbedingungen und die Schikanen seitens der Funktions‐ häftlinge, Wärterinnen und Vorgesetzten im Zwangsarbeitsbetrieb aufbegehrt. Über die Dummheit dieser Figuren macht sie sich lustig, spielt Beleidigungen spöttisch zurück und widerspricht ihren Anweisungen (Gefängnistagebuch, 20 f., 136, 140, 142 f., 151, 212 f., 221). Auch gegenüber den Anfeindungen der Passant: innen lehnt sie sich auf: „Das ist stark. Wir sind Menschen wie andere. Sie wissen nicht, weshalb wir im Gefängnis sitzen. […] Es laufen eine Menge Leute in Freiheit herum, die mit mehr Grund im Gefängnis sitzen müßten als wir.“ (Ebd., 117, vgl. 136) Trotz der Aussichtslosigkeit ihrer Ausbrüche diesen Figuren gegenüber protestiert H. wiederholt gegen die Schikanen. Unter den sich der Haftgewalt fügenden und resignierenden Gefangenen verkörpert sie die „Revolte aus Vernunft“ (ebd., 165). Zwar stellt sie sich selbst die Frage: „[W]ann endlich werde ich lernen, sie zu ignorieren? “ (ebd., 168) Doch ist ihr Aufbegehren insofern erfolgreich, als die angefahrenen Aufseherinnen sich aufgrund der ungewohnten Widerworte entfernen und Repressionen etwa 322 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch in Form von Haftverschärfung oder Disziplinarstrafen niemals folgen. Auch hat H.s Aufbegehren auch eine praktische Dimension: Eine zu entlassende Französin schickt sie zu ihrem Ehemann Klaus, um die rechtlose Ausländerin, die ohne Papiere nicht ausreisen kann, davor zu bewahren, zwangsläufig bald wieder in einem NS-Gefängnis inhaftiert zu werden (ebd., 38). Weiter steckt sie, selbst massiv durch die Mangelernährung in Haft bedroht, einem in Einzelhaft gefangen gehaltenen Chinesen heimlich Brot zu (ebd., 144, 184). Am Ende ihrer Haftzeit kulminieren H.s Protestaktionen in der in zweifacher Hinsicht erfolgreichen Sabotage des Bäckereibetriebs, in dem sie Zwangsarbeit zu leisten hat: Die Maschinen stehen still und das Ablieferungssoll wird nicht eingehalten. Darüber hinaus wird keine der Gefangenen, die sich zudem offen an den Backwaren des Betriebs bedienen, für die Sabotageaktion zur Verantwortung gezogen (ebd., 222-224). Auf mehreren Ebenen arbeitet Gefängnistagebuch an der Präsentation seiner Protagonistin als „besonderes“ Opfer. Doch noch ihre herausgehobene Stellung unter den Mitgefangenen reflektiert H. und grenzt sich so vom Moment der Selbstinszenierung ab, deren Berechnung sie als „Dünkel“ erkennt: „Ich habe großes Verlangen danach, endlich einmal diesen törichten Dünkel des Besserseins abzulegen und ganz rein nur Mensch zu sein, nichts anderes. Ja, aber - da steht schon wieder das Aber: bin ich doch nicht besser als die anderen? […] Aber bin ich nicht klüger als die anderen? Durchschaue ich nicht viel mehr, sehe ich nicht viel schärfer die Verhältnisse? Überlege ich nicht ruhig, wo die anderen nur schimpfen? Lebe ich nicht selbst hier, inmitten von Unrat und Roheit [sic! ], mein eigenes Leben, das vom Geist geleitet wird? Ach, ich weiß nicht. Oft erscheinen mir die Ideen von der Gleichheit der Menschen und von der Brüderlichkeit als Träume und nichts weiter. Die Gefangenen sind fast ausnahmelos dumm, egoistisch bis zur Brutalität, heimtückisch, streitsüchtig.“ (Gefängnistagebuch, 186 f.) Über die gesamte Länge von Gefängnistagebuch fällt der Bescheidenheitshabitus seiner Protagonistin auf. Ihre die Mitgefangenen brennend interessierende Profession als Schriftstellerin hält sie lange zurück und erzählt dann nur „wi‐ derwillig“ davon (ebd., 79). Erst die Verhaftung einer Mitgefangenen „erinnert“, schildert sie auch die Umstände ihrer eigenen Inhaftierung. Die durch die Assoziation eingeleitete vergleichende Erläuterung breitet Rinser dann aber über mehrere Seiten aus (ebd., 71-74). Plausibilisiert ist diese Selbststilisierung auch durch die Textanlage als Tage‐ buch, welches den Eindruck von Unmittelbarkeit, die „Illusion der Gleichzeitig‐ 9.2 Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens 323 636 Peitsch, Gedächtnis, 191. 637 Ebd. 638 Luise Rinser, Gefängnistagebuch, Neuausgabe. Frankfurt/ M., 1963, 7. keit“, 636 vermittelt. Wiederholt reflektiert Gefängnistagebuch seine Produktions‐ bedingungen, schildert Orte und Zeitpunkte beim Verfassen der Einträge oder kommentiert die Menge des verbleibenden Schreibmaterials. Zu manchen Daten berichtet H. lediglich von ihrer Müdigkeit oder versichert, im nächsten Eintrag ausführlicher zu schreiben. Peitsch verweist zudem auf das häufige Wechseln zwischen Präsens und Präteritum in den Einträgen, eine nach redaktionellen Gesichtspunkten unausgereifte Stilistik, die den Eindruck der Unmittelbarkeit unterstreichen solle. 637 Rinser selbst bekräftigt in beiden Vorworten, dass sie das originale Tagebuchmanuskript nicht umgearbeitet habe und der Redakti‐ onsprozess lediglich im Aneinanderfügen der losen Notizblätter bestanden habe. Im Vorwort 1946 versicherte sie: „Was hier berichtet wird, ist Tatsache, nicht Literatur. Es kann von allen, die mit mir jene Monate erlebten, bezeugt werden.“ (Gefängnistagebuch, 5) Für die Neuausgabe 1963 im Verlag S. Fischer überarbeitete sie ihr Vorwort: „Als ich dann im Herbst 1945 die Notizen zu einem Buch zusammenstellte, hielt ich mich ganz eng an sie, denn ich wollte nichts als ein völlig wahres, ein photographisch genaues Bild des Lebens in einem Gefängnis geben, nicht ein Bekenntnis meiner inneren, subjektiven Erlebnisse.“ 638 Von den anderen Gefangenen, welche in ihrem Inhaftierungsgrund eine Deko‐ rierung entdecken, hebt sich H. auch darin ab, dass sie ihre Besonderheit ohne ein Moment von Inszenierung vorbringt. Die sie abstoßenden Mitgefangenen fasst H. als Negativbild auf, gegen welches sie sich eine innere Haltung abver‐ langt. Sie verspottet ihre Zellengenossinnen und hält ihnen, bisweilen zynisch, die vermeintliche eigene Überlegenheit vor. Dagegen reagiert sie „beschämt“, wenn sie selbst in Tränen ausbricht oder eine andere Gefangene die Auswir‐ kungen der Haft „tapferer“ zu ertragen scheint als sie (Gefängnistagebuch, 38, 114). Dann aber bemerkt sie an sich selbst Merkmale von „Verrohung“, gegen die sie nur mit Mühe aufbegehren kann. Aufgrund der mangelhaften Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten drängen sich auch bei ihr materielle Bedürfnisse als schlicht überlebensnotwendig zunehmend in den Vordergrund. Gleichzeitig stellt H. eine bislang ungeahnte Aggressivität an sich selbst fest, wird zunehmend „rebellisch, finster, gehässig und rücksichtslos.“ (Ebd., 67, vgl. 89) Im Eintrag vom 5.-November 1944 schreibt sie: 324 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch „Es bedarf großer geistiger Reserven, um hier Mensch zu bleiben. Erst im Gefängnis lernt man seine bösen Instinkte kennen. Ich beobachte das an mir selbst […].“ (Ebd.,-66 f.) Am 25.-November folgt der Eintrag: „Manchmal stehe ich hier mir selbst gegenüber wie nie vorher. Ich sehe mich mit meinen niederen Instinkten, mit den falschen, verlogenen, romantischen Ansichten von Ehre, Moral, Standesbewußtsein und all diesen schönen, angelernten, konventio‐ nellen Ideen. Zum Schluß bleibt nichts von einem als ein Tier, das fressen und schlafen will, sich vor Schlägen fürchtet und in die Freiheit ausbrechen will. Draußen in der Freiheit tarnen wir das alles bloß mit vielen Worten.“ (Ebd., 171) Die Schriftstellerin H. schildert die intellektuelle Beschäftigung und insbeson‐ dere das Lesen und Schreiben in Haft als Überlebensstrategien. Ihr Text setzt ein, als H. unter losen Dielenbrettern Papier und Stift einer ehemaligen Gefangenen findet: „[S]eit fünf Minuten“ nur hat sie die Schreibutensilien, bevor sie mit den Aufzeichnungen beginnt (ebd., 7). Unmittelbar ergibt sich ihr dadurch die Möglichkeit, sich von den Zuständen in Traunstein zu distanzieren: „Das Wort schiebt sich gnädig isolierend zwischen mich und das nackte Erlebnis der Haft.“ (Ebd., 7 f.) Die Gespräche mit ihrem Anwalt schildert sie weiter als zwar juristisch aussichtslos, dafür aber umso wichtiger für ihren mentalen Zustand: „[D]iese Geste, die Bücher, eine kurze Unterhaltung einmal nicht über das Gefängnis und über meine Akten, sondern über Literatur, machte mich für fünf Minuten glücklich. Mein Gott, wie sehr - ich merke das jetzt erst wieder - entbehre ich geistiges Leben.“ (Ebd., 120) Im weiteren Handlungsverlauf aber berichtet sie von Verwirrung, Gedächtnisschwäche, Unkonzentriertheit und sich insgesamt einschränkenden intellektuellen Fähigkeiten: „Ich merkte übrigens, daß ich verlernt hatte zu lesen. Es ermüdete mich, ich vergaß, was ich auf der Seite vorher erfahren hatte, ich war zerstreut und begriff vieles kaum. Ich verstehe nun, warum die Gefangenen gar kein Bedürfnis nach Lektüre haben. Ich muß sehr achtgeben, daß ich nicht so stumpf werde wie sie.“ (Ebd., 146, vgl. 207) Lediglich in der Aussicht darauf, das Erlebte dermaleinst, nach ihrer Befreiung, literarisch zu be- und verarbeiten, erkennt H. nun die Möglichkeit zur Distan‐ zierung von ihrer Betroffenheit, findet sie eine leidlich wirksame Ablenkung von der Gewalt um sie und der eigenen Resignation: „Manchmal tröstet mich nichts als der Gedanke, daß ich all diese Erlebnisse eines Tages, falls ich diesem Verfahren entrinnen sollte, als Roman oder Erzählung gestalten werde. […] [D]as Geheimnis dieses Trostes liegt darin, daß es […] mich schon jetzt, 9.2 Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens 325 während des Erlebens, auf einen Punkt außerhalb dieses Erlebens stellt, so daß ich nicht mehr nur leide, sondern bereits, halbwegs über dem Leiden stehend, es gestalte. Es gibt keine stärkere Macht als den Geist.“ (Ebd., 81 f.) Die Begegnung mit der eigenen Schwäche und den Grenzen der inneren Haltung ist Ausgangspunkt einer Erkenntnis über die Versuche des Subjekts, sich in den Verhältnissen, mit denen es konfrontiert ist, zu bewähren. „Man sucht sich hier irgendetwas, einen Punkt, auf den man den Rest an Energie, an Gefühl und Gedanken sammelt, der einem hier durch das ewige, triste, rohe, böse Einerlei nicht ausgesogen worden ist. Von diesem Punkt aus lebt man. Nicht jeder findet ihn im Geistigen. Es besteht für mich nicht der leiseste Anlaß zur Überheblichkeit.“ (Gefängnistagebuch, 170) Von ihren Mitgefangenen ist H. abgestoßen, doch begegnet sie deren Biogra‐ phien auch mit Interesse: Zum größten Teil besteht Gefängnistagebuch aus den Schilderungen und Lebenserinnerungen von H.s Mitgefangenen. Rinser schildert ein ganzes Panorama von Weisen des Umgangs mit der Gefängnisge‐ walt, von vollständiger Resignation über das Hinnehmen bis hin zu solchen Figuren, die sich offenbar mit der Haft arrangiert haben und nun ihre Röcke modisch kürzen, die Gesichter mit Bodenfarbe schminken und Lockenwickler aus Bettbezugstoff oder Papierstreifen basteln. Dabei fühlt sich die letztgenannte Gefangene „keinesfalls unglücklich im Gefängnis und die sieben Monate, die sie nun neuerdings absitzen muß, bedrücken sie nicht.“ (Ebd., 16 f. 31) Manche Insassinnen sind faul und müssen täglich zur Arbeit gezwungen werden, andere haben die „Seele eines geborenen Dienstmädchens“ und können „nicht anders als gehorchen und blindlings ihre Pflicht erfüllen.“ (Ebd., 165) Andere, wie die Zeuginnen Jehovas, arbeiten auch derart eifrig, „als würden sie dafür bezahlt.“ (Ebd., 13) Die Begegnung mit der eigenen Schwäche hat zum Ergebnis, dass H. alle diese Verhaltensformen als Weisen des Umgangs mit der Gewalt anerkennen lernt. Die meisten davon stoßen sie ab, doch gelingt es ihr, noch diese als Resultate von Traumata, Kriegserfahrung und Kriminalisierung zu reflektieren und auch den eigenen Ekel herzuleiten als Reaktion auf die Verhältnisse, in die der nationalsozialistische Zwang sie zusammenbrachte. Die Begegnung mit diesen Figuren aus ihr bislang fremden sozialen Milieus stilisiert Rinser zur positiven Erfahrung, bei der sich ihr nichts Geringeres als „der Mensch“ an sich offenbart: „Wie leicht habe ich früher die Menschen abgeurteilt. Nun sehe ich jeden Menschen wie in einem Netz gefangen. Bei dem einen heißt das Netz Not, bei dem andern Affekt und Leidenschaft, bei dem andern Leichtsinn und Irrtum. […] Ich muß hier immer 326 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 639 Siehe Kap.-6.5. wieder einmal die Reste meiner bürgerlichen Vorurteile überwinden. Ich sah das Leben nie so, wie ich es hier zu sehen bekomme: Nackt, häßlich, hart, aber unverfälscht und wirklich. Ich werde, wenn ich je wieder ins normale Leben zurückkehren sollte, verwandelt sein.“ (Gefängnistagebuch, 65, 86) Derart sensibilisiert für das eigene wie die Verhaltensweisen ihrer Mitgefan‐ genen kann H. die Maßstäbe ihrer bürgerlichen Existenz überwinden und so eine Perspektive auf die Dinge etablieren, die es ihr erlaubt, „das Leben“ so zu sehen, wie es wirklich ist. Als derartige Bereicherung erlebt H. die Hafterfahrung, dass sie in der Folge aktiv den Kontakt zu den ekelerregenden Gefangenen sucht und sich deren Verhalten anpasst: Wo sie zuvor etwa vergeblich versuchte, den Zeuginnen Jehovas „die Grundzüge des Sozialismus klarzulegen“ und diese so von der Irrsinnigkeit ihres Glaubens zu überzeugen (ebd., 14, vgl. 134), gelingt es H. nun, auch ihr strittige Lebensformen als Umgang mit den Verhältnissen zu akzeptieren. „[I]ch hatte mich, soweit es nur ging, ihnen im Ton angepaßt.“ (Ebd., 130) Unmittelbares Ergebnis ihres Bewusstseinswandels ist eine neue Form der Kameradschaftlichkeit, die H. gegenüber ihren Mitgefangenen etabliert: Ob materiell oder als mentale Stütze hilft H. den resignierenden Insassen, was sich in Traunstein rasch herumspricht, sodass auch Häftlinge aus anderen Zellen sie bald aufsuchen und um Rat bitten. Um die Gefängnisroutine zu durch‐ brechen und die Häftlinge abzulenken, beginnt H. mit Gläserrück-„Séancen“. Die Mitgefangenen nehmen die Beschäftigung begeistert an und bald wird in den Zellen des gesamten Gefängnisses ein Glas über ein Brett gerückt und so der Kontakt mit der „Geisterwelt“ aufgenommen (Gefängnistagebuch, 172-174, 199 f.). Ähnlich wie Vermehren mit ihrem Gesang gelingt es auch H., die Mitgefangenen in ihrem Innersten anzusprechen und so zumindest eine Zeitlang von den Belastungen ihres Umfelds zu befreien. 639 9.3 Hinwendung zu Akzeptanz und Kritikverzicht Rinser zeigt das Resultat der Verhältnisse als negative Auswirkung der Verro‐ hung. Gleichzeitig revidiert sie eine Kritik daran, indem sie von den Verhält‐ nissen abstrahiert und deren Resultate als Facetten des Lebens subsumiert. Die durch die Haft an den Menschen herbeigeführten Zustände anerkennt sie als Panoptikum der Ausformungen und Einzelheiten, die das Leben hervorbringt und zu der auch sie selbst gehört. „Das Leben“ schildert sie als die Vielfalt des 9.3 Hinwendung zu Akzeptanz und Kritikverzicht 327 Umgangs mit den zuweilen grausamen Zumutungen, mit denen das Subjekt konfrontiert ist und die jede/ r nach einer im Individuum liegenden Potenz ausprägt. H. erkennt, dass es viele Formen gibt, mit den Lebensverhältnissen umzugehen, von denen keine zu verurteilen ist, da jede einzelne die ausgelebte Potenz eines Subjekts darstellt. Die Weisen des Umgangs sind für Rinser beides, sowohl bedingt von den Verhältnissen wie auch originär in dem Sinne, wie das Subjekt auf sie trifft und reagiert. Diesen Widerspruch zwischen kausal ableitbarer Prägung und individueller Lebensform löst sie in Gefängnistagebuch nicht auf, sondern trägt gerade das (An-)Erkennen beider Seiten als Wendung zum Humanismus vor. Dies plausibilisiert Rinser an der Figur ihrer Protagonistin, insofern H. an sich selbst Veränderungen feststellt und also die Erfahrung macht, dass auch sie eine Ausprägung dessen ist, was die Verhältnisse, in denen sie sich befindet, an ihr hervorbringen. Die Humanitätsleistung, zu der die Hafterfahrung sie bringt, ist, den Ekel zu überwinden, indem es das Ekel Erregende als Lebensform anzuerkennen gilt. Für H. hat diese Erkenntnis das Bedürfnis zur Folge, in Traunstein „alles genau und bis auf den Grund zu erleben“. Mit dieser Begrün‐ dung übernimmt sie auch, und überdies freiwillig, den äußerst abstoßenden Latrinendienst (Gefängnistagebuch, 200). Zentral bebildert Gefängnistagebuch H.s Wandel zur Akzeptanz der Ver‐ hältnisse und darin zum Wandel ihres Menschenbildes im Gespräch mit der russischen Gefangenen Tamara. Unmittelbar nachdem sie von der Herkunft der Medizinstudentin aus Rostow erfährt, befragt H. diese über ihr Verhältnis zum Sowjetstaat. Doch Tamaras Lebensrealität entspricht nicht den Maßstäben, die H. in ihren Fragen vorgibt, weshalb ihre Antworten zunächst unbefriedigend ausfallen: „Ich fragte sie, ob sie Kommunistin sei. Nein, es gäbe nicht so sehr viele Parteimit‐ glieder. Ob die anderen Gegner seien? Gegner? Wovon Gegner? Nun, von Stalin, vom Kommunismus. ‚Aber warum‘, fragte sie harmlos. ‚Es geht uns doch gut.‘ Ob sie nicht sehr arm seien? ‚Arm? Aber nein. Wir haben doch alle zu essen, eine Wohnung und Arbeit, wieso sollen wir da arm sein? ‘ Ihr Vater ist Schuhmacher. […] Andere haben mehr. Es gibt solche, die nicht viel arbeiten, die haben weniger. Man kann verdienen, wenn man arbeitet. Ob sie von Stalin und seinen Ideen begeistert sei? Sie zuckte die Achseln: ‚Wir denken nicht darüber nach. Wir wissen nichts anderes. Es ist alles gut so. Wir sollen nichts anderes.‘ Ob sie uns Deutsche hasse. Sie schüttelte ruhig den Kopf.