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Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft

Ziele, Prinzipien und Herausforderungen

0513
2024
978-3-3811-1412-2
978-3-3811-1411-5
UVK Verlag 
Margareta Kulessa
10.24053/9783381114122

Vom Merkantilismus über den Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft Die Wirtschaftsordnung unseres Landes basiert auf dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Margareta Kulessa stellt es in diesem kompakten Nugget-Band vor: Sie beleuchtet die wirtschaftspolitische Konzeption, die geschichtliche Entwicklung, sowie die politischen Anfänge mit Weichenstellungen in z.B. Ordnungs-, Sozial- und Wohnungsbaupolitik. Auch auf ökologisch-soziale Herausforderungen geht sie ein. Das Buch richtet sich an Studierende und Dozierende der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Politikwissenschaft.

<?page no="0"?> Margareta Kulessa Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Ziele, Prinzipien und Herausforderungen <?page no="1"?> Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft <?page no="2"?> Prof. Dr. Margareta Kulessa lehrt Volkswirtschaftslehre an der Hoch‐ schule Mainz. In der Lehre immer am Zahn der Zeit zu sein, wird in unserer schnelllebigen Zeit immer mehr zur Herausforderung. Mit unserer neuen fachübergreifenden Reihe nuggets präsentieren wir Ihnen die aktuellen Trends, die Forschung, Lehre und Gesellschaft beschäftigen - wissenschaftlich fundiert und kompakt dargestellt. Ein besonderes Augenmerk legt die Reihe auf den didaktischen Anspruch, denn die Bände sind vor allem konzipiert als kleine Bausteine, die Sie für Ihre Lehrveranstaltung ganz unkompliziert einsetzen können. Mit unseren nuggets bekommen Sie prägnante und kompakt dar‐ gestellte Themen im handlichen Buchformat, verfasst von Expert: innen, die gezielte Information mit fundierter Analyse verbinden und damit aktuelles Wissen vermitteln, ohne den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren. Damit sind sie für Lehre und Studium vor allem eines: Gold wert! So gezielt die Themen in den Bänden bearbeitet werden, so breit ist auch das Fachspektrum, das die nuggets abdecken: von den Wirtschaftswissenschaf‐ ten über die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften bis hin zur Sozialwissenschaft - Leser: innen aller Fachbereiche können in dieser Reihe fündig werden. <?page no="3"?> Margareta Kulessa Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Ziele, Prinzipien und Herausforderungen <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381114122 © UVK Verlag 2024 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2941-2730 ISBN 978-3-381-11411-5 (Print) ISBN 978-3-381-11412-2 (ePDF) ISBN 978-3-381-11413-9 (ePub) Umschlagabbildung: © Heiko Küverling · iStockphoto Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 13 1 15 1.1 15 1.2 15 1.3 16 2 17 2.1 17 2.2 18 3 21 3.1 21 3.2 24 3.3 25 4 29 4.1 29 4.2 30 4.3 30 5 33 6 35 7 37 Inhalt Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt und Lernziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundidee und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markt und staatlicher Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärken des Marktes: Effizienz und formale Freiheit . . . . . . . . . . . Allokationseffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwächen des Marktes: Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit . . Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatlicher Ausgleich: Gerechtigkeit und Sicherheit . . . . . . Staatliche Eingriffe bei Marktversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Externe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliches Monopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konjunktur- und Wachstumspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 8 39 8.1 39 8.2 39 8.3 40 8.4 40 43 9 45 10 47 11 49 11.1 49 11.2 50 11.3 52 12 57 13 59 13.1 59 13.2 62 13.2.1 62 13.2.2 63 13.2.3 63 69 14 71 15 75 16 77 17 79 18 81 Regeln für wirtschaftspolitische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . Zielwirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktkonformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ordnungs- und Prozesspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil | Vom Merkantilismus zum Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Merkantilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laissez-faire-Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftlicher Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff des Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ordoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiburger Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritter Teil | Umsetzung des Leitbilds in die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ordnungspolitische Meilensteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnungsbaupolitik und Mietrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 19 83 85 20 87 20.1 87 20.2 89 20.3 90 21 93 21.1 93 21.2 94 21.3 98 21.4 99 103 105 109 112 113 Stabilitäts- und Wachstumspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vierter Teil | Weitere Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeptionelle Weiterentwicklung: Die ökologisch-soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgeschichtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umweltpolitische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwälzungen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsche Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberalisierung und Privatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsmarkt- und Sozialreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Abkürzungen Abb. | Abbildung ALG | Arbeitslosengeld Alhi | Arbeitslosenhilfe BDA | Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeber BIP | Bruttoinlandsprodukt CDU | Christlich Demokratische Union Deutschlands CSU | Christlich-Soziale Union in Bayern DDR | Deutsche Demokratische Republik DGB | Deutscher Gewerkschaftsbund EU | Europäische Union FDP | Freie Demokratische Partei GG | Grundgesetz GWB | Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen SGB | Sozialgesetzbuch SPD | Sozialdemokratische Partei Deutschlands StabG | Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirt‐ schaft („Stabilitätsgesetz“) VWL | Volkswirtschaftslehre <?page no="11"?> Vorwort Obgleich die Soziale Marktwirtschaft letztes Jahr ihren bereits 75-jährigen Geburtstag „feierte“, ist sie meines Erachtens hochaktuell. Im Zuge der jüngeren Krisen sah sich nicht zuletzt die Wirtschaftspolitik gezwungen, kurzfristige Ad-hoc-Entscheidungen zu treffen. Dabei scheint der Blick auf die Konsistenz der Maßnahmen und ihre Vereinbarkeit mit einem ordnungspolitischen Konzept bisweilen verloren gegangen zu sein. Ähnliches könnte bei den langfristig wirkenden Maßnahmen eintreten, die zu ergreifen sind, um den Klimawandel auf ein erträgliches Maß abzubrem‐ sen. Dabei steht meines Erachtens mit der Konzeption der Sozialen Marktwirt‐ schaft ein geeignetes und anpassungsfähiges Leitbild zur Verfügung, das sowohl Orientierung für kurzfristig angelegte Maßnahmen als auch für die Langfristaufgabe der Transformation in eine nachhaltige Volkswirtschaft geben kann. Ziel des Buches ist es, den Leser: innen rund 100 Seiten ein Grundver‐ ständnis für die Konzeption zu vermitteln. Dazu werden ihre theoretischen Grundlagen und ihre wirtschaftshistorischen Wurzeln erklärt. Außerdem wird die Weiterentwicklung der Konzeption zur sozial-ökologischen Markt‐ wirtschaft thematisiert sowie verschiedene Umwälzungen skizziert, welche die deutsche Wirtschaftsordnung seit den 1990er-Jahren durchlaufen hat. Mein außerordentlicher Dank gilt Carsten Kühl für wertvolle Anregun‐ gen. Meinem Sohn David Kulessa danke ich für das kritische Gegenlesen eines älteren Lehrbuchmanuskripts zu Mikroökonomie und Wettbewerb, auf dem der vorliegende Text basiert. Ebenso danke ich Maruan El-Mohammed und Wilhelm Spatz für ihre Unterstützung. Schließlich möchte ich mich bei meinem Lektor Rainer Berger für die sehr angenehme Zusammenarbeit be‐ danken. Verbliebene Fehler im Buch sind selbstverständlich mir anzulasten. Ich hoffe auf Verständnis, dass ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch verzichtet habe. Mainz im April 2023 Margareta Kulessa <?page no="13"?> Inhalt und Lernziele Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland basiert auf dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Das Leitbild vereint die Leistungs‐ fähigkeit des wettbewerblichen Marktmechanismus mit einer staatlichen Ordnungs- und Prozesspolitik, die Marktversagen beheben, weitere Funkti‐ onsprobleme des Markts mindern und für einen sozialen Ausgleich sorgen soll. Dieses Buch hat zum Ziel, die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft zu erläutern und über ihren historischen Hintergrund sowie jüngere Entwick‐ lungen zu informieren. Der/ die Leser: in sollte nach der Lektüre • theoretische und historische Hintergründe der Konzeption verstehen, • mit der Umsetzung der Konzeption vertraut sein • und die Marktkonformität wirtschaftspolitischer Eingriffe einschätzen können. Das Buch ist viergeteilt. Im ersten Teil werden zunächst die Grundidee der Konzeption vorgestellt sowie ihre Ziele erläutert (→ Kap. 1). Anschließend werden die Stärken und Schwächen des Marktmechanismus im Hinblick auf die Erreichung dieser Ziele beleuchtet und es wird aufgezeigt, inwieweit daraus staatlicher Handlungsbedarf abgeleitet werden kann (→ Kap. 2-6). Es schließt sich eine Erläuterung der Prinzipien der Sozialen Marktwirt‐ schaft an (→ Kap. 7-8). Im zweiten Teil folgt ein Überblick über den dogmenhistorischen Hintergrund der Sozialen Marktwirtschaft, der vom Merkantilismus bis zum Ordoliberalismus reicht (→ Kap. 9-13) und dazu beitragen soll, die Konzeption und ihre Besonderheiten besser zu verstehen. Im dritten Teil wird die Umsetzung der Konzeption in den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland skizziert (→ Kap. 14-18). Im vierten Teil geht es um die Weiterentwicklung zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft und um Umwälzungen, welche die Soziale Marktwirtschaft seither durchlaufen hat (→ Kap. 19-20). Das Buch schließt mit einer knappen Zusammenfas‐ sung. <?page no="15"?> 1 Karl Schiller war ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, u.-a. Bundes‐ wirtschaftsminister von 1966-72. 1 Grundidee und Ziele 1.1 Vorbemerkung Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ist ca. 75 Jahre alt und gilt nach wie vor als das in der Bundesrepublik vorherrschende Leitbild für die Gestaltung der Volkswirtschaft. Zu ihren Grundlagen zählt die politisch-phi‐ losophische Überzeugung, dass allen Menschen unterschiedslos ein eigener Wert (Menschenwürde) zugeschrieben wird (Zimmer 2020, S. 87, Ruckriegel 2020, S. 200 ff.). Die Menschenwürde begründet die Menschenrechte, die allen Menschen zustehen. Aus den Menschenrechten ergeben sich zum einen Grenzen für den Markt, von denen nur eine z. B. das Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels ist. Zum anderen wird ein Teil der Sozialpolitik mit der Menschenwürde begründet: Im Sozialgesetzbuch (SGB) steht, dass es Aufgabe der Sozialhilfe sei „die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 Satz 1 SGB XII). 1.2 Markt und staatlicher Ausgleich „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“ (Eigner, 1963). Mit diesem abgewandelten Zitat von Karl Schiller  1 (1911-1994) wird die Soziale Markt‐ wirtschaft oftmals charakterisiert. Die Bezeichnung „Soziale Marktwirt‐ schaft“ stammt von dem Nationalökonomen und späteren Staatssekretär Alfred Müller-Armack (1901-78) (Müller-Armack, 1947, S. 88). Außerdem geht die inhaltliche Entwicklung des Konzepts in ganz wesentlichen Teilen auf ihn zurück. (Müller-Armack, 1966) Damals erachteten etliche Kritiker den Begriff zunächst als geradezu paradox, denn die Entwicklungen der letzten 150 Jahre hätten gezeigt, dass der Markt höchst unsozial sei. Markt‐ wirtschaft und Soziales schienen sich gegenseitig geradezu auszuschließen. Die Soziale Marktwirtschaft ist zunächst eine wirtschaftspolitische Konzeption, d. h. ein theoretisch fundiertes Leitbild für die Gestaltung des Aufbaus und des Ablaufs einer Volkswirtschaft. Eine Konzeption umfasst Ziele und ordnungspolitische Prinzipien, daraus abgeleitete Regeln für <?page no="16"?> ökonomische Aktivitäten des Staates sowie ggfs. konkrete Maßnahmen. Hinzu kommt i.-d.-R. eine Situationsanalyse. Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft wird zugleich als Bezeichnung für die bundesdeutsche Wirtschaftsordnung verwendet (Hampe 2020, S, 138). Unter Wirtschaftsordnung ist die Summe der anzutreffenden Regeln zu verstehen, in die eine Volkswirtschaft in der Praxis eingebettet ist. Die wirtschaftspolitische Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft setzt zum einen auf den Wettbewerb als Koordinationsmechanismus für wirtschaftliche Aktivitäten und sieht Privateigentum an Produktions‐ mitteln vor. Zum anderen wird wirtschaftspolitisches Engagement des Staates als zwingend notwendig erachtet, um klassisches Marktversagen zu beheben, soziale Verteilungsungerechtigkeiten auszugleichen und für einen funktionierenden Wettbewerb zu sorgen. Außerdem soll eine Stabilitäts- und Wachstumspolitik darauf ausgelegt sein, Wohlstand zu fördern sowie hohe Arbeitslosigkeit und eine hohe oder stark schwankende Inflationsrate zu verhindern. Die Aufzählung macht deutlich, dass die Formel „Markt und sozia‐ ler Ausgleich“ zur Umschreibung der Sozialen Marktwirtschaft zu kurz greifen würde. Vielmehr sieht die Konzeption einen starken Staat vor, der nicht „nur“ Marktversagen und Marktverteilungsergebnisse korrigiert. Vielmehr erstreckt sich seine wirtschaftspolitische Aktivität auf die Wett‐ bewerbspolitik und eine Vielzahl von anderen Bereichen wie etwa die gesamtwirtschaftlich ausgerichtete Stabilitäts- und Wachstumspolitik oder die Regionalpolitik. 1.3 Ziele der Sozialen Marktwirtschaft Die Aufgaben, die dem Markt und dem Staat in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft zukommen, lassen sich aus den vier Zielen • Wohlstand, • Freiheit, • soziale Gerechtigkeit • und soziale Sicherheit ableiten. Die Stärken des Marktes liegen in seinem Beitrag zu den Zielen Wohlstand und Freiheit, während der Staat gefordert ist, auch die Ziele der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit umzusetzen. 16 1 Grundidee und Ziele <?page no="17"?> 2 Stärken des Marktes: Effizienz und formale Freiheit 2.1 Allokationseffizienz Der Markt - sprich die wettbewerbliche Selbststeuerung - wird als der grundsätzlich effizienteste wirtschaftliche Koordinationsmechanismus ein‐ gestuft. Er belohnt diejenigen Produzenten, die zu geringstmöglichen Kos‐ ten produzieren und die jene Güter herstellen, die mit den verfügbaren Ressourcen bei gegebenem Stand der Technik den höchsten Nutzen für die Nachfragenden stiften. Dies wird als Allokationseffizienz bezeichnet. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb hat nicht allein die Funktion, als Allokationsmechanismus zu dienen, sondern hinzu kommt die Inno‐ vationsfunktion. Der wettbewerbliche Konkurrenzkampf treibt nämlich permanent zu kostensparenden Verfahrensinnovationen und zu Produktin‐ novationen an, wodurch die Kosten fortdauernd sinken, verbesserte und neue Produkte entstehen, d. h. sich die Güterversorgung verbessert und der Wohlstand steigt. Begriffe | Allokation • Allokation. Allokation geht auf das Lateinische “locare“ bzw. „allocare“ zurück, was in etwa „einen Platz zuweisen“ bedeutet. In den Wirtschafts‐ wissenschaften bezeichnet Allokation die Zuteilung von Produk‐ tionsfaktoren (Faktorallokation) und Gütern (Güterallokation) zu Verwendungen. • Faktorallokation. Bei der Faktorallokation geht es um die Frage, auf welche Branchen die Produktionsfaktoren in welchen Mengen verteilt werden und wie sie im Produktionsprozess eingesetzt und kombiniert werden. Eine Faktorallokation ist effizient, wenn mit den vorhandenen Pro‐ duktionsfaktoren die größtmögliche Menge an Gütern erstellt wird. Alternativ wird dieser Zustand als Minimalkostenkombination be‐ zeichnet. <?page no="18"?> • Güterallokation. Unter Güterallokation ist die Zuteilung der in einer Volkswirtschaft erstellten Güter auf die Wirtschaftssubjekte zu verstehen ebenso wie die Verteilung der Güter auf verschiedene Verwendungen. Die Güterallokation gibt somit Auskunft darüber, wie die Güter den Wirtschaftssubjekten (Haushalte und Unternehmen) zugeteilt werden bzw. in welche Verwendung (z. B. Konsum oder Investition) sie fließen. • Allokationsoptimum. Das Allokationsoptimum bezeichnet den Zustand, in welchem bei gegebener Faktorausstattung der größte volkswirtschaftliche Nut‐ zen gestiftet wird. Alternativ wird der Begriff des Wohlfahrtsopti‐ mums verwendet. 2.2 Freiheit Es gehört zum Wesen der Marktwirtschaft, dass dem Individuum grund‐ sätzlich die Freiheit eingeräumt wird, jegliche wirtschaftliche Entschei‐ dungen zu treffen und entsprechend zu handeln. Somit harmoniert die marktwirtschaftliche Ordnung mit der politischen Ordnung der liberalen Demokratie, in welcher die Freiheit des Einzelnen als eines der höchsten Güter gilt. Freiheit bedeutet, dass der Einzelne das Recht hat, sein Leben selbst zu gestalten. Er kann nach seinem Willen und in frei verantworteter, eigener Entscheidung nach seinen Zielen (z. B. Glück, Erfolg, Zufriedenheit, Reichtum) streben (Schlösser, 2007). Jedoch sichert die Marktwirtschaft nur formale wirtschaftliche Frei‐ heit im Sinne von „dürfen“, nicht aber automatisch auch materiale Frei‐ heit im Sinne von „können“. Das heißt, dass der Markt zwar keine Ge- oder Verbote für wirtschaftliche Entscheidungen und Handlungen vorgibt. Aber ob das Individuum über die (materiellen) Voraussetzungen verfügt, Entscheidungen frei zu treffen und umzusetzen, ist eine andere Frage. Zum Beispiel darf in einer Marktwirtschaft jeder erwerbstätig sein und Erwerbseinkommen erzielen, aber nicht jeder ist dazu in der Lage (z. B. Kranke). Ebenso dürfen mittellose Menschen zwar alles kaufen, aber man‐ 18 2 Stärken des Marktes: Effizienz und formale Freiheit <?page no="19"?> gels Einkommen können sie ggfs. noch nicht einmal genug kaufen, um ihr Überleben zu sichern. Das marktwirtschaftliche System mit seinem wettbewerblichen Koordi‐ nationsmechanismus ist darüber hinaus insoweit mit dem Freiheitsziel äußerst kompatibel, als Macht grundsätzlich dezentralisiert ist. Dies gilt zuvorderst für die wirtschaftliche Macht und indirekt auch für die politische Macht von Unternehmen, die mit der wirtschaftlichen Größe und Bedeutung eines Unternehmens korreliert. Allerdings sprechen empirische Befunde dafür, dass sich diese Freiheits‐ funktion des Wettbewerbs weder von selbst einstellt, noch von selbst erhalten bleibt. Vielmehr kommt es in einer unregulierten Marktwirtschaft häufiger zur Vermachtung von Märkten. Dafür ursächlich ist nicht zuletzt die Neigung von Unternehmen, den - für sie unangenehmen - Wettbewerbsdruck ausschalten zu wollen. Hierfür eingesetzte Verhaltens‐ weisen sind z. B. Kartelle und Syndikate, unfaire Verdrängungspraktiken und Fusionen. 2.2 Freiheit 19 <?page no="21"?> 3 Schwächen des Marktes: Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit 3.1 Verteilungsgerechtigkeit Soziale Gerechtigkeit ist ein Ziel, über das es sehr unterschiedliche Vorstellungen und Theorien gibt. In Bezug auf die Verteilung von Einkom‐ men auf die Haushalte (personelle Verteilung) existieren eine Reihe von Gerechtigkeitsnormen. Dazu zählen Leistungs-, Bedarfs- und Chancenge‐ rechtigkeit. Begriffe | Gerechtigkeit • Leistungsgerechtigkeit. Ausgangspunkt ist die Auffassung, dass jedem das Ergebnis der ei‐ genen Leistung zusteht. Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen. Zur Umsetzung dieser Maxime bedarf es indes einer Klärung des Leistungsbegriffs. Eine Möglichkeit ist es, Leistung mit Marktleis‐ tung gleichzusetzen. Dies wird als Marktleistungsgerechtigkeit bezeichnet. • Bedarfsgerechtigkeit. Das Einkommen der Haushalte soll zumindest ausreichen, die wichtigsten materiellen Bedürfnisse aller Haushaltsmitglieder zu befriedigen. Die wichtigsten materiellen Bedürfnisse beschränken sich dabei nicht auf die Grundbedürfnisse wie z. B. Nahrung, Klei‐ dung und Unterkunft, sondern werden dem ökonomischen und soziokulturellen Entwicklungsniveau der Gesellschaft angepasst. Zum Beispiel könnte man innerhalb Liberias möglichweise dann von einer bedarfsgerechten Einkommensverteilung sprechen, wenn das Einkommen jedes Haushalts gerade zur Deckung dieser Grund‐ bedürfnisse ausreicht; in Deutschland wird das soziokulturelle Exis‐ tenzminimum hingegen deutlich höher angesetzt. Eine extreme Auslegung erfährt das Ziel der Bedarfsgerechtigkeit in der Forde‐ rung nach Gleichverteilung. <?page no="22"?