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Reingegrätscht

Eine kleine Linguistik des Fußballs

0606
2024
978-3-3811-1482-5
978-3-3811-1481-8
Gunter Narr Verlag 
Simon Meier-Vieracker
10.24053/9783381114825

Fußball wird nicht nur gespielt und geschaut, über Fußball wird auch gesprochen und geschrieben. Woche für Woche füllt er Medien und Alltagsgespräche und ist für viele Menschen nicht nur ein Zeitvertreib, sondern beziehungs- und identitätsstiftend. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich auch die Sprachwissenschaft für das Kulturphänomen Fußball interessiert. Denn die Sprache des Fußballs, wie sie von Spieler:innen, Trainer:innen, Journalist:innen und natürlich den Fans gepflegt wird, ist ein ausgezeichneter Trainingsplatz für die unterschiedlichsten linguistischen Teildisziplinen. Zur Fußballeuropameisterschaft der Männer, die 2024 in Deutschland stattfindet, hat Simon Meier-Vieracker ein Team von fußballinteressierten Sprach wissenschaftler: innen zusammengestellt, die das Feld der linguistischen Fußballforschung vermessen. Herausgekommen ist ein Buch, so vielfältig wie die Sprache des Fußballs selbst. Ein Tiki-Taka aktueller sprachwissenschaftlicher Fragen, das alle begeistern wird, die Sprache oder Fußball mögen - und vielleicht sogar beides. Ein Volltreffer!

