Struktur und Ästhetik
Interdisziplinäre Perspektiven auf die Darstellenden Künste der Gegenwart
1125
2024
978-3-3811-1422-1
978-3-3811-1421-4
Gunter Narr Verlag
Thomas Fabian Ederhttps://orcid.org/0000-0002-6135-8474
Angelika Endreshttps://orcid.org/0009-0003-9015-8038
Silke zum Eschenhoffhttps://orcid.org/0009-0001-6318-9459
Benjamin Hoeschhttps://orcid.org/0000-0003-1505-5445
10.24053/9783381114221
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
In aktuellen öffentlichen Debatten wird Theater nicht mehr als entrücktes Kunstereignis, sondern in seiner sozialen Verortung und Wirkung reflektiert. Im Zentrum stehen dabei u. a. Machtverhältnisse, Repräsentation, Diversität, Barriereabbau und Vermittlung. Nicht selten werden künstlerischer Anspruch und soziale Verantwortung gegeneinander in Stellung gebracht. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion fehlt es bislang an Perspektiven, die das Ästhetische und das Soziale als grundlegende Dimensionen von Theater zusammendenken. Der Sammelband eröffnet eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Struktur und Ästhetik in den Darstellenden Künsten der Gegenwart. An aktuellen Beispielen und im gezielten Transfer von Untersuchungsmethoden zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen beleuchten die Beiträge, wie Soziales im Ästhetischen und Ästhetisches im Sozialen wirksam wird.
<?page no="0"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 60 Thomas Fabian Eder / Angelika Endres / Silke zum Eschenhoff / Benjamin Hoesch (Hrsg.) Struktur und Ästhetik Interdisziplinäre Perspektiven auf die Darstellenden Künste der Gegenwart <?page no="1"?> Struktur und Ästhetik <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 60 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Thomas Fabian Eder / Angelika Endres / Silke zum Eschenhoff / Benjamin Hoesch (Hrsg.) Struktur und Ästhetik Interdisziplinäre Perspektiven auf die Darstellenden Künste der Gegenwart <?page no="4"?> Die Beiträge sind mehrheitlich im Kontext der Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ entstanden - Projektnummer 387849349. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381114221 © 2024 · Thomas Fabian Eder (ORCID: https: / / orcid.org/ 0000-0002-6135-8474), Angelika Endres (ORCID: https: / / orcid.org/ 0009-0003-9015-8038), Silke zum Eschenhoff (ORCID: https: / / orcid.org/ 0009-0001-6318- 9459), Benjamin Hoesch (ORCID: https: / / orcid.org/ 0000-0003-1505-5445) Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-381-11421-4 (Print) ISBN 978-3-381-11422-1 (ePDF) ISBN 978-3-381-11423-8 (ePub) Titelfoto: 100 % Karlsruhe, Rimini Protokoll © Jochen Klenk Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 25 47 75 103 127 149 Inhalt Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff Perspektiven des ‚und‘. Zum Verhältnis ästhetischer und sozialwissenschaftlicher Theaterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . METHODENTRANSFER Hanna Voss Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie. Zur Konvergenz sozialer und ästhetischer Ordnung(en) am Beispiel der Erforschung von Absolvent: innenvorsprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Endres Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft. Formate als Phänomen und Untersuchungskategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KÜNSTLERISCHE ZUSAMMENARBEIT- Ulrike Hartung „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “. Musiktheater probenethnografisch betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Stauss Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht. Die Verurteilung des Lukullus in Stuttgart und The Decision in Birmingham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rike-Kristin Baca Duque Die Kunstfreiheit im Blick. Organisatorische und ästhetische Herausforderungen im zeitgenössischen Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ASYMMETRIEN UND KONFLIKTE Anja Quickert Theatrale Feldforschungen: Welt. Überlegungen zu Rimini Protokolls 100 % Stadt als partizipatorischem Glokalisierungsformat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 177 201 223 251 279 Thomas Fabian Eder A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression. Illiberal Engagement with the Independent Performing Arts in Europe . . . . . . . . . . Silke zum Eschenhoff Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten. Am Beispiel des internationalen Festivals Theaterformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . THEATER UND ÖFFENTLICHKEIT- Maria Nesemann Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen. Teilhabe am Theater aus Perspektive der kritischen Kunstvermittlung und des Audience Developments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benjamin Hoesch Geschlossene Gesellschaft? Theatermaschine/ Bayreuth als ästhetisch-soziale Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autor: innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Perspektiven des ‚und‘ Zum Verhältnis ästhetischer und sozialwissenschaftlicher Theaterforschung Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff So wie sich die Theaterwissenschaft mit Theater befasst, beschäftigt sich die Arbeitswissenschaft mit Arbeit, das Kulturmanagement mit Kulturorganisation, die Politikwissenschaft mit politischer Steuerung und der Institutionalismus mit Institutionen. Doch was, wenn sie gemeinsam auf die Darstellenden Künste der Gegenwart blicken? In Anerkennung der Tatsache, dass künstlerische Aufführungen nicht ohne Arbeit, nicht ohne Organisationen, immer innerhalb institutioneller Rahmenbedingungen und nur selten unabhängig von staatlicher Förderung stattfinden, bringt dieser Band Wissenschaftler: innen aus den ge‐ nannten Disziplinen zusammen, um einen multiperspektivischen Blick auf die Darstellenden Künste zu gewinnen. Struktur und Ästhetik sind dabei zentrale Begriffe, die nicht nur institutionell, sondern auch wissenschaftsmethodisch auf ihre Widersprüchlichkeit, vor allem aber auf ihre Bedingtheit und gegenseitige Beeinflussung hin befragt werden. Zehn Autor: innen haben sich dafür auf einen gemeinsamen Entwicklungsprozess eingelassen, der sowohl die Hindernisse und Hürden der Übersetzung als auch neue, ungeahnte Schnittmengen ans Licht bringt. Quantitative Methoden treffen auf Probenethnografie oder Auffüh‐ rungsanalysen auf sozialempirische Tiefenbohrungen. Auch theoretisch reicht das Spektrum von politikwissenschaftlichen Perspektiven über medien- und kulturwissenschaftliche Begriffe bis hin zur strukturkritischen Auseinanderset‐ zung um Öffentlichkeit und Teilhabe. Und doch erscheint der Band in der Reihe Forum Modernes Theater. Er richtet sich damit vorrangig an die deutschsprachige Theaterwissenschaft und knüpft an die neuesten Entwicklungen im Fach an. <?page no="8"?> 1 Balme/ Szymanski-Düll 2020: 13. 2 Vgl. etwa Husel 2020; zum Eschenhoff 2021; Oberkrome 2022; Voss 2023; Hoesch 2024. 3 Vgl. etwa Warstat et al. 2017; Siegmund 2020; Wagner/ Ernst 2024. 4 Vgl. etwa Bier et al. 2020; Wolfsteiner 2020. 1 Theaterforschung zwischen den Disziplinen Die theaterwissenschaftliche Betrachtung der Darstellenden Künste hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Unter Einbezug der Theo‐ rien und Methoden sozialwissenschaftlicher Disziplinen hat die Theaterwissen‐ schaft ein Verständnis von Theater und Darstellenden Künsten als Organisation und Institution entwickelt und die damit verbundenen Aspekte und Dynamiken in den Blick genommen. Von diesem „social turn“ 1 der Theaterwissenschaft ist die gesamte Ausrichtung des Fachs betroffen: Theaterproduktionen der Gegenwart werden kaum mehr als singuläre künstlerische Einfälle analysiert, sondern auf die sozialen und organisationsstrukturellen Bedingungen ihres Zustandekommens sowie u. a. auf ihre machtstrategischen, repräsentationspo‐ litischen und institutionskritischen Implikationen befragt. 2 In Diskussionen der Theorie und Ästhetik des Theaters werden nicht mehr nur materielle und mediale Spezifika, sondern verstärkt auch soziale Voraussetzungen und ethische Dimensionen der Theatersituation ins Spiel gebracht. 3 Die Erforschung der Theatergeschichte war schon lange weniger als andere Disziplinen einem Kanon herausgehobener Einzelleistungen verschrieben; nun arbeitet sie zunehmend auch gesellschaftsstrukturelle Verschiebungen und organisationsgeschichtliche Entwicklungen von Theater auf. 4 Erst diese veränderten Schwerpunktsetzungen ermöglichten der Theaterwissenschaft auch die interdisziplinäre Zusammenar‐ beit in breitaufgestellten Forschungsverbünden. So sehr insbesondere die sozialwissenschaftlichen Einflüsse und empirischen Methoden den Blick auf Theater erweitert und die Theaterwissenschaft be‐ reichert haben, tritt das Fach damit auch in Distanz zu seinen bisherigen Kompetenzen, die in geisteswissenschaftlicher Tradition stehen und in Begriffs‐ differenzierungen, Interpretationen und (Re-)Lektüren von einer potenziell unabschließbaren Reflexion des Theaters ausgehen. Gegenüber den sozial‐ wissenschaftlichen Einflüssen zeigen sich daher zwei gleichermaßen proble‐ matische Haltungen im Fach, in denen ein datenpositivistisches Image der Sozialwissenschaften ebenso wie eine idealistisch-normative Prägung der Geis‐ teswissenschaften nachwirken: Während manche zu hoffen scheinen, den Untersuchungsgegenstand Theater durch reproduzierbare Verfahren der Daten‐ erhebung und Hypothesenüberprüfung verifizieren und stabilisieren zu können, beharren andere auf dem singulären ästhetischen Ereignis und blenden darüber 8 Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff <?page no="9"?> 5 Vgl. etwa Loacker 2010; Matzke 2012; Manske 2016; Schmidt 2019; Eder 2023; Gadola et al. 2023. 6 Vgl. Wesemüller 2022. 7 Vgl. etwa Fischer-Lichte et al. 2014; Garde/ Severn 2021. dessen soziale Voraussetzungen und Konsequenzen aus. Aus der zunehmenden Interdisziplinarität der Theaterwissenschaft resultieren daher auch Konflikte - in Forschungsverbünden wie für die einzelnen Forschenden -, nicht nur hin‐ sichtlich unterschiedlicher Wissenschaftsverständnisse. Noch schwerer wiegt, dass in dieser Dichotomie jedem Forschungsansatz eine irreduzible Dimension des ‚Gegenstands‘ Theater entgeht, der eben grundlegend sozial und zugleich ästhetisch verfasst ist. Derzeit zieht sich die interdisziplinäre Kluft durch Forschungsverbünde und Institute, durch Konferenzthemen und Forschendenbiografien bis in den Aufbau einzelner Studien: Es scheint bis jetzt nur möglich zu sein, entweder die sozialen Bedingungen von Theater als Organisation und Institution zu beforschen oder seiner ästhetischen Erfahrungsqualität und Reflexivität als künstlerische Aufführung gerecht zu werden. Mit jeder Entscheidung entlang dieser Alternative naturalisiert sich jedoch eine Spaltung des Gegenstands, die diesem selbst gerade nicht eigen ist: Theater unterscheidet nicht zwischen seiner sozialen und seiner ästhetischen Dimension, sondern verstrickt immer beide ineinander - Publika, Diskurse und Organisationsformen in eine ästhetische Eigendynamik sowie das ästhetische Urteil in ein sozial geteiltes Ereignis. Dieser Doppelcharakter der Darstellenden Künste ist sicher auch historisch nachzuverfolgen, in unterschiedlichen Tendenzen der jüngsten Gegenwart aber besonders präsent. So wurde in den vergangenen Jahren intensiv über Arbeits‐ bedingungen, Machtstrukturen und Machtmissbrauch im deutschsprachigen Theaterbetrieb diskutiert. 5 Zugleich wurden verstärkt Strukturen identifiziert, die zum Ausschluss oder zur Unterrepräsentation bestimmter Gruppen auf der Bühne oder im Publikum führen, und ein Wandel dieser Strukturen angestrebt, um der Heterogenität von (Stadt-)Gesellschaften gerecht werden zu können. In zahlreichen Kooperationen und Annäherungen zwischen öffentlich getragenen Theatern und Freier Szene zeigt sich, wie ihre jeweiligen Ästhetiken sich erst dem Zusammenspiel mit spezifischen Strukturbedingungen verdanken. 6 Die beiden Betriebssysteme Darstellender Künste im deutschsprachigen Raum konfrontieren sich im Zuge intensivierter internationaler Kontakte mit ihren strukturellen und ästhetischen Alternativen in anderen Ländern. 7 Oft werden Strukturbedingungen unter dem Einfluss internationaler Krisen und Konflikte als hemmend empfunden, wenn sie etwa durch politische Einflussnahme, durch Preissteigerungen oder monatelange Schließungen zur Pandemiebekämpfung Perspektiven des ‚und‘ 9 <?page no="10"?> 8 Vgl. Pfost et al. 2020; Wihstutz et al. 2022; Eder/ Rowson 2023; Felton-Dansky et al. 2023; Otto 2023. Kunst unmöglich zu machen scheinen. Die Darstellenden Künste reflektieren all diese Strukturveränderungen - mal notgedrungen, mal proaktiv - in ihren Themen, ihren Projektzuschnitten und Stilentwicklungen und entziehen sich ihrer Verunmöglichung, etwa durch Verschiebungen ins Digitale. 8 Gegenüber diesen zugleich strukturellen wie kunstpraktischen Formationen bleibt die wissenschaftliche Analyse in tradierten Disziplingrenzen und Fachex‐ pertisen zurück. Deshalb wird die Differenz zwischen sozialwissenschaftlichen und ästhetischen Perspektiven auf Theater heute zunehmend als Problem erkannt - was nicht bedeutet, diese Differenz einfach leugnen zu können: Aktuelle Entwicklungen der Darstellenden Künste drängen eine interdiszipli‐ näre Erforschung geradezu auf; doch wissenschaftliche Potenziale zur Zusam‐ menarbeit über Fächergrenzen hinweg werden nicht voll genutzt, solange die Konsequenzen und Grenzen der Interdisziplinarität zu wenig reflektiert sind. Das Verhältnis zwischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Prägungen als Spannung sowie die eigene Position darin bewusst zu machen ist die Voraussetzung dafür, Überbrückungen, Abstecher und Rundreisen auf die je andere Seite überhaupt konzipieren zu können. Produktive neuere Ansätze sind sich der inneren Vielfalt und Interpretationsabhängigkeit sozialwissenschaft‐ licher Perspektiven bewusst, orientieren sich an einer empirisch manifesten Realität von Theater und misstrauen abstrakten Theoriebildungen, wenn sie den Gegenstand eher verstellen oder gar ersetzen als ihn zu erklären. Statt Erkenntnisgewinn als singuläres Ereignis des Denkens zu mystifizieren oder aber, im Sinne des kritischen Rationalismus, auf das datenbasierte Prüfen von aus der Theorie abgeleiteten Hypothesen zu reduzieren, stellt sich die Frage nach einem integrativen Ansatz, der den Paradigmenstreit hinter sich lässt und die vielfältigen Methoden der Sozial- und Theaterwissenschaft zulässt. Ein Wechselspiel zwischen datenbasierten und interpretativen Herangehensweisen kann zur differenzierten Reflexion des Theaters sowie seiner gesellschaftlichen Rolle und Wirkung beitragen. 2 Perspektive des ‚und‘ Der Sammelband Struktur und Ästhetik soll eine entsprechend reflexive inter‐ disziplinäre Auseinandersetzung mit Theater eröffnen. Das ‚und‘ in seinem Titel steht für beide Vorannahmen: Die Differenz zwischen den Betrachtungen von Theater als sozialem oder ästhetischem Gegenstand, die bislang nur 10 Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff <?page no="11"?> aneinandergeheftet werden und nicht in eins zu setzen sind; sowie den drin‐ genden Bedarf einer methodischen wie theoretischen Überbrückung, um beides zusammendenken zu können und nicht länger künstlich zu trennen. Diese Brückenschläge sollen im Herausarbeiten von Zusammenhängen bestehen, in denen das Soziale im Ästhetischen und das Ästhetische im Sozialen wirksam wird: Wie beeinflussen strukturelle Bedingungen (institutionelle Regeln, Finan‐ zierung, Arbeitsbedingungen etc.) oder auch größere Transformationsprozesse (Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Diversität etc.) die Ästhetik? Und umgekehrt: Wie wirken sich ästhetische Dynamiken und Eigenlogiken (legitimierend, reflexiv, kritisch, transformierend etc.) auf die Wahrnehmungen, Praktiken und Organisationsstrukturen des Theaters und seiner sozialen Um‐ welt aus? Möglich werden solche Überbrückungsversuche, die durchaus als Pionierar‐ beit zu verstehen sind, durch einen zielgerichteten Methoden- und Perspekti‐ ventransfer zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften sowie eine Erprobung von between-methods etwa aus der Ethnografie oder Dispositiv- und Diskurs‐ analyse, interdisziplinären Methodologien sowie der Verknüpfung unterschied‐ licher methodischer Herangehensweisen im Mixed-Methods-Paradigma. Dabei bewegen sich die Erkundungen so weit aus der jeweiligen disziplinären Kom‐ fortzone, dass eine kritische Reflexion der Fachgrenzen wie auch der Interdis‐ ziplinarität selbst möglich wird: Was wird sichtbar, was entgeht dem Blick, wenn Theater aus der einen oder der anderen Perspektive betrachtet wird? Wie stärkt die Gegenperspektive bestätigend oder erweiternd den eigenen Forschungsstandpunkt, wie irritiert sie produktiv oder bringt ihn gar ins Wanken? Ziel kann freilich nicht die Abschaffung aller Disziplinengrenzen oder das Überspielen der Differenzen im Wissenschaftsverständnis sein, sondern eine pluralistisch informierte und reflektierte Standortbestimmung: Stellt sich eine Studie in ästhetische Tradition, sollte sie auch sozialwissenschaftliche Perspektiven kennen, mit denen sich die komplexe Sozialdynamik ästhetischer Prozesse beschreiben lässt; ist sie der Erforschung sozialer Ordnung verpflichtet, weiß sie durch theater- und kunstwissenschaftliche oder philosophische Theo‐ rieanleihen um die Eigenart des Ästhetischen in ihr. Die Beiträge dieses Bandes stellen sich aus aktueller Forschungstätigkeit heraus der interdisziplinären Herausforderung in diesem Sinne. Sie liegt bereits in einem Textaufbau, der die Problemformulierungen und die Gewichtung der Perspektiven aus Sozial- und Geisteswissenschaft tragen kann: Wo liegt der Ausgangspunkt, wo der Zielpunkt? Aus welcher Warte stellt sich überhaupt ein Problem, wie wird seine Bedeutung vermittelt? Wie gelingt interdisziplinär eine erhellende Kombination von Begriffen und Methoden, ohne den Forschungsge‐ Perspektiven des ‚und‘ 11 <?page no="12"?> genstand zu überfrachten? Wird zwischen den Perspektiven dialektisch oder gar dialogisch vermittelt oder dient die andere Perspektive primär als Kontrastfolie und Lackmustest für die eigene? In ihrer jeweiligen Anlage stehen die Beiträge so auch modellhaft für verschiedene Herangehensweisen interdisziplinärer Multiperspektivität und lösen Perspektiven des ‚und‘ allesamt auf je eigene Weise ein. Die ersten beiden Beiträge des Bandes befassen sich mit dem Methoden‐ transfer und zeigen Wege auf, wie die Analyse künstlerischer Arbeiten durch Perspektiven aus anderen Disziplinen erweitert werden kann. Hannah Voss un‐ tersucht die Verbindungslinien zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie am Beispiel des institutionalisierten Repräsentationsformats des Intendant: in‐ nenvorspiels an Schauspielschulen. Dabei geht Voss von einer Konvergenz zwischen den im Zuge der Aufführungsanalyse feststellbaren ästhetischen Ordnungen sowie der über den ethnografischen Forschungsprozess versteh‐ baren sozialen Ordnung aus und formuliert ein „Plädoyer für das Zwischen“, um Grenzen und Potenziale der Methoden auszuloten und interdisziplinär zu arbeiten. In „Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft“ verortet Angelika Endres Formate als Phänomen zwischen Struktur und Ästhetik und schlägt sie als theaterwissenschaftliche Untersuchungskategorie vor, um aus triangulierter Perspektive einen neuen Zugang zur ästhetischen Analyse zu eröffnen. Dabei nimmt sie Projekte und Angebote der Theater in den Blick, die insbesondere während und seit der Pandemie in Erscheinung traten, und betont schließlich das reflexive Potenzial von Formaten, nicht zuletzt auch für die Fachdisziplin selbst. Der Abschnitt zur künstlerischen Zusammenarbeit versammelt Beiträge, deren Autor: innen auf den Zusammenhang von Arbeitsstrukturen, Proben‐ bedingungen sowie Inhalt und Ästhetik unterschiedliche Perspektiven ein‐ nehmen. In „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ analysiert Ulrike Hartung als methodischen Impuls für die Musiktheaterwissenschaft drei unterschiedliche Produktionsprozesse von Wagners Ring des Nibelungen probenethnografisch. In sieben abschließenden Thesen fasst Hartung die strukturell-ästhetische Relation zwischen dem Ring-Zyklus immanenten Erwartungsstrukturen und der künstlerischen Produktion. Rike-Kristin Baca Duque hat diskursanalytisch „Die Kunstfreiheit im Blick“ und fragt, wie historisch und zeitgenössisch divergierende Auslegungen der juristisch schwer zu fassenden Kunstfreiheit auf ästhetische Praktiken und Organisationsstrukturen der öffentlich getragenen Theater wirken. Das Spannungsfeld zwischen künstlerischer Autonomie und sozialer Verantwortung, so eine zentrale These der Untersuchung, offenbart einen Wandel der Werte und Machtverhältnisse im Theater, wodurch wiederum 12 Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff <?page no="13"?> die organisationalen Strukturen unter (Reform-)Druck geraten. Sebastian Stauss entwickelt in „Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvor‐ lagen von Brecht“ eine Perspektive des ‚und‘ durch die Untersuchung von Wechselwirkungen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ästhetischer Struk‐ turen. Vergleichend setzt Stauss zwei historische Spielvorlagen ins Verhältnis mit zeitgenössischer Inszenierungspraxis unter differenten Produktionsbedin‐ gungen, wobei eine Reflexion der künstlerischen Arbeits- und Umgangsweisen im Verhältnis von Produzent: innen und Rezipient: innen fokussiert wird. Die drei Artikel des nächsten Abschnitts beleuchten Perspektiven des ‚und‘, indem sie Asymmetrien und Konflikte im internationalen Theaterbetrieb auf‐ decken und Wege zur Überwindung der sich daraus ergebenden Herausfor‐ derungen aufzeigen. In „Theatrale Feldforschungen: Welt“ untersucht Anja Quickert 100-% Stadt, ein strukturell partizipativ angelegtes Produktionsformat von Rimini Protokoll, das nach gleichem Muster und mit statistischen Mitteln an verschiedenen Orten weltweit Stadtgesellschaft in all ihrer Diversität abbildet. Im Fokus der Analyse steht, wie sich die spezifische Arbeitsweise des Kollektivs in internationalen Kontexten „glokal“ repliziert - was allein mit Blick auf die einzelnen daraus entstandenen Aufführungen nicht ersichtlich werden kann. Thomas Fabian Eder dokumentiert illiberale Angriffe auf das freie Theater in Europa. In „A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression“ untersucht er anhand eines internationalen Vergleichs dieser Übergriffe, ob eine Gesellschaft, die die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen schützt und die Freiheit der Künste fördert, eine notwendige Voraussetzung für ein unabhän‐ giges Theater ist - oder ob das freie Theater seine volle Sprengkraft erst dann entfaltet, wenn es unter äußeren Druck gerät. Mit „Dimensionen der Überset‐ zung“ zeigt Silke zum Eschenhoff am Beispiel des Festivals Theaterformen, dass internationale Gastspiele mit einer Vielzahl struktureller, kultureller und inhaltlicher Übersetzungsnotwendigkeiten konfrontiert sind. Dabei kann an den Schnittstellen struktureller und ästhetischer Voraussetzungen auch eine Nicht-Übersetzbarkeit sichtbar werden, die bestenfalls Lernprozesse evoziert sowie Ästhetik und Arbeitsmethoden am Theater weiterentwickelt. Der letzte Abschnitt des Bands diskutiert Theater und Öffentlichkeit. Maria Nesemanns Beitrag „Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen“ analysiert die unterschiedlichen Ansätze zur kulturellen Teilhabe aus Perspektive der kritischen Kunstvermittlung und des Audience Developments sowie ihre Ver‐ bindung zu wissenschaftlichen Diskursen. Angesichts eines Legitimations- Dilemmas zwischen Zugänglichkeit und künstlerischer Autonomie plädiert sie für ein Selbstverständnis von Kultureinrichtungen als „gute Nachbarin“ mit einladenden, aber eigenlogisch produzierten Angeboten gegenüber ihrer Perspektiven des ‚und‘ 13 <?page no="14"?> 9 Vgl. Giddens 1997: 77. sozialen Umwelt. Abschließend verortet Benjamin Hoesch in seinem Beitrag „Geschlossene Gesellschaft? “ die öffentlichkeitswirksame Funktion des Thea‐ ters nicht in maximaler medialer Reichweite, sondern in der ästhetischen Reflexion der eigenen Grenzziehungen und Ausschlüsse. Im Kontrast zwischen den Bayreuther Festspielen und dem studentischen Festival Theatermaschine in Gießen wird ein Verständnis von Theateröffentlichkeiten in der wechselseitigen Bezugnahme ästhetischer und sozialer Perspektiven entworfen. Begleitet wurde der Entstehungsprozess der Beiträge von einer Verständi‐ gung der Autor: innen über zentrale Begriffe und Perspektiven ihrer jeweiligen Fächer, in denen Struktur und Ästhetik des Theaters bislang getrennt gefasst werden oder zusammenführbar scheinen. Alle Beiträge wurden sowohl aus einer theaterwissenschaftlichen wie aus einer sozialwissenschaftlichen Per‐ spektive lektoriert und konfrontierten sich so bewusst mit fundamentalen Alternativen zu ihrer Herangehensweise an das Feld der Darstellenden Künste sowie zu ihrer Argumentation in dessen Beforschung. Entsprechend sollen nun aber auch die Leitbegriffe des Bandes mit ihren diskutierten Alternativen offengelegt werden, um die darin getroffenen, womöglich streitbaren Entschei‐ dungen nicht zu kaschieren. 3 Struktur, Ästhetik und ihre Alternativen ‚Struktur‘ und ‚Ästhetik‘ wurden im Titel als stellvertretende Begriffe zur Bezeichnung jeweils eines ganzen Bündels an Themen, Methoden und Theorien gewählt. Um die sozialwissenschaftlich erfassbare und die geisteswissenschaft‐ lich reflektierte Dimension von Theater zu bezeichnen, hätte die Begriffswahl auch anders ausfallen können: Anstelle von ‚Struktur‘ hätte etwa ‚Gesellschaft‘ stehen können, um die vielschichtige Einbettung und komplexe Einschreibung des Theaters im Sozialen und ins Soziale zu markieren; es wurde ‚Arbeit‘ vorge‐ schlagen, um die Versachlichung von Praktiken und Routinen, denen sich auch das Ästhetische verdankt, zu betonen; schließlich hätte es auch ‚Daten‘ heißen können, um ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Forschungsmaterial aufzurufen, das in einer ästhetisch orientierten Theaterwissenschaft bislang nur zögerlich aufgegriffen wird. Diese Aspekte sind in unserer Entscheidung für den Überbegriff der Struktur weiterhin mitgemeint, die wir in Anlehnung an Anthony Giddens zugleich als Bedingung wie auch als Ergebnis sozialen Handelns verstehen. 9 14 Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff <?page no="15"?> 10 Vgl. Menke 2013: 14. 11 Vgl. Giddens 1984. Auch für ‚Ästhetik‘ hätte es spezifischere Alternativen gegeben: Wir hätten ‚Erfahrung‘ schreiben können, um den sinnlich-emergenten und subjektiven Aspekten des Ästhetischen Rechnung zu tragen; mit ‚Reflexivität‘ wäre die spezifische Eigenlogik des Ästhetischen zusammen mit einer möglichen Rela‐ tion zu Außerästhetischem benannt worden; die Begriffe ‚Spiel‘ oder ‚Kraft‘ hätten schließlich das Lustvolle und Energetische, aber auch Verunsichernde und Transformative der ästhetischen Dimension herausgestellt. Der gewählte Begriff von Ästhetik umfasst diese Aspekte und bezeichnet im Anschluss an Christoph Menke die Gegenseite zu einer reinen Verwirklichung sozialer Praxis, mit der diese in der Kunst zusammentrifft. 10 Das ausgewählte Begriffspaar ‚Struktur‘ und ‚Ästhetik‘ hat zudem den Vor‐ teil, dass beide sowohl geistesals auch sozialwissenschaftlich bereits eingesetzt werden. Sie sind also fächerübergreifend bekannt - müssen nun jedoch durch das komplexere Verständnis der jeweils anderen Seite geschärft werden. In geisteswissenschaftlicher Tradition kommt der Strukturbegriff zum Einsatz, um den Aufbau sowie Größen- und Dominanzverhältnisse von Gegenständen oder Systemen zu erfassen. ‚Struktur‘ steht hier für einen fixierbaren Zusammenhang und bleibt dem Wesentlichen des ästhetischen Gegenstands äußerlich - selbst wenn dieser seinen ästhetischen Status der spezifischen Struktur verdankt. In diesem Verständnis rückt die Struktur in Opposition zur Emergenz und Flüch‐ tigkeit von ästhetischer Erfahrung und Wirkung, die bevorzugt in Ereignissen gedacht werden und sich der strukturellen Determination entziehen. Dabei wird übersehen, dass es schon seit den 1980er Jahren sozialwissen‐ schaftliche Theorien gibt, die auch eine Prozessualität und Situationalität - es ließe sich auch sagen: eine Ereignishaftigkeit - von Struktur in Rechnung stellen. Sie wird etwa als Strukturation in einem wechselseitigen Determinati‐ onsverhältnis mit den Praktiken sozialer Akteur: innen gedacht und kann auf diese nur insoweit ermöglichend, stabilisierend oder prohibitiv einwirken, wie sie selbst von ihnen hervorgebracht wird. 11 Soziale Struktur ist so gleichermaßen als Voraussetzung wie als - stets wandelbares - Produkt performativer Akte zu verstehen. Der Begriff der Ästhetik ist wiederum in den Sozialwissenschaften bereits in regem Gebrauch, insbesondere in seiner prozessualisierten Variante: Mit den Gesellschaftsdiagnosen einer fortschreitenden „Ästhetisierung des Alltags‐ lebens“ markieren sie eine Verschiebung der gesellschaftlichen Leitorientierung von den Maßstäben des Nützlichen zu den zweckfrei sinnlichen Reizen des Perspektiven des ‚und‘ 15 <?page no="16"?> 12 Vgl. Schulze 1992; Reckwitz 2012. 13 Vgl. Menke 2013. Überraschenden und Neuen. 12 Ästhetik ist in dieser Betrachtung offenbar allgegenwärtig und zugleich ihrer kulturellen Besonderheit und gesellschaftli‐ chen Brisanz beraubt, lässt sich in Design, Lifestyles und Subjektidealen zur sozialen Distinktion und zur Durchsetzung marktkonformer Imperative in den Dienst nehmen. Von der Verunsicherung durch eine vorsubjektive ästhetische Kraft, der Eigenlogik ästhetischer Reflexivität oder der Aporie des ästhetischen Urteilens, wie sie in der ästhetischen Theorie diskutiert werden, 13 bleibt in diesem Konzept der Ästhetisierung nicht viel übrig. Es scheint daher in der interdisziplinären Verständigung zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften dringend, wenn auch nur heuristisch geboten, einen starken und kunstspezifischen von einem verallgemeinerten und sozial diffusen Ästhetikbegriff abzusetzen - freilich, ohne damit eine Unterscheidung von Hoch- und Trivialkultur zu erneuern. In der kulturellen Praxis gehen die damit verbundenen Verständnisse von Ästhetik ineinander über und beziehen sich aufeinander - wissenschaftlich fehlt es bislang an der Präzisierung, um solche Wechselwirkungen überhaupt erfassen zu können. Beide Begriffe haben je nach Forschungsinteresse und Gegenstand ihre Berechtigung: Der oben skizzierte sozialwissenschaftliche Ästhetisierungsdiskurs macht auf die - wachsende - Bedeutung sinnlicher und affektiver Anteile an sonst rein funktional und zweck‐ rational verstandenen sozialen Dynamiken aufmerksam; damit rechtfertigt er auch die Übertragung theater- und kunstwissenschaftlicher Perspektiven auf außerkünstlerische Phänomene, die sich immer wieder als produktiv erweist. Doch nur das starke Ästhetikverständnis holt eine Eigenqualität der Kunst und des Theaters ein, die sich auch in den ihnen zugedachten Institutionen eher ausnahmsweise als garantiert einlöst, aber dort ihr gesellschaftliches Refugium hat, das sie als ästhetisches Potenzial und Existenzberechtigung der Institution fundamental prägt: Diese Eigenqualität liegt in der Erfahrung des Subjekts in Konfrontation mit den eigenen Grenzen des Verstehens, Einordnens und Beherrschens sowie der künstlerischen Praxis, die eigenen Regeln und den eigenen Wert als Kunst immer wieder aufs Spiel zu setzen. Es ist diese Eigenlogik des - stark begriffenen - Ästhetischen, aufgrund derer Theaterorganisationen und ihre Umwelten besondere reflexive Herausforderungen an ihre theaterwie sozialwissenschaftliche Untersuchung stellen. Die hier versammelten Beiträge gehen in ihrem Fokus auf die Darstellenden Künste von diesem starken Ästhe‐ tikbegriff aus, nehmen aber auch die Ausfransung und Anschlüsse der Künste an ästhetisierte Praktiken in Gesellschaft, Kultur und Politik in den Blick. 16 Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff <?page no="17"?> 14 Baecker-2013: 20. 4 Erfahrungen der interdisziplinären Zusammenarbeit Diesem Sammelband geht die mehrjährige Zusammenarbeit der Autor: innen in der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ voraus. Auch die Auseinandersetzung über die Konzeption eines gemeinsamen Bandes und die Erstellung der Beiträge konnte dabei deutlich intensiver geführt werden, als dies bei Sammelpublikationen sonst üblich ist - u. a. in mehreren digitalen Diskus‐ sionsrunden sowie in zwei mehrtägigen Arbeitstreffen zu Beginn und zum Ab‐ schluss der jeweiligen Forschungsarbeit. Dabei traten sowohl Gemeinsamkeiten als auch fortbestehende Differenzen in der Erfahrung mit Interdisziplinarität im Rahmen dieses Bandes und der Forschungsgruppe hervor. Diese seien hier abschließend in ihren Konsequenzen für künftiges interdisziplinäres Arbeiten kurz umrissen. Einig sind sich die Autor: innen über Fächergrenzen hinweg, dass die Dar‐ stellenden Künste ein Phänomen mit ganz eigenen Zusammenhängen und Wirkungspotenzialen sind, die es aus jeder disziplinären Perspektive zu berück‐ sichtigen gilt. Das ist vor allem deshalb geboten, weil sich die Darstellenden Künste und ihre Akteur: innen i. d. R. der theoretischen und analytischen Festschreibung ihres Handelns entziehen und gleichzeitig zu Reflexion und Diskussion herausfordern: „Bereits die Formulierung der [wissenschaftlichen] Erwartung wird das Theater dazu motivieren, der Erfüllung dieser Erwartung nach Möglichkeit auszuweichen“. 14 Der fundamental eigene Charakter der Darstellenden Künste wird in den Beiträgen daher sehr unterschiedlich benannt und verortet - ob in einer reflexiv gebrochenen Repräsentation der Gesellschaft, in der Kraft des ästhetischen Experiments, im Aufkommen und Ausgestalten neuer Formate, in der kommunikativen Herausforderung von Übersetzung und Vermittlung oder in der zivilgesellschaftlichen Resistenz. Das Rätsel des Ästhetischen wird so auch hier nicht gelöst, sondern scheint in verschiedenster Form vermittelt über das Soziale auf. Auf ihre je eigene Weise, jedoch unabhängig vom fachlichen Hintergrund, verschreiben sich die Beiträge zugleich einem weiten Verständnis von Em‐ pirie, das als epistemische Verpflichtung gegenüber realen Wirkungszusam‐ menhängen und sozialen Akteur: innen - anstelle idealistischer, abstrakt-dis‐ tanzierter Theoretisierungen - zu charakterisieren ist. Sehr unterschiedliche Auffassungen zeigen sich dann darüber, wie Forscher: innen dieser Verpflich‐ tung am ehesten gerecht werden können: Hier stehen insbesondere methodi‐ sche Alternativen einander gegenüber - etwa das subjektive Zurücktreten zugunsten der Stimmen von Akteur: innen gegen die normativ-kritische Stel‐ Perspektiven des ‚und‘ 17 <?page no="18"?> lungnahme und Selbstreflexion des forschenden Subjekts; die systematische Auswertung möglichst umfangreicher Datensätze gegen die interpretative Ver‐ tiefung des Einzelfalls; die Beschränkung auf datenbasiert ermittelte soziale Realitäten gegen den Einbezug qualitativ wahrgenommener, auch strittiger und bestreitbarer Tendenzen und Diskurse. Diese alternativen Herangehensweisen sind freilich nicht unabhängig von sozial- oder geisteswissenschaftlicher Prä‐ gung der Forschenden und ihrer Disziplinen, kombinieren sich in den Beiträgen aber auch quer zu dominanten Logiken und ihren wechselseitigen Ausschlüssen. Solche Überschreitungen riskieren bewusst den Vorwurf der Inkonsistenz, um die disziplinäre Lagerbildung zu durchbrechen - die Anerkennung berechtigter Differenzen in der Verpflichtungswahrnehmung gegenüber dem Gegenstand bestimmt die Beiträge auch da, wo sie noch keine integrativen Lösungen anbieten können. Einige Autor: innen fanden in der interdisziplinären Anlage des Bandes den Rahmen für die Klärung und Erhellung sie schon länger beschäftigender Diskurse und Phänomene, in denen das Ästhetische und das Soziale gar nicht voneinander getrennt diskutierbar sind; andere betraten in der Theorie- und Methodenanleihe aus anderen Disziplinen für sich bewusst Neuland. In beiden Fällen erwies sich als besonders produktiv eine interdisziplinäre Haltung, die sich als zugleich diplomatisch und spielerisch beschreiben lässt: Im Inter‐ disziplinären eröffnet sich Forschenden die Möglichkeit, Phänomenen und Fragen mit offenem Visier zu begegnen, ohne gleich das analytische Werkzeug zu ihrer Durchdringung und Einordnung parat zu haben. Daraus lässt sich dann aber auch das Recht ableiten, auf Fachdiskurse, Begriffe und Methoden aus mitzuständigen Disziplinen probeweise und unbedarft zuzugreifen, ohne sich damit alle Voraussetzungen und das gesamte Wissenschaftsverständnis dieses Fachs einzuhandeln. In dieser (gedanken-)spielerischen Freiheit konnten sich die Autor: innen dieses Bandes am fruchtbarsten interdisziplinär heraus‐ fordern: Experimentiert eine theaterwissenschaftliche Untersuchung mit sozi‐ alwissenschaftlichen Verfahren, gelten für sie nicht von vornherein die gleiche methodische Strenge und der Überprüfbarkeitsanspruch wie für erfahrene Fachexpert: innen; reflektiert eine sozialwissenschaftliche Argumentation einen Eigenwert der Kunst, muss sie sich dabei nicht präzise im ästhetischen Dis‐ kurs der letzten Jahrhunderte positionieren können. Denn gerade in den An‐ passungen, Unschärfen und Unvollständigkeiten im Zuge interdisziplinärer Theorie- und Methodenanleihen öffnen sich neue Denkräume, die nicht einfach disziplinäre Zwänge addieren, sondern produktiv durchkreuzen. Wie sich in diesen Überlegungen bereits andeutet, ist die interdisziplinäre Herausforderung - gerade in der Erforschung der Darstellenden Künste - für 18 Benjamin Hoesch/ Thomas Fabian Eder/ Angelika Endres/ Silke zum Eschenhoff <?page no="19"?> 15 Menke 2013: 14. uns mit diesem Band keineswegs abschließend bewältigt; ihre Dringlichkeit und auch ihr Reiz bleiben ungebrochen. Anstelle eines Endes der interdisziplinären Zusammenarbeit (wie es der Projektabschluss der gemeinsamen Forschungs‐ gruppe im Frühjahr 2024 markiert) kommen uns noch viel weiterreichende und tiefergreifende interdisziplinäre Auseinandersetzungen und Verschränkungen in den Sinn - die hier entwickelten Ansätze entschlossen weiterdenkend: Garantiert die verfassungsrechtliche Institution der Kunstfreiheit gerade in ihrer juristischen Uneindeutigkeit eine ästhetische „Freiheit vom Sozialen im Sozialen“ 15 ? Oder sind demokratische Werte und Subventionen als Grundlage sozialer Strukturen nicht auch die Grundlage für die Freiheit der Kunst? Was ergäbe eine konsequente Relektüre von Habermas’ Strukturwandel der Öffent‐ lichkeit als ästhetische Theorie? Wie weit verwandeln sich organisationale und künstlerische Strategien in den Begriffen des Formats, der Übersetzung oder der Vermittlung einander an? Auf dem Weg zu einer ästhetisch informierten Sozialempirie der Darstellenden Künste einerseits, einer sozialtheoretisch fun‐ dierten institutionellen Ästhetik andererseits kann dieser Band nur einen ersten Aufschlag anbieten. Eine rege und reflektiert interdisziplinäre Debatte um die Darstellenden Künste hätte damit weiterhin ausreichend Fragen zu verhandeln - im Vertrauen darauf, dass die Künste selbst jede abschließende Klärung unterlaufen und die Frage nach dem Zusammenhang ihrer Struktur und ihrer Ästhetik immer wieder neu stellen werden. Literatur Baecker, Dirk (2013). Wozu Theater? 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I’m Oscar Wilde, always modisch and always eitel, … Ich bin Nietzsche, zornig, traurig, Gott ist tot, … (mit französischem Akzent) Ich bin Victor Hugo, romantisch, naiv, … (schneller) Ich bin Salvador Dalí, Salvador Dalí, … Ich bin Michelangelo, …“ - gerade hatte Sergej Czepurnyi als Cal aus Koltès’ auf einer westafrikanischen Baustelle spielendem Stück die letzten Worte seiner Szene gesprochen („Die Latrine, das ist die Lösung, … damit ich den endlich in Ruhe lassen kann, … (flüsternd) Endlich habe ich Ruhe“), da ging das zuvor gedämpfte Licht auf der Bühne an und Caner Sunar stellte ‚sich‘ den circa 120 anwesenden Zuschauenden nacheinander als berühmter Schriftsteller, Philosoph, Maler und/ oder Bildhauer vor. 1 Sein Kommilitone Sergej war gleich zu Beginn abgegangen und hatte die ansonsten leere Bühne des Theaters im Salzburger KunstQuartier für Sunars „ MONOLOG “ freigemacht; laut dem bei Einlass auf fast allen Stühlen liegenden „Programmablauf “ hatte er diesen selbst verfasst. Nicht nur in diesem, sondern auch in zwei weiteren Punkten unterschied sich die rund fünfminütige Szene maßgeblich von den anderen der an diesem Abend dargebotenen, so fuhr Sunar nach der Vorstellung als Michelangelo („Ich bin Holz, du bist Holz, das brennt“) folgendermaßen fort, das hörbar amüsierte Publikum direkt adressierend: Es ist äußerst schwierig, die eigene Identität zu finden, wenn man so viele Idole hat. Das wollte ich nur einmal gesagt haben, sind Intendanten da heute? Weil wenn das hier jetzt klappt und ich ein Vorsprechen kriege, und du mit mir arbeitest - ich weiß nicht, wer, aber - dann wirst auch du, davon bin ich überzeugt, diesen berühmten Theatersatz <?page no="26"?> sagen: ‚Trau dich mehr, du zu sein. Zeig mehr dich. Ich will mehr dich sehen.‘ - Ich weiß nicht, wer ich bin. (Pause) Ja. (Pause) Wie denn auch, wenn ich die ganze Zeit rennen muss. Wie soll ich wissen, wer ich bin? Rennen, rennen, (von ruhig in den Tonfall eines Ansagers wechselnd) rennen werden, meine Damen und Herren, drei arme Kinder aus Dritte-Welt-Ländern und zwar nach Europa zur civilisation! Ein Marokkaner, ein Iraner und ein Türke - Riiiing! (das Geräusch einer Klingel nachahmend) Denn einerseits thematisierte Sunar auf diese Weise die Situation der Auf‐ führung bzw. die dieser auf Seiten der Produktion und Rezeption zugrunde liegenden Annahmen und Erwartungen: An diesem Abend im November 2016 fand laut der Vorankündigung auf der Website der Universität Mozarteum Salzburg und dem im Eingangsbereich ausliegenden Veranstaltungskalender der Hochschule das „Intendantenvorspiel“ des Thomas Bernhard Instituts statt; der Eintritt war frei, eine Anmeldung erbeten. Bereits vor Beginn der Auffüh‐ rung lagen im Eingangsbereich des Theaters mehrere Stapel eines handlichen Heftchens zum Mitnehmen aus: darin auf je einer Doppelseite die Fotos und ‚Steckbriefe‘ der zehn Absolvent: innen des Schauspieljahrgangs 2013-2016 mit Angaben zu Geburtsjahr und -ort, Größe, Haar- und Augenfarbe, Sprachen, Dialekt, Stimmlage, Führerschein, besonderen Fähigkeiten, gearbeiteten Rollen, Engagements in Theater, Film und Fernsehen sowie die privaten Kontaktdaten (Mailadresse und Telefonnummer). Andererseits schien Sunar, der laut dem ‚Steckbrief ‘ 1993 in Antiochia (Türkei) geboren wurde und neben Deutsch und Englisch auch Türkisch und Arabisch spricht, in dem Monolog seine eigene Migrationsgeschichte zu verarbeiten, womit er der Erwartungshaltung, mehr von ‚sich selbst‘ zu zeigen, scheinbar nachkam: Weiter im Tonfall eines Ansagers bzw. Sportkommentators („herzlich willkommen zum 130. Zivilisationswettbe‐ werb“) schilderte er in einer Art Mauerschau das Kopf-an-Kopf-Rennen zwi‐ schen dem Iraner und dem Marokkaner, am Ende gewinnt jedoch überraschend - „der Türke! “, der von ihm des Weiteren als „Türke mit arabischen Wurzeln“ beschrieben wird. Zwischenzeitlich in die Figur eines Lehrers, Betreuers o.Ä. wechselnd („So, was haben wir denn da, ein dreizehnjähriger Türke, … hat sich beschäftigt mit europäischer Literatur, … Komm, jetzt wirst du gewaschen und sauber gemacht, dann schön angekleidet, mit Sachen, von denen du immer geträumt hast“, „… studieren? Nein, du wirst Handwerker“), kehrte Sunar am Ende der Szene jedoch wieder zurück in seine Ausgangsrolle. An die Stelle der einstigen Idole waren nun bekannte Marken bzw. Modedesigner getreten, was zwar als Ausdruck eines Ankommens dargestellt wird, aber nicht bei sich selbst: „Mein Hemd heißt jetzt Wolfgang Joop, meine Hose Roberto Cavalli, meine Schuhe heißen …, Christian Dior, Louis Vuitton, Calvin Klein, ich glaube, ich bin angekommen. Es ist äußerst schwierig den eigenen Namen zu finden, wenn man so 26 Hanna Voss <?page no="27"?> 2 Die Uraufführung fand ebenfalls im Theater im KunstQuartier der Universität Mozar‐ teum statt (21.04.2016; Regie: David Czesienski), vgl. https: / / www.suhrkamptheater.de / stueck/ martin-heckmanns-glaenzende-aussichten-tt-102280 (Stand: 16.10.2023). viele Namen trägt“; nur wenige Momente später erklangen auf einer E-Gitarre die ersten Akkorde des von Nina Steils vorgetragenen Liedes „Mit beiden Armen winken“ des Duos Weber-Beckmann. Der somit in zweierlei Hinsicht als selbstreferentiell deutbare „MONOLOG“ war nicht der erste Auftritt Sunars an diesem Abend: Ungefähr eine dreiviertel Stunde vorher hatten Czepurnyi und er als Prinz und Marinelli zusammen eine längere Szene aus Lessings Emilia Galotti gespielt, seine dunklen, ihm in die Stirn fallenden Locken zunächst unter einem Haarnetz verbergend und mit einem Löffel gelangweilt in einer Kaffeetasse rührend. Und eine knappe halbe Stunde zuvor hatte er bei gedämpftem Licht auf einem Barhocker sitzend und gutgelaunt ins Publikum blickend ein „arabisches Volkslied“ gesungen - so die Bezeichnung in dem „Programmablauf “ -, ebenfalls begleitet von der E-Gitarre. Auch war er zu Beginn der insgesamt etwas über 100 Minuten dauernden Aufführung gemeinsam mit den acht anderen an diesem Abend auftretenden Absolvent: innen bei dem Anfangschor aus Glänzende Aussichten von Martin Heckmanns auf der Bühne zu erleben gewesen: eine auf Gesprä‐ chen mit Studierenden beruhende Auftragsarbeit für das Mozarteum „über mutige Anfänger einer skeptischen Generation, die angesichts einer vernetzten Wirklichkeit aus Abhängigkeiten und Fluchtbewegungen nach Spielräumen suchen und nach ihrer Rolle im Leben“. 2 Am Ende trat er zudem bei dem ge‐ meinsamen „AbschlussSONG“ in Erscheinung: eine sehr freie, mitunter komisch gebrochene Interpretation von Bon Jovis Song It’s my life. Außerdem wirkten die Absolvent: innen teilweise unterstützend bei Szenen anderer mit, sei es szenisch oder musikalisch, wodurch die Zuschauenden die sich Präsentierenden öfter als in ihren zwei bzw. überwiegend drei Szenen zu Gesicht bekamen (zumeist ein Soloauftritt, eine Partnerszene und ein Lied), was eine Besonderheit dieses Abschlussvorsprechens darstellte. 1 Theater als Institution erforschen: Vorsprechen als Möglichkeit und methodische Herausforderung Gefolgt war ich der Ankündigung der Universität Mozarteum Salzburg, weil ich auf diesem Wege Aufschluss über die „Produktion“ von professionellen Schau‐ spielenden im organisationalen Feld des deutschen bzw. deutschsprachigen Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 27 <?page no="28"?> 3 Gemäß meiner Annahme besteht dieses Feld heute primär aus den (öffentlichen) Schauspiel(hoch)schulen, Künstlervermittlungen und Theaterhäusern, professionellen wie nicht-professionellen Zuschauenden sowie den entsprechenden Berufsbzw. Fach‐ verbänden. Zum Konzept des organisationalen Feldes, wie es Anfang der 1980er Jahre aus Perspektive des soziologischen Neo-Institutionalismus formuliert worden ist, und dessen methodischer Umsetzung am Beispiel US-amerikanischer Theater und Museen vgl. DiMaggio/ Powell 1983; DiMaggio 1983; DiMaggio 1986. 4 Der vorliegende Beitrag beruht auf den im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaft‐ liche Mitarbeiterin der DFG-Projekte „Praktiken der ethnischen Ent/ Differenzierung im zeitgenössischen deutschen Sprechtheater“ (2014-2017, assoziiert an die DFG FOR 1939) und „Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen“ (2016-2021, Teilprojekt der DFG FOR 1939) erhobenen Be‐ funden und den im Rahmen dieses interdisziplinären Forschungsverbundes gemachten Erfahrungen. 5 Vgl. DiMaggio 1986: 358f. 6 Vgl. DiMaggio 1986: 359. 7 Vgl. Breidenstein et al. 2013: 49. Sprechtheaters zu erhalten hoffte. 3 Ausgehend von dem theaterwissenschaftli‐ chen Antrag für ein Teilprojekt im Rahmen der Mainzer DFG-Forschungsgruppe „Un/ doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung“ (2013-2019) und der Frage, welche Faktoren in diesem Feld die Relevanz oder Irrelevanz von Eth‐ nizität bzw. ‚Rasse‘ bedingen, hatte ich hierfür mit der Ethnografie bzw. teilneh‐ menden Beobachtung methodisch einen Weg eingeschlagen, wie er auch von Paul DiMaggio für die Erforschung organisationaler Felder beschrieben wird, für mich als studierte Theater-, Literatur- und Wirtschaftswissenschaftlerin jedoch überwiegend Neuland darstellte. 4 So geht DiMaggio grundsätzlich davon aus, dass man zur Erforschung der Gründe und Konsequenzen institutionellen Wandels im Wesentlichen einen qualitativen und oftmals auch historischen Forschungsansatz verfolgen müsse; unter bestimmten Umständen bewertet er quantitative Ansätze jedoch als sinnvolle Ergänzung, z. B. mit Blick auf das Problem der natürlichen Grenzen des Wahrnehmens und Erkennens in ethno‐ grafischen Studien insbesondere großer organisationaler Felder mit nationaler Reichweite („the ‚ethnographer‘ of an organizational field cannot devote as close and focused attention to the natives of that field as can the ethnographer of a single organization“). 5 Konkret führt er in diesem Zusammenhang u. a. Interviews mit Teilnehmenden, die Sichtung von Archivmaterialien und die Beobachtung von spezifischen organisationalen wie interorganisationalen Set‐ tings an. 6 Da es sich bei dem von mir erforschten Feld mit Georg Breidenstein et al. nicht um eine Lokalität, sondern um einen „Praxis-Zusammenhang“ handelt, „der in seiner geographischen Streuung an spezifischen Orten stattfindet“, 7 kommt Letzterem - der teilnehmenden Beobachtung interorganisationaler 28 Hanna Voss <?page no="29"?> 8 Vgl. Breidenstein et al. 2013: 49. 9 Vgl. Europäische Theaterakademie 2016: 89; Europäische Theaterakademie 2012: 90f. Settings, bei denen sich die „Branche“ trifft - ein zentraler Stellenwert innerhalb meines empirischen Studiendesigns zu. In diesem Fall muss die Zeit der teilneh‐ menden Beobachtung nämlich anders intensiviert werden als bei Ethnografien, die einen Ort fokussieren, weshalb Breidenstein et al. unter Verweis auf Georg Marcus vorschlagen, von multilokaler, translokaler oder multi-sited Ethnografie zu sprechen. 8 Das Salzburger „Intendantenvorspiel“ war das letzte von insgesamt fünf, die ich ab Mitte/ Ende September 2016 im Rahmen meiner Feldforschung besucht habe, wobei mein Weg mich zunächst quer durch die Republik geführt hat: Den Anfang bildete das „Absolventenvorsprechen“ der Berliner Universität der Künste, darauf folgten das „Szenenvorspiel der Schauspielabteilung“ der Frank‐ furter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, das „Intendanten-Vorspiel des 4. Jahrgangs Schauspiel“ der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstel‐ lende Kunst Stuttgart sowie das „Absolventenvorsprechen der Otto Falckenberg Schule“. Die Vorsprechprogramme dieser fünf Ausbildungseinrichtungen bzw. eine gekürzte Version davon habe ich kurz darauf im Rahmen des „12. Zentralen NRW-Vorsprechen der Schauspielhochschulabsolventen“ (14.-18. November) auf der Studiobühne des Rheinischen Landestheaters Neuss ein zweites Mal gesehen, gemeinsam mit jenen der sechzehn bzw. fünfzehn anderen staatlichen und städtischen Schauspiel(hoch)schulen des deutschsprachigen Raumes - auch deshalb konnte ich mir zu Sunars Monolog wie dem gesamten Vorsprechpro‐ gramm im Dunkeln (Salzburg) oder Halbdunkeln (Neuss) im Publikum sitzend vergleichsweise viele Notizen machen, worauf die voranstehende Beschreibung neben den mitgenommenen Materialien primär beruht. Neunzehn von diesen Schulen, nämlich all jene, die zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Ständigen Konferenz Schauspielausbildung (SKS) waren oder sich im Aufnahmeprozess befunden haben, haben sich während dieser fünf Tage zudem im Rahmen der von diesem Verein seit 2012 parallel organisierten „Zentralen Absolventenvor‐ spiele“ in Berlin und München einem Fachpublikum aus Theater, Film und Fernsehen präsentiert, darunter auch das Thomas Bernhard Institut. 9 Zwar hat Sunar die Frage „sind Intendanten da heute? “ in Neuss ebenfalls, wenn auch nicht so prononciert, an das Publikum gerichtet, dessen Besonderheit ihm dabei offensichtlich sehr bewusst war („diesen berühmten Theatersatz - den kennt ihr ja alle, glaube ich“). Doch verweist sie im Kontext des Vorsprechens im Theater im KunstQuartier zugleich auf einen der Gründe, warum dieses zentrale Repräsentationsformat im November 2005 am Rheinischen Landestheater auf Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 29 <?page no="30"?> 10 Vgl. exempl. Zimmermann 2006. 11 Zum aktuellen Diskurs in Praxis und Wissenschaft vgl. exempl. Liepsch/ Warner 2018; Sharifi/ Skwirblies 2022. 12 Zu Das Vorsprechen vgl. Voss 2018: 144 ff. u. 155. Zum Prinzip der zyklischen Fokussie‐ rung vgl. Breidenstein et al. 2013: 45f. Initiative der damaligen Intendantin Ulrike Schanko erstmals mit zehn Schulen erprobt worden war: die fehlenden zeitlichen und in Teilen auch finanziellen Ressourcen der an den Theaterhäusern für die Einstellung und Besetzung von Schauspielenden Verantwortlichen, um innerhalb weniger Wochen oder gar Tage z. B. nach Bern, Hannover, Rostock, Leipzig und Graz zu reisen. 10 Auch ich habe in den beiden Jahren darauf nurmehr die zentral organisierte Veranstaltung besucht bzw. teilnehmend beobachtet: 2017 in der Berliner Volksbühne (13.-17. November) und 2018 in den Münchner Kammerspielen (12.-18. November). Meine Entscheidung, mich auf den Schauspielnachwuchs bzw. die von diesem individuell zu überwindenden organisationalen Schwellen - hier: die Aufnahme in eine Vermittlungsagentur und/ oder das Engagement an einem Theaterhaus - zu konzentrieren, war dabei einerseits durch das Bestreben motiviert, dem spätestens seit Beginn der Blackfacing-Debatte im Jahr 2012 im feldinternen wie fachlichen Diskurs vermehrt als strukturellen Rassismus adressierten Problem des Zugangs zur Bühne ‚auf den Grund‘ zu gehen und zwar im wortwörtlichen wie übertragenen Sinne (beginnend bei der Aufnahme in die Schauspielschule, Identifikation von Einflussfaktoren/ Ursachen). 11 Andererseits war ich geleitet von der Annahme, hier wohl am ehesten institutionellen Wandel beobachten zu können: Handelt es sich doch um ein personell relativ geschlossenes Feld, u. a. bedingt durch die Erwartung bestimmter Qualifizierungspfade bzw. die vornehmliche Rekrutierung von Berufseinsteiger: innen aus einer begrenzten Anzahl bzw. Reihe von Ausbildungseinrichtungen. Ausgehend von Boris Nikitins thematisch der Institutional Critique nahe‐ stehender Inszenierung Das Vorsprechen - eine Koproduktion der Münchner Kammerspiele und der Otto Falckenberg Schule, Premiere: 03.11.2015 -, stieß ich im Zuge der zyklischen Fokussierung meiner ethnografischen Forschung schnell auf ein Paradox, was zu einer weitreichenden methodischen Reflexion und letztlich zu einer Rückbesinnung auf meine fachliche Identität führte. 12 Denn obgleich ich mir die ethnografische Arbeitsweise erst im Laufe des Forschungsprozesses im Sinne eines learning by doing weitgehend selbstständig angeeignet habe - begleitet von dem kollegialen Austausch über qualitativempirische Methoden im Rahmen der stark sozialwissenschaftlich geprägten Mainzer Verbundforschung -, stellte ausgerechnet die adäquate Untersuchung der zuvor exemplarisch beschriebenen Situation des Vorsprechens für mich eine 30 Hanna Voss <?page no="31"?> 13 Für erste Befunde bezüglich der Aufnahmeprüfung an Schauspiel(hoch)schulen aus ethnografischer Perspektive vgl. Voss 2022. 14 Vgl. Balme/ Szymanski-Düll 2020: 9; Tinius 2020: 324. 15 Vgl. Tinius 2020: 324 u. 328 f. Seine Feststellung, dass „die Ethnografie als Methode noch nicht selbstverständlich im Kanon theaterwissenschaftlicher Methoden ange‐ kommen ist“ (Tinius 2020: 320), besitzt zwar nach wie vor Gültigkeit, doch gibt es mittlerweile eine nennenswerte Anzahl ethnografisch arbeitender Theaterwissen‐ schaftler: innen bzw. entsprechende Bestrebungen, wenn auch vornehmlich im Rahmen von Forschungsprojekten und/ oder Qualifikationsarbeiten. Exempl. verwiesen sei an dieser Stelle auf die internationale Konferenz zu „Writing Theatre. Qualitative methods, situated knowledge, and the making of performance“ im Rahmen des DFG-Projekts „Die Kunst der Gewerke“ (Ludwig-Maximilians-Universität München, Juli 2023). besondere Herausforderung dar. Sich darüber genauer Gedanken zu machen, erschien jedoch allein schon deshalb angezeigt, weil diese spezifische Art von Aufführungen, nimmt man jene im Rahmen der von mir im Winter 2016/ 2017 teilnehmend beobachteten Aufnahmeprüfung in einer der genannten Schau‐ spiel(hoch)schulen noch hinzu, einen Großteil meiner theaterwissenschaftli‐ chen Feldforschung ausmachte. 13 Ausgehend von diesem Beispiel und unter Rückgriff auf weitere Materialien bzw. Befunde möchte ich im Folgenden daher zeigen, wie Ethnografie und Aufführungsanalyse aus meiner Sicht produktiv ineinandergreifen können und warum dies in dem von mir untersuchten Fall auch zwingend notwendig ist. Der Fokus liegt dabei auf dem „Zwischen“ - im Sinne der sich aus dieser Methodenkombination ergebenden interdisziplinären Potenziale. Eine solche Herangehensweise wird auch von Jonas Tinius in seinem Beitrag zu dem 2020 erschienenen Band Methoden der Theaterwissenschaft, der das Fach in seiner Gesamtheit methodisch-theoretisch zu reflektieren sucht, aus Sicht der Anthropologie gefordert. 14 Dabei hebt er die Frage, „inwiefern ein durch auf‐ führungsanalytische Ansätze entgrenzter Begriff vom Theater komplementär ethnografisch erforscht werden kann; wo hier also die Ethnografie ansetzt und wo sie aufhört“, als besonders interessant hervor; eine Antwort darauf, wie ein solches gemeinsames Forschen und Lehren „zwischen den Disziplinen“ aussehen könnte, bleibt er jedoch schuldig. 15 Um diesem auch allgemein zu konstatierenden Desiderat zu begegnen, schlage ich eine Annäherung auf Ebene der Methodologie vor. Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 31 <?page no="32"?> 16 Konkret beziehe ich mich auf die folgenden, für ihre jeweilige Disziplin bzw. Disziplinen kanonischen Texte (mit Ausnahme von letzterem): Fischer-Lichte 1983 (Semiotik, 3 Bände); Fischer-Lichte 2004; Roselt 2008; Amann/ Hirschauer 1997; Breidenstein et al. 2013. 17 Dieser Fokus auf das dramatische Theater spiegelt sich nicht nur implizit in dem Fischer-Lichtes Semiotik zugrunde liegenden Theaterbegriff wider („Theater, reduziert auf seine minimalen Voraussetzungen, bedarf […] einer Person A, welche X präsentiert, während S zuschaut“), sondern wird von ihr mit Blick auf „Die Konstitution des theatralischen Textes“ auch explizit formuliert, vgl. Fischer-Lichte 1983a: 16; Fischer- Lichte 1983c: 22-34, insb. 26. 18 Vgl. Fischer-Lichte 1983c: 54-68, hier: 67. 19 Vgl. Fischer-Lichte 1983c: 67f. 2 Schnittmengen und Differenzen: Versuch einer Annäherung auf methodologischer Ebene Grundlage hierfür ist eine vergleichende Betrachtung jener theoretischen An‐ nahmen, die dem von Erika Fischer-Lichte und Jens Roselt entwickelten semio‐ tischen und phänomenologischen Ansatz zur Aufführungsanalyse sowie dem im Kontext der Mainzer Forschungsgruppe verwandten Verständnis von Eth‐ nografie zugrunde liegen. 16 Neben zentralen Schnittmengen - der Bereitschaft zur Ko-Präsenz und der Versprachlichung bzw. Verschriftlichung von nicht bereits sprachlich Vorliegendem - werden so nämlich auch zwei grundlegende Differenzen sichtbar, wobei ich mich hinsichtlich der Aufführungsanalyse an dieser Stelle auf den Anfang der 1980er Jahre an dramatischen Theaterformen und -modellen geschulten Ansatz konzentriere. 17 Die erste Differenz, die hier schlaglichtartig beleuchtet sei, stellt die für die Semiotik zentrale Annahme einer Vielzahl möglicher Ordnungen dar, die bzw. deren konkrete Erforschung und somit Konstitution noch dazu primär vom jeweiligen Erkenntnisinteresse des bzw. der Analysierenden bestimmt wird. So geht Fischer-Lichte im Kontext der Entwicklung einer Hermeneutik des theatralen Textes ausführlich darauf ein, dass dieser „in seiner Eigenschaft als ästhetischer Text unterschiedliche Möglichkeiten für Prozesse der Bedeutungs‐ attribution und Sinnzuschreibung“ eröffne. 18 Den letztlich zugeschriebenen Sinn bestimmt sie dabei als das „Resultat einer Interaktion zwischen einem je besonderen Subjekt mit der je spezifischen Struktur dieses je besonderen Textes“; und damit könne dieser Sinn „nicht anders als subjektiv, als individuell“ sein. 19 Das Verstehen eines theatralen Textes wird von ihr daher auch als ein „produktive[r] Prozeß“ beschrieben: […] einen theatralischen Text zu verstehen, soll heißen, ausgehend vom eigenen geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingten Bedeutungssystem seinen Zeichen 32 Hanna Voss <?page no="33"?> 20 Fischer-Lichte 1983c: 68. Da heute in diesem Zusammenhang nicht mehr gebräuchlich, habe ich das Adjektiv „theatralisch“ im Falle einer indirekten Wiedergabe stets durch „theatral“ ersetzt. 21 Fischer-Lichte 1983c: 108-112, hier: 108. Die Annahme verschiedener Ordnungen ist auch für die von ihr entwickelte Ästhetik des Performativen zentral, geht sie doch von einem Oszillieren der Wahrnehmung zwischen der Ordnung der Repräsentation und jener der Präsenz aus, wobei methodologisch noch einmal genauer zu überprüfen wäre, inwiefern erstere mit der im Rahmen einer semiotisch ausgerichteten Aufführungsana‐ lyse zu konstituierenden ästhetischen Ordnung identisch ist, vgl. Fischer-Lichte 2004: 255-261. und ihrer Ordnung in einem theoretisch unabschließbaren Prozeß Bedeutungen beizulegen, aus denen sich ein vom Text motivierter und für das rezipierende Subjekt gültiger und schlüssiger Sinn konstituieren läßt. Im Prozeß des Verstehens werden also nicht unbedingt diejenigen Bedeutungen rekonstruiert, welche die verschiedenen Produzenten des theatralischen Textes in ihm zu konstituieren gedachten, noch auch den Zeichen diejenige Bedeutung beigelegt, welche sie für den Rezipienten außerhalb ihrer Einbindung in die symbolische Ordnung des theatralischen Textes gehabt haben mögen; sondern indem der Rezipient diese Ordnung gemäß einer selbst gefundenen - bzw. erfundenen - Regel konstruiert, schafft er Bedeutungen, die mit den Bedeutungen, die diesen Zeichen in den beiden genannten Bedeutungssystemen zukommen, nicht identisch sind. 20 Von besonderem Interesse hieran ist das bezüglich der Ordnung implizierte Spannungsfeld: Einerseits scheint diese durch den theatralen Text vorgegeben zu sein, andererseits wird sie von dem bzw. der Rezipient: in konstituiert. Dass es sich dabei um eine in dieser Ambivalenz bewusste Setzung Fischer-Lichtes handelt, wird anhand ihrer Ausführungen zur konkreten „Anwendung der Methode“ deutlich, als deren übergeordnetes Ziel sie das folgende benennt: „Eine Aufführung zu analysieren heißt, die ihr zugrunde liegende Ordnung zu (re-)konstruieren, um ihren Elementen eine Bedeutung und ihr insgesamt einen Sinn zuzusprechen. Allein diesem Ziel dient die Durchführung der genannten Prozeduren“. 21 Dem steht die für die Ethnografie zentrale Annahme einer genuinen, dem Untersuchungsgegenstand innewohnenden Ordnung, die es im Laufe des Forschungsprozesses zu erkennen und zu verstehen gilt und von der man sich hinsichtlich der konkreten Vorgehensweise lenken lassen soll, diametral entgegen. So erläutern Breidenstein et al. mit Blick auf ihr Verständnis von Ethnografie als „mimetische“ Forschungsstrategie: „Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt. […] Nicht die Logik der Forschung, Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 33 <?page no="34"?> 22 Vgl. Breidenstein et al. 2013: 38f. 23 Amann/ Hirschauer 1997: 11. 24 Fischer-Lichte 1983a: 19. 25 Vgl. Amann/ Hirschauer 1997: 11 f.; Breidenstein et al. 2013: 32 f.; Fischer-Lichte 1983a: 7-10 u. 19. 26 Vgl. Amann/ Hirschauer1997: 27; Breidenstein et al. 2013: 43. sondern die gelebte Ordnung des Feldes erfordert bestimmte Verhaltens- und Beobachtungsweisen“. 22 Eine zweite grundlegende Differenz zwischen dem ethnografischen und dem semiotischen Ansatz besteht hinsichtlich der Verwendung des Kulturbegriffs und der Kulturspezifik bzw. den diesbezüglichen forschungspraktischen wie erkenntnistheoretischen Implikationen. Besonders deutlich wird dies unter Rekurs auf die von Klaus Amann und Stefan Hirschauer in ihrem programma‐ tischen Text eingeführte und später von Breidenstein et al. partiell aufgegriffene Formulierung eines „theoretischen und methodischen Kulturalismus“ 23 : Wo die Semiotik von Kulturen als tatsächlichen Entitäten ausgeht, betrachtet die Ethnografie die von ihr untersuchten Gegenstände (im Sinne von Bereichen gelebter und öffentlich praktizierter Sozialität, die über eine eigene Ordnung und Logik verfügen) lediglich theoretisch als ‚Kulturen‘. Wo die Semiotik die Wahl von kulturell vertrauten Analysegegenständen nahelegt, betrachtet die Ethnografie ihre Gegenstände methodisch, das heißt unabhängig von ihrer tatsächlichen Vertrautheit, als fremd, und während die fehlende Vertrautheit mit der betreffenden Kultur/ ‚Kultur‘ in einem Fall als Hindernis für Verstehens- und Sinnstiftungsprozesse wahrgenommen wird („die Zeichen des Theaters kann nur verstehen, wer die von den kulturellen Systemen der es umgebenden Kultur kennt und zu deuten vermag“ 24 ), erscheint sie im anderen Fall gerade als Bedingung dessen. 25 Was bedeuten diese beiden Differenzen nun aber konkret für die Anwen‐ dung von ethnografischen Verfahren in theaterwissenschaftlichen Kontexten? Und wie lassen sich ethnografische Verfahren dabei mit im Fach etablierten Verfahren der Aufführungsanalyse kombinieren? Einmal abgesehen von jenen Anknüpfungspunkten, die Theaterwissenschaftler: innen hierfür aufgrund ihrer disziplinären Qualifikation und Sozialisation grundsätzlich mitbringen, wie z. B. eine fachliche Spezialisierung auf Beobachtungskompetenzen als Bedingung methodisierter Erfahrung bzw. Distanzierung, 26 liegt die Antwort auf Letzteres aus meiner Sicht zunächst in einem unterschiedlichen zeitlichen Bezugsrahmen. So erläutern Breidenstein et al. mit Blick auf die für die Ethnografie charakte‐ ristische „Dauerhaftigkeit dieses Realitätskontaktes“: 34 Hanna Voss <?page no="35"?> 27 Vgl. Breidenstein et al. 2013: 33 f. (Herv. i. Orig.). 28 Vgl. Fischer-Lichte 1983c: 109. Verglichen mit anderen qualitativen Forschungsstrategien betreibt die Ethnografie für die Gewinnung empirischen Wissens einen enormen zeitlichen Aufwand. Ethnologi‐ sche Feldforschungen können sich über Jahre hinstrecken, Feldphasen in Soziologie oder Erziehungswissenschaft bemessen sich zumeist in Monaten (bis zu einem Jahr). Verglichen mit dieser intensiven Begleitung durch Ethnografen wirken andere Erhe‐ bungsmethoden eher wie jene Stippvisiten: Dokumente - meist Tonaufzeichnungen von Konservationen oder Interviews - werden im Stundentakt abgeschöpft, Mei‐ nungsquerschnitte mit einem Fragensatz erhoben. Solchen forschungsökonomisch konzentrierten Erhebungspunkten steht in der Ethnografie eine ausgedehnte Erhe‐ bungsstrecke gegenüber. 27 Auch wenn Fischer-Lichte betont, dass es sich bei einer Aufführung um einen „so umfänglichen Text“ handelt, dass dessen Analyse stets nur selektiv möglich sei, 28 stellt die Aufführungsanalyse aus dieser Perspektive nämlich ebenfalls bloß einen solchen Erhebungspunkt dar, der sich jedoch prinzipiell problemlos in die jeweilige ethnografische Erhebungsstrecke integrieren lässt. Doch wo hört nun die teilnehmende Beobachtung auf und fängt die Aufführungsanalyse an? Bereits während ich im Eingangsbereich des Theaters im KunstQuartier die anderen Zuschauenden beobachtet und mich gefragt habe, aus welchen Gründen sie der Ankündigung gefolgt sind, oder erst als ich den Zuschauerraum betreten, Platz genommen habe, das Licht im Saal ausgegangen ist bzw. lässt sich ein solcher Punkt überhaupt benennen? Aus methodologischer Sicht stellt sich daher die Frage, was ich dort mit einem Notizblock auf den Knien und einem Stift in der Hand sitzend eigentlich genau getan habe. So ließe sich mein bezüglich der Aktivitäten auf der Bühne angefertigtes aufführungsanalytisches bzw. semioti‐ sches Protokoll, etwa mit welchen Mitteln Rebecca Seidel und Dominik Puhl ein geschlechtliche Stereotype verkehrendes Bild von Julia und Romeo entworfen haben, nämlich genauso als ein ethnografisches deklarieren. Was ich dort an jenem Abend im November zu sehen bekommen und dementsprechend notiert habe, waren ja die ‚echten‘ Vorsprechen der Absolvent: innen, mit denen sie sich wenige Tage später auch in Neuss, Berlin und München bei den Vertreter: innen aus Theater, Film und Fernsehen um ein (festes) Engagement beworben haben. Und da in Salzburg neben Freunden, Familie und sonstigen Interessierten nachweislich auch einzelne professionelle Zuschauende in den abgedunkelten Stuhlreihen saßen, handelte es sich bei dem bezüglich der dortigen Aktivitäten angefertigten aufführungsanalytischen bzw. phänomenologischen Protokoll, z. B. welcher Auftritt auf besondere Resonanz gestoßen ist (Lachen, Klatschen, Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 35 <?page no="36"?> 29 Breidenstein et al. 2013: 39. 30 Stichtag für die Erhebung der Erstengagements war jeweils der 1. Oktober des Folge‐ jahres. 31 Vgl. Roselt 2008: 20f. aufmerksame Stille, interessiertes Blättern in dem Absolvent: innenheft etc.), zumindest anteilig ebenfalls um ein ethnografisches. Wenn jedoch die Einordnung als aufführungsanalytisches oder ethnografi‐ sches Protokoll bzw. als teilnehmende Beobachtung oder Aufführungsanalyse in dieser Situation allein von der angelegten Rahmung abhängt - Kunstereignis oder Vorstellungsgespräch -, nicht aber an den Verfahrensweisen selbst fest‐ zumachen ist, dann verliert eine solch strikte Unterscheidung ihren Sinn: Aufführungsanalyse und Ethnografie liegen hier aufgrund der spezifischen Seinsweise meines Gegenstandes gewissermaßen deckungsgleich aufeinander, genau wie eine Strecke aus vielen einzelnen Punkten besteht. Letzteres gilt, begreift man die Ethnografie als eine „methodenplurale kontextbezogene For‐ schungsstrategie“ 29 , natürlich nicht nur für die Aufführungsanalyse, sondern prinzipiell auch für alle anderen ‚punktuellen‘ Erhebungsmethoden - in meinem Fall z. B. Interviews mit Gatekeepern und Absolvent: innen oder die Recherche bezüglich des Erhalts eines Erstengagements -, die ebenfalls Teil der ethnogra‐ fischen Erhebungsstrecke sein können. 30 Die Besonderheit und Komplexität resultiert bei dieser Art von Kombination jedoch aus den identifizierten Schnitt‐ mengen (Kopräsenz und Versprachlichung) zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie bzw. der diese als Forschungsstrategie kennzeichnenden teilneh‐ menden Beobachtung, wodurch es zu einer situativen Ununterscheidbarkeit bzw. Überlagerung kommt. Worin liegt nun aber aus methodologischer Sicht der Mehrwert einer solchen ‚Doppelung‘? Warum könnte man es, einmal abgesehen von dem großen Stellenwert, der Aufführungen in dem von mir erforschten Feld zukommt, dann nicht einfach dabei belassen, diese spezifische Art von Interak‐ tionen ‚klassisch‘ ethnografisch, das heißt teilnehmend zu beobachten? Denn weder die Entschlüsselung komplexer Prozesse der Bedeutungskonstitution, wie sie der semiotische Ansatz vorsieht, noch die Identifikation und Reflexion von mir erlebter „markanter Momente“, wie es für den phänomenologischen Ansatz charakteristisch ist, 31 scheinen dem Gegenstand gerecht zu werden bzw. einen Beitrag zu meiner Forschungsfrage zu leisten, nämlich welche Faktoren die Relevanz oder Irrelevanz von Humandifferenzierungen nach Ethnizität bzw. ‚Rasse‘ im deutschen Sprechtheater in Bezug auf professionelle Schauspielende bedingen. Oder anders formuliert: Worin liegt der Mehrwert, dass ich als Theaterwissenschaftlerin hier ethnografisch forsche? 36 Hanna Voss <?page no="37"?> 32 Vgl. Fischer-Lichte 1983b: 7. 33 Vgl. Fischer-Lichte 1983a: 22f. 3 Ordnung(en): Die theatrale Norm als Bindeglied und Notwendigkeit einer Befremdung der eigenen Fachkultur Eine mögliche Antwort darauf lässt sich ausgehend von den beiden zuvor primär mit Blick auf den semiotischen Ansatz beleuchteten Differenzen (Ordnung/ Ord‐ nungen und Kulturbegriff und -spezifik) zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie entwickeln. So ist langfristig von einer Konvergenz zwischen den im Zuge der Aufführungsanalyse zu konstituierenden ästhetischen Ordnungen und der im Zuge des ethnografischen Forschungsprozesses zu erkennenden und verstehenden sozialen Ordnung auszugehen und zwar vermittelt über den theatralen Code auf Ebene der Norm. Die Auswahl, welche Zeichensysteme in einem bestimmten Bereich von Theater zu einem bestimmten Zeitpunkt verwendet, wie diese gestaltet und kombiniert werden und welche Bedeutungs‐ möglichkeiten vorgesehen sind, findet laut Fischer-Lichte nämlich „immer unter ganz konkreten historischen Bedingungen - politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen etc. - statt“. 32 Doch wie lassen sich diese von ihr mit Blick auf den Gegenstand einer semiotisch ausgerichteten historischen Theaterwissenschaft angestellten Überlegungen nun auf die Gegenwart übertragen? Zwar geht Fischer-Lichte grundsätzlich davon aus, dass der theatrale Code als Norm - im Gegensatz zu jenem als System, der als „theoretisches Konstrukt“ alle „denkbaren Möglichkeiten“ enthalte - „jeweils einer Reihe von Aufführungen zugrunde liegt, die tatsächlich historisch nachweisbar stattgefunden haben“, und somit „als ein geschichtliches Phänomen zu verstehen“ ist; doch spricht sie punktuell auch davon, dass das wissenschaftliche Interesse auf dieser Ebene „dem faktisch Gewesenen bzw. Seienden“ gelte. 33 Und genau die sich aus dieser Erweiterung des Gegenstandsbereichs dieses Teilgebiets der Semiotik gewissermaßen vice versa ergebende Schnittstelle zur Aufführungsanalyse im engeren Sinne ist mit Blick auf den hier interessierenden Zusammenhang zwischen den einzelnen zu analysierenden Aufführungen und der Norm aus methodologischer Sicht von zentraler Bedeutung. Mithilfe der im Zuge der Aufführungsanalyse zu konstituierenden ästhetischen Ordnungen lassen sich (zumindest sofern das Korpus an Aufführungen groß genug ist, wie Fischer- Lichte am Ende des dritten Bandes ihrer Semiotik des Theaters selbst anmerkt und exemplarisch zeigt) nämlich Rückschlüsse auf den in einem bestimmten Bereich von Theater gegenwärtig geltenden theatralen Code auf Ebene der Norm ziehen und - gemäß dem jeder Aufführung innewohnenden Veränderungspotenzial und dem daher stets in zweifacher Richtung zu vollziehenden Rekurs - auf dies‐ Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 37 <?page no="38"?> 34 Vgl. Fischer-Lichte 1983c: 76. 35 Zwar verwendet Fischer-Lichte den für den soziologischen Neo-Institutionalismus zentralen Begriff der Legitimität bzw. Illegitimität selbst in diesem Zusammenhang nicht, doch spricht sie sowohl von dem „problemlose[n] Funktionieren einer eta‐ blierten, allgemein als gültig akzeptierten Norm“ bzw. von einem „gültige[n] wohl funktionierende[n] theatralische[n] Code“ als auch von der „Notwendigkeit […], ihn zu verändern, wenn das Theater […] in Gebrauch bleiben soll“, vgl. Fischer-Lichte 1983b: 8 f. Zur Übertragung solch einer historiografischen Fragestellung auf die Gegenwart vgl. Fischer-Lichte 1983c: 185-188. 36 Die von Hulfeld als eine mögliche Erkenntnisposition von Historiograf: innen be‐ schriebene „Haltung des Fremdverstehens“ und daraus resultierende (andere) Frage‐ bezügliche Veränderungsprozesse. So könne ein theatraler Text - unabhängig von der Annahme, dass dieser stets auch ganz individuellen, nur für diese eine Aufführung geltenden Regeln folge - nicht nur als „je spezifische Realisierung der von System und Norm bereitgehaltenen Möglichkeiten“ begriffen werden, sondern gegebenenfalls auch als „je spezifische Veränderung bzw. Aufhebung der zugrundeliegenden Norm und je spezifische Erweiterung des zugrundelie‐ genden Systems“. 34 In Abhängigkeit von dem jeweiligen Erkenntnisinteresse des bzw. der Analysierenden kann der Fokus dabei auf einem oder mehreren Zeichensystemen (in Fischer-Lichtes Fall: den kinesischen Zeichen) bzw. einer Auswahl davon und/ oder auf dem Zusammenspiel bestimmter Zeichensysteme liegen. Die auf diesem Wege gewonnenen Erkenntnisse beziehen sich also not‐ wendigerweise immer nur auf einen bestimmten Ausschnitt des zum Zeitpunkt der Betrachtung für eine bestimmte Theaterform als legitim erachteten thea‐ tralen Codes. 35 Im Sinne der fast schon philosophisch anmutenden Frage „Was war zuerst da? “ ist dabei mit Blick auf meine These einer Konvergenz die Art und Richtung der Einflussnahme von besonderem Interesse: Zieht eine Änderung der sozialen Ordnung eine Veränderung der auf Ebene der einzelnen Auffüh‐ rungen realisierten bzw. analytisch konstituierten ästhetischen Ordnungen und damit auch der zugrundeliegenden Norm nach sich? Oder vermögen die auf Ebene der einzelnen Aufführungen realisierten bzw. analytisch konstituierten ästhetischen Ordnungen die zugrundeliegende Norm und so auch die soziale Ordnung zu verändern? Und was ist jeweils der konkrete Auslöser dafür? Überträgt man die voranstehenden Überlegungen zu einer ‚Historiografie der Gegenwart‘ - ein von mir in Anlehnung an Stefan Hulfelds Überlegungen zu einer „Theatergeschichte der Gegenwart“ bzw. „Gegenwartstheatergeschichte“ verwandtes Schlagwort, anhand dessen sich auch die Ethnografie hinsichtlich Gegenstand, Erkenntnisinteresse und Verfahrensweisen wohl am ehesten in den bestehenden Kanon theaterwissenschaftlicher Methoden einordnen ließe - auf den Fall „Theater & Migration“, 36 so liegt der analytische Fokus hier auf 38 Hanna Voss <?page no="39"?> stellungen bzw. die bewusste Einnahme einer „Position des Nichtwissens […] im Sinne eines Rollenspiels im Dienst des Wissenszuwachses“ weisen dabei erstaunliche Überschneidungen mit der Erkenntnisposition von Ethnograf: innen auf, vgl. Hulfeld 2007: 334-357, insb. 339 u. 355 f. Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung wurde zur Bezeichnung des mich interessierenden Themenkomplexes von sowohl Praktiker: innen als auch Wissenschaftler: innen meist das Schlagwort „Migration“ bzw. „Theater & Migration“ verwendet sowie angrenzende Begriffe („migrantisch“, „postmigrantisch“, „Migrationshintergrund“), vgl. exempl. Schneider 2011. 37 Zu diesem Zeichensystem gehören die „Maske“ im Sinne von Gesicht und Gestalt und die „Frisur“ im Sinne der besonderen Herrichtung des Haupt- und Gesichtshaares sowie das „Kostüm“, vgl. Fischer-Lichte 1983a: 94-131. 38 Die Auswertung beruht auf 20 der 21 Ablaufpläne; Szenen mit zwei oder mehr Spielenden wurden doppelt bzw. mehrfach gezählt. dem „Äußeren“ bzw. der „Erscheinung des Schauspielers als Zeichen“. 37 Das zu analysierende Korpus an Aufführungen besteht aus den durchschnittlich zwei bis drei Vorsprechszenen der circa 100 sich Bewerbenden und knapp 650 Absolvent: innen, die ich im Rahmen meiner Feldforschung innerhalb von drei Jahren gesehen habe. Betrachtet man die Vorsprechszenen genauer, so fällt als Erstes auf, dass die überwiegende Mehrzahl von anderen vorentworfen war. Eine Auswertung der auch in Neuss, Berlin und München neben den ‚Werbematerialien‘ der Absolvent: innen pro Schule ausliegenden Ablaufpläne hat ergeben, dass die beliebtesten Autor: innen im Jahr 2016 Shakespeare, Tschechow, Schiller, Kleist und Ibsen waren; knapp 25 Prozent aller Monologe und Dialoge stammten von diesen fünf Autoren. Auf den Plätzen sechs bis zehn folgten Brecht, Jelinek, H. Müller, T. Williams und Koltès; von diesen stammten weitere knapp 10 Prozent der gespielten Szenen. Die allgemein starke Orientierung an dem literarischen Kanon bzw. neuerer Dramatik spiegelte sich auch in der Rollenauswahl der Salzburger Absolvent: innen wider: Neben den genannten Stücken von Koltès, Lessing und Shakespeare präsentierten sie sich mit Texten von Molière, Hebbel, Ibsen, Keun, Bernhard, Ravenhill, Loher und M. Decar. Selbstverfasstes wie Sunars Monolog war nicht nur hier die absolute Ausnahme. 38 Die anhand dieses Jahrgangs eingangs aufgezeigte Selbstaskription der Absolvent: innen bezüglich (körperlicher) Eigenschaften und Fähigkeiten wie z. B. Haar- und Augenfarbe oder beherrschter Sprachen, die sich so oder so ähnlich bei allen Schulen in den Absolvent: innenheften, individuellen Setcards o.Ä. findet, liefert dabei bereits erste Aufschlüsse über die Relevanzen der Feldteilnehmenden mit Blick auf das Engagement von Schauspielenden und damit auch über die in diesem Feld geltende soziale Ordnung. Auch wenn Ethnizität in dieser Sinnschicht des Kulturellen nicht explizit auftaucht, waren entsprechende äußere bzw. physische Merkmale - blickt man auf die Gesamtheit der von mir Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 39 <?page no="40"?> 39 Zum Begriff der Sinnschichten bzw. Aggregatszustände des Kulturellen vgl. Breiden‐ stein et al. 2013: 32f. 40 Vgl. Fischer-Lichte 1983a: 100 u. 112. Bedingt durch den Inszenierungen in dem betref‐ fenden Zeit/ Raum meistens noch zugrundeliegenden, im weiteren Sinne veristischen Darstellungsstil, der eine Naturalisierung des Körpers von Schauspielenden im Sinne der Rassifizierung seines Äußeren disponiert, reproduziert Fischer-Lichte als quasi akademische Feldstimme hier den gesamtgesellschaftlichen Diskurs der 1980er Jahre, mithin die zu diesem Zeitpunkt geltende Wahrheit. als im deutschen Stadttheatersystem sozialisierte Forscherin ohne ‚sichtbaren Migrationshintergrund‘ (re)konstruierten ästhetischen Ordnungen - offenbar insofern legitimer Bestandteil der zum damaligen Zeitpunkt im Bereich des deutsch(sprachig)en Sprechtheaters geltenden Norm, als sie unter bestimmten Umständen, nämlich in Kombination von Text (linguistischen Zeichen) und vereinzelt auch Kostüm, als Zeichen fungieren konnten. 39 Beispielsweise prä‐ sentierte sich ein schwarzer Absolvent den Zuschauenden als Fadoul aus Lohers Unschuld („Wissen Sie Madame, ich bin schwarz und ich bin Ausländer, ich arbeite im Hafen ohne Genehmigung“), eine asiatisch lesbare Absolventin als Shen The aus Brechts Der gute Mensch von Sezuan und ein anderer schwarzer Absolvent mit dem einschlägigen Monolog Franz Moors zu Beginn von Schillers Die Räuber („Warum bin ich nicht der erste aus Mutterleib gekrochen? Warum nicht der einzige? Warum musste sie mir diese Bürde von Hässlichkeit aufladen? […]“). Auch wenn die Mehrheit der insgesamt überschaubaren Anzahl an Absolvent: innen of colour mögliche ethnische Askriptionen auf diese oder ähnliche Weise auf der Bühne aktualisierte - jedoch mit über die drei Jahre leicht abnehmender Tendenz -, war auffällig, dass sie dies stets nur in einer ihrer Szenen taten und ansonsten als ethnisch neutral geltende Rollen wählten wie Sunar mit Marinelli aus Lessings wohl bekanntestem bürgerlichen Trauerspiel. Während Letzteres mit Fischer-Lichte als Aufhebung der von ihr, da auf Ebene des Systems formuliert, irrtümlich als allgemeingültig dargestellten Norm der 1980er Jahre wie folgender Jahrzehnte beschreibbar ist („schwarze Hautfarbe als Zeichen für Zugehörigkeit zur schwarzen Rasse“, „blondes lockiges Haar/ schwarzes krauses Haar/ schwarzes glattes Haar etc.“ als „‚natürliches‘ Zeichen für […] Rassenzugehörigkeit“), 40 lässt sich Sunars Monologszene als Thematisierung, als Spiel mit den (erwarteten) Erwartungen des professionellen Publikums inter‐ pretieren, wodurch die Norm als solche sichtbar wird und zugleich als potenziell veränderbar erscheint. Eine soziale Entsprechung zu diesen Veränderungen auf ästhetischer Ebene findet sich in den sowohl hinsichtlich der Anzahl als auch des Renommees der Häuser weit überdurchschnittlichen Erstengagements dieser Absolvent: innen: Der zu Beginn der 2010er Jahre noch öffentlichkeitswirksam kritisierte Ausschluss von Schauspielenden of colour aus den Ensembles der 40 Hanna Voss <?page no="41"?> 41 Wie schon John Meyer und Brian Rowan in ihrem den soziologischen Neo-Institutio‐ nalismus begründenden Aufsatz gehen DiMaggio und Powell davon aus, dass die Legi‐ timität des äußeren Erscheinungsbildes einer Organisation deren Überlebensfähigkeit einfach und wirksam erhöhen könne, weshalb Organisationen die in der Gesellschaft institutionalisierten Mythen bzw. Regeln inkorporierten bzw. als erfolgreich wahrge‐ nommene Organisationen ihres Feldes nachahmten, vgl. Meyer/ Rowan 1977: 352 f.; DiMaggio/ Powell 1983: 151 f. u. 155. 42 Vgl. Fischer-Lichte 1983a: 25-28; Fischer-Lichte 1983c: 24-34. öffentlichen Theaterhäuser scheint sich rund fünf Jahre später ins Gegenteil verkehrt zu haben. Über Art und Richtung der Einflussnahme lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren - braucht es diverse Ensembles für diverse Ästhetiken oder sind erstere nur durch letztere möglich? -; ein entscheidender Faktor für diesen beginnenden Prozess institutionellen Wandels scheint jedoch die zunehmende Diskrepanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein und der dadurch drohende Verlust an Legitimität. 41 Auf die Frage, warum man es nicht einfach dabei belassen kann, diese spezi‐ fische Art von Interaktionen ‚klassisch‘ ethnografisch, das heißt teilnehmend zu beobachten bzw. worin aus methodologischer Sicht der Mehrwert einer solchen ‚Doppelung‘ von Aufführungsanalyse und Ethnografie besteht, lässt sich vor diesem Hintergrund Folgendes antworten: Die Besonderheit einer Erforschung des Sozialen in künstlerischen Kontexten liegt meines Erachtens in der Notwendigkeit, neben sozialen immer auch ästhetische Fragestellungen in den Blick zu nehmen, da sich erstere ohne letztere womöglich nur unzu‐ reichend beantworten lassen. So ist die soziale Ordnung innerhalb des von mir untersuchten Feldes ohne die ästhetische Norm letztlich nicht ergründbar bzw. nachvollziehend zu verstehen. Zu einer besonderen Sicht- und zugleich Beobachtbarkeit trägt im vorliegenden Fall der Umstand bei, dass es sich bei dem von mir untersuchten Korpus an Aufführungen überwiegend um solche handelt, die gewissermaßen als ‚Ur-Szenen‘ der dreifachen Bedingtheit (Rolle - Physis - Norm) des schauspielerischen Codes gelten können. So sind die im Rahmen der Aufnahmeprüfungen und der Abschlussvorsprechen bzw. „Zentralen Vor‐ sprechen“ präsentierten „Körpertexte“ - im Gegensatz zu einer ‚regulären‘ Vorstellung im Theater - nicht in den theatralen Text bzw. Kontext einer übergeordneten Inszenierung eingebunden, sondern liegen, wie die Salzburger ‚Nummerndramaturgie‘ in Verbindung mit einer Reduktion der nicht primär schauspielerbezogenen Zeichen exemplarisch zeigt, quasi in ‚Reinform‘ vor. 42 Während sich die erste der beiden Differenzen über die Ebene der Norm also im Sinne eines notwendigen Mehrwerts bei der Erforschung des Sozialen in künstlerischen Kontexten auflösen bzw. produktiv machen lässt, ist eine solche Synthese bei der zweiten Differenz (Kulturbegriff und -spezifik) nicht ohne Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 41 <?page no="42"?> 43 Vgl. Fischer-Lichte 1983c: 29 u. 35. 44 Vgl. Fischer-Lichte 1983b: 7. 45 Vgl. Fischer-Lichte 1983a: 98f. 46 Vgl. Amann/ Hirschauer 1997: insb. 9. Weiteres möglich. Vielmehr muss die Ethnografie hier gegen die Aufführungs‐ analyse, genauer: gegen die Omnirelevanzbzw. Omnisignifikanzannahme der Semiotik in Bezug auf alle Elemente der wahrnehmbaren Physis von Schau‐ spielenden gewendet werden - mit der bedeutungsindifferenten ‚Normalität‘ weißer Haut und der damit eng verknüpften Annahme einer Bedeutsamkeit jedweder Abweichung von dieser Norm als ‚blindem Fleck‘. Widerspricht Fischer-Lichtes mit Blick auf den Schauspieler formulierte Annahme, dass „seine wahrnehmbare Physis […] in jedem ihrer Elemente als signifiant zu begreifen“ ist, 43 doch nicht nur jener, dass der theatrale Code als Norm (und damit auch der schauspielerische Code, wie sie selbst betont) „stets eine je spezifische Auswahl aus den vom System generell angebotenen Möglichkeiten“ darstellt und zwar sowohl mit Blick auf die beteiligten Zeichensysteme als auch mit Blick auf deren Ausgestaltung, Kombination und Bedeutungsmöglichkeiten, 44 sondern auch jener grundlegenderen Annahme, da auf Ebene des Systems formuliert, dass „die anderen vom Schauspieler hervorgebrachten Zeichen […] den mit dem Aussehen präsentierten Aspekt der Rollenfigur bestätigen, vervollständigen oder auch widersprechend ergänzen“ können. 45 Zur „Befremdung der eigenen Kultur“ 46 bzw. - um die Heuristik Amanns und Hirschauers argumentativ noch ein Stück weiter zu drehen - zur Befremdung der eigenen Fachkultur schlage ich deshalb vor, Schauspielende als ‚normale‘ Arbeitnehmende zu begreifen und entsprechend von einer prinzipiellen Irrelevanz körperbasierter Humandif‐ ferenzierungen auszugehen: So sollte bzw. dürfte im Feld der Erwerbsarbeit doch allein die Leistung und nicht das Geschlecht oder die Pigmentierung von Haut und Haaren zählen! Ziel ist, so jene Faktoren besser in den Blick zu bekommen, die in dem von mir untersuchten organisationalen Feld zur Aufrechterhaltung der sozialen und ästhetischen Ordnung(en) bzw. Norm beitragen oder diese unterlaufen, stören und gegebenenfalls zu verändern mögen. 4 Plädoyer für das ‚Zwischen‘: Grenzen und interdisziplinäre Potenziale Zwar ist diese Form der Kombination von Ethnografie und Aufführungsana‐ lyse hochgradig spezifisch und muss dies meiner Überzeugung nach auch notwendigerweise sein - angepasst an den jeweiligen Gegenstand und vor allem an das jeweilige Erkenntnisinteresse -, doch lässt sich der demonstrierte 42 Hanna Voss <?page no="43"?> 47 Dies betrifft vor allem die Ebene der Norm, deren Analyse tendenziell als vernachläs‐ sigbar dargestellt wird, vgl. exempl. Weiler/ Roselt 2017: 41 f. u. 69-74. 48 Vgl. Roselt 2020. 49 Vgl. Balme/ Szymanski-Düll 2020: 13. 50 Vgl. Roselt 2012: 269f. 51 Vgl. Amann/ Hirschauer1997: 12 f. Auch Tinius kritisiert, dass viele anthropologische Studien zur Beziehung zwischen Kunst und Anthropologie versucht hätten, „die Grenzen der jeweiligen Felder zu verwischen“ anstatt „die produktiven Wechselbezie‐ hungen zwischen Performance, Theater und Anthropologie zu eruieren, ohne die jeweiligen Fachtraditionen zu ignorieren“, was er in ähnlicher Weise auch in der thea‐ terwissenschaftlichen Diskussion um die „Grenzen der Aufführung und Inszenierung“ bzw. eine „Entgrenzung der Kunst“ gegeben sieht, vgl. Tinius 2020: 316 u. 320-324. Umgang mit Methoden durchaus auf andere, an der Schnittstelle von Sozial- und Kunstbzw. Kulturwissenschaften angesiedelte Fälle übertragen und in diesem Sinne verallgemeinern. Dies setzt jedoch nicht nur voraus, die zu adaptierenden fachfremden Methoden auf ihre theoretischen Implikationen hin zu überprüfen, sondern vor allem auch die eigenen, in Forschung und Lehre routiniert eingesetzten und vermittelten Ansätze daraufhin neu zu befragen; so lässt sich gegenwärtig z.-B. eine stark verkürzte Rezeption des semiotischen Analyseansatzes feststellen. 47 Anstelle der von mir vorgeschlagenen Annähe‐ rung, aber auch Abgrenzung auf methodologischer Ebene ist im Fachdiskurs aus meiner Sicht bislang vor allem eine Annäherung auf Ebene des Gegenstandes zu beobachten. Etwa wenn Jens Roselt in seinem Beitrag zu dem Band Methoden der Theaterwissenschaft vorschlägt, die Situation der Probe mithilfe des Konzepts der cultural performance als Aufführung zu begreifen, um sodann ausführlich zu beschreiben, welche Fragen man stellen und wie man bei der Erforschung konkret vorgehen könne. Dabei punktuell (allein) auf den phänomenologischen Werkzeugkasten verweisend, 48 wird sein Ansatz in der Einleitung von Chris‐ topher Balme und Berenika Szymanski-Düll jedoch paradoxerweise als eine „ethnographisch geprägte teilnehmende Beobachtung“ beschrieben. 49 Ja - so möchte man fragen - was denn nun? Anstelle einer solchen Verwischung der Grenzen könnte es meines Erachtens in diesem Fall produktiv sein, sich über den Begriff der Fremdheit bzw. Befremdung anzunähern und entsprechend die Differenzen zu betonen: Denn während es aus phänomenologischer Sicht um eine Fremdheit geht, die einem unvermittelt zustößt und ein „Fremdwerden der eigenen Erfahrung“ impliziert bzw. ein Gewahrwerden der „toten Winkel im eigenen Selbstverständnis“, 50 geht es aus ethnografischer Sicht - auch bedingt durch die unterschiedliche zeitliche Dimension - um eine gezielte „Befremdung des Allzuvertrauten“, um dieses besser, anders, neu zu verstehen. 51 Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie 43 <?page no="44"?> Auch wenn wir von anderen Disziplinen, wie ich aus theaterwissenschaftli‐ cher Sicht exemplarisch zu zeigen versucht habe, durchaus lernen können, möchte ich abschließend dafür plädieren, die eigenen Methoden auch in interdisziplinären Forschungskontexten nicht vorschnell, in gewissermaßen vorauseilendem Gehorsam aufzugeben, sondern stattdessen genau zu prüfen, wo deren Grenzen, aber auch wo deren spezifische Potenziale liegen, um tatsächlich interdisziplinär zu arbeiten. 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Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft Formate als Phänomen und Untersuchungskategorie Angelika Endres Wie lässt sich forschen, beschreiben, erzählen, analysieren oder spekulieren, um andere Arten der Verknüpfung zu ermöglichen, die den Herausforderungen der Transformationen unserer Zeit antworten, die andere Verbindungen ermöglichen und von anderen Relationen hervorgebracht werden? 1 Diese Frage wirft Elise von Bernstorff zwar für den Transfer eines künstle‐ risch-forschenden theaterwissenschaftlichen Ansatzes auf das theaterferne Feld der Schule auf, sie lässt sich jedoch auch auf den Transfer von sozial- und medienwissenschaftlichen Theorien und Methoden bzw. deren Kombination mit ästhetischen Perspektiven im Kontext theaterwissenschaftlicher Forschung übertragen. Gerade die Relation zwischen Veränderungen in der Programmge‐ staltung der Theater und institutionellen Transformationsprozessen erfordert eine multiperspektivische Betrachtung. Denn um die Programme der Theater nicht nur anhand von einzelnen Fallbeispielen zu untersuchen, sondern Ent‐ wicklungen innerhalb des Felds beobachtbar zu machen, stellt sich die Frage nach einem geeigneten Ansatz. Insbesondere all diejenigen neueren Programm‐ angebote, die im Kontext der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Restriktionen u. a. für die Theaterarbeit entwickelt wurden und seit 2020 vor‐ übergehend oder längerfristig in den Spielplänen der Theater auftauchen, sind mit gängigen theaterwissenschaftlichen Verfahren schwer greifbar. Sie werden selten Gegenstand theaterwissenschaftlicher Analysen und sind darüber hinaus in ihrer Vielfalt und Häufigkeit nicht in einschlägigen Statistiken wie der des Deutschen Bühnenvereins wiederzufinden. Darin sind nur Veranstaltungen mit „Theatercharakter“ 2 verzeichnet - offen bleibt dabei, was nach Definition <?page no="48"?> 3 Vgl. Deutscher Bühnenverein 2006; 2022. 4 Eigene Berechnungen. Die Prozentangaben wurden aus insgesamt ca. 3000 erhobenen Programmangeboten an öffentlich getragenen Theatern in Deutschland ermittelt. Berücksichtigt sind die Spielzeiten 2019/ 20 (ab März 2020) bis einschließlich 2022/ 23. des DBV den Theatercharakter einer Veranstaltung ausmacht. Die Kategorisie‐ rung nach Sparten wird ergänzt durch „sonstige Veranstaltungen“ und durch „theaternahes Rahmenprogramm“ 3 , wobei in diesen Bereichen insbesondere schon länger etablierte Programmangebote wie Lesungen und Liederabende bzw. stückbezogene Einführungsveranstaltungen Berücksichtigung finden. Als Reaktion auf die pandemischen Auswirkungen auf die Theaterprogramme gibt es seit der Statistik für die Spielzeit 2019/ 20 die Kategorie „Streamingpro‐ duktionen“ - doch gerade seit der Pandemie wurden und werden verstärkt audiovisuelle und digitale Formate entwickelt, die nicht für die Bühne produ‐ zierte Aufführungen streamen, sondern ganz andere Medialitäten aufweisen wie Virtual-Reality-Produktionen, Hörspiele oder vorproduzierte Videos. Es zeigt sich jedoch nicht nur im digitalen Bereich eine Zunahme und Diversifizierung, sondern gerade auch teilhabeorientierte Projekte, häufig mit sozialem Anspruch und gesellschaftspolitischem Engagement, wurden verstärkt realisiert. Seit der Pandemie haben audiovisuelle und Digitalformate einen Anteil von 19-Prozent am Programm außerhalb der etablierten Sparten, teilhabeorientierte Formate einen Anteil von 27 Prozent 4 - da lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen und über Analysemöglichkeiten nachzudenken. Bislang fehlen geeignete Methoden, die oftmals innovativen Angebote, die Theater dezidiert an das Publikum bzw. die (Stadt-)Gesellschaft richten, theater‐ wissenschaftlich zu erforschen und institutionelle Entwicklungen, die sich an‐ hand der Erweiterung der Theaterprogramme abzeichnen, bleiben unbeachtet. Hier bietet der in zahlreichen Disziplinen gebrauchte und unterschiedlich defi‐ nierte Begriff des Formats einen vielversprechenden Ansatz: Formate vereinen sowohl ästhetische als auch strukturelle Entscheidungen und Voraussetzungen, sie eignen sich daher für die Analyse des Zusammenspiels von Struktur und Ästhetik in den Darstellenden Künsten. Der diesem Beitrag zugrunde liegende multiperspektivische Forschungsan‐ satz hat zum Ziel, sich über die Ausgestaltung der Programme durch neuere Formate institutionellen (Erwartungs-)Strukturen von Theater anzunähern. In theaterwissenschaftlicher Perspektive zu Formaten zu forschen heißt jedoch, in weniger erprobten Kategorien zu analysieren. Es stellt sich also die Frage, welche Setzungen gemacht werden (müssen), um Formate als theaterwissen‐ schaftlichen Untersuchungsgegenstand zu betrachten. Gerade der Einbezug quantitativer Verfahren ist innerhalb der Fachdisziplin nicht nur unüblich, 48 Angelika Endres <?page no="49"?> 5 Vgl. Fahle 2020: 10-18; Niehaus 2018. 6 Auf eine Abgrenzung des Formatbegriffs zu dem in der Medienwissenschaft häufig eng verbundenen Begriff des Genres wird hier verzichtet. Wichtig für den vorliegenden Beitrag ist jedoch, dass das Format sich - im Vergleich zum Genre - besser als Untersuchungsgegenstand eignet, da Formate aufgrund ihrer klaren Struktur und Fixiertheit zeitloser (vgl. Hickethier 2010) und damit besser greifbar für die Analyse sind. die Angemessenheit von nicht-qualitativen Perspektiven im künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Kontext wird kritisch hinterfragt. Für die Unter‐ suchung von Theaterprogrammen anhand von Formaten bietet sich daher ein mixed-methods-Ansatz an. Dieser Beitrag setzt sich mit theaterwissenschaftlicher Formatforschung auseinander, indem er ein primär technologisches und medienwissenschaft‐ lich geprägtes Verständnis des Formatbegriffs auf das Theater überträgt und beispielhafte Analysen skizziert. Durch den Fokus auf Formate entstehen für die Theaterwissenschaft Herausforderungen, die anhand des konkreten Forschungsdesigns beschrieben werden. Daraus ergibt sich schließlich ein Nachdenken über Konsequenzen und Potenziale für die Fachdisziplin: Wie wirkt ein erweitertes bzw. anderes Verständnis von Theater zurück auf den zugehörigen wissenschaftlichen Fachbereich? 1 Formate als Phänomen zwischen Struktur und Ästhetik Häufig sind Definitionsansätze bzw. -versuche des Formatbegriffs entweder dem Technologischen verhaftet oder sie bleiben so abstrakt, dass die Übertragung auf das Theater schwerfällt. 5 Statt einer abschließenden Definition wird der Begriff im Folgenden durch eine Verbindung von theoretischen Überlegungen aus der Informatik, Germanistik und Medienwissenschaft für eine theaterwissen‐ schaftliche Perspektive fruchtbar gemacht. 6 Beginnen wir mit der Informatik: Hier bezeichnet das Verb ,formatieren‘ die Vorbereitung von Datenträgern zur Informationsverarbeitung, sie werden durch diesen Vorgang also erst nutzbar gemacht. In Textverarbeitungs- oder Präsentationsprogrammen wird die Ge‐ staltung des Erscheinungsbilds Formatierung genannt. In beiden Fällen geht es darum, Inhalte einer Datei oder eines Datenträgers für deren Rezeption vor‐ zubereiten, das Erscheinungsbild des Inhalts (ästhetisch) zu gestalten und den Nutzer: innen bzw. Kund: innen anzubieten. Dabei wirkt sich die Formatierung nicht auf den Inhalt aus: Ein Lied kann beispielsweise im mp3-Format abgespielt oder von einer Schallplatte gehört werden. Im Theater hingegen werden Inhalt und Format zusammengedacht, ein Inhalt kann nicht einfach in ein anderes Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 49 <?page no="50"?> 7 Niehaus 2018: 137. 8 Vgl. Niehaus 2018: 137 f. Format transferiert werden, indem die Inszenierung eines Stoffes beispielsweise anstelle einer ,regulären‘ Aufführung als partizipativer Audiowalk angeboten wird. Hierfür wären eine Umbzw. Bearbeitung des Stoffs sowie konzeptionelle Vorarbeit, Proben usw. notwendig. Das technologische Format-Verständnis lässt sich also nicht direkt in das Feld der Darstellenden Künste übersetzen. Vielmehr ergibt sich aus dem technologischen Exkurs die Ableitung einer inhaltlichen Dimension von Formaten: Sie geben einem Inhalt eine Form, sodass dem Format selbst Aufgaben und Ziele eingeschrieben sind. Nehmen wir nun germanistische und medienwissenschaftliche Ansätze hinzu, stoßen wir wiederum auf Schwierigkeiten einer systematischen Defi‐ nition des Begriffs: „Was aber ein Format ist, können wir nur daran erkennen, in welcher Weise es formatiert ist.“ 7 Dieses Zitat des Germanisten Michael Niehaus zeigt, dass Formate erst über ihre konkrete Ausgestaltung zu fassen sind. Niehaus stellt außerdem eine Verbindung vom Format zum institutionellen Kontext her: Formate haben demzufolge eine institutionelle Dimension, auch wenn diese eher formaler Natur ist und Formate eines Akts der Einführung bedürfen. Sie entstehen also nicht aus Habitualisierungs- und Institutionalisie‐ rungsprozessen, sondern werden eingesetzt, adaptiert, gestrichen oder ersetzt. Demnach sind Formate also immer auch strukturell bedingt und verweisen auf den institutionellen Rahmen. Neben der Neu-Einführung von Formaten sind auch die Wiederholbarkeit und Adaptierbarkeit wichtige Aspekte und charakteristische Merkmale: Ein Format kann als Zusammenspiel von veränderlichen und unveränderlichen Elementen betrachtet werden, die erst in der Wiederholung deutlich erkennbar werden. Ebenso zeigt sich durch die Wiederholung von Konstellationen mit variablen Strukturmerkmalen ein Wiedererkennungswert. Am konkreten Bei‐ spiel skizziert wird dies klarer: Beim wohlbekannten Fernsehformat der Wet‐ tervorhersage werden durch ihre Wiederholung spezifische wiederkehrende Merkmale (wie die Informationen zu Niederschlägen, Höchst- und Niedrigtem‐ peraturen für den nächsten Tag sowie der Ausblick für die Folgetage) erkennbar, die als ,intuitives‘ Wissen vermutlich allgemein bekannt sind. 8 Auf das Theater übertragen könnte das heißen: Eine Installation ist beispielsweise ein Format, das aus den bildenden Künsten entlehnt und adaptiert wird. Selbst wenn ein: e Zuschauer: in noch nie zuvor eine Installation am Theater besucht hat, ist ihr: ihm aus den Bildenden Künsten bekannt, dass es sich um einen konzeptuellen Ansatz handelt und dass bei dieser Darstellungsform die Künstler: innen raumgreifend, 50 Angelika Endres <?page no="51"?> 9 Vgl. Niehaus 2018: 50 f. u. 56 f. 10 Fahle et al. 2020: 13. 11 Niehaus 2018: 138. 12 Vgl. Niehaus 2018: 140. 13 Niehaus 2018: 63. 14 Vgl. Fahle et al. 2020: 11. häufig auch situationsbezogen arbeiten. Für das Publikum bedeuten Formate demnach auch Orientierung, sie generieren Erwartungshaltungen in Bezug auf das jeweilige Angebot. Diese Erwartungen können die räumliche Anordnung, die Rezeptionssituation oder auch ästhetische Implikationen beinhalten. Der‐ artige Festlegungen 9 charakterisieren Formate. Im Kontext der Darstellenden Künste lassen sie sich anhand von Parametern wie der Medialität, der zeitlichen und räumlichen Ordnung, Spezifika der Produktion und Distribution, der Art und Anzahl der Akteur: innen sowie der inhaltlichen Grundlage beschreiben. Ausgehend von Oliver Fahles medienwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Begriff lässt sich das Format im Kontext der Darstellenden Künste als Enkodierung von Wahrnehmungssituationen fassen. Formate fungieren demnach als „Mittelraum zwischen Produktion und Rezeption“ 10 . Ein weiterer für die Theaterwissenschaft interessanter Ansatz ergibt sich aus Niehaus’ Formulierung des Formats als „Möglichkeitsspielraum“ 11 , den es zu untersuchen und zu beschreiben gilt. Mit neuen Formaten ergeben sich neue Möglichkeits‐ spielräume, die in diesem Beitrag im Kontext von Struktur und Ästhetik betrachtet und analysiert werden. 12 Es geht letztlich nicht darum, „was ein Format ist, sondern was dabei herauskommen kann, wenn man etwas unter dem Aspekt seiner Formatiertheit betrachtet“. 13 Neben den bereits beschriebenen institutionellen und inhaltlichen Dimensionen ist für Formate auch eine pro‐ zesshafte Dimension wesentlich: Formate machen Entscheidungen über ihre ästhetische und formale Ausgestaltung sowie über Regeln erfahrbar, sodass sie Transformationsprozesse materialisieren. 14 In diesem Sinne verschränken Formate die soziale und ästhetische Komponente eines Theaterangebots: Insti‐ tutionelle Rahmenbedingungen nehmen ebenso Einfluss auf die im Theaterpro‐ gramm angebotenen Formate wie die Orientierung am jeweiligen Publikum eines Theaters, Formate referieren auf Theatertexte und ästhetische Spezifika. Beispielsweise spielt bei Digitalformaten das Verbreitungsmedium nicht zuletzt auch für die künstlerische Ausgestaltung eine zentrale Rolle. Darüber hinaus wirken sich die Anzahl, Teilhabe und Positionierung der Zuschauer: innen auf die Wahl des Formats aus. Wenn sich der Fokus auf die technisch-mediale Ebene der Theaterformate richtet, werden Spielpläne folglich lediglich technisch erforscht, was gerade Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 51 <?page no="52"?> 15 Volmar 2020: 19. 16 Fahle et al. 2020: 12. 17 Fahle et al. 2020: 13. 18 Vgl. Fahle et al. 2020: 14. 19 Volmar 2020: 19. 20 Balme 2021: 38. im Zusammenspiel von Struktur und Ästhetik nicht genügt. Hier hilft der Ansatz von Axel Volmar, Theater- und Medienwissenschaftler, weiter: Die Übertragung seiner Beschreibung von Formaten - „Formate konfigurieren, spezifizieren und standardisieren Medien“ 15 - auf das Feld der Darstellenden Künste lässt erkennen, dass Formate die Angebote eines Theaters greifbar und zugänglich machen für das Publikum und, wie bereits beschrieben, Ori‐ entierung und Erwartungshaltungen schaffen. Formate verweisen also auf ihre Gemachtheit: Laut Fahle et al. stellen „die mit Formaten verbundenen Praktiken und Ästhetiken […] Kondensationen kultureller Aushandlungspro‐ zesse - kultureller Performativitäten - dar.“ 16 Formaten sind demnach „sowohl durch explizite Normierungen wie auch durch unabsichtliche Affordanzen“ 17 bewusste und unbewusste Vorstellungen - etwa von und über das Theater selbst - eingeschrieben. Sie bringen eine ,Information‘ in Form oder stellen sie erst her. 18 Auch die Verbindung zum Ästhetischen wird bereits bei Fahle et al. deutlich: „Formate bestimmen die ästhetischen Qualitäten von Medien ebenso entscheidend mit wie praktische, wirtschaftliche und juristische Aspekte ihrer Produktion, Distribution und Rezeption.“ 19 Die ästhetische und strukturelle Bedingtheit von Theater wird also in Formaten materialisiert. Blicken wir in Literatur der theaterwissenschaftlichen Fachdisziplin, finden wir beispielsweise in der jüngsten, 2021 erschienenen Auflage des Einführungs‐ werks in die Theaterwissenschaft von Christopher Balme einen Hinweis auf Formate. Balme bringt den Formatbegriff mit dem Aufkommen von Perfor‐ mances in Verbindung und definiert ihn wie folgt: „Den Massenmedien entlehnt, bezeichnen Formate wiederholbare Produktionsarrangements, die sich mit ver‐ schiedenen Akteuren und in diversen kulturellen Zusammenhängen realisieren lassen.“ 20 Formate sind also gewissermaßen einzelne ,Bausteine‘, deren Gesamt‐ heit und Konstellation ein Theaterprogramm entstehen lassen und die somit zur künstlerischen Handschrift eines Kreativteams am Theater beitragen. Formate schaffen auch im Feld der Darstellenden Künste durch ihre Wiederkehr, ggf. in Adaptionen, Vereinheitlichung und grenzen sich voneinander ab. Die jeweils spezifische Ausgestaltung der gegebenen Struktur definiert das Format. Die Ausdifferenzierung des Formats in drei Dimensionen - inhaltlich, institutionell, prozesshaft - kann für dessen Analyse hilfreich sein. 52 Angelika Endres <?page no="53"?> 21 Giddens 1997: 77. 22 Vgl. Giddens 1997: 77 ff. u. 352 ff. Mit Bezug auf Anthony Giddens lassen sich Formate als Strukturmomente betrachten, sie seien daher „sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren“ 21 . Formate können Struktur sichtbar und analysierbar machen und eignen sich zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen Programm und (institutioneller) Struktur. Die Dualität von Struktur 22 bedingt den Wandel, was auf Formate übertragen heißt: Einerseits beschränkt die Struktur das Han‐ deln, indem Formate im festgelegten Organisationsrahmen von Sparten oder im programmatischen Kontext von Theaterspielplänen realisierbar sein müssen; andererseits ermöglichen Strukturen Handeln, indem sie den Rahmen für Formate geben. Formate und Strukturen wirken also aufeinander ein und beeinflussen sich wechselseitig. Die jeweilige Ausgestaltung von Programmangeboten als Formate und deren formathafte Fixiertheit ermöglichen es, durch ihre Analyse institutionelle Transformationsprozesse beschreiben zu können. 2 Formate als theaterwissenschaftliche Untersuchungskategorie Doch was bedeutet es nun, wenn Formate im Kontext der Darstellenden Künste untersucht werden? Formate sind nicht rein ästhetisch geprägt, denn ihnen sind immer auch organisatorische Entscheidungen und institutionelle Bedingungen immanent. Demnach sind sie nicht als rein künstlerische ,Erzeugnisse‘ zu inter‐ pretieren, sondern richten sich immer auch mit pragmatischen Aspekten an das Publikum: Was kann das Publikum erwarten? Wie wird etwas ablaufen? Zudem werden strukturelle Bedingungen eines Theaters erfahrbar, da Formate immer auch ein Ausdruck der finanziellen und kapazitären Möglichkeiten eines Spielorts, einer Organisation oder Gruppe sind. Der Fokus auf Formate erlaubt es nicht, künstlerische Produkte oder organisationale Voraussetzungen isoliert zu betrachten, da Formate beides vereinen. Das Format ist ein untrennbarer Rahmen zum künstlerischen Inhalt und Teil des künstlerischen Gesamtprodukts, somit also (im besten Fall) eng verwoben mit dem Inhalt. Eine Analyse muss demnach beiden Perspektiven, der Betrachtung als künstlerisches Ergebnis wie auch als Zusammenspiel von strukturellen Voraussetzungen, gerecht werden. Formate existieren in einer großen Bandbreite und Vielfalt, sie werden durch ihre Verschiedenartigkeit erst deutlich abgrenzbar. Unterschiede zwischen For‐ maten und Formatgrenzen werden in der Analyse sichtbar, auch wenn die Abgrenzung nicht immer eindeutig ist. Formate zu analysieren heißt folglich, Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 53 <?page no="54"?> 23 Aufführungen von Repertoire-Stücken bzw. im Rahmen der etablierten Sparten sind zwar auch als Formate zu betrachten, allerdings liegt der Fokus im Rahmen dieses Beitrags auf neueren, teils randständigen Programmangeboten, die gerade während und seit der Pandemie verstärkt auftraten. herauszufinden, was festgelegt ist und was charakteristisch erscheint. Im Kontext der Darstellenden Künste könnte das bedeuten, nach den Kommunikationsbedin‐ gungen und der zeitlichen wie räumlichen Ordnung zu fragen, und darüber hinaus: Wer sind die Akteur: innen (Professionelle oder Laien)? Inwiefern ist das Publikum beteiligt? In welchem organisationalen Rahmen findet ein Theateran‐ gebot statt? Gemeint sind hier u. a. die Spartenzugehörigkeit und, ganz allgemein, die Kontextualisierung eines Formats im Spielplan, die Distributionswege, ggf. die inhaltliche Grundlage usw. Im Folgenden werden nun konkrete Theaterformate, die während des Pandemie-Spielbetriebs entstanden sind, vorgestellt, um anhand dieser Beispiele je einen möglichen Analyseansatz zu skizzieren. 23 2.1 Die Pest - Eine filmische Serie nach Roman-Vorlage Während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 entwickelte das Theater Oberhausen eine Serie mit dem Titel Die Pest. Grundlage für die Inszenierung bildet Albert Camus’ 1947 erschienener Roman, der von dem Ausbruch einer Seuche am Mittelmeer sowie dem Umgang der Gesellschaft damit erzählt. Gemäß der geltenden Bestimmungen zum Infektionsschutz trafen sich die beteiligten Künstler: innen des Theater Oberhausen per Videokonferenz, wo Bert Zander im virtuellen Raum inszenierte. Das Theater schickte Kameras und Vorhangstoff jeweils zu den Schauspieler: innen nach Hause, sodass die Darsteller: innen eigenständig, beispielsweise mit den Kameras ihrer Mobiltele‐ fone, entweder zuhause vor dem Moltonstoff oder draußen im Freien Videos anfertigen konnten. Diese Videos wurden daraufhin auf verschiedene Objekte und Wände im öffentlichen Raum projiziert - etwa auf Häuserfassaden, auf Garagentore, auf Rollläden von Fenstern, auf Bäume oder die Wasseroberfläche eines Sees - und zusammengefügt: In den Projektionen überlagern sich die einzelnen Filme, woraus eine Interaktion zwischen den separat gedrehten Teilen entsteht. Es ergeben sich verschiedene Schichten von Aufnahmen, die künstlich in eine andere Umgebung gebracht werden. Diese überlagerten bzw. zusam‐ mengefügten Videos werden wiederum abgefilmt und nach Postproduktion entsteht daraus das Ergebnis: eine Theaterserie. Die Schauspieler: innen haben also nie physisch kopräsent interagiert, sondern die Videoaufnahmen wurden so abgespielt und aufgenommen, dass es so aussieht, als ob sie sich begegnet wären. Als Akteur: innen treten sowohl professionelle Schauspieler: innen des 54 Angelika Endres <?page no="55"?> 24 Vgl. Keim 2020. Ensembles auf als auch Oberhausener Bürger: innen als Erzähler: innen. Die Serie besteht aus fünf Folgen, die nacheinander erschienen sind und dem Publikum online und kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Somit gibt es weder Kopräsenz noch Kozeitlichkeit. Welche Analyseansätze bieten sich hier an? Die Pest kann als Theaterstück, das an eine Fernsehserie angelehnt ist, betrachtet werden, oder als Serie, die mit Theatermitteln realisiert wird. Wenn der Fokus auf der Theaterinszenie‐ rung liegt, eignet sich die theaterwissenschaftliche Methode der Inszenierungs‐ analyse, wobei jedoch insbesondere die inhaltliche Dimension des Formats untersucht wird. Dabei wird der Theatertext Die Pest von Albert Camus einbe‐ zogen, sodass Aspekte wie die Nähe zum Ursprungstext sowie die Bearbeitung bzw. Aktualisierung des Stoffs eine Rolle spielen. Das Theater Oberhausen wählt diesen hochaktuellen Stoff zu Beginn der Corona-Pandemie für das Inszenierungsprojekt aus. Den gesellschaftlichen Umgang mit dem Aufkommen einer Epidemie/ Pandemie sowie die damit einhergehende Problematik mit zwischenmenschlicher Nähe bzw. Distanz haben der Roman und die Serie als Schwerpunktthemen gemeinsam. Die fünf Teile des Romans werden als Verlaufsphasen der Pest betrachtet und können im Theaterkontext gleichsam den Dramen-Verlauf skizzieren. Demnach werden die fünf Episoden benannt: I. Exposition: Die Ratten, II. Complication: Die Pest, III. Retardation: Die Toten, IV. Péripétie: Gleichgültigkeit und Mitgefühl, V. Dénouement: Die Verantwortung. Damit sind aber die Besonderheiten des Formats nicht ausreichend be‐ schrieben. Die geschilderte Produktionsweise und die Produktionsbedingungen unterscheiden sich stark von konventioneller Theaterarbeit. Die filmische Umsetzung ist sowohl als pragmatischer wie auch als künstlerischer Umgang mit den Abstandsregelungen im Rahmen des Lockdowns zu sehen. Zwischen‐ menschliche Situationen und Konflikte können nicht physisch kopräsent ge‐ spielt werden, sondern entstehen mittels Videomontage. Kopräsenz wird also technisch (und damit ,künstlich‘) hergestellt. Die Pest kann daher als eine Auseinandersetzung mit der Frage, was Theater alles sein kann, 24 betrachtet werden. Grenzen der Möglichkeiten der Theatermittel werden ausgelotet und es wird ein theatraler Umgang mit filmischen Mitteln erprobt. An der Schnittstelle zwischen film- und theaterwissenschaftlicher Perspektive kann die Abgrenzung der Genres analysiert werden, wodurch die Erweiterung des Theaterverständ‐ nisses, und damit die prozesshafte Dimension des Formats, deutlich wird. Die pandemischen Bestimmungen erzwangen gewissermaßen, auf andere Weise zu inszenieren und ein neues Format zu entwickeln. Mit gänzlich anderer Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 55 <?page no="56"?> 25 Theater Oberhausen 2020. 26 Theater Oberhausen 2020. 27 Staatstheater Augsburg 2021. Medialität und an der Schnittstelle zwischen Theater und Film ist Die Pest als Serie entstanden, die als vorproduzierte und digital distribuierte Serie erkundet, was mit Theatermitteln und unter Infektionsschutzbestimmungen möglich ist. Darüber hinaus ist es aufschlussreich, das Augenmerk auf strukturelle Beson‐ derheiten zu legen, um die institutionelle Dimension des Formats zu betrachten. Die Theaterserie ist als Kooperation von 3sat und ZDFkultur entstanden; der Regisseur Bert Zander, der als Videokünstler bereits Erfahrung mit Filmpro‐ jekten hatte, inszenierte das Stück für das Theater Oberhausen. Das Theater arbeitete für das Projekt mit Expert: innen aus den Bereichen Filmproduktion (Ostlicht Filmproduktion) und Tongestaltung (Studio Gelb - Büro für Ton- und Bildgestaltung) zusammen. Außerdem waren Laien als Akteur: innen involviert. Einerseits holte sich das Theater Oberhausen also Expertise aus technischen Be‐ reichen zur Unterstützung, andererseits partizipierten Laien in der Umsetzung des Filmprojekts. Diese Grundvoraussetzungen der Produktion beeinflussen nicht zuletzt die ästhetische Wirkung. Auf der eigens für die Theaterserie eingerichteten Website ist zu lesen: Gerade der Kulturbetrieb wird von den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie hart getroffen. Das Theater lebt von der gemeinsamen ästhetischen Erfahrung des Publikums und der Schauspielerinnen und Schauspieler. Durch die Einbeziehung interessierter Bürgerinnen und Bürger, die sich mit einem kurzen Video um eine Rolle bewerben konnten, sorgen Bert Zander und das Ensemble Oberhausen für ein Theatererlebnis der besonderen Art. 25 Das Theater hebt hier die Zusammenarbeit mit Laien hervor und betont die spezifische Zielsetzung des partizipativen Ansatzes bei Die Pest. Durch den gemeinsamen Schaffensprozess soll eine „gemeinsame ästhetische Erfahrung“ der Akteur: innen mit dem Publikum und „ein Theatererlebnis der besonderen Art“ 26 erzeugt werden. 2.2 kinesphere - ein virtuelles (Theater-)Erlebnis Das Staatstheater Augsburg entwickelte mit kinesphere einen „Mensch-Ma‐ schine-Tanzabend in 360 Grad“ 27 in einer Industriehalle. Ein Konzern für Auto‐ matisierungstechnik stellte dem Theater einen Industrieroboter als Leihgabe zur Verfügung, dieser wurde programmiert und wurde so neben den menschlichen Tänzer: innen zum Akteur. Das Stück wurde mit 360°-Kameras gefilmt und als 56 Angelika Endres <?page no="57"?> 28 Fischer-Lichte 2023: 15. Theatererlebnis in der virtuellen Realität realisiert. Das Augsburger Theater vertrieb bzw. vertreibt das Stück inklusive des Versands der VR-Brille zunächst über einen Augsburger Fahrradkurier, dann überregional im deutschsprachigen Raum via Post. Das Publikum ist also zuhause, bekommt eine Anleitung, setzt die VR-Brille auf und erlebt damit eine Theaterproduktion in der virtuellen Welt. Gängige Theaterkonventionen werden in verschiedener Hinsicht umgekehrt: Es gibt kein Foyer, sondern ein Startmenü, in dem der: die Zuschauer: in sich mit Augenbewegungen durch,klickt‘. Der Raum wird zu Beginn nicht verdunkelt, auch gibt es keinen kollektiven Applaus, weil die VR-Produktion alleine erlebt wird. Immersiv ist hingegen die eigene Position in der virtuellen Welt: Wie ich mich im physischen Raum bewege, verändert meine Wahrnehmung in der virtuellen Welt. Für eine Analyse sind technologische Parameter relevant, da die Qualität des Ergebnisses beispielsweise stark von der Auflösung und Leistungsfähigkeit der VR-Brille abhängt - in der Fachdisziplin der Theaterwissenschaft gibt es jedoch kein Instrumentarium dafür. Es stellt sich die Frage, ob sich die Aufführungsanalyse zur Analyse des virtuellen Erlebnisses eignet. Eine Thea‐ teraufführung im virtuellen Raum zu analysieren bedeutet, die VR-Brille sowie die virtuelle Welt als Theatermittel zu betrachten, sodass physische Kopräsenz als virtuelle Kopräsenz zu interpretieren ist. Das Publikum befindet sich mitten im Bühnengeschehen und bestimmt die eigene Position bzw. Blickrichtung mit. Die virtuelle Produktion kann darüber hinaus auch als site-specific betrachtet werden, wobei mir als Zuschauerin und theaterwissenschaftliche Analytikerin jedoch eine Leserichtung fehlt: die Wahrnehmung des anderen Publikums bzw. die intendierten wie nicht-intendierten Interaktionen und Feedbackschleifen. Dass die Aufführung erst durch die Anwesenheit von Publikum konstituiert wird, muss entweder vernachlässigt bzw. ignoriert oder in den virtuellen Raum übertragen werden: Virtuelle Tänzer: innen können die physische Kopräsenz des: der Zuschauer: in bei kinesphere nicht spüren. Mit Ästhetik des Performativen schuf Erika Fischer-Lichte 2004 die theoreti‐ sche Grundlegung der leiblichen Kopräsenz von Darstellenden und Publikum und auch im Jahr 2023 bekräftigte sie diese: „Erst aus ihrem Zusammenkommen in einem geteilten Hier und Jetzt entsteht eine Aufführung. Die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit dieses Prozesses ist [sic] für ihn konstitutiv.“ 28 Ihrer Argumen‐ tation folgend bedeutet das für den sogenannten Mensch-Maschine-Tanzabend, dass die Atmosphäre und Intensität der Aufführung - oder besser: der VR- Erfahrung - nicht durch die Anwesenheit des Publikums mitgestaltet werden. Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 57 <?page no="58"?> 29 Vgl. Fischer-Lichte 2023: 17. 30 Bernstorff 2019 (Herv. i. Orig.). Es ist anzunehmen, dass für Fischer-Lichte eine virtuelle Realität also kein Theater ist, vielmehr stellt sie sogar einen Gegensatz auf zwischen „Fantasien vom virtuellen Körper“ und dem leiblichen „In-der-Welt-Sein“ 29 im Theater. In der virtuellen Realität trennt sich nicht nur das Subjekt vom Objekt des Körpers, auch die Bühne ist nicht haptisch erfahrbar. Ein entscheidender Unterschied bei vorproduzierten Inszenierungen im Gegensatz zu physisch-kopräsenten Aufführungen ist - und das gilt auch für die Theaterserie des Theater Ober‐ hausen -, dass Theaterschaffende keinen unmittelbaren Einfluss mehr auf die Rezeptionssituation haben. Alle Ereignisse in der virtuellen Welt sind technisch vorhersehbar; die Rezeptionssituation wird im Entstehungsprozess durch und durch technisch vorproduziert und dadurch reproduzierbar. Die Aufführung selbst kann folglich in derselben Art und Weise mehrfach wiederholt werden, wobei die Wiederholungen nicht differieren. Gibt es also überhaupt Nicht- Intentionales in der virtuellen Welt? Während das Abgespielte immer gleich ist, kann ich als Zuschauende insbesondere die Wahrnehmungsposition bestimmen: In welche Richtung drehe ich mich, bewege ich mich einen Meter weiter nach rechts oder nach vorne? Die rezeptionsästhetische und phänomenologische Perspektive der Aufführungsanalyse birgt hier einige Schwierigkeiten, sodass ich die Inszenierungsanalyse mit produktionsästhetischer Ausrichtung und semiotischer Interpretation in den Blick nehme, um die intentionale Gestaltung und die Wirkabsichten zu fokussieren. Welche Ordnung in Raum und Zeit wird geschaffen? Materialien und Figuren gibt es nicht; als Zuschauer: in von kinesphere bin ich die einzige physisch anwesende Person und alle weiteren Erscheinungen bewegen sich stets in der inszenierten Weise. Zufällige Begeg‐ nungen entstehen also lediglich zwischen der virtuellen Präsenz und mir als Zuschauer: in samt VR-Brille. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie der Einsatz der VR-Brille als technisches Mittel zu interpretieren ist: Ist die Brille ein Protagonist? Ist der virtuelle Raum eine Spielstätte? Bernstorff bietet als Antwort theoretische Strömungen, die materielle Aspekte von Phänomenen und die Beziehungen des Menschen zur Technologie und zu seiner Umwelt neu fassen: Die Diskurse um die neuen Inszenierungsweisen berufen sich mit dem Neuen Mate‐ rialismus, ANT (Akteur-Netzwerk-Theorie) oder dem agentiellen Realismus auf Denk‐ richtungen, die darum bemüht sind die Zentralstellung des menschlichen Subjekts zu überwinden und Materie als aktiv und wirkmächtig zu denken. 30 58 Angelika Endres <?page no="59"?> 31 Nationaltheater Mannheim 2020. 32 Schauspiel Stuttgart 2021. Das bedeutet, dass bei einem Verständnis von Theater als kopräsentes Ereignis eine Erweiterung des Subjekt-Objekt-Verständnisses notwendig wird, um ein VR-Erlebnis als Theater analysieren zu können. Beide bisher vorgestellten Beispiele, sowohl die Theaterserie per Video als auch die Produktion in der virtuellen Realität, zählen im Rahmen der heuristi‐ schen Kategorisierungen zu den audiovisuellen und Digitalformaten und weisen andere Kommunikationsbedingungen als konventionelle Theateraufführungen auf. Trotz gänzlich anderer Produktions- und Rezeptionsweisen ist eine Ver‐ wandtschaft mit konventionellen Theateraufführungen zu erkennen: physische Kopräsenz wird mit technischen Mitteln nachgeahmt bzw. das Theatererlebnis wird in den virtuellen Raum übertragen. Darüber hinaus sind jedoch auch zahlreiche Programmangebote zu verzeichnen, die auf den ersten Blick weniger mit Theater zu tun haben; auf solche Angebote möchte ich im Folgenden näher eingehen. 2.3 Projekte mit sozialem und/ oder gesellschaftspolitischem Impetus Viele der während der Corona-Pandemie entstandenen Programmangebote kennzeichnen sich durch ihre soziale Komponente oder/ und ihr gesellschaftspo‐ litisches Engagement. Zur Verdeutlichung möchte ich drei Beispiele anbringen: Das Nationaltheater Mannheim veranstaltete mehrfach als „Grüne Aktion“ bzw. „Insektennachmittag“ angekündigte Pflanzaktionen auf dem Theatervorplatz mit einem „künstlerischen Abschluss“. 31 Mit diesen Angeboten knüpft das Theater an die Inszenierung von Insekten des Jungen Nationaltheater Mannheim an, die pandemiebedingt verschoben werden musste. Unter Einhaltung der Ab‐ standsvorschriften wurden Hochbeete bepflanzt und Insektenhotels gebastelt, das Theater lud zum Verweilen ein und es gab Konzerte und Dada-Performances. Letztere sind zwar aufführungsanalytisch fassbar, die Einbettung in das Gesamt‐ konzept dieser Veranstaltungen wird mit diesem Analyseverfahren jedoch nicht abgebildet. Das Württembergische Staatstheater in Stuttgart solidarisierte sich mit den Klimaaktivist: innen Fridays for Future und organisierte Global Strike meets Lyriktelefon: 32 Schauspieler: innen befanden sich in Schaufenstern, sie konnten also von außen gesehen und beobachtet werden, und zugleich präsentierten sie Zuschauer: innen per Telefon Naturlyrik. Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 59 <?page no="60"?> Als drittes Beispiel dient die telefonische Vermittlungshilfe: Das Landes‐ theater Tübingen bot die Vermittlung von praktischer Unterstützung hilfs‐ bedürftiger Bürger: innen an. So wurden Einkaufshilfen, Botengänge, Gassi- Führen von Hunden oder Kinderbetreuung vermittelt. Betrachtet man diese Ver‐ mittlungstätigkeiten als Format, stellt sich die Frage, wie sie analysiert werden können. Es gibt weder ein ,Publikum‘, noch gibt es eine Dokumentation, die Grundlage einer Analyse sein können. Jede Ausführung der Vermittlungshilfe fällt unterschiedlich aus, sodass Teilnehmende demnach sehr unterschiedliche Erfahrungen machen. Somit kann lediglich das Konzept und die Kommunika‐ tion über das Format analysiert werden. Denkbar ist darüber hinaus der Einsatz von ethnografischen Methoden wie der (teilnehmenden) Beobachtung oder sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen wie der Befragung. Handelt es sich nun bei den drei geschilderten Programmangeboten um Events, um Marketingmaßnahmen oder schlicht um ein ,Notprogramm‘ auf‐ grund der Bestimmungen zum Infektionsschutz, statt um einen Teil des The‐ aterprogramms? Auch wenn diese Angebote teilweise aus der Not heraus während der Lockdowns entstanden sind, oder vielleicht gerade deshalb, stellt sich die Frage, inwiefern sie in Verbindung stehen mit dem Selbstverständnis der Theater. Insbesondere weil Formaten neben Aufgaben und Zielen auch Vorstellungen von und über Theater eingeschrieben sind, ist es wichtig, auch diese Programmangebote in den Blick zu nehmen. Die Betrachtung derartiger Programmangebote als Formate ermöglicht es, das Spektrum dessen, was Theater alles sein kann, zu erfassen und zu beschreiben. Der Rückgriff auf die theaterwissenschaftlichen Analysemethoden reicht dabei nicht aus, um diese sehr verschiedenartigen Projekte und Aktionen zu untersuchen. Zudem sind diese Programmangebote an andere Gesellschaftsbe‐ reiche angelehnt, sodass sich die Frage stellt, ob sie innerhalb der theaterwissen‐ schaftlichen Fachdisziplin überhaupt als Theaterformat anerkannt werden. Dass es seltsam anmutet, einen telefonischen Vermittlungsservice als künstlerische Inszenierung zu analysieren, leuchtet ein. Sehen wir uns die Naturlyrik-Aktion im Schaufenster an: Sie kann als Ausstellungskonzept (mit Schwerpunkt auf den Schaufenstern) analysiert werden oder als telefonisches Format, in dem Lyrik gelesen und rezipiert wird. Beide Perspektiven werden dem Format nicht gerecht - wie jedoch einem Theaterformat ,gerecht‘ werden, in dem künstle‐ rische Aspekte vor den sozialen Aspekten und dem gesellschaftspolitischen Diskurs zurücktreten? Sowohl das Württembergische Staatstheater als auch das Nationaltheater Mannheim positionieren sich mit den vorgestellten Pro‐ grammangeboten klar im Kontext der ökologischen Nachhaltigkeit, also einem aktuell viel diskutierten politischen Thema, wohingegen das Landestheater 60 Angelika Endres <?page no="61"?> 33 Warstat 2020: 117. 34 Warstat 2020: 117. 35 Warstat 2020: 119. 36 Vgl. Warstat 2020: 120f. Tübingen mit der Vermittlungsaktion konkrete Lösungsansätze für aus der Pandemie heraus entstandene bzw. verschärfte Probleme anbietet. Gerade weil derartige Formate aus der Not heraus während der Lockdowns entstanden sind, ist zu hinterfragen, ob sie überhaupt ,richtiges‘ Theater sind, oder ob sie das Ver‐ ständnis dessen, was Theater ist, verändern. Der Entstehungszusammenhang und das hohe Aufkommen von neueren Programmangeboten verstärken also die Ausgangshypothese: Das Verständnis dessen, was als Theater betrachtet wird, verändert und erweitert sich. Denn Theaterbetriebe begreifen sich zuneh‐ mend als gesellschaftliche und soziale Akteur: innen und entwickeln Formate mit nicht primär künstlerischen Zielsetzungen. Wie können diese Formate alternativ analysiert werden? Die meistgelehrte Methode in der Theaterwissenschaft ist die Analyse von Inszenierungen bzw. Aufführungen. Formate werden dabei jedoch in der Regel nicht als Untersu‐ chungskategorie mitanalysiert. Matthias Warstat kritisiert an der Anwendung der Aufführungsanalyse als Methode, dass das konkrete Vorgehen in der Forschungsliteratur (zu) wenig transparent und detailreich beschrieben wird. 33 Darüber hinaus äußert er Zweifel am „Methodencharakter der Aufführungs‐ analyse“, 34 indem er sie als Verfahren beschreibt, „mit dem kulturelle Auffüh‐ rungen (Cultural Performances) im Allgemeinen und Theateraufführungen im Besonderen auf ihre Formen, Bedeutungen und Wirkungen untersucht werden können“. 35 Die phänomenologische Perspektive des Verfahrens ist an Wirkungen interessiert und fragt nach Erfahrungen. 36 Im Rahmen einer Aufführung werden insbesondere die Zeichensysteme, die eingesetzten Mittel und Medien, die Verbindung zur Textgrundlage usw. untersucht. Implizit bleibt dabei das Format selbst: die Aufführung als Format. Zwar wird die Aufführungs‐ situation auf verschiedene Komponenten hin untersucht, u. a. im Hinblick auf das Verhältnis von Bühne und Publikum, von Raum und Szenografie, ebenso wie das gesprochene Wort, die Stimme, der Klang, Mimik, Gestik, Kostüme und Maske, das Licht, ggf. Interaktionen des Publikums und der Einsatz von audiovisuellen Medien sowie das Zusammenspiel all dieser Komponenten. Was bei der Analyse einzelner Programmangebote zu kurz kommt, ist jedoch die Beantwortung der Frage, inwiefern die Wahl und Ausgestaltung der Formate, die außerhalb des regulären Aufführungsprogramms eines Thea‐ ters entstehen, zurückwirkt auf die künstlerische Handschrift und auf das Selbstverständnis eines Theaters und welche Wechselwirkungen zwischen den Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 61 <?page no="62"?> 37 Otto 2014: 31. 38 Otto 2014: 64. 39 Vgl. Scott 2008. 40 Hasse/ Krücken 1999: 90. ästhetischen und strukturellen Bedingungen entstehen. Auch der Bezug zur institutionellen Ebene ist mit den Einzelfallanalysen kaum zu schaffen. Jedoch ist gerade von Interesse, wie neuere Formate sozial und institutionell verankert werden. Ulf Otto beschreibt dies im Kontext von Aufführungen (bzw. Auftritten) folgendermaßen: „Ein Auftritt geht aus einer Korrespondenz von Darstellen und Zuschauen hervor, die sozial verankert, institutionell abgesichert und technisch bedingt ist.“ 37 Darüber hinaus plädiert er dafür, Theater nicht primär rezeptionsseitig zu beschreiben, sondern gerade auch Produktionsaspekte der Theaterpraxis mit zu berücksichtigen: Versteht man den Aufführungsbegriff daher nicht als universalistische Theaterdefi‐ nition, sondern als eine historisch kontingente Unterscheidung, der wie alle anderen Theaterbegriffe auch an seine Zeit gebunden ist, mit der ästhetischen Praxis korreliert und ähnlich wie diese medial beeinflusst und kulturell geprägt ist, dann lässt sich nicht nur fragen, welche ästhetische [sic] Präferenzen sich hinter der objektiven Emphase verbergen, sondern auch, aus welchen ökonomischen und technologischen Konfigurationen die Begriffsbildung hervorgeht. 38 Dieser Ansatz eignet sich insbesondere auch für diejenigen Theaterformate, die - aufgrund ihres (vermeintlich) fehlenden ,Theatercharakters‘ - nicht klassi‐ scherweise als solche betrachtet werden, wie etwa die Vermittlung von Hilfsak‐ tionen und der Insekten-Nachmittag. Die Tatsache jedoch, dass es sich um eine Aufführung handelt, ist Grundlage der Analyse und des Fachgegenstands, die hier als unhinterfragte Selbstverständlichkeit, als kulturell-kognitive Dimen‐ sion einer Institution begriffen wird. 39 Heißt das für die Untersuchung von Aufführungen auch, dass das Format bislang ein ,blinder Fleck‘ ist? Die insti‐ tutionellen Erwartungsstrukturen von Theateraufführungen werden in Anleh‐ nung an den Neo-Institutionalismus als „Resultat gesellschaftlicher Prozesse“ 40 verstanden. Wenn Ereignisse der institutionellen Umwelt Auswirkungen auf die Formatierung der Theaterprogramme haben - wie es beispielsweise bei der Corona-Pandemie und auch bei anderen politischen und gesellschaftlichen Krisen zweifelsohne der Fall ist -, ergeben sich andere Anforderungen an das Forschungsdesign, um diese jüngeren Entwicklungen beobachten und beschreiben zu können. 62 Angelika Endres <?page no="63"?> 41 Vgl. Balme 2021: 34-41. 42 Vgl. z.-B. Wihstutz et al. 2022. In der 6. Auflage von Balmes Einführung in die Theaterwissenschaft aus dem Jahr 2021 werden „Performance“ und „Praxis“ als Gegenstandsbereiche der Theaterwissenschaft aufgenommen. 41 Dabei bleibt die Frage offen, wie neuere Formate analysiert werden können. Hier scheint die Fachdisziplin (noch) kein Instrumentarium zur Verfügung zu haben. Auf der Mikroebene kann die Aufführungsanalyse hilfreich sein zur genaueren Betrachtung einzelner Formate, auf der Makroebene hingegen gibt eine breiter angelegte, triangulierte Studie Aufschluss über Formathäufigkeiten, Konstellationen und überregionale Entwicklungen sowie über Transformationsprozesse im Kontext des Selbstver‐ ständnisses von Theater als Institution. 3 Herausforderungen für das Forschungsdesign einer institutionell orientierten Formatforschung In der Diskussion um die Objektivierbarkeit qualitativer Forschungsansätze sowie um Interdisziplinarität bzw. die Integration von Methoden anderer Dis‐ ziplinen geht es nicht zuletzt immer um die Passgenauigkeit des Vorgehens auf den Gegenstand und das jeweilige Forschungsinteresse. Es müssen Setzungen vorgenommen werden, um den Gegenstand einzugrenzen, das Vorgehen rea‐ lisierbar zu machen und gemäß der jeweiligen Fachtraditionen zu gestalten. Die Grenzen einer Studie werden meist erst am Ende formuliert, um daraus Forschungsdesiderate für künftige Studien abzuleiten. Die Entscheidungen, die einem Forschungsprojekt zugrunde liegen, prägen die Perspektive jedoch von Anfang an und sind mitentscheidend für die Ergebnisse. Daher soll im Folgenden das Forschungsdesign reflektiert und auf das spezifische Potenzial im Kontext der theaterwissenschaftlichen Formatforschung befragt werden. Im Unterschied zu anderen theaterwissenschaftlichen Publikationen, die sich auf der Grundlage einer Auswahl weniger Fallstudien insbesondere mit äs‐ thetischen, dramaturgischen und räumlichen Implikationen der Darstellenden Künste im Zuge der Corona-Pandemie beschäftigen, 42 wird in der diesem Beitrag zugrunde liegenden Forschungsarbeit eine Formatforschung mit institutioneller Perspektive und über das organisationale Feld des öffentlich getragenen Thea‐ ters seit der Pandemie verfolgt. Im Rahmen des Teilprojekts „Outside the Box: Ästhetische Neu-Formatierung an öffentlich getragenen Theatern im Anschluss an die pandemiebedingten Schließungen 2020 in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz“ der Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ wurde ein Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 63 <?page no="64"?> 43 Die umfangreiche Erhebung der Programmangebote umfasst Theater in Deutschland, England und in der Schweiz für die Spielzeit 2019/ 20 sowie für die drei folgenden Spiel‐ zeiten und bildet die deskriptive Ebene der Untersuchung. Sie wird durch qualitative Interviews mit Theaterschaffenden an den jeweiligen Häusern ergänzt. Gemeinsam bilden die beiden Analyseebenen das empirische Datenmaterial, anhand dessen unter‐ sucht wird, wie öffentlich getragene Theater in der Formatierung der Spielpläne auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Theater reagiert haben und inwiefern dies das Theaterverständnis verändert bzw. erweitert. 44 Vgl. u.-a. Michaels 2021; Stempel 2020. 45 Auch wenn die Statistik des DBV einen umfassenden statistischen Datenbestand inner‐ halb der deutschsprachigen Theaterlandschaft darstellt, müssen diese Publikationen kritisch betrachtet werden, wie Tillmann Triest (2023) darlegt: Theater stellen ihre Daten selbst zur Verfügung - wie Datensätze zustande kommen und Kategorien inter‐ pretiert werden, kann daher unterschiedlich ausfallen, sodass eine Vergleichbarkeit nicht gewährleistet ist. Auch die Vollständigkeit der Daten kann nicht garantiert werden. Für das diesem Beitrag zugrunde liegende Forschungsprojekt wird jedoch nicht das Datenmaterial aus der Statistik entnommen, sondern die dort gelisteten Theater grenzen die Auswahl des Samples ein. Der Fokus der Erhebungen liegt im Programm‐ bereich, den der DBV als ,theaternahes Rahmenprogramm‘, ,sonstige Veranstaltungen‘ und ,Streamingangebote‘ betitelt, allerdings werden die Kategorien heuristisch gefasst und sind nicht deckungsgleich mit denen in den Statistiken des Bühnenvereins. Die trianguliertes empirisches Forschungsdesign gewählt, um neben qualitativen auch quantitative Verfahren zur Anwendung zu bringen und um mit sozial- und medienwissenschaftlichen Theorien sowie sozialwissenschaftlichen Methoden zu arbeiten. Programmangebote wurden umfangreich erfasst und heuristisch kategorisiert. 43 Für diese Erhebung lag der Fokus auf Formaten außerhalb des soge‐ nannten ,Kernprogramms‘, das als Bezugsgröße zur Unterscheidung und Abgrenzung der (heuristischen) Formatkategorien des ,außerhalb‘ dient. Pro‐ grammangebote, die nicht im Rahmen des Repertoires der etablierten Sparten (Sprechtheater, Oper/ Musiktheater, Tanz/ Ballett, Figurentheater, ggf. Theater für junges Publikum) angeboten werden, wurden für die Analyse verzeichnet und kategorisiert. Ein erster großer Unterschied zu gängigeren theaterwis‐ senschaftlichen Forschungsdesigns liegt bei diesem Analysefokus sicherlich darin, dass konventionelle Aufführungen ignoriert werden. Diese Eingrenzung geschah nicht zuletzt auf Basis voriger Studien, die sich mit dem Aufkommen neuerer Formate sowie einer Formatdiversifizierung beschäftigen. 44 Eine wei‐ tere Abweichung zu geläufigeren theaterwissenschaftlichen Analysen ist die Größe des Samples. Im Rahmen einer dezidiert breit angelegten Erhebung wurden zunächst die zu untersuchenden Theater aus den in der Theatersta‐ tistik des Deutschen Bühnenvereins gelisteten öffentlich getragenen Theater ausgewählt. 45 Für die erste ‚Corona-Spielzeit‘ 2019/ 20 wurden alle circa 140 64 Angelika Endres <?page no="65"?> im Forschungsprojekt erhobenen Programmangebote gehen über die in den Statistiken des DBV erfassten Veranstaltungen hinaus. 46 Stand: Spielzeit 2019/ 20, vgl. Deutscher Bühnenverein 2022. 47 Diese Selektion basiert einerseits auf inhaltlichen Kriterien, sodass neben Theatern mit herausragendem, vielfältigem Angebot während der Lockdowns auch Theater eingehender analysiert wurden, die ein vergleichsweise reduziertes Corona-Programm entwickelten. Andererseits zielte die Zusammenstellung des Samples darauf ab, eine Vielfalt an Theatergrößen und Organisationsformen abzudecken sowie die Sample- Theater geografisch über die BRD zu verteilen. Stadt-, Staats- und Landestheater berücksichtigt. 46 Diese umfangreiche Daten‐ erhebung zielte einerseits auf eine Objektivierung der erhobenen Daten ab, indem nicht zu früh im Forschungsprozess Fallstudien ausgewählt werden, und andererseits darauf, institutionelle Zusammenhänge erkennen zu können. Auf Grundlage der Erhebungen und Analysen der Programme aus der Spielzeit 2019/ 20 wurden schließlich Fallbeispieltheater zur eingehenderen Analyse der Programmangebote für drei weitere Spielzeiten sowie für qualitative Interviews mit Intendant: innen oder Mitarbeiter: innen in leitender künstlerischer Funktion ausgewählt - mit einer Anzahl von 21 Theatern ist das Korpus an Fallbeispielen für eine qualitative Untersuchung jedoch immer noch relativ groß. 47 Eine Herausforderung in der beschriebenen Herangehensweise bestand zudem darin, dass aufgrund der Größe der Stichprobe und der Menge an erhobenen Daten sowie zum Zweck der Vergleichbarkeit Standardisierungen notwendig waren. Die aufgenommenen Programmangebote wurden mit Kate‐ gorien versehen und mit weiteren Parametern charakterisiert. Dabei spielten formale und strukturelle Gegebenheiten wie die Trägerschaft des Theaters, ggf. Kooperationen im Rahmen des Programmangebots, Zugangsbarrieren etc. eine Rolle. Andererseits werden als Rahmen für die ästhetische Erfahrung der Veranstaltungsort, der Grad der Teilhabe durch das Publikum bzw. Laien sowie der Übertragungs-/ Vermittlungsmodus (digital, analog oder hybrid) erhoben. Auch wird erfasst, ob ein Format bei physischer Kopräsenz stattfindet oder nicht. Auf Basis der unterschiedlichen Medialitäten wurden schließlich heuris‐ tische Formatkategorien aus etwa 4000 verzeichneten Programmangeboten entwickelt: Diese unterscheiden zwischen audiovisuellen und Digitalformaten (z. B. Hörspiele und Podcasts, vorproduzierte Spiel- und Animationsfilme oder Serien sowie neuere Technologien wie z. B. Virtual Reality oder Theater auf Social Media), teilhabeorientierten Formaten, die neben Workshops auch partizi‐ pativ angelegte Veranstaltungen wie den beschriebenen Insekten-Nachmittag enthalten, zwischen Diskursprogramm (z. B. Einführungsveranstaltungen und Diskussionsrunden) und bereits etablierteren aufführungsähnlichen Formaten Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 65 <?page no="66"?> 48 Der Vollständigkeit halber möchte ich noch die letzte, allerdings nur marginal und kurzzeitig während der Pandemie auftretende Kategorie der medizinischen Angebote wie Impf- oder Test-Stationen erwähnen. 49 Renz 2020: 291. 50 Renz 2020: 280. außerhalb des Kernprogramms wie z. B. Lesungen oder Parcours. 48 Anhand der Kategorisierungen wird deutlich, dass Theater mit der Wahl und Ausgestaltung der Programmangebote als Formate inhaltliche und ästhetische Setzungen vornehmen und ein Spektrum dessen abbilden, was Theater alles sein kann. In der Analyse zeigt sich darüber hinaus, dass strukturelle und organisatorische Voraussetzungen die Formatierung beeinflussen. Obwohl sich die Forschungsarbeit prinzipiell einer qualitativen Perspektive verpflichtet sieht, werden für die Auswertung standardisierende Verfahren an‐ gewandt. Es stellt sich also die Frage, ob eine qualitative Forschungsperspektive und standardisierende Verfahren im Widerspruch zueinander stehen. Durch das Datenvolumen besteht das Risiko, in der Auswertung weniger in die Tiefe zu gehen. Daher werden im Analyseprozess verschiedene Perspektiven für das Erkenntnisinteresse eingenommen: Mit zunächst quantitativer Perspektive wurde ein Überblick geschaffen und die Formate beobachtet, um nicht mit der Selektion von Fallbeispielen zu früh Einschränkungen vorzunehmen. Mit der Bildung von Kategorien und Clustern sind begründete Setzungen vorgenommen worden und der Untersuchungsgegenstand wurde eingegrenzt. Schließlich wurden die erhobenen Daten abstrahiert, klassifiziert und systematisiert, um sie vergleichbar zu machen und quantitative Aussagen treffen zu können. Thomas Renz weist bei standardisierenden Verfahren darauf hin, „wie problematisch die notwendige Komplexitätsreduktion durch den Standardisierungszwang bei einem doch recht vielschichtigen Phänomen sein kann“. 49 Gleichzeitig soll die Auswertungsmethode der Komplexität des Gegenstands gerecht werden. Er schreibt im 2020 erschienenen Band zu (neuen) theaterwissenschaftlichen Methoden über Schwierigkeiten und Begrenztheit der quantitativen Forschung für theaterwissenschaftliche Fragestellungen und beobachtet einen „Trend zur Offenheit für eigentlich fachfremde Methoden und zur Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftsdisziplinen in der Scientific Community“: 50 Das vermutlich größte ungeklärte Problem der quantitativen Forschung im All‐ gemeinen und einer empirisch-quantitativen Theaterforschung im Besonderen ist jedoch die Frage, ab wann ein Phänomen so vielschichtig ist, dass dessen Komplexi‐ tätsreduktion zugunsten einer Standardisierung nicht mehr möglich oder vertretbar ist. Wenn zu viele Faktoren relevant sein könnten, kann es sein, dass das daraus 66 Angelika Endres <?page no="67"?> 51 Renz 2020: 290. 52 Husel 2020: 228. 53 Husel 2020: 229 f. 54 Husel 2020: 231. resultierende theoretische Modell nicht mehr in ein technisch wie ökonomisch über‐ prüfbares standardisiertes Erhebungsinstrument umgewandelt werden könnte. Es kann also davon ausgegangen werden, dass bestimmte Forschungsfragen quantitative Erhebungsprozesse ausschließen. 51 Festzuhalten bleibt, dass der Einbezug von quantitativem Vorgehen einen guten Überblick über die öffentlich getragene Theaterlandschaft in Deutschland, mit einem spezifischen Fokus auf neuere Formate außerhalb des ,Kernprogramms‘, ermöglicht. Die Kategorienbildung sowie die Kodierung als standardisierende Verfahren im Rahmen der Erhebungen und der Analysen stehen im Spannungs‐ verhältnis zu qualitativem Vorgehen. Als deskriptive Ebene der theaterwissen‐ schaftlichen Formatforschung wirkt dies jedoch produktiv: Wie sonst sollte ein Phänomen, das bisher wenig Beachtung fand, als relevantes Forschungsfeld beschrieben werden? Darüber hinaus wird im Rahmen des beschriebenen Vorgehens implizites (Praxis-)Wissen über Formate zugänglich gemacht. Die Beschreibung von Formaten, deren Aufkommen und Ausgestaltung, Häufigkeiten und Entwick‐ lungstendenzen über mehrere Spielzeiten hinweg, ermöglicht es, Formate als Phänomen theaterwissenschaftlich und praxeologisch zu beforschen. Aus der praxeologischen Sozialtheorie, wie Stefanie Husel sie in dem Band Neue Me‐ thoden der Theaterwissenschaft beschreibt, ist für den theaterwissenschaftlichen Kontext das Konzept der Performativität relevant, „bezogen auf den präsentie‐ renden Vollzug von Handlung (bzw. Praktiken), als die immer wieder aufs Neue praktizierte, konkrete und wirklichkeitskonstituierende Komponente der Be- Deutung“. 52 Darüber hinaus greift Husel auf das Konzept der Materialität zurück: Praktiken brauchen „ein konkretes Setting“, in dem sie nicht zuletzt räum‐ lich und zeitlich vollzogen werden. 53 Praktiken müssen zudem wahrnehmbar sein und es gibt einen „Pool impliziten, praktischen Wissens“ 54 , d. h. es gibt Praxiswissen, das über das explizit sprachlich verfügbare Wissen hinausgeht und somit nicht direkt zugänglich ist. Alle drei Konzepte - Performativität, Materialität, Wahrnehmbarkeit - treffen auch auf das in Kapitel 1 beschriebene Verständnis von Formaten als Phänomen zwischen Struktur und Ästhetik zu. Gerade in der Triangulation der quantitativen, standardisierenden Verfahren mit qualitativen Perspektiven und Methoden wird nicht nur neues Wissen über Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft 67 <?page no="68"?> 55 Fahle et al. 2020: 18. Formate generiert, sondern auch bereits vorhandenes implizites, praktisches Wissen erschlossen. 4 Das reflexive Potenzial von Formaten - Konsequenzen für die Theaterwissenschaft In den vorigen Kapiteln wurde dargelegt, dass Theaterformate als Phäno‐ mene und theaterwissenschaftliche Analysegegenstände begriffen werden und welche Analysemöglichkeiten für Formate in diesem Kontext bestehen. Im Rahmen eines mixed-methods-Ansatzes aus quantitativen und qualitativen Verfahren zur Beforschung von Theaterformaten ergibt sich einerseits ein großer Erkenntnisgewinn, andererseits werden viele Limitationen sichtbar. Die Abwägungen und Entscheidungen, aus denen das Forschungsdesign resultiert, reflektieren das Kernproblem dieses Sammelbandes: Sie verhandeln zwischen Struktur und Ästhetik, begreifen Theater als Organisation und Institution und versuchen, Transformationsprozesse zu beschreiben und zu verstehen. Gerade im Zusammendenken von Struktur und Ästhetik wird eine theaterwis‐ senschaftliche Formatforschung notwendig und wichtig. Darüber hinaus tragen Formate ein reflexives Potenzial, das nicht zuletzt für die Fachdisziplin der Thea‐ terwissenschaft von Bedeutung ist. Aus Perspektive der Medienwissenschaft formulieren Fahle et al. in diesem Zusammenhang: Formate sind medienwissenschaftliche Phänomene, welche Maßstäbe und Propor‐ tionen medienwissenschaftlicher Analysen - Boxen, Grenzen oder Normen - auf‐ zeigen. Dadurch obliegt ihnen ein reflexives Potenzial, nämlich gleichsam auch die Praktiken, Operationen und Methoden der Medienwissenschaft selbst in der Herstellung von medienwissenschaftlichem Wissen zu befragen. 55 Auf Theater übertragen, ergibt sich bei der Betrachtung von Theaterformaten neben der Analyse von Spielplänen und Transformationsprozessen an der Institution Theater auch eine Befragung theaterwissenschaftlicher Methoden und Praktiken. Während die Grenzen des Gegenstands ausgelotet, ausgeweitet und hinterfragt werden, besteht gleichermaßen die Chance, oder vielleicht besser: die Notwendigkeit, auch das fachspezifische Vorgehen zu hinterfragen, auszuweiten und auszuloten. Denn zur Beschreibung und Erklärung aktueller Entwicklungen im Feld und deren Zusammenhänge sind neue Methoden und Vorgehensweisen notwendig. 68 Angelika Endres <?page no="69"?> 56 Vgl. Otto 2023: 31. Im Kontext der Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf das Theater zieht Ulf Otto für die Theaterwissenschaft epistemologische Konsequenzen: Das Wissen über Theater entwickelt und verschiebt sich, Produktionsprozesse und künstlerische Entscheidungen verändern sich, was sowohl ästhetische Konsequenzen als auch Konsequenzen auf institutioneller Ebene hat - und eben auch ontologisch. 56 Dem kann sich die Fachdisziplin nicht entziehen, vielmehr muss sie diesen Prozessen Rechnung tragen, ihre Methoden erweitern und auch ihr Verständnis von Theater hinterfragen. Schließlich hängt mit neueren bzw. jüngeren Entwicklungen und Transformationsprozessen zweifelsohne auch zusammen, dass sich eine Fachdisziplin reflektieren muss. Offen bleibt dabei, ob die Diskussion um Methoden sowie der interdisziplinäre Ansatz nicht zuletzt auch aufgrund von Legitimationsdruck der Fachdisziplin selbst entstehen. Literatur Balme, Christopher (2021). Einführung in die Theaterwissenschaft. 6., neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin: Erich-Schmidt-Verlag. Bernstorff, Elise von (2019). Der theaterwissenschaftliche Blick und performative dichte Beschreibung.-Paragrana 28 (2), 23-33. Deutscher Bühnenverein (2006). Theaterstatistik 2004/ 2005: Die wichtigsten Wirt‐ schaftsdaten der Theater, Orchester und Festspiele. Köln: Deutscher Bühnenverein. Deutscher Bühnenverein (2022). Theaterstatistik 2019/ 2020: Die wichtigsten Wirt‐ schaftsdaten der Theater, Orchester und Festspiele. Köln: Deutscher Bühnenverein. Fahle, Oliver et al. (2020). Medium -| Format. Einleitung in den Schwerpunkt. Zeitschrift für Medienwissenschaft 12 (22-1),10-18. Fischer-Lichte, Erika (2004). Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fischer-Lichte, Erika (2023). Zur Flüchtigkeit von Aufführungen. In: Gronau, Barbara (Hrsg.). Das Flüchtige gestalten. 30 Jahre Bayerische Theaterakademie August Ever‐ ding. Berlin: Theater der Zeit, 15-17. Giddens, Anthony (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. 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Der erste Anführer der paramilitäri‐ schen Gruppe Dmitri Walerjewitsch Utkin - glühender Verehrer Adolf Hitlers, der bekanntermaßen wiederum Wagner glühend verehrte - trug selbst den Kampfnamen Wagner, was für die von ihm angeführte private Einheit der Söldnergruppe Slawisches Korps namensgebend wurde. Selbst das Reality-TV-Format Love Island bezog sich in seiner 8. Staffel (2023) überaus selbstironisch und im Bewusstsein der Diversität seines eigenen Publikums auf den Kontext Wagner, wenn es ein kompetitives Spiel der Kan‐ didat: innen gegeneinander so ankündigt: „Die Love Island Challenges: Im deutschen Feuilleton rangieren sie gleichauf mit Wagner in Bayreuth, nur dass unsere Walküren die besseren Bikinis tragen.“ 1 Dass Wagner auch über den musiktheatralen Zusammenhang hinaus immer wieder gerade auch in popkul‐ turellen Umgebungen als ikonische Bezugsformel herangezogen wird, ist nicht neu - der Walkürenritt ist vermutlich mehr Menschen aus dem Film Apocalypse Now bekannt denn aus der Walküren-Oper selbst. Aber dass Wagner tatsächlich ein aktueller Link zwischen russischen Söldnern und einem deutschen Reality- TV-Format ist, kann man als Befund durchaus bemerkenswert finden. <?page no="76"?