“ (Gefängnistagebuch, 203 f.) Auch beim vermeintlichen „Feind“ sind die Menschen den ihnen auferlegten Verhältnissen unterworfen und formen ihre Lebensart daraus. Tamara schildert 328 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch eine Bandbreite möglicher Lebensumstände in der Sowjetunion, wobei ihre eigenen mitnichten als ideal erscheinen: Manche haben mehr, manche weniger, müssen mehr oder weniger arbeiten und vom Erarbeiteten abgeben. Innerhalb dieser Verhältnisse richten sich Tamara und ihre Familie ein. Weder sind sie begeisterte Anhänger Stalins oder des Kommunismus und im Sinne ihrer Propaganda vereinnahmt, noch sind sie gegen den Sowjetstaat. Diese Haltung hat zum Ergebnis, dass Tamara die Deutschen nicht als Feinde betrachtet. Sie lebt ohne Hass und nach außen gekehrte Gesinnungspropaganda. Dagegen gewinnt Tamara den Lebensverhältnissen gerade die Möglichkeit ab, sich in ihnen einzurichten, und lebt damit deren Anerkennen als partikulare „Lebensart“ vor. Diese Haltung ist H. bis dahin gänzlich unbekannt. Die Arbeit etwa, die im NS-Gefängnis gefordert wird, ist körperlich hart und erniedrigend: „Eine billige Hilfe. Kostenlos.“ (Gefängnistagebuch, 102) H. kritisiert diese zudem als gänzlich sinnlose Beschäftigung, die aufgrund mangelhafter Organisation und Logistik, fehlender Arbeitsmittel sowie der willkürlichen Arbeitseinteilungen und des Willens zum Malträtieren der Gefangenen ein „Musteralbum von Unvernünftigkeiten“ ergeben (ebd., 142, vgl. 83, 136 f.). Entsprechend begehrt sie wiederholt auf gegen die Zwangsarbeit und formuliert Vorschläge zur Verbesserung dieser „Unvernünftigkeiten“: „Wäre es nicht tausendmal besser, es gäbe an Stelle von Gefängnissen Arbeitslager, in denen die Häftlinge relative Freiheit hätten, menschlich und niemals ungerecht und demütigend behandelt würden und das Bewußtsein bekämen, wichtige und wiedergutmachende Arbeit für die Gesellschaft zu tun? “ (Ebd., 67 f.) Diese aufbegehrende Haltung illustriert ein erster Traum, der ganz am An‐ fang ihrer Haft steht und wohl ausgelöst von ihren ersten Zwangsarbeiten in Traunstein ist. Darin wird H. beauftragt, die Türkei, welche sich ihr als löchriges Tuch offenbart, zu reparieren, wogegen sie sich jedoch verwehrt: „Ich sollte sie flicken, jedoch weigerte ich mich der Alliierten wegen, die es als Eingriff in ihre Rechte betrachten würden.“ (Ebd., 15) Dieser erste Traum gibt einer Widerständigkeit Ausdruck, die sich auf den Standpunkt der alliierten Invasionsmächte und deren „Rechte“ stellt. Unmittelbar nach ihrer Begegnung, „wohl angeregt durch das Gespräch mit Tamara“ (Gefängnistagebuch, 204), gibt H. einen zweiten Traum wieder. Darin begegnet ihr ein Trauerzug, begleitet von lachenden Frauen, die auf ihre Nachfrage erklären, es sei ihnen verboten zu weinen, doch verspürten sie selbst auch keine Trauer. Sprunghaft wandelt sich die Szenerie: H. wird von einem „Chinese[n] oder Kosak[en]“, gerüstet in einen Fechterkürass, angegriffen, übersteht die Attacke jedoch unbeschadet. „Er schoß auch auf mich, aber die 9.3 Hinwendung zu Akzeptanz und Kritikverzicht 329 Kugeln gingen durch mich hindurch, ganz leicht, als wäre ich ohne Körper.“ Daraufhin wird H. von einem Uniformierten in Gewahrsam genommen und muss, ganz ähnlich wie in ihrer Haftrealität, Latrineneimer ausleeren, bevor ihr der Wächter befiehlt, eine Steilwand hinabzusteigen, was sie, ebenfalls ohne Schaden, tut. Am Ende führt der Uniformierte H. vor ein Tribunal „viele[r] Männer und Frauen“ und empfiehlt sie aufgrund dieser bestandenen „Prüfungen“. Der Vorsitzende antwortet: „Wir werden darüber beraten, ob wir sie zur Menschenführung brauchen können.“ (Ebd., 204-206) Im Modus eines Selbstgesprächs tritt im Traum eine innere Stimme auf, die eine Realität in surrealen Bildern stiftet. Diese zeigt die Menschen als genötigt, selbst den widersinnigsten an sie herangetragenen Forderungen zu entsprechen. Gefügig befolgt auch H. die Befehle, die eine durch den Unifor‐ mierten repräsentierte Macht ihr auferlegt. Doch keine der Traumszenerien setzt H. zu: „stillschweigend und ohne Aufforderung“ erfüllt sie die Arbeit, „ohne Zaudern“ lässt sie sich fallen. Die Gefahr des Angriffs lässt sie „gebannt“ stehen, doch weder die Schüsse noch der folgende Absturz richten an ihr einen Schaden an. (Ebd.) Die Forderungen und H.s Erleben bei ihrer Ausfüh‐ rung stehen in auffälligem Kontrast zu dem Schluss des Uniformierten, dass diese als Prüfungen H. zur Menschenführung prädestinierten. Obwohl im Text nicht eindeutig aufgelöst, bietet sich eine Deutung der Episode an: Der Traum vergegenwärtigt eine Herrschaftserfahrung, die Gewalt ist, geprägt von Schüssen, Zwang und dem Zugriff einer uniformierten Macht, die aber insofern nicht gefährlich ist, als sie das Subjekt nicht tangiert. Darin verbildlicht der Traum eine Fremdbestimmung, die nicht als negative Erfahrung erlebt wird. Plausibilisiert wird dies durch das unmittelbar zuvor geschilderte Gespräch mit Tamara: Wo jene diese Haltung des Nichttangierens lebt und als Hasslosigkeit nach außen trägt, hat H. sie als Erkenntnis, auch wenn sie im Traumbild noch vorbegrifflich präfiguriert ist. Zusammengenommen zeigen die beiden Träume eine Entwicklung der träumenden H. auf von der Verweigerung hin zum Einreihen in ein Menschengeschlecht, das die Bestimmung durch die Verhältnisse als Lebensmodus akzeptiert hat. 9.4 Fürsprecherin des neuen Menschenbildes Rinser stellt ihrem Gefängnistagebuch ein Vorwort voran, in dem sie offenlegt, dass sie ihre Haft in Traunstein als Bewährungsprobe erlebte: „Ich bin oft befragt worden, ob die Monate der Verhaftung und der Urteilserwartung schlimm waren. Gewiß waren sie das für einen Menschen, dem Freiheit so wichtig wie 330 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 640 Darüber hinaus unterstreicht das Nachwort, das Rinser mit ihrem eigenen Vornamen „Luise“ unterzeichnet, die Identität von H. mit ihrer Autorin. die Luft zum Atmen ist. Aber ich möchte die qualvolle Zeit nicht aus meinem Leben streichen. Für mich wurde der Aufenthalt im Gefängnis zur Wende meines Lebens. Ich war in diesen dunklen Monaten nichts anderes als ein leidender und gefährdeter Mensch, der lernen muß, der äußersten Gefahr mit Ruhe zu begegnen, ohne Rücken‐ deckung und ohne die Illusionen des bürgerlichen Lebens.“ (Gefängnistagebuch, 6) Sie schildert die Haft als Auslöser eines Wandels, weshalb sie die Erfahrung trotz Leid und Bedrohung im Rückblick als Bereicherung wertet, die ihr Leben auch über die Befreiung hinaus prägen werde. Inhalt dieser Bereicherung ist eine gelebte Akzeptanz und, damit einhergehend, die Absage an einen Führungs- und Erziehungsanspruch. Produktiv macht Rinser diesen Wandel unmittelbar nach ihrer Befreiung. Im Nachwort von Gefängnistagebuch schildert sie ihr erneutes Aufeinandertreffen mit der Nachbarin, aufgrund deren Denunziation sie 1944 inhaftiert worden war. 640 Das Nachwort umfasst einen Brief der Denunziantin Lisl Grünfelder sowie Rinsers Antwortschreiben. Seit dem Zusammenbruch des Nationalsozia‐ lismus und der Machtübernahme der US-amerikanischen Besatzungsmacht in Bayern ist die Denunziantin ihrerseits angezeigt worden. In der Annahme, Rinser habe sie bei den Alliierten angezeigt, bittet in ihrem Brief um Ent‐ schuldigung, wobei sie zudem die „bitterliche“ Qualität von Rinsers „Rache“ hervorhebt (Gefängnistagebuch, 231). In ihrer Antwort betont Rinser aber, dass eine Entschuldigung keineswegs nötig sei, da sie die Hafterfahrung längst als positive Bereicherung erkannt habe: „Du entschuldigst Dich bei mir. Das ist unnötig und sinnlos. Unnötig, denn für mich persönlich sind die Leiden des Gefängnisses längst unwesentlich geworden und weit überwogen von dem geistigen Gewinn aus jener Zeit.“ (Ebd., 232 f.) Zudem unterstreicht Rinser, von persönlichen Rachegefühlen frei zu sein: „Kennst Du mich so schlecht, daß Du glauben kannst, ich wollte mich rächen? Ich habe eure Begeisterung für Krieg und NS bekämpft. Ich habe es getan, weil ich beides verabscheute, wie ich alles verabscheue, was aus Gewalt und Haß geboren ist. Wie könnte ich jetzt das selbst tun, was ich an euch bekämpfte? Das, was ihr mir angetan habt, und das, was ihr beigetragen habt zur großen Schuld an der Menschheit, das rächt sich nach einem unbarmherzigen Gesetz aus sich selbst. Mögen andere die Gelegenheit benutzen, um sich zu rächen. Ich tue es nicht, denn ich glaube nicht daran, daß Blut durch Blut gelöscht werden kann.“ (Ebd., 232) 9.4 Fürsprecherin des neuen Menschenbildes 331 Rinsers Schluss aus der Haft ist keine Intervention. Ihr aus der Hafterfahrung geschöpfter Beitrag zur Besserung der Welt ist Akzeptanz, gerade der Verzicht, Kritik gegen die Menschen geltend zu machen. Diese Erkenntnis trägt sie nicht als Anspruch nach außen aus der Position einer Avantgarde vor, sondern lebt diese vor. Das bedeutet mitnichten, dass Rinser keine Kritik hat und vorbringt. Solche übt sie etwa an ihrer Denunziantin, die sich, wie viele Sympathisanten des Nationalsozialismus auch, erst im Zusammenbruch und damit dem endgültigen Misserfolg des NS-Staates von diesem distanziert hätten: „Dein Glaube an Hitler ist zusammengebrochen genau in dem Augenblick, in dem der NS zusammenbrach. Deiner Wandlung liegt nicht die Erkenntnis der Unwahr‐ haftigkeit, der Bosheit, Dummheit und Unmenschlichkeit jenes Regimes zugrunde, sondern lediglich die bittere Erfahrung seiner Unhaltbarkeit. Es gehört nicht viel dazu, nach einem solchen Zusammenbruch zu erkennen, daß da etwas falsch gewesen ist.“ (Gefängnistagebuch, 233) Auch revidiert diese Erkenntnis nichts von H.s Kritik ihrer Mitgefangenen, deren Biographien sie mitunter als nicht ausgeschöpfte Potentiale oder Ver‐ nachlässigung schilderte. So schreibt sie über eine findige und gegenüber der Obrigkeit schlagfertig auftretende Schieberin: „Ich glaube, aus K. wird, wenn ihre Abenteuerlust, ihr Unternehmungsgeist und ihr kaufmännisches Genie in rechte Bahnen geleitet wird, eine Geschäftsfrau ersten Ranges.“ (Ebd., 124) Bei adäquater Anleitung könnte es gelingen, K.s kriminelle Energie zu einem „wertigeren“ Beitrag zum gesellschaftlichen Miteinander zu wandeln. In ähnlicher Weise äußert sich H. über die Gefangene Lotte, die aufgrund einer Geisteskrankheit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und von dort ins Gefängnis deportiert wurde: „Lotte tut mir unendlich leid. Sie ist hysterisch, unberechenbar, streitsüchtig, aber das, was sie hätte sein können, hätte sich jemand ihrer früher angenommen, spricht mich lebhaft an.“ (Ebd., 59) Zudem führt Rinsers Erkenntnis keineswegs zu Gleichgültigkeit. Zu Beginn ihrer Haft hatte sie resolut geäußert: „Nein, ich will mich retten. Ich habe Besseres zu tun, als zu sterben. Ich will leben und arbeiten.“ (Gefängnistagebuch, 73) Diesen Willen zum Angehen des Wiederaufbaus wiederholt sie gegen Ende ihrer Haftzeit, hier zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass sie Inhalt und Umfang dieser Arbeit als ihr gleichgültig schildert: „Ich werde vor keiner Arbeit zurückschrecken, die ein Teil der Aufbauarbeit ist, und sei sie noch so gering. Ach, wieder arbeiten können, arbeiten, reden, frei sein! “ (Ebd., 196 f.) Als Erkenntnis aus der Haft präsentiert Rinser ein Menschenbild, das auch durchaus strittige Formen der Bewältigung seiner äußeren Bestimmungen und 332 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch 641 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 102; Sánchez de Murillo, Rinser, 422. 642 Ebd., 216. gesellschaftlichen Vorgaben entwickelt. Gegenüber diesen ist Kritik mitunter berechtigt, doch sind sie nicht zu ahnden. Rinser wendet sich ab vom Anspruch auf Umerziehung gerade dieser kritikablen Formen, wendet sich auch ab von jeglichem nationalen oder sozialen Feindbild. Ihre Erkenntnis ist eine elitäre Interpretation der Tatsache, dass die Menschen die Verhältnisse, mit denen sie konfrontiert werden, auf unterschiedlichste Weisen zu bewältigen versuchen. Diese überhöht sie als Ausprägung der Bandbreite „des Lebens“ zum originären Wesenszug des Subjekts. Darin erscheinen die Verhältnisse und ihre Wirkung auf das Individuum als Passungsverhältnis, da diese gleichzeitig das hervor‐ bringen, was das Subjekt ausmache. Rinser wirbt für die Einsicht, sowohl die Verhältnisse wie auch die Weisen ihrer Bewältigung, Gewalt und Zwang ebenso wie Widerstand und Teilhabe, als Ausprägungen desselben fundamentalen Zusammenhangs „Leben“ nachzuvollziehen und zu akzeptieren. 9.5 Fazit Die biographische Forschung zu Luise Rinser ist sich mittlerweile einig darüber, dass es sich bei Gefängnistagebuch um eine Rechtfertigungsschrift handelt, in welcher die Autorin die historischen Fakten beschönigte bis verfälschte, um ihr Verhältnis zum NS-Regime aus der Perspektive der Nachkriegsverhält‐ nisse definitiv richtigzustellen. 641 „Bekanntlich hatte Luise Rinser die Neigung“, hält Sánchez de Murillo in Bezug auf ihre autobiographischen Schriften fest, „sich selbst als Heldin darzustellen, die nahezu alles besser machte als die anderen.“ 642 Zentral arbeite Gefängnistagebuch demnach an der Rehabilitation seiner Autorin, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst beju‐ belt hatte und für den NS-Staat als BDM-Ausbilderin, wohlwollend geförderte Publizistin und Propagandistin tätig war, bevor sie selbst kurz vor Kriegsende inhaftiert wurde. In diesem Zusammenhäng fällt Rinsers wiederholte Betonung des „politischen“ Aspektes ihrer Inhaftierung besonders auf: Aufgrund von „Wehrkraftzersetzung“ angeklagt, galt Rinser in den Augen der nationalsozia‐ listischen Strafverfolgung als „gewöhnliche Verbrecherin“. Gefängnistagebuch führt eine Bandbreite der diversen Vergehen auf, die im NS-Staat unter diesen Tatbestand fielen. H. jedoch wurde fraglos als Antifaschistin inhaftiert, die sich auf prinzipieller Ebene gegen die NS-Herrschaft äußert und von dieser längst als Gefährdung erkannt und mit Schreibverbot belegt worden war. 9.5 Fazit 333 643 Kleeberg, „Vergeßlichkeit“, 101; vgl. Sánchez de Murillo, Rinser, 9. 644 Rinser, Gefängnistagebuch (Neuausgabe), 11f. 645 Ebd., 6, Herv. J.V. Kleeberg wie Sánchez de Murillo konstatieren, dass die Schriftstellerin nach ihrer Befreiung maßgeblich von ihrer Wahrnehmung als antifaschistisches Opfer des Nationalsozialismus profitieren konnte. Dies sei auch der Grund, weswegen Rinser diesen Aspekt ihrer Haftschilderung in den kommenden Jahren besonders herausstellte. 643 Während die Originalausgabe von 1946 noch recht vage bleibt hinsichtlich der offiziellen Begründung ihrer Inhaftierung, unterstreicht Rinser im neuen Vorwort, das für die Neuausgabe verfasst wurde, dass sie als Widerstandskämpferin inhaftiert wurde: „Während meiner Haft lief am Volksgerichtshof Berlin unter dem berüchtigten Freisler ein Prozeß gegen mich. Die Anklage lautete auf Hochverrat (Wehrkraftzersetzung und Widerstand gegen das Dritte Reich). […] Man konnte mich auf Grund des vorliegenden Materials auch ohne meine Anwesenheit zum Tode verurteilen. Meine Sache stand schlecht.“ 644 Für die Neuausgabe ihres Textes fokussierte Rinser auf ihre vermeintliche Anklage wegen Hochverrats sowie den Prozess vor dem Volksgerichtshof unter Freisler. Zudem hebt Rinser als zweiten Aspekt im neuen Vorwort gerade ihre Erkenntnis „des Lebens“ während ihrer Haftzeit hervor: „[M]ir gefiel das Buch ganz und gar nicht mehr. Es schien mir hart und kalt, und es verfälschte dadurch meine Erfahrung der Gefangenschaft. Ich hatte mehr und Tieferes erlebt, und ich hatte es mit größerer Leidenschaft erlebt. […] Vieles von dem, was in mir vorging, verschwieg ich fast oder ganz, so das Aufbrechen einer ganz neuen realistischen Liebe zum Menschen wie er ist, nicht wie er sein sollte oder wie ich ihn sehen wollte; im erniedrigten Menschen erst lernte ich den Menschen überhaupt kennen und lieben. […] Später reute es mich, daß ich nicht gerade über diese mehr geschrieben hatte, aber da mochte ich nichts mehr hinzufügen.“ 645 Doch auch ohne die Zuspitzungen des neuen Vorworts präsentiert Gefängnis‐ tagebuch in seiner Protagonistin H. bereits in der Textausgabe von 1946 eine Figur, die sich sowohl durch ihre Tätigkeiten im Vorfeld ihrer Inhaftierung, ihre Haltung, ihre Moral, ihr Handeln sowie ihre Fähigkeit zur Reflexion der Haft‐ geschehnisse vom übrigen Personal des Textes unterscheidet. Trotz Zweifeln und drohender „Verrohung“ ist sie ein „besonderes“ Opfer, dessen Umgang mit der Gewalt in Traunstein singulär ist. Am Ende ihrer Inhaftierung kommt zu allgegenwärtigem Hunger und Mangelversorgung eine eiternde Wunde hinzu, 334 9 Luise Rinser: Gefängnistagebuch die H. nicht angemessen behandeln kann. Sie fällt in eine Depression: „Es ist ja alles gleichgültig. […] Zum erstenmal war ich trostbedürftig, aber niemand wollte daran glauben.“ (Gefängnistagebuch, 228) Die Aussicht auf das baldige Weihnachtsfest ohne ihre Familie in der Gefängnistristesse lässt sie verzweifeln: „Ach, mir ist alles gleichgültig. Alles.“ (Ebd., 230) Unmittelbar danach steht für H. jedoch die Gewissheit, jede Krise überwinden zu können und aus dieser sogar gestärkt hervorzugehen. „Warum eigentlich bin ich so verzweifelt gewesen? […] [Klaus] muß es doch wissen, daß ich über Gefühle Herr werden kann. […] Ich glaube, ich werde nun das ertragen können, was mir bestimmt ist.“ (Ebd.) Fraglos ist das Moment der Rechtfertigung dominanter Aspekt in Gefäng‐ nistagebuch. Doch zielt dieser nicht gänzlich auf Rinsers Verhältnis zum Na‐ tionalsozialismus: Teil ihrer Inszenierung und Ergebnis der Hafterfahrung ist eine nach vorne perspektivierte Erkenntnis, mit der sich Rinser für die Nach‐ kriegsverhältnisse präsentierte. Das in Traunstein ausgebreitete Menschenbild erscheint gegenüber dem herausgehobenen Opfer H. als Masse, welche der Führung bedarf: „Im übrigen begreift das Volk niemals Ideen. Es versteht nur Handgreifliches.