> • Chancengerechtigkeit. Jeder Mensch soll über die Mittel verfügen, um gleichberechtigt am Wirtschaftsprozess teilzuhaben. In einer Marktwirtschaft bedeu‐ tet dies, dass jeder Mensch grundsätzlich die gleiche Chance hat, seine Fähigkeiten zu entfalten und am Markt ein leistungsgerechtes Einkommen zu erzielen. In der Realität sind die Chancen jedoch ungleichverteilt und zwar unter anderem aufgrund unterschiedli‐ cher wirtschaftlicher Ausstattungen der Haushalte. Dies betrifft zum einen die Möglichkeiten, durch Gesundheits- und Bildungsausgaben die eigene Leistungsfähigkeit und Produktivität zu steigern, um das (zukünftige) Markteinkommen zu erhöhen. Zum anderen bestimmt u. a. die Höhe des Vermögens die Chance, Einkommen zu erzielen. Manche haben wesentlich bessere Chancen auf ein hohes Einkom‐ men als andere, und zwar nicht, weil sie als Person mehr leisten oder produktiver sind, sondern weil sie durch Erbschaften oder Schen‐ kungen in den Besitz eines nennenswerten Vermögens gekommen sind. Unter Chancengerechtigkeit wird häufig Startchancenge‐ rechtigkeit verstanden. Das bedeutet, dass alle Menschen zum Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben idealerweise gleiche, zumindest aber ähnliche Chancen haben sollten, Einkommen zu erzielen. Der Markt erzeugt im besten Falle eine marktleistungsgerechte Einkom‐ mensverteilung. Diese Funktion übernimmt er zumindest dann, wenn der Wettbewerb weder durch den Staat, noch durch Private beschränkt ist. Je effizienter die Arbeitskraft bzw. das Vermögen (Kapital) eines Haus‐ halts wirtschaftet, desto höher ist unter sonst gleichen Bedingungen sein Einkommen. Wer weitgehend an der Nachfrage vorbei produziert bzw. „nur“ über Qualifikationen verfügt, die für Arbeitgeber wenig Marktgewinne versprechen, erhält ein vergleichsweise niedriges Einkommen. Wer gar keine Leistungen erbringt, die am Markt auf eine kaufkräftige Nachfrage stoßen, erzielt entsprechend keinerlei Markteinkommen. Nicht alle bewerten jedoch die Marktverteilung als völlig leistungsge‐ recht: So gibt es zum einen eine Reihe von gesellschaftlich als besonders wertvoll erachtete Leistungen, die vom Markt gar nicht oder nur gering entlohnt werden, etwa unbezahlte Familienarbeit oder gering entlohnte 22 3 Schwächen des Marktes: Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit <?page no="23"?> Pflegearbeit. Zum anderen gibt es Markteinkommen, die von vielen Men‐ schen als deutlich zu hoch angesichts der erbrachten Leistung bewertet werden, etwa die Gehälter von Spitzenmanagern großer Konzerne oder das Einkommen mancher Bundesligafußballer. Ergänzend kommt hinzu, dass auf dem Markt für Arbeit - der wichtigsten Einkommensquelle der meisten Haushalte - die individuelle Verhandlungs‐ macht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Regel zu Gunsten des Arbeitsgebers ungleich verteilt ist. Mögliche Folge sind Löhne, die unter der Arbeitsproduktivität (genauer: dem Grenzprodukt der Arbeit) liegen und mithin die Marktleistung gar nicht treffend widerspiegeln. Anormales Angebotsverhalten der Arbeitnehmer ist ein weiterer Grund für deutlich niedrigere Löhne. Darunter ist zu verstehen, dass die Haushalte ihre Arbeitsbereitschaft bei sinkenden Löhnen steigern, um ihren Unterhalt trotz sinkender Löhne zu sichern. Dadurch wird mehr Arbeitskraft angeboten, wodurch die Löhne noch weiter sinken können. Vor allem aber empfinden die meisten Menschen eine ausschließlich marktleistungsgerechte Verteilung deshalb als ungerecht, weil das Markt‐ einkommen vieler Haushalte nicht ausreicht, um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grundbedürfnisse zu decken. Besonders deutlich wird dies bei Menschen ohne Geld- oder Sachvermögen, die nicht in der Lage sind, Marktleistungen zu erzeugen (z. B. kleine Kinder, Alte, Kranke). Sie stünden mittellos da und wären auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen, oder würden im schlimmsten Falle verhungern. Der Markt ist mit anderen Worten blind, was Bedarfsgerechtigkeit betrifft. Diese soziale Blindheit des Marktes für Fragen der Bedarfsgerechtigkeit tritt außer bei der Einkommensauch bei der Güterverteilung zu Tage: Angenommen, eine Stadt befände sich im Belagerungszustand und wäre von der Außenwelt abgeschnitten. In der Stadt gäbe es einige Milchkühe, sodass eine sehr begrenzte Menge an Milch angeboten würde. Zugleich stünde in der Stadt ein Waisenhaus, in dem Säuglinge leben, die auf milchbasierte Babynahrung angewiesen sind. Vermutlich fände es die überwältigende Mehrheit gerecht, wenn die knappe Milch zu Säuglingsnahrung verarbeitet und an das Waisenhaus verteilt würde. Marktverteilung bedeutet indes, dass diejenigen die Milch erhalten, die bereit und in der Lage sind, am meisten für die Milch zu bezahlen. Das dürfte kaum das Waisenhaus sein, sondern die Milch ginge vermutlich an wohlhabende Erwachsene, die z. B. besonders gerne Milchkaffee trinken. 3.1 Verteilungsgerechtigkeit 23 <?page no="24"?> Die Ausführungen zur Einkommens- und Güterverteilung gelten im Wesentlichen auch für die Vermögensverteilung. Dabei ist zu berücksich‐ tigen, dass die Verteilung des Vermögens in einer Gesellschaft niemals allein vom Marktmechanismus bestimmt wird, sondern durch Erbschaften, Schen‐ kungen und Ähnliches beeinflusst wird. Ein Familienmitglied profitiert zwar bereits bei der Markteinkommensverteilung i. d. R. mittelbar von dem hohen Einkommen eines sehr marktleistungsstarken Familienvorstands, aber beim Vermögen wird die Verteilung durch Erbschaften/ Schenkungen unmittelbar und langfristig verändert. Dies wird von vielen Menschen als besonders ungerecht empfunden, da der Erbe bzw. Beschenkte nichts oder kaum etwas selbst zu seinem Reichtum beigetragen hat. Dafür steht z. B. das Klischee vom reichen Nachkommen, dessen Kernbeschäftigung darin besteht, das geerbte Vermögen auszugeben. Alles in allem gilt: Eine Einkommens- und Vermögensverteilung und damit auch eine Güterverteilung ausschließlich nach der Marktgerechtigkeit widerspricht zentralen Werten unserer Gesellschaft wie etwa der Gleich‐ heit, Gerechtigkeit und Solidarität. 3.2 Soziale Sicherheit Soziale Sicherheit ist ebenfalls ein Wert (und ein Ziel der Sozialen Marktwirtschaft), dem der Marktmechanismus nicht gerecht wird. Es ist der Dynamik des Marktes vielmehr immanent, Unsicherheit zu erzeugen: Nachfrage und Angebot ändern sich ständig. In Folge verändern sich die Marktmengen und -preise einschließlich Löhne und Zinsen, wodurch das Einkommen, die Kaufkraft und der Lebensstandard der einzelnen Haushalte fluktuieren. Innovationen, zu denen Konkurrenz und Gewinnstreben antreiben, tun das ihrige, Unsicherheit zu erzeugen. Unternehmen verschwinden vom Markt, während andere hinzutreten. Die einen Branchen schrumpfen, während andere expandieren. Im Zuge dieses dem Markt immanenten Strukturwandels kommt es u. a. zur Entlassung von Arbeitskräften, deren Qualifikationen nicht den Anforderungen der expandierenden Branchen entsprechen und die daher erhebliche Markteinkommenseinbußen befürch‐ ten müssen. Der Markt erzeugt neben materieller Unsicherheit bzgl. der finanziel‐ len Absicherung und des Erhalts des materiellen Lebensstandards weitere 24 3 Schwächen des Marktes: Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit <?page no="25"?> soziale Unsicherheit: Der permanente Anpassungsbedarf zwingt z. B. zum Wechsel des Arbeitgebers, sodass sich die beruflichen Beziehungen grundlegend ändern. Bisweilen wird ein Umzug notwendig, im Zuge dessen sich das soziale Umfeld ändert. Viele Menschen fühlen sich durch solche Umwälzungen gestresst und leiden unter der sozialen Unsicherheit. Daher ist es wenig erstaunlich, dass Sicherheit sowohl in den Wirtschaftswissen‐ schaften als auch etwa in der Psychologie zu den Grundbedürfnissen gezählt wird. Individuelle soziale Sicherheit und ein freier Markt mögen sich zunächst ausschließen. Dennoch trägt der Markt zum Ziel materieller Sicherheit insoweit bei, als sein leistungsstarker Steuerungsmechanismus zu einer effizienten Verwendung knapper Mittel führt. Somit schafft er, zumindest in der Theorie, den höchstmöglichen materiellen Wohlstand und damit die Basis für die materielle Sicherheit der Bevölkerung. Je höher der materielle Wohlstand einer Volkswirtschaft ist, umso größer ist c.p. auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Individuum mit den Gütern ausgestattet werden kann, die das Gefühl sozialer Sicherheit erzeugen. 3.3 Staatlicher Ausgleich: Gerechtigkeit und Sicherheit Die Ausführungen zu den Stärken bzw. Schwächen des Marktes, wenn es um die Erreichung der Ziele der Sozialen Marktwirtschaft geht, machen deutlich: Der Staat ist gefordert, für soziale Gerechtigkeit und Sicherheit zu sorgen. Hierzu dient naheliegender Weise die Sozialpolitik, d. h. Maßnahmen zur direkten Verbesserung der Situation von wirtschaftlich und sozial be‐ nachteiligten Menschen oder zu deren Schutz. Hierunter fallen Transfers zur sozialen Grundsicherung (Sozialhilfe, Bürgergeld) und andere Zahlungen wie z.-B. Kindergeld, Wohngeld und BAföG. Daneben umfasst Sozialpolitik das System der Sozialversicherungen (z. B. Kranken-, Pflegeversicherung), soziale Einrichtungen (z. B. Waisenhäuser, Förderwerkstätten, öffentliche Krankenhäuser) und verschiedene Gesetze und Verordnungen zum Schutz bestimmter Gruppen (z. B. Arbeits- und Kündigungsschutzgesetz, Allgemei‐ nes Gleichbehandlungsgesetz, Jugendarbeitsschutzverordnung). Die Arbeitsmarktordnungspolitik ist ein weiterer Bereich, mit dem u. a. mehr soziale Gerechtigkeit hergestellt werden soll. Als Maßnahmen sind hier etwa das Recht auf Gewerkschaftsbildung und kollektive Lohnver‐ 3.3 Staatlicher Ausgleich: Gerechtigkeit und Sicherheit 25 <?page no="26"?> 2 Einkommensteuer muss nur für das Einkommen oberhalb des Grundfreibetrags gezahlt werden. In Deutschland lag der Freibetrag zu Beginn des Jahres 2024 für Ledige bei 11.604 Euro sowie 9.312 Euro je Kind. handlungen zu nennen. In partnerschaftlicher Weise sollen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände („Sozialpartnerschaft“) Löhne und Arbeitsbedin‐ gungen aushandeln, um eine Ausbeutung der Arbeitskräfte zu verhindern und um eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer am Wohlstand zu bewirken. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von anderen Politikbereichen, in denen Maßnahmen getroffen werden, welche die soziale Sicherheit erhöhen bzw. soziale Ungerechtigkeit reduzieren sollen. Bei genauer Betrachtung haben sogar fast alle staatlichen Maßnahmen einen - teils indirekten - Einfluss auf die Verteilung. Man denke z. B. an die Geldpolitik: Eine geringe Inflationsrate trägt zur sozialen Sicherheit bei, und Leitzins‐ änderungen beeinflussen die Verteilung z. B. zwischen den Beziehern von Vermögens- und Arbeitseinkommen. In bestimmten Politikbereichen ist soziale Gerechtigkeit indes explizit eines der Handlungsziele. Dazu zählen u.-a. die Steuer-, Bildungs- und Gesundheitspolitik. Der steuerliche Grundfreibetrag 2 erhöht z. B. die soziale Sicherheit des einzelnen Einkommensteuerpflichtigen, weil er das Existenzminimum prin‐ zipiell vor dem Zugriff des Fiskus schützt. Eine steuerpolitische Maßnahme, die der sozialen Gerechtigkeit dienen soll, ist z.-B. der progressive Einkom‐ mensteuertarif: Der Grenzsteuersatz nimmt mit steigendem Einkommen zu, d. h. die absolute Steuerbelastung steigt überproportional zum Einkommen. Im Ergebnis ist die Einkommensverteilung nach der Einkommensbesteue‐ rung weniger ungleich als zuvor. Im Bereich der Bildungspolitik ist es vor allem der unentgeltliche Zugang zum öffentlichen Bildungssystem, den der deutsche Staat auch und gerade mit dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit zu begründen versucht. Dabei geht es vor allem um Startchancengerechtigkeit. Verschiedene Bildungsstufen sollen nämlich unabhängig von der finanziellen Ausstattung der Eltern - bzw. anderer Unterstützung leistender Personen - für alle Ge‐ eigneten grundsätzlich zugänglich sein. Während die Gebührenfreiheit von Grund-, weiterführenden, Berufs- und Hochschulen allen ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse zugutekommt, sind andere bildungspolitische Maßnahmen stärker auf eine Verbesserung der Chancen wirtschaftlich benachteiligter Gruppen gerichtet. Ein Beispiel hierfür sind Bildungsgut‐ 26 3 Schwächen des Marktes: Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit <?page no="27"?> scheine für einkommensschwache Familien, mit denen diese z. B. Nachhil‐ feunterricht bezahlen können. Auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik wird ebenfalls Umverteilung zugunsten Einkommensschwacher betrieben. Dies wird in Deutschland besonders deutlich am System der gesetzlichen Pflichtkrankenversicherung, das von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam finanziert wird: Die Krankenkassenbeiträge nehmen bis zu einer gewissen Grenze mit steigen‐ dem Gehalt zu, aber Personen mit niedrigem Lohneinkommen erhalten die gleichen Gesundheitsleistungen wie andere. Andere Staaten betreiben ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen, d. h. die Bürger haben weitgehend kostenlosen Zugang zu staatlichen Gesundheitsdienstleistungen. Alternativ besteht etwa in der Schweiz die Pflicht, sich privat zu versichern und der Staat trägt der Bedarfsgerechtigkeit insoweit Rechnung, als er die Versicherungsbeiträge einkommensschwacher Haushalte bezuschusst. 3.3 Staatlicher Ausgleich: Gerechtigkeit und Sicherheit 27 <?page no="29"?> 4 Staatliche Eingriffe bei Marktversagen Der Staat ist in der Sozialen Marktwirtschaft nicht „nur“ gefordert, für mehr soziale Gerechtigkeit und Sicherheit zu sorgen, sondern auch regulie‐ rend in den Markt einzugreifen, wenn die Bedingungen für ein optimales Marktergebnis nicht gegeben sind. In diesem Zusammenhang wird von Marktversagen gesprochen. In der Ökonomie wird unter Marktversagen verstanden, dass das freie Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage zu keiner optimalen Allokation führt. Die Fehlallokation bedeutet, dass die Versorgung schlechter und die Wohlfahrt geringer als möglich ist. Es gibt drei Arten „klassischen“ Marktversagens: • externe Effekte • öffentliche Güter • natürliches Monopol 4.1 Externe Effekte Externe Effekte sind Kosten oder Nutzen, die durch einen Verursacher erzeugt werden, aber nicht in seine Wirtschaftsrechnung eingehen, weil sie nicht über den Markt in Rechnung gestellt bzw. entgolten werden. Ein Beispiel für externe Kosten liefert eine Fabrik, deren Schadstoffausstoß zu Gesundheits- und Umweltbelastungen in der Umgebung führt, für welche der Fabrikant (=Verursacher) nicht aufkommt. Das Ergebnis ist in aller Regel, dass eine größere Menge von dem Produkt erzeugt und verbraucht wird, als es volkswirtschaftlich optimal wäre. Der Staat kann externen Kosten mit Verboten, Auflagen, Abgaben und handelbaren Zertifikaten sowie mit Haftungs- und Kompensationsregelungen begegnen. Ein Beispiel für externe Nutzen ist das Imkern, bei welchem die Bienen die Pflanzen der benachbarten Landwirtschaftsbetriebe bestäuben, aber der Imker (=Verur‐ sacher) hierfür nicht entlohnt wird. Das führt in der Regel dazu, dass weniger produziert wird als volkswirtschaftlich erwünscht. Mögliche Maßnahmen zur Behebung solchen Marktversagens sind Anreize etwa in Form von Subventionen, Kompensationslösungen oder eine (zusätzliche) staatliche Bereitstellung. <?page no="30"?> 4.2 Öffentliche Güter Öffentliche Güter (Kollektivgüter) sind durch Nichtausschließbarkeit charakterisiert, d. h. dass keine Person von der Nutzung ausgeschlossen werden kann, wenn das Gut erst einmal bereitgestellt wurde. Die Nichtaus‐ schließbarkeit kann - wie etwa bei einem Leuchtturm oder der Straßenbe‐ leuchtung - technisch bedingt sein. Sie kann aber auch „nur“ ökonomisch bedingt sein, d. h. der Aufwand, um einzelne auszuschließen, steht in kei‐ nerlei Verhältnis zum Vorteil der Nutzung - wie etwa beim Bürgersteig. Die Nichtausschließbarkeit impliziert, dass Anbieter nicht verhindern können, dass Nichtzahler das Gut nutzen. Damit ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass private Anbieter das Gut gar nicht oder - wenn überhaupt - in geringerer Menge als volkswirtschaftlich sinnvoll bereitstellen. Streng genommen muss ein Gut weiterhin die Eigenschaft der Nichtrivalität aufweisen, um als „reines“ öffentliches Gut zu gelten (sonst ist es ein Allmendegut). Das bedeutet, dass der Nutzen der einen Person nicht dadurch geschmälert wird, dass weitere Personen das Gut nutzen. Die Nichtrivalität kann unbegrenzt oder bis zu einer gewissen Zahl an Nutzern vorliegen. Unbegrenzte Nichtrivalität herrscht z. B. bei Leuchttürmen, während sie etwa bei Bürgersteigen und Straßen auf eine gewisse Nutzerdichte begrenzt ist. Zu den allokationspolitischen Aufgaben des Staates zählt es, dafür zu sorgen, dass öffentliche Güter in ausreichender Menge bereitgestellt wer‐ den. Damit kann er private Unternehmen beauftragen bzw. subventionieren, oder er kann das Gut als Monopolanbieter selbst herstellen und lediglich Vorleistungen von Privaten kaufen wie etwa im Falle innerer und äußerer Sicherheit üblich. Grundsätzlich kann er Private auch durch Zwang zur Produktion eines öffentliches Gut bewegen. An der Nordseeküste mussten die Grundbesitzer in früheren Jahrhunderten z. B. jeweils ein Stück vom Deich pflegen, andernfalls wurde ihnen ihr Land abgenommen. 4.3 Natürliches Monopol Ein natürliches Monopol liegt vor, wenn ein einzelnes Unternehmen den gesamten Bedarf zu niedrigeren Kosten bedienen kann als zwei oder mehr Unternehmen. Dies ist oftmals der Fall, wenn sehr hohe irreversible Anfangsinvestitionen für die Bereitstellung des Guts anfallen, die Fixkosten hoch und die variablen Kosten vergleichsweise niedrig sind. Die Folge ist, dass ein großes Unternehmen dieselbe Menge zu geringeren Kosten 30 4 Staatliche Eingriffe bei Marktversagen <?page no="31"?> produzieren kann als zwei oder mehr Unternehmen. Typischerweise taucht diese Kostenstruktur bei Gütern auf, deren Angebot eine aufwändige Infra‐ struktur voraussetzt. Beispiele sind das Schienen-, Fest- und Stromnetz, die Wasser- und Abwasserversorgung sowie in eingeschränktem Maße auch Großflug- und Großschifffahrtshäfen. Die Problematik lässt sich gut am Schienennetz der Deutschen Bahn verdeutlichen: Würde ein zweites Unter‐ nehmen auf den Markt für Schienentransportdienstleistungen treten wollen, müsste es Schienen und Weichen verlegen, Bahnhöfe und Bahnübergänge bauen usw. Außerdem müsste es diese Infrastruktur warten. Diese erhebli‐ chen Fixkosten müssten durch die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf und Frachten finanziert werden. Würde ein zweites Unternehmen auf den Markt treten, kann der (bis‐ herige) Monopolist aufgrund seiner Größenvorteile und den daraus resul‐ tierenden niedrigen Durchschnittskosten zu einem Preis kostendeckend anbieten, bei dem der Newcomer Verluste machen würde. Dies wird etwaige Konkurrenten vom Markteintritt abhalten. Selbst für den Fall, dass der natürliche Monopolist deutlich überhöhte Preise fordert, die ein Newco‐ mer kostendeckend unterschreiten könnte, wird kein Unternehmen den Markteintritt wagen. Das liegt daran, dass es damit rechnen muss, dass der Monopolist auf den bevorstehenden Markteintritt eines Konkurrenten mit Kampfpreisen reagieren wird, die es diesem verunmöglichen, in die Gewinnzone zu gelangen. Freilich würde der bisherige Monopolist die Preise wieder erhöhen, sobald der Konkurrent vom Markt verdrängt wurde. Da aber die Aussicht auf hohe Verluste dazu führt, dass mögliche Konkurrenten die hohen Anfangsinvestitionen erst gar nicht tätigen, kann der natürliche Monopolist ungehindert das Gesamtangebot bestimmen. Selbst wenn sich unerwarteter Weise zwei Unternehmen am Markt behaupten könnten, wäre dies volkswirtschaftlich ineffizient, weil dann die gesamten Kosten zur Produktion einer bestimmten Menge höher als notwendig wären. So wäre es z. B. offenkundig Ressourcenverschwendung, wenn die Infrastruktur der Bahn zwei Mal eingerichtet und gewartet würde. Daher ist es nicht nur zwangsläufig, sondern gewissermaßen auch wün‐ schenswert, dass in Märkten mit außerordentlich hohen Markteintritts- und Fixkosten diese nur einmal anfallen, sprich ein Monopol besteht. Allerdings ist in einem Monopol die Marktversorgung schlechter und die Wohlfahrt geringer als bei Wettbewerb, d.