> Mindestens genauso bemerkenswert ist die aktuelle extreme Häufung von musiktheatraler Beschäftigung mit Wagner und seinem Opus magnum Der Ring des Nibelungen auf den Bühnen des deutschsprachigen Raums. Seit der Spielzeit 2019/ 20 - also der ersten Spielzeit, die zeitlich mit der Corona-Pandemie zusam‐ menfiel und in deren Verlauf phasenweise gar nicht produziert werden konnte - bis einschließlich Spielzeit 2022/ 23 sind mindestens 60 (! ) Neuproduktionen der Tetralogie selbst sowie (musik-)theatrale Auseinandersetzungen mit dem Stoff auf den Spielplänen im deutschsprachigen Raum zu zählen gewesen - Wiederaufnahmen bereits produzierter Aufführungsformate nicht mitgezählt. Es handelt sich dabei um eine so noch nie dagewesene Ballung der Beschäftigung mit einem einzigen Stück - wobei man korrekterweise von vier, wenn auch zusammenhängenden, Stücken sprechen müsste. Es ist zudem das einzige Stück des Repertoires seiner Art und (ausladenden) Form. Doch worin besteht über diese exorbitante Größe hinaus die nicht nur ungebrochene, sondern geradezu hypertrophe Faszination deutschsprachiger Bühnen für Wagners Tetralogie? Aus welcher Motivation heraus stellen sich so viele Künstler: innen und Auf‐ führungsstrukturen der massiven Herausforderung, die die Beschäftigung mit Wagners Ring ja nicht nur logistisch, sondern vor allem auch ästhetisch und nicht zuletzt historisch darstellt? Das Erkennen der Omnipräsenz von Wagners Ring war zunächst der Im‐ puls wie die inhaltliche Klammer für die vorliegende Studie. Eine reine Auf‐ führungsanalyse mehrerer exemplarischer Produktionen - als grundlegende Methode der Theaterwissenschaft zunächst eine naheliegende Wahl - schien jedoch wenig erkenntnistheoretischen Mehrwert zu versprechen. Vor dem Hintergrund der Arbeit in der Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“, die grundlegend von der Frage nach den Wirkungsweisen und Auswirkungen des Spannungsfelds zwischen Struktur und Ästhetik im (Musik-)Theater geprägt ist, erschien eine Umorientierung weg vom ästhetischen Produkt hin zum Prozess seiner Produktion sinnvoll. So geht hier die inhaltliche Frage nach den Gründen für die Omnipräsenz von Wagners Ring zusammen mit dem Erkenntnisinteresse an den Zusammenhängen von strukturellen Bedingungen und ästhetischen Produkten auf in der Suche nach alternativen Methoden für eine musiktheaterwissenschaftliche Untersuchung des Felds. Den Fokus dabei nicht zentral auf Aufführungen zu legen, sondern sich mit Prozessen ihrer Entstehung auseinanderzusetzen und sich somit der Probe bzw. der Probenpro‐ zessforschung zuzuwenden und sie für diese Fragenstellungen fruchtbar zu machen, war der Ausgangspunkt dieser Suche. 76 Ulrike Hartung <?page no="77"?> 2 Vgl. z.-B. Wihstutz/ Hoesch 2020. 3 Husel 2020: 241. 4 Z.B. in Form von Wagners konzipiertem versenkten Orchester mit der Erfindung übergreifender Schalldeckel, die zugleich den Bühnenrand verdecken und somit das Orchester unsichtbar werden lassen als der „mystische Abgrund“, der „die Realität von der Idealität zu trennen habe.“ Wagner 1907: 290. 5 Roesner 2019: 175. 6 Vgl. Lehmann 1999: 150. 2 Warum Probe? Trotz zahlreicher Unternehmungen, 2 sich als Disziplin kontinuierlich um neue methodische Zugriffe auf ihren Gegenstand zu bemühen, ist doch die Auffüh‐ rungs- und Inszenierungsanalyse die zentrale und wichtigste Methode der (Musik-)Theaterwissenschaft. „[T]heaterwissenschaftliche ästhetische Analyse macht also bisher gewissermaßen an den Grenzen der Aufführungssituation halt“ und ist dem Denken verhaftet, „dass einzig im quasi magischen Moment der Aufführung sich Ästhetik ereigne, wohingegen praktische Umstände der Produktion und Rezeption als letztlich ästhetisch uninteressant und lediglich sozialwissenschaftlich relevant abgetan werden.“ 3 Dies gilt um ein Vielfaches mehr für das institutionalisierte Musiktheater, das - wenn auch nicht allerorten - nach wie vor seine Tendenz zu Opulenz und Überwältigungsästhetik pflegt, wie sich gerade am Beispiel Wagner besonders eindrücklich zeigt. 4 Wenngleich in der Außenwahrnehmung oftmals Regisseur: innen als zentral Verantwortliche für Aufführungen gesehen werden, sind „Inszenierungen […] in aller Regel Resultate kollektiver Kreativität und Ergebnisse von Emergenz.“ 5 Die künstlerischen Schaffensprozesse, an deren Ende zumeist diese „Inszenie‐ rungen“ stehen, können in sich selbst als künstlerische Praxis verstanden und somit potenziell auch zum musiktheaterwissenschaftlichen Untersuchungsge‐ genstand werden. Die Betrachtung von Aufführungen ist nicht nur in der Wahrnehmung des Bühnengeschehens ausschnitthaft, 6 nicht zuletzt, weil die menschliche Sensorik kaum alle parallel sich darbietenden Einflüsse verar‐ beiten kann, sondern kann auch einen wesentlichen Teil des Prozesses nicht erfassen, der Voraussetzung für die Aufführung ist. Proben verstanden als künstlerische Praxis bzw. künstlerisches Handeln jedoch bedeutet, dass die Aufführung selbst wiederum nur einen Ausschnitt dieser Praxis darstellt - wenn auch bewusst und gewählt. Insofern können Einblicke in die Genese von ästhetischen Produkten durch die Begleitung von Probenprozessen nicht nur Kontext zum tieferen Verständnis liefern. Die Probenprozessforschung kann vor allem Einblicke ermöglichen in das (Abhängigkeits-)Verhältnis von ästhetischen Schaffensprozessen und ihren betrieblichen wie allgemein struk‐ „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 77 <?page no="78"?> 7 Vgl. Féral 2008. 8 Atkinson 2006. 9 2019 erschien der Tagungsband unter demselben Titel: Gratzer/ Lepschy 2019. 10 Vgl. LMU o. J.; Roesner 2019 sowie insbesondere das im Rahmen des DFG-Projekts entstandene Dissertationsprojekt von Tamara Quick unter dem Arbeitstitel „Live- Theatermusik auf der Bühne zwischen Theatralität und Performativität. Sinn und Sinnlichkeit liminaler Bühnenmusikfiguren in Theaterinszenierungen des deutschspra‐ chigen Raums heute“ (Publikation in Vorbereitung). 11 Breidenstein et al. 2013: 95. 12 Vgl. Husel 2020: 219. turellen (Vor-)Bedingungen. Der theaterpraktische Alltag, der sich nicht zuletzt auch und gerade in Proben darstellt, zeigt sehr deutlich, wie komplex das Spannungsverhältnis von Struktur und Ästhetik tatsächlich ist und inwiefern die jeweilige Arbeitsrealität eine entscheidende Rolle dafür spielt, was sich am Ende auf einer Bühne als Aufführung materialisiert. Die Beobachtung der genealogischen Arbeit der Vorbereitung einer solchen Aufführung führt in jedem Fall - zu diesem Schluss kommt Josette Féral - zu einem besseren Verständnis kreativen Schaffens im Allgemeinen 7 und hier im Musiktheater im Besonderen. Es kann sich also durchaus lohnen, Musiktheater über seine ästhetischen Produkte hinaus zu betrachten und seine Schaffensprozesse, die realiter keineswegs immer nur künstlerische sind, einzubeziehen. Dies ist für Oper und Musiktheater bislang nur wenig versucht worden. Der britische Soziologe Paul Atkins begann bspw. 2006 mittels ethnografischer Studien am Beispiel der Oper zu untersuchen, „how cultural phenomena are produced and enacted“ 8 . Die Konferenz „Proben-Prozesse“ am Mozarteum Salz‐ burg 2015 unternahm den Versuch, probenbezogene Forschung, wie sie bis dahin zumeist im Schauspiel und Tanz stattfand, auf Musiktheater zu anzuwenden, bezog sich dabei aber überwiegend auf die Perspektiven zeitgenössischen Mu‐ siktheaters (Komposition) und dessen Tendenzen zu künstlerischer Forschung. 9 Das DFG-Projekt „Theatermusik heute als kulturelle Praxis“ unter der Leitung von David Roesner an der LMU München untersuchte 2017-2021 das margina‐ lisierte Phänomen der Theatermusik unter anderem mit probenethnografischen Mitteln. 10 Vor diesem Hintergund versucht diese Studie, einen weiteren Beitrag zur methodischen Erschließung probenethnografischer Forschung im Kontext zeitgenössischer Opern- und Musiktheaterpraxis zu leisten. Musiktheater ist eine künstlerische und gleichzeitig auch eine soziale Praxis, die sich in „hochspezialisierten Sinnprovinzen“ 11 bewegt. So verstanden treten vor dem Hintergrund kulturwissenschaftlicher Praxistheorien vor allem Materialität und Korporalität, Prozessualität und Teilnahme als Paradigmen ins Blickfeld. 12 Über eine Anreicherung musiktheaterwissenschaftlicher Arbeitsweisen durch 78 Ulrike Hartung <?page no="79"?> 13 Husel 2020: 241. 14 Perspektivwechsel auf Wissen und Wissenschaft wie Donna Haraways Epistem zum situierten Wissen (vgl. Haraway 1996) sind in diesem Kontext genauso inspirierend wie die Kontingenzperspektive der Kulturwissenschaft (Reckwitz 2011). Um den gegebenen Rahmen nicht zu sprengen, kann an dieser Stelle darauf nicht weiter eingegangen werden. 15 Ullrich 2022. 16 Ullrich 2022: 9. solche Theorien und Methoden neue erkenntnistheoretische Wege zur Annähe‐ rung an die spezifische Fragestellung zu finden, war dabei nur ein Ziel dieser Studie; die wissenschaftspraktische Erprobung dieser Theorien und Methoden für weiterführende musiktheaterwissenschaftliche Forschung war ein weiteres. Das zentralste [sic! ] Novum einer so gestalteten Theaterforschung besteht in der radikalen Kontextualisierung der erforschten ästhetischen Praxis und dem hierdurch evozierten Bewusstsein für einen notwendigen ‚Bruch‘ […] mit vorgefertigten In‐ terpretationsschemata […], der letztlich erst dazu führt, dass Forschung zu neuen Inhalten gelangt […]. 13 So ein Bruch gelingt nur in der Konfrontation von Feld-Wissen mit wissenschaftli‐ chen Prämissen und diese Konfrontation ist hier bewusst gesucht worden. 14 In dieser Öffnung der Perspektive bildet sich auch eine allgemeine kunstbe‐ zogene Entwicklung ab, die sich in der Hinwendung zu künstlerischen Arbeits‐ prozessen im Theater wiedererkennen lässt. So beschreibt Wolfgang Ulrich, wie virulente gesellschaftspolitische Diskurse immer weiter in alle Formen von - in seinem Fall ganz besonders Bildender - Kunst vordringen. Dabei werde immer deutlicher, dass sich eine Dichotomie entwickelt habe von autonomer Kunst einerseits, die ausschließlich in sich selbst Zweck und Grund sehe, und postautonomer Kunst andererseits, die in vielfältiger formaler wie inhaltlicher Form die Auseinandersetzung mit ihrer sie umgebenden Lebenswirklichkeit gerade über die Einbindung dieser gesellschaftspolitischen Diskurse suche. 15 Letztere suche nicht mehr Momente der Irritation oder nach der Erfahrung von Differenz; im Gegenteil gehe es vielmehr um Empowerment z. B. margi‐ nalisierter Gruppen, um Community(-Building) durch die Kunst selbst. So ist die postautonome Kunst immer schon „mehr“ als „nur“ sie selbst 16 und weist nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch formal über sich hinaus. Davon sprechen nicht nur die breit geführten Diskurse über die Arbeitsbedingungen in der Kunst - z. B. im Zusammenhang mit Prekarität, Machtmissbrauch oder Diskriminierung. Diese Entwicklungen schlagen sich - vor allem in Produkti‐ onsformen außerhalb institutionalisierter künstlerischer Arbeit - zunehmend nieder in einer kritischen Befragung des eigenen Tuns, die nicht nur hinter der „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 79 <?page no="80"?> 17 Risi 2011: 98. Bühne bspw. während des Probenprozesses stattfindet, sondern übergeht in das künstlerische Geschehen selbst auf der Bühne. Vor diesem Hintergrund drängt es sich geradezu auf, den Blick auf den Gegenstand zu weiten, und sich zusätzlich mit den Dynamiken der Entstehung künstlerischer Produkte - als immanenten Teil von ihnen - auseinanderzusetzen. 3 Die Musiktheater-Probe Wie in so vielen Bereichen ist das Musiktheater im Vergleich zu anderen Formen Darstellender Kunst auch hinsichtlich seiner Proben von gattungsspezifischen Praktiken geprägt. Szenisches Probieren ist von seinem musikalischen Rahmen nur schwerlich zu trennen, daher sind Korrepetitor: innen eine feste Größe in Musiktheaterproben: Diese Pianist: innen begleiten Sänger: innen, Chöre, Tänzer: innen und andere Performer: innen in szenischen Proben und liefern ihnen den notwendigen musikalischen Rahmen für die Erarbeitung szenischer Vorgänge. Gleichzeitig und scheinbar widersprüchlicherweise gibt es viele ver‐ schiedene Varianten der Kombination und der Trennung von Musik und Theater im musiktheatralen Probenprozess. Im klassischen Opernbetrieb gehen zum Beispiel musikalische Proben oft den szenischen Proben voraus und/ oder laufen parallel: Musiker: innen wie Sänger: innen studieren ihre Partien oft isoliert ein - vorausgesetzt es gibt zu Probenbeginn so etwas wie vorliegende Partien. Zumeist sind es erst die Endproben, in denen schließlich alle Sänger: innen mit dem Orchester zusammenkommen. Gleichzeitig gibt es das Vorgehen - eher in freien Produktionszusammenhängen und manchmal auch im Rahmen von zeitgenössischen Stücken bzw. Uraufführungen -, musikalische Proben von szenischen als untrennbar zu verstehen und beides Hand in Hand zu entwickeln. Wiederholung spielt in der Einübung und Er-Probung im Musiktheater im Vergleich zu anderen Theaterformen noch einmal eine gesonderte Rolle - nicht zuletzt wegen des Faktors Musik/ Gesang und seiner komplexen Abstimmungs‐ verhältnisse. Gerade in der Oper als „Kompositions- und Aufführungskunst“ steckt „eine zu erkennende Vorliebe, ja geradezu Manie für das Wiederholen“ 17 . Sie kommt wiederum sehr plastisch in der bereits beschriebenen Schlüsselstel‐ lung von Korrepetitor: innen zum Ausdruck, in deren Begleitung in den Proben nicht nur szenische Zusammenhänge erarbeitet werden, sondern die auch die Aufgabe übernehmen, Differenzen in der Ausführung zu minimieren und somit musikalische Abläufe planbar und vorhersagbar zu machen. Wiederholung und Einübung spielen auch unabhängig vom Produktionskontext für Musiktheater 80 Ulrike Hartung <?page no="81"?> 18 Vgl. Stütz 2020. 19 Risi verweist in diesem Zusammenhang auf zwei Schriften über den Sängerdarsteller „Der Virtuos und der Künstler“ sowie „Über Schauspieler und Sänger“, in denen gänzlich Gegensätzliches zu lesen sei. Risi 2011: 100. 20 Zu Kulturessenzialismus vgl. Reckwitz 2017. 21 Vgl. Risi 2011: 98ff. 22 Risi 2011: 99 f. Vgl. auch das DFG-Projekt „Initiative Künstlerische Forschung im Kontext des Musiktheaters“, das sich nicht eigentlich mit Fragen historisch informierter Aufführungspraxis beschäftigt, weil es davon ausgeht, dass sie ohnehin keine histori‐ schen Wahrheiten freilegen kann. Das Projekt fragt vielmehr theoretisch wie praktisch danach, was Elemente des 19. Jahrhunderts für eine heutige Praxis noch leisten können - immer im Bewusstsein, dass jede Annäherung dieser Art ein Konstrukt ist. eine zentrale Rolle: Selbst in Arbeiten z. B. mit großen improvisatorischen Anteilen sind auch diese meist gerahmt und fixiert. Bei institutionalisierten Formen von Oper und Musiktheater, die in der Regel auf Perfektion und Routine ausgerichtet sind, kommen zu den genrebedingten Strukturen allerdings eine festgesetzte Probenzeit und der Zwang des Produzierens hinzu. Freie Produktionszusam‐ menhänge können sich tendenziell mehr Raum lassen für Improvisation und Spontaneität, weil sie durch ihre wesentlich geringere strukturelle Abhängigkeit stärker prozesshaft agieren können. Schon die Bildung einer freien Musiktheater- Szene hatte generell wesentlich mit dieser Sehnsucht nach Unabhängigkeit von apparatsbestimmten Abläufen zu tun: Ihre Entstehung war viel stärker von einer künstlerischen Suchbewegung jenseits vorgegebener Produktionsweisen moti‐ viert und deutlich weniger politisch begründet als die Suche nach Unabhängigkeit von institutionalisierten Strukturen anderer Szenen. 18 Wagner hatte im Übrigen ein ambivalentes Verhältnis zu Proben und deren Ergebnissen. Kaum ein: e Komponist: in hat so detailliert - sowohl innerhalb der musikdramatischen Texte selbst als auch in seinen theoretischen Schriften - die ideale Form einer Aufführung seiner Werke beschrieben wie er. So dogmatisch diese Formulierungen oft anmuten, so widersprüchlich können sie sein. 19 Somit ist auch bei Wagner jede Forderung nach Aufführungen, die den Regieanweisungen akribisch folgen und damit vermeintlich Autor und Werk am nächsten sind und dessen ‚Willen‘ umsetzen, nicht nur eine kulturessenzialisti‐ sche Konstruktion, 20 sondern wird Wagners eigenem Probenanspruch - sollte es einem darum gehen - selbst nicht gerecht. 21 Er setzte bspw. im Falle der ersten zyklischen Aufführung des Rings bei den Bayreuther Festspielen umfangreiche Probenzeiten von bis zu zwei Jahren an, nicht jedoch um seine vorher erarbeitete Vision umsetzen zu lassen, sondern um eine theaterpraktische Umsetzung dieser Vision in den Proben überhaupt erst zu erarbeiten. 22 „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 81 <?page no="82"?> 23 Matzke 2012: 19. 24 Breidenstein et al. 2013: 37. 25 Breidenstein et al. 2013: 49. Wie Musiktheater-Proben auch immer strukturiert seien, sie bereiten perfor‐ mative Abläufe nicht nur vor und üben sie ein, sondern sie generieren und sichern ein spezifisches Wissen und machen es überhaupt erst verfügbar: „Als Prozess der Wissensgenerierung trifft sich im Begriff des Probens das Theater mit der Wissenschaft.“ 23 Proben bieten somit einen wesentlich breiteren Einblick in dieses Wissen und damit auch in die Genese einer Bühnenarbeit, von der die Aufführung selbst immer nur einen kleinen Ausschnitt zeigt. 4 Wie Proben begleiten - Forschungsdesign Das Forschungsdesign stützt sich auf einschlägige Methoden der Feldforschung. Gemeint ist damit „das persönliche Aufsuchen von Lebensräumen“ als „andau‐ ernde unmittelbare Erfahrung“ 24. Die Arbeit begann mit einer Bestimmung des Feldzugangs, der in seiner Art und Weise und in seinem Verlauf bereits eine erste Erkenntnisquelle darstellte. Die anfängliche Befürchtung, dass es eventuell zum Problem werden könnte, überhaupt Zugang zu geeigneten „Lebensräumen“ - also unterschiedliche musiktheaterpraktische Zusammenhänge, in denen Auffüh‐ rungen produziert werden - zu finden, bewahrheitete sich nicht. Die Öffnung für eine wissenschaftliche Begleitung durch eine zusätzliche bei den Proben nicht nur anwesende, sondern auch das Geschehen beobachtende und dokumentierende Person stellte nicht nur keine Hürde dar; im Falle des Staatstheaters Braunschweig ist eine solche Begleitung für einen bestimmten Produktionszusammenhang sogar aktiv angefragt worden. Im Falle der Produktion von glanz&krawall wie auch der am Staatstheater Kassel stieß meine Anfrage, die sich letztlich aus den bestimmenden Faktoren von Produktionszusammenhang (Freie Szene bzw. Kooperationsprojekt zwischen freien Künstler: innen und einer Opernsparte) und be- und verarbeitetem Stoff (Richard Wagners Ring des Nibelungen) ergab, auf große Offenheit und sogar freudiges Interesse daran, das eigene Arbeiten zum For‐ schungsgegenstand gemacht zu sehen. Insofern zeigte sich eine unerwartet große Bereitschaft, tiefe Einblicke in die individuellen Arbeitsprozesse zu gewähren - eine „Beobachtungslizenz“ 25 -, bevor überhaupt eine einzige Probe besucht worden war. Meine Teilnahme an Gesprächen der Produktionsbeteiligten zum Teil lange vor Probenbeginn erforderte zudem eine Positionierung im Feld, ohne sie in der Probe selbst finden zu können. Die teilnehmende Beobachtung als 82 Ulrike Hartung <?page no="83"?> 26 Breidenstein et al. 2013: 38. 27 Zur Veranschaulichung eine Auswahl von Beiträgen zum Diskurs: Das Fachmagazin „Die deutsche Bühne“ spricht in der Saisonbilanz 2022/ 23 bereits von einer „Tendenz zu spartenübergreifenden Formaten“ und richtet in seiner Autor: innen-Umfrage eine eigene Kategorie dafür ein. In der Bilanz heißt es dazu: „Spartenübergreifend geht Zentrum ethnografischer Feldforschung lag nahe, um so „gelegenheitsgetrieben“ 26 alles zu sammeln, was als Daten relevant erschien. Die Produktionen wurden in mehreren Phasen probenethnografisch begleitet (siehe Tabelle). Das Studiendesign sah vor, wenn möglich bereits im Vorfeld - also bereits vor Probenbeginn - Einblick in die Planung und Vorarbeiten der Produktionen zu bekommen. Während im Falle der Staatstheater-Produktionen extensive virtuelle wie persönliche Treffen der Beteiligten vorgeschaltet waren und von mir auch besucht werden konnten, war dies über ein Gespräch und Austausch per E-Mail hinaus bei der freien Produktion organisatorisch nicht möglich. Die spezifischen Eigenheiten freien Produzierens bringen ein hohes Maß an Unvorhersehbarkeit mit sich, da oft sehr lang im Unklaren bleibt, für welches beantragte Projekt Fördermittel zugesagt werden und dadurch mehrere Projekte parallel beantragt werden. Im vorliegenden Fall von glanz&krawall ergab es sich für das Jahr 2021, dass eine viel höhere Anzahl an Anträgen bewilligt wurde, als erwartet worden war. Dies zog kurze, intensive und direkt aufeinanderfolgende Produktionszeiträume nach sich, die nur sehr wenig Zeit für Vor- und Nachbereitung der jeweiligen Produktion ließ und damit ebenso wenig Raum für Beobachtung. Die langen und komplexen Planungshorizonte an öffentlich getragenen Häu‐ sern erfordern ein hohes Maß an Abstimmung im Vorhinein - insbesondere dann, wenn es sich um Produktionen handelt, die massiv von den herkömm‐ lichen Produktionsabläufen abweichen. Beide Staatstheater-Produktionen er‐ proben den Versuch, innerhalb ihrer eigenen Struktur spartenübergreifend, das heißt unter zusätzlichem Einbezug der Sparten Tanz und Schauspiel, zu arbeiten. Während die eine Produktion ausschließlich bereits dem Haus bekannte Künstler: innen für die Erarbeitung der Produktion engagierte, wurde im Fall des kooperativen Projekts ein Team von mit dem Haus bislang nicht bekannten und sogar teilweise theaterfern(er)en Künstler: innen beauftragt. In beiden Fällen waren die Abstimmungsprozesse langwierig und über weite Teile - für den Kontext institutionalisiertes Musiktheater - vergleichsweise unstrukturiert: So sehr „spartenübergreifendes Arbeiten“ als eine im Diskurs vielerorts beschwo‐ rene Strategie zur Erneuerung sowie zum Aufbrechen verkrusteter Strukturen an öffentlich getragenen Theaterbetrieben gilt, so neu, wenig eingeübt und überaus konfliktbeladen sind diese Versuche für jedes Haus. 27 Dabei scheint es auch eine „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 83 <?page no="84"?> es weiter, nun in einer eigenen Kategorie für alle Sparten und Produktionen. Ich bin überrascht, wie zahlreich die Antworten in dieser neuen Frage bereits in diesem Jahr ausfallen. Das Spartenübergreifende ist längst mehr als eine Nische der Mehrsparten‐ theater, wo man einmal im Jahr seine traditionelle Arbeitszone verlässt“ (Baur 2023: 49 f.). Zwei Ausgaben zuvor widmete das Magazin seinen Schwerpunkt bereits diesen Arbeiten unter dem Titel „Spartensprenger - Neue Formate durch hybrides Theater“ (Die deutsche Bühne 06/ 2023). Auch die Behörde für Kultur und Medien der Stadt Hamburg hat ihre Auswahl für die Projektförderung der freien darstellenden Künste für die Spielzeit 2023/ 24 zum Teil spartenübergreifend diskutiert: die Konzeptions- und Nachwuchsförderungen sowie die nur alle drei Jahre vergebene Festivalförderung. Das NRW Kultursekretariat unterstützt in seiner „Neue Wege“-Förderung spartenübergrei‐ fendes Arbeiten, z.-B. das Bielefelder Studio (Neue Wege 2022). 28 Breidenstein et al. 2013: 37. untergeordnete Rolle zu spielen, inwiefern Künstler: innen und Haus miteinander vertraut sind, denn die Schwierigkeiten bestanden sowohl für die Regie- und Künstler: innen-Teams, die als Gäste zum ersten Mal im jeweiligen Produktions‐ zusammenhang arbeiteten, als auch für die durch vorherige Zusammenarbeit mit der Struktur bestens bekannten Akteur: innen. Prinzipiell war während der Probenbesuche der Zugang zu allen Orten der abgehaltenen Proben möglich, bei denen es sich immer um Probebühnen jenseits der eigentlichen Aufführungsorte handelte. Meine Anwesenheit war angekündigt, mit den Anwesenden abgesprochen und wurde zu Beginn vor Ort erneut annonciert, so dass es zu keinen (spürbaren) Irritationen seitens der Beobachteten kam. Sie begegneten mir im Gegenteil mit Interesse und Aufgeschlossenheit für meine Arbeit und boten sogar proaktiv Materialien wie zum Beispiel Bühnen- und Kostümskizzen und -modelle an. Zugangsbe‐ schränkungen zu Teilen der Produktionsarbeit, deren Besuch von mir angefragt worden ist, zeigten sich mir nicht. Auch hier wurde ich eher darauf hingewiesen, zu welchen Teilen des Probenprozesses ich außerdem Zugang hätte. So ergab sich meine Teilnahme an Arbeitstreffen jenseits der Proben selbst wie zum Beispiel an einem sogenannten Endprobengespräch oder einer Regiekollektiv- Beratungssitzung zur Planung des Schlussbildes einer Produktion. Die Einla‐ dungen insbesondere in diese besonders ‚sensiblen‘ Sitzungen, in denen sich die Beteiligten noch einmal anders vulnerabel als in der Probe zeigten, waren be‐ sonders wertvoll und erkenntnisreich. Die Aufführungen besuchte ich in ihrem jeweiligen ‚Festival‘-Kontext, der nicht immer mit der Premiere zusammenfiel. Die Datenerhebung - die Beobachtung von „situierte[n] Praktiken“, also „das Verhalten, Reden und habitualisierte Gebaren, das sich auf verkörpertes Wissen stützt“ 28 - erfolgte vor allem über die audiovisuelle Dokumentation als relevant erachteter Probensituationen. Als solches verstanden wurde „die Kol‐ lektivität von Verhaltensweisen, die durch ein spezifisches ‚praktisches‘ Können 84 Ulrike Hartung <?page no="85"?> 29 Reckwitz 2003: 289. 30 Vgl. Reckwitz 2003: 283. 31 Breidenstein et al. 2013: 49 f. 32 Vgl. Breidenstein et al. 2013: 48. 33 Féral 2008: 229. 34 Vgl. Breidenstein et al. 2013. 35 Vgl. Geertz 1995. 36 Geertz 1995: 12. zusammengehalten werden“ 29 und die die Probe als Praxis jeweils als Ort des Sozialen bzw. Kulturellen markiert. 30 Um das für die teilnehmende Beobachtung zentrale Wechselspiel zwischen „going native“ und „coming home“ 31 - also intensives Hineinbegeben in die Zusammenhänge des zu untersuchenden Feldes einerseits und ein bewusst herbeigeführter Abstand zum Feld und all dem darin Erlebten andererseits - zu gewährleisten, wurden zu den intensiven Phasen im Feld entsprechend Distanzierungsmaßnahmen ergriffen. Insbesondere das ethnografische Schreiben in mehrstufigen Schreibprozessen diente nicht nur als pragmatische sprachliche Erfassung von Praktiken, sondern vor allem auch dazu, die gemachten Erfahrungen zu ‚methodisieren‘ und durch eine organisierende Reflexion eine schreibende Distanzierung zum dicht Erlebten und Beobachteten vorzunehmen. 32 Die wiederkehrenden Unterbrechungen der Anwesenheit im Feld durch Phasen des Rückzugs, in denen das bereits gesam‐ melte Material sortiert und reflektiert wurde, schufen zusätzlich die Möglichkeit zur notwendigen befremdenden Distanzierung. Außerdem ist es nicht nur kaum möglich, sondern auch nicht notwendig, eine Produktion in jedem Moment in dieser Weise zu beobachten und zu analysieren: Es ist wichtiger „rather to apply this approach to certain moments of the production which the critic identifies as having particular significance.“ 33 Ein mehrstufiger Schreibprozess, der bereits während der Phasen der Forschung im Feld selbst begann, führte nach Abschluss der Datenerhebung bzw. Materialsammlung zu einer publizierbaren Erfassung von daraus resultierenden Erkenntnisgewinnen. Die Speicherung, Versprachli‐ chung und deren Analyse 34 bildeten dafür die Grundlage. Insbesondere die Technik der „dichten Beschreibung“ 35 ermöglichte die Ent‐ wicklung eines gegenstandsadäquaten Vokabulars, das für dieses Vorhaben von zentraler Bedeutung war: Die dichte Beschreibung unterscheidet sich von einer rein phänomenologischen Beschreibung durch „die besondere geistige Anstrengung“ 36 , in der mehrere Abstraktionsebenen miteinander verknüpft werden und damit die reine Beobachtung durch eine Interpretation parallel kontextualisiert wird. Anders gesagt, die Ebene der Empirie wird durch mehrere aufeinander folgende Akte der Verschriftlichung mit der Ebene der Bedeutung verbunden. Bei der ethnografischen dichten Beschreibung geht es um das Her‐ „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 85 <?page no="86"?> 37 Geertz 1995: 9. ausarbeiten von Bedeutungszusammenhängen, die sich in einer „geschichteten Hierarchie von bedeutungsvollen Strukturen“ verbergen. Im Folgenden ist ein ebensolches Herausarbeiten versucht worden: im Verständnis ethnografischer Texte als „Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen“ 37 , beschreibbar zu machen. - Berlin is not am Ring Temple of Alterna‐ tive Histories Die Ausweitung des Ringgebiets Präproben - Anwesenheit in mehreren virtuellen Gesprächen, öffent‐ lich (UKT-Dialoge) und intern (Lei‐ tungsteam mit Haus‐ angehörigen) Anwesenheit in mehreren virtuellen Gesprächen des Lei‐ tungsteams und Hausangehöriger sowie bei der Bau‐ probe (30. Januar 2023) Probenzeiten 4 Wochen 8 Wochen zzgl. 5 Mo‐ nate Vorbereitung 8 Wochen Götterdämmerung zzgl. ca. 2 Jahre Vorbereitung Erste Proben 20. Juli 2021 21. Juli 2021 22. Juli 2021 20. Dezember 2021 Workshop 24. Mai 2022 inkl. sog. Endprobenge‐ spräch 24. April 2023 26. April 2023 27. April 2023 (inkl. Entwurfsgespräch) Endproben 18. August 2021 19. August 2021 4. Juli 2022 31. Mai 2023 (OHP) 1. Juni 2023 (GP) Besuchte Vorstel‐ lungen 20.-22. August 2021 Der Ring des Nibelungen Musik. Festival. Theater 19. Juli 2022 (Pre‐ miere 9. Juli 2022) inkl. Rahmen‐ programm 7.-10. Juni 2023 Gesamter Ring-Zy‐ klus inkl. Rahmen‐ programm - Post Aufführung Persönliches Rück‐ blick-Gespräch mit Leitung des Kollek‐ tivs - Anwesenheit bei einer virtuellen Feedback-Runde der künstlerisch Betei‐ ligten Tab. 1: Übersicht der Probenbesuche 86 Ulrike Hartung <?page no="87"?> 38 Das Programm gestalteten u. a. Theater Thikwa, der Rap-Artist Black Cracker, die BigBand Omniversal Earkestra und die Wrestler: innen von Project Nova Wrestling. Vgl. Glanzundkrawall 2021. 39 Glanzundkrawall 2021. 5 Die Auswahl der Produktionen Die Auswahl der exemplarischen Produktionen erfolgte mit der Intention, ein möglichst breites Spektrum der Produktionszusammenhänge von Musiktheater im Allgemeinen und Wagners Ring im Besonderen zu umfassen. Insofern fiel die Wahl auf eine Produktion eines freien Musiktheater-Kollektivs (glanz&krawall, Berlin is not am Ring: BINAR), eine Produktion eines öffentlich getragenen Hauses, die allerdings kooperierend mit freien Künstler: innen und den Stoff stark komprimierend vorging (Staatstheater Kassel, Temple of Alternative Histo‐ ries, Ein interdisziplinäres Projekt von Anna Rún Tryggvadóttir und Thorleifur Örn Arnarsson: TOAH) sowie eine spartenübergreifende Produktion aller Teile der Tetralogie ebenfalls an einem öffentlich getragenen Opernhaus, allerdings unter Verwendung von internen künstlerischen Ressourcen bzw. mit langjährig Vertrauten des Hauses (Staatstheater Braunschweig, Die Ausweitung des Ring‐ gebiets: DADR). Es folgt zunächst ein sehr kurzer Überblick über die inhaltliche Stoßrichtung sowie den jeweiligen formalen Aufbau der ausgewählten Produk‐ tionen in chronologischer Reihenfolge der Probenbzw. Aufführungsbesuche. 5.1 glanz&krawall - Berlin is not am Ring Bei dieser Produktion handelte sich um einen Teil einer festivalartigen Bespielung des Geländes der FAHRBEREITSCHAFT Berlin-Lichtenberg, die ein Wochenende andauerte und unter Beteiligung verschiedener Kollektive und Künstler: innen-Gruppen und -Initiativen 38 durchgeführt wurde. Der von glanz&krawall aufgeführte Ring des Nibelungen bestand aus einer nummernar‐ tigen Aneinanderreihung kurzer Szenen mit Musik und Gesang, vergleichbar eher mit einer Revue als mit einer herkömmlichen Opernaufführung. Wenn‐ gleich die Performer: innen in den Szenen immer wieder neue Charaktere ver‐ körperten, kehrten einige doch zu den Kernfiguren des Stoffes wie Wotan oder Brünnhilde zurück. Die zentralen Fragen der Performance betrafen unter an‐ derem, „wie es um die Musik- und Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts bestellt ist. Welchen Mechanismen von Macht, Ausbeutung und dem Zu-Markte-Tragen von Kunst sind wir ausgeliefert - und welche radikalen Ideen der Befreiung lassen sich aus Wagners Opern-Tetralogie über die große Gier gewinnen? “ 39 Die Proben eröffneten einen breiten Horizont aus zahlreichen (pop-)kulturellen „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 87 <?page no="88"?> 40 Richard Wagner, Götterdämmerung, dritter Aufzug, erste Szene. Verweisen, aus denen das Kollektiv die Inspiration in der Annäherung an diese Fragestellungen zog. Sie erstreckten sich von Thomas Vinterbergs Film Das Fest, der sich mit sexuellem Kindesmissbrauch in der Familie beschäftigt, über die RTL-Erziehungsshow „Die Super-Nanny“, den Dokumentarfilm Grey Gardens über exzentrische und verarmte Verwandte der Kennedy-Familie bis zur Benefizkonzert-Reihe „Pavarotti & Friends“ und zur Samstagabendshow „Wetten, dass …? “. Thematische Verweise schlossen Ulrike Meinhofs „Kinder‐ ziehung ist immer politisch“ ebenso ein wie Kapitalismuskritik im Kontext bürgerlicher Selbstverwirklichung im Eigenheim via Schwäbisch Hall’schem Bausparvertrag. Eine ähnliche Vielfalt zeigte sich in der Wahl der zitierten mu‐ sikalischen Gattungen und Stilrichtungen: Eine vom russischen feministischen Punk-Kollektiv Pussyriot inspirierte Version des Rheintöchter-Spottgesangs über Siegfried „So schön! / So stark! / So gehrenswert! / Wie schade, dass er geizig ist! “ 40 folgte beispielsweise einem Nibelheim-Gangster-Rap von „AlberRitch“. Alle Produktionen des Festivals waren davon geprägt, sich grundlegend am Charakter des ‚Übergroßen‘ von Wagners Ring abzuarbeiten. Musikalisch wie inhaltlich ist der Umgang mit dem zugrundeliegenden Stoff stark dekonstruie‐ rend, ironisierend und sich intensiv an seiner Aufführungsgeschichte reibend. Sie suchen aber durchaus das Spektakuläre und Mitreißende, das Wagners Œuvre gleichermaßen zugeschrieben wird. Dabei stellen sie ihre Gemachtheit und ihre Improvisiertheit geradezu aus und in den Vordergrund und brechen mit jeder naturalistischen Illusion (die sie im Kontext der hochgradigen Arti‐ fizialität der Oper als ohnehin fragwürdigen Anspruch diskutieren) und den Konventionen von Opulenz und getragener Ernsthaftigkeit. Die Brüchigkeit in der theatralen Illusion zeigt sich besonders anschaulich in der Integration von Wrestling, die die Oper als Entertainment- oder Showsportart inszeniert und über die intensiven Körperpraktiken Parallelen zwischen Musiktheater und populären Unterhaltungskulturen dieser Art herstellt. Die Erarbeitung der Produktion Der Ring des Nibelungen in den Proben zeigte jedenfalls eine sehr freie und gerade zu Beginn stark assoziative Herangehens‐ weise. Nach der gemeinsamen Lektüre z. B. des Librettos oder von Metatexten wie „Rein Gold“ von Elfriede Jelinek wurde szenisch wie musikalisch impro‐ visiert und mit spielerischen Ideen experimentiert. Hatte das Leitungsteam sich einmal für eine ‚Nummer‘ - damit konnte im Kern eine Stilistik, ein Text oder ein musikalisches Versatzstück gemeint sein - entschieden, wurde daran weitergearbeitet, sie buchstäblich er-arbeitet. Dabei bestand immer die Möglichkeit, sie zu verwerfen und sich dem Kern der Nummer anders zu nähern 88 Ulrike Hartung <?page no="89"?> bzw. zu widmen. Dabei spielten theaterpraktische Umstände zumeist eine wesentliche Rolle. Erdacht war das Konzept ursprünglich für Performer: innen sowie für zusätzliche Musiker: innen einer begleitenden Band. Da die erhaltenen Fördermittel allerdings nur eine: n Musiker: in finanziell zuließen, ‚mussten‘ gewissermaßen die Performer: innen das Musizieren mit übernehmen. Insofern erforderten die Umstände eine äußerst pragmatische Herangehensweise an die Erarbeitung der Performance innerhalb der Proben. Aus diesem Kontext stammt auch das titelgebende Zitat dieses Beitrags, das in der Erarbeitung und Einstu‐ dierung einer musikalischen Passage tatsächlich als Anweisung fiel und das hier diese Brechungen wie auch die Vielfalt der Bezüge veranschaulichen soll. Im Bestreben, das Fehlen einer Band von Anfang an nicht als umstandsbedingten Mangel spürbar werden zu lassen, wurde es kurzerhand zum ästhetischen Prinzip erklärt und inszenatorisch ins Zentrum der Aufführung gestellt. Die Proben bestanden über die Textarbeit hinaus überwiegend in der Erarbeitung und Einstudierung der musikalischen Nummern von Performer: innen mit sehr unterschiedlichen Musiktheater-Erfahrungshorizonten, so dass diese Proben‐ arbeit wesentlich abhängig davon war, welche Performer: innen Noten lesen konnten oder im Singen trainiert bzw. ausgebildet waren. Es wurden bspw. Chor-Passagen mit Aufnahmegeräten mitgeschnitten, damit diejenigen, denen das Singen im jeweiligen Modus schwerer fiel, auf der Grundlage des Mitschnitts zuhause allein weiter üben konnten. Die Probenarbeit verlief weitestgehend in sehr flachen Hierarchien und war von einem scheinbar unerschütterlichen Pragmatismus geprägt, der kontinu‐ ierlich danach strebte, vermeintliche Mängel in künstlerisches Potenzial zu verwandeln. Dieses Bestreben führte nicht immer zu für die Beteiligten zufrie‐ denstellenden Ergebnissen, diese wurden letztlich aber als aus den Umständen erwachsende notwendige Kompromisse akzeptiert und künstlerisch integriert. 5.2 Thorleifur Örn Arnarsson et al. - Temple of Alternative Histories Die Gesamt-Produktion Temple of Alternative Histories, „Eine transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, den Darstellenden und Bildenden Künsten und der breiten Öffentlichkeit“, bestand aus drei separaten Elementen: Temple of Materialised Histories, eine „Immersive Kunstinstallation mit kineti‐ schen Skulpturen und Klangkunst zwischen Gegenwart und Vergangenheit“ im Foyer des Opernhauses; Temple of Emerging Histories, „Interaktive öffentliche Workshops, geführte Sinneserfahrungen und interdisziplinäre Gespräche über neue Formen der Zukunft“; und Temple of Appropriated Histories, eine „Inter‐ disziplinäre Bühneninszenierung, die kulturelle Einflüsse und geschichtliche „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 89 <?page no="90"?> 41 Vgl. Programmheft. 42 Universität Kassel 2022. 43 Thorleifur Örn Arnarsson in UKTDIALOGE: Runder Tisch für Mitwirkende und Interessierte; 25. Januar 2022, 16: 00 Uhr. 44 Titel der Szenen, vgl. Programmheft zur Produktion, o. P. Referenzen zerlegt, über vergangene und zukünftige Zeiten der Katastrophe reflektiert und den Akt der Katharsis hinterfragt“. 41 Die Proben zur letztge‐ nannten Bühnenproduktion wurden ethnografisch begleitet. TOAH verstehen Arnarsson und sein Team als 5. Teil des Rings, der im Anschluss an die Tetralogie schließlich ein konkretes Moment von Katharsis ermöglichen soll, indem er die wesentlichen politischen sozialen Fragen unserer Zeit reflektiere. 42 Während einer der ersten Dialogveranstaltungen im Rahmen von Temple of Emerging Histories sprach Arnarsson zudem auch vom zentralen Ziel, diese Form der Zeitgenossenschaft über ein Aufbrechen des regulären Proben- und Produktionsprozesses am öffentlich getragenen Theater erreichen zu wollen. Mit ‚Tempel‘ ist nicht zuletzt auch das Staatstheater selbst und sein Apparat gemeint, in dem dem Genie und seinem Schaffen gehuldigt werde und für den alternative Geschichte(n) geschrieben werden soll(en). Ihm als Regisseur gehe es unbedingt um gesellschaftliche Anbindung und er wolle mit dieser Arbeit in seinem erweiterten Rahmen einen vorhandenen „disconnect“ zwischen den Menschen, aber auch zwischen ihnen und der sie umgebenden Natur adressieren. Dafür sei Wagners Ring der „perfect place to visit structural ques‐ tions we face today“. Es gehe zudem um einen Übersetzungsprozess „to bring modern day science into artistic context“, für den sich dieses Stück besonders gut eigne: Wagners Ring sei für Arnarsson in seiner isländischen Erziehung sehr präsent gewesen und hätte sich immer wieder als Möglichkeit zu einem „retrospective view in time“ erwiesen. Das Mittel dafür sei eine Aneignung („appropriation“) der Aneignungen Wagners und damit eine Aneignung auf (mindestens) zweiter Stufe: Wagners Stück sei ein Flickwerk collagiert aus Versatzstücken unterschiedlichster Provenienz (z. B. der nordische Mythos Edda), demzufolge bedient Arnarsson sich bei Wagner und versucht diesem nicht unähnlich, neben externen Künstler: innen wie Tryggvadóttir auch alle Sparten des Kasseler Staatstheaters und ihre Expertisen sowie die ortsansässiger Wissenschaftler: innen dafür ins musiktheatrale Boot zu holen. Er versteht TOAH als „communal project“ 43 , das sich den brennenden Fragen unserer Zeit stellen und diese diskutieren möchte. Die „Bühneninszenierung“ stellt in diesem Sinne in fünf szenischen Teilen die entscheidenden Fragen nach den Zusammenhängen von „Mensch und Natur“, „industrieller Revolution“, „Utopie“, „Krieg und Terror“ 44 : Diese bringen Teile von Wagners Komposition, 90 Ulrike Hartung <?page no="91"?> die mit elektronischen Klängen des Soundartists Sam Slater arrangiert wurden, zusammen mit Texten der beteiligten Künstler: innen, die sich vor allem mit zeitpolitischen Diskursen beschäftigen, historische Zusammenhänge zitieren oder aus den Biografien der Künstler: innen selbst erzählen. Diese Dekonstruk‐ tion mit beinahe allen Mitteln, die einem deutschen Staatstheater zur Verfügung stehen, greift nicht nur die gesellschaftskritischen Subtexte ihrer Vorlage auf, sondern bewegt sich vor allem in einem Spannungsfeld zwischen Reibung bzw. Ablehnung alles Wagner’sch Monumentalistischen, das dem Stück immanent ist, und einem Versuch, eine eigene monumentale Ästhetik mit vergleichbarem Überwältigungspotenzial zu erzeugen. Auch in dieser Produktion wurden über längere Phasen Ideen und Inspira‐ tionen gesammelt, u. a. über die Lektüre verschiedenster Textsorten (z. B. Goe‐ thes Faust, Poes Der Rabe, aber auch Zeitungsartikel und Sachbücher zum Klima‐ wandel), Spiele (wie Dungeons & Dragons), Musik, Filme und Videomitschnitte anderer Theaterarbeiten. Arnarsson referierte wiederholt und mit großer Dring‐ lichkeit über die unterschiedlichen Hintergründe seiner Motivation, sich auf diese Weise mit dem vorliegenden Stoff auseinanderzusetzen. Zudem wurden Solist: innen (der Oper und des Schauspiels) wie auch Tänzer: innen des Ensem‐ bles dazu eingeladen bzw. aufgefordert, nach einem Workshop-Tag mit den künstlerisch Leitenden kleine szenische Ideen zu entwickeln, die wiederum in mehreren Workshops einander gezeigt und vorgeführt wurden. Arnarsson schuf dafür ein zumindest aus der Beobachterinnen-Perspektive aufgeschlossenes, sicheres und vor allem zugewandtes Klima, das den Performenden viel Raum für Vorschläge bot und gerade auch Experimente in unterschiedlichen Ausdrucks‐ formen ermöglichte. In bemerkenswerter Weise entwickelte er konstruktive Verbindungen auch zwischen den formal und/ oder inhaltlich vermeintlich am weitesten auseinander liegenden Beiträgen und akkumulierte so riesige, kaum zu überblickende Materialmengen. Dieses Klima des Austauschs und der Beteili‐ gung stand ganz wesentlich im Mittelpunkt der Probenarbeit, wenngleich in die Produktion selbst nur noch wenige der eingebrachten Ideen einflossen. Dieser ungewohnte Fokus führte jedoch auch zu Irritationen: Zu bereits fortgeschrit‐ tener Probenzeit machte sich eine gewisse Unruhe unter den Performer: innen - insbesondere den Tänzer: innen - breit, weil dieses assoziative Sammeln von Ideen für ihre Bedürfnisse zu lang keine konkrete Umsetzung in szenische Zusammenhänge erfuhr. Auch in der Zusammenarbeit mit für die Produktion neuralgischen Punkten des Hauses kam es deshalb immer wieder zu Reibung. Jede Abweichung von konventionalisierten Abläufen erzeugte z. B. bei den ohnehin an ihren Auslastungsgrenzen arbeitenden Gewerken meist Mehrarbeit und damit auch Unmut, der kommunikativ nicht in Gänze abgefangen werden „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 91 <?page no="92"?> 45 So Intendantin Dagmar Schlingmann in einer Vorbesprechung der Produktion am 27. Mai 2021. 46 Staatstheater Braunschweig 2022/ 23: 11. 47 Staatstheater Braunschweig 2023. 48 Pressekonferenz Staatstheater Braunschweig, 9. Februar 2022. 49 Die wohl bekannteste Produktion lief in Stuttgart in der Intendanz von Klaus Zehelein, als man 1999/ 2000 die Inszenierung der Teile an Joachim Schlömer, Christoph Nel, Jossi Wieler und Peter Konwitschny vergab; zuletzt 2016/ 17 in Karlsruhe, als David Hermann, Yuval Sharon, Thorleifur Örn Arnarsson und Tobias Kratzer die einzelnen Abende unabhängig voneinander inszenierten. konnte. Einige Ideen, Vorhaben wie auch ein Teil des großen gemeinschaftss‐ tiftenden Potenzials für das Staatstheater insgesamt fielen so dieser Reibung zum Opfer und führten schließlich zu kompromissbehafteten Ergebnissen. Der ursprünglich anvisierte große Rahmen von TOAH erwies sich schließlich als nur teilweise umsetzbar und wurde in kleineren Rahmungen verwirklicht. 5.3 Staatstheater Braunschweig - Die Ausweitung des Ringgebiets Dieses ebenfalls spartenübergreifend erarbeitete Projekt war der Versuch, einem Bedürfnis nach einem das gesamte Haus beteiligenden „Wagnis“ 45 nach‐ zukommen, das durch interne Transformationsprozesse angestoßen worden war und deren theaterpraktische Erprobung man in diesem Ring sah: Bei DADR handelte sich um ein innerhalb von 13 Tagen stattfindendes vielseitiges Programm weit über zwei Aufführungszyklen der vier Abende des Ring des Nibelungen hinaus, in dessen Titel bereits ein lokales Wortspiel steckt: Er nimmt u. a. konkret Bezug auf die Braunschweiger Stadtteile östliches und westliches Ringgebiet und trägt den Wunsch nach einer engeren Beziehung zur städtischen Bevölkerung - zur im Diskurs omnipräsenten sogenannten Stadtgesellschaft - bereits in sich. Das Haus hatte nichts weniger als eine Variante des Rings im Sinn, wie es „noch kein Theater zuvor versucht hat“ 46 . Diese Idee wuchs sich zum Mittelpunkt einer gesamten Spielzeit unter Beteiligung aller Sparten aus, die auch hier nicht nur theaterpraktisch enorme Ausmaße annehmen wollte, sondern von der man sich vor allem ein „gewaltige[s] utopische[s] Potenzial“ 47 versprach: Kollektives Arbeiten an einem Staatstheater über Spartengrenzen hinweg war die große, zu erprobende Utopie. Es „geht also nicht mehr um eine Synthese der Künste zu einem Gesamtkunstwerk, sondern um die Gebrochen‐ heit und Heterogenität als Modell einer Gesellschaft in Transformation.“ 48 Dabei konnte es nicht bei der Verteilung der Abende an unterschiedliche Regieteams bleiben - nicht zuletzt weil das an anderen Häusern bereits mehrfach praktiziert worden war; 49 ein lediglich separierter Umgang wäre auch das Gegenteil 92 Ulrike Hartung <?page no="93"?> 50 Beatrice Müller, Isabel Ostermann, Dagmar Schlingmann, Gregor Zöllig. 51 Julia Burkhardt, Hank Irwin Kittel, Sabine Mäder, Stephan von Wedel. von kollektivem, spartenübergreifendem Arbeiten gewesen. Daher wurden Rheingold, Walküre und Siegfried federführend von jeweils einer Sparte (unter beteiligender Mitwirkung anderer Sparten) erarbeitet, um Götterdämmerung gemeinsam inszenatorisch zu verantworten und viele der in den Abenden zuvor erarbeiteten Elemente zusammenzubringen. In einem komplexen Prozess wurde Götterdämmerung nach dramaturgischen Gesichtspunkten zerlegt und erzählerische wie musikalische Bögen wurden eruiert, für die sich wiederum aus dem vierköpfigen Regieteam 50 individuelle Verantwortlichkeiten herausbil‐ deten. Parallel dazu entwickelte ein kollektives Ausstattungsteam 51 Räume, Kostüme und Requisiten, die sich nicht nur durch alle vier Abende zogen, sondern sich ebenfalls im begleitenden Rahmenprogramm wiederfinden ließen. Die Setzung einer unangetasteten Komposition inkl. Ausführung durch Chor und Orchester sowie eine stimmfach-adäquate Sänger: innen-Besetzung in Göt‐ terdämmerung stellt allerdings bereits einen strukturell begründeten, aber auch in den Proben mehrfach formulierten und problematisierten Kompromiss dar, der die ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten von vornherein stark eingrenzte. So ergab sich automatisch ein großes Gewicht auf der Musiktheatersparte, ihren Anforderungen und Abläufen, wodurch sich bereits hier das Vorhaben von gleichberechtigter Kollektivität nicht mehr vollumfänglich realisieren ließ. Innerhalb dieses gesetzten Rahmens war allerdings eine große Motivation und Persistenz der künstlerischen Teams zu beobachten, das „Wagnis“ ernst zu nehmen und sich alternativen Arbeitsweisen zuzuwenden, die sich stark von den hochgradig reglementierten und ihrerseits lange eingeübten Produktions‐ prozessen eines Staatstheaters unterschieden. Bereits die Verantwortlichkeit mehrerer künstlerisch Leitender, die normalerweise allein agieren - und damit auch entscheiden - und deren Arbeitsweise sich entsprechend der jeweiligen Spartenzugehörigkeit massiv unterscheidet, führte erzwungenermaßen zu ver‐ änderten Wegen der Gestaltungsfindung. Wenn der Direktor des Tanzensembles gemeinsam mit der Intendantin die szenische Umsetzung eines Abschnitts erarbeitet, erzeugt ein ungleich höheres Maß an künstlerischen Ideen einen kommunikativen Mehraufwand durch ungewohnte, aber oftmals als durchaus produktiv empfundene Aushandlungsprozesse der beiden Leitenden. Kollektive künstlerische Entscheidungen zu treffen, erforderte enorme kom‐ munikative Transferleistungen, für die insbesondere viele der dem Haus lang verbundenen Beteiligten große Energien aufbrachten; die umgekehrt aller‐ dings zum Teil bei Beteiligten mit Gast-Engagement wenn nicht zu Verweige‐ „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 93 <?page no="94"?> rungshaltung, so doch zu massiver Reibung führten. Gerade die beteiligten Sänger: innen zeigten ein breites Spektrum an unterschiedlichen Haltungen zu diesem Versuch des Bruchs mit herkömmlichen Arbeitsweisen, der punktuell zu beeindruckenden Momenten der Synthese der Sparten-Expertisen in der Erarbeitung von (Musik-)Theater führte, ebenso aber auch auf Dissonanz und Widerstände traf. Insofern schien auch diese Produktion insbesondere in der Götterdämmerung stärker von Kompromissen geprägt, als sie ohnehin bereits in einem so hochkomplexen künstlerischen Zusammenhang wie Musiktheater notwendig sind. Die lange und intensive Arbeit daran wurde allerdings von vielen Beteiligten als produktiv und konstruktiv für die angestoßenen hausin‐ ternen strukturellen Transformationsprozesse beschrieben, deren Dringlichkeit gerade in den dysfunktionalen Momenten als besonders groß empfunden wurde, und die über diese Produktion hinaus weiter verfolgt werden sollen. 6 Thesen und Beobachtungen Von den beschriebenen Produktionen und ihren Proben ließe sich wesentlich detaillierter berichten, doch um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, möchte ich die zentralen Erkenntnisse in einigen Thesen und Beobachtungen zusammenführen, die sich aus dem Versuch, probenethnografische Feldfor‐ schung für das Musiktheater fruchtbar zu machen, ergaben. Sie stehen zur Diskussion, beanspruchen keine Form von Allgemeingültigkeit und sollen einem Nachdenken über Musiktheater als zeitgenössische kulturelle Praxis neue Perspektiven und Anknüpfungspunkte liefern. Wagner geht selten ‚klein‘. Wenngleich die Produktionszusammenhänge (wie auch die ästhetischen Vor‐ stellungen ohnehin) sehr divergent sind, gibt es doch eine starke Rahmung im Umgang mit dem Material, die alle drei Produktionen gemeinsam haben: Sie betten ihre Version von Wagners Ring in breitere Kontexte ein, die deutlich über den Aufführungszusammenhang hinausweisen. Wo BINAR und DADR regelrechte Festivals veranstalten, rahmt auch TOAH die Aufführung durch eine angegliederte Ausstellung und sucht die Auseinandersetzung mit dem Publikum, der Stadt und Wissenschaftler: innen der lokalen Universität. Der immanenten Monumentalität des Stücks konnte sich keine der begleiteten Produktionen gänzlich entziehen - unabhängig davon, wie affirmativ oder dekonstruierend der Umgang damit war. Der schiere Umfang von Wagners Ring, seine enorme Themenvielfalt und die damit verbundenen Anknüpfungs‐ 94 Ulrike Hartung <?page no="95"?> möglichkeiten scheinen dazu zu ‚verleiten‘, ihn selbst im (z. B. finanziell) Kleinen groß zu denken. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ring-Stoff unterscheidet sich keineswegs so stark voneinander wie die Produktionsbedingungen. Alle drei Produktionen befassen sich intensiv mit drei Themengebieten des Stoffs: 1. mit Ökonomie bzw. Geld und dessen Macht im Kapitalismus; 2. mit Ökologie und einem angenommenen Naturzustand der Erde bzw. dessen Verlust durch vielfältige Krisen wie den Klimawandel und 3. mit familiären Verstrickungen und assoziierten Themen wie Inzest und intergenerationale Ver‐ erbung, etwa von Traumata. Wie ausufernd und ausladend die Themenvielfalt im Ring vielleicht auch empfunden werden mag: Diese drei Themenkomplexe scheinen für eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Stoff von großer Relevanz zu sein. Dazu gehören ebenfalls die Intersektionen dieser Komplexe wie die Darstellung der Auswirkungen globaler turbokapitalistischer Verwer‐ tungslogiken als Treiber von Umweltzerstörung. Die Abarbeitung speziell an diesen Themen ist nicht per se neu und ein Blick in die Aufführungsge‐ schichte des Stücks zeigt etliche zeitspezifische Variationen dieser Themen. Eine intensive Betrachtung dieser langen Aufführungsgeschichte und ihrer unterschiedlichen ‚Lösungsansätze‘ zum Beispiel für dramaturgisch schwierige Passagen im Stück war allerdings in der Probenarbeit zu den drei Produktionen nicht zu beobachten. Dennoch ergaben sich unabhängig voneinander oder von anderen konkreten Vorbildern große inhaltliche Schnittmengen, die allerdings in gänzlich unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksweisen auf die Bühne gebracht wurden. Der enge Zusammenhang von Struktur und Ästhetik zeigt sich an diesem Punkt vielleicht am deutlichsten: Die massiv voneinander abweichenden Arbeitsweisen und Bedingungen der Produktion führen trotz großer inhaltlicher Überschneidungen dennoch zu verschiedenen Ergebnissen. Die als Frage formulierte Schlussfolgerung wäre also: Ist die Struktur einer Produktion zeitgenössischer Musiktheaterpraxis von größerer Bedeutung (nicht nur) für das Endergebnis als ihre konkreten Inhalte? Wenn dem so ist, macht dies ein Nachdenken über vorhandene Strukturen und ihre Potenziale nicht umso dringlicher? Zeit ist ein rares Gut, von dem alle meinen, es nie genug zu haben. Die veranschlagte Zeit zur Erarbeitung einer Bühnenproduktion wird nie als ausreichend empfunden, unabhängig davon, ob die Probenzeit zwei Wochen oder zwei Jahre umfasst. Dabei wird bei der Beobachtung von Proben offenbar, dass die zur Verfügung stehende Zeit keineswegs immer gleich effizient genutzt „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 95 <?page no="96"?> 52 Für diese bildhafte Formulierung danke ich Miron Hakenbeck. wird. In allen Proben zeigte sich, dass zu Beginn eher frei und großzügig mit der vorhandenen Zeit umgegangen wird; je näher das Ende der Probenzeit rückt, umso intensiver, man könnte auch sagen konzentrierter erscheinen die Arbeitsabläufe. Dies ließ sich unabhängig von Produktionszusammenhang und Probendauer in allen Produktionen beobachten. In diesen Phasen höherer Konzentration wurde dann meist mit großer Professionalität und in Kenntnis dessen gearbeitet, was der jeweilige Probenprozess erforderte, um zum Ziel - einem mehr oder weniger fixen Szenario für eine wiederholbare Aufführung - zu kommen. Der Anteil der Zeit, in der dies tatsächlich geschieht, steigt proportional mit der verstrichenen Probenzeit, sodass sich diese Phasen in den Endproben extrem verdichten. Hier zeigt sich, wie stark Proben tatsächlich soziale Kontexte sind, die zu ihrer Etablierung Zeit beanspruchen und zwar scheinbar relativ gesehen zur insgesamt zur Verfügung stehenden Probenzeit: Je kürzer der veranschlagte Probenzeitraum insgesamt ist, umso weniger Zeit wird für diese Etablierung beansprucht bzw. zugelassen. In der Beobachtung dieser spezifischen Zeitökonomie stellt sich die Frage danach, wo der Kern künstle‐ rischen Arbeitens zu suchen wäre: in der Phase des Sammelns und lockeren Ausprobierens von ersten Ideen zu Beginn oder in der Konzentration einer finalen Fixierung des Szenarios am Ende der Probenzeit? Eine Frage, die sich wenn überhaupt nur für den individuellen Produktionskontext beantworten lässt. Ein Bewusstmachen dieser Ökonomie und ein daraus resultierender gestalterischer Umgang damit könnte allerdings zu veränderten Arbeitsweisen und entsprechend anderen ästhetischen Produkten führen. Prozessuales Arbeiten ist mit den Anforderungen eines Opernbetriebs nicht vereinbar. Eine kurze Szene aus einem Abstimmungstreffen zwischen Bühnentechnik und Regie kann diesen Sachverhalt am besten verdeutlichen. Auf die Frage des Bühnenmeisters „Wer ist wann wo? “ lautete die Antwort der Regie: „Alle sind immer überall.“ Work in progress, wie es an beiden Staatstheatern versucht worden ist, also u. a. das Finden und Erarbeiten szenischer Ideen im Moment der Probe im Gegensatz zum Umsetzen eines bereits vor Probenbeginn vorliegenden Regiekonzepts, ist mit dem zugrundeliegenden Apparat, der auf eben dieses Umsetzen ausgerichtet ist - ja sein muss, da er ansonsten den hohen Anforde‐ rungen an einen Repertoirebetrieb kaum gerecht werden kann - unmöglich. Ein Opernhaus als „komplexer Verschiebebahnhof “ 52 benötigt klare und fixierte Abläufe, insbesondere dann, wenn - wie in den meisten Fällen - der Apparat 96 Ulrike Hartung <?page no="97"?> überlastet ist und ggf. zusätzlich erschwerend mit dünner Personaldecke durch Fachkräftemangel zu kämpfen hat. Sollen diese Abläufe allerdings in Proben erst erarbeitet werden, greifen die Räder des Getriebes nicht mehr ineinander und es kommt zu Spannungen, Unterbrechungen und Widerständen. Spartenübergreifendes Arbeiten, noch dazu in kollektiven Entscheidungsfin‐ dungsprozessen, verlangt aufgrund der fehlender Routine in diesen Arbeits‐ weisen und der einzukalkulierenden Unberechenbarkeit dessen, was bei Proben erarbeitet wird, mehr Flexibilität, als es Staatstheater unter den aktuellen kul‐ turpolitischen Anforderungen und nicht zuletzt im eigenen Selbstverständnis als Einrichtung kultureller Bildung leisten können. Sie sind letztlich auf eine bestimmte Arbeitsweise nicht nur ausgerichtet, sondern regelrecht dafür opti‐ miert. In dieser Professionalität und Routine liegt auch eine Qualität, für die die Opernlandschaft im deutschsprachigen Raum international Anerkennung findet und Bewunderung erntet. Die Frage nach einer Diversifizierung von Pro‐ duktionsstrukturen und Arbeitsweisen an diesen Häusern stellt sich allerdings durchaus auch - nicht zuletzt angesichts der beschriebenen Versuche, diese Routinen wenn nicht zu brechen, so doch zumindest zu öffnen. Sie stellt sich ebenfalls in Hinblick auf die großen von diesen Strukturen gebundenen Mittel und Ressourcen, die in krasser Diskrepanz dazu stehen, welche Möglichkeiten sich Künstler: innen außerhalb dieser Strukturen bieten. Diversifizierung ist dabei ausdrücklich nicht als Terminus technicus auf Optimierung ausgerichteter neoliberaler Verwertungslogiken zu verstehen, sondern als Strategie, diese Strukturen den vielfältigen Bedarfen zeitgenössischer künstlerischer Produkti‐ onsweisen zu öffnen. Nicht alle sprechen dieselbe ‚Sprache‘. In jedem größeren viele Menschen und Energien bindenden Unterfangen, wie es Musiktheaterproduktionen zumeist sind, ist die Bedeutung von Kommunikation kaum zu überschätzen. Unterschiedliche Begriffe bzw. verschiedene Defini‐ tionen desselben Begriffs führen häufig zu Misskommunikation. Deren Auswir‐ kungen auf den Arbeitsprozess bewegen sich in einem Spektrum von unbedeu‐ tend bis fundamental. Ein Beispiel soll dies kurz veranschaulichen: Die Leitung eines Hauses fragt nach einem Termin für einen ersten „Durchlauf “. Die Regie antwortet darauf schulterzuckend: „Das kann ich nicht sagen, denn ich arbeite so nicht. Durchlauf - das ist nicht mein Begriff.“ So werden für Kommunikations‐ leerstellen wie diese das künstlerische Betriebsbüro oder auch Dramaturg: innen zu Vermittlungsinstanzen und extrem wichtigen kommunikativen Schaltstellen für Übersetzungsprozesse. Es können aber auch künstlerische Positionen als brückenbauende Instanzen wirken: So war der Sänger und Schauspieler Hubert „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 97 <?page no="98"?> Wild - zufällig oder ganz und gar nicht zufällig - sowohl für TOAH als auch für Die Walküren im Rahmen von DADR als Gast engagiert: Sein buchstäbliches Formwandeln zwischen Schauspielperformance und (Opern-)Gesang repräsen‐ tiert gewissermaßen einen ‚Prototypen‘ für spartenübergreifendes Produzieren. Er ist also einer, der ‚beides‘ kann und das auf ähnlichem Niveau und in gleich‐ artiger Professionalität. Seine Möglichkeiten kommunikativer Vermittlung für z. B. singende Tänzer: innen und Schauspieler: innen sowie für tanzende und über das üblich Maß hinaus performende Sänger: innen - also überall da, wo die verschiedenen Spartenangehörigen gerade nicht das tun, worauf sie spezialisiert sind, sondern andere Mittel des Ausdrucks verwenden (müssen) - erscheinen als enorm wertvoll, weil er sozusagen mehrere ‚Sprachen‘ spricht und in der Übersetzung weniger verloren geht. Spartenübergreifendes oder spartenloses, aber auch kooperierendes Arbeiten scheint auf Kommunikator: innen in diesem Sinne unbedingt angewiesen zu sein. Der genannte Performer ist dafür nur ein Beispiel. Der Einsatz von ‚Übersetzer: innen‘ in diesem Sinne könnte sowohl generell die Spartenangehörigen für die jeweilige andere Arbeitsweise sensibili‐ sieren und deren Potenziale öffnen; er könnte aber auch Reibungsverluste durch Misskommunikation verhindern und so zu für alle Beteiligten befriedigenderen Ergebnissen führen. Die Arbeit für und im Musiktheater ist stark kompromissbehaftet. Ein Großteil der künstlerisch Arbeitenden betrachtete die Ergebnisse ihrer Arbeit sehr kritisch: Dass einige davon wenig zufriedenstellende Resultate von (notwendigen? ) Kompromissen sind, taucht in allen Produktionszusam‐ menhängen auf. Es gibt die verbreitete Einsicht, dass man allerdings nur so zu einem produktiven Abschluss in der Probenarbeit kommt. Das Gefühl, den eigenen Ansprüchen und damit verbunden den eigenen künstlerischen Ideen nicht gerecht werden zu können, scheint Teil des Musiktheateralltags zu sein. Es scheint umso weniger von Bedeutung, je geringer die Diskre‐ panz zwischen dem ist, was vor Probenbeginn erdacht wurde und dem, was sich schließlich in der Produktion wiederfindet. Lediglich die Ursachen für Kompromisse unterscheiden sich nach Produktionszusammenhang. Während im Verlaufe der freien Produktion Kompromisse nahezu ausschließlich aus Mangel an finanziellen Mitteln erforderlich werden, sind es sowohl in der kooperativen als auch der staatstheaterinternen Produktion überwiegend die zugrundeliegenden Strukturen, die Kompromisse erforderlich machen. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die künstlerische Arbeit generell von allen immer als unbefriedigend empfunden wird. Vielmehr beschreiben einige diesen Zusammenhang auch als Motor, weiterhin künstlerisch zu arbeiten und 98 Ulrike Hartung <?page no="99"?> 53 Z.B. Lohengrin, Theater Augsburg 2013/ 14, Edda, Schauspiel Hannover 2017/ 18, Parsifal, Staatsoper Hannover 2023/ 24; ‚gekrönt‘ wird diese anhaltende Beschäftigung mit der Inszenierung von Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen 2024. sich nur so (für ihr Empfinden) besseren Ergebnissen zunehmend annähern zu können. Bei weitem nicht jede Entscheidung, die im Rahmen einer Produktion getroffen wird, ist eine ästhetisch begründete. In der Beobachtung eines konkreten Probenprozesses ist diese sich darin bestäti‐ gende Vorannahme erschreckend banal, für die Musiktheaterwissenschaft in der Betrachtung ihres Gegenstandes hingegen von großem Wert. Ernstgenommen führt sie zu erweiterten methodischen Ansätzen in der Untersuchung des Gegenstands und kann sich somit auch mit Fragestellungen auseinandersetzen, die nur die Untersuchung ästhetischer Produkte nicht beantworten kann. Die Motivationen, sich künstlerisch mit Wagners Ring zu beschäftigen, sind jedenfalls trotz der vielen Parallelen, die sich in der Beobachtung der Produktionen zeigen, so vielfältig wie individuell und nicht auf einen Nenner zu bringen. Auch wenn sich viele Gemeinsamkeiten bspw. in den verhandelten In‐ halten zeigen, so verweisen diese nicht zwingend auf gemeinsame übergreifende Beweggründe, sich dezidiert für dieses Stück entschieden zu haben. Während es in Braunschweig ganz wesentlich um die praktische Erprobung hausinterner Transformationsprozesse ging, war die Tetralogie für glanz&krawall vielmehr Projektions- und Reibungsfläche für eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit ihren gesellschaftspolitischen Themen als auch mit ihr als musikalisch-äs‐ thetisches wie politisch-kulturelles Phänomen selbst. Hier fielen Struktur und Ästhetik stärker zusammen. Bei TOAH hingegen schien es unterschiedliche Hintergründe seitens der Künstler: innen einerseits und des Hauses andererseits gegeben zu haben: Für Arnarsson z. B. stand vielmehr die Beschäftigung mit Wagner bzw. mit den im Stück versammelten nordischen Mythen im Vordergrund, die sich durch weite Teile des künstlerischen Schaffens von Arnarsson zieht und hier eine Weiterführung findet. 53 Für das Haus hingegen dürfte neben Arnarssons ästhetischer Handschrift selbst ein Gegenentwurf in alternativer Ästhetik zum vom Vorgänger Thomas Bockelmann übernommenen Ring-Zyklus (Regie: Markus Dietz) interessant gewesen sein, der stärker der künstlerischen Positionierung der nachfolgenden Hausleitung entspricht und als ein ästhetischer wie politischer Kommentar vor allem zu Wagner als Musik‐ theater-Phänomen gelesen werden könnte. Wenngleich es sich nicht auf die gezählten über 60 Neuproduktionen in den Spielzeiten 2019/ 20-2022/ 23 übertragen lässt, so verweisen die hier ausge‐ „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis! “ 99 <?page no="100"?> wählten Produktionen vielleicht aber doch auf ein gemeinsames spezifisches Potenzial, das über die genannten Inszenierungen selbst hinausreicht: Wag‐ ners Ring wird hier mehr als alles andere als Folie für die Erkundung und Verschaltung künstlerischer Praxisfelder verstanden, auf deren Grundlage vor allem die vorhandenen Konventionen und Logiken von Oper - der Gattung als auch des Betriebs - selbst herausgefordert werden. Die Suche nach der vielbeschworenen Grenzüberschreitung liegt hier weniger auf der Seite der Ästhetik, sondern meint im Wesentlichen eine der Struktur - natürlich nicht ohne sich ästhetisch auszuwirken. Anders gesagt: Ist es möglich, dass die Versuche der strukturellen Selbstüberschreitung als Motivation stärker wiegen als rundum überzeugende Aufführungen dieses Stoffs in seiner ‚bestmöglichen‘ Repräsentation? Zumindest in diesem Fall wäre Wagners Ring als einziges Stück seiner Größenordnung innerhalb des Repertoires vor allem hinsichtlich der Anforderungen an die produzierende Struktur eine logische und konsequente Wahl. Ob und wenn ja welche Konsequenzen diese Herausforderungen von Oper haben werden, bleibt abzuwarten. Tatsächlich ist die Dichte an künstlerischer Beschäftigung mit Wagner und mit Wagners Ring auch seit der Spielzeit 2022/ 23 unverändert hoch, so dass Folgen daraus für die zeitgenössische Opernbzw. Musiktheaterpraxis wahrscheinlicher werden. Die Betrachtung der Genese von Musiktheater-Produktionen, z.B mit den Mitteln ethnografischer Feldforschung könnte in einer weiteren Untersuchung dieser Zusammenhänge furchtbar gemacht werden. Aber auch darüber hinaus wird sie sich als ein nützliches Instrument im musiktheaterwissenschaftlichen Werkzeugkasten erweisen. Literatur Atkinson, Paul (2006). Everyday arias. An operatic ethnography. Lanham, Md.: AltaMira Press. Baur, Detlev (2023). Saisonbilanz 2022/ 23. Die deutsche Bühne 08/ 2023, 42-61. Breidenstein, Georg et al. (2013). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung (= UTB 3979). Konstanz/ München: UVK. Féral, Josette (2008). Introduction: Towards a Genetic Study of Performance - Take 2. Theatre Research International 33 (3), 223-233. Geertz, Clifford (1995). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 696). 1. Aufl. [4. Nachdr.]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Glanzundkrawall (2021). BERLIN is not AM RING. Abrufbar unter: https: / / www.glanzu ndkrawall.de/ event/ berlin-is-not-am-ring/ (Stand: 08.06.2024). 100 Ulrike Hartung <?page no="101"?> Gratzer, Wolfgang/ Lepschy, Christoph (Hrsg.) (2019). Proben-Prozesse. 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Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht Die Verurteilung des Lukullus in Stuttgart und The Decision in Birmingham Sebastian Stauss In der Geschichte des Musiktheaters ist häufig diskutiert worden und hier im Sinn von Leitfragen voranstellbar: Wie beeinflussen und durchdringen gesellschaftliche, wirtschaftliche und ästhetische Strukturen einander (im Mu‐ siktheater)? Welche Relevanz können Strukturbedingungen aus der Entste‐ hungszeit einer Partitur in aktuellen Produktionen entfalten? Und welche individuellen Unterschiede, aber auch Entsprechungen sind feststellbar, wenn solche historischen Strukturbedingungen von heutigen Musiktheaterorganisa‐ tionen unter völlig unterschiedlichen Produktionsbedingungen in einer Insze‐ nierung umgesetzt werden? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werden zwei Inszenierungen von Musiktheaterstücken desselben Textautors verglichen, der gemeinsam mit dem jeweiligen Komponisten kritisch mit bestehenden Strukturen umgegangen ist und in der Partitur Alternativen dazu vorgelegt hat, wie im Musiktheater Stücke erarbeitet und vor bzw. mit dem Publikum gespielt werden. Inwieweit ist dieses kritische Vorgehen noch persistent, wenn es mehr als ein halbes Jahrhundert später in zwei verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Organisationsstrukturen aufgegriffen wird? Institutionelle Abhängigkeiten werden künstlerisch schon seit Jahrhunderten als Hemmnis wahrgenommen, aber auch quasi als Katalysator genutzt. „Die großen Apparate, wie Oper, Schaubühne, Presse und so weiter, setzen ihre Auffassung inkognito durch. […] Es wird gesagt: dies oder das Werk sei gut; und es wird gemeint, aber nicht gesagt: gut für den Apparat.“ 1 Provokative Überlegungen wie diese von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1930 streifen eine <?page no="104"?> 2 Walgenbach/ Meyer 2008: 26. 3 Brecht 1967a: 1006. 4 Brecht 1967a: 1015. 5 Griswold 2013: 29. 6 Griswold 2013: 114ff. neo-institutionalistische Grundannahme von „Strukturangleichung zwischen der formalen Struktur einer Organisation und den institutionalisierten Erwar‐ tungen in ihrer Umwelt.“ 2 Was die Erfüllung dieser institutionellen Regeln betrifft, zieht Brecht den zumindest der (Organisations-)Logik nach gültigen Schluss, dass auch strukturelle Kritik innerhalb des gegebenen Strukturrahmens erfolgen muss: „Kunst ist Ware […]. Selbst wenn man die Oper als solche (ihre Funktion! ) zur Diskussion stellen wollte, müßte man eine Oper machen.“ 3 Noch begnügte sich Brecht an dieser Stelle mit der Option, dem bürgerlichen Publikum in der Oper einen Spiegel vorhalten zu können und mit den institu‐ tionellen Regeln zu spielen, aber den Bühnenapparat mit Sängerdarsteller: innen, Theatertechnik, Chor und Orchester unangefochten zu lassen. „Die alte Oper gibt es nicht nur deshalb noch, weil sie alt ist, sondern hauptsächlich deshalb, weil der Zustand, dem sie dient, noch immer der alte ist.“ 4 Brechts ironisch zugespitzte Bestimmung von Kunst - und damit auch von Oper - als (Unter‐ haltungs-)Ware, die innerhalb eines bestimmten Strukturrahmens („Zustand“) umgesetzt wird, fügt sich in ein marxistisches bzw. materialistisches Kulturver‐ ständnis, wie es von Wendy Griswold umrissen worden ist: „The materialist view for cultural sociology implies that religion, values, art, laws and culture are the products of material reality and that we should analyze them as such.“ 5 Von Griswold stammt auch das so einfache wie analytisch hilfreiche Theoriekonzept des culture diamond, 6 das zwischen den Polen (oder Diamantspitzen) der Produ‐ zent: innen und Rezipient: innen als social world die Dimensionen der zeitlichen und gesellschaftlichen Umstände und sozialhistorischer Differenzierungen auf der Akteur: innenebene miteinschließt. Anstatt als letzter der vier Pole Kunst oder, wie es von Griswold weiter gefasst wird, kulturelle Objekte (cultural objects) auf individuelle oder geniale Schöpfungsakte zu reduzieren, gelte es viel‐ mehr zu untersuchen, durch welche Art der Interaktion sie zustande kommen und weitere Verbreitung finden bzw. ästhetisch wahrgenommen werden. An‐ gelehnt an die rezeptionsästhetische Theorie von Hans Robert Jauß verweist Griswold dabei auf den Erwartungshorizont, der nicht nur in der Rezeption von Literatur entscheidend daran beteiligt ist, dass kulturellen Objekten Sinn und Bedeutungen zugeschrieben werden: „The concept of expectations […] offers a way to understand how any cultural object may be interpreted by 104 Sebastian Stauss <?page no="105"?> 7 Griswold 2013: 87. 8 Griswold 2013: 131f. 9 Risi 2017: 64. 10 Smith-Doerr et al 2017: 81. people with specific types of social and cultural knowledge and experience.“ 7 Aus einer institutionentheorischen Perspektive sind Sinn- und Bedeutungsver‐ schiebungen wiederum unter den institutionalisierten Erwartungen der Umwelt mit zu reflektieren, ebenso wie die Frage, inwieweit kulturelle Objekte diese Erwartungen selbst verändern können. Von wesentlicher Bedeutung sind unter diesem Gesichtspunkt die Arbeits‐ prozesse bzw. die Arbeitsstrukturen und Produktionsbedingungen und damit auch Verschiebungen im Verhältnis von Produzent: innen und Rezipient: innen. Mit ihnen im Blick greift Griswold auch den Neo-Institutionalismus als mögli‐ chen Untersuchungsansatz auf: „New institutionalism directly addresses the interpenetration of culture and structure […]. Given a certain plasticity of structure, organizations and organizational relationships mirror their institu‐ tional contexts.“ 8 Bezogen auf Musiktheater seit den Anfängen der Oper, ein‐ schließlich der Arbeitsteilung zwischen Libretto und Komposition, mag dieser Untersuchungsansatz a priori wenig überraschend oder innovativ anmuten, und noch weniger, wenn man z. B. bei der Analyse von Musiktheater ein semiotisches Verfahren verfolgt, im Rahmen dessen auch die Akteur: innen einer Aufführung als erweiterte Textebene unter „Konzentration auf Materialität und Prozesshaftigkeit“ 9 quasi mitgelesen werden. Inwieweit legen aber Musiktheater-Produktionen die Organisationsstruk‐ turen ästhetisch offen, ohne im Sinne Brechts a priori den Apparat zu bestätigen? Um bei der Verbindung zwischen Produzent: in und Rezipient: in die organisati‐ onalen Strukturen hinter den Kulissen stärker in den Blick zu rücken, bietet es sich zweifelsohne methodisch an, qualitative Aussagen beider Seiten zur Arbeit an Musiktheater als Kulturobjekt mit einzubeziehen und in Relation zueinander zu setzen. Denn dadurch eröffnen sich, gerade bei interdisziplinären Perspektiven auf organisationale und ästhetische Strukturen, Möglichkeiten, einer Form von decoupling, also Entkopplung, nachzugehen. Zumindest soweit sie in einer Begriffsrichtung (unter mehreren teilweise auch kontrovers disku‐ tierten Auslegungen des decoupling) in der neo-institutionalistischen Schule festgestellt worden ist: „discrepancies between what organizations say they do and what they actually do“. 10 Umgekehrt lässt sich Kongruenz der Aussagen und Produktion(en) institutionell gesehen als Indiz für stabile Strukturen interpre‐ tieren. Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 105 <?page no="106"?> 11 Hayner 2021. 12 Im Folgenden wird der Übersichtlichkeit halber durchgehend der deutsche Originaltitel verwendet. Im folgenden Text wird für zwei Musiktheater-Inszenierungen der Frage nachgegangen, wie Arbeitsstrukturen, die jeweils vom Produktionsteam und der Organisation bei der ausgewählten Inszenierung hervorgehoben werden, auch den Rezeptionsrahmen zum jeweiligen Stück beeinflussen. Bei der Frage nach den zeitlichen und sozialen Rahmenstrukturen, also social world nach Griswolds Modell, müssen die Transformationsprozesse zwischen der Entste‐ hungszeit im 20. Jahrhundert und den Beispielinszenierungen jüngeren Datums abgeglichen werden. Beide Male liegen Stücktexte von Bertolt Brecht zugrunde; für das von Paul Dessau komponierte Stück Die Verurteilung des Lukullus wird als erstes Beispiel die Produktion der Stuttgarter Staatsoper betrachtet, die im November 2021 ihre Premiere hatte und von Bernhard Kontarsky dirigiert sowie von Hauen und Stechen inszeniert wurde. So nennt sich das Musiktheaterkollektiv, das die Regisseurinnen Julia Lwowski und Franziska Kronfoth 2012 gegründet haben. Letztere umreißt in einem Interview im Vorfeld der Stuttgarter Produktion auch explizit die Agenda für Oper in der Zukunft aus ihrer Sicht folgendermaßen: Mehr weibliche Regisseure [sic]! Und wir müssen weg von dem globalisierten und kapitalisierten Starsystem im Opernbetrieb. Das verhindert, dass einzelne Häuser eine eigene Identität entwickeln. Außerdem müsste sich mehr getraut werden, im Umgang mit dem Werk und zusammen mit dem Orchester. Es muss um Kunst gehen, um Experiment und um Vielstimmigkeit. 11 Aus dieser fundamentalen Kritik am institutionalisierten Opernbetrieb heraus lässt sich für die Brecht-Inszenierung, auch für das zweite Beispiel auf drei Betrachtungsebenen ansetzen: Wie wird inszenierungsbezogen auf der Basis individueller Profile der Oper in Stuttgart und Birmingham gearbeitet, aus dem sich nach Kronfoths Verständnis die eigene Identität (weiter-)entwickeln lässt? Wie viel Spielraum und Experiment sind vor allem mit dem Orchester und dem Chor als Apparat möglich? Welche Vielstimmigkeit bzw. erweiterten Perspektiven ergeben sich daraus? Als zweites Inszenierungsbeispiel wird Die Maßnahme mit Musik von Hanns Eisler in der Inszenierung der Birmingham Opera Company herangezogen, die im März 2023 unter der musikalischen Leitung von Alpesh Chauhan und in der Regie von Anthony Almeida unter dem Titel The Decision in englischer Sprache herauskam. 12 Aufführungsgrundlage für beide Produktionen sind die seit Jahr‐ zehnten vorliegenden Partituren als weitgehend verbindliche Stückvorlagen. 106 Sebastian Stauss <?page no="107"?