“ (Gefängnistagebuch, 182) Von einer elitären Position weist Rinser indessen den Führungsanspruch zurück als unangebrachte Kritik an den Menschen. Das kann als eine Art Abrechnung mit dem eigenen Verhältnis zum NS-Staat verstanden werden, insofern etwa ihre Schrift für den BDM der Gewissheit Ausdruck verlieh, dass es Führer brauche, um aus der Bevölkerung eine nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ zu machen. Die Haft offenbarte dagegen, dass auch drastische Repressionsformen die Menschen nicht in vor‐ gegebene Normen zu lenken vermögen: Mitnichten können alle für „sinnvolle“ Arbeit eingesetzt oder vorhandene Potentiale ausgeschöpft werden. Diesen Kritikverzicht interpretiert Rinser als Wendung zum Humanismus und darin als aktiven Beitrag zur Gewaltüberwindung: Die Häftlinge in Traunstein stoßen sie als ekelerregend ab und erscheinen ihr genau darin als wertzuschätzen. Diese Perspektivierung hebt das „besondere“ Opfer auch über die Befreiung hinaus ab als Elite, die Auskunft geben kann über die Beschaffenheit einer Bevölkerung, welche abseits aller politischen, ökonomischen oder sozialen Maßstäbe existiert. Als Opfer des Nationalsozialismus fraglos mit einem Glaubwürdigkeitsvor‐ schuss ausgestattet, war Rinser in den Augen der Alliierten als demokratische Kraft zu fördern. Dabei scheint es nachgerade ironisch, dass die amerikanische Siegermacht sie auch für ihr Re-education-Programm gewann, in welchem Rinser, konträr zu ihrer Einsicht in Gefängnistagebuch, wiederum die Rolle einer Erzieherin der Deutschen, diesmal zur westlichen Demokratie, übernahm. 9.5 Fazit 335 646 Vgl. auch Anhang. Bibliographie der KZ- und Gefängnisliteratur 1945-1961. 10 Das politische Häftlingskollektiv als Stifter von Gemeinschaft. Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar: Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden 10.1 Biographische Hinführung Alle untersuchten Texte dieser Opferliteratur verhandeln das Lager auf der Ebene verinnerlichter, universell gedachter Werte und formulieren Zuständig‐ keiten einer intellektuellen, geistlichen oder kulturellen Betreuung. Auf dieser breiten sie ebenfalls ihre Faschismuskritiken sowie die Vorstellungen von Konsequenzen aus der erfahrenen Gewalt aus. In einigen Texten aber findet eine Verknüpfung der Sphäre universeller Verbindlichkeiten menschlicher Gemein‐ schaft als Quell der Legitimierungsstrategien und der Ebene der Politik statt, auf der als ihr Ziel Herrschaftsansprüche geltend gemacht werden. Mit Walter Poller und dem unter dem Pseudonym Udo Dietmar veröffentli‐ chenden Walter Paul sollen zwei Schriftsteller aus der größten Gruppe derer vor‐ gestellt werden, die in den ersten Jahren nach der Befreiung über ihre Erlebnisse in den Lagern berichteten. Es handelt sich dabei bei ihnen um Personen aus dem politischen linken Spektrum, die eine sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Sozialisation, die Mitgliedschaft in entsprechenden Organisa‐ tionen oder Netzwerken sowie das Vertreten einer solchen Ideologie angeben. Gegen diese Kräfte war das NS-Regime seit 1933 mit aller Härte vorgegangen und vielerorts waren diese „politischen Gefangenen“ die ersten Insassen der Konzentrationslager. Ihre Erinnerungen und Erlebnisberichte machten nach 1945 den Großteil der Schriften aus, die über die nationalsozialistischen KZ erschienen waren. 646 Im Rahmen dieser Untersuchung stellen die beiden Au‐ toren insofern eine Besonderheit dar, als über ihre Biographie vergleichsweise wenig in Erfahrung zu bringen ist. Der Großteil ihrer Lebensläufe während der NS-Herrschaft sind Abfolgen verschiedener Verhaftungen, Verurteilungen und Deportationen. Im Vergleich mit den anderen Autorinnen und Autoren handelte es sich bei Poller und Paul aber außerdem nicht um Figuren, die sich prominent in den Öffentlichkeiten von Nachkriegszeit und BRD präsentierten - Paul verweigert durch die Verwendung des Pseudonyms Dietmar sogar aktiv die Identifikation seiner Person mit der Autorenschaft. Diese Besonderheit weist 647 Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Literaturkommission für Westfalen, „Walter Poller“, Internet: https: / / www.lexikon-westfaelischer-autorinnen-und-autoren.de/ au‐ toren/ poller-walter, zuletzt geprüft am: 15.11.2021. 648 Josef Börste, „‚… der trotz aller Erlebnisse an das Gute im Menschen glaubte‘. Zum 100. Geburtstag von Hubert Biernat“, Jahrbuch des Kreises Unna (2007), 87-93, hier: 88. 649 Röll, Sozialdemokraten, 302. 650 Ebd., 36f. 651 Börste, „…-der trotz“, 90; vgl. Gołaszewski, Fallstudie, 333; Röll, Sozialdemokraten, 302. bereits darauf hin, dass der in ihren Texten formulierte Führungsanspruch sich nicht auf das (schreibende) Subjekt bezieht, sondern auf ein Kollektiv, als dessen Teil sich diese Autoren verstanden und in dessen Namen sie schrieben. Das Wenige, was über sie bekannt ist bzw. was sie selbst zu ihrer Lebensgeschichte angaben, zeigt zwei Figuren, die sich langjährig in den Strukturen des linken politischen Spektrums engagiert hatten, aufgrund dessen durch die Nationalso‐ zialisten inhaftiert worden waren und die dieses Engagement auch nach ihrer Befreiung als den dominanten Bezugspunkt ihrer Biographien erachteten. Walter Poller war seit den späten 1910er Jahren in sozialdemokratischen Organisationen aktiv. Bereits als Jugendlicher engagierte er sich in der Sozialis‐ tischen Arbeiter-Jugend, in der er zuletzt eine leitende Position innehatte. Nach der Teilnahme als Soldat im Ersten Weltkrieg war er im November 1918 Teil eines Soldatenrates in Jüterbog. 647 In der Weimarer Republik arbeitete Poller als politischer Publizist und Zeitungsredakteur bei der sozialdemokratisch bzw. sozialistisch ausgerichteten Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung sowie Der Hammer. Für letztere übernahm Poller ab 1919 den Posten des Chefredakteurs. 648 Im gleichen Jahr trat Poller in die SPD ein. 649 Als sozialdemokratischer Redakteur kam Poller unmittelbar nach der Machtübernahme ins Visier der Nationalsozia‐ listen. Bereits 1933 wurde er mit mehreren Redaktionsmitarbeitern in Schutzhaft genommen. Weitere Verhaftungen und eine Verurteilung wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ folgten in den kommenden Jahren. Als leitendes Mitglied einer SPD-Widerstandsgruppe in Hamm und Umgebung hatte Poller Flugblätter und illegale Schriften verteilt. 650 Bis zum 28. November 1938 war Poller in mehreren Gefängnissen und den sogenannten Moorlagern inhaftiert gewesen. 651 Nach Verbüßung seiner Haftstrafen wurde er wiederum gefangen genommen und als politischer Schutzhäftling ins KZ-Buchenwald deportiert. Aufgrund von Bemühungen von Pollers Frau und dem als Soldat an der Front stehenden Sohn gelang die Freilassung Pollers im Mai 1940. Vermutlich gab der Umzug der Familie nach Hamburg und Pollers dortige Unbekanntheit bei der Gestapo den Ausschlag dafür, dass bis Kriegsende eine erneute Verfolgung 338 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X 652 Peter Schäfer, Walter Poller. Lebenslanges Eintreten für Demokratie und Gerechtig‐ keit. Studienarbeit. Münster 2018 (Helden und Außenseiter. Zur Geschichte des Na‐ tionalsozialismus in Westfalen nach 1945, 10), 609-652, Internet: https: / / d-nb.info/ 1150779349/ 34, zuletzt geprüft am: 4.2.2022, 628. 653 Börste, „…-der trotz“, 93; Röll, Sozialdemokraten, 302. 654 Z.n.-Schäfer, Poller, 634f. 655 Walter Poller, Arztschreiber in Buchenwald. Bericht des Häftlings 996 aus Block 39, 2. Aufl. Hamburg 1947, 5. 656 Michael Becker, Dennis Bock, „Muselmänner“ und Häftlingsgesellschaften. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Archiv für Sozi‐ algeschichte 55 (2002), 133-175, hier: 164. ausblieb. 652 Nach 1945 engagierte sich Poller wiederum in den sich neu konsti‐ tuierenden sozialdemokratischen Strukturen und arbeitete als Sekretär der SPD beim Landesverband Hamburg. Daneben trat er als Journalist in Erscheinung, schrieb u. a. ab 1946 für die Westfälische Rundschau in Dortmund.  653 Bereits in seinem ersten Leitartikel, „Gegen Dummheit und Schweinehundgesinnung“ vom 20. März 1946, spricht Poller von der Notwendigkeit, gesellschaftlich wie kulturell „[e]in neues Haus zu bauen, in dem jeder frei von Furcht und frei von Not leben kann.“ Der Bau dieses metaphorischen Hauses indes sei nur durch die politische Wandlung einer „Demokratische[n] Erneuerung“ zu realisieren: „Entweder werden wir ein Volk der Demokratie und des Friedens, oder wir werden endgültig zermalmt.“ 654 Bereits 1946 erschien seine Verarbeitung der KZ-Haft. Arztschreiber in Bu‐ chenwald. Bericht des Häftlings 996 aus Block 39 wurde im dem sozialistischen Spektrum nahestehenden Phönix-Verlag, Hamburg, herausgegeben. Eine zweite Auflage folgte bereits ein Jahr später mit dem Hinweis, dass „[d]ie erste Auflage dieses Buches [vergriffen war], fast noch bevor die letzten Exemplare in der Buchbinderei fertiggestellt waren.“ 655 Neuausgaben der Schrift sowie Übersetzungen ins Englische und Spanische folgten ab 1960. Der Erlebnisbericht schildert die zwei Jahre von 1938-1940, in denen Poller in Buchenwald, zuletzt als Schreiber im medizinischen Block, gefangen gewesen war. Über Walter Pauls Biographie ist noch weit weniger in Erfahrung zu bringen. Michael Becker und Dennis Bock zufolge wurde Paul als Homosexueller in‐ haftiert und durchlebte mehrere KZ auf Reichsgebiet. Laut ihren Recherchen konnten die Archive von Buchenwald und Natzweiler bestätigen, dass die Inhaf‐ tierungsdaten von Paul an vielen Stellen mit den Stationen übereinstimmen, die er in Häftling … X wiedergibt. 656 Es ist zu vermuten, dass Paul unter Pseudonym schrieb, um seine Inhaftierung als Homosexueller zu verschleiern und etwa die Identifikation durch ehemalige Mitgefangene zu verhindern. Unklar ist jedoch, inwieweit die Schilderungen in Häftling-…-X und insbesondere der ein‐ 10.1 Biographische Hinführung 339 657 Dietmar, Häftling … X, 91. Alle Verweise auf diese Textausgabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel Häftling-X. 658 Holm Kirsten, Wulf Kirsten (Hrsg.), Stimmen aus Buchenwald. Ein Lesebuch. Göttingen 2002, 304. deutig politische Hintergrund seiner Hauptfigur eine Überformung von Pauls Haftbiographie als Homosexueller darstellen. Denn laut den Selbstauskünften in seinem Text wurde er bereits 1934 als „verkappter Kommunist“ festgenommen, nachdem er öffentlich Marx- und Engelszitate skandiert hatte. 657 Auch, ob Paul bereits im KZ den Namen eines verstorbenen Häftlings annahm, etwa um die eigene Deportation oder Hinrichtung zu verhindern, oder das Pseudonym erst nach seiner Befreiung für die Publikation von Häftling … X … in der Hölle auf Erden annahm, ist unklar. Der Text schildert den Abschnitt seiner Gefangenschaft ab August 1941 bis zur Befreiung 1945. Paul schildert zunächst die Überstellung in das KZ Natz‐ weiler, wo er den Posten als Kapo eines Arbeitskommandos für Steinarbeiten übernahm. 1944 folgte die Verlegung nach Dachau in das Außenlager „Kalibergwerk Springen“ bei Bad Salzungen und zuletzt der „Evakuierungsmarsch“ nach Buchenwald, wo ihn schließlich die Amerikaner befreiten. 658 Nach dem Krieg war Paul wohl in Erfurt wohnhaft (ebd., 6). Seine Schrift, ebenfalls 1946 erschienen, wurde in zwei Verlagen parallel (mit leicht ver‐ ändertem Titelbild) herausgegeben: in der französischen Besatzungszone im Rheinischen Volksverlag, Mainz, sowie in der Sowjetischen Zone vom Thüringer Volksverlag, Weimar. In letzterem folgte 1948 eine Neuauflage. Arztschreiber in Buchenwald und Häftling … X verarbeiten sehr unterschiedliche Hafterfahrungen, die jeweils andere Lager zu einer anderen Zeit schildern. Ge‐ meinsames und zentrales Moment in beiden Erlebnisberichten ist indessen die Schilderung eines maßgeblich durch die „politischen“ Gefangenen gebildeten Häftlingskollektivs, in welches die beiden Autoren während ihrer Haftzeit integriert werden, sowie die Schilderung dieses Kollektivs als über die Befreiung hinaus wirkende Kraft zur Neugestaltung Deutschlands nach dem Ende des Nationalsozialismus. 340 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X 659 Poller, Arztschreiber, 54 f. Alle Verweise auf diese Textausgabe werden im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel Arztschreiber. 10.2 Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald Arztschreiber in Buchenwald. Bericht des Häftlings 996 aus Block 39 gliedert sich in zwei Teile, die die Entwicklung Pollers vom unwissenden „Zugang“ zum erfahrenen „Konzentrationär“ nachzeichnen. 659 Nach seiner Ankunft in Bu‐ chenwald entdeckt Walter Poller rasch die Existenz einer von der Lagerleitung unabhängigen und sich aus kommunistischen und sozialdemokratischen Häft‐ lingen verschiedener Nationen zusammensetzenden Untergrundorganisation mit maßgeblichem Einfluss in Buchenwald (Arztschreiber, 27). Über verschie‐ dene Bekannte kommt Poller mit diesem Untergrund in Kontakt, die sich in der Folge uneingeschränkt für den langjährigen Sozialdemokraten Poller einsetzen. Der Vermittlung und dem Einsatz des Untergrunds verdankt Poller auch seine Versetzung von einer Arbeitskolonne im Steinbruch, einem der grausamsten Einsatzorte im Lager, in die Schreibstube des Krankenreviers, wo insbesondere seine Maschinenschreibfähigkeit schnell zu schätzen gelernt wird (ebd., 72 f.). Die Tätigkeit dort sowie die weitere Integration Pollers in die Strukturen der Untergrundorganisation bilden den zweiten Teil seiner Schrift. Als Funktionshäftling war Poller in Buchenwald vergleichsweise privilegiert. Er gehörte zur sogenannten Lagerelite, die in der Regel mit besserer Verpflegung und Unterbringung ausgestattet war und darüber hinaus engen Kontakt zur SS, etwa dem SS-Lagerarzt Dr. Ding-Schuler hatte. Arztschreiber in Buchenwald stellt zunächst unmissverständlich klar, dass Poller seine Position im Lager keineswegs zum persönlichen Vorteil nutzte, sondern seine Besserstellung im Gegenteil dazu nutzte, auf jede erdenkliche Weise und unter enormer Gefahr für sich selbst den Patienten zu helfen und gegen die SS zu arbeiten. Es ist auffällig, mit welchen Ausmaßen sich Poller jeden Gedanken an Egoismus verbietet und sein Denken und Handeln auf die Auswirkungen auf andere orientiert. Nach einiger Zeit schwerster Zwangsarbeit im Steinbruch denkt Poller über Suizid nach, verwirft den Gedanken aber aus dem Grund, dass, auch wenn sein eigenes Leid beendet wäre, seine Mithäftlinge aufgrund dessen umso schärfer bestraft würden (Arztschreiber, 69). Für ihn ist es eine „Selbstverständlichkeit“, dem Anderen als guter Kamerad wo möglich zu helfen (ebd., 108). Diese Kameradschaftlichkeit schildert Poller nicht nur als obersten Maßstab des eigenen Lebens, er erwartet diesen auch von seinen Mitgefangenen und kategorisiert sie danach, wie diese sich gegenüber anderen verhalten: 10.2 Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald 341 „Allgemein ließen sich die Schüblinge [Häftlinge auf Transport, J.V.] in zwei Gruppen einteilen. Die eine bestand aus jenen Leuten, deren ganzem Benehmen man deutlich anmerkte, daß sie all die Dinge, die um sie passierten, nur danach beurteilten, wie sie persönlich davon betroffen werden konnten. Ganz anders die zweite Gruppe. Das waren die, die nicht in erster Linie an sich dachten, sondern sich mit den anderen Kameraden zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden wußten. Während die erste Gruppe immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht war, und wäre es auch auf Kosten der Schicksalskameraden gewesen, war die andere Gruppe stets hilfsbereit, erteilte den Unwissenden Auskunft, gab Ratschläge und verbreitete um sich eine Atmosphäre der Ruhe und Gefaßtheit.“ (Ebd., 139) Im Geiste dieser selbstlosen Kameradschaftlichkeit lobt Poller wiederholt das Pflegepersonal in den Krankenbaracken des Lagers. Es sei einzig ihren Versu‐ chen zu verdanken gewesen, den Kranken an den Befehlen der SS vorbei und trotz widrigster Versorgungslage tatsächlich adäquate medizinische Hilfe zukommen zu lassen, etwa sie länger im Revier zu behalten oder vor den Experimenten zu bewahren. „Was diese Häftlinge in selbstloser Arbeit an Schmerzen stillten, an Leiden linderten, an Menschenleben retteten, ist nie festzustellen […]. Das Gebot der Not gab ihnen das Recht. Manchesmal haben sie dabei für ihre Kameraden Kopf und Kragen riskiert, und nicht nur riskiert, sondern auch verloren. Sie waren die unbändige Kraft des Guten, das immer und immer wieder gegen alle furchtbaren Mächte der Finsternis zum Licht vorstößt, tausendmal geknickt, tausendmal zerschmettert, aber ebenso oft und unverdrossen wieder sich erhebend und wirkend.“ (Arztschreiber, 190) Diese Selbstzuschreibung ist verfasst gegen etwaige Vorwürfe gegen die Häftlingspfleger: Aufgrund größtenteils fehlender medizinischer Ausbildung, mangelhafter Anleitung und spärlichster Materialversorgung kam es bei den Behandlungen häufig zu Fehlern. Schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle waren alltägliche Konsequenzen ihrer Pflege. Zudem war das medizinische Häftlingspersonal zwangsläufig an den in Buchenwald durchgeführten Men‐ schenexperimenten der SS beteiligt gewesen. Als Arztschreiber im medizi‐ nischen Block 39 wurde Poller unmittelbar Zeuge der systematischen Miss‐ handlungen und Vernachlässigungen der Patienten sowie der medizinischen Experimente der SS-Ärzte. Durch seine Arbeit, die u. a. im Fälschen von Akten bestand, war Poller aber auch selbst an der Vertuschung der Gräuel beteiligt (ebd., 94 f.). Unfreiwillig ist er zum Geheimnisträger „dunkle[r] Ange‐ legenheit[en]“ geworden (ebd., 88). Dagegen stellt Poller fest, dass das Handeln der Pfleger, motiviert durch das „Gebot der Not“, nichts Geringeres offenbare als die „Kraft des Guten“. 