-h. es liegt kein Allokationsoptimum vor. Insoweit besteht aus wohlfahrtstheoretischer Sicht staatlicher Hand‐ lungsbedarf. Hierbei stehen dem Staat mehrere Instrumente zu Verfügung: 4.3 Natürliches Monopol 31 <?page no="32"?> • Staatliches Monopol/ Verstaatlichung. Dies entsprach bis in die 1980er-Jahre der gängigen Praxis in den meis‐ ten Volkswirtschaften. Als problematisch gilt dabei, dass ein staatliches Monopolunternehmen nicht zwingend wohlfahrtsförderlicher agiert als ein privater Monopolist, sondern mit gewisser Wahrscheinlichkeit sogar ineffizienter wirtschaftet, da kein privater Kapitalgeber eine effiziente Mittelverwendung kontrolliert. • Kontrahierungszwang. Eigentümer bzw. Betreiber der monopolistischen Infrastruktur wer‐ den gezwungen, die Infrastruktur anderen Nutzern zu angemessenen Konditionen zu überlassen. Solch ein Kontrahierungszwang ist z. B. in den EU-Mitgliedstaaten parallel zur Privatisierung während der 1990er-Jahre eingeführt worden. Beispielsweise muss es ein Stromnetz‐ betreiber den übrigen Stromversorgern ermöglichen, ihren Strom über das Netz an den Endkunden zu transportieren; oder die Deutsche Bahn muss Konkurrenten das Befahren der Schienen, die Abfertigung an Bahnhöfen usw. ermöglichen. Das Netzmonopol bleibt zwar bestehen, aber es kann vom Betreiber nicht mehr ohne Weiteres genutzt werden, um seine Monopolstellung auf den Markt für netzgebundene Leistungen zu übertragen. • Missbrauchsaufsicht. Der Staat beaufsichtigt den Monopolisten, um sicherzustellen, dass dieser seine Monopolmacht nicht missbraucht, d. h. vor allem keine überhöhten Preise fordert, sondern wettbewerbliche Preise. In Deutsch‐ land kommt diese Aufsicht der Bundesnetzagentur und dem Bundeskar‐ tellamt zu. 32 4 Staatliche Eingriffe bei Marktversagen <?page no="33"?> 5 Konjunktur- und Wachstumspolitik Des Weiteren zählt die Stabilitäts- und Wachstumspolitik zu den Auf‐ gaben des Staates. Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, die für ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum sowie für Vollbeschäfti‐ gung, Preisniveaustabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht Sorge tragen sollen. Die vier Ziele stellen gemeinsam gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht dar und werden im deutschsprachigen Raum als „magi‐ sches Viereck der Wirtschaftspolitik“ bezeichnet. In der Sozialen Marktwirtschaft umfasst die Stabilitäts- und Wachstums‐ politik zuvorderst ordnungspolitische Maßnahmen wie die Unabhän‐ gigkeit einer auf Stabilität verpflichteten Zentralbank, eine Begrenzung der Staatsverschuldung sowie ein Steuersystem, das hinreichend Raum für Leistungsanreize für wirtschaftliches Engagement (z. B. Erwerbstätigkeit) und wachstumsförderliche Aktivitäten (z. B. Investieren, Sparen, Bildung) lässt. Hinzu kommt eine aktive Wachstumspolitik, die von Infrastruktur‐ investitionen, Maßnahmen zur Steigerung des Arbeitskräftepotenzials und Förderung unternehmerischer Forschung bis hin zur (Teil-)Finanzierung von Forschungseinrichtungen und -projekten in und außerhalb von Hoch‐ schulen reicht. Darüber hinaus ist in der Sozialen Marktwirtschaft angedacht, dass der Staat prozesspolitische Maßnahmen zur Stabilisierung des Konjunktur‐ verlaufs ergreift - zumindest gilt dies für die von ihrem Namensgeber Müller-Armack konzipierte Ausprägung (Müller-Armack, 1966, S. 331 ff.). Der Konjunkturverlauf ist das kurzfristige Auf und Ab des gesamtwirt‐ schaftlichen Auslastungsgrades des Produktionspotentials, welches in allen wirtschaftlich weiter entwickelten Ländern zu beobachten ist. In → Abb. 1 ist der idealtypische zyklische Konjunkturverlauf dargestellt. Der Kon‐ junkturzyklus bezeichnet mithin die kurzfristigen zyklischen Schwankun‐ gen des Wachstums des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das BIP ist die zu Marktpreisen bewertete Bruttowertschöpfung einer Volkswirtschaft. Es repräsentiert den wirtschaftlichen Wert dessen, was in einer Volkswirtschaft in einer Zeitperiode gegen Entgelt neu geschaffen wurde. Beispielsweise betrug das BIP Deutschlands im Jahr 2023 ca. 4.120 Mrd. Euro bzw. ca. 48.750 Euro pro Kopf. <?page no="34"?> preisbereinigtes BIP Hochkonjunktur Depression langfristiger Wachstumstrend Abb. 1: Idealtypischer Konjunkturzyklus | Quelle: Kulessa (2018), S.-38 Gesellschaftlich negative Wirkungen von Rezession und Depression sind u. a. steigende Arbeitslosigkeit und Unterinvestitionen. Negative Wirkun‐ gen von Boom und Hochkonjunktur sind steigende Inflationsraten und die Gefahr von Überinvestitionen bzw. Spekulationsblasen, die über kurz oder lang zusammenbrechen und in eine Rezession oder Krise münden können. Zu den prozesspolitischen Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung zählen zum einen Maßnahmen der Zentralbank (Geldpolitik), etwa die Än‐ derung des Leitzinses oder der Zentralbankgeldmenge. Zum anderen zählen dazu gesamtwirtschaftlich orientierte Maßnahmen auf der Ausgaben- oder Einnahmenseite des Staates (Fiskalpolitik), z. B. eine (vorübergehende) Änderung der staatlichen Investitionen, Subventionen/ Transfers oder Steu‐ ersätze. (Zur nachfrageorientierten Konjunkturpolitik siehe →-Kap.-19.) Weitergehende Ausführungen zu den gesamtwirtschaftlichen Zielen und Politikmaßnahmen würden den Rahmen dieses Buchs sprengen, weswegen an dieser Stelle auf makroökonomische Lehrbücher verwiesen sei (z. B. Blanchard & Illing 2021, Clement, Terlau & Kiy 2023, Kulessa 2018, Mankiw 2017). 34 5 Konjunktur- und Wachstumspolitik <?page no="35"?> 6 Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen Schließlich sieht die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft vor, dass der Staat eine aktive Rolle bei der Etablierung und Aufrechterhaltung des Wettbewerbsmechanismus spielt, damit der Markt tatsächlich auch als Wohlfahrtsgenerator fungieren kann. Damit ist gemeint, dass der Staat Wettbewerbspolitik betreibt und gegen private Wettbewerbsbeschrän‐ kungen vorgeht. Marktwirtschaftlicher Wettbewerb bedeutet, dass der Leistungsfähigste (in puncto Effizienz, Qualität, Innovation etc.) Marktan‐ teile gewinnt. Wettbewerbsbeschränkungen liegen entsprechend vor, wenn Unternehmen versuchen, sich Marktvorteile durch „unfaire“ Verhaltens‐ weisen zu verschaffen, die den Wettbewerb ausschalten oder behindern. Zu den (potenziell) wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen zählen horizontale Vereinbarungen zwischen Unternehmen (Kartelle), vertikale Vereinbarungen - etwa zwischen Erzeuger und Händler - insbesondere von marktmächtigen Unternehmen sowie Fusionen. Eine Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen lässt sich mit dem Ziel des Wohlstands begründen. Das Freiheitsziel kann ebenfalls zu ihrer Begründung herangezogen werden, denn Wettbewerbsbeschränkungen von Unternehmen (z. B. Kartelle, Boykotte) reduzieren oftmals die (Wahl-)Frei‐ heit von Nachfragern, Konkurrenten oder anderen Marktteilnehmern. Begriffe | Kartell Kartelle sind Vereinbarungen bezüglich eines oder mehrerer Parameter zwischen Unternehmen, die auf dem gleichen Markt konkurrieren. Die kartellierten Paramenter können z. B. Preise, Mengen, Rabatte oder andere Konditionen, Normen oder die Forschung sein (Preiskartell, Mengenkartell usw.). Vorrangiges Instrument einer Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist der Teil des Wettbewerbsrechts, der oftmals verkürzt als Kartellrecht bezeichnet wird. Es enthält in aller Regel ein Verbot von Kartellen und ande‐ ren wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen sowie Ausnahmen vom Verbot. Hinzu kommen Regelungen für marktmächtige Unternehmen, um deren Missbrauch von Marktmacht zur Behinderung von Konkurrenten <?page no="36"?> bzw. zur Ausbeutung von Lieferanten und Kunden zu verhindern. Außer‐ dem finden sich im Kartellrecht Bestimmungen darüber, unter welchen Voraussetzungen Unternehmenszusammenschlüsse (Fusionen) untersagt werden. In Deutschland ist hier vor allem das Gesetz gegen Wettbewerbs‐ beschränkungen (GWB) zu nennen. (Kerber 2019) Es trat 1958 in Kraft und wurde seither 11 Mal novelliert, zuletzt 2023. 36 6 Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen <?page no="37"?> 7 Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft Privateigentum, dezentrale Koordination und Individualprinzip Wie bereits erwähnt, zählen Privateigentum an Produktionsmitteln und dezentrale Koordination zu den elementaren ordnungspolitischen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Damit einher geht das Individu‐ alprinzip, d. h. das Individuum ist frei in seinen ökonomischen Handlungen. Dies schlägt sich u. a. nieder in Konsumfreiheit, Gewerbefreiheit, freier Berufs- und Arbeitsplatzwahl. Das Individualprinzip impliziert zugleich, dass das Individuum die Verantwortung und die Konsequenzen für sein Handeln trägt. Sozialprinzip Zugleich betont der sozialstaatliche Charakter der Sozialen Marktwirtschaft das Sozialprinzip. Das Existenzminium der Einzelnen soll gesichert sein und im Bedarfsfall aus den Mitteln aller (Steueraufkommen des Staates) ge‐ deckt werden. Außerdem soll wirtschaftlich-soziale Ungleichheit reduziert werden, wozu wiederum die Mittel aller zu Gunsten einzelner Gruppen eingesetzt werden. Das Sozialprinzip steht in einem gewissen Spannungs‐ verhältnis zum Individualprinzip: Das begünstigte Individuum wird in Teilen aus der Verantwortung für sein Tun und dessen Konsequenzen entlassen; den Individuen, die die Umverteilung finanzieren, werden Früchte der eigenen Tätigkeit entzogen. Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip ist ein gesellschaftspolitisches Ordnungsprin‐ zip, das wesentlich auf die katholische Soziallehre zurückgeht. Es baut eine Brücke zwischen Individual- und Sozialprinzip. Es besagt, dass eine Aufgabe auf der untersten aller geeigneten Handlungs- und Entscheidungsebenen bewältigt werden soll. Nur dann, wenn sich eine Ebene als ungeeignet herausstellt, weil sie z. B. überfordert ist, soll die nächsthöhere Ebene einschreiten. Für die Sozialpolitik bedeutet das Subsidiaritätsprinzip, dass sich zunächst das Individuum helfen soll. Ist es in einer individuellen wirtschaftlichen Notlage damit überfordert, ist die Kernfamilie zur Unter‐ <?page no="38"?> stützung verpflichtet. Kann sie dies nicht, ist die nächsthöhere Einheit zuständig, also z.-B. der weitere Verwandtenkreis oder die Gemeinde, dann das Land und schließlich der Bund oder sogar die internationale Ebene (z. B. EU). Versicherungs- und Fürsorgeprinzip In der Sozialen Marktwirtschaft kommen speziell für die Sozialpolitik ferner dem Versicherungsprinzip und dem Fürsorgeprinzip Bedeutung zu. Gemäß dem Individualprinzip soll jeder selbst für das Alter oder den Fall von Krankheit, Pflege, Unfall, Erwerbslosigkeit etc. vorsorgen. Da dies nicht jedes Individuum aus freien Stücken tut, wird es vom Staat dazu verpflichtet, sich gegen diese Risiken zu versichern. Jedoch kann sich nicht jeder ausreichend versichern und es gibt Armutsrisiken, gegen die es keinen Versicherungsschutz gibt. In diesen Fällen greift der Staat weiter ein. So zahlt er z. B. die Versicherungsprämien für sozial Schwache bzw. ge‐ währt Sozialhilfe (Fürsorgeprinzip). Außerdem existieren in Deutschland gesetzliche Pflichtversicherungen mit einkommensabhängigen Beiträgen. Die Leistungen sind bei der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung hingegen einkommensunabhängig. Bei den Kranken- und Pflegekassen greift also neben dem Versicherungsprinzip auch das Solidarprinzip. 38 7 Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft <?page no="39"?> 8 Regeln für wirtschaftspolitische Maßnahmen 8.1 Zielwirksamkeit Maßnahmen sollen geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen. Dieses Kriterium wird auch als Effektivität bezeichnet. Zielwirksamkeit umfasst Nah- und Fernwirkungen, d. h. die Maßnahme soll nicht nur kurzfristig den Zielerreichungsgrad erhöhen, sondern auch auf lange Sicht. Maßnah‐ men sollen mit anderen Worten der nachhaltigen Zielerreichung dienen. Beispiel: Ein niedriger staatlich vorgegebener Höchstpreis für Nahrungs‐ mittel kann zwar kurzfristig dem Ziel einer bezahlbaren Lebensmittelver‐ sorgung der Bevölkerung dienen. Aber langfristig würde der Höchstpreis zu einem Rückgang der Nahrungsmittelproduktion führen, und die gestiegene Knappheit würde wiederum die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung verschlechtern. Außerdem inkludiert Zielwirksamkeit minimale negative Wirkungen auf andere Ziele; im Idealfall sollen keine vermeidbaren Nebenwirkungen eintreten. Eine Maßnahme, die den Erreichungsgrad des Ziels A (z. B. Umweltschutz) erhöht, zugleich aber den Erreichungsgrad des Ziels B (z. B. Gerechtigkeit) unnötig verschlechtert, ist in diesem Sinne nicht zielwirksam. 8.2 Marktkonformität Maßnahmen sollen den marktwirtschaftlichen Preismechanismus nicht außer Kraft setzen, damit seine Funktionen erhalten bleiben. Idealer‐ weise sollen die Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Markts bzw. den Wettbewerbsmechanismus so gering wie möglich sein. Zum Beispiel setzen Höchst- und Mindestpreise den Preismechanismus außer Kraft, wenn sie unter bzw. über dem markträumenden Wettbewerbs‐ preis liegen, da sie dann offensichtlich die Signal- und Ausgleichsfunktion des Preismechanismus ausschalten. Subventionen oder soziale Transfers lassen den Marktmechanismus hingegen in der Regel weitgehend intakt. Allerdings gilt für die gesamte Umverteilungs- und Sozialpolitik, dass sie nur dann effektiv und zugleich marktkonform ist, wenn es gelingt, Einkommens- und Vermögensungleichheit zu reduzieren, ohne dass die Motivations- und Anreizfunktion des Marktmechanismus nennenswert <?page no="40"?> eingeschränkt wird. Mit anderen Worten: Eine Sozialbzw. Umverteilungs‐ politik, die dazu führt, dass sich (Markt-)Leistung nicht lohnt, ist nicht marktkonform. Im Wesentlichen geht es bei der Marktkonformität um die Auswahl der Maßnahmen mit der niedrigsten Eingriffsintensität, sowohl in den Marktmechanismus als auch in die individuelle Freiheit. 8.3 Effizienz Unter Effizienz ist die Wirtschaftlichkeit einer Maßnahme zu verstehen. Das bedeutet, dass idealerweise die Maßnahme mit dem besten Nutzen-Kos‐ ten-Verhältnis ergriffen wird. Alternativ kann auch formuliert werden, dass ein gegebenes Ziel zu geringstmöglichen Kosten erreicht werden soll. Zu den Kosten zählen einzelwirtschaftliche (interne) ebenso wie externe Kosten, unternehmerische Kosten ebenso wie Kosten der öffentlichen Hand. Beispiel: Eine bezahlbare Nahrungsmittelversorgung ließe sich evtl. durch staatliche Produktionsmengenvorgaben für Landwirtschaft und Lebensmit‐ tel mit anschließender Verteilung der Lebensmittel bewerkstelligen, aber die Kosten wären deutlich höher als etwa im Falle von Subventionen oder Transfers. In der Theorie der Sozialen Marktwirtschaft sollen Maßnahmen ergriffen werden, die zugleich effektiv, marktkonform und effizient sind. In der Praxis muss hiervon indes abgewichen werden. Gründe können u. a. sein, dass marktkonforme Maßnahmen bisweilen nicht zielwirksam sind, dass die theoretisch idealen Maßnahmen politisch nicht durchsetzbar sind, oder dass zielwirksame marktkonforme Maßnahmen in der Praxis an den hohen Umsetzungskosten scheitern, d. h. faktisch nicht effizient sind bzw. nicht praktikabel. 8.4 Ordnungs- und Prozesspolitik Die Ordnungspolitik umfasst alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die den institutionellen Rahmen für die Wirtschaftsordnung abstecken. Der Rahmen ist ein dauerhaftes und i. d. R. rechtlich verankertes Set von Spielregeln für die wirtschaftlichen Akteure. Dazu zählen u. a. die Eigen‐ tumsverfassung (z. B. Schutz und Verantwortung privaten Eigentums), die Unternehmensverfassung (z. B. handels- und gesellschaftsrechtliche Re‐ 40 8 Regeln für wirtschaftspolitische Maßnahmen <?page no="41"?> gelungen und Mitbestimmungsgesetze), die Arbeitsmarktordnung (z. B. Tarifautonomie, freie Arbeitsplatzwahl), die Geldordnung (z.-B. Unabhän‐ gigkeit der Zentralbank), die Wettbewerbsordnung (z. B. das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWB), die Sozialordnung (z. B. soziales Sicherungssystem) und die Außenwirtschaftsordnung. Umfassende Steu‐ erreformen, Ladenschlussgesetze und Arbeitsschutzgesetze zählen ebenfalls zur Ordnungspolitik. Mit Prozesspolitik (auch: Ablaufpolitik) sind Eingriffe in wirtschaftliche Prozesse (Abläufe) gemeint, die das Marktergebnis unmittelbar verändern. Sie ist anders als die Ordnungspolitik nicht nur langfristig ausgerichtet, sondern übernimmt vor allem kurzfristige Steuerungsaufgaben. Die Pro‐ zesspolitik kann gesamtwirtschaftlich orientiert (z. B. Konjunkturpolitik) oder auf Branchen bzw. Regionen ausgerichtet sein (sektorale bzw. regio‐ nale Prozesspolitik). Beispiele für prozesspolitische Maßnahmen sind die Erhöhung/ Senkung von Staatsausgaben (z. B. Infrastruktur-, Bildungs- und Transferausgaben) und Abgaben (z. B. Steuern, Sozialversicherungsbei‐ träge) oder das Anheben/ Absenken von Leitzinsen (Geldpolitik). Es lässt sich vereinfacht sagen: Die Ordnungspolitik legt die Spiel‐ regeln fest, unter denen die Marktteilnehmer agieren dürfen. Die Pro‐ zesspolitik greift direkt ein und verändert das Ergebnis des „Spiels“. Gelegentlich können Maßnahmen nicht eindeutig der Ordnungs- oder Prozesspolitik zugeordnet werden. So ist der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland insoweit eine ordnungspolitische Maßnahme, als mit der erst‐ maligen Einführung eines Mindestlohngesetzes (2015) die deutsche Arbeits‐ marktordnung langfristig berührt wurde. Andererseits ist die Festlegung des Mindestlohns auf zunächst 8,50 Euro eine prozesspolitische Maßnahme ebenso wie die Folgeerhöhungen auf mittlerweile 12,41 Euro (2024). In der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ist eine starke Präferenz für die Ordnungspolitik verankert. Prozesspolitische Maßnahmen sollen auf das Nötigste beschränkt und marktkonform gestaltet werden. In der Praxis der deutschen Wirtschaftsordnung sind staatliche Interventionen in das wirtschaftliche Geschehen hingegen an der Tagesordnung. Es wird über die Notwendigkeit und Marktkonformität etlicher Maßnahmen gestritten, ebenso über deren Zielwirksamkeit und Effizienz. 8.4 Ordnungs- und Prozesspolitik 41 <?page no="43"?> Zweiter Teil | Vom Merkantilismus zum Ordoliberalismus <?page no="45"?> 9 Überblick Eine wirtschaftspolitische Konzeption ist ein programmatisches Leitbild, zu dessen Verständnis die Vorgeschichte der Konzeption hilfreich ist. Die folgenden historischen Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf Europa; teils sind sie auf Deutschland beschränkt. Physiokratismus Klassischer Liberalismus Laissez-faire-Liberalismus („Manchesterliberalismus“) Neoliberalismus → Ordoliberalismus Soziale Marktwirtschaft Ökologisch-soziale Marktwirtschaft Wissenschaftlicher Sozialismus Merkantilismus Abb. 2: Chronologie wirtschaftspolitischer Konzeptionen Es werden zunächst die Entwicklungen vom Merkantilismus (17. bis 18. Jahrhundert) zum klassischen Liberalismus (18. Jahrhundert) und zum Laissez-faire-Liberalismus (19. Jahrhundert) skizziert. Nach einem kur‐ zen Ausflug zum wissenschaftlichen Sozialismus (19./ 20. Jahrhundert) werden der Neoliberalismus und der Ordoliberalismus (20. Jahrhundert) dargestellt, um dann auf die Anfänge der Sozialen Marktwirtschaft im Nachkriegsdeutschland (1950er-Jahre) einzugehen. <?page no="47"?> 10 Merkantilismus Im Zeitalter des Barocks (17. bis 18.