> 13 Am Rand der Schlussproben und zwischen den Voraufführungen wurden vom Ver‐ fasser am 28.02. und 01.03.2023 in Birmingham 2 Fokusgruppengespräche mit je 3 Mitwirkenden und 5 Einzelgespräche geführt. Eine ausführlichere Auswertung der Audiomitschnitte der Fokusgruppeninterviews und der Gesprächsnotizen ist für eine spätere Veröffentlichung geplant. Für den Einblick im Rahmen des Forschungsaufenthalts sei hier den Verantwortlichen der Birmingham Opera Company und besonders Hannah Griffiths (General Manager) gedankt. Ohne dass hier die Rezipient: innenperspektive (in Form einer Befragung bzw. von Feedback des Publikums) empirisch mitberücksichtigt wird, werden die Beobachtungen zur Maßnahme, bei der professionelle und nicht-professionelle Produzent: innen zusammenarbeiten, mittels qualitativer Interviews gestützt. Denn in Birmingham werden, wie im Folgenden skizziert wird, seit mehr als zwei Jahrzehnten Verbindungen zwischen Produzent: innen und Rezipient: innen ausgelotet bzw. gegenüber dem Konzept des cultural diamond die Pole ver‐ wischt. Viele Veranstaltungen, so auch die Produktion der Maßnahme, gehen von einer für das Publikum vor allem zu Beginn einer Vorstellung oft unklaren Trennung zwischen Bühnengeschehen und Zuschauer: innenraum aus. Statt dem Aufbau einer Guckkastenbühne bewegen sich Publikum und Bühnendar‐ steller: innen auf einer gemeinsamen Spielfläche, und letztere geben sich (auch durch die Gestaltung von bzw. den Verzicht auf Kostüm und Maske) oft erst im Verlauf einer Vorstellung als solche zu erkennen. Eine verbindende Funktion haben dabei freiwillige Darsteller: innen und Chormitglieder. Mit einem Teil von ihnen waren am Rand der Schlussproben und Voraufführungen der Maß‐ nahme Interviews möglich, die einen zusätzlichen Vergleich ihrer individuellen Wahrnehmungen von den internen Arbeitsprozessen ermöglichen und diese in Beziehung zum gesellschaftlichen Leben der Mitwirkenden setzen. 13 Bei der Stuttgarter Produktion von Die Verurteilung des Lukullus steht nicht die Transformation im Verhältnis von Produzent: innen und Rezipient: innen im Vordergrund. Immerhin wird aber versucht, den Organisationsapparat transparent und die Arbeitsebenen sichtbar zu machen. Dahingehend ist es auch von vornherein als Signal von der Staatsopernleitung zu sehen, dass sie das zuvor in der Freien Szene etablierte Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen als Regieteam verpflichtet hat. Obschon es sich dabei um ein Gastengagement im Repertoirebetrieb, keine Kooperation im Rahmen eines Sonderprojektes handelt, erfolgt ein Abgleich zwischen Interviewaussagen von Hauen und Stechen und Vertreter: innen der Stuttgarter Oper in der gemeinsamen Kommunikation zur Verurteilung des Lukullus, auch unter der Prämisse eines institutionellen Wandels hinsichtlich der „Hybridisierung“ der Systeme von Staats- und Stadttheater auf der einen und von Freier Szene Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 107 <?page no="108"?> 14 Wesemüller 2022: 223. 15 Hayner 2021. 16 Für beide Inszenierungen standen für diesen Artikel komplette Videoaufnahmen zur Verfügung - von Die Maßnahme in Form des auf OperaVision von April bis Oktober 2023 abrufbaren Mitschnitts; von Die Verurteilung des Lukullus wurde dankenswer‐ terweise auf Vermittlung des Dramaturgen Miron Hakenbeck ein Hausmitschnitt bereitgestellt. Da beide Aufnahmen aber nicht (mehr) öffentlich zugänglich sind, beziehen sich Stellennachweise hier auf Szeneneinteilungen und -angaben in Brechts Texten. auf der anderen Seite. Mara Ruth Wesemüller hat in ihrer Analyse dieses Pro‐ zesses konzise formuliert: „Das literaturinterpretierende Repertoiretheater wird durch thematisch flexibles und enthierarchisiert produziertes freies Theater herausgefordert, das durch seine langjährigen Anerkennungsprozesse selbst institutionelle Strukturen ausgebildet hat.“ 14 Es stellt sich so gesehen auch die Frage, inwiefern die Stuttgarter Staatsoper auf diese Herausforderung mit Hauen und Stechen eingegangen ist oder mit Die Verurteilung des Lukullus weiter literaturinterpretierend geblieben ist. Eine Interviewaussage von Yassu Yabara, der Kostümbildnerin von Hauen und Stechen, macht deutlich, dass im Unterschied zu anderen Arbeiten am Staats- und Stadttheater eher das Herausstellen als das Herausfordern der Strukturen im Vordergrund steht: „[…] wenn man diese Offenheit und Neugier spürt wie in Stuttgart, wenn es nicht zu Missverständnissen kommt, kann das sehr bereichernd sein. Für uns ist es ein großes Geschenk, auf die Möglichkeiten eines Opernhauses zurückgreifen zu können.“ 15 Man könnte dies als vorübergehend-affirmative Haltung (solange der Gastvertrag gilt) gegenüber dem Apparat deuten. Hinsichtlich von Offenheit und Neugier stellt sich aber primär (auch für die Birmingham Opera Company) die Frage, inwieweit durch die Inszenierung im Brecht’schen Sinn die Funktion der Oper zur Diskussion gestellt wird, selbst wenn dabei immer noch Oper gemacht wird. Im nächsten Schritt soll der historische Rahmen der Stückvorlagen von Brecht/ Dessau und Brecht/ Eisler in Relation zu den Produktionen in Stuttgart und Birmingham abgesteckt werden. Die darauf folgenden Abschnitte gehen auf die von Franziska Kronfoth genannten Aspekte der individuellen Organisations‐ profile, der Spielräume und der Vielstimmigkeit bzw. Perspektiverweiterungen in den Inszenierungen ein. 16 108 Sebastian Stauss <?page no="109"?> 17 Herman 2008: 212. 1 Gesellschaftliche und künstlerische Rahmenbedingungen der Uraufführungen Dass dem Musiktheater als Institution durch die beharrliche Orientierung am bürgerlichen Geschmack oder vielmehr an marktkonformen Nachfragekriterien Erstarrung drohe, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Kritikpunkt, an dem Bertolt Brecht als Textautor an der Seite verschiedener Komponisten ansetzte. Brecht sah diese Problematik, wie eingangs angedeutet, auch im Zu‐ sammenhang mit veränderungsbedürftigen Gesellschaftsstrukturen. Zugleich fußen seine Theatertexte selbst auf Kritik an den üblichen Textstrukturen und den zugrunde liegenden Arbeitsstrukturen. Bis 1930 gelang es Brecht in der Zusammenarbeit mit Kurt Weill (der sich „auch nach diesem Zeitpunkt weiter zu liberal-kapitalistischen Ansichten bekannte“ 17) , diese Kritik noch repertoiretauglich umzusetzen - nicht aber vom ideologischen Anspruch her, sozialistische Alternativen zu entwickeln. Bei späteren Stücken aus der Zusam‐ menarbeit Brechts mit anderen Komponisten stellt sich im Kontext der hier behandelten Produktionen die Frage: Inwieweit sind die in den Partituren kriti‐ sierten Gesellschafts- und Arbeitsstrukturen des Apparates der Entstehungszeit noch für aktuelle Produktionen von Belang? Als Kulturobjekte im Sinne Griswolds betrachtet haben Brechts Texte stets einen doppelten Bezug zum (gesellschaftlichen) Weltgeschehen. Vom Grund‐ thema her sind Die Maßnahme und Die Verurteilung des Lukullus durch die Frage verbunden, in welchem Verhältnis Individuum und Gemeinschaft stehen. Die Unterschiede in der Fragestellung und deren Behandlung liegen in den historischen Bezügen, die Brecht für den Ort und die Zeit der Handlung gewählt und zugleich deutlich in Analogie zur Entstehungszeit gesetzt hat. Für Die Maßnahme (Uraufführung 1930) ging er nur gut zehn Jahre in der Weltge‐ schichte zurück, um die (fiktive) Mission von vier Agitatoren aus Moskau nach‐ zuzeichnen, die maskiert in China propagandistisch tätig geworden sind und sich heimgekehrt dem Urteil darüber stellen, dass sie einen jungen Genossen getötet und unkenntlich gemacht haben, nachdem er sich mit zu hohem, taktisch unklugen Einsatz identifizierbar und zur Gefahr für die ganze Gruppe gemacht hatte. Historisch weitaus entlegener thematisiert Die Verurteilung des Lukullus (1951), wie dem zu Beginn der Oper bereits gestorbenen römischen Feldherrn am Eingang zum Totenreich der Prozess gemacht und er schließlich ins Nichts gestoßen wird: keine seiner wirtschaftlichen oder kulturellen Leistungen kann die von ihm verübten Grausamkeiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 109 <?page no="110"?> 18 Hierzu ausführlich: Krabiel 2001. 19 Exemplarisch hierfür stehen die auf Bild-/ Tonträger greifbaren Produktionen im Festspielhaus Hellerau 1998 und die in Verknüpfung mit Aischylos’Persern gespielte Fassung des Schauspiel Leipzig von 2017 als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen (und zugleich in Kooperation mit dem Leipziger Gewandhaus). 20 Brinkmann 2020: 239. aufwiegen - eine nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei der Ostberliner Uraufführung auch in Abgrenzung zum Westen klare Botschaft. Beide hier behandelten Stücke waren bereits zu Brechts Lebzeiten und darüber hinaus politisch lange Zeit umstritten. Die Maßnahme wurde in der späten Weimarer Republik zunächst erfolgreich aufgeführt, aber von rechtskon‐ servativer Seite schnell angefeindet; kurz vor der sogenannten Machtergreifung wurde in Erfurt von der bereits nazistisch unterwanderten Polizei eine schon be‐ gonnene Aufführung unterbunden und verboten. 18 Die Verurteilung des Lukullus ging ihrerseits nicht mit der sozialistischen Führung der frühen DDR und ihren kulturpolitischen Leitlinien konform. In diesem Fall wurde die Partitur nach der Uraufführung revidiert und in dieser Fassung bis in die Zeit kurz nach dem Mauerfall zu einem Aushängeschild im Repertoire der Berliner Staatsoper. Für Die Maßnahme untersagte Brecht nach mehreren Überarbeitungen schließlich nach Kriegsende jegliche Aufführung. Eine Aufführungskontinuität des Stückes wie für Die Verurteilung des Lukullus an zumindest einem (Berliner) Theater gibt es seitdem nicht. Das liegt aber auch daran, dass die für eine Aufführung erforderlichen Organisationsstrukturen denen von Spartenbetrieben zuwider‐ laufen: Für eine Produktion sind Beteiligte aus dem Schauspiel und dem Musiktheater vonnöten, weshalb in jüngerer Zeit Festivalaufführungen und Spartenkooperationen für Die Maßnahme zu verzeichnen sind. 19 Der Bruch mit Konventionen fällt in Analogie zu Brechts Aussagen zum Apparat je nach musiktheatraler Form und Gattung größer oder geringer aus - im Fall der Verurteilung des Lukullus der Oper gemäß weniger stark als im Lehrstück Die Maßnahme. Bei diesem knüpft Brecht auch an seine Schuloper Der Jasager an, die noch mit Kurt Weill als Komponist für musikalische Laien konzipiert und komponiert wurde. Obwohl es auch von Der Jasager in der Nachkriegsgeschichte keine Kontinuität der Aufführungsgeschichte gibt, ist das Stück noch ein Jahrhundert später von historischem Interesse für die Mu‐ siktheatervermittlung als Schnittstelle zwischen pädagogischer Zugänglichkeit und grundsätzlicher gesellschaftlicher Relevanz von Musiktheater. 20 110 Sebastian Stauss <?page no="111"?> 21 Staatstheater Stuttgart 2023. 22 Staatsoper Stuttgart 2023. 2 Individuelles Profil der Opernbetriebe In der Textstruktur besteht zwischen dem Lehrstück und der Lukullus-Oper auch ein grundsätzlicher Unterschied, was die Einbindung des Publikums betrifft. Die Produktionen in beiden Städten wurden durch das Stadium der Corona- Pandemie im Aufführungszeitraum auch zu einer Reflexion des Verhältnisses von Bühne und Publikum - in Stuttgart beim Risiko, ein mit repräsentativen Konventionen der Oper spielendes, groß besetztes Stück unter dem Damokles‐ schwert behördlich verordneter Auflagen für den Zugang des Publikums zum Theater spielen zu müssen; in Birmingham mit der radikalen (In-)Fragestellung der Maßnahme nach dem Verhältnis zwischen Individuen und Kollektiven als Entscheidungsträger: innen anlässlich des Wiederanknüpfens an die vor der Pandemie entwickelten, gemeinschaftlich ausgerichteten Organisationsstruk‐ turen. Im Hinblick auf Organisationsformen sind die beiden Kompanien denkbar unterschiedlich. Die Stuttgarter Staatsoper gehört zu den Staatstheatern Stutt‐ gart, die qua Selbstdefinition „mit 1.400 Beschäftigte[n] aus mehr als 50 Nationen und mit den Sparten Oper, Ballett und Schauspiel das größte Drei-Sparten- Theater Europas“ 21 sind. Innerhalb dieses im deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatersystem üblichen, wenngleich immer wieder infrage gestellten Mo‐ dells stellt Stuttgart aber einen Sonderfall dar, was die Größe(n), Kräfteverhält‐ nisse und Vertriebsstrukturen betrifft. Von den Kollektiven Orchester und Chor kommt vor allem letzterer seit Jahrzehnten, im Unterschied zum andernorts vorherrschenden Starwesen von Gesangssolist: innen, öffentlichkeitswirksam zur Geltung. Dass seit 1999 in der Fachzeitschrift Opernwelt die prestigeträchtige Auszeichnung als Chor des Jahres 13-mal nach Stuttgart vergeben wurde, nutzt das Haus selbstverständlich auch in der eigenen Außendarstellung. 22 Außerdem ist seit den 1990er Jahren die Organisation von Arbeit und ganz konkret Abteilungen der Staatsoper modifiziert worden, was auch auf Veränderungen der etablierten Ästhetik(en) zielt. Statt herausragender individueller Leistungen und dem Starkult um Einzelleistungen am Dirigent: innen- und Regiepult oder auf der Bühne wurden auch immer wieder die kollektiven und arbeitsteiligen Vorgänge in den Fokus gerückt oder zumindest von der Ausrichtung einzelner Produktionen her auf die Agenda gesetzt. Unter Viktor Schoner als Intendant seit der Spielzeit 2018/ 19 werden unter dieser Maßgabe unter seinen Vorgängern etablierte Strukturen aufgegriffen und weitergedacht. Auf der repräsentativen Ebene des Kernrepertoires ist dies überdeutlich bei einer Produktion wie Richard Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 111 <?page no="112"?> 23 Tholl 2022. 24 The Journal of Music 2022. 25 Birmingham City Council 2023. Wagners Ring des Nibelungen 2022/ 23 zu erkennen, für die das Konzept der Verpflichtung von vier verschiedenen Regieteams für jeden Teil der Tetralogie gegenüber der vorangegangenen Produktion von 1999/ 2000 noch mehrfach erweitert worden ist. Für die Walküre zeichnet sogar für jeden Aufzug szenisch ein anderes Team verantwortlich, und zwar auch von der Arbeitsspezialisierung her mit individuell unterschiedlichen Bezügen zur internationalen Freien (Fes‐ tival-)Szene, Performance- und Installationskunst. 23 Dass letztere z. B. auch mit dem „Walküren-Basislager“, einer temporären Aussstellung von Norbert Bisky am Stuttgarter Hauptbahnhof, Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum erzeugt, gehört ebenso zum experimentell erweiterten Spielplan wie das Ver‐ mittlungsangebot der Jungen Oper Stuttgart, an der weit über pädagogische Einführungen hinaus immer wieder auch partizipative Projekte entwickelt werden. 2019 erlebte dort z. B. mit Antigone-Tribunal von Leo Dick eine Kammeroper unter Beteiligung eines Bürger: innen-Chores ihre Uraufführung, die unter Rückgriff auf eine Textvorlage von Slavoj Žižek auch in einer Linie mit marxistisch geprägten und kapitalismuskritischen Positionen im Musiktheater nach Brecht zu sehen war. Insofern fügt sich ein zumindest (selbst)reflexives Stück wie Die Verurteilung des Lukullus in diesen Organisationszusammenhang ein, selbst unter paradoxalen Verhältnissen: Die Ironisierung und der Bruch mit Formen und Mitteln der Oper erfolgt unter ausgiebigen Rückgriffen auf den Fundus solcher Formen und Mittel - eben auch des Apparates ausgebildeter professioneller Akteur: innen auf, vor und hinter der Bühne. Die Birmingham Opera Company und ihre Produktionen sind demgegenüber vom Zusammenwirken weniger professioneller, zahlreicher nicht-professio‐ neller Mitwirkender sowie von Kooperationen in der lokalen Orchesterland‐ schaft und bei der Veranstaltungstechnik geprägt. Mit einem festen Planungs‐ team von gerade einmal sechs Beschäftigten, ohne eigenen Klangkörper und ohne ständige Spielstätte ist, anders als in der Musiktheatersparte eines öf‐ fentlich getragenen Hauses im deutschsprachigen Raum, kein mehrmonatiger Spielplan mit Ensuite- oder Repertoirebetrieb (oder einer Mischung beider Systeme) möglich. Eine Bühnenproduktion wird in einem Abstand von einem bis eineinhalb Jahren mit nur wenigen Vorstellungen herausgebracht. Welche Stücke zur Aufführung kommen, plant die Company vor allem ausgehend von der Mittelverteilung an kulturelle Einrichtungen im Dreijahresrhythmus durch den nationalen Arts Council (unter zuletzt 990 konkurrierenden Orga‐ nisationen) 24 und den City Council. 25 Als gemeinnützige Organisation, deren 112 Sebastian Stauss <?page no="113"?> 26 Charity Commission for England and Wales 2019-2023. 27 Z.B. Charity Commission for England and Wales 2021: 6 und 2022: 6. 28 Phillips 2012: 4 f. und 17. 29 Fraser 2004: 96. Transparenz in Form des alljährlich vorgelegten und öffentlich abrufbaren Trustees’ Report gewährleistet ist 26 , liegt ein Hauptaugenmerk der Birmingham Opera Company auf participation, die begrifflich nicht vage bleibt, sondern im Instrumentarium der Company weiter ausdifferenziert wird: als Bildungs-, aber auch als Ausbildungswerkzeug für Künstler: innen, für die Entwicklung einer neuen, diversen Generation britischer Künstler: innen und schließlich für den Zugang neuen Publikums. 27 Sie setzt damit um, was bereits 2012 Peter S. Phillips, damals Chair der Birmingham Opera Company und Mitglied des Arts Council, im Ministeriumsauftrag des Department for Culture, Media and Sport (DCMS) für den Kultursektor als Empfehlung formuliert hat: Kulturbetriebe sollten sich bei der Bewerbung um Fördermittel von Stiftungen und Spender: innen an Bericht- und Evaluationsstandards des Hochschulwesens orientieren. 28 Wie Zielvorgaben bei Arbeitsprozessen lassen sich aus dem Trustees’ Report auch Festlegungen für die Produktionsästhetik herauslesen. Auch auf die Ansätze von Partizipation bezogen sind bei den abendfül‐ lenden Musiktheaterinszenierungen der Birmingham Opera Company unter‐ schiedliche Akzente und Ausgleichsüberlegungen bei der Auswahl der Stücke erkennbar. Obgleich daran auch immer wieder gastweise prominente Vokal‐ solist: innen und Orchestermusiker: innen beteiligt gewesen sind, haben über die Jahre vor allem die Freiwilligen das Profil der Company geprägt: Sie bilden in der Maßnahme den Chor mit 71 Mitgliedern und die Gruppe der 21 stummen Bühnendarsteller: innen, die zwar ähnlich, aber nicht in vollkom‐ mener Entsprechung zu einer Komparserie oder Statisterie des Stadt- und Staatstheaters agieren. Seit den frühen 2000er Jahren wird so die Einbeziehung der Stadtgesellschaft in die künstlerischen Arbeitsprozesse als Ziel verfolgt: „One of the remarkable features of the Birmingham approach is that a local community cast is recruited […]. The Birmingham cast includes members from the Birmingham Rep’s youth company, a young Asian theatre company and unemployed youngsters who are doing apprenticeships in the creative arts.“ 29 Das Prinzip, Freiwillige auch ohne Bezug zur Bühnenhandlung unter die professionellen Darsteller: innen und das Publikum zu mischen, wurde von Sir Graham Vick, dem Gründer der Organisation 1987 zunächst unter dem Namen Birmingham Touring Company, etabliert und bis zu Vicks Tod 2021 (infolge einer Corona-Erkrankung) in Musiktheaterwerken aller Epochen verfolgt. Vick begriff seine Arbeit in Birmingham als Gegenentwurf zu jener an den etablierten Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 113 <?page no="114"?> Opern- und Festspielhäusern, wo er sich als Regisseur seit den 80er Jahren eine internationale Karriere aufgebaut hatte. Diese gab er auch nicht für die Birmingham Opera Company auf, nutzte aber die dort gemachten Erfahrungen, um sie in die Regiearbeit andernorts zu übertragen. Hinsichtlich der Relationen, die für die Maßnahme von Brecht und Eisler zwischen den individuellen Ak‐ teuren und dem Chor-Kollektiv vorgegeben sind, gibt es insofern eine passende strukturelle Entsprechung zu der Arbeitsorganisation der Birmingham Opera Company: die Vermischung von professionellem Bühnenpersonal und Laien, im Fall der Maßnahme vor allem der Arbeitersängerbewegung für den Chor, auf den Eisler die Partitur regelrecht zugeschnitten hat. Den Aufbau von Eislers Chören kennzeichnet ein lapidarer Stil auf der textlichen wie auch auf der musikalischen Ebene. Zum einen bedient er die Funktionen des Beschreibens und Kommentierens der Vorgänge mit treffenden Worten. Von der Komposition her werden sie zugleich, wiewohl die Musik sowohl zum Einstudieren und Singen als auch beim Hören nicht sperrig sein soll, weitgehend von emotionaler Aufladung freigehalten bzw. wird dieser noch entgegengewirkt. Dazu gehört, dass bei Akkorden häufig die Intervalle ausgespart werden, die zur Bestimmung des Tongeschlechts und damit auch der Verknüpfung von Tonarten in Dur mit positiven und in Moll mit negativen Gefühlen dienen. Aus der Entstehungsgeschichte der Partitur lässt sich so ablesen, wie Eisler damit auch strategisch Möglichkeiten der Musikerziehung reflektiert. 3 Gestaltungsspielräume mit der Partitur 3.1 Chor und Orchester Hinsichtlich der Anforderungen beim Einstudieren und Mitsingen wie auch der Komplexität beim Anhören beschreiten die Chorsätze der Maßnahme einen Mit‐ telweg zwischen Eingängigkeit und Passagen, die beispielsweise durch rhyth‐ mische Verschiebungen oder die angesprochene Unklarheit der Tonarten die Konzentration wachhalten und dazu motivieren, sich der emotionalen Wirkung der Musik nicht unreflektiert hinzugeben. Über Analogien zum kirchlichen Gemeindegesang, aber genau ohne die dortige Affirmation oder Subordination (durch Feierlichkeit bzw. Bußgesänge in entsprechend gesetzten Tonarten) zielt Eislers Musik darauf, der Arbeiterbewegung eine eigene Musik zu geben. Unterschiedliche Aussagen der Chormitglieder in Birmingham zeigen je nach individueller musikalischer Prägung (von keinerlei musikalischer Vorbildung über Kirchenchorzugehörigkeit bis zu Amateur-Musicals), wie die ursprüng‐ liche kompositorische Strategie unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen 114 Sebastian Stauss <?page no="115"?> 30 Eigenes Interview, 01.03.2023. 31 Inwieweit diese Option wahrgenommen wird, ist bei anderen Produktionen jüngeren Datums unterschiedlich, wie z. B. den beiden in Anm. 19 genannten: Während in Leipzig 2017 ebenfalls ein Laienchor beteiligt war, wurde in Hellerau mit einem reinen Profiensemble gearbeitet. 32 Eigenes Interview, 01.03.2023. ästhetisch unterschiedlich wahrgenommen wird. Ein bemerkenswerter Kom‐ mentar zur Wahrnehmung der Chorpartien im Arbeitszusammenhang von Einstudierung und Aufführung lautet: „this music is like an air-woven pad.“ 30 Er stammt von einem Chormitglied, das ursprünglich nur schauspielerisch und stumm für die Produktion gecastet worden war, dann aber feststellte: Entgegen entmutigender Erfahrungen beim Singen, vor allem im (bereits Jahre zurücklie‐ genden) Musikunterricht in der Schule, ließ sich sogar noch nach vorgezogenem Beginn der Choreinstudierung gegenüber den Proben für die Schauspielgruppe der Rückstand noch aufholen. Unter anderen sozialen und institutionellen Voraussetzungen erweist sich also in Birmingham die von Brecht und Eisler in der Maßnahme als Kulturobjekt angelegte Option der Annäherung und Mitwirkung von Laien als realisierbar. 31 Unterschiedliche Erwartungshorizonte, z. B. geknüpft an musikalische (Vor-)Bildung, stehen zur Durchlässigkeit im Verhältnis von Produzent: innen und Rezipient: innen in keinem grundsätzlichen Widerspruch. Möglich wird dies nicht zuletzt in Arbeitsstrukturen wie denen der Birmingham Opera Company, die in Entsprechung zum nicht-professionell intendierten Kompositionsstil Eislers auch laien- und amateurfreundliche Wege des Erlernens der Partien bieten. Wer nicht vom Blatt singen kann, erhält Aufnahmen der Einzelstimmen (als Sounddatei oder CD) zum Anhören, Mit- und Nachsingen. An der Einstudierung und den Aufführungen sind aber auch professionelle Kräfte als Chorleiter: innen und Mentor: innen beteiligt. Dies ordnen die Chormitglieder und Freiwilligen neben der oben zitierten Faszination über das neu entdeckte Leistungsvermögen auch pragmatisch ein und schließen damit an Brechts Kunstverständnis als Ware oder zumindest als Produkt an: „The professionals raised the performance level considerably.“ 32 Im Unterschied zur Konzeption eines Wagner’schen Gesamtkunstwerkes baut Brechts Ästhetik auch auf Sichtbarkeit verschiedener künstlerischer Leis‐ tungsebenen auf. Sowohl für die Produktion in Stuttgart als auch in Birmingham ist kennzeichnend, wenn man dem Verhältnis von Arbeitsstrukturen und Äs‐ thetik im gegebenen Rahmen der Organisation(en) nachgeht, dass sich Annähe‐ rungen, aber auch Distanzen und Abstoßungsprozesse zwischen verschiedenen Akteur: innen abbilden und auf die Spielvorlagen zurückübertragen lassen. In diese Richtung zielt auch ein weiteres Interview-Statement von Yassu Yabara, Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 115 <?page no="116"?> 33 Hayner 2021. 34 Vgl. dazu die Partituren bzw. die Verlagsangaben: Schott; Universal Edition o.J. 35 Hakenbeck/ Schmitt 2021: 43. Kostümbildnerin von Hauen und Stechen: „Je genauer man hinschaut, desto mehr Brüche und Widersprüche entdeckt man im Werk. Diese auszustellen, nicht aufzulösen, das ist für uns interessant.“ 33 Brüche mit und Widersprüche zu dem, was zu den institutionellen Erwartungen und Regeln der Oper zählt, sind in den Partituren schon klanglich angelegt, neben den Chorpartien auch im Orchester. Schon in der Konstellation mit Eisler, aber opernspezifisch noch auffälliger bei Dessau ist eine der auffälligsten Grundsatzentscheidungen die für eine Orchesterbesetzung ohne Violinen und Bratschen in der Verurteilung des Lukullus (in der Maßnahme ohne jegliche Streichinstrumente). 34 Darin erfolgt vom grundsätzlichen Klangbild eine Abgrenzung zur klassischen Symphonie- oder Kammerorchesterbesetzung der Oper, aber auch zum Salonorchester, wie es in Unterhaltungsformen von der Operette bis zur Revue üblich ist. Mit diesem speziellen Orchesterapparat sind in der Praxis eines Repertoirehauses, wie in Stuttgart, und einer von Produktion zu Produktion planenden Kompanie, wie in Birmingham, andere Arbeitsstrukturen verbunden. Anders als die Maßnahme, deren Uraufführung bereits abseits vom Staats- und Stadttheaterrahmen in der alten Berliner Philharmonie erfolgte, stellt die Instrumentation der Verurteilung des Lukullus auch eine Hinterfragung der üblichen (Dienst-)Einteilungen und Abläufe in einem Opernorchester dar. Bernhard Kontarsky, der Dirigent der Stuttgarter Produktion, formuliert dies auch auf ein klangästhetisches Ergebnis in der Orchesterarbeit hin: „Man erreicht in dieser Oper selbst im höchsten For‐ tissimo keinen satten Orchesterklang. Es ergeben sich keine Klangmischungen, wie man sie aus der Musik Wagners oder im 20. Jahrhundert bei Franz Schreker kennt.“ 35 Das bedeutet auch, dass sowohl für die Musiker: innen in der Probenarbeit als auch für ein an das gängige Repertoire des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewöhntes Publikum beim Hören eine Umstellung vonnöten ist. Die Kommunikation von Kontarsky entspricht also insofern an dieser Stelle jener von Hauen und Stechen, als auf mögliche Gemeinsamkeiten der Erwartungshorizonte von Produzent: innen und Rezipient: innen hingewiesen wird, und damit sowohl bezogen auf die Partitur als auch auf ihre konkrete Umsetzung Transparenz bezüglich ihrer Abweichungen vom Konventionellen verfolgt wird. 116 Sebastian Stauss <?page no="117"?> 3.2 Spiel-Räume Vom Personal abgesehen unterscheiden sich die Oper Stuttgart und die Bir‐ mingham Opera Company auch in den für die Organisationsstruktur maßgeb‐ lichen Standortbedingungen, vor allem bei den Spielstätten. Anders als mobile Projekte der Jungen Oper und im Rahmenprogramm der Oper Stuttgart bleibt Die Verurteilung des Lukullus im Veranstaltungsrahmen des Stammhauses in der Littmann’schen Architektur des Hoftheaters vom Beginn des 20.-Jahrhunderts. Unter den gegebenen Raumverhältnissen ist auch nur eine vorübergehende Aufhebung der grundsätzlichen Trennung von Bühne und Orchestergraben schon eine deutliche Abweichung von einer Grundstruktur der Opernorgani‐ sation. In Birmingham stellt sich dagegen für jede Produktion von Neuem nicht nur die Frage, mit welchem Orchester, sondern auch ob mit einem Orchestergraben und entsprechend dahinter liegender (Guckkasten-)Bühne, einem Podium für das Orchester wie im Konzertsaal oder einer vollkommen anderen Arenenund/ oder Tribünen-Anordnung gespielt wird. Nachdem die Birmingham Opera Company 2021 mit dem ortsansässigen City of Birmingham Symphony Orchestra kooperiert hatte und dort im zentral gelegenen Konzert‐ saal aufgetreten war, erfolgte für Die Maßnahme die Rückkehr zu Spielorten in verschiedenen Stadtdistrikten, in diesem Fall den Great Hampton Works mit einer ehemaligen Fabrikhalle. Beim Bewerben der Vorstellungen und dem Kartenverkauf wird dieser Ort, das Verwischen der Trennlinie zwischen Produ‐ zent: innen und Rezipient: innen in der Aufführung spielerisch vorwegnehmend, als Parteihauptquartier („The Party HQ“) bezeichnet. Beim Raumkonzept zeigt die Stuttgarter Produktion u. a. vor dem Hinter‐ grund der Corona-Pandemie, dass auch im Staats- und Stadttheater Potential für stärkere Interaktion zwischen Bühne, Orchester und Zuschauer: innenraum besteht - jedenfalls wenn sie wie beispielsweise vom Kollektiv Hauen und Stechen zum ästhetischen Prinzip erhoben wird. Noch vor dem eigentlichen Auftakt thematisiert die Stuttgarter Inszenierung die erschwerte Zugänglichkeit zur Aufführung durch Corona-Auflagen in Form eines mittels Videoprojek‐ tionen übertragenen, vom Produktionsteam ergänzten Prologs, der den Aus‐ gangspunkt ins Foyer verlegt. In Entsprechung zu dem Einzug einer antiken Dramenaufführung macht sich das Ensemble der Sänger: innen als Trauerge‐ meinde für den schon zu Beginn der Oper gestorbenen Titelhelden wehklagend bemerkbar, bevor es die eigentliche Bühne betritt. Die zusätzliche Videoein‐ blendung der schriftlichen Hinweise aus dem Eingangsbereich, coronabedingt bitte Abstand zu halten, legt nahe: Zum Zeitpunkt der Premiere gelten selbst für vergleichsweise moderate Regieeingriffe gegenüber der Partitur und ihren Abläufen erschwerte Bedingungen. Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 117 <?page no="118"?> 36 Lehmann 1991: 133. Signalhafte oder markante Einsätze von Musikinstrumenten im Orchester‐ graben oder als Elemente der Bühnenmusik werden von Hauen und Stechen aus dem Orchesterkollektiv herausgelöst und durch die szenische Einbeziehung hervorgehoben. So sind nicht nur zu Beginn die Fanfarenspieler: innen des Trauerzugs deutlich auf der Bühne sichtbar. Auch das Akkordeon, das in Abschnitt V, Der Empfang, am Eingang des Schattenreichs erklingt und zu einer charakteristischen Klangfärbung bei der Schilderung der kulinarischen bzw. titelgebenden lukullischen Genüsse des Protagonisten beiträgt, ist unter den im Wartebereich Sitzenden, angeführt von der alten Römerin Tertullia, sichtbar und bleibt auf der Bühne präsent. Beim Totengericht wird das Trautonium (eines der ersten elektronischen Instrumente der Musikgeschichte) in den Videoprojektionen optisch hervorgehoben. 4 Erweiterte Perspektiven und Stilebenen In ihrer Behandlung der von Brecht vorgegebenen Textstruktur knüpfen Hauen und Stechen in der Stuttgarter Produktion an das analytische Verständnis des griechischen Theaters an, wie es Hans-Thies Lehmann formuliert hat: „Das Subjekt der Tragödie erscheint in der Frage nach der Bedeutung des eigenen Tuns, wenn der mythische Echoraum schwindet.“ 36 Lukullus als Protagonist, gesungen vom Tenor Gerhard Siegel, wird in der Bildsprache der Stuttgarter Inszenierung konsequent entmythisiert, auf dem Höhe- und Wendepunkt des Geschehens sogar von der Bühne geholt. Dazu reflektieren und ironisieren Hauen und Stechen szenisch ein weiteres Element bürgerlicher Theater- und insbesondere Opernaufführungen: die Pause. Wie auch Die Maßnahme ist Die Verurteilung des Lukullus darauf ausgelegt, ohne Unterbrechung (von kurzen Umbauphasen abgesehen) durchgespielt zu werden. Ähnlich dem Beginn der Aufführung wird das Geschehen von der Bühne bis ins Foyer und in den Zu‐ schauerraum erweitert, nachdem der vor dem Totengericht stehende Lukullus auf den Totenrichter am Ende des Abschnitts VIII müde gewirkt hat und dementsprechend eine Verhörpause eingelegt worden ist. Lukullus nutzt diese zu einem Gang an den Pausenausschank, um dort während der belastenden Aussage der Königin ein Bier zu trinken und schließlich (mit bis dahin durch‐ gehender Videoübertragung in Großprojektion am Bühnenrand) mit einem ganzen Tablett gefüllter Biergläser, getragen vom Sprecher des Totengerichts, zurück ins Auditorium zu kommen und die Gläser an Zuschauer: innen in den Parkettreihen verteilen zu lassen. Selbst wenn der Held rollengemäß hier noch 118 Sebastian Stauss <?page no="119"?> 37 Z.B. Benda 2021; Jungblut 2021. immer delegiert, wird er wie die anderen am Theater Beschäftigten in diesem Moment als das gezeigt, was er auch in ästhetisch hervorgehobener Funktion, aber ohne mythischen Echoraum bleibt: als Dienstleister. Bei der leicht revueartigen Abfolge der Szenen tritt Lukullus auch dann nicht in Interaktion mit anderen Figuren, wenn individuelle Charakterzeichnungen und Sympathielenkungen angelegt oder zumindest möglich wären. Von der für die Oper als Organisation üblichen Spielregel, Gesangssolist: innen in zentralen Partien nach dem Starprinzip herauszustellen, rückt die Produktion beim Sän‐ gerdarsteller des Lukullus freilich nicht vollkommen ab, nutzt dieses Prinzip allerdings nur der Dramaturgie des Stückes entsprechend, um die Heldenfigur schrittweise zu demontieren. Von Hauen und Stechen wird diese Texteigen‐ schaft noch hervorgehoben, indem besonders die Zeug: innenaussagen vor dem Totengericht gegen Lukullus weniger gegen den Protagonisten gerichtet, als vielmehr mit unabhängig voneinander abgerückten und gleichwertigen ‚Nummern‘ in markanten Kostümen gezeigt werden. Die in einigen Rezensionen zur Produktion monierte Unübersichtlichkeit des Bühnengeschehens 37 hat insofern auch Methode, als der Fokus vom Prot‐ agonisten und den ihm von Szene zu Szene durchaus antagonistisch entgegen- und episodisch auftretenden Figuren abgerückt und verschoben wird. Durch zusätzliche bildliche Ebenen der Inszenierung wird die von Brecht und Dessau angelegte Stückaussage der Entlarvung eines Feldherren als Kriegsverbrecher verdeutlicht, die in das titelgebende Urteil mündet, das über Lukullus verhängt wird (und der insofern selbst eben weniger titelgebend ist als die auf ihn zielenden ,investigativen‘ Vorgänge). Zu den vielen Perspektivwechseln und ‐brechungen trägt überdies der heute an großen Opernbühnen (ebenso wie in anderen theatralen Formen) weit verbreitete intermediale Einsatz von groß‐ flächigen Videozuspielungen bei. Unter dem Aspekt heutiger (Medien-)Kon‐ kurrenzen für die Oper ist erkennbar, an welche Film- und Fernseh-Formate sich Hauen und Stechen hierbei anlehnen. So wird zum Trauerzug für den erfolgreichen militärischen Befehlshaber Lukullus, wie im Blick hinter eine Fassade oder in einem Backstage-Bericht, per Video auch die Fertigung eines Raketenkopfes hinzugeschaltet. Lukullus’ Klage im Abschnitt V (Der Empfang), am Eingang des Totenreichs nicht gebührend begrüßt zu werden oder zumindest seinen Koch Lassus vorzufinden, wird von einer Einspielung flankiert, die an eine Kochshow erinnert. Während in Stuttgart die direkte Einbeziehung des Publikums beim Gang von Lukullus mit Bier ins Parkett eine Ausnahme bleibt, ist eine verspielte, Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 119 <?page no="120"?> 38 Willett 1998: 63. 39 Brecht 1967b: 633. punktuell partizipativ eingesetzte Spielweise ein Grundmerkmal der Maßnahme in Birmingham, das eben auch an die vorangegangenen Produktionen der Opera Company anschließt. Entsprechend wird das Publikum schon bei der Ankunft in der Spielstätte einbezogen. Wer diese betritt, wird umgehend von den Chormit‐ gliedern und Freiwilligen als Parteimitglied begrüßt, mit roten Kleidungsstü‐ cken ausgestattet und in ein Gespräch verstrickt, aus welchem Ortsverband der Partei man zur Veranstaltung hinzugestoßen sei. Im Verhältnis zum historischen Kontext erfolgt also grundsätzlich eine Ironisierung, die auch über das Wortspiel bzw. die doppelte Bedeutung von party im Englischen, einerseits als die Partei und andererseits banalisiert eine (auch Kostüm-)Party, den Vorstellungsrahmen absteckt. Diese Anfangsinszenierung wird jäh unterbrochen, als die vier Agita‐ toren, in dieser Produktion Agitatorinnen, das Wort ergreifen, um die Vorgänge in China und um den jungen Genossen aufzuarbeiten. Dass sprachlich von assoziativen Verengungen bis zu Konkretisierungen bezüglich Parteidisziplin und -gehorsam Verschiebungen vom Originaltext weggehend festzustellen sind, ergibt sich schon aus der in Birmingham gespielten Übersetzung von John Willett, wie z. B. mit „Show yourselves! “ 38 für „Tretet vor! “ 39 gleich in der ersten (Chor-)Zeile. Unter Maßgabe der sprachrhythmischen Entsprechungen in den gesungenen Teilen entfallen in der englischen Version zudem immer wieder leicht archaisierende Wendungen, die Brecht mit Blick auf die Musik auch an die Stilistik eines Oratoriums angelehnt formuliert hat. Willetts weitgehend nüchterner gehaltene Version trägt insofern ebenfalls dazu bei, dass die in Birmingham schon etablierte Organisationsstruktur von Fall zu Fall produkti‐ onsbezogen gewählter Spielstätten, die außerhalb des (Kultur-)Zentrums und in früheren Industrievierteln liegen, für die Maßnahme passgenau erscheint. Die Rahmung ist sowohl sprachlich als auch räumlich von Sachlichkeit bestimmt; archaisierende Elemente der Sprache und auf Konzertsäle zugeschnittenen Formen der Chorlieder treten zurück. Danach wird die Interaktivität des Publikums, über das theaterübliche Zu‐ sehen und -hören hinaus, vor allem über die Bewegung und das Einnehmen wechselnder Positionen und Perspektiven im Zuschauer: innenraum angeregt. Aktionen der Darsteller: innen und Gruppen wirken dem Stillstehen auf einer Stelle geradezu entgegen, besonders beim Hinzunehmen und Bespielen von beweglichen Podesten. Hier treibt die Inszenierung das Prinzip des Vermi‐ schens von Akteur: innen, Freiwilligen und Publikum und der Verwischung ihrer Funktion im ästhetischen Zusammenhang der Aufführung weiter voran. 120 Sebastian Stauss <?page no="121"?> 40 Eisler 1930. Und selbst wenn auf der Arbeitsebene der professionellen Darsteller: innen den selbst gesetzten Zielen der Organisation Grenzen bei der Partizipation als (Aus-)Bildungs- und Rekrutierungsinstrument neuen Publikums gesetzt bleiben, wird bei den vier Agitatoren der Anspruch einer zukunftsgerechten Künstler: innengeneration sichtbar. In Birmingham sind die Rollen als vier Agitatorinnen (Aimee Berwick, Paksie Vernon, Therese Collins und Wendy Dawn Thompson) besetzt, die entsprechend Brechts Konzeption des epischen Theaters einerseits das Geschehene rekapitulieren und andererseits durch das wiederholte, aber immer nur vorübergehende Verkörpern einzelner Figuren, die innerhalb der wiedergegebenen Ereignisabfolge auftreten, selbst eine Handlung im dramatischen Sinn Gestalt annehmen lassen. Ästhetisch ist nicht zuletzt stilistisch von Brecht und Eisler bzw. Dessau für den Sologesang einkalkuliert worden, an welchen Punkten die Partituren den institutionellen Erwartungen und dem Erwartungshorizont des Publikums entsprechen oder davon abgerückt werden. Auch in dieser Beziehung bilden sich Arbeitsstrukturen internationaler Musiktheaterproduktionen ästhetisch in den Besetzungen ab, sowohl in Stuttgart als auch in Birmingham. Dass mit Wendy Dawn Thompson eine klassisch ausgebildete Mezzosopranistin und Opernsängerin für die Maßnahme engagiert wurde, scheint auf den ersten Blick bzw. beim ersten Hören stärker dem Selbstverständnis des Veranstalters als Opera Company geschuldet als ästhetischen Kriterien. Diese lassen sich jedoch aus der frühen Aufführungs- und Interpretationsgeschichte der Maßnahme herleiten. Aufschluss über Fragen der musikalisch-gesanglichen Stilistik gibt die Tonaufnahme vom „Song von der Ware“, die unter Brechts und Eislers eigener Beteiligung als Sprecher bzw. als Dirigent im Uraufführungsjahr 1930 entstanden ist. 40 Den Gesangspart übernahm damals der Tenor Erik Wirl. Die Kombination oder vielmehr die Konfrontation seiner opern- und operettennah gehaltenen Stimmführung mit den Jazzklängen des Instrumentalensembles ist exemplarisch für Eislers und Brechts Spiel mit Relationen und Missverhält‐ nissen. In Birmingham zeigt der Song in der Mitte der Handlung gleichsam eine Kollision der Arbeitsebenen der Produktion: des Operngesangs von Wendy Dawn Thompson (die in den rein schauspielerischen, gesprochenen Passagen völlig auf einem Niveau mit ihren drei Schauspielkolleginnen agiert) und der Darstellung des Händlers im Song als Spiel im Spiel, das im Durchschneiden der Kehle des von einem Freiwilligen gespielten Bediensteten gipfelt. Betrachtet man diese Nummer von der Konstellation ihrer Besetzung her eben als An‐ ordnung verschiedener Arbeitsebenen, so ist diese ganz bewusst aus verschie‐ Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 121 <?page no="122"?> denen Fachbereichen - klassischer Musik, musikalischer Unterhaltung und belehrender Textfunktion über Hierarchien bezahlter und schlecht bzw. gar nicht vergüteter Arbeit - montiert, und sie stehen ganz im ursprünglichen Sinn von Brecht’scher Verfremdung auch kurz entfremdet einander gegenüber. Die Umsetzung in Birmingham greift insofern von der Rollenbesetzung ausgehend genau das Potential ästhetischer Reibung auf, das von der Partitur her angelegt ist. Analog, aber durch die Professionalität im Staatstheater hermetisch gehen Hauen und Stechen im Schlusschor der Verurteilung des Lukullus unter Beibe‐ haltung ihres Konzeptes klar markierter Widersprüche vor. Bestehen bleibt am Ende die Heterogenität der Figuren und der Bühnenelemente, ohne dass die ge‐ ringste Zusammenführung angestrebt würde. Damit und ebenso in der Fortset‐ zung bei der Applausordnung des Premierenabends wird zugleich ein mögliches Missverständnis ausgeräumt, das die individuellen Teilleistungen des Ensembles und des sich zu siebt verbeugenden Produktionsteams betrifft. Das Abflachen der Hierarchien in Form von Sichtbarmachung aller Verantwortlichen (für Regie, Bühne, Kostüme, Video, Licht und Dramaturgie) wird konsequent bis über den Schlussakkord des Abends hinaus verfolgt. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Grundregel und -struktur in der Oper, eine Partitur ohne Zäsuren, substantielle Umstellungen oder gar Überschreibungen aufzuführen, hier (noch) unangetastet bleibt und diese von einem Profiensemble aufgeführt wird. Dass zumindest Letzteres in Birmingham personell durchbrochen wird, reflektiert dort ebenfalls der Schluss, der den Bogen zum Vorstellungsbeginn zurückschlägt, indem die professionellen Darstellerinnen der Agitatoren im gemeinschaftlichen Parteibzw. Partytreiben verschwinden. 5 Fazit Zusammenfassend lässt sich auf eine kritische Funktion von (Musik-)Theater bezogen festhalten, dass Brechts Sprachkunst in ihren politischen Aussagen, auch Provokationen in der Verurteilung des Lukullus und der Maßnahme bei den Aufführungen in Stuttgart und Birmingham gegenüber den ästhetischen Her‐ ausforderungen an die Arbeitsstruktur(en) in den Hintergrund tritt. Die in die Partituren ‚eingeschleuste‘ Kritik am Apparat hat sich aber nach wie vor virulent und mit entsprechender ästhetischer Wirkung umsetzen lassen. Deutlich wird an den beiden Produktionen auch, dass sie sich kaum oder nur unzureichend unter Vernachlässigung zugrundeliegender Arbeitsstrukturen, vor allem bei der Zusammensetzung der Kollektive Chor und Instrumentalensemble, ästhetisch bewerten lassen. Diese sind entscheidend daran beteiligt bzw. werden auch in 122 Sebastian Stauss <?page no="123"?> 41 Hakenbeck/ Schmitt 2021: 45. 42 Eigenes Interview 1.3.2023. 43 Risi 2017: 14. der Kommunikation über die Produktionen dahingehend herausgestellt, dass Erwartungshorizonte zwischen Produzent: innen und Akteur: innen abgeglichen und hinterfragt werden. Besonderheiten in der Instrumentierung von Die Ver‐ urteilung des Lukullus stellen Hauen und Stechen in Stuttgart signalhaft auf der Bühne heraus, womit zumindest in Einzelmomenten eine Aufhebung der für die Apparate des Musiktheaters üblichen räumlichen Anordnungen und dadurch fi‐ xierten Hierarchien zu erkennen ist. Besonders Akteur: innen wie in der „Bistrot- Musik“ 41 mit Akkordeon oder dem Trautonium wird auch eine visuelle Präsenz zugestanden, die einen Gegenpol zur sonst opernüblichen und auch in dieser Produktion eingehaltenen Priorisierung der solistischen Bühnenakteur: innen bietet - so parodistisch in Entsprechung zur Partitur ihre Auftritte vor allem hinsichtlich der männlichen Titelrolle gestaltet werden. Demgegenüber werden in der Maßnahme in Birmingham von der weiblichen Besetzung der vier Einzelrollen bis zum Chor und den Freiwilligen konsequent die Möglichkeiten genutzt, bei grundsätzlichem Festhalten am partiturorientierten Arbeiten damit einhergehende Strukturen so weit wie möglich zu modifizieren - oder sogar ganz im Sinn des Lehrstücks von Brecht individuelle Interessen hinter der Gemeinschaftsarbeit und dem bloßen Willen, Kunst zu machen, zurücktreten zu lassen. So zumindest in der Einschätzung eines Chormitglieds in Birmingham: „What I see here is something that is very unique. […] It’s so powerful how it influences people positively, the energy is unique, that everyone’s contribu‐ tion is appreciated, everyone’s in a team.“ 42 Nicht zuletzt die mit Freiwilligen geführten Interviews legen nahe, dass das von der Organisation selbst gesteckte und formulierte Ziel der Partizipation in dreifacher Hinsicht auf Grundlage der Maßnahme aufgeht. Sowohl für die professionellen Mitwirkenden als auch für die Laien und Amateur: innen ist die gemeinsame Arbeit mit Lernprozessen bzw. (Weiter‐)Bildung verbunden. Die Einbindung junger Künstler: innen ist über die Besetzungsstrategie ebenso dokumentierbar wie die Gewinnung neuen Publikums für Musiktheater - und sei es auch nur zum vergleichsweise geringen Anteil der Teilnehmenden, die bestätigen, dass sie zuvor keinen Bezug zur Oper hatten und nach der Mitwirkung in Birmingham auch das nationale und internationale Operngeschehen verfolgen würden. Dazu, wie sich aktuelle Mu‐ siktheaterinszenierungen angemessen analysieren lassen, bietet sich insofern auch eine andere Argumentationsebene demgegenüber an, dass immer wieder „eigentlich überwunden geglaubte Forderungen nach Werk- und Texttreue hartnäckig sowohl auf Rezipierendenwie auch auf Produzierendenseite“ 43 an‐ Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht 123 <?page no="124"?> zutreffen sind. Alternativen zum Für und Wider von Konvention vs. Innovation bei Musiktheaterinszenierungen könnten sich in der Diskussion auftun, wenn man statt der Kategorien der oft konventionsbelasteten Werk- oder Texttreue stärker darauf einginge, wie strukturgerecht mit Partituren als Arbeitsgrundlage umgegangen wird - eben auch bezogen auf die Arbeitsstrukturen. Literatur Benda, Susanne (2021). Grellbunte Revue der Bilder. In: Stuttgarter Nachrichten, 02.11.2021. Abrufbar unter: https: / / www.stuttgarter-nachrichten.de/ inhalt.lukullus-a n-der-staatsoper-stuttgart-grellbunte-revue-der-bilder.eef4b9ff-cc12-4eb2-b7b9-c6e0 8fa52b15.html (Stand: 18.12.2023). Birmingham City Council (2023). £9m for arts and culture in Birmingham over next three years. 14.03.2023. Abrufbar unter: https: / / www.birmingham.gov.uk/ news/ art icle/ 1295/ 9m_for_arts_and_culture_in_birmingham_over_next_three_years (Stand: 18.12.2023). Brecht, Bertolt (1967a). Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony“. 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Die Idee der Kunstfreiheit, historisch verankert im Geiste der Aufklärung, diente ursprünglich dazu, kreative Expression vor staatlicher Einmischung zu schützen. In der heutigen Zeit jedoch erweitert sich der Diskurs um die Frage, in‐ wieweit Kulturpolitik und organisationale Regelungen (z.-B. Arbeitsrechte) die künstlerische Freiheit auch einschränken sollten - um etwa Machtmissbrauch vorzubeugen. Innerhalb des institutionellen Feldes des Theaters führt dies teils zu erheblichen Spannungen und sich gegenüberstehenden Lagern. So ist aktuell zu beobachten, dass diskursiv zwei gänzlich unterschiedliche Deutungsweisen aufeinanderprallen, die - gemäß der neo-institutionellen Theorie - auf einen Wandel vorher nicht hinterfragter und lange als selbst‐ verständlich geltender kulturell-kognitiver 2 Aspekte des Theaters als Institu‐ tion hinweisen. So entbrennt ein Kampf um die Auslegung der Kunstfreiheit <?page no="128"?> 3 Keller 2017: 2. 4 Schößler 2017: 213. zwischen den Parteien, die das etablierte Wertesystem erhalten wollen und eine Einschränkung der Kunst als Gefahr sehen, und jenen, die signifikante organisationale Veränderungen anstreben und dafür auch Einschränkungen der Kunstfreiheit hinnehmen würden, auch, da sie diese als Mittel zur Machtsiche‐ rung einiger weniger betrachten. Diese Gegensätze deuten das Spannungsfeld zwischen traditionell-etablierten Positionen und progressiven Reformbestre‐ bungen innerhalb der Theaterwelt an, was auf beginnende Umwälzungen im Machtgefüge der Theater verweist. Innerhalb dieses Diskursfeldes scheinen ästhetische und strukturell-systemische Fragen rund um die Kunstfreiheit nicht mehr getrennt voneinander verhandelbar, was die enge Verflechtung von Ästhetik und Struktur sichtbar macht. Dieser Artikel untersucht im Kontext dieses Spannungsverhältnisses anhand der Analyse verschiedener Textsorten, aber auch im Rahmen von Interviews mit Theatermachenden, wie der Begriff der Kunstfreiheit im nicht-juristischen Diskurs rekonfiguriert wird. Der Diskurs-Begriff als „gesellschaftliche Prozes‐ sierung von Deutungen und ‚Deutungskämpfen‘“ 3 verstanden, bietet analytisch einen differenzierten Einblick in derzeitige Transformationsprozesse der Werte- und Machtordnungen der Theater. Der Artikel ist in zwei Hauptteile gegliedert: Das erste Kapitel widmet sich dem juristischen und historischen Hintergrund des 5. Artikels des Grundge‐ setzes, der die Kunstfreiheit in Deutschland schützt. Im zweiten Teil des Artikels schließt die Diskursanalyse an. Hier wird besonders auf das Verhältnis zwischen Arbeit und strukturellen Bedingungen innerhalb kultureller Organisationen sowie auf die Wechselwirkungen zwischen ästhetischen Praktiken und der Auslegung von Kunstfreiheit eingegangen. Diese Analyse ermöglicht es, die ak‐ tuellen Herausforderungen und Spannungsfelder, denen sich Kulturschaffende gegenübersehen, präzise zu erfassen und zu diskutieren. 2 Juristischer und historischer Hintergrund Seit 1949 schützt Artikel 5 des Grundgesetzes die Kunstfreiheit als eines der zen‐ tralen Grundrechte Deutschlands. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes näher, so stößt man in der Theatergeschichte auf Pioniere, die sich im Zuge der Aufklärung für die Freiheit der Kunst und den „Rückzug des Staats aus den künstlerischen Angelegenheiten“ 4 bereits Mitte des 19. Jahrhun‐ derts einsetzten. Zu diesen zählt Philipp Eduard Devrient, erster bürgerlicher 128 Rike-Kristin Baca Duque <?page no="129"?> 5 Devrient 1849: 18. 6 Pieroth 2021: 3. 7 Rauterberg 2018: 11; Balme 2021. 8 Pieroth 2024. 9 Pieroth 2024. Intendant am damaligen Großherzoglichen Theater Karlsruhe, der 1849 in Das Nationaltheater des Neuen Deutschlands dafür plädierte, das Theater zu verstaatlichen und die Leitung konsequent in die Hände künstlerisch erfahrener Persönlichkeiten zu legen, um die Qualität und Unabhängigkeit der künstleri‐ schen Arbeit zu gewährleisten, denn die „Einmischung kunstfremder Gewalten muß nothwendig Halbheit und Zerfahrenheit in ihre Resultate bringen“, wes‐ halb die „Machtvollkommenheit der künstlerischen Leitung“ 5 in den Händen eines Sachverständigen zu präferieren sei. Nach Ende des Deutschen Kaiserreichs wurde die Freiheit der Kunst schließ‐ lich zu Beginn der Weimarer Republik unter dem Eindruck der vormaligen kaiserlichen Zensur in die Verfassung von 1919 mit Artikel 142 Satz 1 aufge‐ nommen. 6 Die Zeit des Nationalsozialismus machte diese progressive Errungen‐ schaft wieder zunichte. Durch die schmerzhafte Erfahrung der Auswirkungen des nationalsozialistischen Terrors, der sich über alle Lebensbereiche erstreckte und diese der nationalsozialistischen Ideologie gemäß unterwarf, wurde die Kunstfreiheit im Deutschland der Nachkriegszeit zu einem äußerst schützens‐ werten Gut. Die Kunstfreiheit war nie zur Gänze autonom - immer schon erfuhr sie ihre Begrenzung durch andere Rechte, aber auch durch Legitimationsmythen, die anzeigen, was das Theater zu unterschiedlichen Zeiten für eine Gesellschaft zu leisten hatte. 7 Nach Ausführungen des Juristen Bodo Pieroth wird der Schutzbereich der Kunst „sachlich sehr weit verstanden“, Grenzen habe die Kunstfreiheit nur im sogenannten kollidierenden Verfassungsrecht: Es bedarf eines gleichrangigen Verfassungsguts, das gegen die Kunstfreiheit abzu‐ wägen ist, wobei beiden die größte Verwirklichung zu ermöglichen ist; das nennt man auch praktische Konkordanz. Ein einfaches Beispiel: Der grundrechtliche Schutz des Lebens verbietet den Mord auf der Bühne. Die gerichtliche Praxis hat es mit komplexeren Kollisionslagen zu tun. Häufig geht es um die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht. 8 Herausfordernd ist dabei stets geblieben, dass auch die Rechtsprechung mit Sprache arbeiten muss und diese an bestimmte Wertvorstellungen gebunden ist, denn „Veränderungen der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit lassen das Verfassungsrecht nicht unberührt.“ 9 So lässt die Kunstfreiheit als Begriff einen Die Kunstfreiheit im Blick 129 <?page no="130"?> 10 Lenski 2016: 35; BVerfGE 75: 369. 11 Rebentisch 2013: 47. 12 Menke 2013: 61. 13 Bei dem Begriff ‚Werk‘ handelt es sich um einen juristischen Begriff in Bezug auf Kunstwerke im Allgemeinen. In der Theaterwissenschaft wird dieser Begriff in der Regel nicht auf Inszenierungen angewendet. 14 Kohal 2022: 501 ff.; BVerfGE 30: 173 ff. (Mephisto-Entscheidung). hohen Interpretationsspielraum offen, der immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Dessen sind sich auch die höchsten juristischen Stellen schmerz‐ lich bewusst. Das Bundesverfassungsgericht postulierte 1987 etwa im Zuge des Prozesses gegen die Strauß-Karikaturen „die Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren, und das zwingende verfassungsrechtliche Gebot, […] den Begriff der Kunst […] genau zu bestimmen“. 10 Diese Paradoxie spiegelt den heutigen ästhetischen Diskurs um den Versuch der Definition von Kunst wider: Die Besonderheit der ästhetischen Erfahrung [besteht] darin, dass der ästhetische Ge‐ genstand zwar nach Bestimmung verlangt, einer abschließenden solchen Bestimmung sich jedoch immer wieder entzieht, um den Verstehensprozess auf diese Weise erneut zu befeuern. […] Kunst hält sich folglich nicht nur zum Denken hin offen, insofern sie dieses zu immer neuen Bestimmungen veranlasst, sie hält auch das Denken selbst offen, insofern sie dieses nie an ein Ziel kommen lässt. Wir kommen angesichts der Kunst nie zu einem bestimmenden Urteil. 11 Mit dem Dilemma, dass es sich bei jeder juristischen Beurteilung von Kunst immer um ein „Urteil ohne Beurteilbares“ 12 handelt, versucht die Rechtspre‐ chung so umzugehen, dass sie Kunst wie folgt beschreibt: Erstens materiell - Kunst wird als das Ergebnis einer freien, schöpferischen Gestaltung definiert, die subjektive Eindrücke in einer spezifischen Formensprache ausdrückt. Zweitens formal - Kunst ist demnach gegeben, wenn ein Werk 13 Strukturmerkmale eines bestimmten Werktyps aufweist, z. B. die Strukturmerkmale einer Inszenierung hat. Und drittens existiert ein offener Kunstbegriff - demnach ist ein Werk, in diesem konkreten Fall eine Inszenierung, dann Kunst, wenn sie interpretati‐ onsfähig oder -bedürftig ist. 14 Um klare Definitionen handelt es sich bei keiner der drei Beschreibungen. Von der nie vollständig zu beantwortenden Frage, was Kunst ist und was demnach wie zu schützen ist, bis hin zu Erwägungen, wer für sich in welchem Fall Kunstfreiheit reklamieren kann, schließen sich an den juristischen Begriff viele arbeitspraktische Fragen für die Kunst- und Kulturszene an. Immer wieder zeigten Fälle in der Geschichte, dass die Grenzen der Kunstfreiheit nicht eindeutig benannt werden können und eine permanente 130 Rike-Kristin Baca Duque <?page no="131"?> 15 Eines der aktuelleren und medienwirksamen Beispiele ist etwa das Schmähgedicht von Jan Böhmermann gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. 16 Rauterberg 2018: 11. 17 Rauterberg 2018: 11. 18 Rauterberg 2018: 33. 19 Milagro 2021a. gesellschaftliche Neuaushandlung erfordern. 15 Dabei zeigt sich, dass die Kunst rechtlich nie vollkommen frei gewesen ist und immer von den sie umgebenden gesellschaftlichen Kontexten, Tabus und Sehgewohnheiten abhing. 3 Kunstfreiheit als Diskurs Wie frei die Kunst denn tatsächlich ist und wie frei sie sein soll, was sie sich herausnehmen darf und welche Rücksichten sie üben muss, um all diese Fragen ist ein Kulturkampf entbrannt, der mit überraschender Schärfe geführt wird und in dem nicht zuletzt die tiefe Krise des Liberalismus zutage tritt 16 - so schreibt Hanno Rauterberg 2018 in Wie frei ist die Kunst? und spricht von einem Schisma des linksliberalen Milieus. Längst habe sich dieses in zwei Lager geteilt: In das Lager derjenigen, die am Idealismus festhalten, dass „die freie Kunst immer auch den befreiten Menschen meine“, und das Lager derjenigen, die die Kunstfreiheit als „Freiheit der Privilegierten“ 17 verstehen und machtkri‐ tisch eine Zensur zugunsten benachteiligter Gruppen fordern. Letztere vertreten zunehmend die Ansicht, dass Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit in einigen Fällen als wichtiger erachtet werden sollten als die ‘uneingeschränkte’ - da ja nie ganz ohne Grenzen - künstlerische Freiheit. 18 Innerhalb des Diskurses wird von einigen linksliberalen Gruppen argumentiert, dass die Kunstfreiheit bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zementiere; sie betrachten sie als ein Privileg, das vorrangig bestimmten sozialen Gruppen zugutekommt. So wird sie als ein voraussetzungsvolles Exklusivrecht und als diskursives Machtmittel einiger weniger gegen andere problematisiert. Es schließt die Argumentation an, dass die Kunstfreiheit oft durch die dominierenden sozialen Gruppen, typischerweise weiße, nicht-behinderte, heterosexuelle Cis-Männer, geprägt werde. Dies führt zu der Forderung, Diversität und Inklusivität in künstlerischen Prozessen zu fördern, um eine breitere Repräsentation zu erreichen. 19 Die Kunstfreiheit erfährt damit eine diskursive Refiguration, die eine Neugewich‐ tung der Prioritäten einiger Beteiligter im institutionellen Feld des Theaters markiert, denn die Kunst soll nicht nur Kunst sein, sondern auch weiteren gesellschaftlichen Kriterien entsprechen. Darunter fallen Aspekte der Nachhal‐ tigkeit, der Gendergerechtigkeit, der Diversität, der Repräsentationsformen Die Kunstfreiheit im Blick 131 <?page no="132"?> 20 Ullrich 2022a. 21 Laudenbach 2021. 22 Laudenbach 2021. 23 Grundl 2019. 24 Grundl 2019. 25 Strauss 2023. 26 Pieroth 2021: 1ff. etc. 20 Was vorher für Inszenierungen legitim war - zu provozieren, Grenzen des Moralischen zu überschreiten, gesellschaftliche Normen herauszufordern -, verkehrt sich zunehmend dazu, dass die Legitimität des Theaters insbesondere dann gewährleistet ist, wenn Inszenierungen als Echoraum gesellschaftspoliti‐ scher Debatten fungieren. Die reformorientierten und häufig aktivistisch agierenden Bewegungen, die den Kunstfreiheitsbegriff machtkritisch reflektieren, werden von konservativen und im Feld des Theaters etablierten Kräften misstrauisch beobachtet. Dieses dritte Lager äußert Bedenken, dass Phänomene wie ‚Cancel Culture‘ und politische Korrektheit die Kunstfreiheit einschränken und der Kunst langfristig schaden könnten: „Vor Angst, in der Kunst riskante Positionen einzunehmen, oder gegen Sprachregelungen zu verstoßen, entsteht ein Klima der Absicherung und Übervorsicht. Das kann für die Kunst nicht gut sein.“ 21 Wo einst der Staat als Bedrohung der Kunstfreiheit galt, dominieren nach Ansicht des konservativen Lagers heute „kleine, lautstarke Gruppen politischer Aktivisten“ 22 den Diskurs. Andere sehen die Kunstfreiheit vielmehr durch den zunehmenden Rechtsextre‐ mismus gefährdet. 23 Ein bezeichnendes Beispiel für die politische Einflussnahme auf die Kunstfreiheit bietet das Mittelsächsische Theater in Freiberg, wo auf Druck der AfD hin die Durchführung von Diskussionsrunden zum Thema Rechtspopulismus untersagt wurden: „Was Kunst ist, das meinen in Freiberg nun ein paar Stadträte bestimmen zu dürfen.“ 24 Ähnliches passierte in Zwickau, wo der Stadtrat einen Antrag mehrheitlich beschloss, der zum Ziel hatte, das Gendern für Stadtverwaltung und Eigenbetriebe sowohl in der internen wie auch in der externen Kommunikation zu verbieten. Das betraf ebenfalls das dortige Theater, das sich unter Berufung auf die Kunstfreiheit (! ) gegen das Verbot zur Wehr setzte. 25 Unter anderem diese Vorfälle verdeutlichen für viele Verteidiger: innen der Kunstfreiheit die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit künstlerischer Institutionen zu sichern und die Auswirkungen politischer Inter‐ ventionen kritisch zu bewerten. So fordern progressive wie konservative Stimmen das Wertesystem der öffentlich getragenen Theater heraus. 26 Die Auseinandersetzung um die Legi‐ timität des Theaters unter dem Stichwort der Kunstfreiheit beschränkt sich 132 Rike-Kristin Baca Duque <?page no="133"?> 27 Mandel 2021: 30f. 28 Was nicht zum Wirk- oder Werkbereich zählt und somit nicht von der Kunstfreiheit geschützt ist, müsste aus juristischer Perspektive näher beleuchtet werden. 29 Boldt 2022; Peitz 2018; Koch/ Welscher 2021. dabei nicht nur auf die Inszenierungen, sondern bezieht sich ebenfalls auf die Organisation von Theatern sowie auf die künstlerische Arbeit selbst. Diese beiden Facetten des Theaters - Inszenierung und Organisation -, die sich den beiden in diesem Sammelband gewählten Schwerpunkten - Struktur und Ästhetik - zuordnen lassen, sollen nun im Folgenden getrennt voneinander betrachtet werden. 3.1 Ist künstlerisches Arbeiten Kunst? Die Kunstfreiheit erstreckt sich in Bezug auf das Theater häufig nicht exklusiv auf ein Werk (Inszenierung), sondern wird so interpretiert, dass die gesamte Institution wie Organisation durch die Kunstfreiheit geschützt ist. So stellt Birgit Mandel fest: Im Kultursektor wird die Kunstfreiheitsgarantie häufiger uminterpretiert in eine ‚Kunstorganisationen-Freiheit‘, die auch zur Abwehr von legitimen externen Erwar‐ tungen instrumentalisiert werden kann. 27 Wer das Theater als Organisation zum Kunstwerk erhebt, macht es mit Be‐ rufung auf die Grundrechte gleichsam unantastbar. Folgt man juristischen Auslegungen, hat dies zum Teil seine Berechtigung, da die Kunstfreiheit sowohl den Werkals auch den Wirkbereich schützt. 28 Manche Theaterorganisationen stützen sich auf diese Interpretation, um sich gegen Veränderungsdruck und externe Einflüsse wie kulturpolitische Entscheidungen zu verteidigen; eine Argumentation, die zunehmend kritisch hinterfragt wird. Kulturpolitische Herausforderungen Unter Verweis auf die Kunstfreiheit gilt aus der Perspektive der Rechtsträger die Implementierung ‚von oben‘ initiierter organisationaler Veränderungen und Maßnahmen in den Theatern als kulturpolitisches Tabu. Diese Position gerät jedoch zunehmend in den Fokus der Kritik, denn im Zuge öffentlicher Debatten machen es theatermachende Aktivist: innen den Rechtsträgern immer wieder zum Vorwurf, nicht ausreichend zu intervenieren, es sich durch den Kunstfrei‐ heitsparagraphen zu einfach zu machen und den Theatern damit nicht zum geforderten Wandel zu verhelfen. 29 Unter dem Credo der Kunstfreiheit seien die Theater kulturpolitisch allein gelassen worden, sodass sie in ihren Struk‐ Die Kunstfreiheit im Blick 133 <?page no="134"?> 30 Interview 5 mit einer auf Theater spezialisierten Organisationsberaterin (Okt. 2022). 31 Koch/ Welscher 2021. 32 Cossel 2011: 11. 33 Crückeberg/ Steinhauer 2021: 170. 34 Dieser wurde abermals 2021 überarbeitet und um weitere Formen diskriminierenden Verhaltens ergänzt. turen im Vergleich zu anderen Unternehmen um Jahrzehnte hinterherhinken. 30 Doch die deutsche Kulturpolitik befindet sich genau durch die Annahme, die Theaterorganisation stehe als Ganzes unter dem Schutz der Kunstfreiheit, in einer komplizierten, potenziell angreifbaren Lage. So muss sie erstens prinzipiell Kultur und Kunst schützen und fördern. Sie darf zweitens nach den Erfahrungen des Dritten Reichs niemals die Grenze zu Zensur und Verboten überschreiten. Drittens soll sie der Intendanz freie Hand im künstlerischen Sinne garantieren und ganz besonders nicht inhaltlich eingreifen. Dennoch erwartet ein Teil der Theatermachenden, dass Maßnahmen im organisationalen Bereich auch gegen den Willen der immer noch bestehenden Machtelite Intendanz zu ihrem Schutz als Arbeitnehmende oktroyiert werden, wobei gleichzeitig unklar bleibt, ob sich diese Maßnahmen nicht eventuell massiv auf die künstlerische Arbeit auswirken könnten. 31 Ein kulturpolitisches Dilemma. Grundsätzlich ist eine indirekte kulturpolitische Einflussnahme jedoch nie ganz auszuschließen, denn die finanzielle Abhängigkeit der Theater von den Rechtsträgern führt dazu, dass die Kulturbetriebe auf den kulturpolitischen Gefallen angewiesen sind sowie darauf, dass die hohen öffentlichen Subven‐ tionen weiterhin kulturpolitisch legitimiert werden. 32 Gleichzeitig können sich Theaterleitungen argumentativ auf die Kunstfreiheit berufen, um ihre Unab‐ hängigkeit vom Rechtsträger einzufordern. 33 Es handelt sich vor allem deshalb um eine komplizierte kulturpolitische Gemengelage, da die vormalige Klarheit darüber, was Aufgabe der Kulturpolitik sein sollte, zunehmend verschwimmt. Organisationale Strukturen und die Kunstfreiheit In der Tiefe der Theaterorganisationen weichen die Grenzen zwischen organi‐ sationaler Struktur und Kunstfreiheit weiter auf. Es stellt sich die Frage, welche Facetten der organisationalen Struktur als integraler Bestandteil des künstleri‐ schen Schaffensprozesses gelten und somit durch die Kunstfreiheit geschützt werden müssen. Diese Verschmelzung wird bei der näheren Betrachtung des Prozesses deutlich, der der Einführung des wertebasierten Verhaltenskodexes durch den Deutschen Bühnenverein im Jahr 2017 vorangegangen ist. 34 Dieser Kodex, entstanden als Reaktion auf Missbrauchsfälle in der Kunstszene, zielt darauf ab, ein respektvolles Verhalten zu fördern und ist nicht rechtlich bindend, 134 Rike-Kristin Baca Duque <?page no="135"?> 35 Weber et al. 2022. 36 Deutscher Bühnenverein 2021: 1. sondern dient vielmehr als Orientierung. Schon bei dieser vergleichsweise kleinen und für alle öffentlich getragenen Theater gedachten organisationalen Maßnahme entbrannte eine Auseinandersetzung darüber, ob der Kodex nicht zu einer hinderlichen Selbstregulierung der Theater führen könnte. Viele In‐ tendant: innen äußerten große Skepsis, ob ein Kodex überhaupt gebraucht werde. 35 Nach öffentlichem Druck und internen Auseinandersetzungen ent‐ stand schließlich der Verhaltenskodex, der von den Mitgliedern des Deutschen Bühnenvereins einstimmig beschlossen wurde. Die erste Verhaltensregel fordert zu Folgendem auf: „Ich verhalte mich anderen gegenüber rechtskonform und respektvoll. Das gilt auch für den künstlerischen Arbeitsprozess.“ 36 Der/ die Leser: in mag sich hier fragen, wie diese und ähnliche Verhaltensleitlinien zu einer betrieblichen Überregulation führen und damit die Kunstfreiheit ein‐ schränken könnten - denn schärfer sind auch die übrigen Vorgaben des Kodex nicht ausformuliert. Das Beispiel des mühsamen Erarbeitens einer Verständi‐ gung auf partnerschaftliches Verhalten am Arbeitsplatz zeigt, wie stark die kulturell-kognitive Grundannahme der freien künstlerischen Arbeit innerhalb der Theater wirkt und damit begünstigt, dass sich die Theater unter Rückbezug auf die Kunstfreiheit jeder Form der Regelung entziehen und diese zumindest als für die Kunst hinderlich betrachten. Machtkritische Perspektiven Die Kunstfreiheit soll nicht nur die Kunst als Erzeugnis, sondern auch die strukturellen Bedingungen sowie diejenigen, die Kunst hervorbringen und den Prozess des Erarbeitens schützen. Kunstfreiheit argumentativ gegen die Forde‐ rungen nach Wandel heranzuziehen, schützt der Argumentation machtkritisch denkender Aktivist: innen nach am Ende nur die Wenigen, die hierarchisch in höheren Positionen arbeiten. Genau hier liegt jedoch machtkritisch betrachtet das Problem, denn die Theaterarbeit involviert Viele und ist nicht das Erzeugnis Einzelner. Da Theater immer Viele sind, hat destruktives Verhalten Einzelner immer zur Konsequenz, anderen an der Produktion Beteiligten potenziell zu schaden. Die auf die Ensembles meist souverän wirkende Machtposition der Intendanz, der Regie, der Ausstatter: innen und Bühnenbildner: innen soll möglichst nicht angetastet werden, doch die Kunstfreiheit wird mit dem Zu‐ ständigkeitsbereich eben dieser Personen gleichgesetzt. Genau das soll sich den Stimmen vieler sich aktivistisch engagierender Theatermachender nach ändern, Die Kunstfreiheit im Blick 135 <?page no="136"?> 37 Berg 2017. 38 Milagro 2021a. 39 Im Rahmen der (noch nicht publizierten) Dissertation der Autorin zum organisationalen Wandel öffentlich getragener Theater in Bezug auf Gender und Diversität sind 14 Per‐ sonen des Badischen Staatstheaters Karlsruhe interviewt worden. Das hier angeführte Zitat entstammt aus eben dieser Interviewreihe. denn es sei ein entscheidender Unterschied, wer wie von der Kunstfreiheit Gebrauch macht und sie für sich reklamiert. Sybille Berg kritisierte 2017 bei der Intendant: innentagung des Deutschen Bühnenvereins daher, dass das Prinzip der Kunstfreiheit dazu diene, Thea‐ terbetriebe mit ihren „patriarchalen Führungsstrukturen mit hierarchischen Abläufen“ aufrechtzuerhalten, „die auf der einen Seite (zum Beispiel) Macht‐ missbrauch, Sexismus und Narzissmus und auf der anderen Seite (zum Beispiel) Ängste, Selbstzensur und Selbstausbeutung fördern“. 37 Der Fall scheint klar: Kunstfreiheit erstreckt sich nicht auf alle, die eine Inszenierung hervorbringen, sie scheint eher als Exklusivrecht Weniger verstanden zu werden. In der Konsequenz bedeutet des Einen Kunstfreiheit des Anderen Abhängigkeit und Ausgeliefertsein: Solange sich Macht bei nur einigen Wenigen (Gruppen) konzentriert, wird eine weiße, männliche, nicht-Queere, nicht behinderte Minderheit der breiten Mehrheit der Kulturschaffenden auch in 100 Jahren noch erklären, was Kunstfreiheit ist. 38 Interviewte Spieler: innen 39 eines öffentlich getragenen Staatstheaters sind darum davon überzeugt, dass nur hierarchiefreie Arbeitsmodelle einen Raum entstehen lassen, in dem die Kunst im Miteinander-Arbeiten wirklich frei sei. Hier passiert nun eine spannende Umkehrung: Wenn man sich den eingangs zitierten Satz von Rauterberg vor Augen hält, dass mit der freien Kunst auch immer der befreite Mensch gemeint sei, dann ist dieser Satz nun nicht mehr auf das Publikum oder einzelne Künstler: innen (zum Beispiel Regisseur: innen) bezogen, sondern auch auf diejenigen, die die Kunst in einem hierarchischen Ab‐ hängigkeitsverhältnis miteinander hervorbringen: Erst wenn Theatermachende frei von Ängsten, Machtmissbrauch, Diskriminierung, aber auch frei von Hier‐ archie sind, erst dann könne freie Kunst entstehen. Kunstfreiheit aus Perspektive der Theaterpraxis Durch Mitbestimmung und den co-kreativen Prozess könne sich aus der Sicht von Theatermachenden fern der wenigen Einzelnen, die Kunstfreiheit für sich propagieren, ein Raum der Kunstfreiheit eröffnen: 136 Rike-Kristin Baca Duque <?page no="137"?> 40 Interview 1 mit einem Schauspielenden aus einem öffentlich getragenen Staatstheater (Dez. 2022). 41 Interview 6 mit einem auf Theater spezialisierten Organisationsberater (Nov. 2022). 42 Kelly 2022. 43 Interview 2 mit einer Leitungsperson aus der Sparte Musiktheater eines öffentlich getragenen Theaters (Dez. 2022). Der Raum definiert auch den Inhalt, und zwar zu einem erheblichen Teil. Also die Struktur definiert auch den Inhalt. Du kannst nicht von Kunstfreiheit faseln und dann aber die Strukturen nicht verändern wollen. Da ist nämlich keine Freiheit. Da ist nichts frei, da kriegt nicht jeder mal das Wort und jeder darf mal irgendwas sagen. Nein, nein, es sagen immer die Gleichen immer das Gleiche. Die Gleichen machen das Gleiche. 40 Kunstfreiheit ist für mich das Verhandeln von künstlerischen Idealen, Ideen und Konzepten in einem Team, um eine künstlerische Produktion durchzusetzen, das ist also ein Verhandlungsprozess von verschiedenen Idealen und Konzepten und nicht des einen Intendanten oder Regisseurs. 41 Solange sich die Theaterstrukturen nicht hin zu mehr Teilhabe, Diversität und Hierarchiefreiheit verändern, bleibe die Kunstfreiheit eingeschränkt. 42 Die Veränderung der Struktur und dadurch ein Wandel des Arbeitens könne dieser Argumentation folgend dazu führen, dass die Erarbeitung von Inszenierungen diskriminierungs- und gewaltfreier werden. Ein offenerer Kommunikations‐ raum entstehe, in dem alle in einen Prozess involvierten Stimmen gehört werden. Nicht nur die Art und Weise der hierarchiefreien Kommunikation spielt für die Freiheit der Kunst in diesem Kontext eine Rolle, sondern auch die Besetzungspolitik der öffentlich getragenen Häuser, denn indem die Strukturen an sich diverser und offener besetzt sowie gestaltet werden, könnte der Begriff der Kunstfreiheit ebenfalls eine neue Bedeutung erhalten. In Interviews mit Theatermachenden in Leitungspositionen wird allerdings deutlich, dass diese Forderung nach einer Form der ‚kollektiven‘ Kunstfreiheit eng mit Verantwor‐ tung verbunden ist. Aber Verantwortung kann auch nur jemand übernehmen, der das auch wirklich möchte und der sich dazu im Stande fühlt. Und da sind wir jetzt noch nicht. […] solange sie [künstlerisch Angestellte der Ensembles] [noch nicht so weit] sind, ist auch die Verantwortungsübernahme eine Überforderung zum jetzigen Zeitpunkt. 43 Miteinander an Inszenierungen zu arbeiten und Kunstfreiheit als etwas zu betrachten, was basisdemokratisch jeder an der Inszenierung beteiligten Person zusteht, müsse im Sinne der Verantwortungsübernahme erst erlernt werden. Die Kunstfreiheit im Blick 137 <?page no="138"?> 44 Interview 2 mit einer Leitungsperson aus der Sparte Musiktheater eines öffentlich getragenen Theaters (Dez. 2022). 45 Interview 3 mit einem Schauspielenden eines öffentlich getragenen Theaters (Dez. 2022). Derlei Strukturfragen betreffen nicht alle Arbeitsbereiche des Theaters, denn die Kunstfreiheit wird in den verschiedenen Sparten unterschiedlich gewichtet. Obwohl die Arbeit der Kollektive Orchester und Chor stark durch unbefristete Arbeitsverträge geregelt ist (freie Tage, Arbeitszeiten, Pausen etc.), steht die Frage einer durch strengere Vorgaben möglicherweise gefährdeten Kunstfreiheit nicht im Raum, während die Art und Weise des Arbeitens durch das Argument der Kunstfreiheit für Personen mit NV-Bühne-Solo-Verträgen gerade im Schauspiel und der Oper möglichst offengehalten und wenig reguliert werden soll. Dies verweist auf starke Diskrepanzen und unterschiedliche Ausle‐ gungen im Hinblick auf die Kunstfreiheit zwischen den einzelnen Kunstformen. Von der künstlerischen Seite der Regieteams her werden insbesondere Re‐ gelungen der Arbeitszeitgesetze sowie Arbeitssicherheitsregelungen immer wieder als störend empfunden, da sie die Inszenierungsarbeit teilweise mit ihren eigenen Logiken dermaßen überregulieren, dass sie im Theaterbetrieb als Behinderung der Arbeit verstanden werden: Dienstzeiten, Arbeitszeiten, NV-Bühne 48 Stunden pro Woche ist möglich, aber nicht mehr als zehn Stunden pro Tag und dann muss alle sieben Tage mindestens einen Tag frei sein. Passt nicht zusammen mit Endproben. Faktisch die Arbeitszeitgesetze passen nicht auf den Theaterbetrieb […]. Früher war das und das möglich. Das geht heute allein schon nicht mehr, weil es zum Beispiel ganz andere Arbeitszeitgesetze gibt, die jetzt auch geprüft werden und exekutiert werden, gut so. Nur das muss ja auch zwangsläufig Auswirkungen auf die Kunst haben, aber die Kunst hält noch an der alten Art und Weise fest. Aber könnte man das nicht anders machen? Ja, natürlich könnte man, aber dann müsste es wieder jemanden geben, einen General sage ich jetzt mal, der sich das von oben anschaut und sagt okay: dann kann ich aber Endprobenphasen nicht so machen bzw. Endprobenphasen in einem laufenden Spielbetrieb gehen gar nicht. Ich kann diese Arbeitszeit nur einhalten und dann ein qualitatives Ergebnis haben, wenn ich die Produktionen ganz anders aneinanderreihe. 44 Ich finde es zum Beispiel auch echt bedenklich, diese ganzen Arbeitssicherheitsstruk‐ turen, wenn ich den Leuten heute erzähle, was ich vor 30 Jahren auf der Bühne getrieben habe, da werden die Leute ja ganz blass. Das darf man ja alles gar nicht, das ist ja lebensgefährlich und natürlich denke ich, das schränkt mich natürlich komplett ein. 45 138 Rike-Kristin Baca Duque <?page no="139"?> 46 Tsuḳerman 2022: 10. 47 Tsuḳerman 2022: 8. 48 Interview 4 - Gruppeninterview mit Angestellten eines öffentlich getragenen Theaters aus verschiedenen Arbeitsbereichen (Dez. 2022). Die Annahme, dass die Kunst frei ist, wird von den interviewten Theatermach‐ enden als eine nicht zu erreichende Utopie wahrgenommen, denn Kunst sei schon immer in „außerkünstlerischen Kontexten“ 46 eingebettet und eben nicht immun gegen „die wesentlichen Einflüsse besagter Institutionen und Strukturen auf Entstehung, Inhalte und Ansprüche der Kunst“. 47 Manche Theatermachende gehen sogar so weit, dass sie in Frage stellen, ob das öffentlich getragene Theater überhaupt ein Kunstort sei: Ich bin inzwischen an dem Punkt, dass ich das Gefühl habe, das Stadttheater ist kein wirklicher Kunstort, weil es zu viele Menschen sind, die in Bezug auf zu viele verschiedenen Dinge zu viele verschiedene Vorstellungen haben. Das alles muss koordiniert, geregelt, finanziert, kontrolliert werden. Das sind ja staatliche Betriebe oder städtische oder wie auch immer. Es sind Betriebe. Es ist ein Betrieb. 