342 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X In den Bestimmungen der Haft offenbart sich Poller ein wesentlicherer Konflikt: Im Gegeneinander von SS und Häftlingen manifestiere sich das Ringen von Menschlichkeit gegen die diese Menschlichkeit schändende Barbarei. Be‐ sonders deutlich wird diese Überhöhung anhand des Falls des Häftlings Julius Meier. Der jüdische Häftling soll nach einem Verstoß gegen die „Nürnberger Rassegesetze“ sterilisiert werden, eine Operation, die formell der Unterschrift unter ein Sterilisationsgesuch bedarf. Die SS versucht, Meier mit Prügeln zum Unterzeichnen zu zwingen, doch dieser weigert sich: „Als Meier das Blut aufgewischt hat, nimmt er wieder gerade Haltung an und blickt unverwandt, wie ein Standbild fast, auf den Lagerarzt. Ich sehe deutlich, wie er sich strafft, die Brust herausdrückt und den Kopf leicht in den Nacken wirft, als trüge er nicht nur den eigenen Stolz, sondern in urewigem Auftrag zu seinem Teil auch den Stolz jenes Menschentums, das man, solange es eine nach Glück und Frieden ringende Menschheit gibt, immer und immer wieder ans Kreuz schlug.“ (Arztschreiber, 111) Im religiös aufgeladenen Bild der Kreuzigung werden die Häftlinge in Bu‐ chenwald zu Märtyrern, an denen sich die Barbarei des Nationalsozialismus niederschlägt. Das individuelle Opfer Julius Meier, der trotz der Versuche der Pfleger stirbt, steht für Poller als Indiz für die Negation von Humanität durch die nationalsozialistische Gewalt. Gegenüber dieser Verneinung arbeiteten die Pfleger, und unter ihnen Poller selbst, an nichts Geringerem als der Bewahrung des Menschentums. Ihre Arbeit ist den Mitgefangenen mehr als nur unmittelbare praktische Hilfe und Lebensrettung. In einem Umfeld systematisch durchgeführter Gewalt handelten sie entlang eines von den Zuständen im Lager nicht zu unterdrückenden ideellen Grundsatzes: „Was wir da taten, taten wir für unsere Kameraden. […] Denn in uns war ein Gesetz lebendig, so stark, so elementar, so kategorisch, daß es nichts gab, was sich ihm nicht unterordnete! Ich glaube, hätte man uns alle totgeschlagen, dieses Gesetz wäre doch am Leben geblieben. Wie mancher hat sein Leben in Buchenwald hingegeben, weil ihn das ‚moralische Gesetz‘ in ihm ‚zwang‘, seinen Kameraden uneigennützig zu helfen! “ (Arztschreiber, 201) Indem sie diesem ungeschriebenen Gesetz folgen, machen sich die Pfleger zu Instanzen der im Lager negierten, doch universell gedachten Humanität. Dadurch gelingt ihnen nicht nur die Rettung zahlreicher Häftlinge gegen die Tötungsabsicht der SS, durch die Bewahrung dieses Wesenskerns bleiben sie selbst in der alle Menschlichkeit nivellierenden nationalsozialistischen Gewalt als Subjekte bestehen. 10.2 Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald 343 660 Arztschreiber in Buchenwald ist ein aus der zeitlichen Distanz reflektierender Bericht, der u. a. Prolepsen und ausführliche Erzählerkommentare enthält. Teil dieser Poetologie ist auch das Einstreuen von Episoden, die den Standpunkt eines unmittelbaren Erlebens einnehmen, um das Unbekannte und Ungewöhnliche des Lageralltags hervorzuheben. Diese Episoden zeichnen sich durch Narration im historischen Präsens, die Betonung der emotionalen Reaktionen des Protagonisten sowie die Unkenntnis der Zusammen‐ hänge des Geschilderten aus. Wiederholt schildert der Text zudem Dialoge, in denen der Protagonist den Standpunkt einer mit seinem Publikum geteilten Unwissenheit über das Lager einnimmt und über dessen Zusammenhänge informiert wird. Vgl. Arztschreiber, 14-18, 50f. 10.2.1 Skepsis - Überzeugung - Integration. Die Dialektik des politischen Kollektivs Diese Darstellung hat zunächst die Dimension der Selbstrechtfertigung eines durch seine vergleichsweise privilegierte Zwangsarbeitsposition „Belasteten“. Seine Stilisierung der Häftlinge zu Instanzen des verneinten Humanismus zielt indessen auf ein größeres Kollektiv, als dessen Teil Poller agiert. Bei seiner Ankunft in Buchenwald ist Poller erstaunt über die internen Hierarchien der bis zu einem gewissen Grad selbst organisierten Häftlingsgemeinschaft. 660 Zur Zeit von Pollers Einlieferung in Buchenwald hatten die politischen Häftlinge viele der einflussreichsten Führungspositionen an Schlüsselstellen des Lagers inne und verfügten so über maßgeblichen Einfluss etwa bei der Einteilung der Arbeitskommandos. Poller selbst erhält als „Politischer“ rasch Zugang zu dieser Führungsschicht, der er auch den vergleichsweise sicheren Posten als Arztschreiber verdankt. Nachdrücklich legt er sich die Frage vor, warum die po‐ litischen Häftlinge in erster Linie Gefangene der eigenen Häftlingsgruppierung unterstützten, eine Praxis, die scheinbar konträr zu Pollers altruistischem und zudem durch seine politische Sozialisation gestiftetem Wertekosmos verläuft: „Aber warum werden hier nur die Politischen bevorzugt? Sind jene Violetten, Schwarzen, Grünen usw. nicht auch Menschen, nicht im tiefsten Grunde genau solche armen Schächer wie wir Roten? Ja, verstößt diese Bevorzugung nicht gegen alle unsere Grundsätze? Habe ich nicht hundertfach und mehr erfahren, daß jeder wahrhaft politische Mensch zuerst an seine Mitmenschen und in allerletzter Linie erst an sich selbst denkt? Wer gibt hier wem das Recht, solche Bevorzugung zu organisieren? “ (Arztschreiber, 27, vgl. 51) Noch unvertraut mit den internen Regeln und Machtstrukturen im Lager befürchtet Poller, dass die für ihn verbindlichen Regeln von Moral und Kame‐ radschaft unter den Mitgliedern seiner eigenen Häftlingsgruppierung nicht mehr gelten. Gegen den implizit bestehenden Vorwurf des Missbrauchs ihrer 344 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X Führungsposition innerhalb der Lagerhierarchie kontert Poller indessen unmit‐ telbar anschließend: „Nun, noch weiß ich keine ausreichend gerechtfertigte Antwort, aber ich zweifle nicht daran, daß sie mir eines Tages gegeben wird.“ (Ebd., 27) Auch wenn er selbst die Antworten auf die scheinbare Bevorzugung nicht kennt, äußert er doch bereits die Sicherheit, dass es eine solche, alle Zweifel ausräumende gibt. Die auffällige Platzierung seiner Fragen sowie der sich noch im Unklaren bewegenden Antwort Pollers weist bereits darauf hin, dass sich Arztschreiber in Buchenwald zentral mit der Aufklärung seiner Verwunderung und damit der Stellung des politischen Untergrunds innerhalb der Lagergemeinschaft befasst. Je weiter Poller in die Strukturen des Lagers hineinwächst, desto eindeutiger wird das Bild der „Politischen“ als tatkräftig für das Wohl aller Gefangenen arbeitenden Kollektivs. Im Handlungsverlauf lernt Poller immer mehr Mitglieder der Untergrundor‐ ganisation kennen, gewinnt das Vertrauen ihrer Leiter und wird schließlich selbst Teil ihres internationalen Führungskomitees. „Ich mußte erst selbst organisch in das stumme, ehrgeizlose, nur im schweigsamen Pflichtbewußtsein verankerte Heldentum der Lagerelite hineinwachsen, um hier alle Zusammen‐ hänge zu erfassen.“ (Arztschreiber, 73) Aus dieser gefestigten Position heraus kann Poller Antwort geben auf die augenfällige Übervorteilung politischer Häftlinge: „In dieser Situation waren wir politischen Häftlinge, die wir im nationalsozialistischen Konzentrationslager durch Zufall, Glück und unser Menschentum die Möglichkeit unter dem Einsatz unseres eigenen Lebens hatten, einem Häftling zu helfen oder ihn am Leben zu erhalten. Aus diesem Grunde allein halfen sich die politischen Häftlinge in erster Linie gegenseitig, was aber keineswegs hieß, daß Häftlingen aus anderen Kategorien nicht auch von uns geholfen wurde. Und häufig genug ist die Entscheidung zugunsten eines Schwarzen oder eines Grünen gegen einen Roten gefallen, der sich als Schweinehund im Lager erwiesen hatte. Es war die Regel, daß unter den politischen Häftlingen das bessere, das wertvollere Menschenmaterial vorhanden war, und aus dieser Erfahrungstatsache hatte sich das oberste ungeschriebene Gesetz im Lager entwickelt: Zuerst der Politische! Aber wir wären nicht die gewesen, die wir waren, hätten wir nicht mit strenger Selbstkritik auch unter den Politischen die Echten von den Gemachten, die Spreu vom Weizen gesondert.“ (Ebd., 75) Einigen Ausnahmen zum Trotz gelte im Lager die Regel, dass die „Politischen“ gegenüber den anderen Häftlingsgruppierungen überhaupt nach moralischen Gesichtspunkten handelten und darum das „wertvollere Menschenmaterial“ darstellten. Inmitten der individuellen Betroffenheit der anderen bewahren diese Häftlinge Haltung. „Ich habe den Eindruck“, so Poller, „daß sich diese 10.2 Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald 345 Häftlinge hier bei weitem nicht so gehen lassen, daß sie sich offenbar gegen das Schicksal stemmen, das über sie gekommen ist, daß sie sich nicht selbst aufgegeben haben.“ (Ebd., 32) Es verstoße gegen ihren unverrückbar schei‐ nenden inneren Wertekanon, sich im Lager etwas „Unehrenhaftes“ zuschulden kommen zu lassen (ebd., 180). Aufgrund dessen befänden sie in der Position, die Mitgefangenen nach deren Integrität zu beurteilen und entsprechend zu fördern oder kaltzustellen. Die Platzierung von politischen Häftlingen auf Schlüsselpositionen im Lager sei somit die logische Konsequenz, da einzig sie ihre Stellung nutzten, um anderen zu helfen. Die Bevorzugung der eigenen Häftlingsgruppierung offenbart sich so als verantwortungsvolle, ja notwendige Führungsübernahme und beste Option, für das Wohl aller Gefangenen zu arbeiten. Beglaubigt wird dies durch interne Mechanismen der Selbstkontrolle, etwa auch gegen Mitglieder der eigenen Gruppierung vorzugehen. Auch Pollers wiederholte Selbstbefragungen sind ein Modus dieser Legitimationsstrategie. Als Teil des politischen Kollektivs empfindet Poller es als Bereicherung, „nicht nur persönlich, sondern auch im organisierten Zusammenwirken mit Gleichgesinnten meine Pflicht“ zu erfüllen (Arztschreiber, 27). Diese Pflicht, der sich die Mitglieder des politischen Kollektivs freiwillig unterordnen, ist als ideeller Auftrag fraglos legitimiert. Untrennbar verbunden mit ihrem Einsatz im Namen des im Lager verneinten Humanismus ist die Widerstandsarbeit gegen die SS und die Unterwanderung der von den Nationalsozialisten ausgehenden Gewalt. Die Aktionen der „Politischen“ garantierten, „den Kampf gegen das na‐ tionalsozialistische Verbrechen auch noch im Konzentrationslager“ fortzusetzen (ebd., 54). Unter den „auch im Lager noch politisch Aktiven“ fiel das Agieren für Humanismus und der Widerstand gegen die NS-Herrschaft als „kategori‐ sche[r] Imperativ“ zusammen (ebd., 207). Poller hält fest, dass Antifaschismus und Weltanschauung die stärksten Quellen der „Politischen“ gewesen seien, nicht nur selbst „die grausamen Dinge durchzustehen“, sondern auch „bis zur letzten Stunde die Möglichkeiten auszunutzen, die mir meine am Ende immer einflußreicher gewordene Stellung im Interesse vieler Leidensgefährten bot.“ (Ebd., 221, 223) Die ideelle Vorrangstellung des politischen Kollektivs ist flankiert von den praktischen Erfolgen ihrer Arbeit. Ihnen gelingen das Installieren und Unter‐ halten einer stabilen Organisation unbemerkt von der SS. Dieser gelingt die Rettung zahlreicher Häftlinge, die versorgt, versteckt oder anderweitig der Lagergewalt entzogen werden. Nach dem gescheiterten Attentatsversuch Georg Elsers auf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller am 8. November 1939 verübte die SS „Vergeltungsaktionen“ gegen jüdische Insassen in Buchenwald, was im 346 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X gesamten Lager Angst auslöst. Einzig der politische Untergrund ist davon nicht betroffen, organisiert besonnen Abwehr- und Schutzmaßnahmen und nimmt das Ereignis sogar zum Anlass für das Überdenken von aktivem Widerstand: „Während der größte Teil der Lagerinsassen in völlige Apathie absinkt, beginnt es in vielen Häftlingsaugen zu flackern. Der Mut der Verzweiflung steht langsam auf. Meine Gesinnungsfreunde kommen nachts zu mir. Wir besprechen die Lage, und allmählich wächst unser Entschluß immer klarer und eindeutiger aus den tiefsten Schächten unseres Lebenswillens und unserer politischen Überzeugung: Wir dürfen uns nicht wehrlos hinmorden lassen. Wir müssen irgend etwas tun, irgend etwas, und wäre es nur ein letzter, verzweifelter Schritt ins Nichts. Ein letzter Schritt zwar, aber doch ein Schritt, der uns vor uns selbst rechtfertigt und der unsere Sache, die Sache der Menschheit und der Menschlichkeit, dermaleinst vielleicht nur als Bericht zu fördern vermag.“ (Arztschreiber, 135) Noch dieses potentielle, letzte Aufbegehren der Häftlinge gegen die drohende Vernichtung durch eine groß angelegte Tötungsaktion der SS überhöht Poller als Akt der Menschlichkeit, der als oberster Wert alle Gedanken und Handlungen der „Politischen“ bestimme. Indem die politischen Gefangenen das Streben für den Humanismus als geteilten Wert ihrer Gemeinschaft entdecken und sich auf diese universelle Ver‐ bindlichkeit verpflichten, gelingt ihnen die Überwindung interner Konflikte und parteilicher Differenzen. Unter die Häftlingsgruppe der „Politischen“ sortierten die Nationalsozialisten verschiedene Personen: Kommunisten, Sozialisten, So‐ zialdemokraten, aber etwa auch ehemalige NS-Funktionäre (Arztschreiber, 27). Poller hält als Qualität der Gemeinschaft der verschiedenen Gruppierungen des politisch linken Spektrums fest, ihre internen Friktionen zugunsten der Untergrundarbeit und somit der Verbesserung der Lage aller beizulegen. Der Häftling Hans „Hannes“ Schulenburg etwa hilft Poller trotz früherer Meinungs‐ verschiedenheiten in „politischen Dinge[n]“ und „erweist sich in allem als guter Kamerad“ (ebd., 35). Programmatisch schildert der Sozialdemokrat Poller die Notwendigkeit zur Überwindung interner politischer Differenzen im Gespräch mit dem Leipziger Kommunisten Rudi Opitz: „Wir sind beide durchdrungen von der Notwendigkeit, daß über alle früheren politi‐ schen und weltanschaulichen Gegensätze hinweg eine einheitliche, von den edelsten und größten Idealen der Menschheit getragene Bewegung notwendig sei, um den Trümmerhaufen zu liquidieren, den der Nationalsozialismus mit Naturgesetzlichkeit herbeiführen muß. Er glaubt ebenso fest wie ich an den endgültigen Sieg des Guten im Menschen. Er ist genau so wie ich bereit, dermaleinst mit ganzer Kraft mitzutun, 10.2 Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald 347 661 Röll, Sozialdemokraten, 224-227. wenn es gilt, den Nazismus auszurotten und der Menschheit ein würdiges, gerechtes, wohnliches Haus zu zimmern.“ (Ebd., 96) Die Lagergewalt stiftet in den humanistischen Kräften die Einsicht zur Notwen‐ digkeit, sich auf diese geteilte Verbindlichkeit zu besinnen. Die negative Be‐ stimmung der Buchenwalder Zwangsgemeinschaft offenbart sich so als Quelle einer positiven Erkenntnis. Aus diesem Grund bleibt die Zusammensetzung der Untergrundorganisation bewusst diffus. Bereits 1945 hatte Poller eine Erklärung vorgelegt, in welcher er detailliert über seine Tätigkeiten im Buchenwalder Untergrund informierte. Laut dieser war er Teil der Gruppe „B“, benannt nach ihren Treffen im Baubüro des Lagers, und zeitweise Vorstand der Gruppierung „Revolutionärer Sozialisten“ gewesen. 661 In Arztschreiber in Buchenwald jedoch legitimiert Poller das politische Kollektiv abseits derartiger ideologischer Selbst‐ zuschreibungen als Gruppe, die alle antifaschistischen Kräfte im Lager umfasste. Pollers Legitimation der politischen Elite zielt sowohl nach innen auf ihre Führungsrolle gegenüber anderen Häftlingsgruppen, weist aber auch über das Lager hinaus. Das Gespräch mit Rudi Opitz verdeutlicht, dass das Wirken dieses Kollektivs als Eintreten für eine menschliche Welt mit einem Universalitätsan‐ spruch versehen ist. „Mein heißester Herzenswunsch“, so Poller, „ist seit Jahr und Tag die gewaltlose Gemeinschaft alles dessen gewesen, was Menschantlitz trägt.“ (Arztschreiber, 70) Damit verbunden ist eine eindeutige Teleologie des (politischen) Opfers als Bedingung der Möglichkeit für die Überlebenden, am Aufbau einer besseren Welt mitzuarbeiten. „Und wenn auch Tausende unserer Besten qualvoll gestorben sind und ermordet wurden, viele andere können heute nur noch deshalb an einem besseren, würdigen Menschheitsgebäude mitwerkeln, weil sie ihre Leben allein der Solidarität zu ver‐ danken haben, die selbst im Tornado des Konzentrationslagers nicht unterging und sich bewährte.“ (Ebd., 76) Als Träger des Humanismus schildert Poller die „Politischen“ als prädestiniert, die Führungsrolle, die sie im Lager ausübten, auch nach der Befreiung auszu‐ üben. Allein sie garantierten für die Nichtkontinuität der nationalsozialistischen Gewalt, insofern sie die Achtung, Fürsorge und den Schutz des Individuums auch in den neuen Verhältnissen gewährleisten. 