-Jahrhunderts) gab es in vielen Ländern Europas einen absolutistischen Herrscher (z. B. König), der von den Gesetzen losgelöst war und sich bei seiner Alleinherrschaft meist auf „Gottes Gnaden“ berief. Er galt als unumschränkter Herrscher des Landes und griff erheblich in das Leben seiner Untertanen ein, etwa die Religion betreffend. Dieses zentralistische und auf eine Person oder Familie konzentrierte politische System wird als Absolutismus bezeichnet und hatte sein wirtschaftspoli‐ tisches Gegenstück im Merkantilismus. Die wirtschaftspolitische Konzeption des Merkantilismus hatte im Kern den Reichtum des Staates zum Ziel. Und der Staat, das war im Wesentlichen der Herrscher; man denke nur an den berühmten Satz „der Staat bin ich“, den der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. gesagt haben soll. Als Reichtum wurde vor allem der Besitz von Edelmetallen wie z. B. Gold und Silber erachtet. Mit diesen wurden das höfische Leben, das Heer, die Verwaltung, der Adel und natürlich auch Prunkbauten finanziert. Entsprechend standen möglichst hohe Staatseinnahmen im Vordergrund der stark lenkenden zentralistischen Wirtschaftspolitik. Es wurden relativ hohe Steuern und Einfuhrzölle erhoben. Einnahmenschaffende Aktivitäten wie die Exporte von Fertigprodukten und die dazu dienlichen Gewerbe wurden gefördert. So wurden z. B. königliche Manufakturen eröffnet, in denen teils Zwangsarbeiter verpflichtet wurden, womit die weit verbreitete landwirt‐ schaftliche Fronarbeit auf das verarbeitende Gewerbe übertragen wurde. Importe wurden mit Ausnahme von Rohstoffimporten, die in der Industrie gebraucht wurden, stark beschränkt bis hin zu Einfuhrverboten für etliche Fertigwaren. Zwar entwickelte sich das politische System im 18. Jahrhundert vielerorts zu einem aufgeklärten Absolutismus, der weniger des Königs Reichtum und mehr des ganzen Landes Wohlstand in den Mittelpunkt rückte. Dennoch blieb die Wirtschaftspolitik dirigistisch, zentralistisch und protektionistisch. Dies gilt auch für Preußen unter Friedrich dem Großen (1712-1786). <?page no="49"?> 11 Liberalismus 11.1 Aufklärung Auf den Barock folgte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Zeitalter der Aufklärung, welche die Vernunft zum Maßstab aller Dinge erhob und grundsätzlich jeden Menschen als fähig erachtet, zu lernen und sich Wissen anzueignen. (Einschränkend sei hinzugefügt, dass viele Anhänger der Aufklärung dies im Wesentlichen nur auf männliche, weiße Erwachsene bezogen.) Vernunft und neues Wissen, so die Überzeugung eines großen Teils der Aufklärer, können langfristig dazu beitragen, die großen Heraus‐ forderungen der Menschheit zu bewältigen. Das Individuum gewann an Bedeutung; es entwickelten sich liberale Werte und eine gewisse Toleranz, insbesondere was Religion betrifft. Die Leibeigenschaft wurde vielerorts abgeschafft. Zünfte verloren an Bedeutung und das Wirtschaftsbürgertum entstand. Es war eine Zeit der gesellschaftlichen und politischen Umwäl‐ zungen; davon zeugen u. a. die Unabhängigkeitserklärung der USA (1776) und die Französische Revolution (1789). Die Etablierung der Nationalökonomie, also der VWL, als eigenstän‐ dige Wissenschaft fällt ebenfalls ins 18. Jahrhundert. Das Werk Tableau Économique (1751) des französischen Mediziners François Quesnay gilt hier als Meilenstein. Quesnay (1694-1774) ist einer der bekanntesten Vertreter der physiokratischen Schule. Die mehrheitlich in Frankreich beheimateten Physiokraten vertraten eine wirtschaftspolitische Auffassung, die dem Mer‐ kantilismus diametral entgegenstand. So sehen sie in der Landwirtschaft den einzigen produktiven Sektor und messen dem Geldvermögen, ganz anders als der Merkantilismus, keinen eigenen Wert bei. Viel wichtiger für unsere Fragestellung nach den historischen Ursprüngen der Sozialen Marktwirt‐ schaft ist indes zum einen die Forderung der Physiokraten nach der (wirt‐ schaftlichen) Freiheit des Einzelnen und folgerichtig der Abschaffung von Leibeigenschaft, Fronarbeit und Marktzugangsbeschränkungen (z. B. Zunft‐ sordnungen, Monopolprivilegien). Zum anderen sieht die Physiokratie freie Märkte und einen freien Außenhandel sowie Privateigentum an Boden und anderen Produktionsmitteln vor. Man solle den Markt „laufen lassen“ (laissez faire et laissez passer) (Oncken, 1886, S. 4 ff.), d. h. den staatlichen Einfluss auf die Volkswirtschaft und die wirtschaftlichen Entscheidungen der Einzelnen minimieren. <?page no="50"?> 3 Andere deutsche Übersetzungen des Titels lauten „Reichtum der Nationen“ oder in früherer Zeit „Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes“. 11.2 Klassischer Liberalismus Parallel zum Physiokratismus entwickelte sich die später als klassischer Liberalismus bezeichnete wirtschaftspolitische Konzeption, die sich über‐ wiegend von Großbritannien aus verbreitete. Ihr berühmtester Vertreter ist zweifellos der Schotte Adam Smith (1723-90). Sein Werk „Der Wohlstand der Nationen 3 “ (An Inquiry into the Nature and Causes of the The Wealth of Nations, 1776) war binnen kurzer Zeit ausverkauft, wird nach wie vor aufgelegt und findet noch heute große Beachtung. In dem Buch führt der Philosoph und Ökonom seine liberalen Wirtschafts‐ theorien zusammen und untersucht die Funktionsweise von Märkten. Zwar galt er als Bewunderer des Physiokratismus und speziell von Quesnay, aber er sah nicht die Natur und den Boden als den einzigen produktiven Produktionsfaktor an, sondern erachtete auch Kapital und Arbeit als pro‐ duktiv. Dabei rückte er die Arbeitskraft in den Mittelpunkt wirtschaftlicher Wertschöpfung. Zusammenfassend sah er in der Arbeitsteilung sowohl in Manufakturen als auch innerhalb und zwischen den Volkswirtschaften die Quelle wirtschaftlichen Wohlstands. Der rege Güteraustausch nach den freien Kräften des Marktes steigere in Verbindung mit Privateigentum, Gewerbe- und Vertragsfreiheit das Gemeinwohl. Kein noch so wohlwollender Herrscher könne für annähernd so hohen gesellschaftlichen Reichtum sorgen und zwar nicht zuletzt mangels der dafür nötigen Informationen in einer immer komplexer werdenden Volkswirtschaft. Der Markt - als Ort des Zusammenwirkens von Angebot und Nachfrage bei „freier Konkurrenz“ - schaffe es hingegen, das individu‐ elle Streben der Einzelnen nach Glück in einen Zustand des Reichtums für die ganze Gesellschaft münden zu lassen. Diese Überlegung wird als die „These von der unsichtbaren Hand des Marktes“ bezeichnet. Die Bezeichnung geht auf ein Zitat von Smith zurück, in dem er das Verhalten eines privaten Investors beschreibt: „He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it .[…] he intends only his own gain; and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention […]. By pursuing his own interest, he frequently promotes that of the 50 11 Liberalismus <?page no="51"?> society more effectually than when he really intends to promote it.“ (Smith, 1827, S.-184) Smiths Werk bzw. der wirtschaftliche Liberalismus werden oft auf die „unsichtbare Hand“ reduziert. Gelegentlich wird entsprechend die Schluss‐ folgerung unterstellt, dass der größtmögliche Wohlstand für die Gesellschaft dann entstünde, wenn man egoistische Marktteilnehmer nur machen lasse (laisser faire) und sich der Staat aus der wirtschaftlichen Sphäre völlig zurückziehe. Dies ist jedoch eine unzulässige Verkürzung von Smith und dem klassischen Liberalismus. Smith bezeichnete es vielmehr als Pflicht des Staates, solche Güter bereitzustellen, die für die Gesellschaft höchst vorteilhaft sind, die aber zu wenig Gewinn abwerfen, um von Privaten angeboten zu werden. Dazu zählte er • äußere und innere Sicherheit, • ein funktionierendes Rechtswesen zum Schutz „jedes Mitglieds der Gesellschaft vor Ungerechtigkeit oder Unterdrückung durch ein anderes Mitglied“ (Smith, 1827, S.-302) und von Privateigentum, • öffentliche Infrastruktur und zwar insb. Verkehrsinfrastruktur sowie • Bildungseinrichtungen für das „gemeine Volk“, flankiert von einer Schulpflicht. Zur Finanzierung dieser und anderer staatlicher Aufgaben plädierte Smith für ein einfaches Steuersystem, das möglichst die Leistungsanreize nicht schmälert (Smith, 1827, S. 347 f.). Die Einzelnen sollen umso mehr zur Staatsfinanzierung beitragen, je höher ihr Einkommen ist („in proportion to the revenue … they enjoy“), d. h. ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechend (Smith, 1827, S.-347). Smith sah verschiedene Probleme, die mit einer völlig ungezügelten Marktwirtschaft einhergehen. So befasst er sich intensiv mit sozialen Fragen. Ungebremste Arbeitsteilung in den Betrieben führe zu Monotonie für die Arbeiter und zu deren „Verdummung“, wogegen der Staat etwas unterneh‐ men müsse (Smith, 1827, S. 327). Zwar glaubt Smith, dass der wachsende „Überfluss“ zu den „untersten Ränken“ durchsickere, aber dazu bedarf es einer „gut regierten Gesellschaft“ (Smith, 1827, S. 5). Er sah die Gefahr, dass Arbeiter durch niedrige Löhne ausgebeutet werden könnten und er sprach sich für Löhne über dem Existenzminimum aus (Smith, 1827, S. 34). Allerdings zog er daraus keine politischen Konsequenzen, sondern setzte 11.2 Klassischer Liberalismus 51 <?page no="52"?> auf eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften im Wachstumsprozess. Zur Notwendigkeit einer Verbesserung der Situation der Arbeiter schreibt Smith, dass keine Gesellschaft gedeihen und glücklich sein könne, wenn ein großer Teil ihrer Mitglieder arm und elend sei (Smith, 1827, S.-33). Smith war kein großer Fürsprecher der Arbeiterschaft, noch weniger ergriff er jedoch Partei für die Arbeitgeber und Kapitaleigentümer, deren Klasse er u. a. für ihren Lobbyismus heftig attackierte. Kaufleute bezeichnete er als eine Gruppe, die in der Regel daran interessiert ist, die Allgemeinheit zu täuschen oder sogar zu missbrauchen (Smith, 1827, S. 107). Sie strebten nach Monopolisierung, weshalb sie z. B. Freihandel bekämpften (Smith, 1827, S. 201). Außerdem versuchten die Arbeitgeber, die Löhne durch Ab‐ sprachen untereinander niedrig zu halten (Smith, 1827, S. 28). Berühmt sind auch Smiths Ausführungen zur Neigung der Unternehmer, den Wettbewerb durch Preisabsprachen zu beschränken: „People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or in some contrivance to raise prices.“ (Smith, 1827, S.-54) Alles in allem nimmt der klassische Liberalismus, wenn man ihn verein‐ fachend mit Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ gleichsetzt, einiges vorweg, was die Soziale Marktwirtschaft ausmacht: • Individualprinzip, • Privateigentum an Produktionsmitteln, • das Primat des Marktes als unsichtbare Hand, die nachhaltig Wohlstand schafft, • das Plädoyer für einen freien Handel, • der Fokus auf das Wohlergehen der privaten Haushalte (Konsumenten), • das Ziel, Armut zu beseitigen, • die staatliche Aufgabe, öffentliche Güter und Bildungsdienstleistungen bereitzustellen, • Besteuerung gemäß der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und • die Erkenntnis, dass Unternehmen zur Kartellbildung neigen. 11.3 Laissez-faire-Liberalismus Der Laissez-faire-Liberalismus ist eine wirtschaftspolitische Konzeption, die im 19. Jahrhundert Verbreitung fand. Er steht für eine völlig sich 52 11 Liberalismus <?page no="53"?> selbst überlassene Marktwirtschaft, in welcher der Staat die wirtschaftliche Freiheit der Unternehmer in keiner Weise einschränkt. Die Rolle des Staates ist im Wesentlichen darauf beschränkt, für äußere und innere Sicherheit zu sorgen. Das Land soll also vor ausländischen Aggressoren geschützt werden, z. B. durch eine handlungsfähige Armee, bzw. der Staat soll im Inneren für öffentliche Sicherheit sorgen, indem er z. B. seine Bürger und deren Eigentum durch ein funktionierendes Polizei- und Justizwesen schützt. Dieses Konzept wird häufig als „Nachtwächterstaat“ bezeichnet. Dieser ursprünglich spöttisch gemeinte Begriff geht auf Ferdinand Lassalle (1825- 64) zurück, ein Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung und Gründer der Vorläuferorganisation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Statt von laissez faire wird gelegentlich auch von „Manchesterliberalis‐ mus“ gesprochen. Das liegt sowohl daran, dass eine damals sehr aktive politische Freihandelsbewegung ihre Wurzeln in Manchester hatte, als auch daran, dass die Arbeitsteilung und Industrialisierung in der Stadt damals vergleichsweise weit fortgeschritten war. Begriffe | Neoklassik Spiegelbildlich zum wirtschaftspolitischen Laissez-faire-Liberalismus entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine „bürgerliche“ Volkswirtschafts‐ lehre, die als Neoklassik bezeichnet wird. Die Abbildung der Märkte wurde formalisiert und in mathematische Modelle gegossen. Diese Gleichgewichtsmodelle zeigen, wie der Marktmechanismus zu einer optimalen Faktor- und Güterallokation findet. Eine völlig ungezügelte Marktwirtschaft ohne staatliche Eingriffe jenseits Verteidigung und öffentlicher Ordnung hat es in der Praxis allerdings niemals gegeben, selbst in England nicht. Es war indes durchaus so, dass die Gewerbefreiheit im 19. Jahrhundert deutlich ausgedehnt wurde - etwa durch die Abschaffung von Zünften und Gilden - und die Unternehmer immer weniger Einschränkungen unterlagen. Die Akkumulation von Pro‐ duktionsmitteln in privater Hand und das Recht der Eigentümer, frei über ihr Kapital zu verfügen, ist typisch für das 19. Jahrhundert. Gleichwohl stammen verschiedene Arbeitsschutzgesetze aus dieser Zeit. So wurde z. B. trotz erheblicher Proteste der Unternehmer die Kinderarbeit ebenso 11.3 Laissez-faire-Liberalismus 53 <?page no="54"?> wie die Arbeitszeit in etlichen Staaten im 19. Jahrhundert begrenzt, womit die unternehmerische Freiheit gewissermaßen auch wieder eingeschränkt wurde. Allerdings waren diese Einschränkungen aus heutiger Sicht minimal. Der Staat überließ zwar das Angebot an Infrastruktur in vielen europäi‐ schen Ländern ebenso wie in Amerika zunächst in Teilen den Privaten (z. B. Eisenbahn und Schifffahrtskanäle), was dem Bild eines Nachtwächterstaats nahekommen mag. Der Staat engagierte sich aber im Laufe der Zeit wie‐ der verstärkt bei der Bereitstellung von Verkehrsinfrastruktur, nicht zuletzt aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten der Privaten und ande‐ ren Fehlentwicklungen. Dazu zählten u. a. Ineffizienzen, Monopolisierung und teils gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Eisenbahngesellschaften. Das staatliche Engagement im Transportbereich diente vorrangig der Förderung der Industrialisierung, während der Aus‐ bau der städtischen Versorgungsinfrastruktur (z. B. Kanalisation und Wasserversorgung) als Reaktion auf die demographischen Folgen der Indus‐ trialisierung zu sehen ist. Im späten 19. Jahrhundert übernahm der Staat vielerorts zudem nennenswerte Teile des Bildungsangebots und führte die allgemeine Grundschulpflicht ein. Somit folgte man auch in diesem Punkt eher den Ansichten von Adam Smith als dem Laissez-faire-Kapitalismus. Allerdings herrschte durchaus laissez faire in Bezug auf wettbewerbs‐ beschränkende Verhaltensweisen von Unternehmern wie etwa Kartelle und Monopolisierungsbestrebungen. Solches Verhalten wurde als Ausdruck der Vertragsfreiheit bewertet und zumindest geduldet. In Deutschland wurden Kartelle bis ins 20. Jahrhundert hinein sogar als Mittel zur Eroberung von Exportmärkten sowie als Instrument zur Stabilisierung der Preise befürwortet. In einzelnen Branchen wurden Kartelle sogar verordnet. (Im Nationalsozialismus kam es dann ab 1933 zu einer sehr weitgehenden Zwangskartellierung der Wirtschaft.) Lediglich in den USA entstand schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Sherman Act (1890) eine Politik zur Eindämmung von Wettbewerbsbeschränkungen. Im 19. Jahrhundert betrieben die Staaten kaum Sozialpolitik, obwohl die „soziale Frage“ infolge der extremen Ungleichverteilung und der elenden Le‐ bensverhältnisse der wachsenden Arbeiterschicht bereits recht früh evident war und immer dringlicher wurde. Erst als die soziale Frage an politischer Brisanz für die Regierungen gewann, die sich u. a. durch kommunistische und sozialdemokratische Bewegungen zusehend bedroht fühlten, vollzogen sich erste Schritte hin zu einer modernen staatlichen Sozialpolitik. So wurden in Deutschland in den 1880er-Jahren die gesetzlichen Pflicht‐ 54 11 Liberalismus <?page no="55"?> versicherungen (Unfall-, Kranken-, Alters- und Invaliditätsversicherung) eingeführt. Sie waren auf Arbeitnehmer begrenzt und wurden zu verschie‐ denen Teilen von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern finanziert. Der Ansatz des deutschen Sozialversicherungswesens wurde später von etlichen Staaten übernommen. Zusammenfassend kann der Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhun‐ derts als eine verkürzte Interpretation der Lehren von Adam Smith cha‐ rakterisiert werden: Die „unsichtbare Hand des Marktes“ würde zu einer optimalen Allokation der Ressourcen führen und die Aufgabe des Staats sei darauf reduziert, Privateigentum und innere wie äußere Sicherheit zu gewährleisten. Die Konzeption wurde im vorletzten Jahrhundert allen‐ falls in Ansätzen realisiert, obwohl sie damals sehr viele Anhänger in Wissenschaft, bürgerlicher Gesellschaft und Politik hatte. Auch heute noch gibt es Befürworter des wirtschaftlichen Laissez-faire. Dazu zählen etwa die Vertreter des relativ jungen, überwiegend in den USA beheimateten Paläolibertarismus, die einen Minimalstaat fordern und vereinzelt sogar den Nachtwächterstaat insoweit ablehnen, als sie die innere Sicherheit privatisieren möchten. Die wirtschaftliche Entwicklung nahm im 19. Jahrhundert in vielen Teilen der Welt erheblich an Fahrt auf. Zugleich aber wuchs die Kluft zwischen rei‐ cher werdenden Industriellen, dem aufstrebenden Bürgertum und der brei‐ ten Bevölkerung. Außerdem kam es vermehrt zu wirtschaftlichen Krisen, die anders als in früheren Jahrhunderten nicht durch Kriege oder Missernten hervorgerufen wurden, sondern dem Wirtschaftsprozess innewohnend zu sein schienen. Schließlich entwickelten sich die Marktstrukturen hin zu Kartellen und Monopolen; das Konkurrenzstreben der Unternehmen, von dem Adam Smith sich so viel versprochen hatte, wurde im industriellen Sektor zunehmend zur Ausnahme. Es ist hier nicht der Raum, die Diskussion darüber zusammenzufassen, ob die genannten negativen Erscheinungen nun Folge einer liberalen Wirtschaftspolitik oder der Industrialisierung sind, oder schlichtweg eine Mischung aus beidem. Es ist an dieser Stelle vielmehr bedeutsam, dass es diese negativen Folgen waren, die Anlass für die Entwicklung weiterer liberaler Leitbilder gaben, darunter der im übernächsten Kapitel (→ Kap. 13) behandelte Neoliberalismus. 11.3 Laissez-faire-Liberalismus 55 <?page no="57"?> 12 Wissenschaftlicher Sozialismus Der Sozialismus zählt nicht zu den Vorläufern der Sozialen Marktwirtschaft, aber er spielte bei der Entwicklung des Neoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft durchaus eine gewichtige Rolle, weswegen hier auch auf ihn eingegangen werden soll. Es waren nämlich nicht zuletzt die Erfah‐ rungen mit der Umsetzung sozialistischer Ideen in Russland bzw. der Sowjetunion, die liberale Intellektuelle motivierten, dem Sozialismus ein liberales und zugleich soziales Konzept entgegenzusetzen. Das revolutio‐ näre Russland war durch jahrelange Gewalt gekennzeichnet und mündete 1922 in eine Diktatur, die gezielt Terror betrieb. Der reale Sozialismus beruft sich auf die Lehren der Deutschen Karl Marx (1818-83) und Friedrich Engels (1820-95), die auch als wissen‐ schaftlicher Sozialismus bezeichnet werden. Marx und Engels begriffen die kapitalistische Klassengesellschaft als eine Phase des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, die mit der Industrialisierung eingesetzt hätte. Die Anhäufung der Produktionsmittel („Arbeitsmittel“) in den Händen weniger Privater (Klasse der Kapitalisten, Bourgeoisie), welche die vielen Arbeiter (Klasse der Proletarier, Proletariat) ausbeuteten, indem sie sich die Produktivitätszuwächse aneigneten, gehe mit einem Klassenkampf einher. Das Proletariat würde letztendlich die Kapitalisten entmachten, das Privat‐ eigentum an Produktionsmitteln würde vergesellschaftet, und nach einer vorübergehenden „Diktatur des Proletariats“ (Sozialismus) entstünde eine klassenlose und langfristig sogar staatsfreie Gesellschaft (Kommunismus). Im Kommunismus leiste jeder mit seiner selbstbestimmten Arbeit seinen Teil für die Gemeinschaft und jedem würde gerecht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ (Marx, Engels 1973, S. 21) Diese Beschreibung war zunächst einmal eine Prognose und kein program‐ matisches Leitbild. Insofern sind der wissenschaftliche Sozialismus und der Kommunismus von Marx keine wirtschaftspolitischen Konzeptionen. Jedoch entwickelten andere auf der Grundlage der Werke von Marx und Engels wirtschaftspolitische Leitbilder. Diese „marxistischen“ - aber eben nicht von Marx selbst stammenden - Konzeptionen sind vielfältig. Sie postulieren alle das angestrebte Ideal der klassenlosen Gesellschaft mit freien Entfaltungsmöglichkeiten, aber die Ziele, Prinzipien und Maßnahmen auf dem Weg dorthin unterscheiden sich <?page no="58"?