48 Diese Perspektive stellt die Interpretation, dass Theater als Organisationen ebenfalls durch die Kunstfreiheit zu schützen seien, radikal in Frage. Es scheint aus dieser Sprechposition heraus völlig klar zu sein, dass es sich zunächst um einen Arbeitsort, einen Betrieb handelt, der durch für einen Arbeitsort typische Regelungen strukturiert ist. Die Frage, ob Regulationen zu einer Einschränkung der Kunstfreiheit führen könnten, ergibt sich aus dieser Perspektive erst gar nicht. 3.2 Sollte jeder Aspekt der Ästhetik durch die Kunstfreiheit geschützt sein? In Bezug auf Ästhetik schafft der Diskurs um die Kunstfreiheit ebenfalls einen Bereich, in dem antagonistische Positionen aufeinanderprallen: Für einen Teil der Theatermachenden ist die dramaturgische Überarbeitung von Texten prinzipiell ein Muss (z. B., dass das N-Wort gestrichen und diskriminierende Sprache ersetzt werden muss). Das Theater habe alle Mittel der Kreativität und des Erfindungsreichtums zur Hand, um in Inszenierungen selbst gewalt‐ samste Momente zu verdeutlichen, ohne eine Ästhetik zu verwenden, die diese spiegelgleich reproduziert. Muss eine Vergewaltigung wie eine Vergewaltigung dargestellt werden? - Zeitgenössische Inszenierungen zeigen, dass dem nicht so ist. Subtilere Darstellungsweisen sind hier schon längst etabliert. Geht es allerdings um Personengruppen diskriminierende Sprache, sehen manche die Die Kunstfreiheit im Blick 139 <?page no="140"?> 49 Interview 1 mit einem Schauspielenden eines öffentlich getragenen Theaters (Dez. 2022). 50 Milagro 2021b. 51 Raue in Laudenbach 2021. 52 Raue in Laudenbach 2021. Grenzen der Kreativität erreicht und ziehen tradierte Sprechweisen selbst in Fällen vor, die zweifellos als Diskriminierung zu werten sind und hier nicht weiter zitiert werden sollen: Lass ihn doch einfach, was war das jetzt, in ANNA IWANOWA, [diffamierendes Wort], jetzt lass sie doch einfach [diffamierendes Wort] sagen, das ist doch gut, es gibt doch Antisemitismus, sind dann so die Argumente. Es gibt Antisemitismus, es wäre doch falsch, das jetzt da rauszustreichen. Das muss doch hier vorkommen. 49 Jene Gruppen fühlen sich in ihrer Interpretation von Werken in der Ausübung ihrer Freiheit der Kunst durch aktivistische Bewegungen innerhalb der Theater ausgebremst, wenn nicht gar gefährdet. Auch die Besetzung von Rollen steht im Fokus der Auseinandersetzung: Ein Teil der Theatermachenden bewertet es als höchst bedenklich, wenn in Inszenierungen Rollen von Personen mit Behinderung, BIP o C oder FLINTA * durch nicht-behinderte, binäre, Weiße, Cis- Spieler: innen verkörpert werden: Es geht um neue Übersetzungen nicht nur innerhalb einer Sprache, sodass rassistische, sexistische, klassistische, queer- oder behindertenfeindliche Begrifflichkeiten durch eine neue, gewaltfreie Kommunikation ersetzt werden; es geht auch um neue Über‐ setzung durch eine Besetzungspolitik sowie Bildsprache, die frei ist von Klischees und Stereotypen vor allem auch dann, wenn es eine künstlerische Auseinandersetzung mit Rassismus / Diskriminierung betrifft. 50 Diese Repräsentationsforderungen treffen auf das Gegenargument, wo denn da die Kunstfreiheit bleibe, ob es nicht gerade die Eigenschaft des Theaters ausmache, in verschiedene Rollen zu schlüpfen und sich die Sprechpositionen anderer durch die Inszenierung anzueignen. 51 Peter Raue treibt die Forderungen reformorientierter Theatermachender gedanklich auf die Spitze und sieht die Kunstfreiheit durch diese in Gefahr: Der Endpunkt dieser Entwicklung ist dann erreicht, wenn jeder nur noch sich selbst spielt. Ein Betrunkener, der von einem Betrunkenen gespielt wird, ist aber leider nicht interessant. Wer geht für so jemanden ins-Theater? 52 Damit unterstellt er den Aktivist: innen die Absicht, dass ‚political correctness‘ nur dann gegeben ist, wenn jede: r sich selbst spielt. Doch folgt man den 140 Rike-Kristin Baca Duque <?page no="141"?> 53 Interview 5 mit einer auf Theater spezialisierten Organisationsberaterin. 54 Interview 7 mit einem Schauspielenden eines öffentlich getragenen Theaters (Dez. 2022). Sprechpositionen aktivistisch engagierter Theatermachender, scheint hier ein Missverständnis vorzuliegen: Es geht ihnen vielmehr um Fragen der Repräsen‐ tation, der Mitsprache und der Sichtbarmachung. Indem man sich nicht damit begnügt, immer ‚die Gleichen‘ alle Rollen darstellen zu lassen, sondern vielmehr auf Diversität und Vielfalt setzt, könnten auch stereotype Darstellungsweisen aufgebrochen werden. An dieser Stelle soll der Leitsatz aus der Bewegung von Menschen mit Behinderung angeführt werden: Nothing about us, without us. So könnte es durch den Einbezug und die Mitarbeit von Personen, die von Diskriminierung betroffen sind, besser gelingen, ungewollte Fallstricke von Sprech- und Inszenierungsweisen zu entdecken und aufzulösen. Des Weiteren tue eine „komplette Freiheit […] niemandem gut, weil man Räume braucht, um sich zu reiben, um sich zu schärfen“. 53 Indem Zeig-, Sag- und Darstellbares immer wieder gesellschaftlich ausgehandelt und neu begrenzt werde, entstehe erst ein Raum, der kreatives Arbeiten interessant und lohnenswert mache. Der Mythos der absoluten Kunstfreiheit wird also zusammenfassend zunehmend abgelöst von Forderungen nach anderen Arbeitsbedingungen und der machtkritischen Selbstreflexion: Es gibt nicht die absolute Kunstfreiheit, das ist ein Mythos und in den Häusern setzt sich immer mehr durch: Wir wollen gut arbeiten, wir wollen gute Arbeitsbedin‐ gungen. Wir wollen, dass es allen Mitarbeiter: innen im Haus gut geht und wir wollen, dass das, was wir produzieren, auch in einem gewissen Sinne eine Nachhaltigkeit hat, auch eine künstlerische, und nicht produziert wird für drei Vorstellungen und dann wird alles wieder weggeräumt. 54 4 Fazit Die Diskursanalyse offenbart, wie der Begriff der Kunstfreiheit im Kontext zeitgenössischer sozialer und politischer Herausforderungen neu verhandelt wird. Es wird deutlich, dass er in der Theaterpraxis weniger als Recht sachlich Anwendung findet, sondern vielmehr ein hoch politisiertes soziales Konstrukt darstellt, das von Machtverhältnissen und kulturellen Normen beeinflusst wird. Der Deutungskampf um den Begriff der Kunstfreiheit verweist darauf, dass sich ein Wandel in den öffentlich getragenen Theater vollzieht. Ein Wandel, der etablierte und traditionelle Machtverhältnisse und Hierarchien herausfordert und grundsätzlich in Frage stellt. Aktivistisch engagierte Strömungen von Die Kunstfreiheit im Blick 141 <?page no="142"?> Theatermachenden fordern eben diese durch den Begriff der Kunstfreiheit heraus und zielen machtkritisch in die Hierarchieverhältnisse der Theater, um sie im Sinne der Arbeitnehmenden abzubauen. Dieses Interesse ist jedoch nicht in allen künstlerischen Arbeitsbereichen gleichermaßen vertreten und bezieht sich vor allem auf die Sparte Schauspiel. Besonders hier wird die Kunst‐ freiheit diskursiv als eine Vormachtstellung weniger über andere verstanden, die ihre Vorstellungen von Kunst und Kultur gegen die Grenzen anderer durchsetzen wollen (und können). Hier schließt sich die Forderung an, kultu‐ relle Diversität und soziale Gerechtigkeit innerhalb der Kunstwelt zu fördern, um eine ‚tatsächliche‘ Kunstfreiheit für alle zu erreichen. Diese Perspektive argumentiert, dass Kunstfreiheit nicht nur eine Angelegenheit individueller Kreativität, sondern auch ein Ausdruck kollektiver kultureller Praxis ist, die aktiv gestaltet und verteidigt werden muss. Dies stellt die Kunstfreiheit in den Dienst einer progressiven sozialen Agenda, die darauf abzielt, veraltete Machtstrukturen aufzubrechen und eine breitere Repräsentation innerhalb künstlerischer Institutionen zu ermöglichen. Auf der anderen Seite wird die Kunstfreiheit als ein hohes Gut bewertet, das unbedingt verteidigt werden sollte. Es wird befürchtet, dass die Orientierung an dem, was ‚angemessen‘, politisch korrekt ist, die Kunstfreiheit schließlich beängstigend einschränken könnte. Insbesondere aus kulturpolitischer Perspektive ist Zurückhaltung bei der Einmischung in kulturell-künstlerische Angelegenheiten angezeigt. Die unterschiedlichen Interpretationen führen zu Spannungen zwischen traditionellen Kunstfreiheitsverständnissen und aktuellen sozialen Gerechtig‐ keitsforderungen, was die künstlerische Praxis und ihre institutionellen Struk‐ turen direkt beeinflusst. So stellt sich die Frage, wie Spannungen zwischen künstlerischer Autonomie und sozialen Verantwortlichkeiten ausbalanciert werden können, ohne die kreative Freiheit zu unterminieren. Damit stehen die Theater vor der anspruchsvollen Herausforderung, sowohl Raum für individu‐ elle künstlerische Ausdrucksformen als auch für arbeitsethische Überlegungen zu bieten. Literatur Balme, Christopher (2021). Legitimationsmythen des deutschen Theaters: eine instituti‐ onsgeschichtliche Perspektive. In: Mandel, Birgit/ Zimmer, Annette (Hrsg.). Cultural Governance. Legitimation und Steuerung in den darstellenden Künsten. Wiesbaden: Springer, 19-42. Berg, Sibylle (2017). Was sagt uns das, das sogenannte Politische? 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Theatrale Feldforschungen: Welt Überlegungen zu Rimini Protokolls 100-% Stadt als partizipatorischem Glokalisierungsformat Anja Quickert A: Welt (er)proben VIRUS - Seit Alexander Kluge nicht mehr in erster Linie Schma‐ rotzer, sondern eher Systemerweiterer, die nicht einen eigenen Organismus aufbauen, sondern erst einmal schauen, was schon da ist. Viren und Parasiten sind Vorbild für ein Theater, das keine machtvolle Institution sein will, sondern sich das Leben erst einmal anschaut, wie es spielt. 1 Im Alexander Verlag Berlin erscheint seit 2021 die Publikationsreihe Postdra‐ matisches Theater in Portraits. Sie will einen Überblick über die prägenden Akteur: innen geben, die seit den 1990er Jahren mit experimentellen, interdis‐ ziplinär ausgerichteten Ästhetiken und Erzählweisen die deutschsprachige Theaterlandschaft verändert haben. Der Titel der Monografie von Rimini Pro‐ tokoll lautet welt proben. 2 Er erzeugt einen Resonanzraum, der gleich mehrere konstitutive Aspekte und Verfahrensweisen der künstlerischen Arbeit des Regiekollektivs umfasst: „welt proben“ kann den Einbruch der außertheatralen Realität in den von ihr traditionell gut abgeschirmten Raum des Theaters meinen, wenn „Experten des Alltags“ 3 die Bühne betreten - Spezialist: innen für Sachfragen, Krankheiten oder Berufe -, mit denen Rimini Protokoll eine <?page no="150"?> 4 Dies gilt insbesondere für die partizipatorische Ebene des Formats als generatives Beteiligungs- und Aushandlungsmodell unter den Bedingungen multipler, teils kon‐ troverser Perspektiven und Meinungen. Das komplexe Wirkungsgefüge des Formats 100 % Stadt nach innen (Projektbeteiligte, Leitungsteam) sowie außen (Zuschauer: innen, Institution Theater, Politik und Medien) kann hier nur angerissen werden. Insofern will dieser Beitrag vor allem verdeutlichen, dass bestimmte zeitgenössische Formen und Formatierungen theatraler Arbeit einen veränderten Fokus für ihre Betrachtung neue Form des dokumentarischen Theaters erfunden haben. Ebenso „welthaltig“ sind die Stoffe, Materialien und Formen, die diese Akteur: innen mitbringen und auf der Bühne vor-stellen. Gleichzeitig - aber in einer komplementären Bewegung - haben Rimini Protokoll ihr Theater früh außerhalb institutiona‐ lisierter Theaterräume aufgeführt und es unmittelbar in der „Welt“ verortet - im öffentlichen, zumeist urbanen Raum. Oder sie haben ihrem Publikum, das nur selten die klassische Rolle eines Theaterpublikums spielen durfte, nicht-öffentliche Räume zugänglich gemacht und „Formate des Alltags“ als Theater gerahmt. Insofern sich Rimini Protokolls künstlerische Arbeit als theatrales Monitoring gesellschaftlicher Prozesse versteht, muss sie sich mit ihrem gesellschaftlichen Kontext auf Augenhöhe begeben: auch hinsichtlich seiner medialen und globalen Entwicklungen und Verflechtungen. Ganz selbst‐ verständlich Teil einer sich globalisierenden „Welt“ - zumal durch vielfältige internationale Koproduktionen und unzählige Gastspiele -, begleiten Rimini Protokoll diese Prozesse (theater-)praktisch und kritisch. - „Welt proben“ erfasst also den strukturellen Kern dieser welthaltigen Ästhetik präzise. Mit Fokus auf die Produktion 100 % Stadt, einem mittlerweile in 41 Städten weltweit inszenierten Format, das in Kooperation mit jeweils ortsansässigen Produktionsteams lokalisiert und mit 100 Darsteller: innen aufgeführt wird, will sich dieser Beitrag beispielhaft mit der (institutionellen) Verflechtung von Struktur und Ästhetik auseinandersetzen. Er nimmt Ausgang bei der Beobach‐ tung, dass eine Aufführungsanalyse von 100 % Stadt - verstanden als Analyse ihrer konkreten raum-zeitlichen Realisation auf einer Theaterbühne - nur einen Bruchteil der Relevanz, der Komplexität und Wirkungen des Formats überhaupt erfassen kann. Wie vielfältig die konzeptionellen, organisationalen, struktur‐ bildenden und partizipatorischen Aspekte des Produktions- und Probenproz‐ esses tatsächlich sind, erschließt erst das Gespräch mit dem künstlerischen Leitungs- und Produktionsteam über seine Arbeitsweise. Insofern ist dieser Beitrag auch dem Erstaunen darüber geschuldet, wie komplex sich die Struktu‐ rierungsarbeit gestaltet, wie viel Recherche und Ressourcen in die Adaption und Realisation des künstlerischen Formats 100 % Stadt fließen, und wie vielschichtig sich das Wirkungsgefüge darstellt, das die Inszenierungsarbeit entfaltet. 4 Auch 150 Anja Quickert <?page no="151"?> und Analyse erfordern, und dass dieser Shift seinerseits nur durch eine interdisziplinär ausgerichtete Methodenvielfalt zu erfassen ist. 5 Aus einem Interview mit der Zeitung Die Welt im Jahr 2007, zitiert nach: Rimini Protokoll/ Wahl 2021: 35. die ästhetischen und ethischen Dimensionen des Projektes lassen sich im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung nur über die genauere Betrachtung der Lokalisierung des Formats begreifen und bewerten. Mit wachsender Internationalisierung des Theaters - vor allem im Kontext von Festivals und einer zunehmend international ausgerichteten Koproduk‐ tions- und Förderlandschaft des freien Theaters - wurden im letzten Jahrzehnt auch die globalisierungskritischen Krisendiskurse hörbarer. Vor allem aus post‐ kolonialer Perspektive wird deutlich, dass die internationalen Austauschpro‐ zesse und Ökonomien rund um das Theater hegemoniale und homogenisierende Tendenzen aufweisen und dazu tendieren, bestehende Machtasymmetrien zu reproduzieren. Ein Nachdenken über den von Rimini Protokoll gesteuerten Prozess der Lokalisierung ihres Formats im internationalen Kontext muss inso‐ fern natürlich auch vor dem Hintergrund globalisierungskritischer Diskurse stattfinden. Wie - und anhand welcher Merkmale und Kriterien - lässt sich 100-% Stadt als „Glokalisierungsformat“ beschreiben? Methodisch fußen diese Überlegungen nicht nur auf der Sichtung diverser ortsspezifischer Aufführungsmitschnitte sowie dem Rückgriff auf Vorarbeiten der soziologischen, historischen, medien- und theaterwissenschaftlichen For‐ schung, sondern werden durch drei umfangreiche qualitative Interviews mit Rimini Protokoll (Künstlerische Leitung) und Rimini Apparat (Produktion und Management) sowie zentralen Dokumenten aus dem Arbeits- und Produktions‐ prozess um die Innen(an)sicht der Akteur: innen im Feld ergänzt. B: Rimini: Das Protokoll Protokoll war uns wichtig, weil wir unsere Arbeit so verstehen: Wir protokollieren ein Ereignis und setzen es dann nach den Regeln des Protokolls in Szene. 5 (Helgard Haug) Im Jahr 2000 gründeten Absolvent: innen des Instituts für Angewandte Theater‐ wissenschaft in Gießen, Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, das Label Rimini Protokoll - mehr als organisationale Klammer denn als emphati‐ scher Ausdruck einer kollektiv verstandenen Arbeitsform. Die Gründung des Labels reagierte damals vor allem auf das Bedürfnis der zeitgenössischen Thea‐ terlandschaft, eine abgeschlossene Regiearbeit einer Person - oder zumindest Theatrale Feldforschungen: Welt 151 <?page no="152"?> 6 Signifikantes Zeichen dafür ist nicht zuletzt der sich öffnende und wieder schließende Vorhang im Theater, der das Ereignis als raum-zeitliche Sequenz markiert. 7 Giddens 1997: 77. 8 Giddens 1997: 77. einer klar definierten Gemeinschaft von Künstler: innen - zuordnen zu können. Seitdem arbeiten Rimini Protokoll in wechselnden personellen Konstellationen oder Kooperationen an der Realisation ihrer Projekte: Inszenierungen auf Thea‐ terbühnen, Interventionen im öffentlichen Raum, Parcours in urbanen Settings oder szenische Installationen und Hörspiele. Dabei greifen Rimini Protokoll auffällig oft auf Formate (oder Räume) zu, die in der außertheatralen Wirklich‐ keit eine institutionelle Bedeutung besitzen - wie die parlamentarische Sitzung des Bundestags, die Hauptaktionärsversammlung der Daimler-Benz-AG, die Weltklima-Konferenz oder internationale Nachrichtenformate. Diese aus dem Institutionellen abgeleiteten Formate zielen vielleicht am sichtbarsten darauf ab, die allgemeine wie spezifische Strukturiertheit von „Welt“ vorzuführen: konkrete Strukturen, Beziehungsgeflechte und Institutionen samt ihrer Regeln und Ausschlüsse - ihr Protokoll. Während Theateraufführungen traditionellerweise darauf abzielen, den Pro‐ duktions- und Probenprozess unsichtbar zu machen, ihn im zeitlich begrenzten Spektakel oder Ereignis aufgehen zu lassen, 6 stellt die Bühnenästhetik von Rimini Protokoll das Protokollarische, das Nicht-mit-sich-selbst-Identische aller Vorgänge erkennbar aus und verweist auf einen vorausgegangenen Prozess. Die daraus resultierende Ästhetik ist notwendig und im Kern eine Ästhetik der Strukturierung - ist strukturierte und re-strukturierende Praxis: eine Form von angewandter Soziologie als künstlerische Forschung und Verfahrensweise. Damit machen Rimini Protokoll als theatralen Vorgang anschaulich, was der Soziologe Anthony Giddens als prinzipielle „Dualität der Struktur“ bezeichnet, die immer „zugleich Medium und Ergebnis sozialen Handelns“ ist. 7 Struktur als rekursiv organisierte Menge von Regeln und Ressourcen ist außerhalb von Raum und Zeit, außer in ihren Realisierungen und ihrer Koordination als Erinnerungsspuren, und ist durch eine ‚Abwesenheit des Subjekts‘ charakterisiert. Die sozialen Systeme, in denen Struktur rekursiv einbegriffen ist, umfassen demgegenüber die situierten Aktivitäten handelnder Menschen, die über Raum und Zeit reproduziert werden. Die Strukturierung sozialer Systeme zu analysieren bedeutet, zu untersuchen, wie diese in Interaktionszusammenhängen produziert und reproduziert werden. 8 Indem Rimini Protokoll Strukturen, Räume und Formatierungen der außertheatralen Wirklichkeit im Rahmen des Theaters de- und rekontextualisieren, ma‐ chen sie soziale Ordnungen und Hierarchien nicht nur sichtbar, sondern nutzen 152 Anja Quickert <?page no="153"?> 9 Giddens 1997: 78. 10 Giddens 1997: 78. 11 Giddens 1997: 78. 12 Brecht 1967: 681. 13 Brecht 1967: 681. 14 Giddens 1997: 78. das Theater als „Interaktionszusammenhang“ - dem Giddens eine besondere Bedeutung als „gemeinsame Anwesenheit“ oder „Kopräsenz“ zuschreibt. Sie greifen also bewusst auf Muster sozialer Ordnungen zu, um verändernd in sie einzugreifen. Oft lösen sie dabei die räumlich-funktionale Trennung zum „Publikum“ hin samt ihrer Dichotomien auf und ersetzen sie durch interaktive Beziehungs- oder Beteiligungsmodelle. „Struktur“ entzieht sich Giddens zufolge erst einmal der „Kontrolle eines jeden individuellen Akteurs“ 9 und tendiert dazu, Machtverhältnisse zu reproduzieren. Dennoch ist sie nicht einfach mit „Zwang“ gleichzusetzen: „Sie schränkt Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht es auch.“ 10 Das lässt sich nicht nur „mit Blick auf die Inszenierung des sozialen Alltags“ 11 konstatieren, sondern in besonderer Weise für das Theater als Medium und Institution gleichermaßen. Als „strategisch situierte Akteure“ (Giddens) re-inszenieren Rimini Protokoll Inszenierungen des sozialen Alltags im künstlerischen Rahmen und blenden dergestalt das Theater und die außertheatrale Wirklichkeit ineinander. Das Ergebnis ist ein wechselseitiger Verfremdungseffekt, der Anschlüsse an Bertolt Brechts Überlegungen zur Verfremdung im Theater nahelegt: Verfremdung nicht allein verstanden als Vermeidung von künstlerischen Strategien der Illu‐ sionierung und Einfühlung eines Publikums, sondern als Funktionsbestimmung des Theaters: „Gezeigt werden soll die Veränderbarkeit des Zusammenlebens der Menschen (und damit die Veränderbarkeit des Menschen selbst).“ 12 Denn, so heißt es später im Kleinen Organon: „Das lange nicht Geänderte nämlich scheint unänderbar. Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als daß wir uns bemühen müßten, es zu verstehen.“ 13 Auf den materialistischen wie naturalisierenden Effekt seiner „Theorie der Strukturierung“ als Praxis von Produktion und Reproduktion von Handlungsnormen verweist auch Anthony Giddens explizit: Die Verdinglichung sozialer Beziehungen bzw. die Naturalisierung historisch kon‐ tingenter Umstände und Ergebnisse menschlichen Handelns in entsprechenden Dis‐ kursen ist eine der Hauptdimensionen der Ideologie im gesellschaftlichen Leben. 14 In diesem Sinne könnte man das Theater als „ideologische Anstalt“ sui generis bezeichnen, dem es als darstellende Kunstform - insofern sie sich selbstkritisch Theatrale Feldforschungen: Welt 153 <?page no="154"?> 15 Auswärtiges Amt 2023. 16 Roselt 2012: 61. 17 Roselt 2012: 63. zu ihren eigenen ästhetischen Formen und Formatierungen verhalten will - nicht nur um fiktive, dargestellte Bilder von Menschen, um ihre Repräsen‐ tationen, sondern auch um darstellende Menschen als soziale Wesen gehen muss. Partizipatorische Projekte, Interaktionsmodelle - der Auftritt von „Welt“ in den Inszenierungen von Rimini Protokoll - aktualisieren dergestalt ein altes Demokratieversprechen. Dabei zielt Rimini Protokolls Ästhetik nicht auf die Originalität eines individuellen künstlerischen Ausdrucks ab. Auch wenn gesellschaftliche Diskurse, Profile und Muster über individuelle Biografien fassbar abgebildet werden, geht es im Kern um die „Dualität der Struktur“, um relationale Dramaturgien und überindividuelle Abweichungsgrade von Erwartungs- und Handlungsnormen - weshalb der/ die Einzelne im funktio‐ nalen, relationalen Gefüge der theatralen Ästhetik bis zu einem gewissen Grad als Darsteller: in auch ersetzbar ist. Als Format betrachtet ist das Protokoll eine Textsorte, die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit vermittelt und stilistisch in diesem Spannungsfeld changiert. Im (außen-)politischen Gebrauch des Wortes hat ein Protokoll die Aufgabe, die Atmosphäre und den Rahmen für die Politik zu schaffen. 15 Beide Bedeutungen und Bedeutungsfelder sind für die Arbeiten von Rimini Protokoll konstitutiv. Das Protokollarische durchzieht auch die „Darstellungspraxis des Sich-Zeigens“ aufseiten der Akteur: innen, wie der Theaterwissenschaftler Jens Roselt analysiert: „Dass den Darstellern durch den formalen Rahmen der Inszenierung immer wieder die Möglichkeit zur Selbstdis‐ tanzierung gegeben wird, zeichnet die Arbeit von Rimini Protokoll aus.“ 16 Denn „Schauspielen ist ethisches und ästhetisches Handeln zugleich.“ 17 Gleichzeitig zielt die Hybridisierung der Unterscheidung zwischen darstellender Mensch vs. dargestellte Figur nicht auf ein „Authentisches“ oder „Natürliches“ ab, das im Gegensatz zu einem „Künstlichen“ verstanden werden sollte. Eher fordert die Arbeit von Rimini Protokoll ein grundlegend anderes (Selbst-)Verständnis von Kunst heraus, das den Fokus auf Theorien und Praxis der Strukturierung von Welt und Gesellschaft lenkt. Folgt man Jacques Rancières Verständnis vom Politischen (in) der Kunst, so besteht sie genau in dieser Re-Strukturierung von Zeit und Raum: Kunst ist weder politisch aufgrund der Botschaften, die sie überbringt, noch aufgrund der Art und Weise wie sie soziale Strukturen, politische Konflikte oder soziale, ethische oder sexuelle Identitäten darstellt. Kunst ist in erster Linie dadurch politisch, dass sie ein raum-zeitliches Sensorium schafft, durch das bestimmte Weisen des 154 Anja Quickert <?page no="155"?> 18 Rancière 2008: 77. 19 Rimini Protokoll/ Birgfeld 2012: 72. 20 Die Uraufführung fand mit u. a. prominenter Besetzung aus der Berliner Politik in der Rolle des Publikums statt. 21 Haug im Interview vom 23.11.2023. Zusammen- oder Getrenntseins, des Innen- oder Außen-, Gegenüber- oder In-der- Mitte-Seins festgelegt werden. […] Sie ist eine spezifische Form der Sichtbarkeit, eine Veränderung der Beziehungen zwischen den Formen des Sinnlichen und den Regimen der Bedeutugszuweisung, zwischen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, aber auch und vor allem zwischen den Formen der Gemeinsamkeit oder der Einsamkeit. 18 C: Statistische Kettenreaktion: 100-% Berlin MASSE: Während den Recherchen zu 100-% Stadt besuchen wir Orte, wo einhundert Menschen beisammen sind, um uns eine Menge Menschen vor Augen zu führen, bevor einhundert Men‐ schen zur Probe kommen: Nach einem Chor und nach Sportveran‐ staltungen gelangen wir so auch zu einer Einheit der Bundeswehr in der Kaserne Tegel. Sie trainiert dort seit Monaten für den Zapfenstreich. Bei jeder Bewegung werden die hundert Menschen synchronisiert, präzisiert, angeglichen, homogenisiert. 100 % Stadt ist genau das Gegenteil: Eine Multiplikation der Subjektive. Jeder Mensch ein Chaos. Und das hundert Mal. 19 Am 1. Februar 2008 wurde 100 % Berlin. Eine statistische Kettenreaktion zum 100. Jubiläum des Hebbel Theaters uraufgeführt - als Teil eines umfassenderen Jubiläumsprogramms konzipiert und realisiert, wie sich Helgard Haug im Gespräch erinnert: 20 Unsere erste Vision war, dass wir das Hebbel-Theater zu seinem 100. Jubiläum für die Stadt öffnen. Von der Idee kamen wir auf die 100 Menschen, die diese Stadt repräsentieren - und damit natürlich zur zentralen Frage: Wer ist das? Nach welchen Kriterien wählen wir aus? Wie und wodurch repräsentieren sie die Stadt? So sind wir bei Statistik und Demografie gelandet. Wir wollten die Menschen aber nicht aus der Vogelperspektive einzeln aussuchen, sondern versuchen, dass sie sich selber in eine Kettenreaktion bringen: Der Gedanke war, dass sich immer drei Leute kennen und über irgendetwas miteinander verbunden sein sollen. 21 Deshalb hatten Rimini Protokoll zu Beginn des Projekts nur eine einzige Person unmittelbar und selbst gecastet: Den Statistiker Thomas Gerlach, da‐ Theatrale Feldforschungen: Welt 155 <?page no="156"?> 22 Die Befragung wird seit 1957 von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder gemeinschaftlich durchgeführt und mittlerweile EU-weit koordiniert. Mit Informationen zu Familie und Lebenspartnerschaft, Haushalten, Arbeitsmarkt und Erwerbstätigkeit, Beruf, Ausbildung und Migration hat sich der Mikrozensus zu einer wichtigen Datenquelle entwickelt. Genutzt werden die Statistiken von Verantwortli‐ chen aus Parlamenten und Verwaltung, von der Wissenschaft, den Medien wie auch der breiten Öffentlichkeit. Alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) sind gesetzlich dazu verpflichtet, bestimmte Informationen einheitlich zu erheben. Dadurch sind Ergebnisse international vergleichbar. 23 Respektive praktisch nicht durchführbar: Zuletzt wurde das Casting-Verfahren um eine „Kaltakquise“ (Helgard Haug) ergänzt: Der Besuch von Jugendclubs und Senioren‐ heimen sowie eine Annonce in der Berliner Morgenpost führten letztlich zum Ziel. 24 Haug im Interview vom 23.11.2023. mals 51 Jahre alt, Erhebungsbeauftragter für den Mikrozensus, der größten jährlichen Haushaltsbefragung der amtlichen Statistik in Deutschland. 22 Mit entsprechendem zeitlichen Vorlauf löste Gerlach die „statistische Kettenreak‐ tion“ aus, das spezifische Beteiligungsmodell, bei dem eine Person jeweils eine weitere vorschlägt - allerdings im Rahmen des statistisch erforderlichen Merkmal-Sets, was zu Beginn des Prozesses natürlich sehr einfach war, mit zunehmender Teilnehmer: innenzahl entsprechend schwieriger wurde. 23 Als „Stichprobe“ vertraten die 100 Beteiligten auf der Bühne schließlich den reprä‐ sentativen Querschnitt der „Grundgesamtheit“ der Berliner Bevölkerung nach den Merkmalen Alter, Geschlecht, Familienstand, Nationalität und Wohnbezirk. Zusätzlich wurde das Auswahlverfahren begleitet von der künstlerischen Lei‐ tung und einem Castingteam, die nach „weichen Kriterien“ die Kettenreaktion korrigierend steuerten: Vorherige Bühnenerfahrung ist bei Beteiligten der Projekte von Rimini Protokoll generell eher unerwünscht. Darüber hinaus: gibt es halt nur einen bestimmten Prozentsatz linker Pädagog: innen im Bevölke‐ rungsanteil. Die können gerne auf die Bühne. Und wir können auch gerne einen Schauspieler auf der Bühne haben oder eine Schauspielerin. Aber um die Verhältnis‐ mäßigkeit korrekt abzubilden und die Gesellschaft so spannend darzustellen, wie sie ist, braucht es auch Automechaniker und Feuerwehrleute und Ärzte. 24 Auch die Aufführung selbst beginnt mit dem Statistiker Thomas Gerlach, der als Erstes die Drehbühne im Hebbel Theater betritt, um sich und seine Arbeit vorzustellen, dem Publikum grundlegende Informationen zum Mikrozensus zu geben und es in die Versuchsanordnung des Projekts einzuführen. Ich bin nicht nur Erhebungsbeauftragter sondern repräsentiere auch selbst ein 3,4 Millionstel der Einwohner Berlins, das entspricht 0,000029 %. […] Das heißt: ich stehe heute Abend für 34.000 Berliner. […] 46 % der Berliner sind zum Beispiel ledig, 39 % 156 Anja Quickert <?page no="157"?> 25 Zitat aus dem Script der Aufführung 100-% Berlin, 2008. verheiratet, 6 % verwitwet, 9 % geschieden. Also brauchten wir für unsere Stichprobe 46 Ledige, 39 Verheiratete, 6 Verwitwete und 9 Geschiedene. 25 Seinem Auftritt folgen 99 weitere Repräsentant: innen der Stadt Berlin, die sich einzeln und mit einer Requisite ihrer Wahl vorstellen - manche erzählen eine kurze Geschichte zu ihrem Accessoire. Danach stellen die versammelten Durchschnittsberliner: innen einen typisierten 24-Stunden-Rhythmus ihres Le‐ bens auf der Bühne pantomimisch nach: individuelle Abläufe im Stundentakt, gespiegelt im Tableau des Kollektivs. Die hauptsächliche Aufgabe der gecasteten Einhundert liegt aber darin, im Verlauf der Aufführung Fragen zu beantworten und Stellung zu beziehen zu Aussagen, die manchmal von Einzelnen am Mikro‐ phon vorgetragen, oft dagegen (auch) für das Publikum sichtbar auf die hintere Bühnenwand projiziert werden: Allgemeinere Fragen zu Lebens- oder Arbeits‐ bedingungen, aber auch zu Marginalisierungserfahrungen, Schulden, Träumen oder Vorurteilen. Das Bühnen-Setting bewirkt, dass die Antworten/ Stellung‐ nahmen in die Nähe eines semi-öffentlichen Bekenntnisses rücken - die Frage nach möglichen Suizidgedanken wirkt beispielsweise besonders intim und vulnerabel, andere Aussagen lässt der situative Kontext besonders drastisch erscheinen: Wir waren schon einmal in Haft. Wir sind schon einmal mit dem Tod konfrontiert worden. Wir schwebten schon einmal in Lebensgefahr. […] Wir würden töten, um unsere Familie zu verteidigen. Wir würden töten, um unseren Staat zu verteidigen. Generell visualisiert die Gruppe ihre Zustimmung oder Ablehnung durch ihre räumliche An- und Zuordnung: beispielsweise aufseiten sichtbarer Schilder „Ich“ versus „Ich nicht“. Dabei stehen die Einzelnen im wahrsten Sinne zu ihren Meinungen und visualisieren ihren „Standpunkt“ im konkreten raumzeitlichen Gefüge: Sie ver-orten sich im buchstäblichen Sinne des Wortes. Mascha Mazur und Marc Jungreithmeier (Bühnenbild) haben die Drehbühne grün verkleidet und filmen die Vorgänge im Raum aus der Vogelperspektive ab. Dadurch wird der farblich unterlegte Kreis simultan auf den Bühnenhintergrund projiziert, so dass sich auf der dort positionierten Leinwand eine fast diagrammatische Abbildung der Menschen im Raum ergibt: Das analoge Bühnen-Setting wird als zweidimensionale Oberfläche in Form von Kreis- oder Tortendiagrammen visualisiert und dergestalt abstrahiert. So überblendet wie kontrastiert das Theatrale Feldforschungen: Welt 157 <?page no="158"?> 26 Mithilfe verschiedenfarbiger Tafeln werden im Verlauf der Aufführung auch visuell differenziertere Meinungsbilder produziert oder heikle Fragen im Dunkeln durch das Leuchten mit Taschenlampen beantwortet. 27 Beer 2016. 28 Vgl. auch Porter 2020. Bühnenbild die analoge, realphysische Präsenz individueller Menschen mit der Idee ihrer numerischen Existenz als statistische Einheit und Menge. 26 Dabei wecken die dynamischen Menschen-Tableaus auf der Bühne in ihren Gruppierungen und Re-Gruppierungen die Assoziationen eines Schwarms, einer menschlichen Skulptur oder einer sozialen Plastik. Es entstehen flüchtige, sich permanent neuformierende und anders zusammengesetzte Gruppenbilder als Momentaufnahmen von Zugehörigkeit, die aus übereinstimmenden und abweichenden Meinungsbildern entstehen. Dergestalt entwirft 100 % Berlin das ortsspezifische Bild einer Stadtgesellschaft, bildet ihre sozio-ökonomischen Lagen und Bedürfnisse, ihre Meinungen, Probleme und Konflikte ab. D: Die Struktur der Statistik Das Wort ‚Statistik‘, vormals auch „Sammelforschung“ genannt, ist ein Lehn‐ wort aus dem Lateinischen, wo ‚statisticum‘ „den Staat betreffend“ bedeutet. Entsprechend bezeichnete die im Jahr 1749 offiziell eingeführte deutsche Statistik die „Lehre von den Daten über den Staat“. Vielfältige Arten von Volkszählungen und Erhebungen sind allerdings bereits aus vorchristlicher Zeit dokumentiert: Ihre Ergebnisse wurden jedoch nicht veröffentlicht, sondern galten als Geheimwissen von Staaten und ihren Machthabern - stellten also den konstitutiven Teil einer realpolitischen Machtasymmetrie dar. Im heutigen Sprachgebrauch fasst Statistik allgemein diverse Methoden zum Umgang mit quantitativen Informationen zusammen. Dabei stellt sie eine systematische Verbindung zwischen Empirie und Theorie her und findet als Hilfswissenschaft und Methode interdisziplinär breite Anwendung. War bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bedeutung von Zahlen, das Numerische als Instrument zum Verständnis von „Welt“ durch ordnende, selektierende Kategorien immens gestiegen - David Beer spricht in seinem historisierenden Versuch zur Geschichte von „Big Data“ von einer „avalanche of numbers“ oder ihrer „explosion“ 27 -, gibt es im Verlauf des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich keine ‚Erfindung‘, die vergleichbar intersektoral, interdisziplinär und interna‐ tional Verbreitung und Akzeptanz als (vermeintlich) faktische Grundlage für Erkenntnis gewonnen hätte - und dergestalt als Basis wirtschaftlicher, politi‐ scher, medizinischer oder sozialer Zukunftsprognosen dient. 28 158 Anja Quickert <?page no="159"?> Um auf Menschen als statistische Einheiten zugreifen zu können, muss jeder Erhebung eine reduktionistische Operation vorausgehen, die diese Menschen nach spezifischen Merkmalskategorien numerisch einordnet und gruppiert. Deshalb besteht ein Effekt der Statistik in der Objektivierung der Erscheinungs‐ form von Aussagen und Zusammenhängen. Sie fügt Menschen, Meinungen, Zusammenhänge - die Empirie - in ein vorab definiertes und konstruiertes Schema, das die tatsächliche Komplexität einer hybriden Realität zugunsten ihrer Anschaulichkeit reduziert: So erscheinen unscharfe verbale Aussagen prä‐ ziser, Abweichungen werden quantifizierbar. Eine Statistik bildet ein Singuläres immer in einem relationalen, vorstrukturierten Gefüge ab, aus dem Graustufen und Relativierungen getilgt sind. Auf der Bühne übersetzt Rimini Protokolls Versuchsanordnung die Statistik - und den Prozess demokratischer Meinungsbildung - nun als theatrales Spannungsfeld und stellt die „Dualität der Struktur“ aus: Einerseits werden die Darsteller: innen nach statistischen Vorgaben gecastet, andererseits bildet sich die Stichprobe nach dem Prinzip einer sich selbst regulierenden Kettenreaktion durch die Akteur: innen. Die theatrale Form, der die soziale Ordnung auf der Bühne folgt, organisiert sich im Hinblick auf ihre Abstraktion als Graphen oder Kreisdiagramme auf dem Screen, während sich die Akteur: innen auf der Bühne (meistens) in der Zwangslage befinden, eine Entscheidung für einen faktischen Standpunkt treffen zu müssen, der einem binären Ja/ Nein- oder Ich/ Ich-nicht-Schema folgt. Gleichzeitig dekonstruiert die Inszenierung das Statistische, indem sie die statistische Operation - ihre Struktur und Struktu‐ rierung - wiederholt unter der Maßgabe, die menschliche Stichprobe auf der Bühne gleichzeitig in all ihrer Vielfalt und Unbestimmtheit als singuläre, nicht reduzierbare Existenzen auszuweisen. Zudem spielt die Aufführung immer wieder ganz offen mit der Möglichkeit, dass die Aussagen der Darsteller: innen auf der Bühne nur „Theater“ sind - eine Performanz in der Bühnenrealität oder eine strategische Selbstrepräsentation der Akteur: innen -, keine Tatsache, geschweige denn eine Wahrheit. E: Data Visualization Mit ihrem statistischen Theater - oder dem Theater der Statistik - verorten sich Rimini Protokoll gleichzeitig auf überraschende Art und Weise im ästhetischen, künstlerischen und medientheoretischen Kontext von Data Visualization - einer zuvorderst außerkünstlerischen Praxis, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der globalen Digitalisierung von Lebens- und Arbeitswelten zunehmend Bedeutung gewonnen hat. Dabei unterschied der Medientheore‐ Theatrale Feldforschungen: Welt 159 <?page no="160"?> 29 Manovich 2002: 2. 30 Manovich 2002: 3. 31 Manovich 2002: 3. 32 Manovich 2002: 7. tiker und Künstler Lev Manovich bereits 2002 die Begriffe „visualization“ - „for the situations when quantified data which by itself is not visual […] is transformed into a visual representation“ 29 - vom Konzept des „mapping“, das zwar eng mit der „visualization“, der „Sichtbarmachung“ verbunden ist, aber die Transformation eines Inhalts von einer Repräsentation in eine andere meint, und betont die politische Dimension des „mapping“ in der kulturellen Sphäre des Computers: Who has the power to decide what kind of mapping to use, what dimensions are selected; what kind of interface is provided for the user - these new questions about data mapping are now as important as more traditional questions about the politics of media representation by now well rehearsed in cultural criticism (who is represented and how, who is omitted). More precisely, these new questions around the politics of quantified data representation run parallel to the questions about the content of the iconic and narrative media representations. 30 Manovich ordnet die künstlerische Arbeit im Kontext von Data Visualization auch historisch ein: „And if modernism reduced the particular to its Platonic schemas […] data visualization is engaged in a similar reduction as it allows us to see patterns and structures behind the vast and seemingly random data sets.“ 31 In diesem Sinne kann Data Visualization ebenfalls als neue Form der Abstraktion verstanden werden. Doch während die Abstraktion der Moderne in einem speziellen Sinne auch als „anti-visual“ bezeichnet werden kann - „reducing the diversity of familiar everyday visual experience to highly minimal and repetitive structures“ -, verfährt Data Visualization Manovich zufolge genau entgegengesetzt: „data visualization moves from the concrete to the abstract, and then again to the concrete. The quantitative data is reduced to its patterns and structures that are then exploded into many rich and concrete visual images.“ 32 Verortet man 100 % Berlin im künstlerischen Feld von Data Visualization, wird deutlich, dass die Aufführung einen komplexen, hybriden Verweis- und Repräsentationszusammenhang im Spannungsfeld zwischen dem Konkreten und Abstrakten erzeugt, zwischen der „Sichtbarmachung“ von Inhalten und Formen des „mapping“. Bereits die Idee, Statistik und Data Visualization im Medium Theater zu verhandeln, konfrontiert die Abstraktion vom Menschen und seine Repräsentationen mit ihrem unhintergehbar konkreten Referenz‐ 160 Anja Quickert <?page no="161"?> 33 Manovich 2002: 8. 34 Rimini Protokoll/ Birgfeld 2012: 139. punkt: analogen, kopräsenten und singulären Darsteller: innen. Damit trifft auf 100 % Berlin auch zu, was Manovich über künstlerische Verfahren der Data Visualization im Kontext der Kunst- und Kulturgeschichte schreibt: This promise makes data mapping into the exact opposite of the Romantic art concerned with the sublime. In contrast, data visualization art is concerned with the anti-sublime. If Romantic artists thought of certain phenomena and effects as unrepresantable, as something which goes beyond the limits of human senses and reason, data visualization artists aim at precisely the opposite: to map such phenomena into a representation whose scale is comparable to the scales of human perception and cognition. 33 Auch Rimini Protokolls Data Visualization arbeitet konsequent mit dem „antisublime“. Schon insofern stellt sie die professionellen, ursprünglich aus feudalen Strukturen und bürgerlichen Ideologien stammenden Normen und Ästhetiken der Institution Theater auch als Interface in Frage - als Schnittstelle der Kommunikation zwischen den Beteiligten auf und vor der Bühne. 100-% Berlin verhandelt im Interaktionszusammenhang Theater modellhaft den gesellschaft‐ lichen Prozess demokratischer Meinungsbildung in einem repräsentativen, anti-klassistisch konzipierten Format. Doch während Data Visualization (als Kunstform) in der digitalen, globalisierten Sphäre des Internets (theoretisch) ortsflexibel neue Zugänge und Repräsentationen generieren kann, hat sich die Aufführung 100-% Berlin eher absichtslos zum „Tourenden Format“ 100-% Stadt entwickelt. F: Theater als Sichtbarkeitsmaschine: Format und Szenarium TOURENDES FORMAT - Ein Gegenmodell zu Gastspieltourneen mit aufwendigem Bühnenbildtransport und reisendem Ensemble. […] Nach den Aufführungen von 100-% Berlin ruhte das Projekt ein Jahr […], bis die Wiener Festwochen die Überzeugungsarbeit leisteten, dass 100-% Berlin das strukturelle Werkzeug liefern konnte für die performative Selbstbefragung anderer Städte. 34 In Rimini Protokolls eigener Definition des tourenden Formats, für das sie bei‐ spielhaft auf 100-% Berlin Bezug nehmen, scheint die Unterscheidung zwischen der konkreten, ortsspezifisch erarbeiteten und realisierten Aufführung und Theatrale Feldforschungen: Welt 161 <?page no="162"?> 35 Haug im Interview vom 23.11.2023. Damit meint Haug die szenische Entwicklung der Aufführung im Probenprozess mit den Beteiligten, nicht die aufwendige Recherche und Vorarbeit. 36 Dabei bleiben sowohl die Begriffsbestimmung als auch ihre Unterscheidung stark verkürzt. 37 Volmar 2020: 19. 38 Volmar 2020: 21. ihrem modellhaften Charakter als Format auf - als „strukturelles Werkzeug“, das in andere raum-zeitliche Kontexte übertragen werden kann und in entschei‐ denden Merkmalen äquivalente Ereignisse generiert. Am Anfang, als wir das Stück entwickelt haben, erschien uns das viel zu aufwendig, um es zu wiederholen. Diese ganze Recherchearbeit. Und wie viel Zeit verbringt man mit 100 Menschen? Wie oft kann man so etwas machen? Aber mit der Zeit und den Wiederholungen auch an anderen Orten, war irgendwann dieses Stück da - ein relativ schematisches Konstrukt, eines, das wir auffüllen mit Inhalten. Wir machen noch immer kleine Abenteuer oder finden etwas Neues, aber im Grunde kann man das mittlerweile in zweieinhalb Wochen auf die Beine stellen. 35 Um die Differenz zwischen dem „schematischen Konstrukt“ 100 % Stadt und seinen konkreten, ortsspezifischen Lokalisationen zu fassen, möchte ich im Folgenden den Begriff des Formats von dem des Szenariums abgrenzen. 36 Als Entlehnung aus dem lateinischen ‚formatum‘ für „das Geformte“, „In- Form-Gebrachte“ ist das Format vor allem im medienwissenschaftlichen und -industriellen Kontext ein gängiger Begriff, obwohl ihm eine kategoriale Un‐ schärfe in Abgrenzung zu Begriffen wie ‚Form‘, ‚Genre‘, ‚Medium‘, ‚Interface‘ zu eigen ist. Nicht zuletzt Rimini Protokoll selbst haben entscheidend dazu beigetragen, diesen Begriff im Bereich der Darstellenden Künste zu etablieren und ihn zu verfestigen. Dem Medienwissenschaftler Axel Volmar zufolge bildet die Formatierung von Sendekonzepten „die wesentliche Grundlage für ihre Wa‐ renförmigkeit und Handelbarkeit.“ 37 Entscheidend für die Begriffsbestimmung an dieser Stelle ist, dass die Entstehung von Formaten auf Strategien der Formatierung von Medienpro‐ dukten zurückgeht, die nicht primär auf die Binnenstrukturierung medialer Texte zielen, sondern durch die Festlegung elementarer Parameter, etwa im Hinblick auf Größe oder materielle Qualität, außerhalb der jeweiligen medialen Texte liegenden Zwecken dienen. 38 Formate besitzen also einen im Wesentlichen präfigurativen Charakter, der einer strukturierten, ausdifferenzierten Spiel- und Versuchsanordnung gleicht und die 162 Anja Quickert <?page no="163"?> 39 Volmar 2020: 19. 40 Volmar 2020: 27. 41 Wolfsteiner 2018: 19. 42 Wolfsteiner 2018: 24. ästhetischen Qualitäten von Medien ebenso entscheidend prägt wie „praktische, wirtschaftliche und juristische Aspekte ihrer Produktion, Distribution und Rezeption.“ 39 Strategien der Formatierung richten sich auf die Lösung kommunikativer, haupt‐ sächlich aber kooperativer Probleme, weshalb Formate als Mittel zur Etablierung, Steuerung und Stabilisierung von Kooperationsverhältnissen und mithin […] als „Medien der Kooperation“ verstanden werden können. 40 Mit dem Begriff des ‚Formats‘ verwandt und in einigen Merkmalskategorien sich mit ihm überschneidend ist der Begriff ‚Szenarium‘, dessen Geschichte der Theaterwissenschaftler Andreas Wolfsteiner erforscht und entwickelt hat. Meinte der Begriff ursprünglich den ausgestatteten Bühnenraum, gewinnt er ab 1820 im Zuge von Verwaltungsinnovationen der Institution Theater eine völlig neue Bedeutung für die organisationalen wie ästhetischen Voraussetzungen der Darstellenden Kunst. Das ursprünglich als Zettel oder in Buchform erstellte - oder gut sichtbar auf der Hinterbühne ausgehängte - tabellarische Formblatt wird Wolfsteiner zufolge zum wesentlichen Mittel theatraler Gestaltung. Das Scenarium verzeichnet all das geprobte Wissen und stellt es als Handlung für die Aufführung zur Verfügung. Es ist ein repetitives Verlaufsprotokoll der Dinge und Bewegungen, wie es im Anschluss an eine beliebige Gremiensitzung angefertigt wird, um darauf zurückgreifen zu können. 41 Wolfsteiner beschreibt, wie das Szenarium - ein formales Kommunikations‐ papier in Form eines Protokolls - zum zentralen Moment inszenatorischer Arbeit aufsteigt, das sich zum einen aus der zivilen Administration ableitet, an‐ dererseits eine enge (historische) Verbindung zu militärischen Planungsstäben besitzt. In jedem Fall aber ist die Aufführung als eine gesellschaftliche Praxis des Entwerfens und Durchspielens von möglichen und machbaren Abläufen anzusehen, die als sehr konkrete Planungsleistung zwischen Ästhetiken, Choreographien, Dramaturgien, Moden, Stilen und Logistiken changiert. 42 Etwas verkürzt dargestellt könnte man die internationale Theaterarbeit von Rimini Protokoll folglich als Spannungsfeld verstehen zwischen dem tourenden Format 100 % Stadt, das als Kooperationsmedium zwischen dem Label Rimini Theatrale Feldforschungen: Welt 163 <?page no="164"?> 43 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. 44 Rimini Protokoll/ Birgfeld 2012: 68. 45 Brecht 1963: 101. 46 Quickert 2015: 43ff. Protokoll und internationalen Organisationen fungiert, und der Erarbeitung einer neuen, lokalisierten Binnenstruktur: dem Szenarium einer bestimmten Stadt, das sich aus der Wechselbeziehung zwischen dem strukturellen Werk‐ zeug, den lokalen Beteiligten und der sozio-politischen Spezifik des Ortes prozesshaft entwickelt. Dann wird aus einer Skizze ein Porträt. Der nächste Schritt sind dann die Tableaus. Vielleicht sind das die Stufen, die man beschreiben kann. Und wie überschreiben das dann auch immer wieder die Menschen, die man tatsächlich vor Ort gecastet hat und belehren einen eines anderen oder Besseren. Es wird ja selten so, wie man es erwartet. Dafür ist das Stück ja konzipiert, dass da viele Überraschungen passieren können. 43 Um jedoch Formate realisieren zu können, Medien der Kooperation, die sich erst im Prozess ortsspezifisch ausgestalten, braucht es flexible, anpassungsfähige organisationale Strukturen, die sich sowohl an die Erfordernisse der beteiligten Kooperationspartner: innen als auch der jeweiligen Szenarien anpassen können. G: Rimini - Der Apparat LABEL - Aus einem Interview mit der Basler Zeitung 2007: JOURNALISTIN: Wieso bezeichnen Sie sich selbst als Label? WETZEL: Ein Label ist eine Plattform für verschiedene Formate. 44 Und dies ergibt allgemein den Usus, jedes Kunstwerk auf seine Eignung für den Apparat, niemals aber den Apparat auf seine Eignung für das Kunstwerk hin zu prüfen. 45 (Bertolt Brecht) Wiederholt haben Rimini Protokoll auf den Einfluss von Bertolt Brecht auf ihre Arbeit verwiesen. Das legt schon ihre Ausbildung im Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen nahe, 46 dessen prägende Figuren wie Andrzej Wirth oder Hans-Thies Lehmann eine enge Verbindung zu Brechts Theorie und Praxis gepflegt haben. Neben Überlegungen zu ästhetischen oder dramaturgi‐ schen Aspekten des Theaters - dem bereits zuvor erwähnten Verfremdungsef‐ fekt beispielsweise - knüpfen Rimini Protokolls Arbeitsweisen auch explizit an Brechts Kritik der institutionellen Voraussetzungen und Produktionsstrukturen von Theater an. 164 Anja Quickert <?page no="165"?> In diversen Schriften zum Theater bezeichnete Brecht die „alte“, bürgerliche Institution als „Apparat“ - eine hierarchische, von Kunst und Künstler: innen entfremdete Struktur, die prägenden Einfluss auf Stoffe, Dramatik und das Publikum nimmt - mithin auf jeden Aspekt des ästhetischen Gesamtzusam‐ menhangs der Produktion, vom Schauspielstil bis zur Dekoration. Damit thematisiert Brecht (vielleicht) als Erster, dass die institutionellen Vorgaben und Rahmenbedingungen Einfluss nehmen, dass sie über ihre strukturellen Voraussetzungen den künstlerischen Prozess präfigurieren und damit auch das Ereignis. Gemeint ist eine komplexe Form von Strukturierungseinflüssen, deren Ergebnis man als institutionelle Ästhetik - oder als institutionelles Dispositiv - bezeichnen könnte. Mit Bezug auf Brecht - und nicht ohne (Selbst-)Ironie - hat das Label Rimini Protokoll seine eigene, flexibel operierende Produktionsstruktur zur Planung, Durchführung und dem Touring ihrer vielfältigen Produktionen „Rimini Ap‐ parat“ genannt. Juristisch sowie arbeitsrechtlich als GbR ausgewiesen, hat der mittlerweile selbst institutionalisierte Apparat seit 2003 seinen Sitz in Berlin und wird durch teils langjährige, festangestellte Mitarbeiter: innen administrativ geleitet. Der Apparat re-organisiert sich für jedes neue Projekt: Er schafft für die spezifischen Bedarfe neue Arbeitsweisen, Teamzusammensetzungen, Organisationsabläufe oder sucht einen Cast für die jeweilige Produktion. Un‐ abhängige Theaterarbeit zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie erst ein Konzept entwickelt und danach organisationale Strukturen schafft, die in der Lage sind, das Konzept angemessen umzusetzen - wohingegen in Theater- Institutionen (ähnlich wie zu Bertolt Brechts Zeiten) Hierarchien, arbeitsteilige Strukturen und Verantwortlichkeiten, zeitliche Abfolgen und Rhythmen oder arbeitsrechtliche Regularien dem künstlerischen Projekt vorgängig sind und unabhängig von dessen Realisation bestehen. Hier muss sich die künstlerische Formatierung entsprechend an den gegebenen Rahmen, die institutionellen Abläufe und ihre Beschränkungen anpassen. Rimini Protokoll entwickeln fast ausschließlich (tourende) Formate, die oft von einem langfristig etablierten Koproduktionsnetzwerk mitgetragen werden. Die Entwicklung einer Idee, ihre Ausformulierung als Konzept, Recherche und die Akquise von Fördermitteln, die Entwicklung von organisationalen und Arbeitsstrukturen oder die Proben sind integrativer Teil von künstlerischer Projektarbeit. Gerade im internationalen Kontext gehört dazu auch die mög‐ lichst reflektierte und ethisch vertretbare Platzierung einer Arbeit in einem bestimmten sozialen und (geo-)politischen Kontext. Das gilt insbesondere für das Format 100 % Stadt, mit dem Rimini Protokoll seit der Berliner Uraufführung 2008 mittlerweile 41 ortsspezifische Porträts von internationalen Städten und Theatrale Feldforschungen: Welt 165 <?page no="166"?> 47 Stichtag für die Erhebung der Einwohnerregisterstatistik war der 31.12.2013, https: / / w ww.statistik-berlin-brandenburg.de/ 020-2024 (Stand: 10.06.2024). ihrer Bevölkerung generiert hat. Da Rimini Protokoll ihre Projekte nicht nur künstlerisch leiten, sondern auch selbstverantwortlich (ko-)produzieren, stehen sie auch in der Verantwortung für die Konditionen, zu denen das geschieht. H: Aspekte von Internationalisierung und Globalisierungskritik in der freien Theaterszene Insbesondere für die freie Theaterszene in Deutschland lässt sich im Vergleich zur Jahrtausendwende eine Zunahme ihrer Mobilität, ein Ausbau der Kopro‐ duktionsstrukturen und damit eine Internationalisierung der Theaterpraxis und Formate beobachten. Das gilt vor allem auch für Rimini Protokoll als eines der prägenden deutschen Labels, dessen Arbeit auch institutionell gefördert wird, das international viel getourt ist und durch diverse Theaterpreise einen hohen Bekanntheitsgrad besitzt. Gleichzeitig ist Internationalisierung nicht nur ein Phänomen, das die Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Staaten oder Prozesse sprachlicher und kultureller Übersetzung im Ausland betrifft. An Berlins Bevölkerungsentwicklung lässt sich unschwer ablesen, dass das Internationale - Perspektiven und Erfahrungen also, die durch andere kulturelle Selbstverständnisse und geopolitische Perspektiven geprägt wurden - längst ein konstitutiver Bestandteil des lokalen gesellschaftlichen Zusammenlebens ist: Lag der Anteil an nicht-deutschen Einwohner: innen im Jahr 1991 noch bei 10,3 %, so beträgt er mittlerweile 24,4 % - kurz: ein Viertel der in Berlin lebenden Menschen sind Ausländer: innen. 47 Diese globalen Entwicklungen werden begleitet von diversen Krisendis‐ kursen, die Narrative, Strukturen und Folgen von Internationalisierung aus unterschiedlichen Perspektiven - und mit unterschiedlichen Zielen - in Frage stellen. Nicht zuletzt unter dem Begriff der „Globalisierungskritik“. Dabei haben im Kontext der (freien) Theaterszene vor allem auch postkoloniale Diskurse Eingang in förderpolitische, kuratorische und künstlerische Entscheidungspro‐ zesse gefunden: Das Anfang der Nuller Jahre noch weitgehend unhinterfragte, politisch und ökonomisch beförderte Paradigma der Internationalisierung - vor allem im Zusammenhang mit der Erweiterung und Konsolidierung der Europäi‐ schen Union - wird zunehmend von einem Bewusstsein dafür begleitet, dass der internationale Markt das globale Ungleichgewicht auch unter postkolonialen Bedingungen durch machtasymmetrische, finanzielle Ressourcen reproduziert - auch im Theater. Trotz dieser (hier nicht in Frage stehenden) Tatsache - die 166 Anja Quickert <?page no="167"?> 48 Osterhammel 2004: 162. 49 Osterhammel 2009: 14. 50 Dem Oxford Dictionary of New Words zufolge ist der Begriff ‚Glokalisierung‘ „zu einem der wichtigsten Marketing-Modeworte der frühen neunziger Jahre“ geworden. Er leitet sich aus dem japanischen Begriff ‚Dochakuka‘ ab, der ursprünglich ein landwirtschaft‐ liches Prinzip bezeichnet, eigene Techniken an lokale Umstände anzupassen (Robertson 1998: 197). 51 Robertson 1998: 193. von nationalen förderpolitischen Bedingungen und Regularien oft begünstigt wird - lohnt sich ein genauerer analytischer Blick auf die Prozesshaftigkeit von Internationalisierung - schon um die schlichte Reproduktion von statischen, stereotypen Kategorien zu vermeiden - und die daraus resultierende Polarisie‐ rung, die immer auch moralischen oder politischen Interessen folgt und ihrem Gegenstand, zumal komplexen Prozessen, niemals gerecht wird. Nicht nur der Historiker Jürgen Osterhammel verweist darauf, dass die Suche nach den historischen Wurzeln der heutigen Globalisierung zu den „großräumigen Transaktionsnetzen zurückführt, die bereits in der frühen Neu‐ zeit entstanden.“ 48 Gerade die Entstehung von nationalstaatlichen Gefügen mit territorialen Grenzen - die vielleicht auffälligste Form des Partikularismus in der Moderne - ist ohne ein bereits vorhandenes Bewusstsein um eine mög‐ liche Abgrenzung im inter-nationalen Diskurs nicht erklärbar: Das Nationale setzt folglich immer schon einen internationalen Referenz-Rahmen voraus, verstanden als komplexes Gefüge kultureller und sprachlicher Andersartigkeit, von dem sich das Nationale - oder Lokale - als singuläre Spezifik abgrenzen will. „Jede andere Geschichte als Weltgeschichte ist für jüngere Epochen - und gerade für das 19.-Jahrhundert - nichts als ein Notbehelf.“ 49 Auch der Soziologe Roland Robertson begründet bereits Ende der 1990er Jahre sein Postulat, dem Begriff der Glokalisierung 50 „einen festen Platz in der Sozialtheorie einzuräumen“, mit einer aus seiner Sicht vorherrschenden Einseitigkeit in der Betrachtungsweise: Vieles, was bisher über Globalisierung zu hören war, ging tendenziell davon aus, daß es sich dabei um einen sich über Lokales hinwegsetzenden Prozeß handelt. […] Diese Interpretation vernachlässigt zweierlei: zunächst die Tatsache, daß das sogenannte Lokale zu einem großen Maß auf trans- oder super-lokaler Ebene gestaltet wird. […] Bei vielem, was als lokal bezeichnet wird, hat man es tatsächlich mit einem von verallgemeinerten Vorstellungen von Lokalität überformten Lokalen zu tun. 51 Dass die Globalisierung „Heimaten“ zerstört oder ein Lokales überformt, hält Robertson für ein „sentimentales Narrativ“: „Demgegenüber möchte ich die Po‐ sition vertreten - […] daß Globalisierung die Wiederherstellung, in bestimmter Theatrale Feldforschungen: Welt 167 <?page no="168"?> 52 Robertson 1998: 200. 53 Robertson 1998: 217. Hinsicht sogar die Produktion von ‚Heimat‘, ‚Gemeinschaft‘ und ‚Lokalität‘ mit sich gebracht hat.“ 52 Dergestalt wäre das Lokale nicht Gegenspieler des Globalen, sondern ein Aspekt von Globalisierung, der sich schon allein darin manifestiert, dass zeitgenössische Entwürfe von Lokalität in globalen Begriffen formuliert werden. Robertson warnt davor, den kommunikativen und inter‐ aktiven Zusammenschluss von Kulturen einfach mit ihrer Homogenisierung gleichzusetzen, selbst wenn darunter asymmetrische Interaktionen fallen - wie es (post-)koloniale Machtverhältnisse ganz zweifellos sind - ebenso wie „dritte Kulturen“ der Vermittlung. Stattdessen plädiert Robertson dafür, die Formen auszubuchstabieren, in denen sich homogenisierende und heterogenisierende Tendenzen wechselseitig durchdringen. Wir sollten die empirischen Fragen nicht mit den interpretativ-analytischen gleich‐ setzen. Im Sinne letzterer können wir zu dem Schluß kommen, daß die Form der Globalisierung heutzutage so reflexiv umgestaltet wird, daß Glokalisierungsprojekte in zunehmendem Maß wesentlicher Bestandteil heutiger Globalisierung werden. 53 Dass das Lokale nie eine homogene Struktur, sondern vielfältig in Bezug auf Her‐ künfte, Sprachen, Religionen, Ethnien oder Traditionen ist, macht das Format 100 % Stadt deutlich, indem es die Diversität der jeweiligen Stadtgesellschaft zu Beginn jeder Aufführung abbildet - und dem Publikum diese Heterogenität vor Augen führt. Die zunehmende Diversität nach Herkunft und Nationalität in der Berliner Stadtgesellschaft bildete die bislang einzige Wiederaufnahme des Formats in einer Stadt im Jahr 2020 bereits deutlich ab - die Stichprobe der Berliner: innen bei 100 % Berlin Reloaded war nach Herkünften weitaus diverser aufgestellt als noch zwölf Jahre zuvor bei der Uraufführung - die diverseren Erscheinungsbilder der Beteiligten und Sprachen prägten insofern auch die Ästhetik der Aufführung stärker. Zudem war sie eine halbe Stunde länger als die Uraufführung, auch weil sich das Format modular erweitert hatte und der Inszenierung überraschende, nicht absehbare oder zensierbare Momente hinzufügt: Relevant ist dabei vor allem ein interaktiver Part mit dem Publikum, das spontane Fragen stellen kann. Das verstärkt den dialogischen, partizipativen Charakter der Aufführung und ihre Funktion als Plattform für gesellschaftlichdemokratischen Austausch. Insofern das tourende strukturelle Werkzeug 100 % Stadt nicht einfach nur als Verknüpfung einzelner Lokalitäten, sondern als Erfindung, als Konstruktion dieses Lokalen betrachtet werden muss - zumal im seriellen Vergleich der Städte 168 Anja Quickert <?page no="169"?> 54 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. 55 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. 56 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. -, bietet nicht zuletzt die Homepage des Projekts, auf der Rimini Protokoll alle bisherigen Aufführungen dokumentiert und zugänglich gemacht hat, als Zusammenschau eine konzeptuelle Rahmung, in der jede einzelne Inszenierung als Singuläres, als Lokales aufscheinen - besser: sich inszenieren und insze‐ niert werden kann. Die internationale Aufführungsgeschichte des tourenden Formats, die Möglichkeit, international sichtbar zu werden, hat aus Perspektive der Veranstalter: innen eine zunehmend große Rolle für eine Einladung des Projekts gespielt: „Mittlerweile hat sich die Tatsache, dass es die xte Aufführung ist, und an welchen Orten die Inszenierung schon überall stattgefunden hat, in den Vordergrund gespielt“, 54 bestätigt Haug. Aber auch die Beteiligten und das Publikum wissen um die internationale Aufführungsgeschichte, situieren die Aufführung im Spannungsfeld zwischen einem Internationalen und Lokalen. Erst aus dem Bewusstsein dieser Diffe‐ renz entsteht die lokale Spezifik, das Szenarium der Aufführung. Gleichzeitig setzt ihr Gelingen, auch verstanden als ein Making-of Demokratie, auch die Informiertheit über die Relevanz und Gültigkeit von Statistik voraus: insofern kann auch die Statistik selbst als internationalisierter Code, als Formatierung betrachtet werden, die diese internationale Kettenreaktion mit ermöglicht - die Aufführungen zueinander in Beziehung setzt, Vergleichbarkeiten und Unter‐ schiede lesbar macht. „Oft entstehen auch witzige Momente, wenn Beteiligte aus einer Stadt als Zuschauer: innen zu Aufführungen in andere Städte kommen“, 55 berichtet Haug. I: Das tourende Format Doch im Kern der Einladung an Rimini Protokoll, das Format 100 % Stadt zu realisieren, steht aufseiten der Veranstalter zumeist ein lokales gesellschaftspo‐ litisches Anliegen: Der zentrale Grund, weshalb du überhaupt eingeladen wirst, an dem Ort zu arbeiten, ist der Wunsch der Veranstalter: innen, ein latentes Problem in der Gesellschaft auf‐ zugreifen. Es gab auch Einladungen von Städten, die das eher als Marketing betrachtet haben, aber meistens entsteht die Motivation aus einer Beobachtung: Hier verändert sich etwas. Wir brauchen eine Art von Spiegel, um irgendein gesellschaftliches Problem, eine Entwicklung, einen Konflikt sichtbar zu machen. 56 Theatrale Feldforschungen: Welt 169 <?page no="170"?> 57 Haug im Gespräch vom 22.02.2022. Als weltweit operierendes Label muss sich Rimini Protokoll im Kontext seiner internationalen Theaterarbeit, mit seinem Netzwerk an Koproduktions‐ partner: innen und Gastspielen, natürlich gleichzeitig in einer kritischen Dis‐ kurslandschaft positionieren. Einerseits existieren eher globalisierungskritische Zuschreibungen, die Rimini Protokolls tourendes Format mit ökonomisch ausgerichteten Franchise-Strategien in Verbindung bringen, andererseits muss sich ein Label, das mit deutschen Fördermitteln unterstützt wird, seiner Privi‐ legien in einem internationalen Theater-Markt bewusst sein, der auch unter postkolonialen Bedingungen globale Ungleichheit reproduziert. Natürlich sind wir uns bewusst, dass wir auch in Länder reisen, wo es für die dort ansässigen Künstler: innen weniger Möglichkeiten gibt. Das ist ein Problem. Wir versuchen deshalb, Vermittlungsangebote mitzubringen oder machen Workshops. Wir versuchen, Anknüpfungspunkte zu finden mit Künstler: innen vor Ort, das als kulturellen Austausch zu nutzen und unsererseits zu lernen. Touring ist bei unseren Projekten ja keine Einbahnstraße. Wir begeben uns ja auch umgekehrt in eine Abhängigkeit und müssen die Beteiligten für unsere Projekte interessieren, sonst macht niemand mit. Bei allen Problemen, die das Touren mit sich bringt: kultureller Austausch ist total wichtig. Es passiert etwas zwischen Menschen, wenn sie sich begegnen. Wir touren immer im Verständnis, dass Theater kein fertiges Produkt ist, sondern Kommunikation, die nur in einer Offenheit funktionieren kann, und mit Respekt vor dem Ort und den Menschen. 57 Obwohl das Format 100 % Stadt mittlerweile in 41 internationalen Szenarien aufgeführt wurde, haben Rimini Protokoll die Hürden für eine Adaption ihres tourenden Formats hoch gehängt. Sie reagieren generell nur auf Einladungen, bieten das Format nicht selbsttätig als Produktion an, machen keinerlei Mar‐ keting. Ob eine Adaption ortsspezifisch überhaupt eine Aussicht darauf hat, die Stadtgesellschaft abzubilden, überprüfen Rimini Protokoll vorab mit einem umfangreichen Fragenkatalog, den die einladenden Teams und Künstlerischen Leitungen beantworten müssen. Was in vielen Städten von offizieller Seite aus dazugehört, ist eine Diskussion über die Fragen, die wir auf der Bühne stellen wollen. In dieser Hinsicht haben sich inzwischen regelrecht strategische Spiele entwickelt, bei denen wir unseren Vorteil des fremden Blickwinkels durchaus bewusst nutzen - denn darin besteht ja der Mehrwert, den wir als auswärtige Partner: innen für den jeweiligen Ort erbringen können. Manchmal durchschaut man die politische Agenda einer Person - oder versteht das Risiko, dem sie ausgesetzt ist. Es gibt ja Beispiele, wo es für die Festivalleiter: innen oder das 170 Anja Quickert <?page no="171"?> 58 Rimini Protokoll/ Wahl 2021: 80 f. 59 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. künstlerische Team gefährlich war, 100 % einzuladen, etwa in Russland, aber auch in Tokio oder in Südkorea. Allerdings existieren auch Teile des Abends, die man überhaupt nicht zensieren kann, das Open Mic zum Beispiel. 58 Die finanziellen Ressourcen, die die koproduzierenden Veranstalter: innen für die Erarbeitung und Realisierung des Szenariums benötigen, sind ortsspezifisch zwar verschieden, aber in jedem Fall erheblich: Rimini Protokoll besteht darauf, dass alle 100 Darsteller: innen bezahlt werden und im Anschluss an das Projekt eine eigenständige Publikation entsteht, die den Beteiligten nochmal Raum gibt, sich zu repräsentieren - was im Rahmen der Aufführung kaum möglich ist, weil es nicht primär um die Biografien der Menschen auf der Bühne geht. Rimini tourt in seinem Selbstverständnis ein strukturelles Werkzeug, das insgesamt eine Vor‐ laufzeit von 5 Monaten benötigt, vor allem, um durch ein lokales Team alle 100 Teilnehmer: innen casten zu lassen, auf der Basis von individuellen Gesprächen (möglichst zu Hause), die aufgezeichnet, transkribiert und bei Bedarf für das Leitungsteam übersetzt werden. Auch die Entwicklung der Fragen, von denen nur ungefähr die Hälfte im Voraus festgelegt sind, kostet viel Zeit, da die andere Hälfte im Gespräch und Austausch über die lokalen Besonderheiten der Stadt und der Beteiligten erst gefunden werden muss. Dieser Entwicklungsprozess ist geprägt von der prinzipiell unkalkulierbaren Dynamik, die entsteht, wenn sich 100 Menschen aus unterschiedlichen Generationen, mit unterschiedlichen nationalen oder religiösen Hintergründen, politischen Haltungen und sozialem Status plötzlich in einem gemeinsamen Raum begegnen - und über ein gemein‐ sames Projekt Konflikte führen und aushalten müssen. Menschen, die sich in einer oftmals nach sozialem Status und anderen Merkmalen segregierten Wirklichkeit niemals begegnet wären - in Gesellschaften, die sich zunehmend polarisieren und in selektiven Gruppierungen (Echokammern) im digitalen Raum organisieren. Also, ich glaube, es gibt wirklich viele Beteiligte, die ihre Teilnahme an 100 % Stadt als ganz wichtige Erfahrung in ihrem Leben bezeichnen würden, eine Erfahrung, die etwas verändert hat. Sie haben sich gesehen gefühlt, haben Freund: innen gefunden. Dieses Gesehenwerden ist ein Schlüsselmoment. 59 Theatrale Feldforschungen: Welt 171 <?page no="172"?> 60 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. 61 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. Alle weiteren Zitate in diesem Abschnitt stammen aus diesem Interview. J: Kettenreaktionen unter zunehmend polarisierten gesellschaftlichen Bedingungen In Narva hatten wir von Anfang an ein anderes Konflikt- und Problembewusstsein. 60 (Helgard Haug) Was Rimini Protokoll in allen Gesprächen betont, ist der prozesshafte Cha‐ rakter ihrer Arbeit: Neue Projekte, künstlerische Strategien, Konzepte oder auch Programmatiken bauen immer auf konkreten Erfahrungen auf, die im Austausch reflektiert werden und einen Lernprozess, eine Weiterentwicklung der Arbeitsmethoden und Formate in Gang setzen - das also, was Anthony Giddens als „reflexives Monitoring“ bezeichnet. Blickt man auf Rimini Proto‐ kolls Arbeitsbiografie unter dem Aspekt der Strukturähnlichkeit von einzelnen Projekten und Formaten, wird dieses künstlerische Selbstverständnis und die Praxis auch unmittelbar deutlich. Wie entscheidend die Struktur, die institutionellen und personellen Voraus‐ setzungen für die Entwicklung eines ortsspezifischen Szenariums ist - und damit für die Bühnenästhetik -, kann dabei nur der Fokus auf die Spezifik der jeweiligen Probenprozesse erschließen. Entscheidend ist die Frage, wer aus einem Castingteam welche Zugänge zu welchen Leuten hat. Je stärker sich die Gesellschaft polarisiert, umso entscheidender ist, wer dich fragt, bei so einem Projekt mitzumachen. In North Carolina beispielsweise, in den USA, ist uns deutlich aufgefallen, dass wir einen Fehler gemacht haben. Das ganze Castingteam bestand aus vier jungen, linksliberalen, kunstaffinen Frauen - das hat sich als großes Problem herausgestellt, weil die zu bestimmten konservativen Organisationen - wir hätten beispielsweise gerne Menschen aus der Rifle Association dabei gehabt - überhaupt keinen Zugang haben. Und dann funktioniert auch die Kettenreaktion nicht. 61 Bereits vor Beginn des Castingprozesses muss das koproduzierende Leitungs‐ team eine ziemlich genaue Analyse der gesellschaftlichen Realitäten vor‐ nehmen, um das Ziel der Inszenierung, gesellschaftliche Wirklichkeiten und Verhältnisse, den Prozess politischer Meinungsbildung, auf der Bühne abzu‐ bilden, realisieren zu können. In Südafrika haben wir das zum Beispiel besser gemacht. Da war klar: Es gibt die Weißen und die Coloured und die Black Community. Und wir hatten für jede dieser 172 Anja Quickert <?page no="173"?> Gruppen eine Kontaktperson, die das Casting verantwortet hat. Insofern liefen drei voneinander unabhängige Kettenreaktionen praktisch nebeneinander. Die bislang letzte Station der Aufführungsgeschichte, 100 % Narva in Estland, an der Außengrenze der EU zu Russland, war gleichzeitig die bislang schwierigste. Die drittgrößte Stadt der Republik ist das Zentrum der russischsprachigen Minderheit Estlands, zu der etwa 95 % der Einwohner: innen gehören. Narva heißt auch der Grenzfluss, der seit der Unabhängigkeit Estlands 1991 und dem Beitritt zur Europäischen Union 2004 die Außengrenze der EU markiert. In seiner historisch untrennbar mit Russland verbundenen Geschichte steht Narva in einem sprachlichen und kulturellen Spannungsfeld, das sich durch die Invasion Russlands in die Ukraine weiter potenziert und polarisiert hat. Die estnische Sprache und Kultur in Narva zu fördern, ohne die russischsprachige Bevölkerung zu marginalisieren, ist für die estnische Regierung eine riesige Herausforderung. In diesem Kontext war die Frage, wer das Casting durchführt, natürlich entscheidend. In Narva, der russischen Enklave in Estland, war von Anfang an klar: Das muss eine Person sein, die Russisch spricht und mit der russischen Community vernetzt ist. Das kann nicht jemand sein, der aus einer estnischen Perspektive, aus Tallinn, da irgendwann mal hingezogen ist. Das Castingteam ist das Aushängeschild des Projekts und der Schlüssel zu den Menschen. Wurde auch beim Probenprozess für 100 % Voronesh in Russland beispielsweise häufig eine Kontroverse über bestimmte Formulierungen oder Übersetzungen innerhalb des Casts, der Gruppe der Beteiligten geführt, so bestand dort immer ein Teil der Beteiligten auf der strittigen Frage, hielt sie für relevant. Insofern konnten sich Rimini Protokoll darauf beschränken, zwischen diesen Gruppierungen und den kontroversen Haltungen zu moderieren. „Es gibt immer Splittergruppen, die bestimmte Fragen und Inhalte ablehnen“, erklärt Haug dazu. Für den Probenprozess bedeutet das, manchmal in schwierige Aushand‐ lungsprozesse zu gehen, die aber gleichzeitig den zentralen partizipatorischen Kern des Projekts bilden. Jedoch „in Narva hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, dass die Gruppe eine Energie entwickelt, die das Projekt sprengt“, berichtet Haug weiter. Fast die gesamte Gruppe lehnte es ab, Fragen zum Krieg und ihrer Haltung zu Russland zu beantworten. „Der Cast hatte eine große Sehnsucht danach, als Gruppe auf der Bühne zu stehen, die sich einig ist“, erklärt Haug, „und alles, was diese vermeintliche Einigkeit bedroht hat, wurde als Gefahr wahrgenommen. Wir haben dagegengehalten, dass der Krieg eine Realität ist, und es uns nicht gelingen wird, diese Realität zu ignorieren.“ An diesem Punkt haben viele Beteiligte das Projekt verlassen und Rimini Protokoll musste die Theatrale Feldforschungen: Welt 173 <?page no="174"?> 62 Pesti 2023. Probe beenden. Am nächsten Tag wurde sie fortgesetzt mit dem Versuch, eine Lösung für diesen grundlegenden Konflikt zu finden, der das Projekt scheitern zu lassen drohte: Es kommt Publikum aus Tallinn mit Bussen zur Aufführung, und das hat die gleiche Brille auf, die wir aufhaben. Das ist der große Elefant im Raum. Das Publikum wird Fragen zum Krieg und zu Russland stellen. Welche Möglichkeit habt ihr, dann zu antworten? - Und dann kam schnell der Vorschlag, dass sich die Menschen, die eine Frage nicht beantworten wollen, einfach umdrehen. Der Mitschnitt von 100 % Narva dokumentiert nun, wie sich fast die gesamte Gruppe von Menschen bei der Frage, wer möchte, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, umdreht - vom Publikum abwendet: Es ist ein starkes theatrales Bild und ein Statement - gerade als Verweigerung. „100 % Narva“ bewegt mich immer noch. Die Äußerungen meiner Landsleute in der Performance bleiben verstörend. Bei der Fahrt im Bus, im Kino, beim Mittagessen, beim Fernsehen. Ich kann es nicht fassen, dass meine Mitbürger sich abwenden bei der Frage, ob sie die „Spezialoperation“ in der Ukraine unterstützen. Oder dass jemand erwiderte: „Hände weg von sowjetischen Denkmalen, lasst die Geschichte in Ruhe und alles, was mit Russlands früheren Siegen zu tun hat! “, 62 schreibt die estnische Kulturjournalistin Madli Pesti in ihrer Reportage über die Aufführung in Narva. Den tiefen Graben zwischen den Menschen in Narva und im restlichen Estland hat Rimini Protokolls Inszenierung deutlich markiert, hat ihn re-strukturiert. Und nur was sichtbar ist, kann mit gesellschafts- oder bildungspolitischen Mitteln weiter verhandelt werden. Gleichzeitig hat der Probenprozess in Narva sehr deutlich gemacht, dass gerade Menschen in polarisierten gesellschaftlichen Situationen Themen und Probleme lieber schweigend in Latenz halten wollen, als sie in offen ausgesprochene Konflikte zu verwandeln. K: Schluss „100 % ist der Idealfall eines politischen community theater“, beschreibt Madli Pesti ihre Erfahrung in Narva weiter. Zu den Zielen von politischem Theater gehört, unterschiedliche Meinungen im Publikum hervortreten zu lassen, die Grenzen des allgemeinen Konsenses aufzuzeigen 174 Anja Quickert <?page no="175"?> 63 Pesti 2023. 64 Haug im Gespräch vom 23.11.2023. und sich mit wichtigen kulturellen, sozialen und politischen Konflikten zu beschäf‐ tigen. „100-% Narva“ schafft all das. 63 Im Rückblick auf nunmehr 16 Jahre 100-% Stadt hat Rimini Protokoll nicht nur viele Orte in ihrer Eigenheit kennengelernt - und diese Orte umgekehrt mit sich selbst konfrontiert -, sondern kann auch auf Entwicklungen und Tendenzen im zeit- und geopolitischen Verlauf blicken: Das Format und seine Szenarien scheinen hier als gesellschaftspolitische Seismografen in Zeit und Raum zu wirken. „Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen sehen wir uns immer stärker mit der Frage konfrontiert: Funktioniert 100-% Stadt überhaupt noch? “, berichtet Helgard Haug. In einer Gesellschaft, in der die gesellschaftlichen Gruppen so abgegrenzt, so polari‐ siert voneinander leben, läuft die Idee, alle gemeinsam auf eine Bühne einzuladen, an der Realität vorbei. Ab einem bestimmten Punkt der Polarisierung muss man mit dieser Idee scheitern: Es wird eine Theatershow, die nichts mit der Realität zu tun hat. Die Schönheit unseres Projekts liegt ja darin, dass wir zusammenkommen, um uns in unserer Verschiedenartigkeit zu begegnen: Es geht um unterschiedliche Meinungen. Es geht um Widersprüche. Auch um die unaufgelösten. Und darum, sie eben genau so stehenzulassen. 64 Literatur Auswärtiges Amt (2023). Protokoll, 04.04.2023. Abrufbar unter: https: / / www.ausw aertiges-amt.de/ de/ aamt/ auswdienst/ abteilungen/ protokollabteilung/ 214980 (Stand: 10.06.2024). Beer, David (2016). How should we do the history of Big Data? Big Data & Society 3 (1). Abrufbar unter: https: / / journals.sagepub.com/ doi/ 10.1177/ 2053951716646135 (Stand: 10.06.2024). 