348 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X 10.2.2 Der Nukleus des Humanen in der zurückgehaltenen Lagergemeinschaft Die „Politischen“ treten als Träger des im Lager verneinten Humanismus und mit dem Selbstverständnis auf, diesen universell geglaubten Wert auch nach Ende des Lagers durchzusetzen. Es wird jedoch deutlich, dass die Bezugsgröße dieses Anspruchs die staatliche Manifestation der Nation ist und sich im Wunsch nach Mitbestimmung beim Wiederaufbau Deutschlands niederschlägt. Für Poller ist die Nation maßgebliches Identifikationsmoment, weshalb die in ihrem Namen installierte Lagergewalt für ihn eine persönliche Beleidigung darstellt: „Mein Vaterland heißt Deutschland, und wird immer nur Deutschland sein! “ (Arztschreiber, 101) Indessen identifiziert Poller in den Lagern Indizien für Entwicklungen im gesamten Land. In Buchenwald zeige sich das „unge‐ schminkte Antlitz des Nazismus“. Doch wenn auch „nicht so grauenhaft“, seien die Situationen in Lager und Außenwelt „im Grunde genau dieselben“ (ebd., 78). Poller offenbart sich die Verneinung des Humanismus als Charakteristikum nationalsozialistischer Herrschaft überhaupt und somit als Gewalt, die sich gegen alle Deutschen gleichermaßen richtete: „Das, was der wissende Mensch von ganz Deutschland feststellen konnte, wenn er von einer hohen Warte in den zwölf Jahren des Grauens auf Deutschland niederblickte, dieses Absterben jedes individuellen Wertes, hier in Buchenwald konnte er es bis zur letzten Konsequenz verwirklicht feststellen. Und es gab nur noch ein einziges Ereignis, das diesen Zustand an Gleichmacherei noch übertraf. Das war die grauweiße Asche der verbrannten Häftlinge; die Asche, die man als Düngemittel an den deutschen Bauern verkaufte------“ (Ebd., 202) Entsprechend zielt Pollers Forderung an das sich im Lager offenbarende Kollektiv auf einen gesellschaftlichen Wandel auf die Konstituierung einer nationalen Gemeinschaft, eines Volkes im Sinne der geteilten Verpflichtung auf einen universellen Wertekosmos: „Wie schwer aber wird es sein, das Gewissen Deutschlands wachzurütteln und wach - - zu erhalten! ! […] Jeder Mensch ist nur zu gern geneigt, seine Augen vor einem schaudervollen Abgrund zu verschießen. Hier aber ist es dringendstes Gebot der Stunde, daß das deutsche Volk die Augen für alle Zeiten aufreißt, denn nur so kann es sich wandeln! “ (Ebd., 197, Herv. im Orig.) Wo vor der Inhaftierung und außerhalb des Lagers politische Differenzen die verschiedenen linken Gruppierungen bestimmten, offenbart sich innerhalb der Notgemeinschaft des Lagers ein Kollektiv, das gemeinschaftlich für die Sache der Menschheit arbeitet. Indem die politischen Gefangenen diese Hal‐ 10.2 Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald 349 tung auch im Lager bewahren können und als geteiltes, übergeordnetes Ideal entdecken, sind sie auch über die Lagergrenzen hinaus als Durchsetzende des im Nationalsozialismus verneinten Humanismus legitimiert. Poller selbst wird 1940 aus Buchenwald entlassen, womit seine Lagerdarstellung endet. Zu diesem Zeitpunkt bleibt das Wirken der antifaschistischen Gemeinschaft auf die Verhältnisse in Buchenwald beschränkt. In Arztschreiber in Buchenwald kann sie ihre Wirkung nur auf die Häftlinge selbst und deren Durchhaltevermögen gegenüber dem Lager entfalten. Bei Pollers Entlassung sagt ihm einer der Mitgefangenen: „Walter, ich weiß nicht, ob sie dich freilassen. Ich wünsche es dir. Aber gleichviel! Ich muß dir zum Abschied sagen: was du hier getan hast, hat mir den Glauben an das Gute im Menschen wiedergegeben.“ (Arztschreiber, 227) Die von den politischen Gefangenen verkörperte Menschlichkeit ist auch am Ende von Pollers Text ein gefangener, ausharrender Nukleus des Neuen, der sich bereithält und vorbereitet für den anstehenden Wandel in Deutschland nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Anders in einem zweiten, zur gleichen Zeit publizierten Text eines politischen Gefangenen, bei dem die als künftige Führungsriege prädestinierte Opferschar nach der Befreiung tatsächlich nach außen in das wiederaufzubauende Deutschland strömt. 10.3 Das Kollektiv als Vollbringer von Recht und Gerechtigkeit in Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden In Arztschreiber in Buchenwald schildert Poller die moralischen Grundsätze Kameradschaftlichkeit und Humanität als die maßgeblichen Kriterien einerseits des eigenen Tuns wie andererseits der Beurteilung seiner Mitgefangenen. Ent‐ lang dieses Maßstabs entscheidet sich, wer zum „wertvollen Menschenmaterial“ gehört und wer nicht. In diese zweite Gruppe fallen für Poller insbesondere die Kapos der Arbeitskommandos. Auch wenn er einige wenige Ausnahmen zeigt (etwa Arztschreiber, 56 f.), hätten diese Funktionshäftlinge in der Regel ihre relative Macht über die Mitgefangenen zum eigenen Vorteil ausgenutzt und sich als willige Helfershelfer der SS gegen Gemeinschaft und Humanität verwendet. Als Profiteure des Lagers diskreditieren sich diese Häftlinge für Poller in ihrem Menschsein: „Dort geht der Kapo. Fraglos, das ist einer von jener Sorte Mensch, die es nicht wert ist, den Namen Mensch zu tragen.“ (Ebd., 45) Mit Pauls „Udo Dietmar“ verschriftlichte ein NS-Opfer seine Hafterlebnisse, das ebenjener Gruppe von Funktionshäftlingen angehörte, die die meisten 350 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X 662 Siehe Kap.-5.1. Häftlinge als brutale Schinder erlebten und in Erinnerung behielten. 662 Bereits kurz nach seiner Einlieferung in KZ Natzweiler wurde Dietmar zum Vorarbeiter einer Arbeitskolonne, später zum Kapo ernannt (Häftling-X, 45, 105). Aufgrund dieses Postens und der damit assoziierten Eigenschaften Machtmissbrauch, Brutalität und Willkür prononciert Häftling … X den Aspekt individueller Selbstrechtfertigung weitaus stärker als Pollers Text. Über weite Teile schildert Häftling … X die Bemühungen seines Protagonisten als Einzelperson, seinen Posten zum Wohl der ihm unterstellten Gefangenen zu nutzen. Auch Pauls „Dietmar“ gibt an, dass für ihn die Verbindlichkeiten mora‐ lischer Werte die maßgeblichen Bezugspunkte seines Daseins bilden. Kame‐ radschaftlichkeit und uneingeschränkte Hilfsbereitschaft schildert er als die Motivationen seines Handelns auch im Lager, nach denen er versucht, seine Mitgefangenen zu unterstützen. Seine Gefangenschaft ist geprägt von der Maxime: „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz, geteilte Freude ist doppelte Freude. Wir kannten kein ‚bitte‘ und kein ‚danke‘, das waren für uns Begriffe einer vergangenen Welt.“ (Häftling X, 83) Aufgrund dessen bedeutet bereits seine Ernennung zum Kapo eine Drohung für ihn, nämlich als Helfershelfer seitens der SS missbraucht und seitens der Mithäftlinge missverstanden zu werden. Entsprechend ist die Aussicht auf diesen Posten begleitet von Zweifeln und Ängsten, typographisch unterstrichen durch Absätze hinter jedem der quälenden Gedanken: „Es war bald Feierabend. Der neue Gedanke beschäftigte mich stark. Ab morgen bist du hier Hilfscapo oder Vorarbeiter unter den Kameraden. Kannst du das jemals verantworten? Kannst du tun, was du gerne möchtest? Nein! Mein Gott, was machst du bloß? Du sollst den Knecht spielen für die SS! Du sollst den Kameraden das Beste rauben, was sie noch besitzen, ihr bißchen Kraft? Eine harte Probe, eine schwere Frage, die an mich unter dem brutalen Druck der SS-Befehle herantrat. Doch ich hatte mich entschieden und sagte mir: Du tust nur das, was du mit dir und deinem Gewissen vor Gott und den Menschen verantworten kannst. Mögen sie dann mit dir machen, was sie wollen! Im Lager teilte ich den verantwortlichen Kameraden meinen Entschluß mit. Sie hießen ihn gut.“ (Ebd., 45 f.) 10.3 Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden 351 663 Die „Operation Todt“ war eine paramilitärische Bautruppe unter der Leitung des NS-Rüstungsministeriums. Gegen Kriegsende organisierte die „OT“ verschiedene Rüs‐ tungs- und Schutzprojekte sowie die Verlagerung kriegswichtiger Industrie untertage, wofür auch Lagerhäftlinge eingesetzt wurden. Bereits seit Beginn seiner Haft ist Dietmar in die Strukturen einer Untergrundor‐ ganisation eingebunden, die, ähnlich wie bei Poller, aus politischen Gefangenen besteht und diesen bevorzugt zu Schlüsselpositionen in den Arbeitskommandos verhilft. Für Dietmar selbst ist die Ernennung zum Kapo aber zunächst eine Belastung: Er reflektiert seine neue Stellung als Bürde sowohl gegenüber der SS, der er als Vorarbeiter nun direkt Rechenschaft über die Arbeitsleistung schuldet, wie den übrigen Gefangenen, die er vor der harten Zwangsarbeit im und um den Steinbruch schützen will. Hinzu kommt das Kalkül der SS, die die Vorarbeiter ganz bewusst gegen die ihnen unterstellten Gefangenen ausspielt. So wird der Posten für Dietmar zur persönlichen Gesinnungsprüfung: „Wiederholt trat damals die Versuchung an mich heran! Würde ich der Bestie von Kommandoführer nur ein einziges gutes Wort geschenkt haben, hätte ich jeden Mittag ein Liter dieser kräftigen SS-Kost gehabt. Doch der Preis war zu hoch. Ich hätte mich selbst, mein eigenes Ich, dafür opfern müssen.“ (Ebd., 49 f.) Da Dietmar die Verbindlichkeiten eines verinnerlichten Wertekosmos auch im Lager als die Dominanten seines Tuns achtet, gelingt ihm in seiner Tätigkeit als Kapo die Balance auf dem schmalen Grat zwischen Arbeitssoll und der Scho‐ nung seiner Arbeiter. In seinem Arbeitskommando wird niemand geschlagen oder schikaniert; die Mitgefangenen arbeiten im Geiste seiner Führung, insofern sie verstehen, dass sie sich dem Zwang unterzuordnen haben, damit kein Einzelner oder sie alle besonders hart gequält oder getötet werden (Häftling-X, 105-117). Dietmar offenbart sich so als einer der wenigen Kapos, die fähig sind, einerseits die SS zufriedenzustellen und andererseits Verantwortung zu übernehmen für die ihm Untergebenen. Inmitten grausamer Zwangsarbeit legitimiert sich Dietmar so als besonnener Verteidiger der Menschlichkeit. 10.3.1 Verfechter rechtsstaatlicher Ordnung in systematischer Willkür Tatkräftig verteidigt Dietmar sein Arbeitskommando gegen Übergriffe der SS. Seine Verteidigungen sind jedoch nicht nur praktischer Art, er macht sich auch stark gegen Vorwürfe der Kriminalisierung. Im weiteren Handlungsverlauf wird Dietmar Kapo eines Arbeitskommandos, das für die „Operation Todt“ 663 in unterirdischen Anlagen am Bau der „V1“- und „V2“-Raketen eingeteilt ist. 352 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X 664 „Meister“ war innerhalb der „OT“ ein höherer Mannschaftsgrad. Einer der „OT-Meister“ 664 schikaniert die Häftlinge, woraufhin Dietmar ihn in die Schranken weist und ihm zudem entgegenhält: „Im übrigen sind wir keine Sträflinge, sondern Häftlinge, auch keine Hunde, Biester und so weiter, sondern vielleicht wertvollere Menschen als Sie! […] Im übrigen glaube ich annehmen zu müssen, daß sie sich über uns ein ganz verkehrter Bild machen in bezug auf Verbrecher und Staatsverbrecher, aber darüber mit Ihnen zu sprechen, ist mir offiziell verboten […].“ (Häftling-X, 109, 111) Dietmar betont, dass es sich bei den Insassen mitnichten um Verbrecher, sondern um zu Unrecht gefangen Gehaltene handelte. Mehrfach wiederholt er angesichts der Lagergräuel: „Was habe ich verbrochen, daß man mich, daß man uns so behandelt, fragte ich mich.“ (Ebd., 27, vgl. 119) Zentraler Aspekt der in Häftling … X ausgebreiteten Deutung des NS-Fa‐ schismus ist dessen Identifikation als das Recht verneinende Gewalt. Tausend‐ fach, so Dietmar, habe der Nationalsozialismus Menschen „zu Unrecht“, also ohne Gerichtsverfahren, nach Abbüßung von Haftstrafen oder unter extremer Dehnung der Rechtsbegriffe in den Lagern inhaftiert. Dennoch gelten diese Menschen unter der NS-Herrschaft als „Verbrecher“, die aufgrund ihrer ver‐ meintlich schädigenden Wirkung auf die „Volksgemeinschaft“ umerzogen oder aus ihr aussortiert werden müssten. Derart wichtig ist ihm die Auseinanderset‐ zung mit dem als Unrecht aufgefassten NS-Recht, dass Dietmar in Häftling … X nachsinnt, „später in einem anderen Buch die Begriffe Recht und Unrecht in Nazi-Deutschland näher zu beleuchten.“ (Häftling X, 118) Dietmar tritt auf als Träger verinnerlichter Rechtsansprüche, der auch das an ihm selbst exekutierte Recht anerkennt, insofern er die Begründungen dafür nachvollziehen kann. Deutlich wird dies anhand der Schilderung seiner von mit Anklagen und Verurteilungen durchzogenen Biographie: „Es war mein Wunsch, schon so früh wie möglich aus eigener Kraft etwas zu leisten, und ich glaubte, daß meine bereits vorhandenen Energien als Grundlage für eine spätere im Großen aufbauende Tätigkeit schon ausreichten. Leider war das nicht der Fall. Ich hatte mich überschätzt, kam, ohne daß ich es wollte, mit den bestehenden Ge‐ setzen in Konflikt und wurde bestraft, wobei eine Reihe unglückseliger Umstände eine verhängnisvolle Rolle spielten. […] Man hat mir später die Freiheit wiedergegeben. Doch trotz ernsthafter, ehrlicher Versuche war es mir von diesem Zeitpunkt ab nicht mehr möglich, ein neues Leben auf gesunder materieller Grundlage aufzubauen. Denn die primitivsten Rechte, die man jedem Staatsbürger selbst im Dritten Reich noch zubilligte, blieben mir versagt.“ (Ebd., 91) 10.3 Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden 353 Im biographischen Abriss unterscheidet Dietmar zwischen einer ersten Verhaf‐ tung und seiner folgenden Behandlung als Vorbestrafter. Während er den ersten, immerhin nicht absichtsvollen Rechtsübertritt und seine Verurteilung als im Rahmen eines Ausgleichsverhältnisses von Verbrechen und Strafe akzeptiert, wehrt er sich gegen seine Behandlung als rechtsloses Subjekt. Als Vorbestrafter, der zudem als politisch Aktiver unter Beobachtung der Gestapo stand, habe Dietmar außerhalb des Rechts gestanden. Im Lager kulminiert diese Rechtlosigkeit in der Willkür der SS gegenüber den Häftlingen, die dieser ohne den Rückhalt einer Rechtsinstanz gänzlich ausgeliefert waren. Bei Ankunft im Lager konstatiert Dietmar: „[H]ier waren wir unter nationalsozialistischer Gewalt, brutalem Mordterror und vollkommen rechtlos.“ (Häftling-X, 39) Wiederholt rekurriert er im weiteren Handlungsver‐ lauf auf verbindlich geglaubte Aspekte der Rechtspraxis, etwa wenn er bei der Tötung von Häftlingen durch Hängen am Galgen das Fehlen formaljuristischer Momente unterstreicht: „Es wurde kein Todesurteil verlesen, keinem ein Wort gegönnt.“ (Ebd., 57, Herv. im Orig.) Im Lager erkennt Dietmar nicht nur ein Fehlen von Rechtsinstanzen, sondern die konsequente Verneinung von Recht, die den Häftlingen jedes Moment von Orientierung entlang eines verlässlichen Normenkatalogs verunmöglicht. Die Negation erkennt Dietmar als Charakteristikum nationalsozialistischer Herrschaft auch außerhalb der Lager. Der Nationalsozialismus sei ein großer „Betrug“ gewesen, der die Bevölkerung mit einer Fassade aus rauschenden Festakten und kalkulierter „Ekstase“ belogen habe (Häftling-X, 69). „Im ‚Tausendjährigen Reich‘ wurde gelogen, raffiniert gelogen, und nochmals gelogen. Wenn schon damals ein Goebbels sagte, daß lügen an und für sich keine Kunst wäre, sondern daß ‚interessant lügen‘ diese Bezeichnung verdiene, so waren die damaligen Führer Deutschlands nicht nur Künstler, sondern Genies auf diesem Gebiete. Diese ‚genialen‘ Verbrecher haben genügend Proben ihres Könnens im Schwindeln abgelegt. Sie haben so gemein gelogen, mit Scheinbeweisen ihre Lügen argumentiert, daß nicht nur der Gutgläubige, sondern auch mancher Skeptiker ihre Unwahrheiten als Wahrheit hinnahm.“ (Ebd., 71) Im Bereich des Rechts habe die NS-Führung planmäßig und systematisch daran gearbeitet, juristische Strukturen zugunsten staatlicher Willkür außer Kraft zu setzen. „Die Rechtsprechung in Nazi-Deutschland war ein dehnbarer Begriff. Sie sollte an‐ geblich auf dem Rechtsempfinden des Volkes basieren. Man schuf ein neues Recht, das man das ‚deutsche‘ Recht nannte. Das Zivil- und Strafrecht beruhte dementsprechend auf einer Basis, die mit Menschenrecht im Grunde genommen überhaupt nichts mehr 354 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X zu tun hatte. Der Strafvollzug, der […] auf den Grundsätzen der Humanität fußte […], wurde von den Nazis auf Grund ihrer an den Haaren herbeigezogenen wahnsinnigen Weltanschauung kurzerhand umgestoßen und dafür ein Strafvollzug der Vergeltung in Kraft gesetzt.“ (Ebd., 118) Die vorige Rechtsordnung der Weimarer Republik erkennt Dietmar als auf den Grundsätzen der Humanität aufbauend an, was heißt, dass diese dem Subjekt als ihm entsprechend deutbar gewesen war. Das NS-Recht dagegen, das sich gerade als „völkisch“, also als Ausdruck der verinnerlichten Rechtsansprüche eines jeden und einer jeden der „Volksgemeinschaft“ präsentierte, verunmöglichte diese freiwillige Selbstverpflichtung auf das Recht. Darin offenbart sich der Nationalsozialismus für Dietmar als reine Gewalt. Die Auseinandersetzung mit dem NS-Recht ist eine weitere Strategie der Selbstlegitimation. Dietmar wehrt sich gegen die Kriminalisierung, die er als politischer Schutzhäftling im KZ erfuhr und die den Gefangenen als Stigma auch nach Kriegsende und ihrer Befreiung anhaftete. Dietmar äußert sich als Teil eines staatlichen Zusammenhangs, der das durch diesen gestiftete Recht als verinnerlichte Ansprüche anerkennt mit dem Einspruch, zu Unrecht ins Visier von dessen Rechtsapparat gekommen zu sein. Dies bekräftigt Häftling … X darin, dass Dietmar auch in Bezug auf die SS auf rechtsstaatliche Behandlung insistiert: Die Häftlinge erlebten die Wachtruppen zum überwiegenden Teil als brutale Mörder, doch besteht Dietmar auf Differenzierung, gerade nachdem im Zuge der Frontverlagerungen im letzten Kriegsabschnitt neue SS-Kontingente in die KZ kamen: „An dieser Stelle muß ich erwähnen, daß sich in der letzten Zeit nicht alle Angehörigen der SS bestialisch benahmen. Unrecht bleibt Unrecht, aber Recht muß Recht bleiben! So auch hier.