> zum Teil erheblich. Zusammenfassend und vereinfachend können soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Wohlstand als gemeinsame Ziele identi‐ fiziert werden. (Die hier gewählte Reihenfolge spiegelt im Wesentlichen die Priorisierung der Ziele wider.) Hinzu kommt Freiheit, die jedoch nicht mit dem liberalen Verständnis von individueller Entscheidungs-, Handlungs- und Verfügungsfreiheit gleichgesetzt werden kann. Es geht vielmehr um die Freiheit von ausbeuterischen Produktionsverhältnissen und von ent‐ fremdender Arbeit, denn dann könne sich der Mensch in seiner ökonomi‐ schen Tätigkeit frei entfalten. Prinzipien sind Gemeinschaftseigentum an Produktionsmitteln und Solidarität; häufig kommt der Zentralismus hinzu. Wichtigste Maßnahme ist die Vergesellschaftung des privaten Pro‐ duktionseigentums, meist eine Verstaatlichung. Weitere Maßnahmen sind der staatliche Ausbau der Infrastruktur sowie unentgeltlicher Zugang zu Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen für alle. Erhebliche Differenzen bestehen bezüglich des Wegs zum Sozialismus. Während die einen auf gewaltsame Revolutionen setzen (z. B. Leninismus, Maoismus), halten andere Demokratie und Sozialreformen für den geeigneten Weg (z. B. früher demokratischer Sozialismus). 58 12 Wissenschaftlicher Sozialismus <?page no="59"?> 13 Neoliberalismus 13.1 Zum Begriff des Neoliberalismus Ursprünglich wurden unter dem wirtschaftlichen Neoliberalismus euro‐ päische Strömungen des 20. Jahrhunderts verstanden, die den wirtschafts‐ politischen Liberalismus weiterentwickelten und dabei vor allem um den Schutz des Wettbewerbs und die Bewältigung der sozialen Frage ergänzten. Neben das Ja zu Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft gesellte sich die Überzeugung, dass der Staat die Volkswirtschaft regulieren muss und zwar vorrangig durch ordnungspolitische Maßnahmen. Mitt‐ lerweile wird der Begriff indes auch zur Umschreibung einer Politik der radikalen Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung der Wirtschaft verwendet (Kulessa, 2016). In diesem Lehrbuch wird der Begriff des Neoli‐ beralismus jedoch nicht mit Marktfundamentalismus gleichgesetzt, sondern stets in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet. Die Soziale Marktwirtschaft ist im Wesentlichen eine deutsche Vari‐ ante des Neoliberalismus. Natürlich wurden ähnliche Konzeptionen durch‐ aus auch in anderen Ländern angedacht. Die deutschen „Erfinder“ der Sozialen Marktwirtschaft standen zudem im Austausch mit ausländischen Wissenschaftlern. Dennoch ist es im Großen und Ganzen gerechtfertigt, die Soziale Marktwirtschaft als deutsche Konzeption zu bezeichnen. Daher - und weil dies ein deutschsprachiges Lehrbuch ist - konzentrieren sich die folgenden Ausführungen hauptsächlich auf den deutschen geschichtlichen Hintergrund. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde Europa durch verschiedene Erschütterungen geprägt. Dazu zählen der Erste Weltkrieg (1914-18), die gewaltsame Oktoberrevolution (1917) mit anschließender Gründung der Sowjetunion (1922-91), die Machtübernahme der Faschisten in Italien (1922) und in der ökonomischen Sphäre vor allem die Weltwirtschaftskrise („Große Depression“ 1929-34). Die Deutschen wurden zudem 1923-24 von einer heftigen Hyperinflation geradezu traumatisiert; der Brotpreis stieg binnen sechs Monaten von 474 Mark auf 5,6 Mrd. Mark (Losse, 2012). Zwar gab es in der Weimarer Republik (1918-33) durchaus einige Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs, alles in allem aber war die Situation der breiten Bevölkerung von Armut und anderen sozialen Missständen geprägt. Die Unternehmenskonzentration wuchs, Kartelle waren an <?page no="60"?> der Tagesordnung. Der politische Einfluss der Großunternehmen und Kar‐ telle war erheblich. Der verlorene Krieg und die Unzufriedenheit mit den Verhandlungsergebnissen zwischen der demokratischen Regierung und den Siegermächten taten neben den Wirtschaftskrisen das ihrige, um demokra‐ tiefeindliche Radikalisierungstendenzen zu befördern, und zwar sowohl nach rechts (z. B. Nationalsozialismus, Faschismus) als auch nach links (z. B. Kommunismus, revolutionärer Sozialismus). Zugleich geriet liberales einschließlich wirtschaftsliberales Gedankengut ins Hintertreffen, ja gera‐ dezu in Verruf. Die soziale Lage und die Wirtschafts- und Machtstrukturen wurden von den Menschen nicht selten als das Ergebnis einer liberalen Wirtschaftspolitik und der Marktwirtschaft an sich erachtet. Vor diesem Hintergrund plädierten verschiedene Liberale für einen zeit‐ gemäßen wirtschaftspolitischen Liberalismus, der auf die drängenden Probleme wie soziale Fragen und Wirtschaftskrisen Antworten gibt. Mit einer liberalen und zugleich sozialen Wirtschaftsordnung könnte, so die Hoffnung, das Vertrauen in die Marktwirtschaft und ein freiheitlich-demo‐ kratisches System gestärkt werden. Begriffe | Neoliberalismus Die Bezeichnung Neoliberalismus geht auf ein Treffen liberaler euro‐ päischer Intellektueller in Paris („Colloque Walter Lippmann“ 1938) zurück. Dort wurde nach einem Namen für die neuen liberalen Strömun‐ gen gesucht, um sich vom „alten“ bzw. vom Laissez-faire-Liberalismus abzusetzen. Im Gespräch waren u.-a. „Linksliberalismus“, „Soziallibera‐ lismus“ und „positiver Liberalismus“. Eine neoliberale Strömung ist die sog. Freiburger Schule, die 1933 von Pro‐ fessoren der Rechts- und Staatswissenschaften an der Freiburger Universität begründet wurde. Seit den 1950er-Jahren wird die Freiburger Schule auch als Ordoliberalismus bezeichnet. Die Freiburger Schule bzw. der Ordolibera‐ lismus plädiert zwar für den Markt als Koordinationsmechanismus, fordert aber zugleich seine Begrenzung durch eine Rahmenordnung. Eine zentrale These lautet, dass der Wettbewerb nicht sich selbst überlassen werden könne, sondern dass er durch ordnungspolitische Maßnahmen des Staats geschaffen und sichergestellt werden müsse („Wettbewerb als staatliche Veranstaltung“). Des Weiteren solle sich der Staat grundsätzlich auf die 60 13 Neoliberalismus <?page no="61"?> Ordnung der Wirtschaft beschränken, d. h. ablaufpolitische Eingriffe in die Wirtschaftsprozesse werden weitgehend abgelehnt. Einen Einblick in die Anfänge des Ordoliberalismus gibt die Schriftenreihe „Wirtschaft und Ordnung“, die 1936 und 1937 erschien. Mit dem Machtantritt von Adolf Hitler als Reichskanzler (1933) und der darauffolgenden Errichtung einer nationalsozialistischen Diktatur rückte die Umsetzung neoliberaler Leitbilder allerdings in weite Ferne. Die Volkswirtschaft entwickelte sich vielmehr in Richtung einer kapitalis‐ tischen Zentralverwaltungswirtschaft, was letztlich in Einklang mit der parallelen Aufrüstung und Hitlers Kriegsvorbereitungen stand. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten wie Zwangs‐ kartellierung, zentralistische Produktionsplanung, Preisfestsetzungen und Enteignungen („Arisierung des Eigentums“) standen im offensichtlichen Widerspruch zu wirtschaftsliberalen Überzeugungen. Einige der Neoliberalen emigrierten - teils gezwungenermaßen - wäh‐ rend des Nationalsozialismus aus Deutschland; andere zogen sich freiwillig oder unfreiwillig ins private Leben zurück. Etlichen der neoliberal einge‐ stellten Professoren wurde die Lehrerlaubnis entzogen; viele mussten die Universitäten verlassen. Anfangs hielten einige neoliberale Professoren noch Seminare mit systemkritischen Inhalten, die bei den Studierenden sehr beliebt gewesen sein sollen. Später verlagerten sich die Seminare in private Räume und ähnelten zunehmend konspirativen Treffen. Eine dieser Gesprächskreise war das Freiburger Konzil, das nach der Reichs‐ pogromnacht 1938 gegründet wurde. Zu dem Freiburger Konzil zählten verschiedene Nationalökonomen, Rechtswissenschaftler und im Laufe der Zeit zunehmend auch Theologen (Goldschmidt, Kolev 2023, S. 26-31). Die Mitglieder beriefen sich in hohem Maße auf ihre christliche Verantwor‐ tung, der nationalsozialistischen Obrigkeit ein alternatives Konzept für die Ordnung von Wirtschaft, Staat und Kirche entgegenzusetzen. Es gab personelle Überschneidungen mit ähnlichen oppositionellen Kreisen, den sog. Freiburger Kreisen. Mitglieder der Freiburger Kreise wurden in den 1940er-Jahren wiederholt von der Gestapo (Geheime Staatspolizei) verhört. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Juli 1944 wurden mehrere von ihnen verhaftet, manche in Konzentrationslagern interniert und einige zum Tode verurteilt. In Folge wurden die Treffen weitgehend eingestellt. 13.1 Zum Begriff des Neoliberalismus 61 <?page no="62"?> 13.2 Ordoliberalismus 13.2.1 Freiburger Schule Zu den Mitgliedern der Freiburger Kreise zählte Walter Eucken (1891- 1950), der als Professor für Nationalökonomie an der Freiburger Universität tätig war. Er begründete außerdem zusammen mit den Juristen Franz Böhm (1895-1977) und Hans Grossmann-Doerth (1894-1944) die Freiburger Schule (1933). Eucken ist aus heutiger Sicht der bekannteste Ökonom des Freiburger Konzils und wird nach wie vor in der deutschen Literatur rezipiert. Obwohl er sich inner- und außeruniversitär sowie in Schrift und Lehre wiederholt gegen die nationalsozialistische Rechts- und Wirtschaftsordnung positio‐ nierte, durfte Eucken anders als z. B. Böhm ununterbrochen als ordentlicher Professor lehren. Er wurde zwar 1944 ebenso wie viele seiner Mitstreiter von der Gestapo verhört, aber nicht verhaftet. Die Bezeichnung der Freiburger Schule als Ordoliberalismus geht übri‐ gens auf die Zeitschrift ORDO zurück, die Walter Eucken und Franz Böhm im Jahr 1948 ins Leben riefen. Die Zeitschrift bildet noch heute ein Forum für die Diskussion ordoliberaler Überlegungen. Die früheren Jahrgänge erlauben, die theoretische Entwicklung des Ordoliberalismus hin zur Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft nachzuvollziehen. Euckens wichtigstes Werk sind die posthum veröffentlichten „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ (1952), mit denen er bereits zu Beginn des Kriegs begonnen hatte. Eucken leitete hierin Grundsätze für die Gestaltung ei‐ ner Wirtschaftsordnung her, die als Blaupause für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland konzipiert war. Seine zentrale Fragestellung lautete: „[W]ie kann der modernen industrialisierten Wirtschaft eine funktionsfä‐ hige und menschenwürdige Ordnung gegeben werden? “ (Eucken, 1952, S. 14). Im Folgenden wird vereinfachend das Werk Euckens herangezogen, um die wirtschaftspolitische Konzeption des Ordoliberalismus zu beschrei‐ ben. Freilich gab es außer ihm eine Reihe von weiteren Wissenschaftlern, die den Ordoliberalismus prägten (Zimmer 2020, S. 29 ff.). Dazu zählen unbestritten sein Schüler Leonhard Miksch (1901-50), der 1933 aus Deutsch‐ land geflüchtete linksliberal eingestellte Ökonomieprofessor Wilhelm Röpke (1899-1966) und der ebenfalls ins Exil gegangene Alexander Rüstow (1885- 1963). Hier ist indes nicht der Raum, um auch auf diese einzugehen. 62 13 Neoliberalismus <?page no="63"?> 13.2.2 Ziele Die Oberziele des Ordoliberalismus bilden Freiheit, Wohlstand und die Bewältigung der sozialen Frage. Letzteres umschließt die Abwesenheit von krasser Armut, angemessene Löhne und eine moderate Einkommensum‐ verteilung. Damit reihen sich soziale Sicherheit und Gerechtigkeit in den Zielkatalog. Folglich gleichen die Ziele der neoliberalen Konzeption des Ordoliberalismus denen der Sozialen Marktwirtschaft. Der zentrale Ansatz des Ordoliberalismus lautet, dass sich die meisten ökonomischen und sozialen Probleme des Laissez-faire-Liberalismus besei‐ tigen lassen, wenn der Staat für die Errichtung und Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung sorgt. Wettbewerb sei kein Selbstläufer, sondern eine Aufgabe (Miksch, 1937). Eucken stellte eine Reihe von Prinzipien auf, nach denen die Wirtschafts‐ ordnung zu gestalten sei. Zum einen sind dies „konstituierende Prinzipien“, welche für die Herstellung einer Wettbewerbsordnung konstitutiv sind, also eine wesentliche Voraussetzung. Zum anderen sind es „regulierende Prinzipien“, welche essentiell sind, um die Funktionsfähigkeit der Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Prinzipien werden im Folgenden genannt, in knap‐ per Form erläutert und zum Teil kommentiert. 13.2.3 Prinzipien Die sieben konstituierenden Prinzipien • Das Grundprinzip. Die Herstellung eines funktionsfähigen Preismechanismus muss das wesentliche Prinzip jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme sein. Dar‐ aus folgt z. B., dass allgemeine Preisstopps, Importverbote und staatliche Zwangsmonopole vermieden und z. B. Kartelle verboten werden. Eucken spricht mehrfach vom „Preissystem vollständiger Konkurrenz“. Es liegt einerseits nahe, dass er damit wortwörtlich für das neoklassische Mo‐ dell der vollständigen Konkurrenz als wirtschaftspolitisches Leitbild plädierte. Da er indes andererseits die theoretische Nationalökonomie der letzten Jahrzehnte - und damit implizit auch die neoklassische Theorie - als wirtschaftspolitisch wenig hilfreich kritisierte, ist es auch denkbar, dass er im Grunde „lediglich“ eine wettbewerbliche Ordnung 13.2 Ordoliberalismus 63 <?page no="64"?> mit konkurrierenden Marktteilnehmern und flexiblen Preisen im Blick hatte. • Primat der Währungspolitik. Währungsstabilität ist notwendig, um den Preismechanismus funkti‐ onsfähig zu halten. Preisniveaustabilität - also weder Inflation noch Deflation - ist laut Eucken am besten durch eine politisch unabhängige Institution und eine regelgebundene Geldpolitik zu erreichen. • Offene Märkte. Hierunter sind Gewerbefreiheit, Berufswahl- und Arbeitsplatzwahlfrei‐ heit, Investitionsfreiheit sowie Import- und Exportfreiheit zu verstehen. Dabei sind nicht nur staatliche Marktzugangsbeschränkungen zu besei‐ tigen, sondern auch Marktzugangsbehinderungen durch marktmächtige Unternehmen oder Vereinigungen. Kartelle sind zu verbieten. Eucken warnt zudem vor Importzöllen und anderen Handelsbeschränkungen, die einheimische Monopole schützen. Staatlich gewährte Patente sieht er äußerst kritisch, da sie den Markt für Konkurrenten des Patentin‐ habers verschließen, weswegen er es für erwägenswert hält, einen Kontrahierungszwang einzuführen. Das heißt, dass Patentinhaber staat‐ licherseits verpflichtet werden, jedem Interessenten die Nutzung der patentierten Erfindung gegen ein angemessenes Entgelt zu ermöglichen. • Privateigentum. Privates Eigentum an den Produktionsmitteln ist eine Voraussetzung für eine funktionsfähige Wettbewerbsordnung. Zugleich ist eine wettbe‐ werbliche Ordnung Voraussetzung dafür, dass Privateigentum zu einem „ökonomisch und sozial brauchbaren Instrument des „Ordnungsauf‐ baus“ wird.“ (Eucken, 1952, S. 273) Machtgebilde auf der Angebots- oder Nachfrageseite führen hingegen dazu, dass Privateigentum unsozial wirkt. Fehlt die Kontrolle durch Konkurrenz, müssen die Verfügungs‐ rechte über das Privateigentum eingeschränkt werden (Eucken, 1952, S.-275). • Vertragsfreiheit. Individuelle Vertragsfreiheit der Haushalte und Unternehmen ist eine notwendige Bedingung dafür, dass der alltägliche Wirtschaftsprozess durch den Wettbewerb effizient gelenkt wird. Zugleich müssen der Vertragsfreiheit Grenzen gesetzt werden, wenn Verträge dazu dienen, die Vertragsfreiheit zu beschränken oder zu beseitigen (z. B. Kartelle). Gleiches gilt, wenn es aufgrund eines fehlenden, kontrollierenden Konkurrenzmechanismus zu diktierten Verträgen kommt, z. B. zu aus‐ 64 13 Neoliberalismus <?page no="65"?> beuterischen Arbeitsverträgen mit unangemessen niedrigen Löhnen. Eucken erachtet für diese Fälle eine staatliche Monopolkontrolle als notwendig. • Haftung. „Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen.“ (Eucken, 1952, S. 279) Damit die Wettbewerbsordnung funktioniert, bedarf es der Verantwortung der Einzelnen. Die volle Haftung treibt zu Sorgfalt bei Investitionen an und trägt damit zu einer optimalen Allokation von Kapital bei. Haftungsbeschränkungen betrachtete Eucken mit großer Skepsis. Das Haftungsprinzip, laut dem der Entscheidungsträger auch derjenige ist, der haftet, stieß indes schon zu Euckens Lebzeiten an seine Grenzen. Zum einen galt es immer häufiger zwischen Geschäftsführung und Eigentümer zu unterscheiden; zum anderen gab es bereits damals genug Unternehmen, in denen Großaktionäre das Handeln bestimmten, während alle Teilhaber finanziell hafteten. • Konstanz der Wirtschaftspolitik. Private Investoren benötigen eine gewisse Planungssicherheit, was sowohl die staatliche Rahmenordnung als auch die prozesspolitischen Maßnahmen (z. B. Zollsätze, Steuersätze etc.) betrifft. Daher ist eine spontane oder experimentierfreudige Wirtschaftspolitik abzulehnen. Jedoch verhindern die konstituierenden Prinzipien weder monopolistisches Verhalten, noch verhindern sie, dass der Markt trotz „vollständiger Kon‐ kurrenz“ unerwünschte Ergebnisse erzeugt. Dies motivierte Eucken dazu, Prinzipien zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht bzw. zur Korrektur von Marktergebnissen aufzustellen. Die hier gewählten Bezeichnungen der regulierenden Prinzipien folgen anders als bei den konstituierenden Prinzi‐ pien nicht dem Original (Eucken, 1952, S.-291-304). Die vier regulierenden Prinzipien • Monopolkontrolle (das Monopolproblem). Monopole sind unter staatliche Aufsicht zu stellen, welche eine Preis‐ kontrolle umschließt. Die Monopolbehörde soll politisch unabhän‐ gig sein und für wettbewerbsanaloge Marktergebnisse sorgen. Die Behörde soll für Angebots- und Nachfragemonopole gleichermaßen zuständig sein, ebenso für beiderseitige Monopole (etwa auf dem Arbeitsmarkt) und für marktbeherrschende „Teilmonopolisten“. Außer‐ 13.2 Ordoliberalismus 65 <?page no="66"?> dem sind monopolistische Verhaltensweisen zu verbieten, die andere Marktteilnehmer wettbewerbswidrig behindern oder ausschließen (z. B. Dumpingpreise, Treuerabatte, Lieferverweigerungen, Ausschließlich‐ keitsbindungen und sog. closed shops, d. h. nur Gewerkschaftsangehö‐ rige dürfen in einem Unternehmen arbeiten). Außerdem spricht sich Eucken an einer Stelle seines Buches dafür aus, Monopole aufzulösen und nur dann zu beaufsichtigen, wenn sie sich nicht auflösen lassen (Eucken, 1952, S.-294). • Umverteilung (Einkommenspolitik). Eine Korrektur des „ethisch-gleichgültigen Automatismus“ der Markt‐ verteilung wird als notwendig erachtet. Die Progression der Einkom‐ mensteuer sei hierzu geeignet, soweit sie nicht so stark ist, dass Leis‐ tungs- und Investitionsanreize abhandenkommen. • Umweltschutz und Arbeitsschutz (Wirtschaftsrechnung). Da der Einzelne nicht alle Wirkungen seines Handelns in seiner Wirt‐ schaftsrechnung berücksichtigt, ist der Staat gefordert, bei spürbaren negativen Wirkungen in die Planungs- und Entscheidungsfreiheit des Verursachers einzugreifen. Beispiele sind zum einen der Raubbau an natürlichen Ressourcen wie etwa die Zerstörung von Wäldern sowie gesundheitliche Schäden, die durch Produktion und Abfallentsorgung entstehen. Der Ordoliberalismus griff somit vor ca. 70 Jahren bereits das Problem externer ökologischer Kosten auf. Hinzu kommen Arbeits‐ schutzgesetze gegen negative Gesundheitswirkungen der Beschäfti‐ gung auf die Arbeitnehmer, seien sie durch Kinderarbeit, Arbeitsunfälle oder lange Arbeitszeiten hervorgerufen. • Mindestlohngebot (anomales Verhalten des Angebots). Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt soll durch Mindestpreise („Mini‐ mallöhne“) sichergestellt werden, dass es nicht zu einer Abwärtsspirale der Löhne infolge anomalen Angebotsverhaltens kommt. Anomales Verhalten liegt vor, wenn der Marktlohn so niedrig ist, dass die Arbeits‐ kräfte ihr Arbeitsangebot ausweiten, um ihr Einkommen zu sichern. Steigendes Arbeitsangebot führt dann zu einem Angebotsüberhang, dieser drückt den Lohn nach unten, woraufhin das anomal reagierende Arbeitsangebot steigt und die Löhne erneut sinken usw. usf. Im Ordoliberalismus waren somit nahezu alle Elemente der Sozialen Markt‐ wirtschaft bereits angelegt, ganz besonders die staatliche Aufgabe, für eine Aufrechterhaltung einer funktionierenden Wettbewerbsordnung zu 66 13 Neoliberalismus <?page no="67"?> sorgen. Jedoch löst sich die Soziale Marktwirtschaft ausdrücklich vom Leitbild der vollständigen Konkurrenz und macht sich eine dynamischere Wettbewerbstheorie zu eigen. Außerdem wird dem Solidarprinzip und der Sozialpolitik mehr Gewicht eingeräumt, wenn auch unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. In gewisser Weise ist das Grundrezept der Sozialen Marktwirtschaft eine „Mischung von Soziallehre und Ordoliberalismus“ (Zimmer 2020, S.-22). 13.2 Ordoliberalismus 67 <?page no="69"?> Dritter Teil | Umsetzung des Leitbilds in die Praxis <?page no="71"?