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It challenges democratic institutions throughout Europe and its proponents propagate ethno-nationalist positions that contradict constitutionally guaranteed freedom rights. 1 Despite this antidemocratic behavior, they have become increasingly popular among European citizens. In some places, elections brought them to power. Where right-wing populists, nationalist conservatives or sovereigntists are ruling in an illiberal fashion, they undermine the media, gradually suppress the opposition and destroy independent democratic institutions, 2 among them the performing arts; when they are not in power, they find other ways to challenge the field. In Germany, the cultural journalists Peter Laudenbach and John Goetz have documented these encroachments in detailed research, commissioned by the ARD (the joint organization of Germany’s regional public service broadcasters) and Süddeutsche Zeitung, concluding that the performing arts are under attack: Sometimes it’s anonymous hate mail or death and bomb threats. Sometimes criminal charges, disruptive actions, demonstrations against art projects, or polemics against “experiments and stupid welcome propaganda” at theaters operas, or museums. 34 <?page no="178"?> 5 Heller 2017. 6 Brauneck 2016: 17. 7 Baecker 2013: 28. However, this is not a German phenomenon alone. Throughout the continent and beyond, proponents of the above-mentioned nationalist movements pursue common objectives and they are able to enforce them when they lead illiberal governments. As Hungarian philosopher Ágnes Heller puts it, “their character depends on various factors: the size of the population and the state, its traditions, its borders and its environment, and yet they are united in seeking to control the media and third sector institutions, secondary schools, textbooks, universities and theater - indeed, they seek to control the minds of their citizens.” 5 The independent performing arts are in the line of fire. In his theater historical assessments, theater scholar Manfred Brauneck describes their stages and audiences as a bastion of enlightenment that advocates for “migrants, the unemployed or other marginalized social groups” 6 and thus as a defendant of democratic values against undemocratic spheres of influence. In addition, the performing arts are confronted with related expectations in sociological thinking, corresponding to enlightenment ideas of self-empowerment in the face of state control and participation in democratic discourse. Well aware that formulating an expectation towards the field will most likely motivate its agents to evade it, these notions will be explored in more detail below. The sociologist Dirk Baecker asks not what performing arts are, but what they do, concluding that they are capable of - if not defined by - secondorder observation. He argues that the performing arts engage in social process by observing what society communicates about, by making it explicit and by putting their findings up for negotiation in live space, in sharing performances with an audience. Accordingly, through performing arts the communication of society, which in its routine manifestations often refuses to be recognized in everyday life, reveals itself to the communication of society. They make visible the contestability of what constitutes the community of values to which they belong. 7 In other words: they promote a culture of debate and a space for discourse as well as social self-reassurance and thus, they point towards tension and demand dialogue and mutual understanding for the plurality of life and community. From this point of view, performing arts may shake or wake, they may disturb or inspire, but rarely does one know which it will be before having watched the show. Precisely this exposure to uncertainty contributes to the people’s liberation from immaturity, to use Immanuel Kant’s vocabulary. It requires open-mindedness and independent thinking of the individual in social 178 Thomas Fabian Eder <?page no="179"?> 8 Those are: ASSITEJ, Europe: Union of Theatre Schools and Academies (E: UTSA), European Association of Independent Performing Arts, European Festivals Association, European Theatre Convention, German Association of Independent Performing Arts - BFDK (Bundesverband Freie Darstellende Künste), IETM - International network for contemporary performing arts, ITI, mitos21, Pearle* Live Performance Europe, Prospero, Union des Théâtres de l’Europe. 9 One of the set objectives of this consortium was “identifying their common features, articulating shared values, forging joint visions and reflecting on possible actions needed for the future. The “Dresden Declaration” is one of their results reflecting this goal. 10 The Consortium of Members of The European Theatre Forum 2020: 5-6. 11 Helmerich 2004. context and the willingness to question personal habits and convictions as well as those of the communities one is a part of. As this anthology moves on interdisciplinary terrain, I would like to empha‐ size that such a description must be understood in the sociological sense, i.e. reflecting on the meaning and structures of the actions of social agents as well as the values and norms that regulate them, rather than aiming to describe the nature of art. This perspective makes it possible to take the advocacy structures in the field, which are typically democratically legitimized, i.e. ruled in boards elected by artists, seriously when they legitimize their political status. E.g. the Consortium of Members of The European Theatre Forum, an alliance of European interest groups in the performing arts, 8 supports the above theoretical proposition in political positioning. In the so-called Dresden Declaration, 9 they attribute the promotion of democracy, the strengthening of social cohesion, the stimulation of critical thinking, the fostering of empathy and imagination and the promotion of intercultural dialogue 10 and thus the negotiation of the plurality of values, ideas and identities present in any one society to the performing arts field in its entirety (including, but not exclusively referring to the independent performing arts). The independent performing arts therefore not only promote a polyphonic culture of debate and the opening up of spaces for discourse on their stages, through their advocacy groups, they also advocate pluralism with a public voice in the political arena. Such positioning threatens the fixed value propositions of ethno-nationalist ideology as represented in new right-wing movements, as ethno-nationalists operate with a closed concept of culture and seek to assert an unambiguous and clearly demarcated national sphere that opposes the plurality of modern soci‐ eties, justifying this with alleged ethno-cultural peculiarities. 11 The described positioning of independent performing arts is also in contrast to national populism, which includes but is not limited to ethno-national ideology and is A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 179 <?page no="180"?> 12 Eatwell & Goodwin 2018. 13 Menke 2013: 14. the basis of most organized illiberal party politics. This political current refuses plurality as well and it ideologically prioritizes “the culture and interest of a nation, promising to give a voice to a people who feel that they have been neglected, even held in contempt, by [allegedly] disputant and corrupt elites.” 12 The national as a good to be protected against the foreign is a juxtaposition commonly used both in national populist as well as ethno-nationalist commu‐ nication, as is hostility towards all those societal actors and institutions who do not buy into this contradiction. This constitutes incompatibility with the asserted image of the independent performing arts. Once again, as this is an interdisciplinary volume, it is appropriate to recognize a non-functionalist perspective, which understands art empirically and would likely not approve of such an approach. Artists and cultural workers in Europe neither limit their actions to a social nor to a political dimension of defending democratic values against populist forces. Following philosopher Christoph Menkes’ argument, the attribution of such a, or any other, function to the arts may even be seen as a contradiction to aesthetic freedom. He argues against the appropriation of the arts as a social practice and instead describes them as an unguided and independent aesthetic force. This means that, in its capacity for experimentation, the performing arts cannot be captured in rules and routines. To the contrary, according to him, art can only thrive as art if it is free and does not allow itself to be taken over by political, economic or social utility. 13 Without rejecting the idea of the forceful and independent societal impact of art, this paper takes on the task of placing the actions of artists in social contexts. Instead of understanding the force of art as a priori to its social impact, it examines the embedding of art in its social contexts. Specifically, it is concerned with how the freedom of art can be either undermined or reinforced by societal structure, foregrounding interrelationships between structure and aesthetics and thus it poses the following questions: Is a liberated society, one that constitutes artistic freedom and promotes the arts rather than censors them, not a prerequisite for free, independent, undisguised and experimental art? Thinking further, is defending democratic structures and enlightenment values against those who undermine them not also defending the freedom of art? And does not even the very defense against ethno-nationalist attacks and national populist suppression create an urgency that attributes art with an extraordinary capacity for forceful societal impact? 180 Thomas Fabian Eder <?page no="181"?> Even if these questions are not answered conclusively, they inspire the following discussion. Different contexts in which the independent performing arts - in the essence of experimentation and the practice of second-order observation - oppose the aspirations of ethno-nationalist ideology and national populist politics, are at the center of the research. More specifically, it will focus on how exactly established artistic practices change when those forces undermine their legitimacy and control the structures in which they take place. In reference to these theoretical considerations and based on in-depth inter‐ views with independent artists, producers and art managers, as well as public reporting on the subject, this paper explores the following theoretically derived research-guiding conjectures: 1. Independent performing arts communities support an enlightened social self-understanding and the democratic negotiation of plurality, a value that is directly opposed to ethno-nationalist and national populist ideas 2. This opposition manifests itself in attacks against the independent per‐ forming arts in many European countries. 3. The growing political power of nationalists throughout Europe facilitates the illiberal repression of the independent performing arts in the form of discrimination, financial restriction, censorship and control of content, and is, thus, posing a threat to the future of the field. 2 Methodology To investigate these attacks, an exploratory research design was employed. It examines structured social entities - that of the independent performing arts and that of ethno-nationalist movements and national populist parties and regimes in different European countries. Furthermore, it focuses on the interpretations and perceptions of artists and cultural workers who represent their respective national fields (more or less officially) within the European As‐ sociation of Independent Performing Arts. They all experience the intersections of these entities in their daily practice. Their interpretations and contexts of action shed light on the values they hold and the attacks and mechanisms of oppression they face. The focus on actors of the independent performing arts community was chosen because access to representative stakeholders in this field in several European countries was given and because academic as well as political communities ascribe to the field a strong commitment to plurality. This does not mean that theaters organized in other ways may not also be attacked in the same or a similar manner. A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 181 <?page no="182"?> Moreover, it must be explicitly pointed out that this is a preliminary study that will be followed by others, including in other countries of Northern and Western Europe. Their absence is a blind spot as the selection of countries is primarily based on accessibility, or lack thereof. The investigation is a prelude that must be expanded and supplemented in detail in the future. However, all five interviewees were able to provide a comprehensive overview of the state of affairs regarding the independent performing arts communities in their home countries. Jelena Galovic, a freelance actress from Serbia, Edin Jasarovic, producer of the Montenegrin FIAT festival, Stefan Prohorov, chair of the Bulgarian ACT Association for Independent Theatre and director of Sofia’s ACT Theater Festival and Brigitta Kovács, who works as an independent creative producer in Budapest, all represented their respective national fields at the General Assembly of the European Association of Independent Performing Arts in Prague on June 7, 2023, which is where they were recruited for this research. They appeared as both representatives of their national performing arts communities and as professionals with many years of working experience. Contact to Palina Dabravolskaya, who represented a loose network of Belaru‐ sian artists called The Belarus Theater Community, was established at another occasion. During initial talks with the researcher however, she signaled her availability to take part in future studies and with this in mind, she was invited to participate herein as well. There is no doubt that all countries from which the data are drawn are under fundamentally different influences of illiberal engagement. A brief introduction to the respective national contexts is necessary to point out the diversity of national and political conditions for each case under consideration. However, given the manifold differences in national culture and politics and the limited scope of this article, this description can only be an inadequate indication. It illustrates the most diverse contexts in which illiberal strategies find fertile ground and it thus satisfies the structural interest of this study, even if it does not do justice to the complexity of local realities, which is reserved for a future report. In Germany and Bulgaria, both members of the European Union and its community of values, reports of non-state illiberal involvement and attacks from the underground or the political opposition are expected. Hungary, also a member of the EU, regularly attracts attention through illiberal undermining of constitutional and democratic institutions, which very much suggests state curtailment of the independent performing arts. Serbia and Montenegro, both of which have been candidates for EU membership since the beginning of the 2000s, are still non-members and thus bound neither by European regulation 182 Thomas Fabian Eder <?page no="183"?> nor convention. Moreover, they have experienced repeated political conflicts in post-Yugoslav reorganization, which can be traced back to identity and ethno-nationalist aspiration. The slow EU accession process of both countries in recent years is not least due to the increasing violations of the principles of rule of law and democracy, a condition that forms an ideal breeding ground for illiberal engagement and that makes attempts to attack the independent performing arts by both state and non-state actors likely. In contrast to Serbia, however, Montenegro is currently not governed by a sovereigntist, right-wing conservative party. The Belarusian interviewee gives her interview from Polish exile, as she has reason to fear arrest upon return to her home country. Moreover, she reports about a Belarusian theater community that lives largely in exile and can no longer work locally. This certainly makes it apparent that the situation for Belarusian artists is much more severe than in the other countries studied. Ever since the elections in August 2020, marked by electoral fraud, human rights violations and violent military and police attacks against artists, protesters and the opposition, Belarus has exemplified how an illiberal democracy may turn into a full-blown dictatorship and it demonstrates the worst conceivable consequences for the independent performing arts under illiberal rule. The complexity of the individual regional political characteristics reaches far beyond this description, yet, the aim is not to generalize in comparing the experiences of artists and culture workers or to reach a conclusive judgment about the structures in which they take place. To the contrary, the objective is to explore and describe value propositions shared by the interviewees as well as collect testimony on the illiberal attacks they face. I conducted the interviews for this study via video call at the end of July 2023. After transcription, the interviews were inductively coded to provide a differentiated representation while the above conjunctures served as a guideline for interpretation. This allows strategic patterns to be described and hypotheses to be formulated for further research. Nevertheless, it shall be mentioned once again that the analysis is indicative, not exhaustive. In order to obtain a pan-European picture that captures the full extent of the debate, a structured grounded theory approach, including research visits, performance analysis, further in-depth interviews and a larger selection of countries from different regions would have to be considered. This paper presents the results of a preliminary-study, employed to explore the field and to provide the basis for an extended research project intended for the coming years. A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 183 <?page no="184"?> 3 Democracy and Pluralism The first part of the analysis is concerned with research conjecture no. 1. It examines if and how the independent performing arts support an enlightened social self-understanding and the democratic negotiation of plurality within the different countries studied. Accordingly, I inductively coded the interviews regarding statements about artistic self-conceptions, political self-attributions as well as legitimizations, which resulted in the following code frequencies. Democracy and Pluralism Frequency of Mentions Aesthetics vs. politics 8 Addressing social challenges through artistic practice 6 Voice for marginalized groups (LGBTQ, BPoC, feminism, etc.) 6 Defending independence / artistic freedom 5 Negotiating group identity 5 Bridging cultures and creating understanding 3 Meeting place for citizens of disputed neighboring coun‐ tries 3 Tab. 1: Democracy and Pluralism Interestingly, contrary to the described sociological predisposition of this paper, the most frequently code applied does not refer to the political function of art; rather, it reads “aesthetics vs. politics”, which reveals that a certain distance to the politics of the day is a necessary prerequisite for the artistic practice of the interviewees. The political impact of independent performing arts, however, is not negated, as all five experts also claim that the independent performing arts negotiate common values and social problems, which is an inherently political task. On the one hand, they verify an artistic self-conception that, in the individual embodiment of their very own content, refuses the appropriation by the political to assert their independence, in order to avoid being caught in the crossfire of party-political contradictions. On the other hand, they do not negate that their debates and discourses address common values and social issues, which in turn reflects back into a politically controlled public space - on the contrary, that would be my insinuation, this is more often than not their intention. As a result, the production of independent performing arts, at least when their themes contradict the political agenda in power, relies on 184 Thomas Fabian Eder <?page no="185"?> 14 B. Kovács, personal communication, July 20, 2023. 15 E. Jasarovic, personal communication, July 14, 2023. 16 J. Galovic, personal communication, July 26, 2023. 17 S. Prohorov, personal communication, July 17, 2023. 18 P. Dabravolskaya, personal communication, July 21, 2023. the guaranteed freedom of expression and assembly, which they may defend through their simple existence, in performance. The interviews reflect not only distance to daily politics but also the political claim to be an enlightened forum for the plurality and complexity of society and thus a space for public debate. The code “addressing social challenges through artistic practice” was applied second most often, which shows that all agents ascribe value to it. Brigitta Kovács reports that the independent performing arts in Hungary “address identity, queerness, racism, political oppression and corruption, among other things” 14 and Edin Jasarovic points out that the independent performing arts community in Montenegro “unlike state theaters, represents social diversity”, 15 while Jelena Galovic makes it abundantly clear that she first and foremost works in Serbia’s independent performing arts field “to create content that is socially relevant to society.” 16 This expression of societal engagement is evident in the next most frequent coding, i.e. offering a “voice to marginalized groups”. Stefan Prohorov explains that in Bulgaria “queer and identity politics have a special place in the inde‐ pendent performing arts community.” 17 Jelena Galovic sees a strong “feminist agenda” in the field in Serbia and indicates that openness and understanding for marginalized groups is important, especially due to the oppression of the same by the state. Closely related are the codes for “negotiating group identities” and “building bridges between cultures to create understanding”. For example, Edin Jasarovic describes how the conservative values of the Orthodox Church in Montenegro are becoming the “normal thing” as opposed to a science-based world view. He claims: “Through independent production, we really try to show ‘not normal things’, to offer different interpretations for people” referring to ideas of tolerance and pluralism. Jelena Galovic reports of cooperation projects in Kosovo and other “ex-Yugoslavian countries, there we are trying to do something in the meaning of peace and moving forward together”, while Belarusian artist and singer Palina Dabravolskaya finds it “interesting to sing together, for example, different folk songs. […] to address humanity and culture, the human condition, trying to find a language through different languages without erasing any one of them.” 18 This illustrates that Brauneck’s suppositions regarding an independent per‐ forming arts community that advocates respect for democratic values, including A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 185 <?page no="186"?> the rights of persons belonging to minorities, as well as a commitment to non-discrimination, tolerance and gender equality are consistent with the recognized self-image of the artists and cultural professionals interviewed. While the defense of these values is certainly not the only task, and perhaps not the primary one for many, the engagement in pre-political space and the freedom to intervene in society and to contribute to the public sphere as part of society proves to be an artistic impetus. Thus, as an institution the independent performing arts reflect society and stimulate change through discourse and social debate, while national populism aims to delegitimize this very process in order to gain or maintain interpretive sovereignty. Or as Ágnes Heller has called it, they seek to control the “minds” of citizens. This opposition signifies conflicting values, which in the following will show to be the reason for attempts at repression, attacks and violence by ethno-nationalist movements and national populist politics against the independent performing arts in many European countries. The following chapter will illustrate which measures they use to achieve the same. 4 Oppression, Hostility and Attacks Coding the data based on reports of attacks against the independent performing arts resulted in a variety of revelations. It showed that artists and cultural workers receive death and bomb threats, become victims of antisemitic insults and hate crimes, have their buildings vandalized, are physically attacked, have their performances disrupted or are publicly defamed. The analysis will show that some ethno-nationalist movements denigrate the arts as “poison for our children” and call for boycotts of performances and the dismissal of theater directors. In addition, they question arts funding in sweeping terms. In states whose governments are illiberal in character, artists and cultural workers are at high risk of repression. Here, the data provides examples of persecution by state authorities, funds withheld or cut, artists censored, performances banned, state loyalists placed in influential positions in art organizations, artists vilified in state-controlled media, blacklisting and threats to spread fear within the field. Inductive coding of the interview material resulted in the following catego‐ ries: 186 Thomas Fabian Eder <?page no="187"?> Oppression, Hostility and Attacks Frequency of Mentions Withholding of funding 18 Questioning funding in the parliamentary process 10 Threats to create fear among artists 7 Persecution by the authorities 6 Physical attacks 6 Cancelling performances 5 Death threats 5 Reduction of funds 5 Public calls to cut funding 4 Censorship through pre-screening of artworks 4 Antisemitic statements 3 Appointment of state loyalists to theater management 3 Blacklists 3 Calls for boycott of cultural institutions 3 Calls for replacement of theater management 3 Denigration of artists in controlled media 3 Hate mails 3 Target culture that negotiates identity issues 3 Appeasement before the election 2 Defamation as “poison for the children” 2 Making funding dependency explicit to artists 2 Overloading with bureaucratic workload limiting artists’ capacities 2 Pay no attention / ignore 2 Shows disrupted 2 Bomb threars 1 A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 187 <?page no="188"?> 19 Laudenbach & Goetz, 2019. Financial incentive for conservative behavior 1 Vandalism 1 Tab. 2: Oppression, Hostility and Attacks The attacks on the independent performing arts in Belarus are particularly drastic, as the last section of this chapter will illustrate. They include systematic persecution and condemnation, as well as the disappearance of artists. As the measures are not comparable to illiberal action in the other countries studied, the interview with Palina Dabravolskaya was analyzed separately, and it revealed the following codes: Oppression in Belarus Frequency of Mentions Imprisonment as an attack on culture 8 Suspicion of torture and murder by authorities 5 Censorship through pre-screening of artworks 4 Disappearance of artists and opposition figures 3 Surveillance 3 Extremism/ state endangerment charges as means of sup‐ pression 2 Phones are tapped 1 Tab. 3: Oppression in Belarus 4.1 Ethno-Nationalist Aggression Firstly, attacks by often unknown individuals or groups who act out of ethnonationalist motives move into focus and the German data brings alarming exam‐ ples to light. Laudenbach and Goetz’s research describes death and bomb threats. After the artistic director of the Berlin commercial theater Friedrichstadtpalast “publicly spoke out against the racist ideology of the AfD, the theater received anonymous death threats against the artistic director, 600 hate mails and letters, service staff was insulted by phone. After a bomb threat against a sold-out performance, the start of the performance had to be postponed by 40 minutes.” 19 188 Thomas Fabian Eder <?page no="189"?> 20 Laudenbach & Goetz, 2019. 21 Laudenbach & Goetz, 2019. 22 Laudenbach & Goetz, 2019. 23 Der Polizeipräsident in Berlin 2019: 15-16. The attacks on the Impuls Festival, an independent program for contempo‐ rary music and interdisciplinary experiments, were not far from equally radical. After the festival “showed a youth project with Syrians who had fled in 2016 […], the artistic director received handwritten letters with antisemitic insults to his private address in Berlin. Two of the letters contained bullets.” 20 Cultural organizations in Bulgaria experience similar threats. Stefan Pro‐ horov reports that “there are physical threats against especially more progres‐ sive cultural, social and political organizations that deal with identity issues. […] For example, the façade of the Goethe Institute, was vandalized five days ago because a film on gender issues was shown there.” Presenting further examples for vandalism, Laudenbach und Goetz report on an explosive attack on the Lokomov cultural center in Saxony. “There were several people in the building. The cultural center had participated in the theater festival Undiscovered Neighbors just before, which dealt with the right-wing community in Saxony.” 21 Moreover, Jelena Galovic reports that her productions in Serbia have been disrupted by members of nationalist movements. “When I post something with a queer message online, people start insulting me, they call me names and wish me the worst things, mostly with fake profiles on social media. Sometimes people even come to my performances and start shouting different swear words, or they storm out.” Similarly, in Germany there is a report on the “disruption of the performance Gala Global [produced by the independent performance collective Turbo Pascal] at the Deutsches Theater by members of the Identitarian movement. They shouted slogans with a megaphone and handed out leaflets, because of which, the performance had to be stopped.” 22 The Berlin police’s annual report on politically motivated violence in 2018 states the following about the attack: “One of the men said over a loudspeaker that the audience should not believe the performance, that the theater was manipulating people and that the borders needed to be secured. He repeated this several times. The other people threw flyers into the air. These contained content such as: “Integration is a lie! ” or “Young and without a migration background? There is no future for you with these conditions.” 23 From this testimony, it is increasingly evident that the organized ethno-nationalist movement is targeting the independent performing arts directly as an adversary. Stefan Prohorov provides a particularly memorable example of such a case. His report uncovers how these defamations led to legal problems for the A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 189 <?page no="190"?> 24 Laudenbach & Goetz, 2019. independent Bulgarian venue The Steps. In the wake of ethno-nationalist incitement, its funding by the Bulgarian National Culture Fund was publicly denigrated, as one of the performances, called Drag Bingo, was used as a pretext to put pressure, first on the National Culture Fund and in turn on the venue itself. “Funding pedophiles - that was basically their public accusation. Then the National Culture Fund had to do an investigation because they weren’t sure what to do, and they found the word “bingo”, which means gambling. So now the venue has been led to court by the National Cultural Fund […] as institutions are forbidden from funding gambling.” Should the venue be condemned, Bulgaria’s ethno-nationalist movement will certainly consider this a strategic success. Reports of defamation can be found in other countries as well. Jelena Galovic explains how in Serbia social media is used by ethno-nationalist groups to denounce the performing arts. “They always say we are trying to sell Western ideas and poison the minds of our children. That is their strategy. The officials don’t say anything. It’s just that they have a lot of people who are part of the party, who are, like their bots.” Moreover, the German examples suggest that there is a link between such direct attacks and defamations connecting the ethno-nationalist movement and the German national populist party AfD as the latter uses the means of parliamentary procedure to continue the attacks on the field in similar rhetoric on the political stage. For example, the following statement ties in with the narrative that theatre negatively influences the minds of children and therefore should be restricted. Pupils of the 11 th grade of the comprehensive school Sinkel show their self-written, anti-racist play Thank you, AfD. The education policy spokesperson of the AfD parliamentary group in the state parliament, Harm Rykena, demands: “The school management must stop the party-political instrumentalization of its pupils. This theater performance is a violation of the school’s duty of neutrality”. Another example of how the AfD national populists delegitimize the inde‐ pendent performing arts in particular by submitting motions to cancel or cut their funding or to close their venues is that “the AfD fraction in the Dresden City Council demands that the Festspielhaus in Dresden-Hellerau, which is used as a venue for avant-garde theater, be rented to commercial users in the future instead.” 24 This is simply one of many examples. Even if this preliminary study refrains from counter-statements and the testimonies were given in interviews and not under oath, they are an empir‐ 190 Thomas Fabian Eder <?page no="191"?> ical account of those attacked and threatened, and they make it clear that similar phenomena occur in different countries. In summary, this collection of data documents that ethno-nationalist or national populist attacks on the independent performing arts are widespread not only in illiberally governed countries but also in those with democratic rule. They manifest themselves in death and bomb threats, defamation, vandalism, disruption of performances, motions in parliaments and much more. 4.2 Illiberal Governments The systematic dismantling of independent performing arts structures by illiberal governments proves to parallel the attacks of the grassroots new rightwing movement. The Hungarian government, led by the right-wing populist and national conservative Fidesz party, and the Serbian government, led by the right-wing conservative, national sovereigntist Serbian Progressive Party, have extensive means to achieve this goal. They both are able to withdraw or cut funding, control content by canceling performances, censor shows or appoint state loyalists to theater management to exert state influence on the field. They may blacklist artists or even publicly denigrate them in controlled media. In the sections to follow, examples from Montenegro will be cited. While Montenegro has no national populist government, political turmoil and the strong influence of the Orthodox Church and Serbian media create unfavorable conditions for the independent performing arts, which makes it relevant to this context. Brigitta Kovács reports on how Fidesz goes about controlling the independent performing arts in Hungary, explaining that in 2023, three different funding instruments for the independent performing arts community were either limited in the amount or no longer offered at all: At the moment, the independent performing arts community is directly deprived of funding […]. The current Minister of Culture claims that now is the time to reform the field. He said that “Those who can generate market-based revenues will stay alive. Those who can’t, won’t, we don’t need them” […]. Specifically, the amount of the already insufficient structural and operational funds to support independent companies, production houses and production management agencies has been cut this year. […] The second funding instrument cut is the project-based National Cultural Fund. This was one of the main resources that individual artists could apply for […]. The third pillar is a direct fund that came from the Ministry of Innovation and Culture […]. For this too, the amount allocated was much lower than in previous years. A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 191 <?page no="192"?> Canceled subsidies are not unique to Hungary. Edin Jasarovic points out that in Montenegro, the government “forgot to place the public call for independent productions for three years now. Which is a paradox, because it by law is obliged to support the field.” While Brigitta Kovács and Edin Jasarovic cite the explicit withdrawal of funding, Jelena Galovic refers, more implicitly, to principles of funding in Serbia that link the awarding of support directly to the content of the productions and thus indicate de facto censorship. She says: “They can only control the independent performing arts community in the way that they don’t give space and money. So, if you are looking for a space, you can apply and they will see what the content of your project is. And no, you won’t get a space to speak against the state or against the ruling party.” Similar examples of alleged censorship are given for the Hungarian context. “For example Róbert Alföldi was once the director of the National Theatre, and after Fidesz gained power, of course, he was not ‘reelected’ [she gestured quotation marks with her fingers] you know, Actually, he was replaced. And since then he has been called one of the enemies of the state. For example, one of his plays was canceled in certain cities that are supported by the government or where the mayor is from Fidesz.” According to Galovic, in Serbia the authorities do not hesitate to use personal threats to enforce censorship: “If word gets out that there is something in a performance that is controversial, they send someone from the party. And if it goes over the line, they try to disrupt the performance, or maybe after the performance someone who looks really scary stands on the stairs of a theater and says, “I saw your play, maybe I’ll come back next time”, or he makes a threat or something like that […] and if a show gets really popular, and the nation and society make a big deal about it, then they will react. And they might call the owner or the director of the theater and tell him that there are no more seats available for this performance in the future.” Brigitta Kovács reports of further means of controlling the content of independent performing arts productions in Hungary. Apart from the abovementioned replacement of directors or the restriction of funding, she explains how the appointment of state loyalists to committees and decision-making positions between the arts and politics are common practice. Within the performing arts, certain heads of organizations like the National Theater, which are very close to the government, have been appointed heads of the so-called cultural strategic institutions in the performing arts. […] In theory, they advise the government on the development of the Hungarian performing arts, but they are completely neglecting the independent performing arts community. […] Also, very 192 Thomas Fabian Eder <?page no="193"?> 25 Mounk 2019. 26 United Nations, 2023. often they agree with the ideologies that the government represents and they reflect that in their repertoire and in the programs they support. This suggests political curation of cultural life in Hungary. Jelena Galovic questions the legitimacy of Serbian state boards that distribute funding in a similar manner. “The people who sit on the board and distribute what little project money we have and decide which projects go through, you know, it’s really a question of how much they actually are for the job. Who are these people who are telling us what’s good enough and what’s not good enough? This is politically curated.” Moreover, it appears that political influence is not only exercised in the administration and in the bodies and positions appointed by the administration but that it extends beyond. “Concrete cancellations of performances have occurred in theaters in Budapest. Suddenly certain institu‐ tions issue a statement saying that they will not work with or engage certain artists who are not approved by the government […]. And there is a lot of tearing apart of specific artists in the media: in the government media.” Jelena Galovic reports of a similar principle: “All media, television and radio are controlled by the ruling party” she says. And this control even radiates beyond Serbian borders. Edin Jasarovic reports: “We have only one channel that is in the hands of Montenegrin owners. That is national television. All the others are with the structure from Serbia. […] So a reflected public interpretation of what is going on is difficult. The media control the orientation. Sometimes they really do it directly, because of political instrumentalization, with money. To me it is clear that even if we try to get media coverage for our performances, they will ignore us.” These empirical accounts confirm that the national-populist governments in Hungary and Serbia are using all means at their disposal to control the public sphere of arts. They prove what is claimed in theory. Illiberal national populist governments undermine the media and progressively suppress independent democratic institutions 25 , among them the independent performing arts, to gain, or maintain interpretive sovereignty. 4.3 From Surveillance to Imprisonment Belarus was considered an illiberal democracy until the last elections in 2020. Those were observed by UN Secretary-General António Guterres “with great concern” 26 and are not recognized by Germany as well as the European Union A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 193 <?page no="194"?> 27 Deutsche Botschaft Minsk, 2023. because of “massive electoral fraud and human rights violations.” 27 Since then the pretense of the rule of law and democracy is less and less maintained and the country has enforced its agenda, fighting the arts and the opposition with increasing violence by the state apparatus. Using this example, a worst-case version of what can emerge from an illiberal democracy is presented next. Although the above accounts in themselves tell a drastic story, Palina Dabravolskaya’s interview answers show how state repression of enlightened aspirations in the independent performing arts can go to its extremes. She reports censorship, surveillance, repression, tapped phones, deprivation of freedom, disappearances of artists and she even suspects prison violence and torture by the authorities. Moreover, she makes out a shift in brutality that emerged with the elections in 2020. Before 2020, everything to do with culture and language had to be accompanied by a paper showing that someone from the very top had given his approval. […]. They checked how we talked about the performance, look at the sets, the actors and directors, and the whole group of people, because they have blacklists. So, if someone from the blacklist of artists is involved in the process, the project could not happen. Also, it could be that they don’t like a sentence or a word. Then they tell you to delete it, if not, they ban the performance. Still, we had the opportunity to work. Everyone was a bit scared, but we knew we had an independent performing arts community and that we could do something. After 2020 we still did things, but now they refused us more and more often, saying that it was better for the country. Furthermore, she illustrates that this censorship of artistic work goes hand in hand with intensive surveillance, imprisonment and violence. They have files on everything you have done. Photos of your participation. […] So, if they need you, they will find you. […] For example, if you get caught at an underground show, it depends on your history, […] they will go through your files and your photos. Then they’ll put you in jail. They’ll tell you it’s going to be 15 days, for example. After that, they just don’t release you. Most of the time they do that to show everybody else how not to behave. Everything that does not go according to the regime’s plan is labeled extremist and banned […]. They charge you for extremist acts. Or you can be convicted for destabilizing the regime and taking part in protests. And for that, you can go to prison for up to 20 years. […] However, now they show their faces. Before, sometimes people disappeared and we didn’t know where they were for years. […] Now the government can’t hide the fact that Belarus is a fake democracy. But before 2020 they tried to show us that we have 194 Thomas Fabian Eder <?page no="195"?> freedom. And we believed it. […] Now people die in prison every day and we know it. We have more than 2,000 political prisoners and about 100 of them we don’t know anything about […]. They don’t give letters to political prisoners to make them feel alone. To hurt them not only physically, but also psychologically, to break them down. And yet, in prison, you also get beaten, you can get hurt, there is sexual violence and that’s why I don’t want to give you any names. Because when we talk about someone on the outside, it’s usually worse for them on the inside. Then more and more suffering is inflicted on them. A closer look at the content of Dabravolskaya’s statements reveals that this oppression is not motivated by an ethno-nationalist Belarusian ideology alone, she instead attributes it to a dissociation from Western values and reports that a Belarusian self-image is fought against in favor of a greater Russian vision. If you don’t speak Russian now, but Belarusian, if you speak Belarusian in Belarus, you get asked a lot of questions and can even go to jail for it. Or if you wear national colors like white and red, so for example white and red socks. […] It was this loss, one after the other, that nobody noticed … you know, very, very small, simple laws. They started, for example, with two official government languages and after all the documents were translated into Russian, everything became more in Russian, more in Russian. I asked her if she thinks that Russia was attempting to eradicate Belarusian culture within Belarus and her answer was “Yes, absolutely! ” It is neither the task of this report to assess whether and how Russian imperialism is linked to illiberal governments, national populist parties, or ethno-nationalist movements in Europe, nor does the existing data provide a comprehensive basis for a detailed analysis of the notion. Nevertheless, it is noteworthy that there are statements made by the interviewees from Belarus, Montenegro, Serbia and Bulgaria that point to Russian influence on ethnonationalist movements or national populist parties, ultimately affecting the independent arts field. A deeper investigation of these connections must be addressed in future academic research. 4.4 Resilience The promotion of a culture of debate and of spaces for discourse, as anchored in the self-understanding of the independent performing arts, conflicts in its pluralistic orientation with the phantasm of clearly delimitable cultures, as promoted by ethno-national ideology and national populism, and this contrast results in direct confrontation. It has become evident that both ethno-nationalist A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 195 <?page no="196"?> movements and national populist parties and regimes show different levels of influence on the independent performing arts depending on the country they are located in. Regardless of the magnitude of influence, the interviews document that they antagonize the performing arts, its agents and organizations with varying degrees of severity and in different constellations of protagonists. In Germany and Bulgaria, new right-wing individuals and groups of the ethno-na‐ tionalists as well as national populist parties in opposition are reported to attack the field. For Hungary and Serbia, countries ruled by national populists, reports indicate repression and structural discrimination against the independent per‐ forming arts using a variety of means, from leadership replacements to funding restrictions while in Belarus the government appears to control the field through harsh measures ranging from censorship and surveillance to imprisonment and physical harm. Such suppression violates not only the freedom of the arts but human rights as well. It fundamentally restricts the freedom of the individual, it serves to strengthen a single ideology and thus undermines democracy. On the contrary, the interviews made it evident that independent performing arts communities in Europe, however strong the antagonism, stand their ground. An enlightened understanding of citizenship, as well as grassroots and project-based organization, contribute to resilience and often lead artists to continue their work despite tremendous risk. The data revealed that many artists and culture workers are resisting attacks and suppression and that they have developed the most admirable counterstrategies to do so. Resilience Frequency of Mentions Addressing political grievances in shows 6 Conduct civil dialogue 6 Employing activist art forms 5 Using coded language to avoid censorship 5 Approaching rural audiences 4 Promoting international solidarity 4 Professional hiatus as self-protection 4 Producing underground performance 4 Democracy and youth education 2 Research/ investigation as an aesthetic task 2 Using funding from outside the country 1 196 Thomas Fabian Eder <?page no="197"?> Joining forces with other oppressed groups 1 Public questioning of the system 1 Writing under pseudonyms 1 Tab. 4: Resilience Independent performing art communities promote public discourse and address political grievances in their programs and productions against all adversity. Moreover, the interview data shows that they continue to engage in civil dialogue, advocate for minorities, reach out to rural audiences and engage in democracy and youth education; that they organize security protection when there is a risk of hate crimes against their shows, and nonetheless present them; that when domestic funding is cut or eliminated, they find funding from abroad; and, even under the dictatorship in Belarus, they have not fallen silent. There are reports of artists who trick censors by using coded language in priorly approved performances to make political statements. Moreover, there are underground performances for which the location information is only announced shortly before the show begins, in secret communication channels; and some authors even continue to position themselves publicly under pseudonyms and in this way make their content accessible to the Belarusian people. 5 Conclusions The above illustrates that art is not an instrument but, as an institution, an inherent part of democracy, operating independently yet embedded in societal and social contexts while creating space to interrogate existing routines peacefully. It does so, in contrast to a forced concept of aesthetic independence, but also against an obligation of art to be socially effective. The interviews revealed that the independent performing arts occupy and establish pre-political spaces, that they influence societal self-reflection and demand dialogue and mutual understanding for the plurality of life and community, despite and in conflict with various illiberal attempts at intimidation. The conjectures presented at the beginning have been largely confirmed. In the face of hostility and oppression, the independent performing arts promote an enlightened self-understanding and the negotiation of values within the most heterogeneous contexts. This is a liberty that directly opposes ethnonationalist and national populist understandings of closed national cultures A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 197 <?page no="198"?> and this opposition manifests itself in attacks against and suppression of the independent performing arts in many European countries. The recurrence of similar attacks and means of repression in different national contexts indicates that the independent performing arts community is a strategic target of illiberal ideology regardless of borders. The interviews have demonstrated that systematic attacks aim to polarize and delegitimize artistic practices when artistic content does not align with ethno-national ideas. The initial concern thus remains, as the growing support for illiberal forces allows them, when in power, to replace, financially restrict, discriminate, censor and control the arts, even while remaining members of the EU and not being considered dictatorships. However, artists and cultural workers are resilient in opening up spaces of plurality, of humanity, of expressing and enduring contradictions; it is precisely because these spaces are under threat in the face of growing illiberal power in Europe that the presented findings should remind governments and citizens in all democratic countries to protect their freedom by protecting their independent performing arts. Literature Baecker, Dirk (2013). Wozu Theater? Berlin: Theater der Zeit. Brauneck, Manfred (2016). Vorwort. In: Brauneck, M./ ITI Zentrum Deutschland (Hrsg). Das Freie Theater im Europa der Gegenwart: Strukturen - Ästhetik - Kulturpolitik. Bielefeld: transcribt Verlag, 13-44. Consortium of Members of The European Theatre Forum (2020). The Dresden Declara‐ tion. The European Theatre Forum 2020. Abrufbar unter: https: / / www.europeanthea treforum.eu/ page/ the-dresden-declaration-of-the-european-theatre-forum Der Polizeipräsident in Berlin (2019). Lagedarstellung Politisch motivierte Kriminalität in Berlin 2018. Berlin. Polizei Berlin Deutsche Botschaft Minsk (2023). Deutschland und Belarus. Belarus: Steckbrief. Abrufbar unter: https: / / www.auswaertiges-amt.de/ de/ service/ laender/ belarus-node/ steckbrief/ 201902 Eatwell, Roger/ Goodwin, Metthew (2018). National populism: The revolt against liberal democracy. London: Pelican an imprint of Penguin Books. Heller, Ágnes (2017). Von Mussolini bis Orban: Der illiberale Geist. Blätter für Deutsche und internationale Politik, 8/ 2017. Abrufbar unter: https: / / www.blaetter.de/ ausgabe/ 2017/ august/ von-mussolini-bis-orban-der-illiberale-geist Helmerich, Antje (2004). Ethnonationalismus und das politische Potenzial nationalis‐ tischer Bewegungen. Aus Politik und Zeitgeschichte, Nation und Nationalismus, 198 Thomas Fabian Eder <?page no="199"?> 39/ 2004. Abrufbar unter: https: / / www.bpb.de/ shop/ zeitschriften/ apuz/ 28091/ ethnona tionalismus-und-das-politische-potenzial-nationalistischer-bewegungen/ Laudenbach, Peter/ Goetz, John. (2019). Druck von rechts. Süddeutsch Zeitung. Abrufbar unter: https: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ afd-kulturpolitik-rechtsextremismus-ge walt-1.4578106 Menke, Christoph (2013). Die Kraft der Kunst (1. Auflage). Berlin: Suhrkamp. Mounk, Yascha (2018). The people vs. democracy: Why our freedom is in danger and how to save it. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. United Nations. (2023, August 24). UN News: Global Perspective on Human stories. Belarus: UN Chief Following Post-Election Developments ‘with Great Concern.’ http s: / / news.un.org/ en/ story/ 2020/ 08/ 1069852 A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression 199 <?page no="201"?> 1 Dias im Interview 2022. 2 Dias im Interview 2022. Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten. Am Beispiel des internationalen Festivals Theaterformen Silke zum Eschenhoff „And the first thing that comes to my mind when we discussed the internationa‐ lization of theater and of aesthetics in general is translation.“ 1 Die brasilianische Wissenschaftlerin und Übersetzerin Jamille Pinheiro Dias, die 2022 beim Festival Theaterformen als Übersetzerin und Produzentin tätig war, trifft gleich zu Beginn unseres Gesprächs über die Internationalisierung des Freien Theaters ungefragt den Kern dieser Untersuchung. Dias hat dabei nicht ausschließlich eine sprachliche Übersetzung im Kopf: And particularly, when you are translating theatre, there are all the aspects related to the body and to movement and to gestures, not only verbal language, but also what the body conveys. And then the more visual aspect to, there are some references that don’t translate as equivalent to different context. 2 Projekte Freier Darstellender Kunst, die als Gastspiele international touren, aus internationalen Kooperationen oder Koproduktionen hervorgehen, brauchen in der Regel Übersetzungen. In einer ersten Reflexion scheint dabei zuvor‐ derst die sprachliche (Nicht-)Übersetzung der eingeladenen Projekte zu stehen. Doch auch künstlerische Strategien, theatrale Konventionen, Sehgewohnheiten, Wirkungsweisen und -absichten unterscheiden sich auf inhaltlicher und (re‐ zeptions-)ästhetischer Ebene je nach Community und kulturellem, lokalem Kontext, in dem sie entstehen. Sie bedürfen je nach Aufführungskontext anderer Rahmungen. Nicht zuletzt beeinflussen die international sehr unterschiedlichen Strukturen, in die Fördersysteme, Infrastrukturen und Arbeitsbedingungen inkludiert sind, die Formate und Ästhetiken. Unterscheidungsmerkmale finden sich aber nicht nur im internationalen Vergleich, sondern auch im Vergleich <?page no="202"?> der beiden bundesdeutschen Theatersysteme: dem der Freien Darstellenden Künste und dem der Stadt- und Staatstheater, also der öffentlich getragenen Häuser - auch diese Perspektive wird im Folgenden fokussiert. All diese Dimensionen der unterschiedlichen nationalen und internationalen Produkti‐ onsweisen, der künstlerischen Ästhetik und Rezeption adressieren potenziell notwendige Übersetzungen. Aus Perspektive der Akteur: innen liegt dabei das Ziel nahe, die Unterschiede in eine strukturelle Gleichheit zu übersetzen, um den Reibungsverlust möglichst gering zu halten. Struktur und Ästhetik, so wird sich zeigen, sind in Übersetzungsprozessen noch einmal potenziert und auf besondere Weise verbunden, um gewissermaßen möglichst lückenlos zwischen Entstehungssituation und jeweiligem Aufführungskontext zu vermitteln. Statt des Begriffs der Unterschiede nutze ich im Folgenden den Begriff der strukturellen Asymmetrie, um so eine Verzahnung aus strukturellen Un‐ terschieden in Kombination mit daraus entstehenden ungleichen Handlungs‐ chancen der Beteiligten zu fassen. Das internationale Festival Theaterformen bietet sich als empirisches Beispiel an, denn die Programmgestaltung eines internationalen Theaterfestivals erfor‐ dert per se eine Vielzahl komplexer Übersetzungen und Transfers. Doch neben der Konzeption der Präsentation der vielfältigen (inter-)nationalen Freien Dar‐ stellenden Künste erweist sich Theaterformen auch aufgrund seiner Struktur als relevant für die Analyse von Übersetzungsleistungen auf struktureller, ästhetischer oder inhaltlicher Ebene. Nach einer kurzen Exploration des Untersuchungsgegenstandes gebe ich einen Überblick zu relevanten Theorieansätzen der Übersetzungs- und Transla‐ tionswissenschaft, bevor schließlich vier Beispiele notwendiger Übersetzungen im Rahmen von Theaterformen geschildert und deren Bewältigungsstrategien analysiert werden. 1 Das internationale Theater- und Tanzfestival Theaterformen 1990 in Braunschweig gegründet, soll Theaterformen die Stadt Braunschweig mit internationalem Regietheater und experimentellen Formen verbinden, be‐ reichern und damit eine stärkere überregionale Sichtbarkeit schaffen. Das primäre Interesse hinter diesem Ziel der städtischen und regionalen Attrak‐ tivitätssteigerung war jedoch wirtschaftlicher Aufschwung. Kulturförderung bedeutete damals auch Wirtschaftsförderung, so brachte es Lavinia Francke, die amtierende Generalsekretärin der Stiftung Niedersachsen, in ihrer Eröff‐ nungsrede zum Start des Festivals 2023 in Hannover auf den Punkt. Der dama‐ 202 Silke zum Eschenhoff <?page no="203"?> 3 Festival Theaterformen o. J. Der Eiserne Vorhang hob sich eher als erwartet - so lag die damalige strukturschwache Region rund um Braunschweig nach dem Fall der Mauer und damit bereits zur ersten Festivalausgabe nicht mehr am Zonenrand, sondern mitten in Deutschland. 4 Vgl. Pinto 2013a: 244f. 5 Pinto 2013b: 36. 6 Vgl. Florida 2005. 7 Berking/ Löw 2008: 12. lige Generalsekretär der Stiftung Niedersachsen, Bernd Kauffmann, gab mit Gründung des Festivals den Impuls, „die Region mit Unterstützung einer Unter‐ nehmerinitiative, Mitteln der Zonenrandgebietsförderung und Stiftungsgeldern kulturell voranzubringen“. 3 Dieser Befund einer Verknüpfung von Strukturen und künstlerischer Ästhetik im Gründungsmoment von Theaterformen lässt sich historisch rahmen mit einer zunehmenden strategischen Ausrichtung und Ökonomisierung der Kultur, die in den späten 1990er, frühen 2000er Jahren vermehrt Anklang fand. Die Prämisse der sogenannten Umwegrentabilität der Kulturförderung etablierte sich und fokussierte die mit einem (Kultur-)Projekt verbundenen indirekten Einnahmen als positive volkswirtschaftliche Effekte. 4 Die wachsende Bedeutung von „Kultur und Bildung […] als ökonomische Teilmärkte“ 5 prägte den Wandel der Struktur von Städten. So steht seit den frühen 2000er Jahren der Bereich der Kultur- und Wissensproduktion für Stadt‐ entwicklung im Fokus. 6 In dieser neuen „Eigenlogik der Städte“ 7 vermag Kultur als unverwechselbarer Bezugspunkt einer Stadt Aufmerksamkeit zu generieren und bei der dauerhaften Ansiedlung von qualifizierten Arbeitsplätzen und -kräften strategisch nutzbar zu sein. Seit seiner Gründung blickt das Festival auf eine wechselvolle Geschichte zurück: Nachdem sich noch vor dem ersten Festival der metaphorische Eiserne Vorhang gehoben hatte, krachte er kurz vor dem Festivalstart 1995 ganz real und unkontrolliert auf die Bühne des Staatstheaters Braunschweig - die dadurch so zerstört wurde, dass kurzfristig geeignete Spielorte gefunden werden mussten. Neben Braunschweig wurden so auch Wolfenbüttel und erstmals Hannover Austragungsort für die Festivalausgabe 1995. Im Zuge der internationalen Weltausstellung EXPO 2000 etablierte sich Hannover seit 1998 schließlich als zweite Festivalstadt. Nach dem Auslaufen der Förderung durch das Land Niedersachsen im Jahr 2004 setzten sich die Städte Braunschweig und Hannover sowie die damaligen Intendanten der beiden Staatstheater, Wolfgang Gropper und Wilfried Schulz, entschieden für eine Weiterförderung und damit verbun‐ dene Neukonzeption des Festivals ein. Seit 2007 fördern das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, die ausrichtende Stadt, die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz sowie die Stiftung Niedersachsen das Festival Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 203 <?page no="204"?> 8 Vgl. Festival Theaterformen o.-J. 9 Mülter im Interview 2022b. 10 Mülter im Interview 2022b. 11 Vgl. North 1990: 3f. 12 Vgl. Friedland/ Alford 1991: 242ff. 13 Sandhu 2012: 108. Theaterformen, das im jährlichen Wechsel an den beiden Staatstheatern statt‐ findet 8 - eine Besonderheit der Festivalstruktur, die sich für das Leitungsteam und die Konzeption der jeweiligen Ausgabe als bedeutungsvoll und teilweise herausfordernd darstellen kann. Seit 2020 ist Anna Mülter als künstlerische Leiterin des internationalen Festivals Theaterformen verantwortlich. Sie hat das Anliegen, Potenziale zu heben - inhaltliche Potenziale, in besonderem Maße, aber auch künstlerische, ästhetische Potenziale. Für jede Festivalausgabe setzt Mülter sich „kuratorische Herausforderungen“ 9 , nachdem sie „Lücken“ 10 - was sich in der Logik dieser Untersuchung als strukturelle Asymmetrien fassen lässt - im organisationalen Feld der internationalen Freien Darstellenden Künste identifiziert hat. Das orga‐ nisationale Feld bezieht sich auf die Theorie des Neo-Institutionalismus. Dieser definiert Institutionen in einer Gesellschaft als Regeln, Erwartungen, Glau‐ benssysteme oder auch Interpretationsschemata. 11 Organisationen wiederum, die im alltäglichen Verständnis häufig synonym mit Institutionen verwendet werden, sind die einzelnen Theater, Produktionshäuser, Compagnien etc., die im organisationalen Feld der Freien Darstellenden Künste zu einander in Beziehung stehen und sich (ungeschriebenen) Regeln und Gesetzen unterwerfen, um professionell miteinander agieren zu können. Auf das Organisationsfeld wirken dabei institutionelle Logiken, beispielsweise gewachsene Erwartungshaltungen, die bestimmte Handlungsspielräume prägen und vorstrukturieren. 12 So werden „institutionalisierte Anforderungen von der gesellschaftlichen auf die organisa‐ tionsbezogene Ebene“ 13 übersetzt. Insofern sind Organisationen abhängig von ihrer Umwelt und formieren sich, indem sie u. a. auch auf externen Druck reagieren. Theaterformen reagiert in diesem Sinne als Organisation auf struk‐ turelle Asymmetrien innerhalb des organisationalen Feldes der internationalen Freien Darstellenden Künste - wie sie beispielsweise von der Festivalleitung in Bezug auf inhaltliche und ästhetische Aspekte, auf die Art und Weise der Zusammenarbeit, auf Kooperationen und Arbeitsweisen oder auch in Bezug auf Zugangsmöglichkeiten und Barrierefreiheit für Künstler: innen und das Publikum identifiziert wurden. Doch wie bereits angeklungen, bietet sich Theaterformen nicht nur aufgrund seiner internationalen Ausrichtung und den teilweise damit verbundenen 204 Silke zum Eschenhoff <?page no="205"?> 14 Buden 2008: 9. Übersetzungen und Transfers von Struktur, Ästhetik und Inhalt an. Die be‐ sondere Struktur des Festivals erweist sich ebenso als aufschlussreich, denn Theaterformen findet alternierend an den Staatstheatern Braunschweig und Hannover statt - mit allen personellen Kapazitäten, infrastrukturellen und or‐ ganisationalen Ressourcen, die dazugehören. Die im internationalen Vergleich nahezu einmalige Institution der Staatstheater prägt Arbeitsweisen, die durch Arbeitsteilung und Langfristigkeit in der Planung gekennzeichnet sind. Dem gegenüber stehen häufig kollektiv und kurzfristig geprägte Arbeitsprozesse der international agierenden Künstler: innen, deren Projekte im Rahmen von Theaterformen präsentiert werden. Ebenso fordert der alternierende Wechsel zwischen Braunschweig und Hannover, mit je differenten lokalen Kontexten und damit spezifischen Anforderungen an Konzeption und Organisation des Festivals Übersetzungsleistungen ein, die - das zeigt die Untersuchung - durch vielfältige Verknüpfungen von Struktur und Ästhetik in den Darstellenden Künsten immer auch die inhaltliche und künstlerisch-ästhetische Ebene invol‐ vieren und adressieren. Für die Analyse der unterschiedlichen strukturellen Asymmetrien sowie der daraus resultierenden Übersetzungsprozesse erweisen sich Theoreme aus der Übersetzungs- und Translationswissenschaft als erkenntnisleitende Basis, auf der theoretische Grundzüge für eine Operationalisierbarkeit von Überset‐ zungsprozessen am Beispiel des Festivals Theaterformen erarbeitet werden. Das Ziel dabei ist, den Übersetzungsbegriff für die Angleichung struktureller oder künstlerisch-ästhetischer Asymmetrien zu legitimieren und nutzbar zu machen. 2 (Kulturelle) Übersetzung und Translation „Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Welt, wie wir sie heute kennen, ohne sprachliche Übersetzung unterginge“, 14 fasst der Philosoph und Kulturkri‐ tiker Boris Buden 2008 die zentrale Bedeutung der Übersetzung zusammen. Doch warum kann es bei der Anpassung oder Synchronisation von Differenzen dennoch sinnvoll sein, von Übersetzungen zu sprechen, wenn diese Differenzen gerade nicht sprachlich, sondern strukturell oder künstlerisch-ästhetisch sind? Historische und zeitgenössische Ansätze aus der Übersetzungstheorie bieten Anknüpfungspunkte, mit denen sich Übersetzungsnotwendigkeiten und Über‐ setzungsleistungen von nicht-sprachlichen Phänomenen analysieren lassen. Eine der ersten neuzeitlichen theoretischen Grundlagen für die schriftliche, dezidiert literarische Übersetzung etablierte der Altphilologe und Philosoph Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 205 <?page no="206"?> 15 Vgl. Edl/ Matz 2022: 86. 16 Harsch 2021: 28. 17 Harsch 2021: 28f. 18 Harsch 2021: 29. 19 Prunč 2012: 15 (Herv. i. Orig.). 20 Prunč 2012: 16. 21 Prunč 2012: 16. 22 Prunč 2012: 16. Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der zwar von einer generellen Über‐ setzbarkeit von Sprachen ausging, aber bereits deren Mangel an Neutralität betonte. Schleiermacher spricht dem literarischen Übersetzer Entscheidungs‐ kompetenzen in hauptsächlich zweierlei Richtung zu: 1. den Autor an den Leser heranzuführen, damit die Übersetzung zeitgemäß und verständlich klinge; oder 2. andersherum, den Leser an den Autor heranzuführen, damit die Übersetzung in der Entstehungszeit des zu übersetzenden Textes verhaftet bleibe. 15 An diesem lange Zeit traditionellen Übersetzungslehrsatz und der damit verbundenen Übersetzungstheorie entsteht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine teilweise radikale Kritik. Walter Benjamin als prominenter Kritiker erweitert erstmals in seinem 1923 erschienenen Essay Die Aufgabe des Übersetzers das damalige Verständnis der Übersetzung. Die Übersetzung bleibt demnach nicht mehr verhaftet im Nutzen des Verständlichmachens, „sondern sei Ausdruck einer Eigenschaft des Originals, nämlich dessen Übersetzbarkeit. Damit ist die Übersetzung auch kein Abbild des Originals, sondern sie ‚verdankt ihm ihr Dasein‘“. 16 Benjamin wertet die Übersetzung als „eigenständige[n] Text“ 17 auf - und enthierarchisiert damit gleichzeitig die Relation von Original und Überset‐ zung. Die Funktion der Übersetzung als „eigenständiger Text“ sieht Benjamin nicht primär in der Rezeptionsmöglichkeit eines Textes für ein anderssprachiges Publikum, sondern - philosophisch allumfassend gedacht - darin, „auf die grundlegende Verwandtschaft aller Sprachen hinzuweisen, also die Möglichkeit der Verständigung über sprachliche Grenzen hinweg anzudeuten.“ 18 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stößt der Wissenschaftler Otto Kade 1968 schließlich in dem Fach der damaligen sogenannten Übersetzungs‐ wissenschaft eine Neuerung an: Er führt den Begriff ‚Translation‘ als wissen‐ schaftlichen Terminus und „als Hyperonym für Übersetzen und Dolmetschen ein“. 19 Translation umfasst damit sowohl das Übersetzen „eines fixierten und demzufolge permanent dargebotenen bzw. beliebig oft wiederholbaren Textes“ 20 als auch das Dolmetschen „eines einmalig (in der Regel mündlich) dargebotenen Textes“ 21 - besonderes Augenmerk liegt in beiden Fällen auf dem „Kodierungs‐ wechsel“ des Ausgangstextes (AT) in den Zieltext (ZT) als „die wichtigste Phase dieses Prozesses“. 22 Neben dem Resultat der Translation wird nun besonders der 206 Silke zum Eschenhoff <?page no="207"?> 23 Vgl. Prunč 2012: 30. 24 Prunč 2012: 30. 25 Prunč 2012: 30 (Herv. i. Orig.). 26 Prunč 2012: 21. 27 Vgl. Prunč 2012: 29. 28 Prunč 2012: 20. komplexe Prozess der Anpassung von einem System in ein anderes fokussiert. Die Methode des Translationsprozesses lässt sich mit dem österreichischen Linguisten und Übersetzungswissenschaftler Erich Prunč wie folgt systemati‐ sieren: 23 AT → X → ZT Das X als Symbol des ‚Kodierungswechsels‘ benennt den Prozess, der immer dann als Translation zu charakterisieren ist, „wenn zwischen zwei verschie‐ denen Texten, unabhängig von ihrem Status und ihrer Textstruktur, eine vorhersehbare und/ oder beschreibbare Beziehung besteht“. 24 Prunč weitet das Konzept der Translation entscheidend aus und betont, dass im wissenschaftlichen Konzept von Translation […] auch für jene Formen des trans‐ latorischen Handelns ausreichend Platz sein [muss], bei denen das herzustellende Translat nur locker an den AT [Ausgangstext, S. E.] angebunden wird. Translation gilt in diesem Verständnis nicht nur als Oberbegriff für Übersetzen und Dolmetschen, sondern auch für translatorische Prozesse und Leistungen, die von einer Übersetzung im engeren und traditionellen Sinne bis hin zur freien Bearbeitung reichen. 25 Zwei Aspekte der Übersetzung sind damit deutlich geworden: Zum einen gelingt mit Prunč Anfang der 2000er eine für diese Untersuchung notwendige Dynamisierung des Textbegriffs. Denn Prunč versteht „unter Translat […] jedes Produkt einer Translation“ 26 - also nicht mehr ausschließlich (schriftliches) Übersetzen und (mündliches) Dolmetschen, sondern darüber hinaus und umfas‐ sender beschrieben jede Art des menschlichen Ausdrucks. Zum anderen bleiben Ausgangstext und Zieltext durch das X immer verbunden, sind insofern nicht unabhängig voneinander, sondern in Beziehung/ Relation zueinander stehend und dadurch bestimmt - so dynamisch auch immer der Textbegriff und die grundsätzliche Definition von Translation 27 sein können, die durch die „so genannte kulturwissenschaftliche Wende der Translationswissenschaft und die translatorische Wende der Kulturwissenschaft“ 28 entstehen konnten. Die Übersetzung oder Translation von einem System in ein anderes, also die „translatorische Praxis“, konzeptualisiert Prunč als „Mittlertätigkeit, die sie von Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 207 <?page no="208"?> 29 Prunč 2012: 31. 30 Prunč 2012: 31. 31 Prunč 2012: 29. 32 Buden 2008: 10f. 33 Buden 2008: 11. 34 Buden 2008: 25. anderen Formen der interkulturellen Kommunikation abhebt“. 29 Relevant für das Verständnis der Mittlertätigkeit ist, dass „nicht von vornherein fest[steht], wie die konkrete Realisierung von Translation stattfindet. Die Art der Rea‐ lisierung von Translation wird kultur- und zeitspezifisch in Konventionen gefasst.“ 30 Im Prozess des ‚Kodierungswechsels‘ wählt die Person, die den Prozess der Translation vollzieht, aus einer Vielzahl unterschiedlicher Kombi‐ nationsmöglichkeiten bzw. ‚vermittelt‘ zwischen ihnen. Somit ist jeglicher Akt der Translation kontextgebunden, subjektiv gefärbt und als nicht neutral zu be‐ werten. „Translation in ihrer gesellschaftlichen und ideologischen Bedingtheit zu erkennen und als wesentliches Element eines komplexen kulturhistorischen Prozesses zu beschreiben“ 31 , stellt ein relevantes Kriterium des reflektierten Umgangs mit allen Formen der Translation dar. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Boris Buden entwickelt schließlich das Konzept der „kulturellen Übersetzung“, das die Umwelt als notwendiges Vorwissen in jeden Akt der Translation mit einbezieht. Als historischen Kontext dieses umfassenden Verständnisses von Übersetzung konkretisiert Buden die 1990er Jahre, in denen „die expandierende und interdisziplinär-heterogene Wissensproduktion der Cultural Studies die theoretischen Reflexionen der Übersetzungspraxis stark beeinflusst“ 32 hat. Die Übersetzungsprozesse wurden damit angebunden an die „kulturellen und politischen Themen [..], die deren Kontext bestimmen“. 33 Zusammenfassend lässt sich so (1.) der Einzigartigkeit, die Benjamin der Übersetzung zuspricht, (2.) dem Fokus auf den Prozess der Kodierung, den Kade hervorhebt, (3.) der translatorischen Praxis als Mittlertätigkeit (4.) also mit Buden die historische, politische und soziale Kontexterweiterung jeglicher Übersetzung hinzufügen. Denn „kulturelle Übersetzung ist ohne deren politi‐ sche Bedeutung nicht mehr denkbar. […] Wer also wirklich kulturell übersetzen will, wird die Auseinandersetzung mit der Realität nicht vermeiden können“. 34 Wie lassen sich diese theoretischen Überlegungen nun für die Analyse des Festivals Theaterformen fruchtbar machen? Dazu steht zunächst die von Mülter gestaltete Ausrichtung des Festivals im Mittelpunkt, um davon ausgehend asymmetrische Strukturen als Voraussetzungen des Festivalmachens und deren Wirkung auf die künstlerische Ästhetik identifizieren zu können. 208 Silke zum Eschenhoff <?page no="209"?> 35 Festival Theaterformen o.J. 36 Mülter im Interview 2022b. 37 Mülter im Interview 2022b. 3 Globale Perspektiven und lokale Strategien als Momente der Kritik Mülters kuratorisches Interesse der künstlerischen und inhaltlichen Gestaltung der Festivalausgaben sei von Perspektivenvielfalt geleitet, beschreibt sie. Dabei komme es ihr besonders auf die Perspektiven an, „die im lokalen Kontext seltener sichtbar und hörbar sind und die existierenden Machtverhältnisse hinterfragen“. 35 Aus rezeptionsästhetischer Sicht fügen sich differente Seher‐ fahrungen, diverse künstlerische Konventionen und darstellerische Strategien, aber auch ambivalente inhaltliche Positionen aus unterschiedlichsten lokalen Kontexten und Diskursen dabei nicht immer widerspruchsfrei zusammen. Ein programmatischer Schwerpunkt der Festivalausgabe 2022 in Braunschweig beispielsweise war die Präsentation unterschiedlicher künstlerischer Schwarzer Positionen. Dabei versuchte das Festival, so lässt sich das kuratorische Para‐ digma aus Gesprächen mit der Leitung kondensieren, lokale Unterschiede in Bezug auf nationale Herkünfte sichtbar zu machen, aber auch gegensätzliche künstlerische Strategien der Kritik gegenüber zu stellen. Die französische The‐ atermacherin Rébecca Chaillon beispielsweise nutzt in Carte Noire nommée Désir künstlerische Strategien, die Diskriminierungen von Schwarzen Personen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft vorzuführen, wobei die Diskriminierungen teilweise radikal auf einer Bühne wiederholt werden, damit gleichzeitig aber auch Kritik daran geübt wird. Damit bildet Chaillons künstlerische Strategie der konfrontativen Kritik eine in Frankreich entstandene Perspektive auf den Diskurs, die zum Beispiel „hier in Deutschland in der Schwarzen Community nicht salonfähig ist. Die Schwarze Community in Deutschland nutzt nicht dieselben Strategien.