“ (Häftling X, 79 f.) Opfer der SS geworden, äußert sich Dietmar nicht vom Standpunkt individueller Betroffenheit, sondern verkörpert den vom eigenen Leid distanzierten Standpunkt der Notwendigkeit zur Wiederherstellung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Dietmars Selbstrechtfertigung als Träger verinnerlichter Rechtsansprüche ist lediglich Ausgangspunkt für die Präsentation eines Kollektivs innerhalb der Lagerstrukturen, welches im rechtsfreien Raum das Aufrechterhalten von Recht und Ordnung garantiert und so auch praktisch für das Wohlergehen aller Gefangenen arbeitet. Auch in Häftling-…-X sind es die politischen Gefangenen, die aufgrund ihrer Verpflichtung auf einen universell geglaubten Wertekatalog im Lager für alle Häftlinge und gegen die SS eintreten. Aus den Strukturen früherer politisch linker Organisationen rekrutierten sich auch in Natzweiler, Dachau und Buchenwald die „Zeugen und Bekenner des reinen demokratischen Gedankens“, die „den Mut aufbrachten, dem Nationalsozialismus gegenüber mehr oder weniger unzweideutig Farbe zu bekennen“ und „die um der Wahrheit 10.3 Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden 355 und Gerechtigkeit willen im Kampf für Freiheit und Menschenrecht Opfer nazistischer Mordgier wurden.“ (Häftling X, 10, 14, 144) Zwar betont Dietmar, dass sich die NS-Gewalt gegen alle Häftlingsgruppen, „Politische“, „Berufsver‐ brecher“, „Asoziale“, Juden, „Zigeuner“ oder Zeugen Jehovas, gleichermaßen auswirkte (ebd., 76, 81, 119). Doch identifiziert er unter den „Politischen“ Opfer im engeren Sinne, die die systematische Täuschung des nationalsozialistischen Staates erkannt hatten und also gegen diesen vorgegangen waren: „Die diesen Schwindel längst vorher erkannt, davor gewarnt und dagegen gekämpft hatten, wurden aus der sogenannten Volksgemeinschaft ausgestoßen, sofort beseitigt, in Zuchthäuser gesteckt oder der Vernichtung in den Konzentrationslagern preisge‐ geben.“ (Ebd., 69) An einer Stelle identifiziert Dietmar den Kommunismus als ideologischen Gegenentwurf zum Nationalsozialismus, nicht auf der Ebene politischer In‐ halte, sondern insofern dieser gegenüber der nationalsozialistischen Gewalt die Durchsetzung des Humanismus garantiere: „[D]er unüberbrückbare Gegensatz zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus“ liege darin: „Auf der einen Seite das Menschliche, auf der anderen das künstlich gezüchtete Völkische.“ (Ebd., 118) Entsprechend enthält Häftling … X eine ganze Reihe von Porträts politischer Häftlinge, deren Verdienste entweder um die Arbeiter: inneninte‐ ressen oder um die Häftlingsgemeinschaft Dietmar besonders herausstellt. Er formuliert Nachrufe auf im Lager ermordete Aktivisten, etwa Ernst Thälmann, den Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid, dessen „ganze Lebensaufgabe darin bestand, der deutschen Arbeiterschaft den wahren Sozialismus zu erkämpfen“, oder einen unbenannten Freund, „dessen ganzes Verbrechen darin bestanden hatte, für den Fortschritt der Menschheit als Kommunist zu leben und zu wirken“ (ebd., 33, 39, 77-79). Häftling … X ist gewidmet den „Kameraden aller Nationalitäten, die in kameradschaftlicher Verbundenheit und internationaler Solidarität, fest in unerschütterlichem Glauben an den Sieg der Gerechtigkeit und den Tag der Freiheit, im Kampf um Sein oder Nichtsein bis zur Erlösung aushalten durften.“ (ebd., 10) Wie in Pollers Text bilden auch in Pauls/ Dietmars Lagerschilderung eine Gruppierung aus diesen politischen Gefangenen eine Untergrundorganisation, die die maßgeblichen Schlüsselpositionen der Lagerverwaltung besetzt hält und maßgeblichen Einfluss auf die Verteilung von Posten und die Verteilung von Versorgungsgütern hat. Dieser Gruppierung gelingt es, entlang ihrer ver‐ innerlichten ideellen Grundsätze möglichst viele ihrer Mithäftlinge vor dem Verhungern, der schweren Zwangsarbeit oder gezielten Tötungen zu retten (Häftling X, 32, 55, 61, 102 f., 134). Darin ähnelt die Schilderung der Untergrund‐ 356 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X organisation dem, was Poller in Arztschreiber in Buchenwald beschreibt. In Häftling … X gelingt ihr darüber hinaus in Buchenwald, dem letzten Lager in Dietmars Deportationsgeschichte, das Beschaffen und Verbergen von Waffen, um einer Vernichtung der Gefangenen im Falle der Räumung des Lagers zuvorzukommen. Tatsächlich erfolgt in Häftling … X die Befreiung zwar unter unmittelbarem Einwirken der amerikanischen Truppen, war aber maßgeblich von den Aktionen des politischen Untergrunds begleitet und abgesichert. Derart scheint es, als ob die auch paramilitärisch organisierten „Politischen“ nach jahrelang kalkuliertem Abwarten den entscheidenden Schlag gegen die SS ausführten: „Die Stunde der Abrechnung war gekommen! - Jeder wußte, was er für die Erhaltung des Lebens aller Lagerinsassen zu tun hatte. Alles war bis ins kleinste organisiert. Die Luft war erfüllt vom Brummen der schweren Panzermotoren, vom Bersten der Granaten, vom Knattern der MG.s, vom Lärm des Kampfes, der sich in diesem Augenblick um Buchenwald herum abspielte. Im Lager selbst ein Raunen, ein Flüstern von Befehlen. Gut getarnte Verstecke wurden aufgerissen und Waffen, Maschinenge‐ wehre, Karabiner, Pistolen, Handgranaten, Panzerfäuste gingen von Hand zu Hand. Alles blitzschnell. Ein Schleichen auf den Lagerstraßen. Von Block zu Block in Deckung springend vor den pfeifenden Kugeln der SS, die noch die Wachtürme besetzt und das Lager umschlossen hielt, arbeiteten sich einzelne Trupps an unsere Peiniger heran. […] Am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald zog eine Abteilung ehemaliger Häftlinge als Wache auf. Der uns jahrelang umschließende Stacheldraht war an mehreren Stellen durchschnitten. Wir waren frei! - - -“ (Ebd., 138 f., Herv. im Orig.) Das Wirken der Häftlinge, das in dieser Schilderung der Befreiung kulminiert, wertet Paul/ Dietmar insgesamt als Eintreten für den Humanismus und Men‐ schenrecht: „Wir, die dem Tode hunderte Male gegenüberstanden, die dem brutalen Mord wehrlos zusehen mußten, die das nackte Leben nur noch um des Lebens willen lebten, die wir in uns nur noch den Kern erblickten, den reinen Menschen allein, werteten nur diesen. […] Der das erlebt, erkannt und überstanden hat, ist, glaube ich, reif für das Dasein, welches sich auf klarsten Grundsätzen aufbaut und menschenrechtlich die Bezeichnung Leben verdient. In dieser Erkenntnis ist es etwas Großes, dem Leben dienen zu dürfen! “ (Häftling-X, 92, Herv. im Orig.) Alle Häftlinge sind im Lager existentiell gefährdet. Nur noch das schlichte Überleben, das der Gewalt jeden Tag aufs Neue abgetrotzt werden muss, können sie als Wesenskern behaupten. Die „Politischen“ überhöhen diese Gefährdung 10.3 Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden 357 zum Quell einer Erkenntnis, den sie zur Maxime ihres Handelns erklären. In der Vernichtung des Subjekts, seiner Reduktion auf das schlichte Überleben offenbart sich ihnen ein Zugang zu „dem Leben“ ohne die Bestimmungen der bürgerlichen Welt. Das Eintreten für die Häftlinge erhält so die Qualität eines Dienstes am Leben selbst, den die politischen Gefangenen in ihrem Einsatz für die Häftlinge leisten. Die wichtigste Praxis der politisch geführten Organisation ist das Durch‐ setzen von Recht und Ordnung. An der Willkür der SS vorbei stellen die Häftlinge selbst einen Normenkatalog auf, der das Zusammenleben im Lager nach einem System von Rechten und Pflichten absichert. Bereits bei der Ankunft in KZ Natzweiler werden die Neuzugänge durch ein Mitglied dieser Gruppierung mit folgender Ansprache begrüßt: „Also Jungens, Ihr seid hier im Konzentrationslager, in der Gewalt der SS. Wir Häftlinge haben eine Selbstverwaltung, das heißt, wir verwalten uns in allen Dingen selbst […].Wir bilden uns aber darauf nichts ein und wollen über Euch nicht herrschen, um Henkersknechte der SS zu sein, sondern wir sind Kameraden. Wir haben unter uns ein ungeschriebenes Gesetz: Wir verlangen einer vom anderen strengste Disziplin und beste Kameradschaft. Wer diese Kameradschaft nach oben verrät (er meinte damit die SS), der stirbt. Wir alle sind Häftlinge und haben ein Los, ein Schicksal. […] Einer bekommt so viel wie der andere. […] Was Ihr zu sagen habt, wenn Euch im Rahmen dieser Disziplin, unter deren grausame Bedingungen wir alle gestellt sind, Unrecht geschehen sollte, das sagt uns. Ihr bekommt Recht, wo es Recht erheischt. Ihr bekommt kein Recht, wenn ihm im Unrecht seid.“ (Häftling-X, 29-31) Innerhalb der vollständig vom Lager diktierten Verhältnisse existiert eine nach moralischen Werten von Kameradschaftlichkeit organisierte Rechtsordnung, die Gültigkeit verlangt durch ihr Befolgen mit peinlicher Disziplin. Darin nehmen die politischen Gefangenen den Standpunkt einer staatlichen Macht ein, die Recht schafft, begrenzt und exekutiert und darin die Verbindlichkeiten des Miteinanders für die Bevölkerung, auf die es sich bezieht, definiert. Das Ver‐ hängen von Strafen bei Verstoß gegen diese Ordnung bleibt nicht nur Drohung, die Häftlinge exekutieren diese auch rigoros: Dietmar schildert, dass Diebe gehängt, besonders brutale, von der SS „gekaufte“ Kapos von den Häftlingen er‐ schlagen werden (ebd., 30 f., 42 f.). Dennoch präsentiert Dietmar dieses Recht als gerechte, dem Wohl aller dienende Ordnung, da es in seiner Anwendung gleich ist und dem Subjekt entspricht, insofern es sich auf einen geteilten Wertekanon beruft. Die Gerechtigkeit dieses Rechts beglaubigt Dietmar wiederum durch die Behandlung gefangen gesetzter SS-Wachen nach der Befreiung Buchenwalds: 358 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X „Aber keiner von uns legte Hand an sie. … Sie wurden abgeführt, um einem gerechten Urteil ausgeliefert zu werden.“ (ebd., 139) Individuell haben die politischen Gefangenen in Häftling … X ideelle Ver‐ bindlichkeiten verinnerlicht, nach denen sie auch im Lager handeln. In ihrem organisierten Zusammensein kann sich so ein Recht manifestieren, das als gerecht anzuerkennen ist. Ihre Tötungen gelten nicht als Morde, sondern rechtmäßige Bestrafung von Vergehen gegen einen höheren Wertekosmos. Indem ihnen die Durchsetzung dieses Rechts auch innerhalb der Gewalt der SS gelingt, werden sie zu Instanzen des im Lager negierten Rechts und gleichzeitig in ihrer Führungsrolle innerhalb der internen Lagerhierarchie legitimiert. Ihre Führung arbeitet praktisch für das Wohl aller Gefangenen, worin sie tatsächlich eine Gemeinschaft stiftet, insofern sich die Häftlinge mit „strengster Disziplin“ auf diese Verbindlichkeiten selbstverpflichten. Das ist auch darin beglaubigt, dass die „Politischen“ nach der Befreiung anerkennen, dass ihre Führung und ihr Recht auf die Zwangsverhältnisse im Lager limitiert waren. Ihr Wille zur Macht erscheint so motiviert vom Beharren auf universell geglaubten Verbindlich‐ keiten menschlicher Gemeinschaft, die der Nationalsozialismus insbesondere in den Lagern negiert hatte. Wie auch bei Poller zielt der Anspruch auf Führung des politischen Kollektivs auch bei Paul/ Dietmar sowohl nach innen wie nach außen. Innerhalb der Lager‐ gemeinschaft bekräftigt es die Führungsposition der politischen Häftlinge ge‐ genüber anderen Häftlingsgruppierungen. Als gemeinschaftsstiftendes Wirken ist diese Präsentation aber auch mit Blick auf die Verhältnisse nach dem Ende der Lager verfasst. Im Gegensatz zu Poller ist die Befreiung Teil von Pauls/ Dietmars Schilderungen, wodurch das sich in Gefangenschaft offenbarende Kollektiv auch nach außen in die postfaschistische Welt treten kann. 10.3.2 „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! “ Die befreite Lagergemeinschaft Paul/ Dietmar schildert das Lager als eine Bewährung insbesondere der politi‐ schen Häftlinge. Diese müssten sich ihre kameradschaftliche Haltung sowie ihr antifaschistisches Engagement erhalten. Der „Glaube an den Sieg der gerechten Sache“ müsse die Häftlinge „so stark machen“, „auch das Konzentrationslager“ zu überstehen (Häftling X, 19). Im weiteren Handlungsverlauf wird deutlich, dass dieser Anspruch auf Bewährung, vorgebracht als Überlebensstrategie inmitten der Lagergewalt, auch mit Blick auf die Verhältnisse nach der Befreiung formuliert ist. Der Elsässer politische Gefangene Camille expliziert diesen Anspruch: 10.3 Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden 359 „Es wäre ein Segen für Europa, wenn jeder politische Konzentrationär, der das Glück haben sollte, die Freiheit wiederzuerlangen, dann von sich aus sagen könnte: Ich habe im Konzentrationslager nicht nur viel gelernt, nein, ich habe in manchen Dingen völlig umlernen müssen! […] Glaubt mir, bald wird der Tag kommen, wo die Geläuterten und Starken Säulen sein müssen, Träger eines neuen, reinen Gedankengutes, an denen sich die belogenen und betrogenen Massen wieder aufrichten können, um ein Leben in Wahrheit zu leben.“ (Ebd., 84) Das Lager stiftet das politische Kollektiv, das ausgehend von der Erkenntnis des gemeinsamen Einstehens für den Humanismus eine Gemeinschaft hervorbringt. Diese Erfahrung gilt es daher, auch nach der Befreiung zu bewahren und das Wirken der Haftgemeinschaft auch in den neuen Verhältnissen produktiv zu machen. Im Handlungsverlauf wird dieses Fortführen ihres Eintretens für die Humanität zur obersten Maxime, die auch über den Tod des Einzelnen hinaus gewährleistet werden müsse. „Wie waren abgestumpft. Aber unser Glaube war derselbe geblieben, den hatte man uns nicht nehmen können, denn er basierte auf der unerschütterlichen Gewißheit, daß der Tag der Freiheit nahe war und kommen würde, mit oder ohne uns. Wir haben uns geschworen, diesen Glauben an den Sieg der Gerechtigkeit und Wahrheit weiterzutragen und neue Träger hierfür zu finden, die ihn weitergeben, wenn wir selbst das Ziel nicht erreichen sollten.“ (Ebd., 82) Darin formuliert Häftling … X … in der Hölle auf Erden eine klare Teleologie der Opfer, die fraglos in der Durchsetzung einer humanistischen Zukunft mündet. Paul/ Dietmar beginnt seinen Text mit einer Anrede an seine verstorbenen Mitgefangenen: „Euer Tod war nicht umsonst. Ihr wurdet Opfer eines verbrecherischen Wahnsinns. Euer Leid und euer Kampf war der Blutzoll einer neuen Welt, damit die Lebenden frei werden und, die nach uns kommen [sic! ], in Freiheit leben können.“ (Häftling-X, 15) Die politischen Gefangenen des Lagers werden so zu selbstbeauftragten Trägern des Neuen, deren Wirken die Nichtkontinuität nationalsozialistischer Gewalt, das Eintreten für Humanismus und nicht zuletzt die Würdigung der Opfer ga‐ rantiert. Diese Teleologie ist auch im Sinne der Wiederherstellung einer rechts‐ staatlichen Ordnung vorgebracht. Die Opfer der Lager stehen bei Paul/ Dietmar als bleibende Warnung vor der Rechtsnegation des Nationalsozialismus, mit der sich dieser als reine Gewalt diskreditiert hatte. „Es sind die unschuldigen Opfer nationalsozialistischen Mördertums, die beschwörend ihre Hände gen Himmel strecken, die anklagen, was an ihnen geschehen, die an die Über‐ 360 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X 665 Zum „Schwur von Buchenwald“ und ähnlichen Selbstverortungen ehemaliger Gefan‐ gener als Beauftragte eines gesellschaftlichen Wandels siehe Kap.-3.1. lebenden appellieren, die Wahrung der heiligsten und primitivsten Menschenrechte nie zu vergessen, die die Menschen warnen vor den falschen Begriffen irdischen Herrschertums und gottähnlicher Selbstherrlichkeit.“ (Ebd., 64, Herv. im Orig.) Den Übergang der Lagergemeinschaft in die postfaschistischen Verhältnisse verbildlicht die Schilderung des Maifeiertages wenige Tage nach der Befreiung Buchenwalds. Der 1. Mai, als „Tag der Arbeit“ zentrales Symbol der inter‐ nationalen Arbeiter: innenbewegung, war unter den Nationalsozialisten zum nationalen Feiertag erklärt worden. Laut Paul/ Dietmar sei dies aber lediglich eine kalkulierte Täuschung zur Beschwichtigung der Bevölkerung und insbe‐ sondere der Arbeiterinnen und Arbeiter gewesen. Die Nationalsozialisten hätten „den Werktätigen diesen Feiertag gestohlen und ihn aus rein psychologischen Gründen zum Nationalfeiertag [ge]stempelt[..]“ (Häftling-X, 146). Im befreiten Buchenwald indessen überwinden die Gefangenen diesen Betrug, indem sie den Tag als Feier internationaler Kameradschaft und Zusammenarbeit lebten und so seine wahre Bedeutung einlösten. Es ist davon auszugehen, dass am Begehen des Feiertages in erster Linie die politischen Gefangenen beteiligt waren; Paul/ Dietmar schildert die gesamte Lagergemeinschaft an den Festivi‐ täten beteiligt. Die Baracken und Lagerstraßen werden hergerichtet, Komitees ernannt und Reden gehalten, die die Häftlinge auf die vor ihnen liegenden Aufgaben einschwören: „Die einzelnen Blocks wurden mit viel Grün und Transparenten in leuchtendem Rot festlich geschmückt, auf denen die Parolen des draußen auf uns wartenden Kampfes zu lesen waren.“ (Ebd., 145) Die Gefangenen singen das Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“: „Ohne Aufforderung“ singen sie, aber „wie auf Kommando“ und „wie ein Schwur“ (ebd., 147). Dabei bezieht er sich direkt auf den „Schwur von Buchenwald“ und den darin ausgedrückten Anspruch der ehemaligen politischen Gefangenen, die Überwindung des Nationalsozialismus und den gesellschaftlichen Wandel aktiv mitzugestalten. Dieses Kollektiv schildert Paul/ Dietmar als internationale Gemeinschaft, die sich in nationale Komitees gliedert und derart organisiert künftige Völkerverständigung und Zusammenarbeit der Nationen garantiert. „Die antifaschistischen Kameraden aus allen Ländern, die dereinst in ihrer Heimat die Politik ihres Landes leiten oder zumindest beeinflussen, werden diesen feierlichen Akt in Buchenwald niemals vergessen.