> 14 Politische Weichenstellungen Bislang standen wirtschaftspolitische Konzeptionen im Vordergrund. Dem‐ gegenüber wird nun auf die Realisierung der Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung eingegangen, und zwar konkret auf ihre Umsetzung in den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland. Wesentliche Teile Deutschlands und Österreichs wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten in vier Besatzungs‐ zonen aufgeteilt. Der Rest wurde ausgegliedert und anderen Staaten zuge‐ schlagen. Während sich in Deutschland in der amerikanisch, britisch und französisch besetzten „Westzone“ nach der Währungsreform im Jahr 1948 der Aufbau einer Wirtschaftsordnung nach kapitalistischem, mark‐ wirtschaftlichem Muster abzeichnete, wurde in der „Ostzone“ eine so‐ zialistische Planwirtschaft vorangetrieben, die sich an der sowjetischen Wirtschaftsordnung orientierte. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und dem Inkraft‐ treten des Grundgesetzes (GG) im Mai 1949 wurde aus der ehemaligen Westzone ein Staat mit demokratischer und marktwirtschaftlicher Grund‐ ordnung. Im Oktober des gleichen Jahres wurde die Deutsche Demokrati‐ sche Republik (DDR) gegründet, mit einer planwirtschaftlichen und faktisch diktatorischen Grundordnung. Im Grundgesetz der Bundesrepublik ist keine konkrete Wirtschaftsord‐ nung festgeschrieben. Jedoch wurde mit den Grundrechten und dem Pos‐ tulat des sozialen Rechtsstaats gemäß GG Art. 28(1) und Art. 20(1) von Anbeginn eine Wirtschaftsordnung angelegt, die der Sozialen Marktwirt‐ schaft zumindest ähnelt. Begriffe | Grundrechte Die Grundrechte sind in GG Art. 1-18 niedergelegt. Grundrechte sind gerichtlich einklagbar. Sie können nicht beseitigt werden. Das erstgenannte Menschenrecht ist der Schutz der Menschenwürde. Von den übrigen Menschenrechten ist das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gewährleistung des Privateigentums einschließ‐ lich der Vorgaben bei Enteignung von besonderer Bedeutung für die Wirtschaftsordnung. Bei den Bürgerrechten, die nur für deutsche Staats‐ <?page no="72"?> bürger gelten, sind dies die Freizügigkeit, die freie Berufswahl sowie die Vereinigungsfreiheit, welche das Recht zur Bildung von Arbeitneh‐ mervereinigungen (Gewerkschaften) und Arbeitgebervereinigungen umschließt. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft spielte bereits im ersten Bundestagswahlkampf (1949) eine zentrale Rolle. Auf der einen Seite warben CDU/ CSU offensiv mit diesem neoliberalen Wirtschaftskonzept. Auf der anderen Seite vertrat die SPD ein Konzept, das eine verstärkte Planung des Wirtschaftsprozesses, eine Sozialisierung großer Industrieunternehmen und der Finanzdienstleitungsbranche, eine Bodenreform und großzügige soziale Hilfen in Aussicht stellte. Die CDU/ CSU gewann die Wahlen mit 31 Prozent der Stimmen zwar relativ knapp, aber dies genügte, um mit der FDP und der Deutschen Partei eine Regierungskoalition zu bilden. Konrad Adenauer (1876-1967) wurde erster Bundeskanzler. Es sind nicht zuletzt die wirtschaftlichen Erfolge, die der CDU/ CSU bei den folgenden Wahlen deutliche Stimmenzuwächse bescherten, während der Stimmenanteil der SPD stagnierte. Im Jahr 1959 vollzog die SPD schließ‐ lich eine Kehrtwende, die neben der verteidigungspolitischen Position vor allem ihre wirtschaftspolitische Programmatik betraf. Mit dem Godesberger Programm bejahte die Partei sowohl den freien Markt, „wo immer wirklich Wettbewerb herrscht“ als auch das Privateigentum an Produktionsmitteln. Das SPD-Zitat „Wettbewerb soweit wie möglich - Planung soweit wie nötig! “ (SPD, 1959, S. 14) passt zur wirtschaftspolitischen Konzeption des deutschen demokratischen Sozialismus ab 1959 und zur Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft gleichermaßen. Als politischer Vater der Sozialen Marktwirtschaft gilt nach wie vor Ludwig Erhard (1897-1977), auch wenn seine tatsächliche Rolle bei der praktischen Umsetzung der Konzeption durchaus umstritten ist (Hentschel, 1998). Der spätere Bundeskanzler Erhard vertrat die Soziale Marktwirtschaft für die CDU im Wahlkampf 1948-49 und war Bundeswirtschaftsminister in den Jahren 1949-63. Während dieser Zeit erschien sein populäres Buch „Wohlstand für alle“ (Erhard, 1957). Seine Kernthese lautete, dass der Wett‐ bewerb das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung des Wohlstands der breiten Schichten sei, da er allein dazu führe, dass wirtschaftlicher Fortschritt allen Menschen - insb. in ihrer Funktion als Verbraucher - zugute käme (Erhard, 1957, S.-7-f). 72 14 Politische Weichenstellungen <?page no="73"?> ERHARD hält, was er verspricht: Wohlstand für alle durch die SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT Abb. 3: Wahlplakat von 1957 | Quelle: ACDP, Plakatsammlung, 10-001: 664, DIE WAAGE Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e.-V., Köln 14 Politische Weichenstellungen 73 <?page no="75"?> 15 Ordnungspolitische Meilensteine Zu den Meilensteinen auf dem Weg zur Sozialen Marktwirtschaft zählt das Inkrafttreten des ersten deutschen Kartellgesetzes (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWB) im Jahr 1958, das Erhard gegen einigen Widerstand durchgesetzt hatte. Zwar enthielt das damalige GWB lediglich ein durch viele Ausnahmen verwässertes Kartellierungsverbot und eine aus heutiger Sicht rudimentäre Aufsicht über marktmächtige Unternehmen, aber der erste und wesentliche Schritt hin zu einer systematischen Politik gegen unternehmerische Wettbewerbsbeschränkungen war getan. Wesentliche Novellen folgten in den späten 1960er- und in den 1970er-Jah‐ ren. Ein anderer Meilenstein war das Bundesbankgesetz von 1958, mit dem für das gesamte Bundesgebiet eine einheitliche Zentralbank geschaf‐ fen wurde. Obwohl Adenauer einer gänzlich unabhängigen Zentralbank ablehnend gegenüberstand, gelang es dem Wirtschaftsministerium unter Erhard, die politische, finanzielle und personelle Unabhängigkeit der Bundesbank in dem Gesetz zu verankern (Buchheim, 2001). Politische Unabhängigkeit bedeutet, dass die Bundesbank keinerlei Weisungen der Regierung oder des Parlaments unterliegt. Das Prinzip einer gänzlich unab‐ hängigen Notenbank gilt übrigens auch für die Europäische Zentralbank (EZB), an welche die geldpolitische Kompetenz für Deutschland und andere europäische Länder im Jahr 1999 übergegangen ist. Die Einführung des Tarifvertragsgesetzes (1949) ist ein weiterer Mei‐ lenstein auf dem Weg zur Sozialen Marktwirtschaft. Es sichert den Tarifpar‐ teien (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) die Tarifautonomie zu, so dass diese ohne staatliche Regulierung Löhne und andere Arbeitsbedin‐ gungen frei aushandeln können. In Deutschland war die Tarifautonomie zwar bereits 1918 gesetzlich eingeräumt worden, aber sie wurde während der Weimarer Republik durch staatliche Zwangsschlichtungen zunehmend verwässert und im Jahr 1933 von den Nationalsozialisten abgeschafft (Bach et al. 2022). In der Bundesrepublik etablierte sich nun ein System von bran‐ chenspezifischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die Flächen‐ tarifverträge aushandelten. Die Branchengewerkschaften und -verbände waren mit wenigen Ausnahmen (wie etwa der Deutschen Angestelltenge‐ werkschaft und dem Beamtenbund) in einem Dachverband organisiert. <?page no="76"?> Konkret sind dies der 1949 gegründete Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die 1950 entstandene Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberver‐ bände (VDA). An die ausgehandelten Flächentarifverträge waren alle den Arbeitgeberverbänden angehörigen Unternehmen gebunden und sie galten gleichermaßen für Gewerkschaftsmitglieder und für Nichtmitglieder. Die tarifgebundenen Unternehmen beschäftigten noch in den 1980er-Jahren an die 90 Prozent aller Arbeitnehmer (und heute nur ca. 50 Prozent). Somit herrschten auf nahezu dem gesamten Arbeitsmarkt tarifliche Mindestlöhne. Von Beginn an sah das Gesetz zudem vor, dass der Bundesarbeitsminister einzelne Tarifverträge als allgemeinverbindlich erklären konnte, d. h. auch gültig für tarifungebundene Unternehmen. Dem Tarifvertragsgesetz schlossen sich Gesetze zur Arbeitnehmermit‐ bestimmung in Unternehmen an. Stationen sind das Montan-Mitbestim‐ mungsgesetz für Kohle- und Stahlunternehmen (1951), das Betriebsverfas‐ sungsgesetz (1952) und das Personalvertretungsgesetz (1955). Außerdem ist die Privatisierung staatlicher Großunternehmen erwähnenswert. Sie begann im Wesentlichen erst gegen Ende der 1950er-Jahre. Damals befand sich schätzungsweise noch ein Fünftel aller Industrieunternehmen im Staatsbesitz. Die Privatisierung diente zuvorderst dazu, dem Prinzip des Privateigentums an Produktionsmitteln in höherem Maße gerecht zu werden. Privateigentum zählt - wie oben beschrieben - nach Eucken zu den konstituierenden Prinzipien einer liberalen Wirtschafts‐ ordnung. Zugleich sollte die Privatisierung genutzt werden, um den Besitz von Unternehmensbeteiligungen zu streuen. Die Ungleichverteilung des Aktienbesitzes war auch damals schon sehr groß und war zudem während der 1950er stark angestiegen. Erhard propagierte Mitarbeiteraktien sowie insbesondere sog. Volksaktien. Volksaktie bedeutet, dass Aktien gezielt an Kleinanleger ausgegeben werden, der Aktienerwerb pro Kopf begrenzt wird und Mindesthaltefristen vorgegeben werden. Zu den Unternehmen, die 1959-65 (teil-)privatisiert wurden, zählten Volkswagen, Preussag (TUI), VEBA (e.on) und die Baden-Werke (EnBW). Die natürlichen Monopole (→ Kap. 4.3) wie z. B. Strom, Bahn und Telekommunikation blieben in staatlicher Hand. Gleiches galt für die Post und etliche kommunale Dienst‐ leistungenen (z. B. Abfallentsorgung, Wasserversorgung, ÖPNV), die durch den Staat vor privater Konkurrenz geschützt waren. 76 15 Ordnungspolitische Meilensteine <?page no="77"?> 16 Sozialreformen Die sozialpolitischen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft lauten Selbst‐ verantwortung sowie Solidarität für den Fall, dass der Einzelne in eine existenzielle wirtschaftliche Notlage gerät und sich nicht ohne gemein‐ schaftliche Unterstützung aus ihr befreien kann. Das Solidarprinzip findet seinen Niederschlag im Versicherungsprinzip und - wenn dieses nicht greift - im Fürsorgeprinzip. Seit mehr als 130 Jahren wird in Deutschland das Versicherungsprinzip angewandt. Die gesetzlichen Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsver‐ sicherungen stammen aus dem 19. Jahrhundert, während die Arbeitslosen‐ versicherung während der Weimarer Republik eingeführt wurde. (Mitte der 1990er-Jahre folgte die Pflegeversicherung.) Somit existierte bereits in der Nachkriegszeit ein sozialpolitischer Grundpfeiler der Sozialen Marktwirt‐ schaft. Die Versicherungsleistungen waren in den ersten Nachkriegsjahren als Folge der hohen Zahl Empfangsberechtigter (z. B. Arbeitslose, Alte, Hinterbliebene und Invalide) sowie der gesamtwirtschaftlich desolaten Situation allerdings extrem niedrig. Viele Notleidende hatten zudem keine Versicherungsansprüche, darunter Millionen von Flüchtlingen. Letztlich bestand aber keine grundsätzliche Notwendigkeit für die Bundesregierung, einen Systemwechsel durchzuführen. Dieser erfolgte dennoch im Bereich der Alterssicherung, als mit der Rentenreform 1957 das Umlageverfahren eingeführt wurde. Die Summe der Einzahlungen der aktuell abhängig Beschäftigten bestimmt seither im Wesentlichen die Höhe der Zahlungen an die Rentenempfänger. Damit ging eine dynamische Anpassung der Renten an das Lohneinkommen einher. Die Renten stiegen angesichts hohen Wirtschaftswachstums entsprechend stark an. Mitte der 1940er-Jahre herrschte angesichts der akuten Notlage brei‐ ter Bevölkerungsschichten dringender Handlungsbedarf hinsichtlich der Ausgestaltung der konkreten Versicherungsleistungen und der fürsorgeo‐ rientierten Sozialleistungen. Dieser Handlungsbedarf führte in den ersten Jahren der Bundesrepublik zu einem regelrechten Aktionismus bei der so‐ zialrechtlichen Gesetzgebung. „Das Ergebnis war ein Paragraphengestrüpp, dessen Undurchsichtigkeit und Uneinheitlichkeit sowohl die Effizienz des Leistungssystems wie auch die Rechtssicherheit des einzelnen beeinträch‐ tigte.“ (Hockerts, 1977, S. 346) Bestrebungen, ein Gesamtkonzept für eine <?page no="78"?> Sozialreform umzusetzen, scheiterten jedoch. Immerhin reduzierte die Ren‐ tenreform (1957) die Intransparenz und Inkonsistenz bei der Alters- und Invaliditätsversicherung. Außerdem trugen die Einführung des Kindergelds (1954), die Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall (1957) sowie Ver‐ besserungen der Arbeitslosen- und Unfallversicherungsleistungen (1956- 57) zu mehr Konsistenz des Systems bei. Es dauerte jedoch bis in die frühen 1970er-Jahre, dass nennenswerte Schritte zu einem einheitlicheren System sozialer Sicherung getan wurden. Dazu zählt auch die Überfüh‐ rung der Sozialgesetzgebung in ein einziges Gesetzeswerk, mit der die SPD/ FDP-Regierung Anfang der 1970er begonnen hatte und die bis dato (2024) nicht abgeschlossen ist. 78 16 Sozialreformen <?page no="79"?> 17 Wohnungsbaupolitik und Mietrecht Die Wohnungsbaupolitik war ein weiterer Bereich, der für die soziale Lage der Bevölkerung in der Nachkriegszeit von entscheidender Bedeutung war. Die Wohnraumknappheit war extrem groß. Das lag nicht zuletzt an der kriegsbedingten Zerstörung von Wohnraum sowie dem Zuzug von rund 10 Mio. deutschstämmigen Flüchtlingen und einigen Mio. ausländi‐ schen Menschen, die als ehemalige Zwangsarbeiter oder KZ-Insassen in Westdeutschland gestrandet waren. Im Jahr 1946 fehlten rund 5,5 Mio. Woh‐ nungen (Egner, 2014). Trotz bemerkenswerter Anstrengungen entspannte sich die Wohnungsmarktlage zunächst nur langsam, was u. a. daran lag, dass in den 1950er-Jahren ca. 2 Mio. Bürger aus der DDR ins Bundesgebiet bzw. nach Westberlin zogen. Die damalige Wohnungspolitik war zunächst eine weitgehende Fortset‐ zung der nationalsozialistischen Zwangsbewirtschaftung. Wohnraum wurde zugeteilt und die Mieten waren gedeckelt. Daneben wurden wenige Jahre nach Kriegsende verschiedene anreizpolitische Instrumente zur Schaffung neuen und bezahlbaren Wohnraums implementiert. Dazu zählt die steuerliche Förderung von selbstgenutztem Wohneigentum (Einkom‐ mensteuergesetz 1949) und Bausparprämien (Wohnungsbauprämiengesetz 1951) sowie der staatliche bzw. staatlich subventionierte Bau von Sozial‐ wohnungen (Erstes Wohnungsbaugesetz 1950). Erst im Jahr 1960 wird die Wohnungszwangswirtschaft per Gesetz beendet und der Wohnungsbau vom Grundsatz her den Regeln der Sozialen Marktwirtschaft unterworfen. Dazu passt es, dass fünf Jahre später mit dem Wohngeldgesetz die Subjekt‐ förderung eingeführt wurde, etwa in Form von Zuschüssen zur Miete oder zu den Kosten selbstgenutzten Wohneigentums. <?page no="81"?> 18 Einkommensteuer Nach dem Krieg wurden die ohnehin recht hohen Steuersätze von den Siegermächten erheblich angehoben. Der Spitzensteuersatz lag 1946 bei 95 Prozent, aber auch bei niedrigeren Einkommen griffen Grenzsteuersätze von um die 50 Prozent. Eine durchschnittliche Einkommensteuerbelastung von 30-50 Prozent war üblich (Boss, 1987, S. 7). Die Steuersätze wurden in den Jahren 1949 und 1953 spürbar gesenkt, und es wurden vermehrt Investitions- und Sparanreize in das Gesetz integriert. Aber eine markt‐ konforme Einkommensteuer, die genügend Leistungsanreize für eine funktionierende Wettbewerbswirtschaft schafft, wurde erst mit den Steuer‐ reformen in den Jahren 1958 und 1964 geschaffen. Die Steuersätze wurden drastisch gesenkt und zugleich wurde die Vielzahl an Steuervergünstigun‐ gen reduziert. Die höchste Durchschnittsbelastung lag nun bei 54 Prozent statt bei 94-Prozent (Boss, 1987, S.-8). Es sei ergänzend erwähnt, dass das bundesdeutsche Steuerrecht von Beginn an sowohl eine Besteuerung von Erbschaften als auch von Vermögen enthielt, die an das seit 1906 bzw. 1922 jeweils existierende Vermögensbzw. Erbschaftsteuergesetz anknüpften. Die von den Alliierten zunächst erhöhten Steuersätze wurden wieder gesenkt und die Steuerbelas‐ tung war mit einem maximalen Grenzsteuersatz von 15 Prozent für erbende Ehegatten und Kinder bzw. 0,75 Prozent bei Vermögen relativ moderat, zumal die Steuern erst ab gewissen Freibeträgen erhoben wurden (Bach et al. 2012, S.-12). Alles in allem waren die wirtschaftlichen Erfolge der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er-Jahren beachtlich; das jährliche Wirtschafts‐ wachstum lag bei 8 Prozent und mehr. Diese Phase ging als „das deutsche Wirtschaftswunder“ in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ein. Das Wirtschaftswunder wird u.-a. auf die Wirtschaftsordnung der Bundesrepu‐ blik Deutschland zurückgeführt. Allerdings verzeichneten andere europäi‐ sche Länder zur gleichen Zeit ebenfalls einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung. Frankreich, Italien und Spanien prosperierten z.-B. in ähnlich hohem Maße ebenso wie auch Österreich. Österreich war übrigens das andere Land, das neben Deutschland für sich in Anspruch nahm, eine soziale Marktwirtschaft zu sein. Allerdings war Österreich bis in die 1980er-Jahre <?page no="82"?> eine deutlich stärker gelenkte Marktwirtschaft mit einem höheren Anteil staatlicher Unternehmen als die deutsche Bundesrepublik. 82 18 Einkommensteuer <?page no="83"?> 19 Stabilitäts- und Wachstumspolitik Die Bundesregierung hatte bereits in den 1950er-Jahren nicht zuletzt auf‐ grund der Beharrlichkeit des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard (CDU) vereinzelt Konjunkturpolitik betrieben. Doch bewog erst die drohende Rezession Mitte der 1960er-Jahre den Gesetzgeber dazu, im Jahr 1967 den rechtlichen Rahmen für konjunkturpolitische und speziell antizyklische Maßnahmen zu erweitern. Dies geschah indes erst nach Erhards Rücktritt als Bundeskanzler im Jahr 1966. Zu diesem war es u. a. gekommen, weil sich der Koalitionspartner FDP gegen Erhards Plan gestellt hatte, trotz Rezession die Steuern zu erhöhen. Es war dann die CDU/ SPD-Koalition unter Kanzler Kiesinger (CDU), welche die Gesetze auf den Weg brachten. Zum einen trat das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachs‐ tums der Wirtschaft (StabG) in Kraft. Paragraf 1 lautet: „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maß‐ nahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschafts‐ wachstum beitragen.“ Zum anderen wurde die Verpflichtung, den Erfordernissen des gesamtwirt‐ schaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, ins Grundgesetz aufge‐ nommen (Art. 109 GG in der Fassung von 1967). Damit wurde ausdrücklich eine rechtliche Grundlage für die Beeinflus‐ sung der konjunkturellen Entwicklung geschaffen. Dabei war vor allem an eine antizyklische Fiskalpolitik gedacht (Deutscher Bundestag 1966, S. 8 f.). Darunter ist zu verstehen, dass der Staat in Phasen schwächelnder Nachfrage und Konjunktur (Rezession, Depression) expansive Impulse an die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage sendet, z. B. durch Staatsausga‐ benerhöhungen oder Steuersenkungen. Wenn Nachfrage und Konjunktur zu überhitzen drohen (Boom, Hochkonjunktur), sollen wiederum kontraktive Impulse greifen, etwa durch eine Ausgabensenkung oder Steuererhöhung. Zur Finanzierung wurde neben der Kreditaufnahme sowohl im StabG als auch im Grundgesetz das Instrument der Konjunkturausgleichsrücklage verankert, welche in Boomphasen zu bilden sei. <?page no="84"?> Damit waren die Voraussetzungen für die Umsetzung einer antizykli‐ schen Nachfragesteuerung geschaffen. Dieses Konzept stammt aus den 1930er-Jahren und geht auf Theorien des berühmten Makroökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) zurück, welche dieser als gangbaren Weg erachtete, um schwere Wirtschaftskrisen zu bewältigen, ohne das marktwirtschaftliche System als solches in Frage stellen zu müssen. Tatsächlich legte die Bundesregierung 1967 ein milliardenschweres Kon‐ junkturprogramm auf, welches mit dazu beigetragen haben dürfte, dass sich die bundesdeutsche Volkswirtschaft relativ zügig erholte. Jedoch kam es in dem folgenden Boom nicht zu einem nennenswerten Schuldenabbau oder gar zum Aufbau einer Konjunkturausgleichsrücklage. Allerdings verlor das Konzept der antizyklischen Nachfragesteuerung im Laufe der 1970er-Jahre erheblich an Zustimmung (Kromphardt 2020, S. 135 ff.). Dies war auch bei vielen Anhängern der Sozialen Marktwirtschaft der Fall. Zu den Gründen zählen zum einen die steigende Verschuldung. Zum anderen wurde die Idee der makroökonomischen Globalsteuerung, als die der Volkswirtschaftsprofessor und damalige Wirtschaftsminister Karl Schil‐ ler (1911-1994) die keynesianische makroökonomische Nachfragesteuerung bezeichnete, im Laufe der 1970er deutlich überstrapaziert, indem sie als Begründung für eine wachsende Zahl von nicht ordnungskonformen Staats‐ interventionen herhalten musste. Vor allem aber haben die Ölpreisschocks von 1973 und 1979 dazu geführt, dass der Ansatz der keynesianischen Nachfragesteuerung an Attraktivität verlor. Angesichts der vergleichsweise hohen Inflationsraten und einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen, der in den 1980er-Jahren anhielt, erschien vielen das Konzept antizyklischer Konjunk‐ turpolitik als untauglich, wenn nicht gar schädlich. Hinzu kam ein Wandel im wissenschaftlichen Mainstream: Andere makroökonomische Schulen lösten den Keynesianismus als dominierende Denkrichtung ab (z. B. der Monetarismus mit dem Plädoyer für eine stetige Geld- und Fiskalpolitik und die angebotsorientierten Schulen, welche postulieren, dass sich das BIP nicht nachfrageseitig steuern lässt). 