“ 36 Und Mülter antizipiert, das könne „auch verstörend für Schwarze Communitys hier sein“. 37 Das brasilianische Kollektiv EQuemÉGosta hingegen nutzt in Is this a Black? eine divergente künstlerische Strategie, indem es Rassismus als strukturierende Praxis beleuchtet und anhand von Einzelerfahrungen Schwarzsein und Fragen von Race im Grenzgang zwischen autobiografischem Bericht und Fiktion diskutiert. Das Festival vollführt damit gewissermaßen eine parallele Bewegung zum theoretischen Konzept der Glo‐ kalisierung, wie es der Soziologe Roland Robertson 1992 beschrieben hat. Der Begriff ‚Glokalisierung‘ entsteht durch die Verknüpfung der Adjektive global und lokal. Robertson führt mit Verweis auf das Oxford Dictionary Of New Words aus, dass Glokalisierung in Referenz an das japanische Wort dochakuka Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 209 <?page no="210"?> 38 Vgl. Robertson 1998: 197. 39 Robertson 1998: 197. 40 Robertson 1998: 208. 41 Vgl. Robertson 1998: 200. 42 Robertson 1998: 200. 43 Vgl. Robertson 1998: 208. 44 Robertson 1998: 197. 45 Robertson 1998: 198. gebildet wurde, das sich ableitet von dochaku und ‚sein eigenes Land bewohnen‘ meint. 38 Im japanischen Geschäftsleben dient es damit als Ausdruck „für die An‐ passung einer globalen Perspektive an lokale Umstände“. 39 Das Phänomen der Übersetzung oder Translation ist damit also auch als ein Aspekt im Konzept der Glokalisierung inkludiert. Glokalisierung als Theorem verknüpft zwei entge‐ gengesetzt wirkende Tendenzen: zum einen die der Globalisierung zugeschrie‐ bene Tendenz zur Homogenisierung, zum anderen den mit dem Lokalen verbun‐ denen Aspekt der Heterogenisierung. So schafft Glokalisierung eine strukturelle Bewegung, die vermeintliche Widersprüche gewissermaßen in obligatorische Relation zueinander setzt: „Das Globale ist an und für sich nicht dem Lokalen entgegengesetzt. Das, was man häufig als das Lokale bezeichnet, ist vielmehr ein konstitutiver Bestandteil des Globalen.“ 40 Das Universale, wie Robertson ebenfalls die Homogenisierungstendenz der Globalisierung konzeptionell fasst, wirkt in prägender Weise auf das Partikulare - oder anders ausgedrückt, auf die lokale Differenzerzeugung als Heterogenisierungstendenz. 41 So ist wiederum auch das Lokale kein „Gegenspieler des Globalen“, sondern „ein Aspekt von Globalisierung“ 42 - in dem Sinne, dass erst durch die Strukturen und Prozesse einer homogenisierenden Globalisierung die Bedeutung einer Konstruktion des Lokalen hervortritt. Eine diversifizierende Kraft des Lokalen oder des Par‐ tikularen konstituiert sich als dem Global-Homogenisierenden gleichwertiges Strukturmoment. Die „Verdichtung der Welt“ hat nicht nur zu einer Vernetzung oder „Verknüpfung von Lokalitäten“ geführt, sondern in besonderer Weise die „‚Erfindung‘ von Lokalitäten“ und damit gewissermaßen eine Potenzierung der Konzepte von Heimat und Tradition bewirkt. 43 Die zunächst konträr erschei‐ nenden Phänomene der Homogenisierung und Heterogenisierung beeinflussen als dialektische Strukturmomente nicht nur kulturelle Prozesse, sondern wirken durch die aus ihnen hervorgehende Konstruktion lokaler „Einzigartigkeit“ 44 signifikant auch auf ökonomisch-kommerzielle Strukturen: „Glokalisierung beinhaltet in beträchtlichem Umfang die Konstruktion von zunehmend diffe‐ renzierten Verbrauchern.“ 45 Das strukturierende Moment von Glokalisierung, Einzigartigkeit oder Unterschiedlichkeit durch nebeneinander gestellte Vielfalt zu produzieren, findet sich im Aufzeigen der unterschiedlichen künstlerischen 210 Silke zum Eschenhoff <?page no="211"?> 46 Diversity Arts Culture 2021. 47 Mülter im Interview 2022b. 48 Festival Theaterformen 2023 (*-Markierung i. Orig.). Strategien der Kritik Schwarzer Künstler: innen im Festivalprogramm wieder. Das Phänomen der Beeinflussung von Struktur und Ästhetik in unterschiedli‐ chen kulturellen und theaterästhetischen Praktiken und Traditionen ist der von Mülter kuratierten Perspektivenvielfalt immanent. Neben der Perspektivenvielfalt legt Mülter in allen von ihr gestalteten Festivals Wert auf - so lässt es sich zusammenfassen - machtkritische Arbeits- und Kooperationsverhältnisse und zwar sowohl innerhalb ihres Festivalteams als auch mit und zwischen Künstler: innen, in lokalen Kooperationen oder in Bezug auf das Publikum. Als Beispiel einer machtkritischen Beziehung zu einem diverser verstandenen Publikum zählen u. a. die Möglichkeit, ein „Awareness- Team“ bei Diskriminierung jeglicher Art ansprechen zu können, oder auch das Angebot der „Relaxed Performances“, in denen Geräusche und Bewegungen des Publikums sowie spontanes Verlassen und Betreten des Theaterraums nach Belieben ausdrücklich willkommen sind. Relaxed Performances etablieren sich zunehmend im Theater- und Kulturbetrieb als Reaktion auf die Unterzeich‐ nung der UN-Behindertenrechtskonvention, durch die sich Deutschland 2009 „explizit zu der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung verpflichtet hat. Mit Artikel 30 der Konvention gilt dies auch für das kulturelle Leben und nimmt damit alle öffentlich-geförderten Kulturorganisationen in die Pflicht.“ 46 Die Sophiensaele, das Comedia Theater Köln oder auch das SPIELART Festival in München betiteln bestimmte Veranstaltungen ebenfalls als Relaxed Performances. Um die unterschiedlichen Arbeitsweisen der Künstler: innen weitgehend „authentisch“ 47 - mit eigener Autorenschaft und damit aus Mülters Perspek‐ tive machtkritisch - zu gestalten, vergibt sie kuratorische Verantwortung im Rahmen ihres Festivals zuweilen an Künstler: innen oder Expert: innen. So initiierte sie beispielsweise als einen Schwerpunkt des Festivals 2022 in Braunschweig das Programm „A Gathering in a Better World“, das von den Künstler: innen mit Behinderung Jess Thom/ Touretteshero, Edu O. und Alexandrina Hemsley/ Yewande 103 gestaltet wurde, oder überantwortete der „Künstler*in Rita Mazza als Taube*r Gastkurator*in“ 48 2023 in Hannover den Schwerpunkt zu Tauber Kultur. Diese Herangehensweise lässt sich als Strategie der Expertise durch gelebte Erfahrung konzeptualisieren. Diese Strategie könne, so Mülter, die Chancen potenzieren, dass künstlerische Projekte und Zusam‐ menarbeiten in sich stimmiger, künstlerisch befruchtender und machtkritischer Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 211 <?page no="212"?> 49 Mülter im Interview 2022b. 50 Duden o.J. gestaltet seien als „von außen verpflichtend“ 49 zusammengebrachte Arbeitsbe‐ ziehungen. Trotz intensiver Reflexion und der angestoßenen Veränderungen auf un‐ terschiedlichen Ebenen des Festivals bleiben Asymmetrien bestehen, die viel‐ fältiger Übersetzungsleistungen bedürfen. Sowohl das Eingebettetsein in un‐ terschiedliche strukturelle Voraussetzungen als auch differente künstlerische Darstellungsstrategien, damit verknüpfte differente Inhalte, Formen der Kritik und Wirkungsabsichten bilden für das Festival Ausgangspunkte der Überset‐ zung. Im Folgenden werden Beispiele asymmetrischer Strukturen als Vorausset‐ zungen des Festivalmachens sowie deren Bewältigungs- oder Lösungsstrategien aufgezeigt. Dass dabei trotz des eingeführten wissenschaftlichen Konzepts der Translation nach wie vor von Übersetzung gesprochen wird, ist der laut dem Duden zweiten Bedeutung von Übersetzen geschuldet: „(eine Sache in eine andere) umwandeln“. 50 Die „Sache“ ist dabei nicht als Text oder gesprochenes Wort definiert. 4 Asymmetrische Strukturen als Voraussetzung des Festivalmachens Aus leitfadengestützten, problemzentrierten Interviews mit der Festivalleitung und am Festival beteiligten Künstler: innen wurden asymmetrische Strukturen als Voraussetzung des Festivalmachens ermittelt und analysiert. Vier Beispiele seien folgend vorgestellt: 4.1 Strukturelle Asymmetrien im Produzieren In Gastspiel- und Produktionsprozessen ist das Festival mit international unter‐ schiedlichen Arbeitsweisen konfrontiert. Aber eben auch - und das ist bereits angeklungen - mit Differenzen zwischen Freien Akteur: innen und denen der öffentlich getragenen Theater. Zwei verschiedene Arbeitsweisen, zwei verschie‐ dene Infrastrukturen, zwei verschiedene Sprachen müssen, wie Otto Kade es nennt, in Beziehung zueinander gebracht werden - und zwar sowohl was die Zusammenarbeit der künstlerischen Teams, den zeitlichen Planungshorizont als auch die möglichen Konsequenzen für die künstlerische Ästhetik betreffen. 212 Silke zum Eschenhoff <?page no="213"?> 51 Mülter im Interview 2022a. Ein neuralgischer Punkt kann beispielsweise die sogenannte Bauprobe sein. An Stadt- und Staatstheatern markiert sie in der Regel einige Monate vor Beginn einer Probenzeit den Zeitpunkt, an dem bühnenbildliche Überlegungen weitgehend abgeschlossen sein müssen. Der Planungshorizont Freier Projekte ist häufig diametral entgegengesetzt strukturiert und das Bühnenbild entwickelt sich zunehmend während des Probenprozesses. Übersetzungsstrategie der Vermittlung und Moderation Damit strukturelle Asymmetrien aufgrund unterschiedlicher Produktionsbe‐ dingungen nicht im Krisenzustand verhaftet bleiben, zielt Mülters Bewälti‐ gungsansatz auf die Übersetzungsstrategie der Vermittlung: Die Theater sind unterschiedlich geübt darin, mit Gastspielen umzugehen. Da müssen wir viel um Verständnis werben, dass Strukturen woanders nicht kompatibel sind mit dem, wann und wie sie hier die Informationen brauchen. 51 Hieraus wird ersichtlich, dass Mülter für die Übersetzung der unterschiedlichen Produktions- und Arbeitsweisen die Rolle der Moderation einnimmt - im wahrsten Sinne also eine Mittlertätigkeit, um gewissermaßen in alle Richtungen Übersetzungsleistungen durch Verständnis zu initiieren. So beispielsweise auch in Richtung der Freien Akteur: innen. Ihnen kann eine zeitliche Umstruktu‐ rierung ihrer Arbeitsschritte (z. B. die Bauprobe am Probenbeginn) auch eine andere Professionalität ihrer Proben ermöglichen: In einem provisorisch, aber dennoch komplett aufgebauten Bühnenbild zu proben, kann für Freie Akteur: innen tatsächlich eine neue Arbeitserfahrung sein. 4.2 Ethische Aspekte der internationalen asymmetrischen Produktionsstrukturen Durch Gespräche mit der Festivalleitung, aber auch mit beteiligten Künstler: innen wurde deutlich, dass in internationalen Koproduktionen häufig das grundsätzliche Setting und deren Struktur von dem finanzstarken Partner vorgegeben werden, dass gewissermaßen postkoloniale Strukturen reproduziert werden. Leicht entstehen als Folge dann ungleiche Machtkonstellationen zwi‐ schen den beteiligten Akteur: innen. Ungleiche Machtkonstellationen diagnos‐ tiziert die Festivalleitung im gesamten organisationalen Feld der internationalen Freien Darstellenden Künste, aber auch durch ungleiche Zugangsvorausset‐ Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 213 <?page no="214"?> 52 Mülter im Interview 2022a: „Wir wollen alle hierarchiefrei und auf Augenhöhe arbeiten, aber die ökonomischen Gegebenheiten bringen da auf jeden Fall Unterschiede rein, die sich nicht leugnen lassen. […] Und das kann man eigentlich nur lösen durch immer wieder zusammen darüber nachdenken und reflektieren. Und sich gemeinsam überprüfen.“ zungen zu Förderprogrammen, Netzwerken oder Proben- und Aufführungs‐ orten. Übersetzungsstrategie der kritischen Nachhaltigkeit Machtkritisches Arbeiten 52 lässt sich als ein Leitgedanke von Mülters Arbeit fassen, den sie sowohl in Bezug auf künstlerische Kooperationen, auf das Fes‐ tival und das Publikum sowie auf das gesamte organisationale Feld anwendet. Dafür nutzt sie die Strategie der (kritischen) Selbstreflexion und versucht - in ihren Worten - „Lücken“ bzw. strukturelle Asymmetrien im organisationalen Feld zu identifizieren. Als Beispiele nennt sie mangelnde Zugangsvorausset‐ zungen und ökonomische Ausstattung zum einen für international arbeitende Künstler: innen mit Behinderung als auch zum anderen für internationale Nachwuchskünstler: innen. Beide Künstler: innen-Gruppen besetzt sie präsent in ihren Festivalausgaben. So kuratiert sie beispielsweise gezielt Nachwuchs‐ projekte und bleibt pro-aktiv mit jungen Künstler: innen in Kontakt. Oder gab mit dem Schwerpunkt „A Gathering in a Better World“ in Braunschweig 2022 Künstler: innen mit Behinderung Raum, um künstlerisch eine bessere Welt erträumend auszuprobieren. Die Übersetzungsstrategie der kritischen Nachhaltigkeit zielt in diesem Fall besonders auf den Kodierungsprozess als einen Angleichungsprozess der Zugangsvoraussetzungen und des Zugriffs auf (ökonomische) Ressourcen. Den kuratorischen Entscheidungsprozessen liegt - neben künstlerischen Kriterien - durchaus auch eine gesellschaftliche und ideologische Bedingtheit zugrunde - erinnert sei hier an Prunč. Die gewählte Übersetzungsstrategie lässt sich insofern auch als Reaktion und Referenz auf zeitgenössische Diskurse der Diversität, Chancengerechtigkeit, Inklusion und Nachhaltigkeit interpretieren und rückt damit ethische Aspekte der künstlerischen Programmgestaltung in den Fokus. 4.3 Strukturelle Unterschiede im lokalen Kontext Das gastgebende Festivalteam sah sich während der Ausgabe 2022 mit dem Schwerpunkt auf postkoloniale Projekte mit der Frage konfrontiert, in welcher Form Übersetzungen des lokalen Kontextes für die anreisenden, in diesem Fall 214 Silke zum Eschenhoff <?page no="215"?> 53 Mülter im Interview 2022b. 54 Mülter im Interview 2022b. 55 Mülter im Interview 2022b. häufig Schwarzen Künstler: innen stattfinden müssen. Vor jeder Festivalausgabe erhält das Festivalteam einen Bericht der Mobilen Beratung gegen Rechtsextre‐ mismus. Was für Hannover in einer Viertelstunde abgehandelt war, dauerte für Braunschweig „über eine Stunde. Das historische Erbe dieser Stadt, die Hitler eingebürgert hatte, reicht bis in die Gegenwart“. 53 Das Festival war also gewissermaßen vorbereitet. Aber, so fasst Mülter die Erfahrungen zusammen, „nicht auf dieses Ausmaß von Rassismus. Sie werden keine: n Künstler: in of Color auf dem Festival finden, die sagen kann: Ich habe nichts erlebt“. 54 Das zeigt im Prinzip ein Scheitern einer notwendigen Übersetzung auf. Übersetzungsstrategie der Informationsweitergabe und des Kontextwissens Theaterformen will im Vorfeld keine Ängste bei den teilnehmenden Künstler: innen schüren, aber für die diesjährige Ausgabe in Braunschweig 2024 soll sich zweierlei ändern: Zum einen sollen die Künstler: innen ausführlicher über den politischen und gesellschaftlichen Kontext in Braunschweig informiert werden. Zum anderen soll es „Fahrdienste“ 55 geben, um die Künstler: innen sicher durch die Stadt zu shutteln. Diese Übersetzungen werden natürlich auch die Erwartungshaltungen bestimmen und die Wahrnehmungen der internatio‐ nalen Künstler: innen sensibilisieren. Diese Übersetzungsstrategie der Informa‐ tionsweitergabe und des Kontextwissens macht die politische Dimension einer Übersetzung besonders deutlich, wie Boris Buden die kulturelle Übersetzung charakterisiert hat. Bemerkenswert ist daran auch, dass sich für internationale Projekte letzt‐ lich die 60 Kilometer, die zwischen Hannover und Braunschweig liegen, als gravierendste strukturelle Asymmetrie entpuppen. Denn aus Perspektive der eingeladenen Künstler: innen und des Festivalteams entscheiden diese 60 Kilo‐ meter darüber, welche Übersetzungsleistungen notwendig sind. 4.4 Bauliche Strukturen als Differenzerzeugung Theaterformen als Teil der Staatstheater Hannover und Braunschweig ist die Nutzung und Bespielung der vorhandenen Aufführungsorte der beiden Staatstheater vorgegeben. Die baulichen Voraussetzungen stoßen erstens eine Reflexion über geeignete Räume für die Vielfalt der Formate und Ästhetiken der Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 215 <?page no="216"?> 56 Diese unterschiedlichen Strategien der Programmgestaltung unter Vorgabe der räumli‐ chen Voraussetzungen sind mir aus meinen eigenen Erfahrungen, z. B. als Dramaturgin des Festivals Theater der Welt 2014 in Mannheim, bekannt. Freien Darstellenden Künste an. Die Programmgestaltung entwickelt sich aus zwei entgegengesetzten Richtungen. Zum einen werden eingeladene Produk‐ tionen in die für sie geeignetsten Räume dispositioniert, zum anderen werden Produktionen gezielt für noch zu bespielende Spielorte/ Räume gesucht bzw. auf ihre Adaptierbarkeit hin analysiert. 56 Die baulichen Voraussetzungen, genauer das Große Haus in Braunschweig, stellen zweitens eine kuratorische Herausforderung dar. Es gleicht an Bühnen‐ größe und möglicher Publikumskapazität einem Operngebäude. Diese bauliche Struktur fordert die Bespielbarkeit für Projekte der Freien Darstellenden Künste heraus - denn die Entstehungsorte ebensolcher Projekte sind in der Regel selten genuine Theaterbauten. So ist auch die Architektur freier Entstehungsorte häufig durch Umnutzungs- und Anpassungsprozesse geprägt - zum einen weil diese Orte z. B. durch Leerstand oder Besetzung überhaupt vorhanden und nutzbar sind. Zum anderen aber auch, weil diese Orte durch flexible Nutzung den vielfältigen Anforderungen der unterschiedlichsten freien Projekte eher genügen können als genuine Theatergebäude. Aufgrund dieser asymmetrischen räumlichen Produktionsbedingungen sind freie Projekte rar, die das Große Haus in Braunschweig mühelos bespielen können. Übersetzungsstrategie der räumlichen Transformation Als Lösungsstrategie einer sinnvollen Bespielung des Großen Hauses wurde von vorherigen Festivalleitungen vielfach ‚stage on stage‘ gespielt: dabei verkleinert eine Zuschauertribüne auf der Hauptbühne nicht nur die Zuschauerkapazität und ermöglicht eine solide Auslastungsbilanz, sondern sorgt ebenso für eine geeignete Bühnengröße. Doch aktualisierte Brandschutzvorschriften verhin‐ dern eine ‚stage on stage‘-Bespielung. So sieht sich Theaterformen mit einer kuratorischen Herausforderung konfrontiert: Wie lassen sich ein freies Projekt und die vorgegebenen baulichen Strukturen so zueinander übersetzen, dass etwas Neues, Drittes entsteht - oder, um zu Benjamin zurückzukommen, ein mehr oder weniger eigenständiges Projekt daraus hervorgeht? 5 Lückenlos? Übersetzungsbrüche und Nicht-Übersetzbarkeit Trotz aller Aufmerksamkeit für strukturelle Asymmetrien können auch Lücken in der Übersetzung entstehen, deren Konsequenzen auf die künstlerische Zu‐ 216 Silke zum Eschenhoff <?page no="217"?> 57 Mülter im Interview 2022b. 58 Mülter im Interview 2022b. 59 Mülter im Interview 2022a. 60 Mülter im Interview 2022a. 61 Mülter im Interview 2022a. 62 Mülter im Interview 2022a. sammenarbeit wirken. So resümiert die Festivalleitung z. B. die unachtsame, nicht intendierte Nicht-Besetzung einer Projektassistenz in einer Kooperation zwischen dem Staatstheater Braunschweig und einer Freien Compagnie aus Marokko als „Kardinalfehler“ 57 : Diese Projektassistenz hätte die Mittlertätigkeit zwischen beiden übernommen. Folgt man den Berichten der Compagnie und der Festivalleitung, waren emotionale Konflikte die Folge, unter denen „die Produktion gelitten hat“. 58 Theaterformen kennt aber auch das Phänomen der Nicht-Übersetzbarkeit, das sich beispielsweise in einer Überkreuzung struktureller und ästhetischer Ebenen zeigen kann. Als Beispiel dafür steht das site specific Projekt „IMedine“ des Künstlers Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso, welches das Festival gerne eingeladen hätte. Doch eine unübersetzbare Lokalität der Arbeit hat die Festivalleitung von einer Einladung abgehalten: „Diese jungen Männer sind da an diesem Ort, an dem sie das performen, verwurzelt. Es ist der Ort ihres Alltags.“ 59 Einen vergleichbaren site specific Ort in Braunschweig für eine Adaption des Projektes zu finden, würde dem Inhalt und der künstlerischen Ästhetik des Projektes nicht gerecht, sodass es in Braunschweig „vollkommen aus dem Kontext gerissen“ 60 wäre. Nicht übersetzen lassen sich mitunter auch inhaltliche Aspekte, die auf‐ grund ihres sozialen und politischen Entstehungskontextes diametral entge‐ gengesetzte gesellschaftliche Diskurse adressieren als in Hannover oder Braun‐ schweig. Einzelne Projekte, deren inhaltliche und künstlerische Autorenschaft beispielsweise Künstler: innen der unterdrückten chilenischen indigenen Bevöl‐ kerungsgruppe Mapuche verantworten, seien „im dortigen Kontext unglaub‐ lich empowernd und [würden] auch so gelesen“. 61 Doch trotz einer großen künstlerischen Qualität scheut sich die Festivalleitung teilweise, diese Projekte einzuladen, da sie hier auf einen kulturell differenten Diskurs treffen: „Ein Publikum hier [würde] das möglicherweise in Bezug auf die Darstellung von patriarchalen Strukturen lesen. Und sozusagen gar nicht so leicht dahinter blicken können.“ 62 Die Fallstudie Theaterformen konnte zeigen, dass asymmetrische Strukturen u. a. durch (1.) ungleiche Produktions- und Arbeitsbedingungen, (2.) ungleiche Ressourcenverteilung und unreflektierte Machtverhältnisse, (3.) durch man‐ Dimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten 217 <?page no="218"?> gelndes Kontextwissen oder auch (4.) durch ungleiche Proben- und Auffüh‐ rungsräume entstehen können. Um sie in eine strukturelle Gleichheit zu übersetzen, konnten unterschiedliche Strategien identifiziert werden, die pro‐ zesshaft und lernend weiterentwickelt wurden und werden. Verallgemeinernd lässt sich aus der Fallstudie ableiten und zusammenfassen, dass das seit den 2000ern vorwiegend kulturpolitisch und ökonomisch forcierte Paradigma einer zunehmenden Internationalisierung im organisationalen Feld der Freien Darstellenden Künste die Notwendigkeit vielfältiger Übersetzungen einfordert. 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Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen Teilhabe am Theater aus Perspektive der kritischen Kunstvermittlung und des Audience Developments Maria Nesemann 1 Gegenspieler oder unterschätzte Partner? Spätestens seit Hilmar Hoffmanns Kultur für alle wird in Deutschland über kul‐ turelle Teilhabe nachgedacht, diskutiert und geschrieben. 1 Seither ist in Praxis, Politik und Wissenschaft viel passiert: Die institutionalisierten Kultureinrich‐ tungen haben weitgehend Vermittlungsabteilungen oder zumindest -stellen eta‐ bliert, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und (Noch Nicht-)Besucher: innen arbeiten. 2 Es werden zunehmend Förderprogramme in der Kulturellen Bildung aufgesetzt, die unter anderem einen Zugang zu öffentlich geförderter Kultur ermöglichen sollen. 3 Und auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Teilhabe, die den Fachdiskurs und die Ausbildung von Personen in diesem Arbeitsfeld prägt, hat zugenommen: So ist beispielsweise die Zahl der Studiengänge im Bereich Vermittlung stark angestiegen. 4 Obwohl (oder vielleicht gerade weil) sich Praxis, Politik und Wissenschaft seit über vierzig Jahren mit kultureller Teilhabe auseinandersetzen, stößt man in allen drei Bereichen auf ganz unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Verständnisse von Teilhabe: Die Hypothese dieses Artikels ist, dass hier ein Zusammenhang mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Selbstverständnissen besteht, die sich gegenseitig kaum oder als nicht vereinbar wahrnehmen. Es soll aufgezeigt werden, worin diese Gegensätze bestehen, wo es aber auch Gemeinsamkeiten gibt, die zu einer Schärfung und Weiterentwicklung des Teilhabebegriffs führen könnten. <?page no="224"?> 5 Siehe beispielsweise Mörsch 2009; Sternfeld 2018; Sturm 2011. 6 Mörsch 2009: 9. 7 Vgl. Henschel 2012: 22. 8 Vgl. Henschel 2012: 22f. Ich beschränke mich hier auf die Betrachtung zweier anwendungsorientierter Diskurse - den der kritischen Kunstvermittlung und den des Audience Deve‐ lopments. Bei beiden Diskursen geht es um die Begegnung von Personen mit Kunst in einer Kulturorganisation. Bei beiden liegt der Fokus auf den Personen, die der Kunst begegnen können/ sollen. Beide beschreiben den Anspruch, über das bestehende Publikum der Kulturorganisationen hinaus Personen einzuladen und einzubinden - also mehr Teilhabe an den Kulturorganisationen zu schaffen. Wie das geschehen soll, mit welchen Zielen dies verbunden ist und welche Er‐ kenntnisse aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen dem zugrunde liegen, darin unterscheiden sich die beiden Diskurse grundsätzlich. Kunstvermittlung wird von Vertreterinnen wie Carmen Mörsch, Nora Sternfeld und Eva Sturm als hegemonie- oder diskriminierungskritische Praxis gedacht und untersucht. 5 Mit Mörsch verstehe ich Kunstvermittlung als „die Praxis, Dritte einzuladen, um Kunst und ihre Institutionen für Bildungspro‐ zesse zu nutzen: sie zu analysieren und zu befragen, zu dekonstruieren und gegebenenfalls zu verändern. Und sie dadurch auf die eine oder andere Weise fortzusetzen.“ 6 Dabei wird Vermittlung nicht als ein Schlichtungsprozess oder ein Bemühen um das Auflösen von Differenzen begriffen. Alexander Henschel bezieht sich in seinen Überlegungen zum Vermittlungsbegriff im Rahmen von Kunst auf Friedrich Hegel und Theodor W. Adorno. Dem Schritt, dass zwei Elemente in Verbindung treten, geht immer ein anderer Schritt voraus: Erst einmal müssen die Elemente unterschieden und als getrennt wahrgenommen werden, bevor sie in Verbindung gebracht werden können. Vermittlung ist für Hegel daher nicht das Auflösen von getrennten Elementen, sondern der Akt des Unterscheidens und die Reflexion desselben. Vermittlung bedeutet damit auch das Hinterfragen der eigenen Unterscheidungsmecha‐ nismen. 7 Es entsteht eine Gleichzeitigkeit von Trennen und Verbinden: Was unterschieden und damit getrennt wird, wird zusammengedacht und damit verbunden. Hegel begreift alle Unterscheidungen und Zusammenhänge als Teil eines größeren Ganzen, alle Vermittlungen lösen sich in einem „Abso‐ luten“ auf. 8 Gegen diese Vorstellung des „Absoluten“, in dem Differenzen letztendlich doch Teil einer größeren Einheit sind, wenden sich unter anderem Vertreter: innen der kritischen Theorie. So schreibt Theodor W. Adorno: „Vermittlung besagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, sondern postuliert, was 224 Maria Nesemann <?page no="225"?> 9 Adorno 1966: 174. 10 Vgl. Henschel 2012: 23. 11 Henschel 2012: 26. 12 Mörsch 2009: 21. 13 Vgl. Mörsch 2009: 18. 14 Mörsch 2009: 18. durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes.“ 9 Henschel formuliert darauf bezogen die Annahme, dass Vermittlung immer dann, wenn ein Idealbild als etabliert und anerkannt wahrgenommen werde, eine Verschiebung oder Störung herbeiführe. 10 Vermittlung ist mit Henschel also nicht die Synthese, in der sich zwei Gegensätze auflösen, sondern sie hinterfragt, warum wir die Gegensätze als solche begreifen und macht dadurch neue, andere Bezüge denkbar, ohne dass diese sich in einer Einheit auflösen: Vermittlung verbindet, aber sie ist eben nicht Unmittelbarkeit, ist insofern immer auch ein Akt des Trennens und damit ein Widerspruch in sich. Eine Konsequenz daraus müsste sein, sich von dem Gedanken zu verabschieden, Räume der Kunstvermittlung wären als widerspruchsfreie zu entwerfen. Das heisst aber auch: Es gibt ihn nicht, den alles harmonisierenden Abschluss, der alle zufrieden stellt und alles erklärt. Es sollte dann - mit Eva Sturm gesprochen - bei Kunstvermittlung programmatisch nicht darum gehen, Kunst zu entstören, sondern darum, dass „deren Störungen […] weitergetrieben werden.“ 11 Das Herstellen neuer Bezüge, die nicht den Anspruch haben, alle Wider‐ sprüche und Differenzen aufzulösen, geschieht in Mörschs Definition durch Analysieren, Befragen, Dekonstruieren und Verändern der Kunstinstitution gemeinsam mit den „Dritten“. Es gehe darum, so Mörsch, „mit den Beteiligten […] Gegenerzählungen zu erzeugen und damit die dominanten Narrative der Ausstellungsinstitution zu unterbrechen“, gleichzeitig aber zu vermeiden, „dass diese Gegenerzählungen selbst wiederum zu identitätspolitisch moti‐ vierten, neuen Meistererzählungen werden.“ 12 Dieser herrschaftskritische Ansatz geht laut Mörsch auf die Überlegungen der Cultural Studies und New Art History in den 1970er Jahren zurück, die das in Kunstinstitutionen repräsentierte kanonische Wissen und ihre Verstrickungen in hegemoniale, patriarchale und koloniale Geschichtsschreibung befragten. 13 Daraus hervor ging in den 1980er Jahren mit der New Museology der Anspruch, „durch den aktiven Einbezug bislang ausgeschlossener Subjektpositionen und Diskurse Gegenerzählungen - ‚counternarratives‘ zu produzieren und das Museum zu einem Ort der Interaktion und des Austauschs zu machen.“ 14 Dabei ist nicht zu vernachlässigen, dass die Vermittelnden - oder bezogen auf Mörschs Defini‐ Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 225 <?page no="226"?> 15 Vgl. Mörsch 2009: 14-16. 16 Mörsch 2009: 16. 17 Mörsch 2009: 9. 18 Vgl. Mörsch 2009: 13. 19 Vgl. Wihstutz 2012: 282f. tion: Einladenden - selbst verstrickt waren und sind in die Machtverhältnisse der Institution. Als zum Ende des 19. Jahrhunderts hin erstmals Frauen mit dem Vermitteln in Museen beauftragt waren, sei, so Mörsch, unterschieden worden zwischen Angeboten für ein gebildetes europäisches Erwachsenen- Publikum, die hauptsächlich von Männern geleitet wurden, und Angeboten für Kinder, aber auch das Proletariat und indigene Bevölkerungsgruppen in den Kolonien, die in den Aufgabenbereich weiblicher Vermittlerinnen fielen. Die Tatsache, dass es hauptsächlich weibliche Kunstvermittlerinnen gibt, sei damit verbunden, dass der Arbeitsbereich auch heute noch mit weiblich konnotierten Aufgaben wie Erziehen, Kümmern, Inhalte Simplifizieren ver‐ bunden werde. 15 Diese Beobachtung macht deutlich, dass sowohl die Position der kunstvermittelnden Person als auch die des Publikums eingeschrieben ist in gewachsene hierarchische Verhältnisse. Mörsch leitet daraus die Forderung ab: Unter anderem aus der doppelten Verstrickung von Kunstvermittlung in eine Dis‐ kursgeschichte von weiblichen Zuschreibungen und eines kolonial geprägten Kultur- und Bildungsverständnisses ergibt sich die Anforderung, diese Praxis und ihre Theoretisierung für die Zukunft als kritische Projekte - im Sinne des Feminismus und des politischen Antirassismus - zu entwerfen. 16 Das Analysieren, Befragen, Dekonstruieren und Verändern der Kunstinstitu‐ tion beschreibt Mörsch als „Bildungsprozesse“. 17 Mörschs Bildungsbegriff un‐ terscheidet sich dabei stark von dem, der in der Geschichte der Kunstvermittlung den (vornehmlich weiblichen) Vermittler: innen zugeschrieben wird. Es geht für Mörsch nicht darum, vordefinierte Wissensinhalte an Lernende weiterzugeben, sondern an das spezifische Wissen der Beteiligten anzuknüpfen. Das statische Verhältnis von Lehrenden und Lernenden kann dabei aufgelöst werden: Auch die vermittelnde Person wird zur lernenden, auch die Kunstinstitution muss ihren Wissenskanon hinterfragen. 18 Kunst bietet in diesem Zusammenhang ein großes Potential: Sie entzieht sich einer festgeschriebenen Deutung, einem eindeutigen Richtig oder Falsch, und lässt eine offene Sinnproduktion zu. Benjamin Wihstutz beschreibt den Kunstraum als einen geschützten, weil konsequenzverminderten und ergebnisoffenen Raum. 19 Vermittlungsarbeit in der Kunstinstitution kann in diesem Zusammenhang als „relativ geschützte[r] 226 Maria Nesemann <?page no="227"?> 20 Mörsch 2009: 13. 21 Mörsch 2009: 13. 22 Vgl. Lehner 2011: 30. 23 Glow et al. 2020: 4. 24 Mandel 2016: 29. Bereich des Probehandelns unter komplexen Bedingungen“ verstanden werden, in dem „Handlungs-, Kritik- und Gestaltungsfähigkeit“ gefördert werden. 20 Kritische Kunstvermittlung lässt sich also als ein Ansatz beschreiben, der Kunst(-institutionen) und Menschen, die nicht selbstverständlich in Berührung damit kommen, in ein Verhältnis setzt, ihre Schnittpunkte und Differenzen untersucht und die eigene Position dabei mitdenkt und kritisch reflektiert. Die Kunstinstitution wird dabei als ein veränderbarer Ort begriffen, der, wird er von denen mit hergestellt, „die explizit nicht zum Machtzentrum des Kunst‐ systems gehören“, zu einem „Ort für Artikulationen und Repräsentationen“ werden kann. 21 Auch die Kunstinstitution wird dadurch im wörtlichen Sinne ‚mitgebildet‘, ist veränder- und fortsetzbar. Es handelt sich bei dem hier skizzierten theoretischen ‚Unterbau‘ um her‐ meneutische Überlegungen: Wirklichkeit wird interpretiert, in Sinnzusammen‐ hänge gebracht und dadurch kritisch hinterfragbar. 22 Die genannten Theorien sind dabei nicht neutral, sondern ergreifen Partei: Es geht nicht nur um das Hinterfragen eines als gegeben angenommenen Zustands, sondern auch um seine mögliche Veränderung. Den zweiten hier betrachteten Diskurs, den des Audience Development, ver‐ stehe ich nach Hilary Glow, Anne Kershaw und Matthew Reason als „nexus of programming, education and marketing, with the aim of broadening, deepening or diversifying arts audiences.“ 23 Im Zusammenspiel von Programmgestaltung, Vermittlung und Marketing soll eine Publikumsentwicklung stattfinden - das kann sowohl die Ansprache eines neuen und diverseren Publikums als auch die Bindung bereits bestehender Besucher: innen betreffen. Es geht also nicht nur darum, mittels verstärkten Marketings mehr Tickets zu verkaufen und Einnahmen zu generieren: Audience Development [zeichnet sich] durch einen integrativen Ansatz aus, der Elemente des Kulturmarketings und der Kulturvermittlung auf der Basis von Kultur‐ nutzerforschung strategisch zusammenbringt und damit Kulturbesucher/ innen nicht (nur) als „Kunden“, sondern vielmehr als Subjekte einer ganzheitlichen Erfahrung im Rahmen eines Kulturbesuchs begreift. 24 Audience Development als beforschte Praxis ist vor allem in den angelsächsi‐ schen Ländern vertreten und hat in Deutschland erst in jüngerer Zeit Eingang Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 227 <?page no="228"?> 25 Vgl. Mandel 2021: 34. 26 Vgl. Walker-Kuhne 2007. 27 Hayes/ Slater 2002: 1. 28 Vgl. Hadley 2021: 63. 29 Hadley 2021: 50. 30 Mandel 2021: 35. in den öffentlich geförderten Kulturbereich gefunden. 25 Das lässt sich unter anderem durch die unterschiedlichen nationalen politischen und ökonomi‐ schen Bedingungen erklären: In den USA entstand die gezielte Beschäftigung mit der Publikumsgenerierung und -bindung an Kulturinstitutionen aus der marktwirtschaftlichen Notwendigkeit heraus, ausreichend Eigeneinnahmen zu generieren. 26 Im Gegensatz zur im internationalen Vergleich hohen öffent‐ lichen Kulturförderung in Deutschland stehen die Kultureinrichtungen dort unter einem wesentlich höheren Eigenerwirtschaftungsdruck. In Großbritan‐ nien entwickelte sich der Audience-Development-Diskurs ebenfalls aufgrund ökonomischer Zwänge, aber auch gesteuert durch staatliche Kulturpolitik: „When Labour came into power in 1997 there was a marked change in social policy that emphasized the importance of culture as a tool for achieving wider social inclusion.“ 27 Der von New Labour 1998 ins Leben gerufene New Audiences Fund, der erstmals über einen längeren Zeitraum Publikumsdiver‐ sifizierung in Kultureinrichtungen förderte, rückte die Entwicklung eines vielfältigeren Kulturpublikums als gesellschaftspolitisches Ziel in den Vorder‐ grund. 28 „In the following two decades, arts organisations aligned themselves with a government cultural policy which stressed the need to make publicly funded culture more socially accessible and inclusive“, schreibt Steven Hadley in seiner Studie zu den Zusammenhängen von Audience Development und Kulturpolitik in Großbritannien. 29 Auch hier lassen sich klare Unterschiede zur deutschen Situation erkennen: Eine Befragung der Theaterleitungen an den öffentlich getragenen Theatern beispielsweise zeigte, dass die öffentliche Förderung „nur in seltenen Fällen und dann auch eher vage mit Zielen der Gewinnung einer diversen Bevölkerung verknüpft ist.“ 30 Die kurze Skizzierung der Verortung des Audience-Development-Diskurses zwischen ökonomischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen macht deutlich, dass das wissenschaftliche Fundament hier ein anderes als bei der kritischen Kunstvermittlung ist: Die Beschäftigung mit Audience Development erfordert, so Birgit Mandel, per se eine interdisziplinäre Herangehensweise […]. Audience Development - Kul‐ turbesucherentwicklung - ist angesiedelt zwischen Kulturmarketing, das sich in der Regel betriebswirtschaftlicher Ansätze bedient (Marktforschung und -segmentie‐ 228 Maria Nesemann <?page no="229"?> 31 Mandel 2009: 23f. 32 Renz 2016: 272. rung), der PR, die sich mit der Steuerung von öffentlicher Aufmerksamkeit befasst, und der Kulturvermittlung/ kulturellen Bildung, die sich auf Konzepte der Sozialwissen‐ schaften und der Bildungsforschung bezieht (Teilhabegerechtigkeit, kulturelle Prak‐ tiken in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, Lernprozesse, Motivationsfaktoren, Handlungsbarrieren). Auch die Politikwissenschaft kann eine wesentliche theoreti‐ sche Grundlage im Audience Development bilden, wenn es um die Realisierung kultur- und gesellschaftspolitischer Zielsetzungen geht (Verhältnis von kultur- und gesellschaftspolitischen Zielen, Teilhabegerechtigkeit versus Förderung kultureller Vielfalt, Steuerung der gewünschten Maßnahmen und Evaluation ihrer Wirkungen etc.). 31 Es handelt sich also grundsätzlich um eine empirische, sozialwissenschaftliche Herangehensweise. Thomas Renz betont, dass vor allem die Generierung von Wissen über die Personen, die Kultureinrichtungen besuchen, und die, die es (noch) nicht tun, essentiell für Audience Development ist: „Nicht- Besucherforschung ist Grundlage von Audience Development. Das bedeutet, dass jedem managerialen Handeln eine empirische Analyse des Ist-Zustands vorausgeht.“ 32 Nun fokussieren sowohl kritische Vermittlung als auch Audience Develop‐ ment die Schnittstelle zwischen Kunst in einer Kulturorganisation und dem Pu‐ blikum (oder weiter gefasst: der Öffentlichkeit). Audience Development nimmt dabei nach meiner Definition die Organisation und ihr Management in den Blick, kritische Vermittlung bezieht sich auf die direkte, oft künstlerische Arbeit mit den Besucher: innen im Kontext der Kulturorganisation. Dass kritische Vermittlung und Audience Development nicht ohne Weiteres ineinandergreifen und zusammenspielen, darum geht es im Folgenden. Zunächst wird untersucht, wie in den beiden Diskursen über Publikum gesprochen wird. Anhand von drei häufig genannten Legitimationsnarrativen für öffentliche Theaterförderung werden Reibungspunkte bezüglich der Auffassung, welche jeweilige Rolle das Publikum in diesem Narrativ spielt, deutlich. Und schließlich geht es um den (scheinbar) gemeinsamen Nenner: die Forderung nach der Transformation von Kultureinrichtungen. Der Artikel gibt einen Ausblick darauf, wie unter Einbezug beider Diskurse, ihrer Perspektiven und angewandten Methoden, das Konzept der ‚guten Nachbarschaft‘ auf Kultureinrichtungen übertragen werden könnte - und in Ansätzen bereits übertragen wird. Der Diskurs der kritischen Kunstvermittlung kommt vor allem aus dem Bereich Bildender Kunst und auch der Audience-Development-Diskurs fo‐ Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 229 <?page no="230"?> 33 Der Diskurs kritischer Kunstvermittlung wurde aber unter anderem von Ute Pinkert auch auf den Theaterbereich übertragen. Vgl. Pinkert 2016. 34 DWDS o.J. 35 Vgl. Mandel/ Steinhauer 2020: 5. 36 Bollo et al. 2017: 10. 37 Bollo et al. 2017: 14. kussiert sich nicht ausschließlich auf Theater als Kultureinrichtung. 33 Ich beschränke mich in meinen Ausführungen auf das öffentlich getragene Theater in Deutschland als Untersuchungsgegenstand, werde aber sowohl allgemeine, nicht auf eine bestimmte Kunstform bezogene Überlegungen aus beiden Diskursen aufnehmen als auch Spezifika des öffentlich getragenen Theaters skizzieren. 2 Um wen geht es hier eigentlich? Unterschiede gibt es bereits beim Sprechen über Personen in der Begegnung mit Theater. Diese werden im Zusammenhang mit Theater meist als ‚Publikum‘ be‐ zeichnet. Auch wenn dieser Begriff seinen Ursprung im Lateinischen ‚pūblicus‘ - ‚Öffentlichkeit‘/ ‚Allgemeinheit‘ hat, 34 ist damit heute vor allem die passiv rezipierende (meist sozial relativ homogene) Gesamtheit von Zuschauer: innen gemeint. 35 Aktiv Beteiligte beispielsweise im Rahmen von partizipativen Thea‐ terprojekten oder (Noch-)Nicht-Besucher: innen sind hier nicht eingeschlossen. Das „Audience Development“ trägt das ‚Publikum‘ ja bereits im Namen, reflektiert an vielen Stellen aber, dass es ‚das eine Publikum‘ nicht gibt: Die 2017 von der Europäischen Kommission veröffentlichte Studie zu Audience Development unterscheidet zwischen dem „audience by habit“ (Publikum, das es gewohnt ist, Kultureinrichtungen zu besuchen, zu dessen Selbstverständnis und Identität dies gehört), dem „audience by choice“ (Publikum, für das Kulturbe‐ suche nicht zur Gewohnheit gehören, das aber keine speziellen kulturellen oder sozialen Nachteile hat) und dem „audience by surprise“ (schwer erreichbares Publikum, dessen Teilnahme aus Gründen der sozialen Ausgrenzung, Bildung und Zugänglichkeit nur durch einen langfristigen, gezielten Beziehungsaufbau möglich ist). 36 Die Studie nennt drei Ziele von Audience Development, die den unterschiedlichen Publikumsgruppen zugeordnet werden: die bestehende Publikumsstruktur erweitern („widening“), die Beziehung zum bestehenden Publikum vertiefen („deepening“) und die Publikumsstruktur diversifizieren („diversifying“). 37 Je nachdem, an welches Publikum sich ein Theater richtet, können also ganz verschiedene Ziele verfolgt werden. Audience Development kann unter‐ 230 Maria Nesemann <?page no="231"?> 38 Hayes/ Slater 2002: 1. 39 Hayes/ Slater 2002: 1. 40 Pinkert 2016: 2. schiedlich motiviert sein und unterschiedliche Methoden verwenden. Geht es darum, bestehende und leicht zu erreichende Gruppen anzusprechen, sprechen Debi Hayes und Alix Slater von einem „mainstream approach“. 38 Dieser ist marketingorientiert: Es soll mehr Publikum gewonnen werden, um Besucher: in‐ nenzahlen und die Einnahmen einer Einrichtung zu erhöhen. Ist die Arbeit auf Zielgruppen ausgerichtet, die in der Kulturinstitution unterrepräsentiert und schwer erreichbar sind, so nennen Hayes und Slater dies den „missionary approach“. 39 Dieser ist gesellschaftspolitisch motiviert: Ein diverseres Publikum soll gewonnen werden, um als öffentlich geförderte Einrichtung die sich stetig verändernde Bevölkerung abzubilden und Kunst für Bildungsprozesse zu nutzen. Zielgruppen Ziele Ansätze Audience by habit Widening audiences, deepening relationship Mainstream approach Audience by choice Widening audiences, diversifying audiences Mainstream/ missionary ap‐ proach Audience by surprise Diversifying audiences Missionary approach Tab. 1: Zielgruppen im Audience Development, eigene Darstellung nach Bollo et al. 2017; Hayes/ Slater 2002. Ute Pinkert überträgt Carmen Mörschs Überlegungen zur kritischen Kunstver‐ mittlung auf die Theaterpädagogik am Theater und übernimmt den Begriff der „Dritte[n]“, die es „einzuladen [gilt], um die Theaterkunst und die Institution des Theaters für Bildungsprozesse zu nutzen“. 40 „Dritte“ sind damit Personen, die nicht von vornherein Teil der Theaterinstitution sind. Es braucht den Akt des Einladens, damit die „Dritten“ mit dem Theater in Berührung kommen. Hier wird also eine Unterscheidung zwischen dem ‚Innen‘ und dem ‚Außen‘ der Theaterinstitution gemacht. Vor allem der „missionary approach“ aus dem Audience Development bedeutet in seiner Umsetzung meist, gesellschaftliche Gruppen anzusprechen, die nicht zum Stammpublikum gehören und von denen angenommen wird, dass sie über wenig kulturelles und ökonomisches Kapital verfügen, die also als „bildungs-“ oder „kulturfern“ gelten. Dieser Zielgruppenansprache Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 231 <?page no="232"?> 41 Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2012: 45. 42 Vgl. Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2012: 45. 43 Zitiert nach Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste: 55. 44 Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2012: 59. begegnet die kritische Vermittlung mit Kritik. Durch sie werde, erstens, nahegelegt, dass die Adressierten als reine Konsument: innen gesehen würden, und die Vermittlung im Sinne von „Wir produzieren - Sie konsumieren“ verstanden. 41 Die Adressierten würden so also nicht als Mitgestalter: innen oder Diskussionspartner: innen gesehen, sondern als Personen mit Defizit, die ‚missioniert‘ werden. Zweitens basiere die Kategorisierung von Zielgruppen oft auf konservativen Annahmen über Gesellschaft, sei vereinfachend und reduziere auf ein bestimmtes Merkmal (bspw. ‚Menschen mit Migrationshin‐ tergrund‘). Die Ansprache basiere oft auf der Zuschreibung von Defiziten - sie setze ein bestimmtes (eigenes) Bildungs- und Kulturverständnis voraus, laut dem bestimmte Gruppen als benachteiligt angesehen werden. 42 Damit gehe, drittens, ein schwer auflösbarer Widerspruch einher, den der Migrati‐ onspädagoge Paul Mecheril das „Paradox der Annerkennung“ nennt: 43 Auf der einen Seite soll durch die Ansprache bestimmter Gruppen Gleichberechtigung hergestellt werden. Auf der anderen Seite werden diese dadurch gleichzeitig als „Andere“ festgeschrieben. Diesem Widerspruch zu begegnen, ist nicht einfach: Das Ignorieren und Nicht-Benennen von unterschiedlichen Voraussetzungen führt ja auch nicht zu ihrer Auflösung. Wie also sprechen über und mit Personengruppen, die ein Theater einladen und/ oder einbinden möchte? Mörsch weist darauf hin, dass es, um mit diesem Paradoxon umzugehen, zunächst einmal einer Reflexion des Selbstverständnisses der Anbietenden bedarf: Wenn die Reflexion und Zusammenarbeit mit den Anzusprechenden als eine Grund‐ bedingung für die Herstellung von Zugangsgerechtigkeit im künstlerischen Feld anerkannt wird, reicht es nicht mehr aus, empirisches Wissen über eine vordefinierte Gruppe anzusammeln, um auf dieser Basis Angebote für diese Gruppe zu entwerfen. Bei den ins Visier Genommenen handelt es sich unter diesen Vorzeichen nicht mehr nur um potentielle Konsument_innen eines kulturellen Angebots, sondern um Partner_innen in einem zusammen zu gestaltenden Veränderungsprozess, der das Selbstverständnis der Anbietenden nicht unberührt lässt. 44 Mörsch nennt als Beispiel die „Arts Ambassadors“, ein Modell des Arts Council England, bei dem Repräsentant: innen einzelner Bevölkerungsgruppen mit Kul‐ 232 Maria Nesemann <?page no="233"?> 45 Vgl. Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2012: 59. 46 Mehr dazu am Ende des Artikels in Kapitel 5. 47 Vgl. Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2012: 60. 48 Vgl. Glow et al. 2020: 7 u. 9. turorganisationen zusammenarbeiteten, die Angebote der Kulturorganisation in bestimmte Communitys hineintrugen, aber ebenso die Interessen dieser Communitys in die Kulturorganisation. 45 Dafür muss eine Organisation bereit sein, sich auf Veränderungsprozesse einzulassen. Kultureinrichtungen müssen sich nicht nur als Produzentin eines Angebots verstehen, sondern als einer von mehreren Playern in einem lokalen Kontext. Diesen gemeinsam mit anderen zu gestalten, erfordert die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Öffentlichkeiten. 46 Trotzdem ist auch hier eine gezielte Ansprache von Personen aus bestimmten Gruppen, mit denen zusammengearbeitet werden soll und deren Bestimmung bestimmte Formen von Kategorisierungen und Zuschreibungen von Seiten der Institution zugrunde liegen, unumgänglich. Daher schlägt Mörsch vor, unerwartete Kategorien zu verwenden, denen sich Personen selbst zuordnen können oder nicht (z. B. statt von ‚Senior: innen‘ von ‚Menschen mit Lebenserfahrung‘ zu sprechen), und Kategorien, die sich auf das Vermittlungsangebot beziehen (z. B. ausgehend von einem Thema, das unterschiedliche Personengruppen anspricht, die damit in unterschiedli‐ cher Weise in ihrem Alltag in Berührung kommen). 47 Für die Konzeption individueller Vermittlungsangebote ist dieser Impuls relevant und umsetzbar, für die Konzeption einer gesamtorganisationalen auf das Publikum ausgerich‐ teten Strategie, wie Glow et al. sie für das Audience Development fordern, dagegen zu kurz gegriffen. Glow et al. betrachten regelmäßige empirische Publikumsforschung - die nicht ohne Kategorienbildung auskommt - als zentralen Bestandteil: Diese trage dazu bei, Zielgruppen zu identifizieren, mögliche Besuchsbarrieren zu ermitteln und auch nach Implementierung von publikumsorientierten Maßnahmen die angestoßenen Prozesse immer wieder zu evaluieren und anzupassen. 48 3 Du kannst nicht alle(s) haben? ! Das Legitimationsdilemma Das Sprechen über und mit Personen in der Begegnung mit Theater ist also ein erster Punkt, in dem der Audience-Development-Diskurs und der Diskurs der kritischen Vermittlung aufgrund unterschiedlicher wissenschaftlicher Heran‐ gehensweisen (die empirische [Nicht-]Besucher: innenforschung und die kriti‐ sche und interpretative Auseinandersetzung z. B. mit Ausschlussmechanismen) auseinanderfallen. Weitere Unterschiede finden sich, wenn man sich die Le‐ Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 233 <?page no="234"?> 49 Vgl. Scheurle 2017. 50 Kawashima 2006: 67. 51 Mandel 2016, 21. 52 Mörsch 2009: 20. gitimationsnarrative von öffentlich getragenem Theater anschaut: Dieses ist darauf angewiesen, dass seine Förderung - und damit die Verwendung von Steuergeldern - in der Gesellschaft als legitim angesehen wird. Hier treffen nun mehrere widersprüchliche Legitimationsnarrative aufeinander: Künstlerische Autonomie Die staatliche Förderung der 142 öffentlich getragenen Theater in Deutschland soll diese darin unterstützen, künstlerische Entscheidungen frei von finanzi‐ ellem Druck und damit von Publikumserwartungen und -geschmäckern zu treffen. Damit soll ein künstlerisches Schaffen ermöglicht werden, das keinen bestimmten Zweck erfüllen muss und in dieser Funktion demokratiebildend und -erhaltend ist (auf Grundlage der idealistischen Idee, dass Kunst universal ist und einen Mehrwert für alle Menschen bietet, die mit ihr in Kontakt kommen). 49 Aufgabe der Theater ist es also, von ihrem durch die Künstler: innen bestimmten Programm ausgehend zu agieren. Nobuko Kawashima spricht hier von einem „Product led“-Ansatz, bei dem es darum gehe, von einem bestehenden Produkt/ Programm ausgehend Publikum dafür zu finden. Diesen unterscheidet sie vom „Target led“-Ansatz, der von einer Zielgruppe ausgehend ein Programm entwickle. 50 Als Aufgabe der Kulturpolitik wird gesehen, künstlerische Autonomie zu gewähren und Demokratie zu fördern, indem das finanziell unterstützt wird, was sonst auf dem Markt nicht überleben würde („nach der Maxime ‚Fördern, was es schwer hat‘“). 51 Auch kritische Kunstvermittlung bewegt sich in diesem Legitimationsnarrativ: Sowohl Kunst als auch Kunstvermittlung werden als Praktiken verstanden, durch die sich Gesellschaft verständigt, indem sie Fragen aufwerfen, Unhinterfragtes zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen und Prozesse ohne konkretes Wirkungsversprechen - mit der Option zu schei‐ tern - erlauben: „Kunst und mit ihr die Vermittlungsarbeit werden in ihrem gesellschaftlich relevanten Potential, Störmomente und Irritationen des als ‚normal‘ Geltenden zu produzieren, hervorgehoben.“ 52 Vertreter: innen der Audience-Development-Forschung lehnen das nicht ab, geben aber zu bedenken: Künstlerische Autonomie ist nicht gleichzu‐ setzen mit der unbeschränkten Autonomie der Kulturorganisationen. Als öffentlich geförderte Einrichtungen haben Kulturorganisationen den Auf‐ trag, für möglichst viele Menschen relevant zu sein: „A key problem is 234 Maria Nesemann <?page no="235"?> 53 Mandel 2018: 11. 54 Vgl. Mandel 2021: 35. 55 Siehe beispielsweise Mandel 2018: 12; Glow et al. 2020. 56 Vgl. Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2012: 195. 57 Heinicke 2020: 44. the predominant mindset of many directors and artists that the guaranteed freedom of the arts must be interpreted as autonomy for arts institutions, and that public funding is exclusively earmarked for artistic programs and not for sociopolitical aims.“ 53 Die im internationalen Vergleich bemerkenswert hohe und dauerhafte institutionelle Förderung von Theater- und Opernhäusern in Deutschland ist kaum mit konkreter Steuerung der Publikumsentwicklung durch die kulturpolitisch Verantwortlichen verbunden. Zielvereinbarungen mit den Trägern sind teilweise nur mündlich und im internationalen Ver‐ gleich sehr lose formuliert. Die Träger greifen kaum inhaltlich ein und nehmen hauptsächlich eine formal kontrollierende Funktion wahr. 54 Hier könne, so Vertreter: innen aus dem Audience Development, eine konzeptba‐ sierte Kulturpolitik mit klaren Vorgaben, Zielen und einem empirischen Qualitätsmanagement zur strategischen Arbeit an teilhabe- und diversitäts‐ orientierten Kultureinrichtungen beitragen. 55 Empirisches Qualitätsmanagement und konkrete Zielvorgaben aus der Kul‐ turpolitik sind an festgelegte, messbare Kriterien gebunden. Die Kritik daran aus der kritischen Kunstvermittlung ist, dass diese Kriterien aus einer spezifischen Perspektive aufgestellt sind und die Arbeit möglicherweise auf bestimmte Aspekte reduzieren. Außerdem seien sie damit abhängig von Wirkungslogiken und eben nicht - das Potential der Künste nutzend - ein zweckfreier, von messbaren Zielen befreiter Raum, in dem auch gescheitert werden kann. 56 Hier würde - auf beiden Seiten - ein differenzierteres Verständnis davon, was vorgegeben und gemessen werden kann und soll, guttun. Es geht, so Julius Heinicke, weniger darum, Freiheit und Autonomie grundsätzlich einzuschränken. Produktionen müssen sich vorbehalten dürfen, künstlerisch selbstständig und unabhängig von Wir‐ kungsversprechen erarbeitet zu werden. Allerdings kann eine stärkere Kooperation mit der Zivilgesellschaft, mit den Gruppen, welche die Institutionen umgeben und ihnen vielleicht fernbleiben, eingefordert werden. Sei es in der Ausstellungsplanung, dem Entwerfen des Spielplans, der Festlegung von Schwerpunktthemen, in der Probenbeziehungsweise Vorbereitungsphase, in der Begleitung oder im Nachgang. 57 Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 235 <?page no="236"?> 58 Glow et al. 2020: 9. 59 Vgl. Deutscher Bühnenverein 2019: 259. 60 Vgl. Burghardt/ Nesemann 2021: 152f. 61 Vgl. Meyer/ Kirchner 2016: 1. 62 Vgl. Meyer/ Rowan 1977: 357. Diese Parameter können empirisch erfasst, ausgewertet und immer wieder angepasst und weiterentwickelt werden. Das gilt auch für Vermittlungsprojekte, die inhaltlich frei gestaltet, aber in der Entwicklung von Strategien und Vor‐ gaben, die bestimmte Kooperationen und deren Einbezug betreffen, gezielt verfolgt werden können. Akteur: innen kritischer Kunstvermittlung können hier wertvolles Wissen zur konstanten Überprüfung und Weiterentwicklung der Parameter einbringen. So unterstreichen beispielsweise Glow et al.: „[O]rgani‐ sations [should] undertake evaluation and reflective practices on the basis that this is a critical part of organisational learning and the development of ideas and practices around audience building.“ 58 Zugänglichkeit von kulturellen Angeboten Wie legitimieren sich die Theater, wenn nur ein kleiner, homogener Teil der Bevölkerung ihre Angebote in Anspruch nimmt? Ein weiteres Narrativ von Kulturförderung ist, dass sie die Teilhabe möglichst vieler Menschen an Kultur ermöglicht, indem sie die kulturelle Infrastruktur und die Finanzierung des Abbaus von Barrieren (z. B. finanzieller und baulicher Art) unterstützt. Einfaches Beispiel: Eine Theaterkarte würde ohne öffentliche Förderung statt durchschnittlich 30 Euro etwa 170 Euro kosten. 59 Wenn trotz der Ermöglichung des Zugangs zum kulturellen Angebot dieses nur von einem kleinen Teil der Be‐ völkerung wahrgenommen wird, wird das Angebot selbst in Frage gestellt. Weil aber Theater meist „product-led“ agieren (auf Grundlage des ersten Legitimati‐ onsnarrativs der künstlerischen Autonomie), wird die Beschäftigung mit dem Publikum bzw. der Ansprache bestimmter Zielgruppen ausgelagert. Diese findet dann als Ergänzung zum ‚eigentlichen‘ künstlerischen Programm statt - in Form von teilhabeorientierten Vermittlungsangeboten und Rahmenprogramm. 60 In der neo-institutionalistischen Organisationstheorie spricht man hier von „Entkopplungen“. Es wird davon ausgegangen, dass sich in der Struktur von Organisationen die Anforderungen ihrer institutionellen Umwelt abbilden. 61 Wenn nun Organisationen mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert werden, die einander widersprechen, könne es zu „Entkopplungen“ kommen. 62 Um die Legitimität der Organisation zu gewährleisten, würden dann einzelne Aktivitäten voneinander oder von der Organisationsstruktur getrennt: „Because attempts to control and coordinate activities in institutionalized organizations 236 Maria Nesemann <?page no="237"?> 63 Meyer/ Rowan 1977: 357. 64 Mörsch in Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2012: 36. 65 Vgl. Mörsch 2009: 9f. lead to conflicts and loss of legitimacy, elements of structure are decoupled from activities and from each other.“ 63 Dass Vermittlung schon in ihrer Existenz ambivalent ist und zwischen kritischer Distanz und direkter „Kopplung“ an die Organisation changiert, zeigt Mörsch: Institutionalisierte Kulturvermittlung befindet sich per se in einer ambivalenten Lage. Sie dient der Stabilisierung und Legitimierung der Kulturinstitutionen, da sie für (das) Publikum sorgt und die Anliegen der Institutionen nach außen vertritt. Sie bildet aber auch ein permanentes Störmoment, da allein schon die Tatsache ihrer Existenz an den niemals ganz eingelösten Anspruch erinnert, die Künste als Gemeingut zu betrachten. 64 Wie sich das Verhältnis der Vermittlung zur Organisation und dem künstleri‐ schen Programm gestaltet, hängt eng mit dem vorherrschenden Vermittlungs‐ verständnis zusammen. Mörsch macht hier vier unterschiedliche Diskurse aus: (1) Die Erwartung an die Vermittlung im affirmativen Diskurs ist, die Inhalte der Organisation, die als spezialisierte Domäne begriffen wird, nach außen zu kommunizieren und damit zu bejahen. (2) An eine reproduzierend arbeitende Vermittlung wird die Erwartung gestellt, durch den Abbau von vermeintlichen Schwellen Personen, die nicht von allein in die Kultureinrichtung kommen, das dort Gezeigte näherzubringen. (3) Vermittlung im Sinne des dekonstruktiven Diskurses hinterfragt gemeinsam mit dem Publikum kritisch die Inhalte und Strukturen der Kulturorganisation. (4) Transformative Vermittlung begreift die Kultureinrichtung als veränderbaren Ort, der durch das Publikum mitgestaltet wird. 65 Mit den vier Diskursen sind also unterschiedliche Haltungen gegenüber der jeweiligen Kultureinrichtung verbunden. Nun scheint auf den ersten Blick gerade für den dekonstruktiven und den transformativen Diskurs, in denen sich die kritische Kunstvermittlung vor allem verortet, die Entkopplung der Vermittlungsaktivitäten eine Möglichkeit, relativ unabhängig zu agieren und sich auch kritisch mit dem Programm auseinandersetzen zu können. Das bedeutet aber auch eine fehlende, auf das Pu‐ blikum ausgerichtete Gesamtmission, wie der Audience-Development-Diskurs sie fordert. Verstehen sich Projekte der kritischen Vermittlung als eigenständig und in kritischer Distanz zum restlichen Programm, ist die Frage: Welche Konsequenz ergibt sich daraus? Für die Teilnehmer: innen? Für das Theater? Verändert sich überhaupt etwas? Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 237 <?page no="238"?> 66 Vgl. Crückeberg 2023. 67 Crückeberg 2023: 165. 68 Vgl. Mandel 2013: 94. In den vergangenen Jahren wird vermehrt ein drittes Legitimationsnarrativ bemüht - und dieses stellt die Entkopplung unterschiedlicher Programmange‐ bote noch weiter in Frage: Förderung von gesellschaftlichem Zusammenhalt Johannes Crückeberg beobachtet, dass während der Coronakrise gesellschaftli‐ cher Zusammenhalt das vorherrschende Argument von Kulturpolitik war, um die Relevanz von Kultur zu manifestieren. 66 Immer wieder wird beispielsweise das Motiv der Kultur als Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, bemüht. Gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehe dann, so Crückeberg, wenn soziale Gruppen nicht exklusiv, sondern offen sind. Dabei ist es egal, ob man aktiv - kulturgestaltend - oder passiv - kulturrezipierend - an Kultur teilhat. Gesell‐ schaftlicher Zusammenhalt wird also dann über Kultur erreicht, wenn sie Vertrauen und kollektive Identität fördert, wo vorher wenig Berührungspunkte waren. 67 Ob öffentlich geförderte Theater in ihrer aktuellen Form dazu beitragen, ge‐ sellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, ist fraglich: Der vorherrschende „product-led“-Ansatz nutzt als Ausweg aus dem Dilemma, künstlerische Auto‐ nomie zu ermöglichen und gleichzeitig ein möglichst zugängliches Angebot zu schaffen, die Entkopplung unterschiedlicher Aktivitäten - neben dem Abendspielplan ein diverses Angebot an partizipativen Projekten, Vermitt‐ lungsworkshops etc. Damit ist aber nicht erreicht, dass sich unterschiedliche soziale Gruppen tatsächlich begegnen. Beispielsweise zeigten die Ergebnisse einer Studie zum interkulturellen Audience Development in NRW, dass Teil‐ nehmer: innen von Vermittlungsangeboten sich zwar partizipative Folgeange‐ bote wünschten, aber kein Interesse an der Teilnahme am sonstigen Programm der Kultureinrichtungen zeigten. 68 Umgekehrt ist das Stammpublikum selten Zielgruppe teilhabeorientierter Vermittlungsformate. Wie reagieren Vertreter: innen aus dem Audience Development und der kritischen Kunstvermittlung darauf ? Mit dem Stichwort ‚Transformation‘ - und damit sind wir wieder bei den Gemeinsamkeiten angekommen: Beide Diskurse fordern eine Transformation der Kultureinrichtungen mit den und durch die Personen, die in Begegnung mit der Kunst kommen und kommen sollen. Was allerdings unter Transformation verstanden wird, scheint zunächst recht unterschiedlich. 238 Maria Nesemann <?page no="239"?> 69 Vgl. Glow et al. 2020. 70 Lindelof 2015: 204. 4 Transformation is key, aber wie? Neuere Audience-Development-Forschung zeigt, dass die Diversifizierung der Publikumsstruktur nur möglich ist, wenn Audience Development nicht alleinige Aufgabe von Vermittlung oder Marketing ist, sondern als Gesamtstrategie der Organisation verstanden wird. 69 Mit Audience Development muss nach dieser Definition also gleichzeitig eine Entwicklung der Organisationsstruktur einhergehen: „It is not the audience, but the institutions that are in need of deve‐ lopment.“ 70 Es geht um Veränderungen, die die Voraussetzungen zur Teilnahme betreffen, über die Kommunikation mit den Besucher: innen bis zum ‚Kern‘, dem angebotenen Programm. In all diesen Bereichen spielen die Strukturen ‚hinter den Kulissen‘ - eine von allen geteilte Vision, abteilungsübergreifende Zusammenarbeit, Entscheidungen bzgl. Stellenbesetzungen und -schaffungen etc. - eine große Rolle. Ich unterscheide deshalb zwischen zwei unterschiedlichen Audience-Deve‐ lopment-Ansätzen, die ich als ‚Keep and add‘ und ‚Transform‘ bezeichne. Der ‚Keep and add‘-Ansatz kann zwar die ersten zwei Legitimationsnarrative bedienen, indem eine Organisation ‚product-led‘ agiert und entkoppelt vom künstlerischen ‚professionellen‘ Programm nachfrage- und teilhabeorientierte Angebote für neue Besucher: innengruppen schafft. Gesellschaftlicher Zusam‐ menhalt kann aber nur dann gefördert werden, wenn sich in der Kulturorgani‐ sation tatsächlich unterschiedliche Besucher: innengruppen begegnen. Dafür, so zeigt die Audience-Development-Forschung, braucht es vom Publikum ausge‐ hende Veränderungen in der Organisation (‚Transform‘). Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 239 <?page no="240"?> Legitimationsnarrativ Fokus der Programmgestaltung Audience-Deve‐ lopment-Ansatz Zielgruppen Audience-Develop‐ ment-Ziele Audience-Development- Strategien Künstlerische Auto‐ nomie gewährleisten und Zugänglichkeit erhöhen Product-led Keep and add Audience by habit/ Audience by choice - Widening au‐ diences/ deepening relationship - Affirmative/ reproduktive Vermittlung Audience by surprise Diversifying au‐ diences Entkopplung: Nachfrage- und teilha‐ beorientierte Angebote neben dem bereits beste‐ henden Programm Gesellschaftlichen Zu‐ sammenhalt stärken Target-led Transform Audience by habit/ Audience by choice/ Audience by surprise Diversifying au‐ diences Organisational develop‐ ment Tab. 2: Legitimationsnarrative und Audience-Development-Strategien, eigene Darstellung nach Bollo et al. 2017; Hayes/ Slater 2002. 240 Maria Nesemann <?page no="241"?> 71 Sternfeld 2014. 72 Vgl. Sternfeld 2018: 75. 73 Sternfeld 2018: 80. 74 Sternfeld 2018: 80. 75 Crane 2012; Mandel 2018: 11. In der kritischen Kunstvermittlung dagegen bedeutet Transformation nicht die Entwicklung hin zu einer von allen geteilten Sache, sondern Störmomente zu erzeugen, Reibung zu schaffen, zu zeigen: Die Welt ist komplex und die Gefüge, in denen man sich in der Kultureinrichtung bewegt, sind es ebenfalls. Gesellschaftlicher Zusammenhalt meint in diesem Fall, das anzuerkennen und die Bereitschaft zu haben, Nicht-Hinterfragtes (zum Beispiel die eigenen Privi‐ legien) zu „verlernen“. 71 Nora Sternfeld warnt vor Transformismus, laut Gramsci eine Herrschaftstechnik, bei der Kritik nicht verhindert, sondern aufgenommen werde, um Macht zu erhalten. 72 Wie aber wird Transformismus vermieden und was kommt nach der Kritik? , fragt Sternfeld in Das radikaldemokratische Museum. Sie plädiert für ein postrepräsentatives Museum, in dem Partizipation als „kollektive Praxis des öffentlichen Sprechens und Handelns, die sich identi‐ tären Zuschreibungen widersetzt“, verstanden wird. 73 Sie fügt hinzu, es brauche außerdem eine „postidentitäre Solidarität“: Dafür gilt es, die Frage zu stellen, wie in Institutionen, wenn diese (wie im Fall des Transformismus bei Gramsci beschrieben) von marginalisierten Positionen lernen, auch solidarisch gehandelt werden kann - also nicht im Hinblick auf eine Erhaltung des Bestehenden, sondern im Hinblick auf eine Veränderung. 74 Es stellt sich also die Frage: Geht das nun zusammen - Transformation der Theater hin zu Orten des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Sinne des Au‐ dience Developments und der kritischen Vermittlung? Wie können empirische und hermeneutische Herangehensweisen hier ineinandergreifen? Mein Vorschlag ist, dass sich sowohl die Praxis des Audience Developments als auch die der kritischen Kunstvermittlung dafür von der Zentriertheit auf die eigene Organisation lösen, Transformation zunächst als Transformation/ Mitge‐ staltung des lokalen Umfelds verstehen und dann überlegen muss, was das für die Transformation der Organisation bedeutet. 5 Being a good neighbour Ein Konzept, das aus dem amerikanischen Audience Development kommt und im deutschsprachigen Raum von Birgit Mandel aufgegriffen wurde, ist das der Kultureinrichtung als „good neighbour“: 75 „Being a good neighbor […] means Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 241 <?page no="242"?> 76 Crane 2012: 90. 77 Vgl. Crane 2012: 85f. 78 Vgl. Crane 2012: 86. taking an active and interested role in the changes surrounding the institution and sharing resources for mutual benefit.“ 76 Crane argumentiert, dass Kultureinrichtungen über wichtige Ressourcen verfügen, die für die Zwecke der Gemeinschaft genutzt werden können (z. B. Räume, Mitarbeitende mit kreativen Fähigkeiten, innovativen Ideen, Bezie‐ hungen zu anderen Stakeholdern und der Politik). 77 Das klingt radikal und ist in dieser Form in der deutschen Kulturlandschaft bislang vor allem während der Pandemie passiert - man denke da beispielsweise an die Theaterschneidereien, die Masken für den Bedarf in Einrichtungen außerhalb des Theaters genäht haben. Einwände gegen eine solche grundlegende Ausrichtung liefern zum einen die fehlenden zeitlichen und personellen Ressourcen, zum anderen die Frage: Wo bleibt da die Kunst? Crane argumentiert, dass diese Art der Commu‐ nity Work sich auf Dauer profitabel auf die Kultureinrichtungen auswirken werde, weil sie von der Community honoriert würde und damit auch die künst‐ lerische Arbeit geschätzt werde. 78 Ich möchte hier einen Schritt weitergehen, denn was bei Crane fehlt, ist die Reflexion des ästhetischen Potentials der Künste - also des Potentials, das Kunst von z. B. Sozialeinrichtungen, die Community Work machen, unterscheidet: Nachbarin sein bedeutet, immer noch etwas ‚Eigenes‘ zu sein, aber einge‐ bunden in einen lokalen Kontext, um die Nachbarschaft und ihre Themen wis‐ send. Eine ,gute‘ Nachbarin als Theaterorganisation zu sein, könnte bedeuten: Sich, so wie Crane es vorschlägt, durch bestimmte Ressourcen zu unterstützen, gemeinsam Orte zu nutzen und zu pflegen. Aber eben auch: sich über Themen, die die Nachbarschaft betreffen, auszutauschen und gemeinsam Verantwortung dafür zu übernehmen, Themen aufzuspüren und aufzuzeigen, die noch keine große Sichtbarkeit haben. In einer global vernetzten Welt bedeutet das auch, sich bewusst zu sein, dass man in globale Zusammenhänge eingebunden ist und Verantwortung sich nicht auf die direkte Nachbarschaft unmittelbar vor der eigenen Haustür beschränkt. Beim Konzept der „good neighbour“ steht also nicht mehr die Organisation und ihr Programm, das verkauft, vermittelt und/ oder hinterfragt werden soll, im Vordergrund, sondern die Mitverantwortung für die Lösung aktueller lokaler sozialer und gesellschaftlicher Probleme in Kooperation mit anderen kommu‐ nalen Playern. Diese Herausforderungen können angegangen werden, wenn es a) ein abteilungsübergreifendes Konzept gibt, das Publikum mit seinen Themen ernst zu nehmen und ins Zentrum des eigenen Aufgabenfelds zu stellen, 242 Maria Nesemann <?page no="243"?> 79 Breville 2022. 80 MC93 o. J., im Original: „pour y mener un projet de théâtre public ouvert sur la ville, destiné à tout·e·s et en priorité aux habitant·e·s du 93, un lieu qui réinterroge sans cesse la question des communs.“ Übersetzung der Autorin. wie es der Audience-Development-Diskurs fordert, und b) postkoloniale und hegemoniale Eingebundenheit nicht ausgeklammert wird, wie es Anspruch der kritischen Kunstvermittlung ist. Empirisches Wissen über die ‚Nachbarschaft‘, die Personen, mit denen man in Kontakt kommen möchte, über Interessen, relevante Themen und Bedürfnisse, und ein strategisches Kulturmanagement, das die gesamte Organisation einbezieht, sind ebenso wichtig wie das Her‐ stellen institutionenkritischer Zusammenhänge. Empirische Erhebungen und kulturmanageriale Strategien müssen immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden: Inwiefern reproduzieren sie hegemoniale Verhältnisse? Wo werden bestimmte Perspektiven übersehen oder ausgeblendet? Wann handelt es sich statt um ein echtes Interesse an der Mitgestaltung des Umfelds um bloßen Transformismus? Wie können Denk- und Handlungsräume, in denen experi‐ mentiert und auch gescheitert werden kann, aussehen? Ansätze für Projekte, die Theater als ,gute Nachbarinnen‘ begreifen, gibt es zunehmend, sie könnten aber deutlich verstärkt aufgegriffen und verstetigt werden. Ein Beispiel aus einem Projekt des Theaters MC93 Maison de la Culture de Seine-Saint-Denis nahe der französischen Hauptstadt, das einzelne Aspekte der ‚guten Nachbarschaft‘ aufgreift und umsetzt, sei hier im Folgenden skizziert, um die vorgestellten theoretischen Überlegungen nicht im luftleeren Raum stehen zu lassen: Das Theater, seit 2015 geleitet von Hortense Archambault, liegt im Departe‐ ment 93 Seine-Saint-Denis nördlich von Paris. Das „93er“ hat die höchste Ar‐ mutsquote und den höchsten Zuwander: innenanteil in Kontinentalfrankreich und ist, wie viele der Pariser Banlieues, mit Vorurteilen beladen. Das Departe‐ ment diene, so Benoît Breville in Le Monde Diplomatique, „als Projektionsfläche für die Ängste der bürgerlichen Gegenwart“. 79 In diesem Setting formuliert die Theaterleiterin Archambault den Anspruch, „ein öffentliches, zur Stadt hin offenes Theaterprogramm [zu verwirklichen], das sich an alle richtet, vor allem aber an die Bewohnerinnen und Bewohner des 93er, einem Ort, der die Frage des Gemeinsamen [communs] immer wieder aufs Neue stellt.“ 80 Das Theater MC93 trägt die lokale Situierung also nicht nur im Namen, sondern adressiert auch ganz bewusst seine direkten Nachbar: innen. 2018 entschloss sich das Theater, ein Projekt der „Nouveaux commanditaires“ (dt. Neue Auftraggeber) zu initiieren. Die „Nouveaux commanditaires“ wurden 1992 von der Stiftung Fondation de France ins Leben gerufen. Das mittlerweile Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 243 <?page no="244"?> 81 Vgl. Fondation de France o.-J.; La Société des Nouveaux Commanditaires o.J. 82 Das Konzept wurde vielfach übertragen: Mittlerweile gibt es ein internationales Netz‐ werk von Initiativen in 15 Ländern. An der Universität Lille kann man eine Fortbildung, die auf dem Konzept der Auftraggeber basiert, belegen und die „Gesellschaft der Neuen Auftraggeber“ in Deutschland wurde von der Kulturpolitischen Gesellschaft im Juli 2021 mit dem Zukunftspreis für Kulturpolitik KULTURGESTALTEN ausgezeichnet. Vgl. Université de Lille o.-J.; Neue Auftraggeber 2021. 83 Aufschluss über den mehrjährigen Prozess von den ersten Auftragsvorschlägen per Mail 2018 bis zum öffentlichen Theater-, Film- und Diskursprogramm 2022 gibt eine vom Theater veröffentlichte Dokumentation (MC93 o. J.), auf die sich das Folgende, wenn nicht anders gekennzeichnet, bezieht. international vielfach übertragene Konzept wird seit 2023 in Frankreich von der Société des Nouveaux Commanditaires gesteuert, weiterhin gefördert durch die Stiftung Fondation de France und das französische Kulturministerium. 81 Seine Grundidee besteht darin, Bürger: innen zu unterstützen, ein Kunstwerk, das einen direkten Bezug zu ihrem Leben hat, in Auftrag zu geben. Ein: e Vermittler: in berät bei der Suche eines Künstlers/ einer Künstlerin, der/ die in engem Austausch mit den auftraggebenden Bürger: innen das Kunstwerk gestaltet. 82 Meist handelt es sich um Aufträge für Bildende Künstler: innen. Das MC93 übertrug das Konzept auf das Theater und lud Personen aus der Umgebung dazu ein, in einem kollektiven Prozess Künstler: innen mit einer Arbeit für die Bühne zu beauftragen. 83 Dazu schrieb das Theater 600 Personen an, die in der Vergangenheit an einem partizipativen Projekt des Theaters beteiligt gewesen waren, und lud sie zu einem ersten Informationstreffen ein. Ungefähr 60 Personen kamen kurz darauf zusammen und wurden im Anschluss gebeten, ihre Ideen für einen Auftrag schriftlich ans Theater zu schicken. 26 Vorschläge wurden eingesendet. Diese reichten von der Problematisierung medizinischer Ungleichbehandlungen von FLINTA -Personen über die Beschäf‐ tigung mit dem muslimischen Friedhof in Bobigny bis zum Wunsch nach einem Musiktheaterstück mit Zirkuselementen zu französischen Chansons der letzten hundert Jahre. Eine Gruppe von etwa zwanzig Freiwilligen formierte sich, um daraus einen gemeinsamen Auftrag zu erarbeiten. In den folgenden Treffen stellte sich heraus, dass die Gruppe sich nicht auf einen Vorschlag einigen konnte und wollte. Stattdessen wurde der gemeinsame Entscheidungsprozess selbst zum Gegenstand der Reflexion: „Comment agir ensemble? “ (dt. Wie handeln wir gemeinsam? ) lautete schließlich das Thema des Auftrags. Aus vier vom Theater und den Vermittler: innen der „Nouveaux commanditaires“ vorgeschlagenen Künstler: innen wählte die Gruppe daraufhin das Kollektiv Travaux Publics aus, bestehend aus Regisseur: innen, Schauspieler: innen und einer Soziologin. In ihrer Präsentation vor den Auftraggeber: innen stellte Sandra 244 Maria Nesemann <?page no="245"?> 84 Doberd 2019. Im Original: „Il va falloir que nous travaillions à trouver la juste articulation - et je trouve que cela rejoint des questions que vous vous êtes posées vous-mêmes dans le passage de la commande - entre motivation intime […] et travail et réponse collective.“ Übersetzung der Autorin. 85 Vgl. Travaux Publics/ Abdo-Hanna 2022. Iché, Regisseurin und Teil von Travaux Publics, die Schwierigkeit heraus, eine Balance zu finden zwischen dem Anspruch nach Repräsentation einer Gruppe und der individuellen Positionierung in der künstlerischen Arbeit: Wir müssen daran arbeiten, die richtige Verknüpfung zu finden - und ich denke, das deckt sich mit den Fragen, die Sie sich selbst bei der Auftragsvergabe gestellt haben - zwischen persönlicher Motivation […] und kollektiver Arbeit und Antwort. 84 Dass beides letztendlich Eingang in die künstlerische Arbeit von Travaux Publics fand, wurde bereits im Entstehungsprozess deutlich: Nach einem indi‐ viduellen Rechercheprozess arbeitete das Kollektiv in mehreren Workshopses‐ sions, zu denen auch die Auftraggeber: innen eingeladen waren, gemeinsam mit Sozialarbeiter: innen aus der Umgebung. Mit Mitteln des Theaters (z. B. Szenenentwicklung, Fiktionalisierung und Verfremdung) und der empirischen Sozialwissenschaften (z. B. Archivrecherchen, Interviews, Autokonfrontation der Teilnehmenden mit Filmaufnahmen von ihnen) wurde der von den Auftrag‐ geber: innen gestellten Frage nachgegangen. 85 Die gemeinsame forschende und künstlerische Arbeit mündete in der Inszenierung Le social brû(il)le (dt. Das Sozialwesen brennt/ glänzt), die, dreieinhalb Jahre nach Anstoß des Projektes, im Februar 2022 eingebettet in ein mehrtägiges Programm Premiere hatte. Neben der Erstaufführung von Le social brû(il)le wurden Milo Raus Film Das neue Evangelium und Natascha Rudolfs Inszenierung Lefty! gezeigt, die sich ebenfalls auf ganz unterschiedliche Weise mit der Frage nach dem (politischen) Gemein‐ samen auseinandersetzen. Außerdem gab es Podiumsgespräche mit Travaux Publics und den beteiligten Sozialarbeiter: innen, den Auftraggeber: innen und der Société des Nouveaux Commanditaires. Das vorgestellte Projekt macht auf unterschiedlichen Ebenen deutlich, inwie‐ fern empirisches Forschen, eine Orientierung an den Bedürfnissen (potentieller) Besucher: innen und ästhetisches und von Zielvorgaben befreites Arbeiten zusammenspielen, wenn im Mittelpunkt die Einbindung in den lokalen Kontext steht: Die Entscheidungsmacht über Themen- und Künstler: innenwahl an beste‐ hendes Publikum abzugeben, trägt zur Bindung und Identifizierung dieser Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen 245 <?page no="246"?