“ (Häftling X, 148) 665 Aus ihrem Innersten geben die Gefangenen der Selbstbeauftragung Ausdruck, die Erkenntnisse des Lagers auch in die neuen Verhältnisse zu tragen. Darin manifestiert sich ein Kollektiv, das die negativen Bestimmungen der Zwangs‐ 10.3 Häftling-…-X-…-in der Hölle auf Erden 361 gemeinschaft überwunden hat und einig und gestärkt in die Außenwelt tritt. Derart verkörpern die politischen Häftlinge den humanistischen Wandel, den sie nach ihrer Befreiung in die Welt tragen. 10.4 Fazit In vielen Aspekten ähneln sich die Haftdarstellungen von Poller und Paul/ Dietmar. Insbesondere in der Präsentation einer im Lager wie über die Befreiung hinaus wirkenden Häftlingsgruppe als Führungskollektiv weisen Arztschreiber in Buchenwald und Häftling … X Gemeinsamkeiten auf. Für viele Gefangene, die aufgrund ihrer Tätigkeiten im politisch linken Spektrum von den National‐ sozialisten inhaftiert worden waren, stellte ihr Zusammenschluss im Lager eine Kontinuität ihrer Organisation vor der Haft dar: Viele von ihnen waren bereits langjährig in Partei-, Gewerkschafts- oder Vereinsstrukturen integriert gewesen, die nach 1933 zum Teil in Exil oder Untergrund als antifaschistische Netzwerke weiterexistierten und in den Lagern ihre Fortsetzung fanden. Dies trug maßgeblich dazu bei, dass diese Häftlinge in den nationalsozialistischen Lagern überhaupt zur Bildung von Organisationen in der Lage waren, die zum Teil weitreichende Strukturen ausbildeten und an der SS vorbei wirken konnten. Poller wie auch Paul/ Dietmar thematisieren insbesondere diesen Aspekt der Lagergemeinschaft und überhöhen das Wirken der politischen Gruppierung zur Humanitätsleistung. In ihren Texten zeigen sie das Lager als Austragungsort eines moralischen Konflikts, der zwischen dem Häftlingskollektiv und der übermächtig scheinenden SS ausgetragen wird. Dass sich die „Politischen“ innerhalb der Lagerhierarchie durchsetzen konnten, erscheint angesichts der alternativen Machtoption der durchweg negativ besetzten „Berufsverbrechern“ als moralischer Sieg. Beide Texte zeigen die politischen Gefangenen als Träger verinnerlichter Wertvorstellungen, die auch angesichts der Lagergewalt Ma‐ ximen ihres Handelns bleiben. Straffe Disziplin und Selbstkontrolle zeichnen sie ebenso aus wie die Fähigkeit zum Fällen schwieriger, weitreichender Entschei‐ dungen, die auch über Leben und Tod entscheiden. Trotz der Beschränktheit ihrer tatsächlichen Entscheidungsgewalt schildern beide Texte das Handeln des politischen Untergrunds als auch praktischen Erfolg zum Wohle aller. Dieses erscheint als bisweilen hartes, doch angesichts der doppelten Bedrohungslage aus SS und den übrigen Häftlingen notwendiges Durchgreifen einer verantwor‐ tungsvollen Führungsschicht. Hinzu kommt das Moment der durch das Lager gestifteten Erkenntnis: Ange‐ sichts der Gewalt besinnen sich die politischen Gefangenen auf einen geteilten Wertekosmos, den sie als universelle Motivation ihres Wirkens erkennen. Die 362 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X 666 Weisenborn, Memorial, 228-231. Konsequenz dieser Erkenntnis ist ein Schulterschluss aller antifaschistischen Kräfte im Lager über Partei- und Ideologiegrenzen hinweg zu einer Avantgarde von Humanismus und Menschenrecht, die tatsächlich Gemeinschaft schafft entlang dieser universellen Verbindlichkeiten. Indem diese innerhalb der Epi‐ zentren nationalsozialistischer Gewalt jene Verbindlichkeiten durchsetzen, die der Nationalsozialismus negierte, bewähren sie sich und wenden sich nach außen. Diese Opfergruppe begreift ihre Inhaftierung als Beauftragung, die als Erkenntnisse aufgefassten Erfahrungen auch in die Verhältnisse nach der Befreiung zu tragen. Ihre Mitarbeit am nationalen Wiederaufbau ist darin gleichbedeutend mit der Errichtung einer besseren, menschenfreundlichen Zukunft. Unterschiede weisen die Texte hinsichtlich der Ausformung dieser Wendung nach außen auf. Bei Poller bleibt die Gemeinschaft in den negativen Bestim‐ mungen des Lagers gefangen und bewahrt sich als Potential des Neuen, dessen Einlösung über das Ende des Lagers und somit der Handlung des Textes hin‐ ausreicht. Bei Paul/ Dietmar hingegen tritt die Gemeinschaft auch nach außen und bereitet sich zur politischen Führung in den jeweiligen Herkunftsländern vor. Es sei darauf hingewiesen, dass andere Texte aus dem Spektrum politischer Gefangener diese Wendung nach außen noch deutlicher formulieren. Günther Weisenborn etwa schildert in Memorial (1948), wie die Gefangenen nach ihrer Befreiung von den alliierten Siegermächten zu Verwaltern, Bürgermeistern oder Dorfvorstehern berufen werden und so die Führung beim unmittelbaren Wie‐ deraufbau der Gefängnis- und lokalen Verwaltung übernehmen. Sie sind es, die die aufgelösten staatlichen Strukturen instand setzen und neu organisieren. Bei Weisenborn wollen die Gefangenen „voller Glauben“ an die Möglichkeit einer besseren Welt auch praktisch an der Überwindung des Nationalsozialismus beteiligt sein und werden so zu Boten der „neue[n] Zeit“, die die Lehren der Gefangenschaft in das befreite Deutschland tragen. 666 Durchgesetztes Erzählmuster aller Texte aus diesem Bereich des Spektrums ist das Aufgehen des Individuums in der Gruppe. Sowohl Poller wie auch Paul/ Dietmar sind zu Beginn ihrer Schilderungen erfahrene Funktionäre, die bereits zuvor durch die Nationalsozialisten inhaftiert worden waren. Doch beider Texte überblenden die bei beiden Hauptfiguren vorhandene gefestigte Weltan‐ schauung und Gewissheit, dass die „Politischen“ für das moralisch Richtige eintreten, mit Sozialisierungsnarrativen, in denen das Subjekt erst allmählich das Wirken der politischen Gruppierung im Lager erfasst. Erst im Zuge eines 10.4 Fazit 363 667 Siehe Kap.-3.1. Prozesses des Hineinwachsens in die Strukturen der Untergrundorganisationen von Buchenwald, Dachau und Natzweiler lernen Poller und Paul/ Dietmar das volle Potential des durch die „Politischen“ geleiteten Häftlingsuntergrunds gegen die zunächst omnipräsent scheinende NS-Gewalt kennen. Beide Texte schildern ihre Protagonisten als Figuren, die an sich selbst wie andere einen rigoros durchzusetzenden Verhaltenskodex anlegen, moralische Ansprüche formulieren und kameradschaftlich agieren wollen. Doch innerhalb der Be‐ stimmungen des Lagers können auch individuelle Potentiale erst durch die Gemeinschaft und innerhalb der durch sie gestifteten Organisationsstrukturen vollends ausgeschöpft werden. Erst als Teil des Lageruntergrunds werden Poller und Paul/ Dietmar als Funktionshäftlinge an Schlüsselpositionen innerhalb der Lagerhierarchie eingesetzt, was ihnen erst ermöglicht, für die Mitgefangenen und gegen die Lagergewalt wirken zu können. Implizit legitimieren die Texte darin eine politische Gruppierung der Nachkriegszeit, für die bzw. in der die Autoren sich engagieren: die Kommunisten in Häftling … X, die Sozialdemo‐ kraten in Arztschreiber in Buchenwald. Indessen formulieren die Texte keinerlei Vorstellungen einer angedachten politischen Neuausrichtung der Nation. Vor‐ gebracht ist ihre Legitimation über den moralischen Status eines nicht weiter spezifizierten Kollektivs der „Politischen“ als Verkörperung universeller Werte. Als Teil dieses Kollektivs äußern sich Paul/ Dietmar und Poller aus der Position von Stiftern universeller Verbindlichkeiten, die Gemeinschaft auch in den neuen nationalen Zusammenhängen gewährleisten. Die von Poller und Paul/ Dietmar verbildlichte Teleologie des nationalsozia‐ listischen Opfers ähnelt in vielerlei Hinsicht den Legitimationsmustern der politischen Parteien der Nachkriegszeit. Insbesondere Pauls/ Dietmars Verweis auf den Schwur, den die befreiten Häftlinge am Übergang in die neuen Verhält‐ nisse leisten, rekurriert auf die für die Formierung der Nachkriegsparteien konstituierenden Lagerschwüre von Buchenwald oder Mauthausen und die darin formulierte (Selbst-)Beauftragung der Opfer. 667 Darin rücken beide Lager‐ darstellungen in die Nähe der Erzählmuster der Opferliteratur in SBZ und DDR, in welcher die Forschung die Formulierung eines antifaschistischen Gründungs‐ mythos identifiziert hat. Arztschreiber in Buchenwald und Häftling … X … in der Hölle auf Erden verdeutlichen, dass ähnliche Ansprüche, die die Opfer als berechtigt zur Führung auswiesen, auch in den westlichen Zonen existierten bzw. sich diese in den ersten Jahren nach 1945 durchaus auf Gesamtdeutschland bezogen. (Pauls Schrift erschien immerhin parallel in Verlagen in Mainz und Weimar.) In Westdeutschland fehlte indessen die auch offizielle Anerkennung 364 10 Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar Häftling-…-X dieses Opfernarrativs. Während es in SBZ und zumal nach Gründung der DDR in Gedenkveranstaltungen gefördert wurde und zum Identifikationsmoment der staatlichen Führung avancierte, blieb es in Westdeutschland beim moralischen Potential, mit dem diese Texte die aus den Lagern befreiten Häftlinge für die Neugestaltung des Landes versahen. 10.4 Fazit 365 668 Erwein von Aretin, „Die bayerische Königsfrage“, Süddeutsche Monatshefte 30/ 4 (1933), 231-241, hier: -236. 669 Karl Otmar von Aretin, „Kurzes Lebensbild“, in: Aretin, Erwein von, Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, München 1955, 7-18, hier: -12f. 670 Das Bundesarchiv, „Aretin, Peter Karl Freiherr von (1814-1887)“, Internet: https: / / www.bundesarchiv.de/ nachlassdatenbank/ view‐ single.php? person_id=16141&asset_id=17477, zuletzt geprüft am: 5.10.2021. 11 NS-Repressionen als Legitimation des Wittelsbacher Thronanspruchs und bayerischen Sonderwegs. Erwein von Aretin: Wittelsbacher im KZ 11.1 Biographische Hinführung Eine weitere Schrift, die einen ganz konkreten politischen Herrschaftsanspruch als Konsequenz des Opferstatus formuliert, stammt von einem der vehemen‐ testen Verfechter der bayerischen Monarchie: Erwein Freiherr von Aretin. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Errichtung einer deutschen Repu‐ blik wurde Aretins Biographie als öffentliche Figur sowie sein publizistisches Schaffen bestimmt von dem Reinstallieren der Wittelsbacher als Könige von Bayern sowie der bayerischen Sezession. „Ein Staat von der Überlieferung und der Festigkeit Bayerns ist eine Wirklichkeit von seltener Stärke“, schreibt er etwa vor dem Hintergrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in dem programmatischen Traktat Die bayerische Königsfrage. 668 Auch nach dem Ende des Nationalsozialismus blieben royalistische Bestrebungen in Bayern bestehen, deren Verfechter sich auf der Ebene von Parteien und Vereinen neu organisierten. In die Zeit nach 1945 fällt auch die Veröffentlichung von Wittelsbacher im KZ, mit der von Aretin den Thronanspruch der Wittelsbacher Familie erneut bekräftigte. Von Aretin entstammte einer alten Adelsfamilie, die während des 19. Jahr‐ hunderts zu einer der bekanntesten Dynastien in Bayern avanciert war: Aus den Reihen derer von Aretin stammten Politiker, einflussreiche Akademiker, Histo‐ riker, Journalisten und ranghohe Geistliche. 669 Erweins Großvater Peter Karl von Aretin etwa war Mitbegründer der katholischen deutschen Zentrumspartei im Wilhelminischen Kaiserreich, sein Vater Anton Regierungspräsident der Oberpfalz in Regensburg. 670 Obgleich eine bekannte wie einflussreiche Familie von Gutsbesitzern, waren die von Aretins nicht Teil des bayerischen Hochadels. 671 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radika‐ lisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Berlin 2003 (Elitenwandel in der Moderne, 4), 376. Zur „Sonderrolle“ von Aretins innerhalb des bayerischen Adels vgl. ebd., 376f. 672 Paul Hoser, Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe der Münchner Ta‐ gespresse zwischen 1914 und 1934. Methoden der Pressebeeinflussung. Teil 2. Frankfurt/ M., 1990 (Europäische Hochschulschriften. Reihe III, Geschichte und Hilfswissenschaften, 447), 1094; vgl. Aretin, „Lebensbild“, 8. 673 Hoser, Hintergründe, 1094; Peter Langer, „Paul Reusch und die Gleichschaltung der ‚Münchner Neuesten Nachrichten‘ 1933“, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 53/ 2 (2005), 203-240, hier: -203. 674 Aretin, „Lebensbild“, 14. 675 Malinowski, König, 429; ders., „Kuno Graf von Westarp - ein missing link im preu‐ ßischen Adel. Anmerkungen zur Einordnung eines untypischen Grafen“, in: Jones, Larry Eugene; Pyta, Wolfram, „Ich bin der letzte Preuße“. Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf von Westarp (1864-1945), Köln 2006 (Stuttgarter historische Forschungen, 3), 9-32, hier: -29. 676 Siehe dazu die Einzeluntersuchungen bei Hoser, Hintergründe; Hans-Christof Kraus, „Kulturkonservatismus und Dolchstoßlegende. Die ‚Süddeutschen Monatshefte‘ 1904- 1936“, in: ders., Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien, Berlin 2003 (Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus, 4), 13-43; Burkhard Treude, Konservative Presse und Nationalsozialismus. Inhaltsanalyse In seiner Studie über den deutschen Adel während der Zwischenkriegszeit zählt Malinowski Erwein von Aretin als den „zweite[n] Sohn eines schloßbesitzenden Regierungspräsidenten und einer Prinzessin v.d. Leyen eher zum Kleinadel als zu den Grandsigneurs“. 671 Nach Studien der Mathematik und Astronomie in Leipzig, München und Göttingen sowie dem Einsatz im Ersten Weltkrieg als freiwilliger Helfer beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes 672 trat Erwein von Aretin seit Beginn der 1920er Jahre vor allem als Journalist in Erscheinung. Durch Empfehlung des Fürsten Öttingen-Wallerstein wurde er 1924 in den Redaktionsstab der Münchner Neuesten Nachrichten, damals die auflagenstärkste Tageszeitung in Süddeutschland, berufen und dort rasch Ressortleiter für Innenpolitik. 673 Sein erster größerer Auftrag war die Berichterstattung im Hitler-Ludendorff-Prozess, der ab dem 26. Februar 1924 unter erhöhtem Polizeischutz in München statt‐ fand. 674 Aufgrund der gleichen Empfehlung Öttingen-Wallersteins publizierte von Aretin auch regelmäßig in den Süddeutschen Monatsheften. Daneben war er bis 1927 Aufsichtsratsmitglied der Neuen Preußischen Zeitung, die aufgrund ihres Logos, das die Kriegsauszeichnung eines Eisernen Kreuzes zeigte, zumeist „Kreuzzeitung“ genannt ward. 675 Alle diese Zeitungen waren in der Weimarer Republik Sammelbecken verschiedener konservativer bis monarchistischer Strömungen. 676 In diesem Umfeld lernte von Aretin prominente Politiker, Intel‐ 368 11 Erwein von Aretin: Wittelsbacher im KZ der „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung“ am Ende der Weimarer Republik. Bochum 1975 (Bochumer Studien zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, 4). 677 Wirth, „Anatomie“, 204. 678 In konservativen Kreisen fanden insbesondere von Aretins ab 1923 herausgegebene Rundbriefe an den jungen Adel Bayerns große Beachtung. Malinowski, König, 323, vgl. 339, 381. 679 Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutsch‐ land 1933/ 34. Köln und Opladen 1960 (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, 14), 138; Dieter J. Weiß, „‚In Treue fest‘. Die Geschichte des Bayerischen Heimat- und Königsbundes und des Bayernbundes 1921-1996“, in: Dinglreiter, Adolf; Weiß, Dieter J., Gott mit dir du Land der Bayern. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend - der Freistaat zwischen Transition und Fortschritt. Herausgegeben zum 75jährigen Bestehen des Bayernbundes e.-V., Regensburg 1996, 9-54, hier: -15f. 680 Zu Gründungsgeschichte und Entwicklung des Bundes siehe ebd., 16-25. 681 Im Grundsatzprogramm des Bundes von 1923 heißt es: „1. Die Grundvoraussetzung der Wiedergesundung und Wiedererstarkung des bayerischen Volkes ist die Wieder‐ herstellung des Königreichs Bayern mit berufsständischer, von christlichem Geiste erfüllter Verfassung. 2. Auch als Königreich bildet Bayern einen Bestandteil des auf bun‐ desstaatlicher Grundlage neu zu gestaltenden Deutschen Reiches“, usw., z.n. Dieter J. lektuelle und Künstler des Landes und der Republik kennen, u. a. im Münchner Kreis auch Ernst Wiechert, nachdem dieser 1933 nach Bayern gezogen war. 677 In seinen Artikeln behandelte von Aretin in erster Linie die Interessen und den Status des Adels in Deutschland sowie die Frage einer Wiedererrichtung der Monarchie in Bayern. Diese war nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs und dem Absetzen auch des bayerischen Königs im Zuge der No‐ vemberrevolution 1918 beendet worden. 678 Im Gegensatz zu den übrigen deut‐ schen Königshäusern hatten die Wittelsbacher indessen nie offiziell abgedankt oder auf den Thron verzichtet. 679 Dies nahmen monarchistische Strömungen in Bayern zum Anlass, für ein Königreich Bayern und die Restauration der Verhältnisse von vor 1918 zu optieren. Eine der bedeutendsten Institutionen, in denen sich diese Tendenzen in der Weimarer Republik sammelten, war der 1921 gegründete Bayerische Heimat- und Königsbund „In Treue fest“.  680 Der Verein konnte bis 1932/ 33 etwa 70.000 Mitglieder gewinnen, die aus allen sozialen Schichten der bayerischen Bevölke‐ rung stammten. Dabei wies die Mitgliederstruktur des Vereins eine deutliche adelige Prägung auf, was ihm Kontakte in die höheren gesellschaftlichen wie politischen Kreise, konkret etwa die bayerische Landesregierung, gewährte. Entsprechendes Gewicht bei der politischen Entscheidungsfindung hatte der Verein, dessen erklärtes Ziel das Reinstallieren der Monarchie innerhalb einer deutschen Republik war. 681 Darüber hinaus unterhielt der Verein eine Zeitung, In Treue fest, ein Sozialwerk „Patrona Bavariae“, einen paramilitärischen Wehrver‐ 11.1 Biographische Hinführung 369 Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1986-1955). Eine politische Biografie. Regensburg 2007,-202. 