84 19 Stabilitäts- und Wachstumspolitik <?page no="85"?> Vierter Teil | Weitere Entwicklungen <?page no="87"?> 20 Konzeptionelle Weiterentwicklung: Die ökologisch-soziale Marktwirtschaft 20.1 Zeitgeschichtlicher Kontext Spätestens in den 1970er-Jahren hatte die Luft- und Wasserverschmut‐ zung in den Industrieländern ein so drastisches Ausmaß angenommen, dass die Regierungen - zumindest in demokratischen Staaten - gezwungen waren, zu handeln. Smogalarm im Ruhrgebiet und der Rhein als „stinkende Kloake“ sind nur zwei von vielen Beispielen für die Offensichtlichkeit der Umweltprobleme auch in Deutschland. Nachdem die Soziale Marktwirt‐ schaft die „soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts aufgegriffen hatte und diese weitgehend als bewältigt galt, stellte sich nun die „ökologische Frage“. Es bildeten sich immer mehr lokale Bürgerinitiativen und überregionale Um‐ weltschutzorganisationen. 1980 wurde die Partei „Die Grünen“ gegründet (heute: Bündnis 90/ Die Grünen) und zog wenig später in den Bundestag ein. In dem weltweit beachteten Bericht „Grenzen des Wachstums“ (Meadows, 1972) prognostizierte eine vom Club of Rome beauftragte, international besetzte Gruppe von Wissenschaftlern, dass ein business as usual („Weiter so“) binnen 100 Jahren in den ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Kollaps führe. Diese Schlussfolgerung basierte auf einem computergestütz‐ ten globalen Modell, das die Entwicklung fünf interagierender Variablen berücksichtigte und zwar von Bevölkerung, Nahrungsmittelproduktion, In‐ dustrieproduktion, Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung. Die Wissenschaftler erstellten mithilfe des Simulationsmodells verschiedene Szenarien, von denen eines besagte, dass der Kollaps nicht unausweichlich sei, sondern dass eine nachhaltige Entwicklung möglich sei. Dazu müsse indes dem Ressourcenverbrauch, der Umweltverschmutzung und dem Be‐ völkerungswachstum entschieden entgegen gewirkt werden. Außerdem müsste die industrielle Produktion gedrosselt werden. Der Bericht „Grenzen des Wachstums“ wurde intensiv diskutiert und von verschiedenen Seiten heftig kritisiert. Insbesondere wurde den Verfassern vorgeworfen, sie wür‐ den den technologischen Fortschritt unterschätzen, der eine Entkopplung von Produktionswachstum und steigendem Ressourcenverbrauch bzw. zu‐ nehmender Umweltbelastung ermögliche. <?page no="88"?> 4 „Sustainable development seeks to meet the needs and aspirations of the present without compromising the ability to meet those of the future.“ (United Nations World Commission on Environment and Development, 1987, ch. II par. 49) Im selben Jahr (1972) nahmen sich die Vereinten Nationen (UN) des Umweltthemas an: Es wurde das UN-Umweltprogramm (United Nations Environmental Programme, UNEP) gegründet. 1983 riefen die UN die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung ins Leben. Diese legte 1987 den sog. Brundtland-Report mit dem Titel „Our Common Future“ („Unsere gemeinsame Zukunft“) vor (United Nations World Commission on Environment and Development, 1987; Hauff, 1987). Der Bericht wird auch heute noch viel zitiert, insbesondere im Zusammenhang mit den dort definierten Begriffen der nachhaltigen Entwicklung und der Nachhaltigkeit. Unter Nachhaltigkeit ist dort eine Entwicklung zu verstehen, „die den Bedürfnis‐ sen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Genera‐ tionen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen  4 .“ (Hauff,-1987,-S.-43) Nachhaltigkeit lässt sich in drei Dimensionen aufteilen: ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Daraus lassen sich verschiedene Nachhaltigkeitsmodelle ableiten. Das bekannteste ist das Drei-Säu‐ len-Modell: Es müssen sowohl die ökonomische, die soziale als auch die ökologische Säule stabil sein, damit Nachhaltigkeit herrscht. Vor diesem Hintergrund stieg auch die Zahl umweltökonomischer Veröf‐ fentlichungen, in denen es zunächst vor allem um die Wirkungen umwelt‐ politischer Instrumente ging. In den frühen 1980er-Jahren kamen verstärkt Abhandlungen hinzu, welche die Frage zum Gegenstand hatten, welche Wirtschaftsordnung zur Bewältigung der ökologischen Probleme geeignet sei. Zu den bekanntesten Wirtschaftswissenschaftler: innen, die sich als Erste im deutschsprachigen Raum mit der „Ökologisierung“ der Marktwirtschaft befassten, zählen der Schweizer Hans Christoph Binswanger (1929-2018) und die Deutsche Christiane Busch-Lüty (1931-2010). Der Nachhaltigkeitgedanke fand schließlich auch Eingang in die deutsche Verfassung. So wurde 1994 der Umweltschutz als Staatsziel ins Grundge‐ setz aufgenommen (2002 folgte der Tierschutz). Art. 20a des Grundgesetzes lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Gene‐ rationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe 88 20 Konzeptionelle Weiterentwicklung: Die ökologisch-soziale Marktwirtschaft <?page no="89"?> von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtspre‐ chung.“ Staatsziele sind zwar anders als Grundrechte nicht einklagbar, aber als Richtlinien für staatliches Handeln sind sie in der Praxis durchaus von Belang. 20.2 Ziele und Prinzipien Vor diesem Hintergrund wurde die Konzeption der Sozialen Markt‐ wirtschaft um das ausdrückliche Ziel des Umweltschutzes erweitert; ent‐ sprechend wird von der ökologischen und sozialen, der ökologisch-so‐ zialen oder ökosozialen Marktwirtschaft gesprochen. Zwar zählte der Schutz natürlicher Ressourcen bereits im Ordo‐ liberalismus zu den regulierenden Prinzipien. Und in der Sozialen Markt‐ wirtschaft sind staatliche Maßnahmen zur Behebung von Marktversagen vorgesehen, welches eindeutig gegeben ist, wenn externe ökologische Kosten vorliegen. Aber der Schutz der natürlichen Umwelt und Ressourcen erhält erst mit der Konzeption der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft den Rang eines Oberziels. Somit lauten die Oberziele der ökosozialen Marktwirtschaft: • Freiheit, • Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen (ökologische Nachhaltigkeit), • Wohlstand (wirtschaftliche Nachhaltigkeit), • soziale Gerechtigkeit und Sicherheit (soziale Nachhaltigkeit). Die Prinzipien der ökosozialen Marktwirtschaft unterscheiden sich im Grunde nicht von denen der Sozialen Marktwirtschaft (Individualprinzip, dezentrale Koordination, Privateigentum, Subsidiaritätsprinzip, Sozialprin‐ zip). Außerdem wird das Vorsorgeprinzip betont. Damit ist gemeint, dass Umweltschäden möglichst im Vorhinein vermieden werden. Dabei werden das Haftungsprinzip und das Verursacherprinzip, die für das Funktionieren einer kapitalistischen Marktwirtschaft ohnehin zentral sind, speziell für den ökologischen Bereich angemahnt. Das bedeutet, dass die Verursacher von Umweltbelastungen für Schäden haften bzw. für deren Beseitigung aufkommen müssen anstelle von Dritten oder der Gesellschaft. Außerdem sollen die Verursacher für die Inanspruchnahme der natürlichen Umwelt - etwa Schadstoffeinträge in Luft, Böden und Gewässer - in die Pflicht genommen werden, indem sie dafür einen angemessenen Preis 20.2 Ziele und Prinzipien 89 <?page no="90"?> bezahlen. Der Preis ist idealerweise so bemessen, dass die Umweltbelastung auf ein nachhaltiges Niveau zurückgeht. 20.3 Umweltpolitische Maßnahmen Die ökosoziale Marktwirtschaft basiert auf der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft und sieht entsprechend die gleichen Gestaltungskriterien für wirtschafts- und umweltpolitische Maßnahmen vor (Zielwirksamkeit, Marktkonformität, Effizienz). Das Entscheidende bei der Konzeption ist, dass sie eine marktkonforme Transformation der Volkswirtschaft hin zur ökologischen Nachhaltigkeit vorsieht. In der ökosozialen Marktwirt‐ schaft soll dies zuvorderst dadurch gewährleistet sein, dass für die Nutzung bzw. Belastung der Umwelt ein Preis bezahlt wird. Anders gewendet: „Preise sollen die ökologische Wahrheit sagen.“ (Weizsäcker, 1991, S. 63) Wann immer möglich, sollen marktwirtschaftliche Instrumente wie z. B. Umwelt‐ abgaben und handelbare Verschmutzungsrechte (Zertifikate) dem Einsatz ordnungsrechtlicher Ge- und Verbote vorgezogen werden. Nur wenn markt‐ wirtschaftliche Instrumente nicht praktikabel oder nicht zielwirksam sind, soll auf eingriffsintensivere Maßnahmen zurückgegriffen werden. Es gibt eine Vielzahl von Veröffentlichungen über die konkreten Maßnah‐ men, die eine ökosoziale Marktwirtschaft kennzeichnen. Verschiedene Ak‐ teure setzen dabei unterschiedliche Schwerpunkte, darunter Wissenschaft‐ ler, Stiftungen und Vereine. Außerdem befassen sich politische Parteien mit der Ausgestaltung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft; in Deutschland finden sich z. B. in Grundsatzprogrammen von CDU (1994) und Bündnis 90/ Die Grünen (2001) entsprechende Textpassagen. Die folgende Darstellung stützt sich auf die Arbeiten des „Forum Ökolo‐ gisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS e. V.)“. Das FÖS ist eine unabhängige Denkfabrik (think tank), die „sich für eine Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft“ einsetzt (FÖS, 2020). Kernelemente des Umbaus sind demnach • Ökologisierung des Steuer- und Ausgabensystems. Eine deutlich stärkere Besteuerung des Verbrauchs natürlicher Ressour‐ cen und umweltbelastender Aktivitäten, insb. im Bereich des Klima‐ schutzes; Entlastung der Arbeitseinkommen durch niedrigere Steuern 90 20 Konzeptionelle Weiterentwicklung: Die ökologisch-soziale Marktwirtschaft <?page no="91"?> und Sozialabgaben; Fokussierung der Ausgaben auf Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. • Internalisierung externer Kosten. Mit Vorrang für ökonomische Instrumente wie z. B. CO 2 -Preis, Emissi‐ onshandel, Energie- und Ressourcensteuer. • Abbau umweltschädlicher Subventionen. Zwar sind in vielen Ländern einschließlich Deutschland einige Schritte hin zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft getan, aber von einer Umset‐ zung der Konzeption im Sinne einer existierenden Wirtschaftsordnung kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesprochen werden. 20.3 Umweltpolitische Maßnahmen 91 <?page no="93"?> 21 Umwälzungen und Herausforderungen 21.1 Überblick Die Soziale Marktwirtschaft gilt nach wie vor als das in Deutschland vorherrschende Leitbild für die Wirtschaftspolitik, mehr oder weniger angepasst an die „ökologische Frage“. Eine repräsentative Umfrage für Deutschland unter Beteiligung des ifo-Instituts ergab, dass 75 Prozent der 2.000 Befragten die Soziale Marktwirtschaft positiv bewerten (Blesse 2022, S. 53). Die durchschnittliche Bewertung lag bei 6,8 auf einer Skala von 1 bis 10 (ebd.). Laut einer Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie haben nur 15 Prozent der Deutschen keine gute Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft, während 56 Prozent eine gute Meinung haben (Institut für Demoskopie 2021, S. 6). Auch wenn die Kenntnisse über die wirtschaftspolitische Konzeption sehr unterschiedlich verteilt sein dürften, zeigt diese Umfrage doch, dass zumindest der Begriff bei der Mehrheit der Bevölkerung positiv konnotiert ist. Der Begriff wird außerdem nach wie vor häufig von Politikern in Reden und Parteiprogrammen verwendet (Blesse 2022, S.-51). Ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Konzep‐ tion hat bislang zwar nicht stattgefunden, wohl aber hat die Wirtschaftsord‐ nung der Bundesrepublik Deutschland einige erhebliche Umwälzungen und Reformen erlebt. Zu nennen sind hier zum einen die Herausforderungen durch die Herstellung der Deutschen Einheit (1990) und die Schaffung des EU-Binnenmarkts (1992) sowie der Einführung des Euros (1999). Zum anderen hat sich die Wirtschaftsordnung durch die Liberalisierungs- und Privatisierungsstrategie der 1990er-Jahre spürbar geändert. Das Gleiche gilt für die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen zu Beginn der 2000er-Jahre (sog. Agenda 2010), mit welchen der Ausbau des Sozialstaats der 1960/ 70er-Jahre teils zurückgedreht wurde. Schließlich erodiert seit den 1990er das System der Tarifpartnerschaft insoweit, als ein immer kleinerer Teil der Unternehmen tarifgebunden ist. Angesichts des parallel wachsenden Niedriglohnsektors wurde 2015 erstmalig ein gesetzlicher Mindestlohn (→-Kap. 8.4) eingeführt. Schließlich hatten die weltweite Finanzkrise 2008/ 09, die „Corona‐ krise“ 2020-22 und der Energiepreisschock in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine (2021-) zumindest kurzfristig Einfluss auf die <?page no="94"?> Wirtschaftsordnung Deutschlands als z. B. die Staatsquote (Staatsausga‐ ben/ BIP) u. a. wegen der Ausweitung von Subventionen und Transfers wieder spürbar anstieg (→ Abb. 4). Eine weitere - auch wirtschaftspolitische - Herausforderung stellt die ungeplante Zuwanderung dar und deren Hochs dar, etwa 2015/ 16 als Folge des Kriegs in Syriens oder seit 2022 als Folge des Kriegs in der Ukraine. 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 1960 1996 2009 2022 Abb. 4: Staatsquote 1960-2022 (Ausgaben von Gebietskörperschaften und Sozialversi‐ cherungen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) | Quelle: Bundesfinanzministerium 2024 Es würde den Rahmen dieses Buchs sprengen, alle genannten Entwicklun‐ gen und Maßnahmen darzustellen oder gar ihre Kompatibilität mit der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft abzuklopfen. Stattdessen werden im Folgenden nur einige Eckpunkte der deutschen Wiedervereinigung, der Liberalisierungs- und Privatisierungsstrategie sowie der Agenda 2010 kurz skizziert. 21.2 Deutsche Wiedervereinigung Im November 1989 öffnete die DDR-Regierung die Außengrenzen für alle Bürger, so dass diese nach fast 40 Jahren des weitgehenden Ausreiseverbots wieder ungehindert die deutsch-deutsche Grenze passieren konnten. Im Juli 1990 wurde die wirtschaftliche Vereinigung der zwei deutschen Staaten 94 21 Umwälzungen und Herausforderungen <?page no="95"?> im Rahmen des Vertrags über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vereinbart. Im Oktober 1990 folgte schließlich die deutsch-deutsche Einheit, durch welche die Bundesrepublik Deutschland mit damals ca. 63 Mio. Einwohnern um das Gebiet der ehemaligen DDR mit ca. 16 Mio. Einwohnern erweitert wurde. Es war erklärtes Ziel, die ehemalige DDR in die Soziale Marktwirtschaft zu integrieren. Dies war mit erheblichen Herausforderungen verbunden, da die Wirt‐ schaftsordnung der DDR eine zentralistische Planwirtschaft mit eigener nichtkonvertibler Währung und staatlichem („volkseigenen“) Eigentum an den Produktionsmitteln gewesen war. Es wurden quasi über Nacht ein de‐ zentraler Koordinationsmechanismus, die marktwirtschaftliche Preis‐ bildung und die westdeutsche Währung, die völlig konvertible D-Mark, zu einem Kurs von 1: 1 eingeführt. Außerdem strebte die Bundesregierung eine schnelle Privatisierung staatlicher Unternehmen an. Dies betraf ca. 8.500 große „volkseigene Betriebe“ und „Kombinate“ (Konzerne) mit ca. 45.000 Betriebsstätten und 4 Mio. Beschäftigten (BvS 2003, S. 31). Mit der Entflechtung und Privatisierung war die Treuhandanstalt beauftragt. Nach 4 Jahren Tätigkeit war der Pri‐ vatisierungsprozess weitgehend abgeschlossen. Etwa 12.000 Unternehmen bzw. Unternehmensteile wurden privatisiert, 4.000 Unternehmen an Altei‐ gentümer übertragen, 50.000 Liegenschaften veräußert und 3.700 Betriebe stillgelegt (BvS 2003, S. 398 ff.). Mehr als 2,5 Mio. der Beschäftigten verloren ihren Arbeitsplatz. Dies war für viele der Menschen, die Arbeitsplatzsicher‐ heit gewohnt waren und für die der Betrieb über die Arbeit hinaus das soziale Miteinander prägte, eine geradezu traumatische Erfahrung (Ragnitz 2020, S.-330). Die Privatisierung ging rasch, möglicherweise überhastet, vonstatten. Die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe war gering, da ihre Produktivität vergleichsweise niedrig war, sie ohne Übergangsfrist der westdeutschen und internationalen Konkurrenz ausgesetzt wurden, in der 1: 1 transferierten D-Mark wirtschaften mussten und die Handelsbeziehungen zum ehemali‐ gen Ostblock zusammengebrochen waren. Entsprechend niedrig waren dann auch die Privatisierungserlöse. Im Ergebnis verzeichnete die Treu‐ handanstalt ein Minus von. 204 Mrd. D-Mark (104 Mrd. €), u. a. aufgrund von Altschulden und ökologischen Altlasten (BvS 2003, S.-145-f. u.168). → Tab. 1 und → Tab. 2 lassen die Tragweite und Schwere des Transfor‐ mationsprozesses der ehemals sozialistischen Planwirtschaft erkennen. Die Arbeitslosigkeit stieg in den ersten 10 Jahren erheblich an und die Arbeits‐ 21.2 Deutsche Wiedervereinigung 95 <?page no="96"?> losenquote erreichte erst nach 25 Jahren wieder den einstelligen Bereich. Ohne die Abwanderung nach Westdeutschland wäre die Arbeitslosigkeit noch höher gewesen. Die Wirtschaftsstärke - gemessen am BIP pro Kopf - lag zu Beginn bei etwa 43 Prozent jener von Westdeutschland. Dieser Anteil stieg zwar spürbar über die Jahre an, liegt aber mit 79 Prozent (2022) noch deutlich unter 100 Prozent. Nimmt man Berlin aus der Betrachtung heraus, betrug der Prozentsatz sogar nur 33-Prozent (1991) bzw. 72-Prozent (2022). - 1989 1991 1995 2000 2010 2015 2019 Bevölkerung 16,4 Mio. 14,5 Mio. 14,2 Mio. 13,9 Mio. 12,9 Mio. 12,6 Mio. 12,5 Mio. Erwerbstätige 8,9 Mio. 8,5 Mio. 7,8 Mio. 7,6 Mio. 7,6 Mio. 7,7 Mio. 8,1 Mio. Arbeitslose - 1,0 Mio. 1,2 Mio. 1,5 Mio. 1,0 Mio. 0,8 Mio. 0,5 Mio. Arbeitslosen‐ quote - 10,2 % 14,8 % 18,5 % 12 % 9,2 % 7,1 % Arbeitslosen‐ quote West 7,9 % 6,2 % 9,1 % 8,4 % 6,6 % 5,7 % 5,1 % Tab. 1: Arbeitsmarktdaten für Ostdeutschland (einschl. Berlin) | Quellen: Statistisches Bundesamt (1990), S.-31; www.destatis.de - 1991 1995 2000 2005 2010 2015 2019 BIP pro Kopf 9.815 16.633 18.400 20.245 23.719 28.464 33.307 in % des West‐ niveaus 43 % 67 % 67 % 68 % 71 % 73 % 76 % Tab. 2: BIP pro Einwohner in Ostdeutschland (einschl. Berlin) und in Prozent des BIP pro Einwohner in Westdeutschland | Quelle: www.destatis.de; eigene Berechnungen Eine weitere Herausforderung bestand aus der Integration der Bevölkerung der ehemaligen DDR in die bundesdeutsche Sozialordnung. Dabei erwies sich die Überführung der DDR-Renten und Rentenansprüche in das bun‐ desdeutsche Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung als besonders anspruchsvoll. Zum einen ging es um eine angemessene soziale Absicherung der ca. 3,5 Mio. Rentner sowie zukünftiger ostdeutscher Rent‐ 96 21 Umwälzungen und Herausforderungen <?page no="97"?> ner, zum anderen standen fiskalische Gründe einer sofortigen Angleichung an das frühere Bundesgebiet im Wege. Dieser Spagat erklärt, dass es nur zu einer allmählichen Angleichung der Standardrente in Ost und West kam. Die Standardrente (auch „Eckrente“) stellt die Bezüge aus der gesetzlichen Rentenversicherung dar, die ein Einzahler mit Durchschnittseinkommen nach 45 Jahren Erwerbstätigkeit erhalten würde. 1993 betrug die Standard‐ bruttorente Ost ca. 72 Prozent des Westniveaus (Deutsche Rentenversiche‐ rung 2023); mittlerweile (2022) sind es nahezu 100 Prozent. Die völlige Angleichung der Rentenwertberechnung ist für das Jahr 2025 vorgesehen. Trotz der nur allmählichen Angleichung verursachte die Integration der Ostdeutschen in das bundesdeutsche Rentensystem erhebliche Kosten: Nach Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) überstie‐ gen die Ausgaben der Rentenkasse an Ostdeutsche (inkl. Berlin) in den Jahren 1991-2005 deren Einzahlungen um 280 Mrd. Euro (Blum 2009, S. 96 u. eigene Berechnungen). Diese rentenbedingten Nettoausgaben machten rund ein Viertel der gesamten Nettotransfers an Ostdeutschland aus. Diese Zahlen schlugen sich u. a. in einem deutlichen Anstieg der Staatsquote in den 1990er-Jahren nieder (→-Abb. 4). Alles in allem ist die Transformation der ehemaligen DDR-Wirtschaft in eine Marktwirtschaft zwar nach ca. 30 Jahren weitestgehend abgeschlossen, und Einkommen sowie Beschäftigung sind mittlerweile deutlich angestie‐ gen. Aber trotz des relativ langen Zeitraums ist eine Gleichheit der wirt‐ schaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse nicht gegeben (Ragnitz 2019). In Bezug auf die Haltung gegenüber der Sozialen Marktwirtschaft deuten Umfragen darauf hin, dass zwar auch in Ostdeutschland der Begriff mehr‐ heitlich positiv bewertet wird, aber die Zustimmung zu der Konzeption im Westen höher als im Osten ist. So zählt z. B. zu den Ergebnissen der o. g. Umfrage des Allensbacher Instituts, dass 23 Prozent der ostdeutschen Befragten die Soziale Marktwirtschaft „nicht gut finden“ gegenüber nur 13 Prozent der westdeutschen Befragten (Institut für Demoskopie 2021, S. 7). Allerdings halten nur noch etwa 20 Prozent der Ostdeutschen (ca. 40 Prozent der Westdeutschen) die in Deutschland realisierte Wirtschaftsordnung für eine soziale Marktwirtschaft (Hampe 2020, S.