> 86 Nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden hier allerdings Personen, die ebenfalls Teil der ‚Nachbarschaft‘ sind, aber noch keinen Kontakt zum Theater hatten. 87 Travaux Publics/ Abdo-Hanna 2022. Im Original: „[…] ils y ont trouvé un intérêt notamment parce qu’ils leur manquent des espaces de partage autour de leurs pratiques. C’étaient des bouffées d’air, des moments où la parole pouvait venir se déposer sur des expériences vécues. Les ateliers ont servi de catalyseur, ils ont été des occasions d’élaborer collectivement une pensée réflexive et analytique sur leurs pratiques. Il y avait cette demande de leur part, ainsi que celle de rendre visible leur travail par le théâtre.“ Übersetzung der Autorin. Gruppe mit dem Theater bei. 86 Gleichzeitig erweitern sich damit die künstleri‐ schen Perspektiven des Theaters. Die Vermittler: innen mit fundierten Kennt‐ nissen über aktuelle künstlerische Positionen „vermitteln“ im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Auftraggeber: innen und möglichen Künstler: innen - weder mit dem Ansinnen, das bestehende Angebot zu vermitteln, noch ein vom Kernprogramm entkoppeltes Angebot zu schaffen. Das ausgewählte Kollektiv lässt sich auf die von den Auftraggeber: innen gestellte Frage ein und lädt eine weitere Gruppe an Personen - die der Sozialarbeiter: innen - zur gemeinsamen Auseinandersetzung ein. Diese Gruppe verbindet sehr konkrete, praktische Interessen mit ihrer Teilnahme: Sie fanden sie [die Teilnahme] vor allem deshalb interessant, weil ihnen Räume fehlten, in denen sie sich über ihre Arbeitspraktiken austauschen konnten. Die Work‐ shops waren eine Atempause, in der die Teilnehmenden ihre Erfahrungen in Worte fassen konnten. Die Workshops dienten als Katalysator, sie waren Gelegenheiten, gemeinsam ihre Praktiken zu reflektieren und zu analysieren. Es gab dieses Anliegen von ihrer Seite, ebenso wie die, ihre Arbeit durch das Theater sichtbar zu machen. 87 Die Zusammenarbeit mit dem Theaterkollektiv schafft die Möglichkeit, durch die systematische Auswertung der sozialen Erfahrungen der Teilnehmenden mittels empirischer Methoden Erkenntnisse zu der von den Auftraggeber: innen gestellten Frage zu gewinnen. Zum anderen aber auch, mit theatralen Mitteln die Erfahrungen der Sozialarbeiter: innen in den ästhetischen Raum zu übersetzen - zunächst in den Workshops, später auf der Bühne - und damit zu lösen von der Festlegung auf eine kollektive, monoperspektivische Beantwortung der Frage der Auftraggeber: innen. Die Skizzierung des Projekts der „Neuen Auftraggeber“ am MC93 macht aber auch deutlich, welche zeitlichen und personellen Kapazitäten solche Vorhaben binden und dass sie nur dann realisierbar sind, wenn die Kulturorganisation bereit ist, bedeutende Ressourcen dafür einzusetzen und Prioritäten ggf. umzu‐ verteilen. 246 Maria Nesemann <?page no="247"?> Steht die Einbindung in die Nachbarschaft im Fokus der Theaterarbeit, dreht sich die Richtung des Teilhabeverständnisses um: Es geht dann nicht mehr primär um die Teilhabe an dem Angebot eines Theaters, sondern um die Teilhabe des Theaters an der Community/ dem lokalen Kontext, in dem es sich befindet. Ein Theater als ‚gute Nachbarin‘ funktioniert nur in enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung vor Ort. Das erfordert den Einbezug empirischer Kenntnisse über die Nachbarschaft, kulturmanageriale Kenntnisse zur Rolle und (Um-)Steuerung der Theaterorganisation und die Auseinander‐ setzung mit Projekten des Theaters als ästhetische Räume, in denen offene Sinnproduktion und die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Perspektiven und komplexer Zusammenhänge möglich sind. Literatur Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Gesammelte Schriften, 6). Blumenreich, Ulrike (2012). Das Studium der Kulturvermittlung an Hochschulen in Deutschland. In: Bockhorst, Hildegard et al. (Hrsg.). Handbuch Kulturelle Bildung. München: kopaed, 849-854. Bollo, Alessandro et al. (2017). Final Report. Study on Audience Development - How to place audiences at the centre of cultural organisations. Luxemburg: European Commission. Breville, Benoît (2022). 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Ökonomische und physische Barrieren, kommunikative und soziale Hürden sowie kulturelle und lebensstilistische Distanzen sorgen dafür, dass die Darstellenden Künste stets einem Großteil der Gesellschaftsmitglieder unzugänglich bleiben. Trotzdem gilt das Theater historisch als ein gesellschaftlicher Ort, an dem die bürgerliche Öffentlichkeit früh eingeübt werden konnte: Habermas begreift diese „als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“, die sich mittels „öffentliche[n] Räsonnement[s]“ 2 mit Fragen des Geschmacks und dar‐ über auch solchen von allgemeinem Belang auseinandersetzen. Die öffentliche Debatte des Theaters - wie auch der Literatur, der Museen und Konzerthäuser - stand in engem Zusammenhang mit den Salons, Kaffeehäusern und Tischge‐ sellschaften und drang von dort in den aufkommenden Journalismus. Diese <?page no="252"?> 3 Habermas 1962: 52. 4 Habermas 1962: 53 (Herv. i. Orig.). 5 Habermas 1962: 52. 6 Vgl. Bourdieu 1987: 31-115. 7 Balme 2017: 252. gesellschaftlichen Räume verbindet „eine Reihe gemeinsamer institutioneller Kriterien“ 3 wie die Gleichheit der Teilnehmenden ungeachtet ihres sozialen Status, die Freiheit, alle Fragen verhandeln zu können, sowie die allgemeine Zugänglichkeit - wenn auch nur dem Prinzip nach: „alle müssen dazugehören können.“ 4 Habermas geht nicht davon aus, dass in den genannten Einrichtungen „im Ernst diese Idee des Publikums verwirklicht worden sei; wohl aber ist sie mit ihnen als Idee institutionalisiert, damit als objektiver Anspruch gesetzt und insofern, wenn nicht wirklich, so doch wirksam gewesen.“ 5 Schon die Prägung des Ideals von Öffentlichkeit bleibt historisch eine Ausnahme: Nach einer kurzen Periode des bürgerlichen Liberalismus sieht Habermas schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einer wechselseitigen Durchdringung von öffentlichen und privaten Sphären, ihrer Kommerzialisierung und Entpolitisierung einen Zerfall der Öffentlichkeit. Im Anschluss an diesen normativen Öffentlichkeitsbegriff durfte sich das deutschsprachige Theater zum Erscheinungszeitpunkt der Habermas’schen Studie in den 1960er Jahren als ein Residuum bürgerlicher Öffentlichkeit fühlen, das Massenmedien, Kulturindustrie und politischer Meinungsmanipulation entgegenstand. Im Zuge der Zersplitterung von Öffentlichkeit wurden die Darstellenden Künste aber immer mehr zur sozialen Nische, die in die geschlos‐ sene Gesellschaft zurückzufallen scheint: Der Zugang bleibt beschränkt, das Rederecht ungleich verteilt, der soziale Status eines ‚Bildungsadels‘ wird in Distinktion gefestigt oder in wechselseitigen Anerkennungsschleifen erhöht, 6 während das diskursive Räsonnement zugunsten sinnlicher Erfahrung in den Hintergrund tritt. Die Möglichkeit zum erneuten Anschluss des Theaters an eine breitere Öffentlichkeit sehen nicht wenige Künstler: innen, aber auch Theater‐ wissenschaftler: innen wie Christopher Balme nur außerhalb der institutionali‐ sierten Räume Darstellender Künste sowie in der Preisgabe des Ästhetischen: „Erst das Verlassen dieses Rahmens und die Einbeziehung einer Öffentlichkeit jenseits des Theaterpublikums ermöglichen eine genuin politische Auseinan‐ dersetzung, so beschränkt dies auch sein mag.“ 7 Damit wird die performative Ästhetik jenseits rationaler Diskurse der Verschließung vor der Öffentlichkeit verdächtig: „Zusammengenommen schaffen Ereignis und Präsenz eine Tyrannei 252 Benjamin Hoesch <?page no="253"?> 8 Balme 2017: 253. 9 Balme 2014: 3. der Gegenwart, die andere, vor allem politische Dimensionen des Theaters außer Kraft setz[t] oder diese zumindest erheblich abschwäch[t].“ 8 Der vorliegende Beitrag soll dagegen argumentieren, dass gerade in der Institution sowie im Ästhetischen der Darstellenden Künste ihr öffentlichkeits‐ wirksamstes Moment im Sinne einer paradoxen Reflexivität auf Öffentlichkeit und Gesellschaft steckt. Gegenüber den Klagen über einen allgemeinen Öffent‐ lichkeitsverlust des Theaters 9 gerät nämlich aus dem Blick, welche komplexen, oft auch erstaunlichen (Teil-)Öffentlichkeiten die Darstellenden Künste konkret schaffen und wie diese eine umfassendere gesellschaftliche Öffentlichkeit jen‐ seits der bürgerlichen vorstellbar machen. Der von Habermas angenommene Modellcharakter des Publikums für die Öffentlichkeit wird dabei aus dem Theater selbst heraus immer wieder spielerisch erprobt und zugleich kritisch hinterfragt. Hinter den zahlreichen aktuellen Öffnungsstrategien und der Kritik man‐ gelnder Öffentlichkeit des Theaters stehen, so ist zu vermuten, widersprüchliche Verständnisse und Erfahrungen von Öffentlichkeit: Diskursiv wird stets auf das Ideal einer allgemeinen Öffentlichkeit abgehoben, die zu erreichen den Darstellenden Künsten in ihren institutionalisierten Formen immer weniger zugetraut wird; praktisch geschaffen werden jedoch immer wieder hochspezi‐ fische, des Elitären verdächtige Theateröffentlichkeiten, die nie als repräsentativ für das gesellschaftliche Ganze gelten können. Um das Verhältnis von diesen sozial geschlossenen Theateröffentlichkeiten zum Ideal der allgemeinen, unter‐ schiedslos geteilten Öffentlichkeit im ästhetischen wie sozialen Vollzug der Aufführung soll es in diesem Beitrag gehen. Gegenüber von Theater ‚angesto‐ ßenen‘ medialen Diskursen treten dabei für die Öffentlichkeit des Theaters die Dynamiken des Publikums wieder in den Vordergrund, insofern es diese mit in die Aufführung bringt und in seinen Aushandlungen reflexiv vorwegnimmt. Herausgearbeitet werden die zunächst theoretisch entwickelten Überle‐ gungen an zwei sehr spezifischen Kontrastfällen theatraler Öffentlichkeit, die sowohl durch ihre offensichtlichen Unterschiede als auch durch ihre Gemein‐ samkeiten auf den zweiten Blick instruktiv werden: Es ist zum einen die geradezu paradigmatische Theateröffentlichkeit der Bayreuther Festspiele, wie sie sich um die Wiederaufnahme der Tannhäuser-Inszenierung in der Regie von Tobias Kratzer 2023 formierte - hier zeigt sich eine aus der spätromantischen Ästhetik gewonnene Konzeption von Öffentlichkeit als ästhetischer Gemein‐ schaft in ihrer aktuellen Praxis. Die Bayreuther Theateröffentlichkeit wird Geschlossene Gesellschaft? 253 <?page no="254"?> 10 Vgl. Elfert 2009: 80-90. jedoch keinesfalls als absolutes Ideal, sondern als ein Spezialfall verstanden und mit einem weit weniger prominenten Kontext abgeglichen - dem studentisch organisierten Werkschaufestival Theatermaschine am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in seiner Ausgabe von 2023. Hier zeigt sich Theater nicht nur in der sehr spezifischen Öffentlichkeit des Sozialraums einer Hochschule, sondern in der Vorläufigkeit und Flüchtigkeit studentischer Experi‐ mente, die einen status nascendi sowohl der erprobten kuratorischen Strategien und künstlerischen Praktiken als auch der verantwortlichen künstlerischen Subjekte markieren. Die Provokation, die im Zusammenbringen dieser zwei Fallbeispiele liegt, ist bewusst angelegt und wirkt in beide Richtungen: Weder spielen die Bayreuther Festspiele in einer kulturhistorischen Liga mit dem Theatermaschine-Festival oder müssten dieses auch nur zur Kenntnis nehmen, noch will die Theaterma‐ schine so etwas wie die Bayreuther Festspiele sein. Allerdings fallen beide ins Spektrum der Organisationsform Theaterfestival, die in besonderer Weise imstande ist, sowohl Gemeinschaften als auch Öffentlichkeiten um Theater zu bilden - und wieder vergehen zu lassen. 10 Die Kontraste und Parallelen zwischen beiden Spezialfällen können so ästhetische wie soziale Dynamiken von Öffentlichkeit im Festivaldispositiv erhellen. Dabei stellen sie als komplexe ästhetisch-empirische Konstellationen auch methodische Herausforderungen, aus denen die hier angestrebte interdiszipli‐ näre Perspektive zu entwickeln ist - hierfür wurde die Erhebungsform eines Fokusgruppen-Interviews für jedes Fallbeispiel erprobt: Am Tag nach dem gemeinsamen Aufführungsbesuch in Bayreuth wurden vier Forschungs‐ kolleg: innen als Expert: innen unterschiedlicher Disziplinen interviewt, dar‐ unter sowohl Erstbesucher: innen der Festspiele mit nur allgemeinem Vorwissen als auch regelmäßige Besucher: innen mit einschlägiger Forschungsexpertise; gut vier Monate nach Ende der Theatermaschine 2023 wurde in Gießen eine Fokusgruppe aus fünf Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft versammelt, die teils dem Organisationsteam angehörten, teils selbst eine Thea‐ terarbeit gezeigt hatten, teils als Zuschauer: innen bei dem Festival waren. Offen nach ihrem Erleben des Festspielbzw. Festivalereignisses, ihrer Wahrnehmung des Publikums sowie Selbstwahrnehmung im Publikum befragt, kamen beide Fokusgruppen von sich aus bald auf die je eigenartigen Theateröffentlichkeiten zu sprechen und trugen wesentlich zu deren Beschreibung bei. Die Erfahrung mit dem Fokusgruppen-Interview als Methode und ihr Bezug zum thematischen Fokus der Öffentlichkeit werden in einem Exkurs reflektiert. 254 Benjamin Hoesch <?page no="255"?> 11 Habermas 1962: 14. Die (relative) soziale Schließung von Theateröffentlichkeiten erweist sich in den Fallbeispielen wie in der Methodik nicht als politischer Makel, sondern als Voraussetzung für ihr kommunikatives Funktionieren. Damit bleibt die Theateröffentlichkeit jedoch nicht selbstgenügsam: Gerade ihre ästhetische Reflexivität verhindert, dass sie sich mit einer idealen Öffentlichkeit verwech‐ selt, und weist über sich hinaus auf jene allgemeine, noch zu schaffende Öffentlichkeit, die bislang eben noch keinen Ort hat. Diese spekulativ referen‐ zielle Öffentlichkeitswirkung ist den Darstellenden Künsten eigen: Theater ist primär nicht Katalysator oder Verbreitungsmedium öffentlicher Diskurse, sondern ein ästhetisches Experiment von Öffentlichkeit, das daher nicht an seiner Reichweite zu messen, sondern in seiner reflexiven Tiefe zu erfassen ist. Für ein solches Verständnis von Theateröffentlichkeiten sind jedoch ästheti‐ sche Theorie und sozialwissenschaftliche Empirie zusammenzubringen. Denn erstere hat bislang Mechanismen der sozialen Schließung ästhetischer Gemein‐ schaften und damit auch des Ausschlusses von ästhetischer Erfahrung zu wenig berücksichtigt - in idealistischer Manier ist es hier das freie Subjekt, das sich sozial ungebunden und unterschiedslos an der Kunst bildet; die letztere Perspektive hat dagegen Theaterpublikum auf die Frage seiner sozialen Zusam‐ mensetzung reduziert und Dynamiken der ästhetischen Vergemeinschaftung sowie ihres reflexiven Über-sich-Hinausweisens ignoriert. So sind zunächst einmal die unterschiedlichen Begriffe von Öffentlichkeit aus sozialwissenschaft‐ licher und ästhetischer Perspektive darzustellen, ehe diese im Verständnis von Öffentlichkeit als Institution zusammengeführt werden. 2 Schließung und Switch: Sozialstruktur der Öffentlichkeit Die Idee der Öffentlichkeit steht in einem widersprüchlichen Verhältnis zu ihrer Struktur: Einerseits muss jede Strukturierung von Öffentlichkeit als deren Einschränkung, Relativierung und damit Negation gelten. Insbesondere die allgemeine, d. h. durch keine Struktur beschränkte oder bedingte Zugänglichkeit bleibt Grundvoraussetzung: „Die bürgerliche Öffentlichkeit steht und fällt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs. Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit.“ 11 Dabei ist Öffentlichkeit aber zugleich auf Strukturen angewiesen, die diese allgemeine Zugänglichkeit sichern oder überhaupt erst denkbar machen. Geschlossene Gesellschaft? 255 <?page no="256"?> 12 Vgl. Habermas 1962: 42-75. 13 Habermas 1962: 74 (Herv. i. Orig.). 14 Vgl. Habermas 1962: 101-111. 15 Habermas 1962: 53. 16 Habermas 1962: 107. 17 Habermas 1962: 108. Historisch lassen sich Sozialstrukturen benennen, von denen das Auf‐ kommen bürgerlicher Öffentlichkeit als Idee und Realität abhing: freier Wa‐ renverkehr im expandierenden Kapitalismus, die Trennung von öffentlichen und privaten Räumen in der bürgerlichen Kleinfamilie sowie Privateigentum. 12 Der Anspruch einer Strukturlosigkeit gehört so zu der Illusion bürgerlicher Öffentlichkeit, „als Menschen schlechthin“ 13 politische Geltung ohne Herrschaft zu erlangen. 14 Der Zugang zu der auf dieser Basis entfalteten Öffentlichkeit blieb dann aber auch immer nur einem Teil der Gesellschaftsmitglieder vorbehalten. Das daraus erwachsende Legitimationsproblem löst die bürgerliche Öffentlich‐ keit mit ihrem Potenzial zur Öffnung: „So exklusiv jeweils das Publikum sein mochte, es konnte sich niemals ganz abriegeln und zur Clique verfestigen; denn stets schon verstand und befand es sich inmitten eines größeren Publikums all der Privatleute, die als Leser, Hörer und Zuschauer, Besitz und Bildung vorausgesetzt, über den Markt der Diskussionsgegenstände sich bemächtigen konnten.“ 15 Das jeweils versammelte Publikum „antizipiert in seinen Erwä‐ gungen die Zugehörigkeit prinzipiell aller Menschen“ 16 . Das Zugangsprinzip zur Öffentlichkeit zielt demnach immer auf eine künftige Allgemeinheit durch Gleichheit der Ausgangsbedingungen ab - „Öffentlichkeit ist dann garantiert, wenn die ökonomischen und sozialen Bedingungen jedermann gleiche Chancen einräumen, die Zulassungskriterien zu erfüllen: eben die Qualifikationen der Privatautonomie, die den gebildeten und besitzenden Mann ausmachen, zu erwerben.“ 17 Dieses Zugangsprofil macht jedoch schon deutlich, wie sehr soziale Homo‐ genität zur Voraussetzung bürgerlicher Öffentlichkeit wird. Ihr Gleichheits‐ versprechen verdeckt dabei weitreichende soziale Ausschlüsse in Bezug auf Geschlecht, Klasse, Kapital, Bildung, Sprache und Umgangsformen - die diese Öffentlichkeit und ihr diskursives Funktionieren gegen Störungen absichern. Die Sozialstruktur mit ihren bestehenden (Un-)Gleichheiten zwischen Gesell‐ schaftsmitgliedern muss so geradezu als notwendige Infrastruktur einer Öffent‐ lichkeit gelten; nicht allgemeine Offenheit, sondern soziale Schließung wäre dann ihr Grundprinzip. Demgegenüber bietet gerade der Prozess eines Strukturwandels Chancen für soziale Öffnung und damit eine allgemeinere Öffentlichkeit, weil sich 256 Benjamin Hoesch <?page no="257"?> 18 Habermas 1962: 210. 19 Baecker 2013: 80 (Herv. i. Orig.). 20 Vgl. Balme 2014: 17. Zugangsbedingungen und Ausschlusskriterien verschieben. Strukturwandel gilt leicht als Verfall von Öffentlichkeit, weil er die Struktur sichtbar macht, die sie immer schon hatte: Die mediatisierte Erweiterung der Öffentlichkeit in die Massenkultur ist für Habermas deshalb kein Gewinn, sondern ihr Ende, er sieht „das Publikum in Minderheiten von nicht-öffentlich räsonierenden Spezialisten und in die große Masse von öffentlich rezipierenden Konsumenten gespalten […]. Damit hat es überhaupt die spezifische Kommunikationsform eines Publikums eingebüßt.“ 18 Mit ihrer Heterogenisierung zerbricht die Öffent‐ lichkeit als einheitliche Sphäre. Doch gerade das Fraglichwerden des Publikums (im Singular) eröffnet Freiheiten für die Wahl des Zugangs und Austritts aus Teilöffentlichkeiten. Der systemtheoretischen Perspektive Dirk Baeckers stellt sich das Öffentliche angesichts der Fragmentierung des Sozialen nurmehr als „Leerstelle“ dar, die „den Switch zwischen den Kontexten“ verschiedenster halb-öffentlicher, halb-privater Räume garantiert: „Nur der Switch befreit, wenn auch nur zum nächsten Kontext.“ 19 Die Frage nach Zugang und Teilhabe an der einen Öffentlichkeit wird damit abgelöst durch jene nach der Freiheit, sich in einer immer komplexeren Sozialstruktur zwischen Teilöffentlichkeiten bewegen zu können. Dabei scheint in den vielen mehr oder weniger abgeschlossenen Öffentlich‐ keiten der Bezug auf das Ideal der einen Öffentlichkeit nach wie vor unabdingbar. Teilöffentlichkeiten müssen tunlichst vermeiden, ihre Sozialstruktur und damit Abgeschlossenheit zum Thema werden zu lassen, um nicht als private Echo‐ kammern entlarvt zu werden. Genau diese Delegitimierung vollzieht Balme gegenüber dem Theater, wenn er die Verschiebung seiner räumlichen und medialen Grundkonstitution zum Privatraum beschreibt. 20 Dabei eignet der Theateröffentlichkeit gerade als zugleich ästhetischer und sozialer Öffentlich‐ keit die Möglichkeit, die eigene Strukturiertheit und Begrenztheit spielerisch bewusst zu machen und über diese hinauszuweisen. 3 Ästhetische Öffentlichkeit: Gemeinschaft und Gemeinsinn Die ästhetische Theorie hat bislang kaum einen eigenen Begriff von Öffentlich‐ keit geprägt, auch wenn sie diese für die Konstitution von Kunstwerken und ihre Wirkung meist stillschweigend voraussetzt. Wohl aber hat sie dabei ein Verständnis von Gemeinschaft entworfen, das auch ein spezifisches Bild von Öffentlichkeit ergibt. Zwar ist es zunächst einmal das einzelne Subjekt, das Geschlossene Gesellschaft? 257 <?page no="258"?> 21 Arendt 1985: 97. 22 Vgl. Menke 2013: 11-14. 23 Menke 2013: 70. 24 Menke 2013: 80f. 25 Menke 2013: 14. in der ästhetischen Erfahrung den Grenzen seiner Vernunft begegnet, das sinn‐ liche Erkenntnisvermögen seiner Einbildungskraft erprobt und damit seiner Freiheit gewahr wird. Es kann dies, weil die Kunst in ihrer Wahrnehmung ein zweckfreies Urteil herausfordert, sich aber ihrer Bestimmung und Einordnung immer wieder entzieht und das Subjekt in seinem freien Spiel reflexiv auf sich selbst zurückwirft. Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit der Kunst kein individuell isolierter, gar solipsistischer Reflexionsprozess. Wie Hannah Arendt im Anschluss an Kants Idee des Gemeinsinns herausstellt, ist Urteilen nie nur eine private Angelegenheit, sondern hebt auf seinen gesellschaftlichen Zusam‐ menhang ab: „Wenn man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft.“ 21 Das subjektive Urteil erfährt sich in der Kunst - und wohl nirgends so deutlich wie im Theaterpublikum - als sozial eingebunden. Fraglich bleibt aber, ob und wie es sich mit dem Urteil der Gemeinschaft in Übereinstimmung bringen kann, wenn doch das zu Beurteilende jede Bestimmung verweigert. Dieses Paradox des Ästhetischen hat Christoph Menke auf den Punkt ge‐ bracht: Er sieht in der Kunst immer zugleich die Ausübung einer sozialen Praxis und das Spiel einer das Soziale sprengenden ästhetischen Kraft am Werk. 22 Die Reibung zwischen diesen widerstreitenden Dimensionen der Kunst kommt auch im Urteilen, auf das ihre Wahrnehmung drängt, zum Tragen - die soziale Praxis des kennerhaft begründeten Urteilens über Gelingen und Misslingen trifft auf die ästhetische Kraft der Ansteckung, der Begeisterung oder Irritation, die keine Gründe gelten lässt und sich dem Abschluss eines Urteils widersetzt: „Ästhetisch zu urteilen heißt, jedes Urteil als zugleich dringlich und vorschnell zu erfahren.“ 23 Hieraus erklärt sich dann auch die Intensität und Ziellosigkeit der Kommuni‐ kation, die eine Gemeinschaft um die Kunst entstehen lässt. Für Menke ist dies eine Gemeinschaft ganz eigener Qualität: „Wir stimmen in dem überein, was wir urteilend behaupten, oder doch in der gemeinsamen Suche nach einem solchen Gehalt, der dem Für und Wider der unterschiedlichen Aspekte und Argumente standzuhalten vermag. […] Die ästhetische Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft jenseits von Konsens und Dissens[.]“ 24 So kann sie die von Habermas beklagte Spaltung des Publikums aushalten, weil ästhetisches Urteilen immer schon zwischen subjektivem Erleben und öffentlichem Räsonnement gespalten ist, die in ihm gleichberechtigt sind. Erfahrbar wird in der Kunst damit „die Freiheit vom Sozialen im Sozialen“ 25 . 258 Benjamin Hoesch <?page no="259"?> 26 Wihstutz 2016: 591. 27 Vgl. Balme 2014: 46. 28 Wihstutz 2016: 596. Doch wie wird diese Gemeinschaft nun öffentlich? Benjamin Wihstutz bezieht das ästhetische Urteilen auf das Zuschauen im Theater und erkennt in seiner Kommunikation „ein öffentlichkeits- und gemeinschaftsstiftendes Moment, welches gerade nicht ein anwesendes Publikum, sondern einen öf‐ fentlichen Raum betrifft, der idealiter jede und jeden einschließt.“ 26 Gemein‐ schaft stiftet Theater für sein anwesendes Publikum, Öffentlichkeit entsteht erst, indem die Aushandlung der Urteile über dieses hinausweist. Wie Balme verortet Wihstutz die Öffentlichkeit des Theaters jenseits der anwesenden Zuschauer: innen. Allerdings ist für ihn nicht die empirisch nachweisbare Rezeption eines medialen Publikums entscheidend - das die architektonischen Grenzen des Theaterraums nur graduell innerhalb sozialer und kultureller Grenzen erweitert -, sondern Öffentlichkeit als referenzielles und reflexives Prinzip: Zuschauen im Theater realisiert sich so, als ob es im Sinne aller - Anwesenden und Abwesenden - urteilte, die Aushandlung der Urteile im Publikum erprobt eine Öffentlichkeit, die sich als grenzenlos imaginiert. Die ästhetische Eigengesetzlichkeit dieser Öffentlichkeit isoliert sie keineswegs von der gesellschaftlichen Wirklichkeit - wie Balme unterstellt 27 -, sondern ist unverzichtbare Voraussetzung des Öffentlich-Werdens von Theater: Gerade weil das einzelne (ästhetische) Urteil auf die Zustimmung anderer hofft, betrifft der Gemeinsinn stets mehr als eine Frage des Geschmacks, sondern immer auch die implizite Frage, welche Normen und Werte wir teilen und in welcher Art Gesellschaft wir leben wollen. Der Gemeinsinn ist es, der dem Urteilen selbst und der Frage der Beurteilbarkeit eine Öffentlichkeit verschafft. 28 Aus ästhetischer Sicht entsteht die Öffentlichkeit des Theaters also nicht erst aus einem medialen Echo jenseits des Publikums, sondern stellt sich dar als Sphäre der Verbindung zwischen den Anwesenden und Abwesenden und zugleich des Übergangs zwischen ästhetischer und sozialer Gemeinschaft - ohne jemals ganz bei letzterer anzukommen. In beiderlei Hinsicht eignet der Theateröffent‐ lichkeit offensichtlich ein besonderes reflexives Potenzial: Über das empirisch fassbare Publikum als Gemeinschaft hinauszuweisen auf die Möglichkeit einer unbegrenzten und allen zugänglichen Öffentlichkeit und damit auf eine andere Gesellschaft jenseits der sozial manifesten Strukturierung und Ungleichheit. Die Öffentlichkeit, für die Theater selbst einstehen kann, liegt indessen weniger in seiner sozialen Praxis oder ästhetischen Kraft als in seiner Institution. Geschlossene Gesellschaft? 259 <?page no="260"?> 29 Vgl. Hoesch 2020. 30 Menke 2013: 104. 31 Vgl. Habermas 1962: 53. 4 Institution der Öffentlichkeit der Institution Wie eingangs zitiert, versteht Habermas Öffentlichkeit weder als einen me‐ dienempirischen Sachverhalt noch als einen metaphysischen Wert, sondern als Idee, die Institution wurde. Sie gehört damit zu den basalen Regelerwar‐ tungen moderner Gesellschaften, auch wenn sie keinen bestimmbaren Ort und keine konkrete Gestalt hat und stattdessen unterschiedlichste gesellschaftliche Räume, Situationen und Einrichtungen durchdringt. Öffentlichkeit ist eine Art Supra-Institution derjenigen Institutionen, in denen sie als Prinzip verankert ist: etwa das Recht, die Politik, die Schule - oder das Theater. Dass Öffentlichkeit als Institution wirkt und zugleich auf zahlreichen öffent‐ lichen Institutionen ruht, relativiert die Schließung von Teilöffentlichkeiten. Denn Institutionen können Verbindung und Verbindlichkeit zwischen völlig unterschiedlichen Gesellschaftsmitgliedern stiften, wenn diese in ihren Gel‐ tungsbereich geraten. Als Institution ist Öffentlichkeit so zu einer wesentlich höheren sozialen Heterogenität fähig denn als rein medientechnischer Kommu‐ nikationszusammenhang. Gerade am Theater lässt sich regelmäßig beobachten, wie die normative Erwartung der Institution mit ihren konkreten Organisationen in produktive Reibung gerät 29 - und damit auch das Prinzip der allgemeinen Öffentlichkeit mit der jeweils mehr oder weniger geschlossenen Theateröffentlichkeit. Das Resultat dieser Reibung sind im Kleinen kreative Praktiken der Öffnung und Erweiterung der Theateröffentlichkeit, im Großen - bei tiefergreifenden ge‐ sellschaftlichen Transformationsdynamiken und anhaltenden Unstimmigkeiten mit der Organisation - ein Wandel des Theaters als Institution. Institutioneller Wandel der Darstellenden Künste und Strukturwandel der Theateröffentlichkeit bedingen einander, schieben sich gegenseitig an oder fangen sich auf. Dem Ästhetischen kommt in dieser Spannung wiederum eine entscheidende Rolle zu - und zwar aus seinem paradoxen Verhältnis zur Institution, wie Menke darlegt: „Die Institution determiniert, und das heißt: sie entästhetisiert die Kunst; sie beraubt sie der ästhetischen Freiheit.“ 30 Die Institution, die der Kunst ihre Öffentlichkeit sichert, bannt zugleich ihre ästhetische Kraft: Für Habermas mussten Kunstwerke erst zur Ware werden, um allgemein zugänglich zu werden, dabei aber ihre Aura verlieren. 31 Doch eben um öffentlich wirksam sein zu können und sich nicht in ein form- und folgenloses Spiel zu verlieren, ist das ästhetische Experiment der Kunst zugleich 260 Benjamin Hoesch <?page no="261"?> 32 Menke 2014: 105. 33 Menke 2014: 105 (Herv. i. Orig.). 34 Menke 2014: 64. 35 Habermas 1962: 53. 36 Menke 2014: 105. 37 Menke 2014: 103. Menke greift diese Formulierung aus einem Nietzsche-Fragment über Wagner auf. 38 Nietzsche 1988: 432. 39 Nietzsche 1988: 475 (Herv. i. Orig.). 40 Nietzsche 1988: 503. 41 Nietzsche 1988: 464. auf die Institutionen angewiesen: „Das Experiment braucht die Institutionen der Präsentation und der Ausbildung, in denen die Kunst diejenige Bestimmtheit gewinnt, die es erst erlaubt, in Differenz zum ästhetischen Zustand zu stehen.“ 32 Je eine Institution der Präsentation und der Ausbildung soll daher im Folgenden mit ihrer jeweiligen Theateröffentlichkeit im Fokus stehen. Dabei „sind diese nur darin Institutionen der Kunst, daß sie zu ermöglichen versuchen, was sie ihrem Wesen nach nicht sein können und wollen: die Entfaltung des ästhetischen Zustands der Freiheit.“ 33 In ihren Öffentlichkeiten verbindet sich die ästhetische „Unmöglichkeit, mit dem Urteilen zu Ende zu kommen“ 34 , mit der „prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Publikums“ 35 . 5 Bayreuther Festspiele: Säkularisierte Pilgerstätte und heilige Eventbude Als Beispiel für eine Institution der Kunst und damit „die Realisierung eines Paradoxes“ 36 führt Menke die Bayreuther Festspiele an, die „der Kunst eine Stätte in dieser Welt […] bereiten“ 37 und damit ästhetische Kraft sozial produktiv machen. Doch welche Öffentlichkeit entfaltet diese Institution? Die Bayreuther Festspiele erfahren seit jeher enorme journalistische, kultur‐ kritische sowie theater-, musik- und geschichtswissenschaftliche Beachtung, die sie als Realisierung des ästhetischen Programms Richard Wagners in den Blick nimmt. Schon anlässlich der Gründung 1876 war Friedrich Nietzsche - in der kurzen Phase seiner Wagner-Begeisterung - der Meinung: „In Bayreuth ist auch der Zuschauer anschauenswerth, es ist kein Zweifel.“ 38 Die Festspiele zielten demnach auf nicht weniger als „das dichtende Volk“ 39 als ein noch zu schaffendes, mitschöpferisches Publikum. Wagners Kunst, so Nietzsche, „redet nicht mehr die Sprache der Bildung einer Kaste, und kennt überhaupt den Gegensatz von Gebildeten und Ungebildeten nicht mehr“ 40 . Dass die ersten realisierten Festspiele dagegen „ein Ereigniss für ein paar einsame Seelen bliebe[n]“ 41 , ist für Geschlossene Gesellschaft? 261 <?page no="262"?> 42 Nietzsche 1988: 449. 43 Nietzsche 1988: 505 (Herv. i. Orig.). 44 Elfert 2009: 61. 45 Drewes 2010: 183. 46 Vgl. Vomberg 2018. 47 Gebhardt/ Zingerle 1998: 22. 48 Vgl. Gebhardt/ Zingerle 1998: 103-105. Nietzsche kein Gegenbeleg; die auf rasche Institutionalisierung angelegte Neu‐ gründung sammelt zunächst diejenigen, „denen die bisherigen Einrichtungen nicht genügen“, als „vorbereitete und geweihte Zuschauer“ 42 und hebt in ihrer Wirkung eigentlich vorausweisend auf die „Menschen der Zukunft“ 43 ab. Das eng begrenzte Publikum nimmt demnach über die Theateröffentlichkeit der Festspiele eine zukünftig allgemeine Teilhabe des ‚Volkes‘ vorweg. Neuere thea‐ terwissenschaftliche Studien zur ästhetischen Vergemeinschaftung im Fest oder im Festival kritisieren dagegen die Verschiebung in Wagners Festspielidee von einem zunächst „kulturdemokratischen Ansatz“ 44 allgemeiner Öffentlichkeit auf wenige Eingeweihte, die „die gemeinschaftsbildende Kraft des Ästhetischen“ auf die „Utopie einer absoluten Einheit des Volkes“ verenge - „als Gemeinschaft, zu der nur bestimmte Individuen Zutritt haben.“ 45 Die Intensität der ästhetischen Vergemeinschaftung scheint in Bayreuth so schon programmatisch direkt von der sozialen Exklusivität des Publikums abzuhängen. Die sozialwissenschaftliche Forschung zur tatsächlichen Rezeption und Wir‐ kung der Festspiele ist demgegenüber bislang spärlich und wirft lediglich Schlaglichter auf eine äußerst komplexe und weitreichende Theateröffentlich‐ keit, die sich von der Festspielbühne auf dem Grünen Hügel bis in die Vereins‐ strukturen von Wagnerianern in Japan, den USA oder Neuseeland erstreckt. 46 Die letzte umfassende Publikumsstudie zu den Bayreuther Festspielen, die widersprüchliche programmatische Vorstellungen und Vorurteile an ihrer em‐ pirischen Realität überprüfen könnte, datiert aus dem Jahr 1998: Winfried Gebhardt und Arnold Zingerle dokumentieren darin anhand von Umfragen, Beobachtungssequenzen und Interviews eine spezifische Bayreuther „Wagner- Szene“ 47 , die sich durch hohen musikästhetischen und kulturhistorischen Kennt‐ nisstand, intellektuelle Vorbereitung, emotionale Hingabe und volle Konzentra‐ tion auf die Kunst sowie eine rege Debattenkultur von den Publika anderer Festspielorte abhebt. 25 Jahre später bestätigen sich der Fokusgruppe diese Charakteristika bei der Publikumsbeobachtung und mitgehörten Pausengesprä‐ chen mit wenigen qualitativen Verschiebungen: Deutlich zurückgegangen sind offenbar die Akte kultischer Verehrung 48 - etwa rund um das Wagner-Denkmal Arno Brekers, das seit 2012 von der kritischen Dauerausstellung Verstummte 262 Benjamin Hoesch <?page no="263"?> 49 Gebhardt/ Zingerle 1998: 155. 50 Gebhardt/ Zingerle 1998: 247. 51 Gebhardt/ Zingerle 1998: 249. 52 Vgl. Vomberg 2018: 26ff. 53 Baecker 2013: 84f. 54 Balme 2014: 12. 55 Vgl. Balme 2014: 45. Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die Juden 1876-1945 gerahmt wird; zudem scheinen früher beobachtbare Praktiken ästhetisierter Innerlichkeit - wie das Studieren von Textbüchern und Partituren in den Pausen - den schon damals dominierenden Formen „bürgerlicher Geselligkeit“ 49 weitgehend gewichen zu sein. Damit hat sich die für Gebhardt und Zingerle angedeutete „Sä‐ kularisierung“ 50 der Bayreuther Festspiele von der kunstreligiösen Pilgerstätte zum spätbürgerlichen Kulturevent mit einem „Häppchen Weltanschauung“ 51 offenbar fortgesetzt. Dieser schleichende Wandel mag verstärkt worden sein durch veränderte Voraussetzungen des Zugangs: Seit einer Reform der Kartenvergabe 2012 - auf eine Rüge des Bundesrechnungshofs hin - sind weit mehr Karten im freien Ver‐ kauf; 52 betrug früher die Wartezeit für Kartenanfragen bis zu zehn Jahre, wäh‐ rend weitreichende Kontingente in die Wagner-Vereine und Sponsorennetzwerke abflossen, sind mittlerweile oft noch an der Abendkasse Karten zu haben und bleiben Plätze im Festspielhaus bisweilen sogar leer. Der darüber regelmäßig beklagte Verlust an Aura bedeutet tatsächlich einen Gewinn an Öffentlichkeit: Denn erst seit bei den Bayreuther Festspielen „das Publikum noch nicht definiert ist, sondern erst gefunden werden muss, und die Akteure deswegen noch zwischen ihren Rollen schwanken können“, lässt sich mit Baecker überhaupt von einem Öffentlichen „in diesem präzisen Sinn der Ap‐ präsentation der Möglichkeiten der Gesellschaft“ 53 sprechen. Tatsächlich bietet das säkularisierte Bayreuth in der Einschätzung der Fokusgruppe geradezu Ide‐ albedingungen für eine Habermas’sche Theateröffentlichkeit: Kenntnisreiche Besucher: innen, die sich im Privaten vorbereiten und in Vereinen organisieren, um zum Publikum zusammenzukommen und in hohem Engagement über die Aufführungen zu räsonieren, begleitet von ausführlicher Berichterstattung bis in die internationale Presse und mit Widerhall in einer globalen Community von Wagner-Begeisterten - zur rationalen Debatte treten zudem auch noch die von Balme ergänzten „modes of engagement“ 54 der „agonistic passions“ und „ludic critique“ 55 . Voraussetzung für eine solche Theateröffentlichkeit ist aber nicht nur die programmatische Beschränkung der Festspiele allein auf das Musiktheaterwerk Geschlossene Gesellschaft? 263 <?page no="264"?> 56 Vgl. Gebhardt/ Zingerle 1998: 51-76. 57 Gebhardt/ Zingerle 1998: 87. 58 Vgl. Gebhardt/ Zingerle 1998: 219-236. 59 Vgl. Gebhardt/ Zingerle 1998: 79ff. 60 Vgl. Gebhardt/ Zingerle 1998: 80. 61 Vgl. Hoesch 2021. 62 Vgl. Vomberg 2018: 28. Richard Wagners. Die bürgerlichen Idealbedingungen sind buchstäblich erkauft durch einen exklusiven Elitarismus, wie er sich in Bayreuth von Beginn an durch alle Epochen der Publikumsformierung zieht 56 und bis in die Gegenwart die Zusammensetzung prägt: „Die Bayreuther Festspiele sind immer noch die Festspiele des gehobenen Bürgertums […,] der etablierten, besserverdienenden Akademiker.“ 57 Auch wenn sich das Publikum in seinen Wertvorstellungen, Lebensstilen und ästhetischen Standards ausdifferenziert und sich nach der Typologie Gebhardts und Zingerles nicht nur in die verschwindenden Alt- und dominierenden Neu-Wagnerianer sowie eine Wagner-Avantgarde auffächert, sondern zudem in Gruppen wie Kultursnobs, New-Age-Alternative und Fun- Kids, 58 bleibt es nach sozioökonomischen Merkmalen äußerst homogen. Auch nach der weiteren Säkularisierung und veränderten Kartenvergabe geben die teilnehmende Beobachtung des äußeren Erscheinungsbilds und Auftretens sowie die Karten- und Verpflegungspreise vor Ort der Fokusgruppe keinen Grund, an der geschlossenen Zusammensetzung in dieser Hinsicht zu zweifeln. Zwei weitere Ausschlüsse sollen aus der Feldbeobachtung noch hervorge‐ hoben werden: So fehlten im Publikum der besuchten Aufführung beinahe vollständig Menschen, die als nicht-weiß zu lesen wären - dieses soziale Zerrbild wird in der ästhetischen Reflexion noch von Bedeutung sein. Darüber hinaus machte sich die schon lange problematisierte Überalterung des Publikums 59 in einem verschwindend geringen Anteil junger Menschen (mit Ausnahme des studentischen Einlasspersonals) bemerkbar. Hier deutet sich womöglich eine weitere Verdrängung an: Der Anteil von Zuschauer: innen unter 45 Jahren lag dem Augenschein nach weit unter dem Drittel, das für sie in früheren Publikumsstudien 60 über Jahrzehnte konstant gemessen wurde. Dieser Rück‐ gang ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil in Bayreuth schon seit 1882 die Richard-Wagner-Stipendienstiftung mit beträchtlichem Spendenauf‐ kommen nachwuchs- und auch publikumsfördernd tätig ist. Die Kontingente für jährlich bis zu 250 angehende Musiker: innen und Theaterschaffende im Stipendienprogramm blieben aufgrund der übergeordneten kulturpolitischen Bedeutung künstlerischer Nachwuchsförderung 61 von der Reform der Karten‐ vergabe unangetastet, 62 doch werden in den letzten Jahren bei Weitem nicht 264 Benjamin Hoesch <?page no="265"?> 63 Das Stipendiatenarchiv auf der Website der Richard-Wagner-Stipendienstiftung listet für 2023 lediglich 215 Namen - und das, obwohl nach dem pandemiebedingten Ausfall der Festspiele 2020 auch 2021 nur 57 Stipendien vergeben worden waren und das Stipendienprogramm 2022 ruhte. Damit beschleunigt sich die seit 2010 zu konstatie‐ rende Abnahme an Stipendiat: innen (vgl. Richard-Wagner-Stipendienstiftung 2023). Der Rückgang fällt zwar im Verhältnis zum Gesamtaufkommen an Besucher: innen kaum ins Gewicht, ist aber deutlicher Indikator für einen Interessensverlust im jüngeren Alterssegment. ausgeschöpft. 63 Mit der schwindenden Präsenz von Nachwuchskünstler: innen und jüngerem Publikum wird auch der Anspruch der Festspiele als zentraler Ort künstlerischer Bildung und Ausbildung fraglich - und damit der Bezug ihrer Theateröffentlichkeit nicht allein auf die Geschichte und Gegenwart des Musiktheaters, sondern auf eine ästhetische und gesellschaftliche Zukunft. 6 Theatermaschine: Initiation in die Fiktion von Öffentlichkeit Die Theateröffentlichkeit des Festivals Theatermaschine in Gießen ist auf den ersten Blick derjenigen Bayreuths komplementär entgegengesetzt: Von Studierenden des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft selbst organi‐ siert, dient das Festival als Werkschau für ihre freien Projekte, Arbeitsstände und Experimente, die ohne kuratorische Auswahl in das dichte mehrtägige Programm aufgenommen werden. Die Studierendenschaft bildet somit zugleich die Organisation, die künstlerische Produktion und das Publikum füreinander - darin finden sich zudem das Lehrpersonal des Instituts, Freunde und vereinzelte Studierende anderer Hochschulen sowie Studieninteressierte. Es fällt damit nicht schwer, die Festivalgemeinschaft in einem weitgehend geschlossenen Kreis um das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft zu verorten, womit dessen Sozialstruktur übertragbar ist: Der Hauptteil des Publikums und aller Beteiligten entspricht in seiner sozialen Zusammensetzung derjenigen der Studierendenschaft und ist zwischen 20 und 30 Jahren alt. Die Diversität in Bezug auf Gender, race und Migration hat in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen - wobei auch darin längst kein gesamtgesellschaftlicher Querschnitt erreicht ist. Nach wie vor exkludierend dürften aber auch hier sozio‐ ökonomische Faktoren wirken - und zwar innerhalb der Bildungsungleichheit des Hochschulsystems in spezifischer Form: Das Risiko eines künstlerischen Studiengangs mit undefiniertem Berufsziel auf sich nehmen zu können und dazu dessen Eignungsprüfung zu bestehen, hängt von kultureller, sozialer und auch ökonomischer Kapitalausstattung ab. Geschlossene Gesellschaft? 265 <?page no="266"?> 64 Vgl. Elfert 2009: 136-140. 65 Justus-Liebig-Universität Gießen 2023. Trotz dieser institutionellen Schließung hebt die Theatermaschine als all‐ jährliches Festival - im Unterschied zu institutsinternen Veranstaltungen wie Projekt- oder Abschlusspräsentationen - unübersehbar auf eine Öffentlichkeit ab: Eingeladen wird auf einer eigenen Website, über Mailverteiler und Plakate; das Programm bespielt Bühnen und wechselnde Orte in ganz Gießen; ein Festi‐ valzentrum - 2023 am zentralen Platz vor dem neuen Theaterlabor des Instituts - bietet Information, Ruheplätze und Verpflegung; von hier sendet auch ein eigenes Online-Radioprogramm. Die allgemeine Tendenz zur Diskursivierung von Theaterfestivals 64 ist also besonders ausgeprägt - Formate, die anderswo als Vermittlungsmaßnahmen für das eigentliche Programm gelten, rücken hier in den Mittelpunkt. Erklärtes Ziel laut Website: „Damit wollen wir einen Raum für Vernetzung und Diskussionen schaffen.“ 65 Die Spannung zwischen der sozial geschlossenen Zusammensetzung und dem Öffentlichkeitsanspruch wird für die Studierenden der Fokusgruppe des‐ halb nicht zum Widerspruch, weil sie auch die institutsinterne Gemeinschaft von Kommiliton: innen und Lehrenden schon als Öffentlichkeit wahrnehmen: Zur Theatermaschine treten die künstlerischen Arbeiten aus dem geschlossenen Proberaum vor ein Publikum und mit ihnen auch viele Studierende erstmals auf eine Bühne vor ihren peers. Daraus resultiert der Fokusgruppe zufolge einerseits die Probenenergie für Projekte, die sonst mangels Aufführungsperspektive im Sand verlaufen würden, andererseits der Druck zur möglichst überzeugenden Performance - ästhetisch wie sozial. Eine zentrale Funktion der Theatermaschine liegt offenbar in solchen Initi‐ ationserlebnissen, mit denen Studierende erstmals Anerkennung für ihre - nicht nur künstlerische - Arbeit erfahren: Die Verantwortung für das Festival liegt seit vielen Jahren ausgerechnet bei den Studierenden des ersten Jahrgangs - eine Unterscheidung, die sonst im Studiengang kaum eine Rolle spielt -, womit diese in den Worten der Fokusgruppe ihre organisatorische, technische und ästhetische „Feuertaufe“ durchlaufen und in ihrem alltäglichen Umfeld endgültig „ankommen“. Neben der Erfüllung infrastruktureller Leistungen für ihre Kommiliton: innen, die außer der Programmplanung und dem technischen Support etwa auch Verpflegung und Partyorganisation umfassen, ist diesen Orga-Teams dann auch der eigene Akzent für die verantwortete Festivalausgabe besonders wichtig - in einem außergewöhnlichen Ort für das Festivalzentrum, im selbstgestalteten Corporate Design oder in der Wahl eines Festivalmottos. Dieses markiert in den vergangenen Jahren meist eine Selbstbefragung der 266 Benjamin Hoesch <?page no="267"?> 66 Justus-Liebig-Universität Gießen 2023. Institutsgemeinschaft, lautete 2023 etwa „Kann Spuren von _ enthalten“: „Ge‐ meinsam gehen wir auf Spurensuche und finden heraus, was die Inhaltsstoffe der Angewandten Theaterwissenschaft sind, welche Spuren sie enthalten kann, und welche sie enthält.“ Diese selbstreflexive Ausrichtung des Festivaldiskurses geht für die Organisator: innen jedoch nicht zulasten des Öffentlichkeitsprinzips, in der Stadt und darüber hinaus: „Kommt nach Gießen, hinterlasst eure Spuren und diskutiert mit uns, lacht mit uns, erlebt mit uns, feiert mit uns und vernetzt euch mit uns.“ 66 Die Theatermaschine ist also trotz ihrer sozialen Geschlossenheit, in der sich fast alle persönlich kennen, in vielerlei Hinsicht auf die Fiktion ihrer allgemeinen Öffentlichkeit angewiesen. Dies zeigte sich im gesichteten Festivalprogramm in einem Moment, als diese Fiktion gebrochen wurde: Eine Performerin reflektierte in souveräner Selbstironie auf der Bühne über ihren sozialen Status in der Studierendenschaft, mitsamt einer Spitze auf eine namentlich genannte Kom‐ militonin. Die Wirkung war ein hörbares Schockatmen, das sich dann in Lachen entlud - die Studierende hatte den Rahmen des Ästhetischen genutzt, um of‐ fenbar gleich zwei unausgesprochene Sozialverträge der Institutsgemeinschaft zu verletzen und damit als Fiktion sichtbar zu machen: die Annahme einer sozial unstrukturierten Gleichheit in der Studierendenschaft sowie die Adressierung einer Öffentlichkeit jenseits des Instituts durch seine künstlerische Praxis. Damit war die Öffentlichkeit der Theatermaschine als soziale bubble enttarnt - die sich diese Offenlegung sogleich als komischen Effekt anzueignen verstand. Hieran zeigt sich, wie erst die ästhetische Reflexion die soziale Selbstbefragung der Festivalgemeinschaft initiiert: Die meisten Produktionsteams stellen sich am Folgetag ihrer Aufführungen einem ausführlichen Kritikgespräch, in dem widerstreitende Urteile ausgetauscht werden und mit den künstlerischen Bei‐ trägen über diese hinaus gedacht werden kann. Die studentische Festivalöffentlichkeit der Theatermaschine entfaltet sich weit unter dem Radar der Feuilletons und des Theaterbetriebs - ganz anders als die der Bayreuther Festspiele. Im Vergleich zeichnet sich die Gießener Theateröffentlichkeit jedoch durch eine größere Vielfalt und Unvorhersehbar‐ keit der künstlerischen Formate, Stile, Themen und ästhetischen Wirkungen aus. Geprägt ist sie durch ein auch künstlerisch aktives Publikum, für dessen sozialen Alltag die ästhetische Vergemeinschaftung des Festivals noch deutlich mehr Konsequenzen hat. Während beide Publika die Bereitschaft zu Auseinan‐ dersetzung und Verausgabung teilen, verläuft das Räsonnement in Bayreuth unilinear vom Werk Wagners und der interpretierenden Bühne zum kritisch Geschlossene Gesellschaft? 267 <?page no="268"?> 67 3sat. Bayreuther Festspiele 2019. Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg von Richard Wagner. Erstausstrahlung: 27.07.2019. 68 Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 174. 69 Vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 172-176. 70 Eine Ausnahme stellt Sebastian Stauss’ Beitrag zu diesem Band dar. urteilenden Publikum und seinen Medien, in Gießen stärker multidirektional zwischen Kritik auf und an verschiedenen ästhetischen und sozialen Bühnen. Studierende mit Identitäten, die der Bayreuther Theateröffentlichkeit fehlen, haben sich in der Theatermaschine einen eigenen öffentlichen Raum geschaffen, der prinzipiell zugänglich, aber reflexiv mit sich selbst beschäftigt ist. Die Fiktion von Öffentlichkeit ist letztlich beiden Orten gemeinsam: Während Gießener Performances sich an ein öffentliches Publikum richten, das gar nicht da ist, verhandelt Bayreuth allgemein-menschliche Fragen mit einer betuchten Elite von Wagner-Kundigen und -Begeisterten und behauptet kulturelle Relevanz für ein ‚Volk‘, das größtenteils die Festspiele auch dann nicht besuchen würde, wenn es sich das leisten könnte. Auch hier ist diese Fiktion mittlerweile ironisch reflektierbar: Regisseur Kratzer vergleicht die Bayreuther Festspiele im Interview mit einem „Scheinriesen“, weil sie umso größer und bedeutender wirkten, je weiter man sich von ihnen entfernt. 67 7 Exkurs: Fokusgruppen-Interviews Um die Wirkungen und Widersprüche der beiden skizzierten Theateröffent‐ lichkeiten empirisch zu erfassen, wurde neben Literaturrecherche und teilneh‐ mender Beobachtung die sozialwissenschaftliche Methode des Fokusgruppen- Interviews erprobt. Als „von allen Befragten erlebte Stimulussituation“ 68 , die den Fokus des Interviews setzt, galt die jeweilige Erfahrung des Festspielbzw. Festivalereignisses, im Zuge der Gespräche erweitert und vertieft auf Wahrnehmungen der Theateröffentlichkeit - einschließlich ihrer medialen Diskurse. Obwohl Fokusgruppen-Interviews in der qualitativen Sozialforschung häufig eine gemeinsame ästhetische Erfahrung als Ausgangspunkt des Ge‐ sprächs nutzen und das Verfahren zudem in der Medienrezeptionsforschung zum Einsatz kommt, 69 gehört es in der Theaterwissenschaft bislang nicht zum Methodenbestand. 70 Im vorliegenden Forschungsinteresse schien es besonders zur Einholung unterschiedlicher Perspektiven, die eine Theateröffentlichkeit ausmachen, ohne eine Standardisierung ihrer Beschreibungen aussichtsreich. In der Analyse der Gesprächsverläufe zeigten sich infolge der Zusammenset‐ zung der Fokusgruppen strukturelle Verwandtschaften zu den Diskurspraktiken von Universität und Theaterpraxis: Standpunkte wurden eingenommen und 268 Benjamin Hoesch <?page no="269"?> 71 Vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 130 f.; Bohnsack 2017: 380f. 72 Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 130. 73 Für ihre bereichernde Mitwirkung und Auskunftsbereitschaft gilt allen Gesprächsteil‐ nehmenden größter Dank! 74 Vgl. Krueger/ Casey 2015: 81f. 75 Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 128. 76 Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 175. relativiert, Begriffe definiert, Für und Wider abgewogen, den Perspektiven der anderen Relevanz und Geltung eingeräumt. Solche Diskursvermögen sind in Gesprächsformaten wie Seminaren, Kritikgesprächen oder Podiumsdiskus‐ sionen geschult, kommen durch die Rahmung als Fokusgruppen-Interview aber offenbar besonders zum Tragen: Den Teilnehmenden war bewusst, dass ihre Aussagen für mehr stehen würden als nur sie selbst, weshalb sie sich Mühe gaben, deren spezifische Situiertheit zu markieren und auch in der Gruppe fehlende Standpunkte in den Diskurs einzutragen. Gerade in der Bay‐ reuther Fokusgruppe wurde mehrfach ein ästhetisch-unabschließbares Urteilen rekonstruiert, indem zu einer eigentlich geteilten Kritik explizit „sportlich“ die Gegenposition in der Diskussion eingenommen wurde. Angesichts dieser hohen Reflexivität wurden die empfohlene beobachtende Zurückhaltung und der Teilnahmeverzicht des Interviewers 71 im Gesprächsverlauf aufgegeben, stattdessen die Forschungsfragen nach der Theateröffentlichkeit sowie erste Hypothesen mit der Fokusgruppe offen geteilt und diskutiert. Dabei eröffnete sich ein Spannungsfeld zwischen transparenter Forschungskommunikation und möglichen Eingriffen in die „Selbstläufigkeit des Diskurses“ 72 . Doch erst auf diese Weise und nicht als diskret beobachtete Sozialexemplare wurden die Fokusgruppen eine unverzichtbare Quelle: Beobachtungen konnten gemeinsam gesammelt und praktisches Wissen erschlossen werden, die Leitbegriffe und Thesen der Untersuchung mussten sich gegenüber den sozialen Akteur: innen und ihrem unterschiedlichen Erleben bewähren oder entsprechend differenziert und korrigiert werden. Ohne diesen Einbezug pluraler Perspektiven sind The‐ ateröffentlichkeiten kaum angemessen zu beschreiben. 73 Trotzdem kann das Fokusgruppen-Interview der Theaterwissenschaft als Methode nur unter einem wichtigen Vorbehalt empfohlen werden: Die Fo‐ kusgruppen waren, der Handbuchliteratur zur qualitativen Sozialforschung folgend, sozial sehr homogen 74 sowie in Anknüpfung an geschlossene „Real‐ gruppen“ 75 zusammengestellt, damit „sich die Teilnehmerinnen nicht durch Status-, Milieu- oder Altersdifferenzen wechselseitig in ihrer Redebereitschaft blockieren oder ‚befremden‘“ 76 . Damit können sie aber niemals stellvertretend für ein Theaterpublikum in seiner Gesamtheit und seinem - engeren oder Geschlossene Gesellschaft? 269 <?page no="270"?> 77 Vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 227-238; Bohnsack 2017: 371-374. 78 Vgl. Krueger/ Casey 2015: 23-26. 79 Bohnsack 2017: 370. 80 Bohnsack 2017: 374. 81 Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2021: 176. 82 Menke 2014: 104. weiteren - sozialen Spektrum stehen. Die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse von Fokusgruppen-Interviews ist immer umstritten, Repräsentativität höchst prekär 77 - sie könnte allenfalls durch wiederkehrende Muster in einer Vielzahl von Interviews erhöht werden. 78 Doch selbst dann gerät die homogenisierende Diagnose von „Gruppenmeinungen“ 79 oder „kollektiven Orientierungsstruk‐ turen“ 80 in Konflikt mit den reflexiv-spaltenden Dynamiken in einem Publikum als ästhetischer Gemeinschaft. Den interviewten Fokusgruppen war diese Pro‐ blematik intuitiv so bewusst, dass bald auch über die Grenzen des Verfahrens und mögliche Forschungsdesigns einer künftigen Fokusgruppen-Erhebung dis‐ kutiert wurde. Soziale Heterogenität wurde dabei als wünschenswert erachtet, aber auch als mögliches Forschungshindernis und kommunikative Herausfor‐ derung bewusst. Damit verhält sich die Fokusgruppe zu der jeweiligen Theateröffentlichkeit, der sie entnommen wurde, genau wie diese zu einer gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit: Die sozialhomogene Geschlossenheit, der sie als „Gewährleis‐ tung einer unproblematischen und unverkrampften Interviewsituation“ 81 ihre diskursive Funktionalität und ihr reflexives Niveau verdankt, verbietet es, sie als stellvertretend für die Allgemeinheit zu begreifen. Gerade aufgrund dieser Kongruenz eignen sich Fokusgruppen-Interviews - selbst kleine geschlossene Öffentlichkeiten - zur Nachzeichnung von Theateröffentlichkeiten einschließ‐ lich ihrer Grenzen und Widersprüche; allein sozialempirisch sind diese aber nicht erschöpfend zu beschreiben. 8 Künstlerische Überschreitung und ästhetische Reflexivität Doch wie stellt sich ästhetisch eine Theateröffentlichkeit dar, die heute in Bayreuth ausgerechnet Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg zur Aufführung bringt? Wagners „Romantische Oper in drei Akten“ wird zum Testfall für die Institution durch das ästhetische Experiment, „ein Leben nach und mit der Kunst zu führen“ 82 . Denn Menke deutet darin den Venusberg als die Sphäre der maßlosen, ungeformten ästhetischen Kraft und des radikalen (Selbst-)Experiments, die Wartburg als Ort des normierten künstlerischen Vermögens: Tannhäuser erfährt die Unmöglichkeit eines Lebens als Sänger 270 Benjamin Hoesch <?page no="271"?> 83 Vgl. Menke 2014: 93-103. in einer der beiden Welten, solange sie gegenseitig abgeschottet sind und einander verleugnen. 83 Kratzer findet in seiner Inszenierung für diesen Gegen‐ satz eine institutionsreflexive Metaphorik: Der Venusberg ist bei ihm eine fahrende Zirkustruppe, der neben Tannhäuser im Clownskostüm und Venus im Glitzer-Jumpsuit zwei hinzuerfundene Nebenfiguren angehören - der Schwarze Drag-Künstler Le Gateau Chocolat sowie der aus der Blechtrommel entlehnte Oskar, verkörpert durch den kleinwüchsigen Schauspieler Manni Laudenbach. Tannhäuser bricht zu Beginn mit dieser bunten Gang aufgrund ihrer Gesetzlo‐ sigkeit und der sich zur Unfreiheit verkehrenden Anarchie um den Wagner’‐ schen Revolutions-Slogan „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“; er kehrt zur Wartburg zurück - die sich unmissverständlich als der Grüne Hügel mitsamt Miniatur-Kulisse des Bayreuther Festspielhauses und Wagner- Statuette zeigt. Expliziter könnten die gegensätzlichen Welten des Tannhäuser nicht mit Theaterinstitutionen und ihren Öffentlichkeiten verknüpft werden: Das Publikum sieht sich auf der Bühne gespiegelt durch den Chor in einheitlich festlicher Abendgarderobe, der die manifeste Grenze der Festspielöffentlichkeit - die Straßensperre am Fuß des Grünen Hügels - passiert; die Venus-Chaos‐ truppe steht dagegen für alles, was dieser Öffentlichkeit fehlt - Spontaneität, Unvorhersehbarkeit, Diversität in gender, race, class und (dis)ability -, und fährt die Grenze am Ende des Ersten Aufzugs einfach über den Haufen. Im Zweiten Aufzug kommt es dann zur direkten Konfrontation der beiden Welten: Venus infiltriert das Sängerfest, ihre Komplizen stürmen in Filmeinspielungen das Festspielhaus über den Balkon und hissen auf der Bühne eine Regenbogenflagge, gemeinsam locken sie Tannhäuser aus dem Bild einer bieder historisierenden Wartburg-Szene. Die Antwort der Institution folgt prompt: Festspielleiterin Katharina Wagner ruft in einer Videoeinspielung die Polizei, die anrückt, um Tannhäuser nach seinem Bekenntnis zum Venusberg festzunehmen und der Opernhandlung gemäß zur Buße auf Pilgerfahrt nach Rom zu schicken. Reflexiv wirksamer als die so bebilderte Entgrenzung der Institution durch ästhetische Kraft ist jedoch der tatsächliche Clash von Öffentlichkeiten zwischen den Aufzügen: In der ersten Pausenbespielung der Festspielgeschichte besetzt der mobile Venusberg den Teich am Fuße des Grünen Hügels mit einer skurrilen Karaoke-Performance, in der auch Le Gateau Chocolat und Oskar nicht mehr stumm bleiben. Unterbrochen von trashigen Kostümwechseln und diffus poli‐ tischen Kampfansagen werden die Liebesmotive Tannhäusers in Pop-, Schlager- und Heavy Metal-Songs zum Besten gegeben. Das Publikum, eben auf der Bühne mit seiner eigenen Begrenztheit konfrontiert, mischt sich mit zufällig Geschlossene Gesellschaft? 271 <?page no="272"?> 84 Baecker 2013: 88. - oder inzwischen auch geplant - vorbeikommenden Spaziergänger: innen und bekommt seine Bewegungsfreiheit zurück. So wird der Grüne Hügel zur unbestimmten Leerstelle, die die Möglichkeit zum Switch zwischen entfernten sozialen Kontexten eröffnet: Die Zuschauer: innen stehen im Kreis um den Teich und beobachten einander, nicht wenige singen oder klatschen mit, am Ende springen gar einzelne - die nicht klar als Statist: innen zu erkennen sind - in Abendgarderobe scheinbar spontan ins Wasser. Die Überschreitung der geschlossenen Theateröffentlichkeit besteht hier jedoch nicht allein in der Bewegung heraus aus dem Festspielhaus, sondern setzt sich in der Rückkehr des Publikums zum beschriebenen Zweiten Aufzug fort; das Publikum ist nach dieser Erfahrung nicht mehr dasselbe - nicht so sehr aufgrund der schnell wieder abgebrochenen Begegnung mit denen, die ihm sonst nicht angehören, sondern durch die ästhetische Reflexivität, den diese Konfrontation der Theateröffentlichkeit mit ihren sozialen und musikkultu‐ rellen Alternativen in Gang setzt. Das scheinbar so durchsichtige Publikum wird in dieser Pause in seiner Zusammensetzung, seinen Reaktionen und Grenzen wieder zum Rätsel - das auch durch die inszenierte Provokation eines queerdisabled Aktivismus auf der Festspielbühne nicht einfach zu lösen ist (dessen selektive Vereinnahmung wird im Dritten Aufzug sinnfällig, wenn Le Gateau Chocolat auf einer übergroßen Werbetafel für Luxusuhren erscheint). Doch nicht in demonstrativen Öffnungsgesten, sondern genau in dieser reflexiven Rätselhaftigkeit wird Theater für Baecker öffentlich: „Das Publikum übt sich in einem Modus der Analyse, der auf das Publikum selber zielt. ,Wer sind wir und wo leben wir, dass wir uns dafür interessieren‘, so scheint es dauernd zu fragen. […] Das Kunstwerk ist das stellvertretende Rätsel für das eigentliche Rätsel, das Publikum.“ 84 Während eine solche ästhetische Verrätselung des Publikums in Bayreuth das Ausnahmeverdienst einer Inszenierung darstellt, ist sie bei der Theatermaschine in Gießen die Regel: Wenn das Festivalpublikum sich in einem kollektiven Audio-Walk über Kopfhörer synchronisiert durch die Stadt bewegt oder ko‐ hortenweise per Fahrrad den nächsten Spielort ansteuert, zu einer fiktiven akademischen Ausstellungseröffnung geladen ist oder sich in einer Kirche versammelt, bei einer spätabendlichen Tennis-Performance in rivalisierende Fan-Blocks geteilt wird oder Termine für eine vereinzelte Berührungserfahrung ergattern muss - immer wird das Publikum zu einer offenen Frage, auch wenn sich seine Mitglieder persönlich gut kennen mögen. Publikum ist dann kein feststehender Container, der in mehr oder weniger diverser Zusammensetzung 272 Benjamin Hoesch <?page no="273"?> und mit geringerer oder höherer öffentlicher Reichweite zu füllen ist, sondern ein dynamischer Raum von Möglichkeiten und Grenzen, die sich erst in ihrer Erprobung erweisen. Auch hier ist für das Überschreiten der geschlossenen Gesellschaft das Verlassen des Theaterraums keine Bedingung, der bei der Theatermaschine ohnehin keine feststehende Form annimmt: Die institutiona‐ lisierte Raumlogik des Theaters überträgt sich auf unterschiedlichste Orte, weil die universitäre Theateröffentlichkeit ohnehin nur Probebühnen kennt - im doppelten Sinne, dass sie prioritär der geschlossenen Probenpraxis dienen, aber in der Theatermaschine auch öffentliche Bühnen auf Probe werden. Gerade in Hinblick auf diesen provisorischen Charakter wird Öffentlichkeit in der Fokusgruppe auch ambivalent diskutiert - weil sie zum Abschließen von Produktionen dränge und das Unfertige, das persönliche Ausprobieren und damit auch das ästhetische Experiment bedrohe. Insofern sind reflexive Remarkierungen des Festivalraums als soziale bubble, wie in der oben geschil‐ derten Performance, auch als Ermächtigung künstlerischer Subjekte im Werden zu verstehen, die für ihre experimentelle Praxis die Akzeptanz des Scheiterns erhalten und so den Urteilsanspruch (be-)wertender Öffentlichkeit unterlaufen. Das Öffentliche des Werkschau-Festivals wird dann wieder als Leerstelle rekla‐ miert, von der aus nicht nur die rezipierenden, sondern auch die künstlerisch produzierenden Subjekte den Switch in vielfältige überraschende Schließungen vollziehen können. 9 Institution des Experiments - Experiment der Institution Die sozialen und ästhetischen Dynamiken der beiden beschriebenen Theateröf‐ fentlichkeiten hängen unübersehbar von ihrer jeweiligen Institution ab. Dieje‐ nige der Bayreuther Festspiele entfaltete ihre Wirkung auf die Fokusgruppe schon vorab durch ihre überregionale und kulturhistorische Relevanzbehaup‐ tung, Premierenkritiken oder den gartenarchitektonisch inszenierten Aufstieg auf den Grünen Hügel. Jede Analyse der Aufführung bekommt es dabei mit dem übergreifenden Rahmen einer institutionellen Ästhetik zu tun: Das Publikum ist informiert, involviert und inszeniert - und darüber womöglich irritiert -, noch bevor sich die Türen hinter ihm schließen. Die Institution regelt aber offenbar auch, wie die Schließung der Theater‐ öffentlichkeit innerhalb dieser selbst reflektiert werden kann: Im Rahmen der Opernaufführung bleibt dafür einerseits die Zwischenzeit der Pause, an‐ dererseits die Repräsentation der Ausgeschlossenen auf der Bühne - die in diesem Fall von der Fokusgruppe zwischen den Polen einer inklusiven Sicht‐ barmachung und einer ausstellenden „Freakshow“ diskutiert wurde. Weil die Geschlossene Gesellschaft? 273 <?page no="274"?> Tannhäuser-Inszenierung nach diesen institutionellen Grundregeln spielt, kann ihre durchaus provokante Institutionskritik auch innerhalb der Institution breite und vehemente Zustimmung hervorrufen: Der unmittelbar einsetzende, geradezu johlende Applaus am Schluss, aber auch schon zwischen den Aufzügen zeugte von bemerkenswert einstimmiger Euphorie im Publikum - Buhrufe wurden nur ganz vereinzelt vernommen. Das Publikum artikuliert hier ein ebenso positives Urteil wie die begeisterte Presse nach der Premiere. Ausge‐ rechnet ein offen selbstreflexives und politisiertes Inszenierungskonzept des Regietheaters wirkt also heute in Bayreuth in dieser Hinsicht gemeinschafts‐ stiftend - worüber dem Publikum aber der Zweifel abhandenkommt, der jedes ästhetische Urteil ausmacht. Die Fokusgruppe schließt daraus, dass das Experi‐ ment von Kratzers Tannhäuser dem spezifischen „Innovationsparadigma“ der Institution entspricht und diese indirekt affirmiert: Das ästhetische Programm der Bayreuther Festspiele ändert und öffnet sich an den Rändern, lässt den „institutionellen Kern“ darüber jedoch unberührt. Dennoch entkräftet die Insti‐ tution das ästhetische Experiment nicht, sondern spornt immer wieder die Suche nach seinen Spielräumen an. Gerade die ortskundigen Gesprächsteilnehmenden beziehen in Bayreuth ihr ästhetisches Urteil auffallend oft auf die Institution, in der die Aufführung hier steht: Auch minimale Eingriffe in den Opernablauf - wie etwa ein komödiantisch verpatzter Gesangseinsatz - seien „für Bayreuth“ schon ein außerordentliches Wagnis. Die Institution in ihrem traditionalen Exzellenzverständnis adelt damit schon Praktiken als ästhetisches Experiment, die anderswo kaum als solches gelten würden. Im offenkundig Fragmentarischen des Theatermaschine-Programms gelingt es dagegen häufiger, diejenigen, die seiner Öffentlichkeit fehlen, als fehlend aufscheinen zu lassen, ohne sie zu repräsentieren. Neben gesellschaftlich margi‐ nalisierten Stimmen wären dies hier auch solche, die als öffentliche Meinungs‐ macher: innen über Geltung und Anerkennung im Theaterbetrieb entscheiden könnten. Mangels jeglicher Konvention hinsichtlich Genres und Formaten muss die Theatermaschine zunächst immer wieder den geschlossenen Kreis der Stu‐ dierendenschaft mobilisieren, um überhaupt etwas öffentlich zu präsentieren zu haben - wobei auch dies sich stets zweifelhaft gibt: Offene Fragen, Aporien und Understatement prägen die öffentlichen Ankündigungen wie die Kritikrunden der gezeigten Aufführungen. So bleibt fraglich - und wird nur an Kulminations‐ punkten selbst kritisch ausgehandelt -, was hier überhaupt wem gegenüber welchen öffentlichen Status behaupten will. Die Frage, ob die Theatermaschine eine Institution ist - wofür die soziale Bindungswirkung, die Tradierung über Jahrzehnte hinweg sowie die Initiationsfunktion sprechen -, wird daher von der Fokusgruppe unentschieden beantwortet: Gerade der Verzicht auf personale 274 Benjamin Hoesch <?page no="275"?> 85 Jaeggi 2009: 543 (Herv. i. Orig.). Kontinuität und der immer neue Beginn mit einem neuen Team und teilweise neuen Spielorten wirkten einer institutionellen Routinisierung bewusst entgegen. Gleichzeitig wäre die Theatermaschine mit einer Abwehrhaltung gegen Institu‐ tionen oder der Illusion einer außerinstitutionellen Kunstpraxis nicht zu machen - zu dringlich ist dabei die Auseinandersetzung mit der Hochschulleitung, der Stadtverwaltung, Förderstellen sowie dem eigenen sozialen Feld. Anstatt von institutionellen Automatismen scheint das Bemühen um die Öffentlichkeit der Theatermaschine von der Suche nach einer Institution neuen Typs bestimmt zu sein: einer im Sinne Rahel Jaeggis guten Institution, „als deren Autor sich Individuen - auch wenn es hier nie eine einfache Autorschaft geben kann - erkennen können“ 85 . Das Paradox von Institution und Experiment kann also keiner der vorge‐ stellten Orte auflösen - die Unmöglichkeit, das ästhetische Experiment zu institutionalisieren, wirkt jedoch in beiden Theateröffentlichkeiten äußerst pro‐ duktiv: Bayreuth sucht nach dem Experiment, das die Institution mit Sinn erfüllt; die Gießener Studierenden suchen die Institution, für die ihre künstlerischen Praktiken das Experiment sein könnten. 10 Darstellende Künste als Produktionsöffentlichkeit? So wie Institutionen der Darstellenden Künste völlig unterschiedlich situiert, ausgestaltet und erlebt werden können, gibt es für sie auch nicht die eine zu erreichende oder zu verwirklichende Öffentlichkeit. Die vielfältigen realisierten Theateröffentlichkeiten in ihren sozialen, politischen, sinnlichen und reflexiven Wirkungen sind nur in einer Kombination empirischer und ästhetischer Per‐ spektiven aufzuspüren und zu beschreiben. Denn Theaterereignisse tragen sich oft sehr eigenwillig in die Öffentlichkeit institutioneller Geschichte, kultureller Programme, politischer Diskurse oder städtischer Räume ein - nicht selten gerade entgegen dem Primat maximaler Reichweite. Dabei zehren sie von der institutionalisierten Idee und den Fiktionen ihrer Öffentlichkeit, konfrontieren sich aber auch mit der Realität ihrer sozialen Ausschlüsse und den Möglichkeiten anderer Grenzziehungen des öffentlichen Raums. Theateröffentlichkeiten sind also nicht nur empirisch offener oder geschlossener, sondern ästhetisch-reflexiv mehr oder weniger in Bewegung - und in Arbeit. Entsprechende Öffentlichkeitskonzepte finden sich in der sozialwissen‐ schaftlichen Diskussion bislang nur vereinzelt: Dem Habermas’schen Ideal bür‐ gerlicher Öffentlichkeit haben etwa 1972 Oskar Negt und Alexander Kluge das Geschlossene Gesellschaft? 275 <?page no="276"?> 86 Negt/ Kluge 1972: 12. 87 Negt/ Kluge 1972: 38. 88 Negt/ Kluge 1972: 40. 89 Vgl. Negt/ Kluge 1972: 66-78. Modell der Produktionsöffentlichkeit entgegengehalten, das nicht von formalen Strukturen, sondern von gesellschaftlicher Erfahrung ausgeht. Die bürgerliche Öffentlichkeit werde demnach überlagert von jener „der Bewußtseins- und Programmindustrien, der Werbung, der Öffentlichkeitsarbeit der Konzerne und Verwaltungsapparate, […] zusammen mit dem fortgeschrittenen Produktions‐ prozeß, der selber den Schein einer Öffentlichkeit bildet“ 86 . Charakteristisch für Produktionsöffentlichkeiten ist „ein Hin- und Herschwanken zwischen Ausgrenzung und verstärkter Einbeziehung: […] An die Stelle der Unterschei‐ dung von öffentlich und privat tritt der Widerspruch zwischen dem Druck der Produktionsinteressen und dem Legitimationsbedürfnis.“ 87 Genau solche Widersprüche werden auch in den Darstellenden Künsten gegenwärtig ausge‐ handelt und immer weiter zugespitzt. In Kombination mit der bürgerlichen Öffentlichkeit wiederholt und verfestigt die Produktionsöffentlichkeit letztlich deren Ausschlüsse und dient den herrschenden Klassen; für sich genommen birgt sie jedoch Potenziale, die sie für Negt und Kluge zum Gegenspieler und Vorbild einer noch zu schaffenden proletarischen Öffentlichkeit machen: Zunächst einmal räumt die Produktionsöffentlichkeit mit dem vorgeblichen Universalismus der bürgerlichen Öffentlichkeit auf; stattdessen ist es immer nur ein ganz spezifischer Produktionszusammenhang, der veröffentlicht wird und ein Publikum sucht. Für die Theatermaschine in Gießen, die Probebühnen öffnet, Produktionsstände zeigt und die künstlerische Reflexion mit der Kritik des Publikums verschaltet, leuchtet diese Spezifizierung der Öffentlichkeit auf den eigenen Produktionszusammenhang unmittelbar ein. Aber auch in der in‐ stitutionellen Selbstreflexion von Kratzers Tannhäuser-Inszenierung artikuliert sich die Orientierung an einer Produktionsöffentlichkeit, der die selbst traditi‐ onsreiche Idee der „Werkstatt Bayreuth“ in zahlreichen Videoeinspielungen von Backstage-Bereichen oder dem Inspizienzpult vorgeführt wird. Im Gegensatz zur bürgerlichen Öffentlichkeit wird so auch „die Produktionsstruktur der Öffentlichkeit“ 88 und ihrer gesellschaftlichen Erfahrung öffentlich. An beiden Orten veröffentlicht sich ein emphatisch ästhetischer Produktionszusammen‐ hang, der die Phantasie ins Spiel bringt und die Solidarität der Gemeinschaft sinnlich erfahrbar macht. 89 Damit werden die Bayreuther Festspiele oder die künstlerische Hochschulbildung sicher noch keine Orte einer proletarischen Öffentlichkeit, wie sie Negt und Kluge suchen - doch gerade die Widersprüche 276 Benjamin Hoesch <?page no="277"?> ihrer Theateröffentlichkeiten lassen eine andere Öffentlichkeit und damit auch eine andere Gesellschaft dringlich und vorstellbar werden. Literatur 3sat. Bayreuther Festspiele 2019. Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg von Richard Wagner. Erstausstrahlung: 27.07.2019. Arendt, Hannah (1998). Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. und mit einem Essay versehen von Ronald Beiner. Aus dem Amerik. von Ursula Ludz. München: Piper. Baecker, Dirk (2013). Die Form der Kunst im Medium der Öffentlichkeit. In: Ders. Wozu Theater? 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Als Kulturanthropologin forscht sie aktuell zu organisationalen und institutionellen Transformations‐ prozessen der öffentlich getragenen Theater in Bezug auf Gender. https: / / orcid.org/ 0009-0001-0330-278X Thomas Fabian Eder, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-For‐ schungsgruppe „Krisengefüge der Künste“. Er forscht zu zeitgenössischen Darstellenden Künsten aus einer internationalen sozialwissenschaftlichen Per‐ spektive mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Rolle der Künste für Freiheit und Demokratie. https: / / orcid.org/ 0000-0002-6135-8474 Angelika Endres ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater‐ wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“. Sie ist zudem in den Bereichen Produktion, Kommunikation und Vermittlung in den Freien Darstellenden Künsten tätig. https: / / orcid.org/ 0009-0003-9015-8038 Silke zum Eschenhoff ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-For‐ schungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ tätig und forscht zu Ästhetik, Ar‐ beits- und Produktionsbedingungen sowie Übersetzungsprozessen in den Freien Darstellenden Künsten. Zuvor arbeitete sie als Dramaturgin und Produktions‐ leiterin und leitete die Bürgerbühnen am Staatschauspiel Dresden und dem Nationaltheater Mannheim. https: / / orcid.org/ 0009-0001-6318-9459 Ulrike Hartung, Dr., ist Musiktheaterwissenschaftlerin mit Forschungs‐ schwerpunkten in den Bereichen zeitgenössische Musiktheaterpraxis, Postdra‐ matik, Oper und Musiktheater als Institution und Freies Musiktheater. Sie arbeitet am Interdisziplinären Forschungszentrum Ostseeraum an der Univer‐ sität Greifswald. www.ulrikehartung.de https: / / orcid.org/ 0009-0000-7389-0532 <?page no="280"?> Benjamin Hoesch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für An‐ gewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen und in der DFG-For‐ schungsgruppe „Krisengefüge der Künste“. Er promovierte zu Nachwuchs‐ festivals und Nachwuchsförderung und forscht im Anschlussprojekt zu institutionellem Wandel in der Regieausbildung. Neben eigener praktischer Arbeit als Theatermacher lehrt er international an Kunsthochschulen. Maria Nesemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturpo‐ litik der Universität Hildesheim. Sie war von 2020 bis 2024 Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Chancengerechte Teilhabe am öffentlich geförderten Theater in Deutschland, England und Frankreich“. Neben ihrer wissenschaftli‐ chen Tätigkeit arbeitet sie als freie Kulturvermittlerin. Anja Quickert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ mit den Schwerpunkten Freie Szene, experimentelles und internationales Theater. Sie ist freie Autorin u. a. für das Fachmagazin „Theater heute“, Geschäftsführerin der Internationalen Heiner Müller Gesell‐ schaft und Theatermacherin; sie hat außerdem an (Kunst-)Hochschulen unter‐ richtet. Sebastian-Stauss, Dr., forscht und lehrt in der Theaterwissenschaft München (Postdoc im „Krisengefüge der Künste“ 2018-24). Als freier Autor verfasst er u. a. regelmäßig Beiträge zu wagnerspectrum und für den BR (Münchner Rundfunkorchester). https: / / orcid.org/ 0000-0003-3011-9830 Hanna Voss ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Bereich Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschung zu Theater als Institution im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Un/ doing Differences. Praktiken der Humandiffe‐ renzierung“ (2013-2019). Schwerpunkte: Theaterwissenschaft als sozialwissen‐ schaftliche Differenzierungsforschung, Theater und Ethnizität, Schauspielaus‐ bildung und Künstlervermittlung (Weimarer Republik bis heute).- 280 Autor: innenverzeichnis <?page no="281"?> ISBN 978-3-381-11421-4 In aktuellen öffentlichen Debatten wird Theater nicht mehr als entrücktes Kunstereignis, sondern in seiner sozialen Verortung und Wirkung reflektiert. Im Zentrum stehen dabei u. a. Machtverhältnisse, Repräsentation, Diversität, Barriereabbau und Vermittlung. Nicht selten werden künstlerischer Anspruch und soziale Verantwortung gegeneinander in Stellung gebracht. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion fehlt es bislang an Perspektiven, die das Ästhetische und das Soziale als grundlegende Dimensionen von Theater zusammendenken. Der Sammelband eröffnet eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Struktur und Ästhetik in den Darstellenden Künsten der Gegenwart. An aktuellen Beispielen und im gezielten Transfer von Untersuchungsmethoden zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen beleuchten die Beiträge, wie Soziales im Ästhetischen und Ästhetisches im Sozialen wirksam wird.