682 Weiß, „‚In Treue fest‘“, 22. 683 Malinowski, König, 376-378; Weiß, Kronprinz, 202, 236, 247 f., 276. Von Aretin wurde 1926 zum Vorsitzenden des Bundes gewählt, hatte das Amt aber bereits seit Ende 1925 kommissarisch inne. 1928 legte er den Vorsitz nieder. Aretin, „Lebensbild“, 11-15; vgl. auch Weiß, „‚In Treue fest‘“, 20, bei dem die Jahreszahlen jedoch abweichen. 684 Aretin, „Lebensbild“, 10; Hoser, Hintergründe, 1094; Malinowski, König, 377; Weiß, Kronprinz, 13. 685 Ebd., 247. 686 Aretin, „Lebensbild“, 10f. 687 Weiß, Kronprinz, 265; vgl. auch Aretin, „Königsfrage“, 240. band sowie eine Jugendorganisation „Königs-Jugend“. 682 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, und insbesondere unter dem Vorsitz Erwein von Aretins seit 1926, versuchte der Verein verstärkt, auch moderne Massenmedien photogra‐ phischer Reproduktion und Film sowie Kommunikationswege für sich nutzbar zu machen: Flugblattaktionen, „Lichtbildvorträge“ und „Agitationsfahrten“ sollten eine noch breitere Bevölkerungsgruppe ansprechen und für die Idee des Monarchismus werben. 683 Eingeführt wiederum von Fürst Öttingen-Wallerstein, zählte von Aretin seit 1924 zum engeren Kreis des Kronprätendenten Rupprecht und wurde sogar sein persönlicher Berater. 684 Als Vorsitzender des Königsbundes und Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten galt von Aretin als Schlüsselstratege der Thronbesteigung Rup‐ prechts in der neu zu installierenden Monarchie. Der Journalist stärkte das öffentliche Ansehen des Königsbundes, „dessen Mitgliedszahlen in der Krisenzeit der Weimarer Republik stark anstiegen“, und setzte gezielt die modernen Massenmedien Radio und Film zur Verbreitung des Monarchismus ein. 685 Unter Federführung von Aretins setzte sich der Königsbund für die vermeintlich eher als die bayerische Sezession durchzusetzende Einbindung eines Königreichs Bayern innerhalb eines republikanischen Deutschlands ein. Im Gegensatz zu den meisten monarchistischen Offiziersverbänden etwa strebte von Aretin die Wiedererrichtung der Monarchie auf legalem Wege an, also die Umstrukturie‐ rung des Landes innerhalb des bestehenden Staatsgebildes. 686 „Erwein von Aretin betrachtete den Artikel 17 der Weimarer Reichsverfassung ‚Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben.‘ - nicht als Hindernis und wollte das Königreich Bayern innerhalb einer deutschen Republik installieren. Er sorgte für die publizistische Verbreitung solcher Gedankengänge […]. Publizistische Unterstützung fanden die Monarchisten auch durch die von Aretin geleitete Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten.“ 687 370 11 Erwein von Aretin: Wittelsbacher im KZ 688 Erwein von Aretin, Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, hrsg. Karl Buchheim, Karl Otmar von Aretin. München 1955, 23. 689 Erwein von Aretin, Das bayerische Problem. München 1924, 46 f., Herv. im Orig. 690 Ebd., 4; vgl. Weiß, Kronprinz, 271f. Eine royalistische Revolution lehnte von Aretin als außerhalb des Rechts stehenden Umsturz ab. Über seine Befürchtungen, dass eine solche zwangs‐ läufig mit kaum zu reglementierendem Ordnungsverlust und Gewaltexzessen verbunden sei, schreibt er in seinen Memoiren Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes: „Ich hielt und halte jede Revolution für das größte Unglück, das Deutschland treffen konnte, weil kein Mensch den Lauf eines Flusses bestimmen kann, dessen Dämme gebrochen sind. Die innere Disziplinlosigkeit, die die Folge jeder Revolution ist, läßt sich durch kein Schreckmittel bekämpfen. Schreckmittel sind vielmehr geeignet, das Chaos zu erhöhen. In jeder Revolution tut jeder Unterführer im Rahmen der gegebenen, zu nichts verpflichtenden Phraseologie genau was er will.“ 688 Innerhalb der bayerischen Monarchisten um den Kronprinzen nahm von Aretin die Rolle eines theoretischen Vordenkers ein, der seit den 1920er Jahren zu den Problemen und Chancen eines Machtwechsels publiziert hatte. Sein Verständnis des bayerischen Königtums beruhte im Kern auf separatistischen Konzepten der (teilweisen) Wiedererlangung staatlicher Souveränität eines bayerischen Staates oder Teilstaates innerhalb eines größeren föderalen Staatengebildes. Das Königtum erscheint darin als historisch gewachsene, ja „natürliche“ Herr‐ schaftsform, die nichts Geringeres als ein Ausdruck von Land und Bevölkerung sei: „Lassen wir uns nicht einreden, daß die Staatsform gleichgültig sei“, schreibt von Aretin in seiner programmatischen Schrift Das bayerische Problem von 1924: „Der Staat selbst ist nichts anderes wie die Form der Nation. Für eine Form aber ist die Form nie gleichgültig. Wie in keinem andern Volksstamm Deutschlands lebt in uns die Gewißheit, daß nur das Königtum die beste aller Formen darstellt, jene überparteiliche Spitze des Staates, die seine Stärke und sein Halt war durch alle Jahrhunderte, die natürliche Krönung eines Aufbaus, ohne die sich kaum mehr ein seiner deutschen Ziele bewußter Bayer die Zukunft seines Landes denken kann. Also rückwärts zum Königtum? Nein, vorwärts zu ihm“. 689 Die Signalwirkung einer bayerischen Monarchie reichte für von Aretin indessen über die Landesgrenzen hinaus und zielte auf ein Wiedererstarken royalisti‐ scher Tendenzen auch in anderen Teilen der deutschen Nation. Bereits 1924 konstatierte von Aretin: „Was die vorliegende Schrift das bayerische Problem nennt, ist letzten Endes das deutsche.“ 690 Bayern sei die nationale Avantgarde, an 11.1 Biographische Hinführung 371 691 Aretin, Problem, 28f. 692 Ebd., 21. 693 Ebd., 21. 694 Ebd., 43. 695 Aretin, „Königsfrage“, 240. 696 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 3. Aufl. München 1992 [1960], 224 f. Hinsichtlich der konfessionellen Differenzen innerhalb des christlichen Deutschlands heißt es in Das bayerische Problem über die besondere Stellung des bayerischen Katholizismus: „Schöpfend aus den ewigen Urquellen der Religion […] ist [es] Bayerns Aufgabe, […] durch den […] Frieden seiner Konfessionen […] Muster zu werden für deutsche Länder, die ihn noch nicht zu kennen scheinen.“ Aretin, Problem,-30. welcher sich das Schicksal Deutschlands entscheiden werde. Dazu beschwört von Aretin „unsere[..] bayerische Volkskraft“ für die Aufgabe der „Sicherung unseres nationalen Bestandes“, dessen „Stellung weiter auszubauen und zu sichern“ sei. 691 Entsprechend eindeutig äußert er sich zur republikanischen Ordnung, die nach 1918 etabliert worden war: „Die Weimarer Lösung lähmt [die Nation, J.V.]. Sie muß weg.“ 692 Erklärtermaßen sei jedoch der durch von Aretin ausgebreitete Gegenentwurf einer Wiedererrichtung des bayerischen Königtums lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Manifestation einer nationalen Gemeinschaft aller Deutschen. „Wie konstruiere ich die Gemeinschaft der Deutschen so, daß alle Stämme freudig an ihr mitarbeiten, daß insbesondere dem Stamm, der eine uralte Mission für das Deutschtum besitzt, dem bayerischen, die Möglichkeit gewahrt bleibt, diese Mission zu erfüllen, ohne daß dadurch die Reichseinheit gefährdet wird.“ 693 Das Ziel jeglicher bayerischen Interessen sowie dieser durch die politische Manifestation eines bayerischen Königtums gestifteten gesamtnationalen Ge‐ meinschaft sei, „daß Deutschland wieder mächtig wird und groß“. 694 Diesen Gedanken bekräftigte von Aretin in seiner Schrift von 1933. Darin heißt es, das „Ringen um die bayerische Königsfrage“ sei nichts Geringeres als „wahrschein‐ lich die deutsche Schicksalsfrage“. 695 Theoretische Grundlage dieser Theorie war die Idee eines „Dritten Reiches“, das, bei von Aretin in Gestalt einer katholischen Monarchie, als Schutzmacht christlich-abendländischer Traditionen und Werte walten solle. 696 In Krone und Ketten breitet von Aretin dazu aus: „Der Staat ist von Haus aus nichts als der Verwalter der göttlichen Gerechtigkeit, seine menschliche Keimzelle ist der Richter, der von irgendeiner Seite die Autorität haben 372 11 Erwein von Aretin: Wittelsbacher im KZ 697 Aretin, Krone und Ketten, 27. 698 Aretin, Problem, 26f. 699 Ebd., 23, 26. 700 Aretin, „Königsfrage“, 231. 701 Aretin, Problem, 27, Herv. im Orig. 702 Zum Begriff des „Volkes“ sowie seines Bedeutungsgewinns innerhalb antidemokrati‐ scher Kreise in der Weimarer Republik vgl. Sontheimer, Denken, 244-252. muß, die seinem Spruch Geltung verschafft. Diese Seite aber kann nur die einzige Quelle des Rechts sein: Gott.“ 697 Zentrales Moment in von Aretins Staatskonzeption ist dessen Überhöhung entlang ihrer vermeintlichen historische Aufgabe, das „Deutschtum“ gegen‐ über einer östlich-asiatisch-jüdischen Bedrohung zu schützen. Angesichts des Zusammenbruchs der Habsburger Monarchie nach dem Ende des Ersten Welt‐ kriegs fordert von Aretin in Das bayerische Problem daher: „Auf die verödete Ostbastion des deutschen Volkes muß Bayern treten, soll nicht die üble Mischung balkanisch-jüdischen Geistes ihr zersetzendes Gift weiterfressen lassen in den gesunden deutschen Körper. Dazu, zu dieser großen deutschen Aufgabe, die doch nichts anderes ist, wie die alte Abwehrfront gegen das herandrängende Asien, dazu braucht Bayern die volle Ellenbogenfreiheit.“ 698 Immer schon habe Europa mit Deutschland in seinem Zentrum „eine ungemein kriegslustige und eroberungssüchtige Horde“ im Osten gegenübergestanden, der „Kehricht des Kontinents“. 699 Diese hätten auch die Revolution von 1918 zu verantworten, die durch „landfremde Elemente […] ins Werk gesetzt[..]“ worden sei. 700 Die künftige Vormachtstellung Bayern begründe nun, dass sich insbesondere dort Widerstand gegen diesen vermeintlichen Angriff auf das Deutschtum gebildet habe: „Aber die allzu starke Dosis fremdrassigen Giftes […] hat zugleich die noch kernge‐ sunden Kräfte des heute noch wie vor Jahrhunderten staatsstolzen und staaterhal‐ tenden Landes geweckt und eine Reaktion hervorgerufen, die immerhin noch vor dem großen östlichen Zustrom einsetzte und ihm sich hierher zu ergießen wiederriet.“ 701 Von Aretins Monarchismus ist entlang völkischer Begriffe überhöht: Das baye‐ rische Königtum firmiert in seinen Schriften nicht nur als nach politischen Maßstäben beste Option und begrenzt auf das bayerische Territorium, sondern vielmehr als einzig mögliche Schutzmacht eines seit dem Ende des Ersten Weltkriegs gefährdeten „Deutschtums“. 702 Darüber hinaus bezeichnet er die bayerische Monarchie (in Abgrenzung von der preußischen) als „organische[n] Typ des Königtums“. Merkmal dieses Typus sei, dass in diesem die Königsherr‐ 11.1 Biographische Hinführung 373 703 Aretin, „Königsfrage“, 235. 704 Ebd., 238. 705 Ebd., 241. 706 Erwein von Aretin, „Der Erbe der Krone“, Süddeutsche Monatshefte 30/ 4 (1933), 193-207, hier: -207. 707 Ulrich Cartarius (Hrsg.), Opposition gegen Hitler. Ein erzählender Bildband. Mit einem Essay von Karl Otmar von Aretin. Berlin 1984 (Deutscher Widerstand 1933-1945, Zeitzeugnisse und Analysen), 56; Langer, „Gleichschaltung“, 203. schaft Ausformung des „Volkes“ sei, in der es zur Identität von Herrscher, Beherrschten und Staatsgebiet komme. In ihm sei der Staat „eine Gemeinschaft“. „[D]as Staatsvolk [bildet] sich den ihm entsprechenden König“, und wenn die Bevölkerung beim Anblick ihrer Monarchen jubele, klänge es wie „Glocken, die beinahe von selbst zu läuten beginnen, um der Zustimmung des Landes Ausdruck zu geben.“ 703 Abseits jeglicher partikulären Interessen sei in Bayern demnach die „überparteiliche[..] Volksgemeinschaft eigentlicher Träger des Willens zur Monarchie“. 704 Prätendent Rupprecht erhält darin als „ein wirklicher König der Gesinnung und des Blutes“ 705 den Nimbus eines an antike Führertraditionen anknüpfenden Messias für das gesamte Deutschtum. In seiner Person fallen physische Überle‐ genheit, Bildung sowie militärisches wie politisches Kalkül zusammen zu einer zum Herrschen prädestinierten Figur. In diesem Sinn beschreibt von Aretin den Kronprinzen etwa 1933: „Die Leistung, so gleichgültig sie eigentlich ist, verrät jenes Maß einer auch im Kör‐ perlichen bestehenden Überlegenheit, die zu der geistigen Bedeutung des Gelehrten, des Staatsmanns, des Feldmarschalls hinzutretend zu jenem Ursprung germanischen Königtums zurückzuführen scheint, wo der Beste eben Führer und Herzog war.“ 706 Die monarchistischen Bestrebungen von Aretins und des Bayerischen Heimat- und Königsbundes (BHKB) kamen zu Beginn der 1930er Jahre mit den rapide Einfluss gewinnenden Nationalsozialisten in Konflikt. Nicht zuletzt kollidierte die restaurative Vorstellung eines völkisch überhöhten bayerischen Königtums mit der nationalsozialistischen Ideologie einer nationalen Revolution. Zwischen den Münchner Neuesten Nachrichten, unter von Aretin als Innenressortchef zentrales Sprachrohr der bayerischen Monarchisten, und dem Völkischen Beob‐ achter kam es regelmäßig zu Polemiken gegen das jeweils andere Blatt und die „Bewegung“, für die es stand. 707 Von Aretin selbst äußert sich in erster Linie mit Abneigung über die unkultivierte, proletenhafte Klientel der NS-Sym‐ pathisanten und fürchtete die Konsequenzen eines durch diese Anhängerschaft getragenen radikalen sozialen Umsturzes. In einem Brief an Rupprecht aus dem 374 11 Erwein von Aretin: Wittelsbacher im KZ 708 Z.n.-Malinowski, König, 375. 709 Z.n.-Langer, „Gleichschaltung“, 207. 710 Z.n. Norbert Frei, Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, 5. Aufl. München 2014 [1989], 12; vgl. Langer, „Gleichschaltung“, 208. 711 Weiß, „‚In Treue fest‘“, 25-29. Dezember 1930 polemisiert er scharf gegen das Gros der nationalsozialistischen Anhänger: „Ich vertraue durchaus auf die Gesinnung von Hitler, Epp usw. Aber die werden im Falle eines wirklichen Umsturzes, den ich für nicht wahrscheinlich halte, da wir kein Talent zu einer Grossen Revolution haben, verschwinden wie Spreu im Wind und bleiben wird ein fanatisiertes Proletariat, das Generäle erschiesst, wenn sie Niederlagen erleiden und jeden Besitzenden unter dem Motto, er sei ‚Judengenosse‘ terrorisiert.“ 708 Nichtsdestoweniger zeigte sich von Aretin zunächst versöhnlich gegenüber den neuen Machthabern, als diese 1933 in Berlin die Regierung übernahmen. In einem Artikel in den Münchner Neuesten Nachrichten vom 31. Januar begrüßt er diese sogar: „[K]ein Deutscher [könne] dem neuen Kabinett den Dank verweigern.“ 709 Nach einer Zeit politischer Instabilität wechselnder Regierungen und parlamentarischer Uneinigkeit erachtete von Aretin die Machtübernahme der Nationalsozialisten als Möglichkeit neuer nationaler Stabilität. Zu deren Gunsten solle innerhalb der konservativen Kreise Geschlossenheit gezeigt und explizit vermieden werden, „[aus alter] Gegnerschaft Vorbehalte zu schöpfen, für die jetzt keine Stunde mehr sein darf, von Besorgnissen zu reden, deren Aussprache niemand nützt und deren Nichterfüllung der Wunsch aller Deutschen sein muß. […] Wir haben eine so lange Spanne des führerlosen Intrigierens um die Macht hinter uns, daß wir uns selbst verleugnen würden, gäben wir nicht ehrlich der Hoffnung Ausdruck, daß diese Wendung von Dauer sei, und daß die Größe der Aufgabe die neuen Männer herausrisse aus der Enge und der Dumpfheit der Parteien in eine Welt, in der es nur mehr Deutsche gibt und ihre Feinde.“ 710 Die binnen kurzem drohende Machtübernahme der Nationalsozialisten auch in Bayern galt es den Königstreuen indessen tunlichst zu verhindern. Mitglieder des BHKB versuchten im Februar 1933, Kronprinz Rupprecht zur Machtüber‐ nahme zu bewegen. 711 Das „Königsprojekt“ sah vor, mit Einwilligung der Landes- und Reichsregierung Rupprecht an die Spitze eines souveränen Bayern innerhalb der deutschen Föderation zu setzen. Die Thronbesteigung sollte, ganz nach von Aretins Überzeugungen, im Rahmen des bestehenden Staatsgebildes 11.1 Biographische Hinführung 375 712 Bracher, Sauer, Schulz, Machtergreifung, 138 f.; Weiß, Kronprinz, 260 f., 265. 713 Ebd., 263-272. 714 Langer, „Gleichschaltung“, 210; vgl. Hans-Ulrich Thamer, „Beginn der Nationalsozialis‐ tischen Herrschaft“, Informationen zur politischen Bildung. Nationalsozialismus I: Von den Anfängen bis zur Festigung der Macht 251 (2003), 29-56, hier: 39-41. Zu einer aus‐ führlichen Schilderung der Vorgänge um die nationalsozialistische Macht„ergreifung“ und -festigung in Bayern siehe Bracher, Sauer, Schulz, Machtergreifung, 136-144. 715 Weiß, „‚In Treue fest‘“, 29-31. 716 Weiß, Kronprinz, 297f. 717 Langer, „Gleichschaltung“, 211, zur Situation der übrigen Redakteure vgl. 277ff. und seiner rechtlichen Grundlagen vonstattengehen. Aufgrund dieses Vorge‐ hens, das eine Revolution kategorisch ausschloss und gleichzeitig mit der Raison auftrat, ein Sichausbreiten der nationalsozialistischen Herrschaft auf Bayern zu verhindern, rechneten die Monarchisten mit guten Chancen für das Gelingen ihres Planes. Für die Inthronisierung sprachen von Aretin beim bayerischen Regierungschef Heinrich Held und Fritz Schäffer, Vorsitzender der Bayerischen Volkspartei und Mitglied im BHKB, bei Paul von Hindenburg in Berlin vor, um die Optionen einer Thronbesteigung auch in Berlin abzuklären. 712 Der Versuch der Inthronisierung scheiterte am politischen Gegenwind: Regierungschef Held konnte nicht gewonnen werden, ebenso die regierende Bayerische V