-138-f.). 21.2 Deutsche Wiedervereinigung 97 <?page no="98"?> 5 Teile des Stromnetzes wurden vom Bund indes zurückgekauft und weitere Teile sollen folgen (Stand: Januar 2024). 21.3 Liberalisierung und Privatisierung An die 1970er-Jahre, in deren Verlauf eine nachfrageorientierte Stabilitäts‐ politik an ihre Grenzen stieß (vgl. → Kap. 19), schloss sich eine Phase, in der die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zunehmend Einzug hielt. Darunter ist eine Wirtschaftspolitik zu verstehen, die zur Erreichung von Wachstum und Stabilität im Allgemeinen auf die Marktkräfte und im Besonderen auf eine Verbesserung der Produktionsbedingungen und auf Rentabilitätssteigerungen der Unternehmen setzt. Die Strategie lautet Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung sowie eine stetige Geldpolitik, moderate Staatsquote, ausgeglichene Staatshaushalte und einen Abbau der in den 1970ern angestiegenen Staatsverschuldung. Der Wechsel zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik in Deutsch‐ land deutete sich 1982 mit der Ablösung der SPD/ FDP-Regierung durch eine Koalition von CDU/ CSU und FDP an. Die Gangart wurde durch Beschlüsse und Initiativen der EU verschärft. Hier ist insbesondere der EU-Vertrag von 1992 (Maastricht-Vertrag) und die Einführung des EU-Binnenmarkts 1993 zu nennen, die eine Liberalisierung der Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte implizierte und schließlich auch die Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte nach sich zog. Die meisten natürlichen Monopole wurden entstaatlicht und deregu‐ liert (z. B. Festnetz, Stromnetz 5 , Gasnetz, Kabelnetz). Statt auf staatliche Monopole setzt man nun auf private Monopole mit Kontrahierungszwang und Missbrauchsaufsicht (→ Kap. 4.3). Auch das Schienennetz der Bahn, die in eine AG umgewandelt wurde, sich aber nach dem Scheitern des Börsengangs nach wie vor zu 100 Prozent in Staatsbesitz befindet, ist für konkurrierende Schienentransportunternehmen geöffnet worden. Die bis in die 1990er-Jahre staatliche Post (Monopolist für Postsendungen und für Telekommunikation sowie Anbieter von Bankdienstleistungen) wurde in Postdienst (dhl), Telekomm und Postbank aufgegliedert und jeweils privatisiert. Im Jahr 2007 endete das letzte Monopol der früheren Post, nämlich das Briefmonopol. Zu den übrigen privatisierten Unternehmen zählen Flughäfen und die Lufthansa. Ein weiterer Liberalisierungsschritt ist die Lockerung des Ladenschluss‐ gesetzes. Außerdem wurden vielerorts zunehmend kommunale Dienst‐ 98 21 Umwälzungen und Herausforderungen <?page no="99"?> leistungen wie z.-B. die Abfallentsorgung privatisiert und für den Wettbe‐ werb geöffnet. Die Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung hatte deutlichen Einfluss auf die Wirtschaftsordnung Deutschlands und das alltägliche Leben der Verbraucher. Mit der gestiegenen Zahl der Anbieter und dem Wettbewerb hat sich die Vielfalt der Produkte gesteigert und in vielen der liberalisierten Bereiche sind die Preise gesunken. Allerdings ist die Privatisierung bzw. bei der Bahn die stärkere Ausrichtung auf Renta‐ bilität in einigen Bereichen mit volkswirtschaftlich fragwürdigen Effekten verbunden: Kurzfristig ausgerichtetes Rentabilitätsstreben scheint bislang mit einer Vernachlässigung langfristig ausgerichteter Investitionen einherzugehen. Rund 25 Jahre nach der Deregulierung/ Privatisierung gilt sowohl die Infrastruktur im Schienenverkehr als auch beim Stromnetz als veraltet oder als Nachhaltigkeitserfordernissen nicht angemessen. Privatisierung und Wettbewerb zogen naheliegender Weise auch Impli‐ kationen für die Arbeitnehmer ehemals staatlicher Monopole nach sich. Waren sie früher traditionell Beamte oder nach öffentlichem Tarif bezahlte Angestellte, sind sie nun überwiegend in privatrechtlichen Arbeitsverhält‐ nissen. Das bedeutet einen Verlust an Arbeitsplatzsicherheit und nicht selten niedrigere Löhne. So ist z. B. die Branche der Postdienste eine mit den niedrigsten Löhnen und Lohnzuwächsen sowie langen Arbeitszeiten und unterdurchschnittli‐ chen Arbeitsbedingungen (Statistisches Bundesamt 2020). Hierzu hat indes die Privatisierung nur einen Teil beigetragen, zum anderen Teil wird dies ebenso wie das generelle Anwachsen des Niedriglohnsektors auf die Ar‐ beitsmarkt- und Sozialreformen zu Beginn der 2000er-Jahre zurückgeführt. 21.4 Arbeitsmarkt- und Sozialreformen Seit Mitte der 1970er-Jahre war ein mittelfristiger Anstieg der Arbeitslo‐ senquote zu verzeichnen, der während der 1990er-Jahre nochmals anzog (→ Abb. 5). Zugleich war die Sozialleistungsquote (Sozialleistungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) von etwa 20 Prozent (1970) auf 24 Prozent (1990) und schließlich ca. 29 Prozent (1999) angestiegen. Beides erhöhte den Druck zu Reformen im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich. 21.4 Arbeitsmarkt- und Sozialreformen 99 <?page no="100"?> 6 Die Förderung sog. Ich-AGs wurde indes wenige Jahre später eingestellt. % 2% 4% 6% 8% 10% 12% 14% 1954 1977 2000 2023 Abb. 5: Jährliche Arbeitslosenquote, Deutschland 1954-2023 (bis 1990 früheres Bundes‐ gebiet) | Quelle: Statistisches Bundesamt (destatis) Im Jahr 2003 wurde ein umfassendes Reformpaket, die sog. Agenda 2010, auf den Weg gebracht, mit dem eine „Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung" sowie der "Umbau des Sozialstaats und seine Erneuerung" herbeigeführt werden sollte. Die Agenda 2010 sah einige Maßnahmen vor, die mit Ausgabenerhöhungen in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Kinderbetreuung einhergingen. Vor allem aber enthielt sie verschiedene Kürzungen der Sozialversicherungsleis‐ tungen, etwa von den gesetzlichen Kranken- und Rentenkassen. Außerdem wurden die Voraussetzungen für mehr Wettbewerb zwischen den Kran‐ kenkassen geschaffen. Des Weiteren wurde der Meisterzwang für etliche Handwerksberufe abgeschafft, um die Gründung mittelständischer Betriebe zu fördern. Das Herzstück der Agenda waren jedoch arbeitsmarktpolitische Refor‐ men, deren Inhalt stark von den Vorschlägen der nach ihrem Vorsitzenden benannten Hartz-Kommission geprägt ist und die „Fördern und Fordern“ zum Leitspruch hatten. Bei den Reformen ging es erstens um die aktive Arbeitsmarktpolitik, z.-B. durch neue Instrumente wie Existenzgründungs‐ zuschüsse 6 für Arbeitslose und eine Neustrukturierung der Arbeitsämter 100 21 Umwälzungen und Herausforderungen <?page no="101"?> und Verbesserung der Arbeitsvermittlung. Als bedeutsamer erwiesen sich jedoch Maßnahmen zur Deregulierung des Arbeitsmarkts und die Reform der Arbeitslosenhilfe, die insbesondere verstärkt Langzeitarbeitslose dazu „aktivieren“ sollte, ein Beschäftigungsverhältnis einzugehen. Elemente der Deregulierung waren u. a.: • eine Lockerung des Kündigungsschutzes, • der Abbau von Restriktionen für Leih- und Zeitarbeit, • die Erleichterungen für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse (sog. Minijobs) durch Aufhebung von Arbeitszeitbeschränkungen und Erhö‐ hung der steuerfreien Entgeltgrenze, • Erleichterung von befristeten Arbeitsverhältnissen. Ein Element der „Arbeitsaktivierung“ war die Herabsetzung der Zumutbar‐ keitsschwellen für Bezieher von Arbeitslosengeld und ihre weitgehende Abschaffung für Langzeitarbeitslose. Die wichtigste Reform war die Zusam‐ menlegung der damaligen Arbeitslosenhilfe (Alhi) mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II, sog. Hartz IV) im Jahr 2005. - Regelungen bis 2004 Reform 2005 ALG ALhi ALG ALG II Höhe ohne (mit) Kind(ern) 60 (67) % vom letzten Nettogehalt 53 (57) % vom letzten Nettogehalt 60 (67) % vom letzten Nettogehalt soziokult. Existenz‐ minimum Befristung für bis 57-Jährige 24 Monate nein 12 Monate nein Befristung für über 57-Jährige 36 Monate nein 18 Monate nein Bedürftigkeitsprüfung nein ja nein ja Tab. 3: Arbeitslosenunterstützung vor und nach der Agenda 2010-Reform Die → Tab. 3 gibt einen Überblick über die damaligen Änderungen. Vor der Reform hatte sich die Arbeitslosenhilfe (Alhi) an den Bezug von Arbeitslo‐ sengeld angeschlossen. Sie wurde nun durch das Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) ersetzt, das anders als die Alhi nicht nur an Personen gezahlt wird, die zuvor Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung erworben hatten, 21.4 Arbeitsmarkt- und Sozialreformen 101 <?page no="102"?> sondern an alle erwerbsfähigen Bedürftigen. Das ALG II orientiert sich auch bei zuvor erwerbstätigen Personen nicht mehr am zuletzt erzielten Nettogehalt, sondern am soziokulturellen Existenzminimum. Das bedeutete für die Mehrheit der Bezieher von Arbeitslosenhilfe eine Verringerung der Zahlungen. Zusätzlich konnte das Arbeitslosengeld II spürbar gekürzt werden, wenn sich der Empfänger den Arbeitsvermittlungsbemühungen entzieht oder Stellenangebote verweigert. Alles in allem kann gesagt werden, dass sich durch die Agenda 2010 ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik andeutete. Zum einen fand erstmals eine nennenswerte Deregulierung des Arbeitsmarkts statt, zum anderen bedeutete die Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine Abkehr vom reinen Fürsorgeprinzip bei bedürftigen Erwerbsfähigen hin zu mehr Eigenverantwortung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Zu erwähnen ist auch die Förderung eines zweiten Arbeitsmarkts. Verschiedene nachfolgende arbeitsmarktpolitische Entwicklungen kön‐ nen der Umsetzung der Agenda 2010 - allerdings nur teilweise - zugeordnet werden: Die Arbeitslosigkeit sank deutlich (→ Abb. 5); dabei ging die Arbeitslosigkeit von älteren Personen und Langzeitarbeitslosen überpro‐ portional zurück. Die Beschäftigtenzahlen stiegen. Zugleich wuchs die Zahl der geringfügig Beschäftigten sehr stark an und Leiharbeit nahm zu. Der Niedriglohnsektor expandierte und parallel stieg in Deutschland die Ungleichheit der Bruttolöhne. Mittlerweile ist der gesetzliche Mindestlohn eingeführt worden (→ Kap. 8.4. und 21.1). Die Reformen sind teils abgeschwächt worden, etwa was die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Ältere betrifft (Erhöhung auf 24 Monate). Auch ist im Jahr 2022 das ALG II (Hartz IV) durch das höhere Bürgergeld ersetzt und die Leistungskürzungen sind gemildert sowie die Anreize zur beruflichen Qualifizierung erhöht worden. Die Deregulierung im Leiharbeitssektor wurde ebenfalls teilweise zurückgenommen. 102 21 Umwälzungen und Herausforderungen <?page no="103"?> Zusammenfassung Die Soziale Marktwirtschaft blickt auf eine nunmehr über 70-jährige Geschichte zurück. Sie ist das Ergebnis einer kritischen Analyse des Laissez-faire Liberalismus und der Erfahrungen mit sozialistischen bzw. nationalsozialistischen Wirtschaftsordnungen. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine wettbewerbliche Wirtschafts‐ ordnung mit Privateigentum an Produktionsmitteln, die einen starken Staat voraussetzt. Seine Kernaufgabe besteht darin, einen Ordnungsrah‐ men für den Wirtschaftsprozess zu schaffen. Dieser soll die Effizienz des Marktmechanismus zum Tragen kommen lassen, für gesamtwirtschaftliche Stabilität und Wohlstand sorgen, Marktversagen korrigieren sowie soziale Sicherheit und Gerechtigkeit schaffen. Prozesspolitische Maßnahmen sind so zu gestalten, dass sie zielwirksam und marktkonform sind. Neben der Einbettung der Marktwirtschaft in eine marktkonforme Sozialordnung dürfte das hervorstechendste Merkmal der Sozialen Markt‐ wirtschaft gegenüber anderen liberalen Wirtschaftskonzeptionen darin be‐ stehen, dass der Wettbewerb als „staatliche Veranstaltung“ aufgefasst wird. Dahinter steht die Überzeugung, dass der wirtschaftliche Leistungs‐ wettbewerb sich weder selbst schaffen, noch sich selbst erhalten kann. Eucken bezeichnete dies als konstituierendes Prinzip der offenen Märkte. Somit kommt der Wettbewerbspolitik als Voraussetzung für eine funktio‐ nierende Marktwirtschaft neben der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eine tragende Rolle in der Sozialen Marktwirtschaft zu. Lesetipps Eucken, W. (1952). Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Hg. von Eucken, E./ Hensel, K. P., Tübingen: J.C.B. Mohr Goldschmidt, N./ Kolev, S. (2023). 75 Jahre Marktwirtschaft in 7,5 Kapiteln. Freiburg: Herder. Horn, K. I. (2010). Die Soziale Marktwirtschaft. Frankfurt: Frankfurter Allge‐ meine Buch. 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Gewerkschaften-75 Gleichverteilung-21 Grossmann-Doerth, Hans-62 Grundrechte-71 Güterallokation-18 Güterverteilung-23 Haftungsprinzip-89 Hochkonjunktur-34 Individualprinzip-37 Kampfpreise-31 <?page no="110"?> Kartell-35, 59 -recht-35 Keynes, John Maynard-84 Kommunismus-57 Konjunktur- Stabilisierung-34 Verlauf-33 Zyklus-33 konstituierende Prinzipien-63 Kontrahierungszwang-32 laissez faire-49, 51, 53f. Laissez-faire-Liberalismus-52 Lassalle, Ferdinand-53 Leistungsgerechtigkeit-21 Liberalismus-49f. Macht-19 magisches Viereck der Wirtschaftspolitik-33 Manchesterliberalismus-53 Marktkonformität-39 Marktleistungsgerechtigkeit-21 Marktversagen-29 Marx, Karl-57 Menschenwürde-15 Merkantilismus-47 Mietrecht-79 Miksch, Leonhard-62 Mindestlohngebot-66 Missbrauchsaufsicht-32 Monopolkontrolle-65 Müller-Armack, Alfred-15 nachhaltige Entwicklung-87f. Nachhaltigkeit-88 Modelle-88 Nachtwächterstaat-53 Nationalökonomie-49 nationalsozialistische Diktatur-61 Natürliche Monopole-30, 76, 98 Neoklassik-53 Neoliberalismus-45, 59f. Nichtausschließbarkeit-30 Nichtrivalität-30 Nutzen-Kosten-Verhältnis-40 Öffentliche Güter-30 Ökologische Frage-87 Ökologisierung-90 Ökosoziale Marktwirtschaft-89 Ölpreisschocks-84 Ordnung-63 Ordnungspolitik-33, 40f., 59 Ordnungsrahmen-103 ORDO (Zeitschrift)-62 Ordoliberalismus-60, 62f. Paläolibertarismus-55 Physiokratie-49 Planwirtschaft-95 Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen-35 Preismechanismus-39 Privateigentum an Produktionsmitteln-37 Privatisierung-95 Prozesspolitik-41 Quesnay, François-49 Rentenversicherung-96 Rezession-34 Röpke, Wilhelm-62 Rüstow, Alexander-62 110 Register <?page no="111"?> Schiller, Karl-15, 84 Sherman Act-54 Sicherheit-24 Smith, Adam-50 Soziale Marktwirtschaft-15f., 59, 66, 72, 103 Anfänge-69, 85 wirtschaftspolitische Konzeption-15 Ziele-16 Soziale Sicherheit-24 Sozialismus-57 Sozialpolitik-25, 54 Sozialprinzip-37 Sozialreformen-99 Staatliches Monopol-32 Stabilitätspolitik-83 Startchancengerechtigkeit-26 Steuerpolitik-26 Steuersystem-51 Subsidiaritätsprinzip-37 Tarifautonomie-75 Transformation-90 Treuhandanstalt-95 Umverteilung-66 umweltschädliche Subventionen-91 Umweltschutz-66 Ungerechtigkeit-26 Unsicherheit-25 unsichtbare Hand-51 Unternehmenszusammenschlüsse-36 Vergesellschaftung-58 Verkehrsinfrastruktur-54 Vermachtung von Märkten-19 Vermögensverteilung-24 Vernunft-49 Versicherungsprinzip-38 Verstaatlichung-32 Verteilungsgerechtigkeit-21 Verursacherprinzip-89 Vorsorgeprinzip-89 Wachstumspolitik-33, 83 Weimarer Republik-59 Weltwirtschaftskrise-59 Wettbewerbsbeschränkung-35 Wettbewerbspolitik-35 Wiedervereinigung-94 Wirtschaftsordnung-16, 62 Wirtschaftspolitik-39 angebotsorientierte-98 liberale-60 wirtschaftspolitische Konzeption-15 Wirtschaftswunder-81 Wissenschaftlicher Sozialismus-57 Wohlfahrtsoptimum-18 Wohnungsbaupolitik-79 Register 111 <?page no="112"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Idealtypischer Konjunkturzyklus | Quelle: Kulessa (2018), S.-38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Abb. 2: Chronologie wirtschaftspolitischer Konzeptionen . . 45 Abb. 3: Wahlplakat von 1957 | Quelle: ACDP, Plakatsammlung, 10-001: 664, DIE WAAGE Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e.-V., Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Abb. 4: Staatsquote 1960-2022 (Ausgaben von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) | Quelle: Bundesfinanzministerium 2024 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Abb. 5: Jährliche Arbeitslosenquote, Deutschland 1954-2023 (bis 1990 früheres Bundesgebiet) | Quelle: Statistisches Bundesamt (destatis) . . . . . . . . . . . . . . . . 100 <?page no="113"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1: Arbeitsmarktdaten für Ostdeutschland (einschl. Berlin) | Quellen: Statistisches Bundesamt (1990), S. 31; www.des tatis.de . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Tab. 2: BIP pro Einwohner in Ostdeutschland (einschl. Berlin) und in Prozent des BIP pro Einwohner in Westdeutschland | Quelle: www.destatis.de; eigene Berechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Tab. 3: Arbeitslosenunterstützung vor und nach der Agenda 2010-Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 <?page no="114"?> Bisher sind erschienen: Ulrich Sailer Digitalisierung im Controlling Transformation der Unternehmenssteuerung durch die Digitalisierung 2023, 104 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-10301-0 Michael von Hauff Wald und Klima Aus der Perspektive nachhaltiger Entwicklung 2023, 85 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-10311-9 Ralf Hafner Unternehmensbewertung 2024, 133 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11351-4 Irene E. Rath / Wilhelm Schmeisser Internationale Unternehmenstätigkeit Grundlagen, Führung, Organisation 2024, 175 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11231-9 Reinhard Hünerberg / Matthias Hartmann Technologische Innovationen Steuerung und Vermarktung 2024, 152 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11291-3 Ulrich Sailer Klimaneutrale Unternehmen Management, Steuerung, Technologien 2024, 130 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11341-5 Oˇ guz Alaku¸ s Basiswissen Kryptowährungen 2024, 79 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-11381-1 Uta Kirschten Personalmanagement: Gezielte Maßnahmen zur langfristigen Personalbindung 2024, 159 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-12151-9 nuggets Die Reihe nuggets behandelt anspruchsvolle Themen und Trends, die nicht nur Studierende beschäftigen. Expert: innen erklären und vertiefen kompakt und gleichzeitig tiefgehend Zusammenhänge und Wissenswertes zu brandneuen und speziellen Themen. Dabei spielt die richtige Balance zwischen gezielter Information und fundierter Analyse die wichtigste Rolle. Das Besondere an dieser Reihe ist, dass sie fachgebiets- und verlagsübergreifend konzipiert ist. Sowohl der Narr-Verlag als auch expert- und UVK-Autor: innen bereichern nuggets. <?page no="115"?> Kariem Soliman Leitfaden Onlineumfragen Zielsetzung, Fragenauswahl, Auswertung und Dissemination der Ergebnisse 2024, 102 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11961-5 Oˇ guz Alaku¸ s Das Prinzip von Kryptowährungen und Blockchain 2024, 133 Seiten €[D] 17,90 ISBN 978-3-381-12211-0 Eckart Koch Interkulturelles Management Managementkompetenzen für multikulturelle Herausforderungen 2024, 118 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11801-4 Margareta Kulessa Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Ziele, Prinzipien und Herausforderungen 2024, 113 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-381-11411-5 <?page no="116"?> ISBN 978-3-381-11411-5 Prof. Dr. Margareta Kulessa lehrt Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Mainz. Vom Merkantilismus über den Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft Die Wirtschaftsordnung unseres Landes basiert auf dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Margareta Kulessa stellt es in diesem kompakten Nugget-Band vor: Sie beleuchtet die wirtschaftspolitische Konzeption, die geschichtliche Entwicklung sowie die politischen Anfänge mit Weichenstellungen in z.B. Ordnungs-, Sozial- und Wohnungsbaupolitik. Auch auf ökologisch-soziale Herausforderungen geht sie ein. Das Buch richtet sich an Studierende und Dozierende der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Politikwissenschaft.