<?page no="1"?> Reingegrätscht <?page no="3"?> Simon Meier-Vieracker (Hrsg.) Reingegrätscht Eine kleine Linguistik des Fußballs <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381114825 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-381-11481-8 (Print) ISBN 978-3-381-11482-5 (ePDF) ISBN 978-3-381-11483-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 17 29 47 63 73 83 99 115 131 Inhalt Simon Meier-Vieracker Geht’s raus und schreibt’s über Fußball! Anstelle eines Vorworts . . . . . . . . Vorberichte Karina Frick Fußball und Frauenfußball? (Bezeichnungs-)Ungleichheiten im Fußball . . . Thomas Gloning Torhüter in Texten und Medien. Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Gerhardt Der Fehleinkauf als Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Halbzeit Marcus Callies In den Farben getrennt, in der Sache vereint. Solidarität zwischen rivalisierenden Fangruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tatjana Scheffler 💪🖤💛. Emojis und Gruppenidentität auf Twitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sören Stumpf „Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich“. Evaluative Wortbildung in Fußball-Livetickern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halbzeitpause Daniel Pfurtscheller Córdoba in der deutschen Wikipedia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sven Staffeldt Die Statik des Spiels. Ein Gespräch mit ChatGPT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . François Conrad Fußballzwerg und fußballsprachlicher Riese. Lexikalische Vielfalt im Luxemburgischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 141 155 167 187 201 211 223 Zweite Halbzeit Alexander Geyken Die Zeit von der Uhr nehmen. Einige aktuelle Entwicklungen der Fußballsprache im Allgemeinwortschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sascha Wolfer Lukas Podolski, Birgit Prinz und Joseph Haydn. Unbestimmt stehen sie für mehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Linke Sieg! Zur Geschichte eines Emotionsdisplays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachberichte Antje Wilton Über Scheißfragen. Fragedesign und Wissensaushandlung in Fußballerinterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Hauser „Wir sind eine gut intrigierte Truppe.“ Zur Psycholinguistik von Versprechern in Fußball-Zitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstanze Marx Beim Doppelpass: Kopf hoch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Geht’s raus und schreibt’s über Fußball! Anstelle eines Vorworts Simon Meier-Vieracker Es gibt kein Entkommen. Wenn im Sommer 2024 die Fußball-Europameister‐ schaft der Männer in Deutschland ausgetragen wird, wird der Fußball wieder einmal zum bestimmenden Thema, dem man sich kaum entziehen kann. Beim täglichen Medienkonsum ebenso wenig wie in den Pausengesprächen auf der Arbeit oder in geselligen Runden in der Freizeit. Supermärkte bewerben ihre Ware als nützliche Begleiter für unvergessliche Fußballabende, und selbst normalerweise fußballfreie Zonen wie Kunstmuseen oder Theater versuchen, ein wenig an der Aufmerksamkeit teilzuhaben, die der Fußball generiert. Mit anderen Worten: Es wird sehr viel über Fußball kommuniziert. Die Linguistik sollte dabei nicht schweigen. Dass sich die Wissenschaft dem Fußball zuwendet und das Spiel mit allem, was dazugehört, zum Gegenstand theoretischer Reflexionen und empirischer Analysen macht, ist nichts Außergewöhnliches. Christoph Leischwitz hat in seinem Buch „Die Wissenschaft des Fußballs“ (2020) einen lesenswerten Über‐ blick darüber gegeben, welche erstaunlichen Erkenntnisse unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen, von der Physik und Biologie über die Psychologie und Ernährungswissenschaft bis zur Soziologie und Religionswissenschaft, dem Fußball abtrotzen können. All diese Wissenschaften tragen das ihre dazu bei, den Fußball, dieses wie kaum ein anderes von Zufällen geprägte Spiel (Gebauer 2016: 42-51) erklärbar, deutbar und vielleicht auch berechenbar zu machen. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Sosehr die Verwissenschaftlichung des Fuß‐ balls auch dem (profi-)fußballinternen Trend entspricht, aus einem handfesten Gewinninteresse heraus den Zufall beherrschen zu wollen (Biermann 2018: 28-40) - in gegenläufiger Richtung möchte die Wissenschaft am Fußballspiel partizipieren, das bei aller kommerziellen Überfrachtung immer noch genau das ist: ein Spiel. Ein Spiel, das Spaß macht. <?page no="8"?> All das gilt auch für die Linguistik, der Leischwitz in seinem Buch übrigens auch ein Kapitel widmet. Die Bedeutung von Sprache und Kommunikation für den Fußball, von der Fachterminologie der Trainingslehre und der Regelwerke über rhetorische Strategien in Kabinenansprachen oder im Umgang mit der Presse bis hin zur Antidiskriminierungsarbeit in den Fanszenen, wird von Fußballakteur: innen sehr wohl gesehen. Wenn man den Fußballjournalismus dazurechnet, der vom Reden und Schreiben über den Fußball buchstäblich lebt, erst recht. Umgekehrt hat die Linguistik schon vor vielen Jahrzehnten den Fußball für sich als Gegenstand entdeckt. Die Sprache des Fußballs, wie sie von Spieler: innen, Trainer: innen, Journalist: innen und natürlich den Fans gepflegt wird, ist ein ausgezeichneter Trainingsplatz für die unterschiedlichsten linguistischen Teildisziplinen. Es gibt überhaupt keinen Grund, an der Ernsthaf‐ tigkeit linguistischer Fußballforschung zu zweifeln, denn warum sollte man das linguistische Kerngeschäft, die Untersuchung von Sprache und Sprachgebrauch, nicht am Beispiel der Sprache des Fußballs betreiben? Es spricht aber noch ein weiterer Grund für eine Linguistik des Fußballs: Es macht einfach Spaß. Unter den genannten Wissenschaften, die sich mit Fußball beschäftigen, nimmt die Linguistik vielleicht noch einmal eine Sonderrolle ein. Und das aus einem einfachen Grund: Ihr Gegenstand, das vielfältige Reden und Schreiben über Fußball, fällt mit dem zusammen, was sie selbst tut, nämlich reden und schreiben über Fußball. Anders als etwa in der Physik, welche die Flug‐ eigenschaften des Balls während einer Bananenflanke berechnet und hierfür in Zahlenreihen symbolisch repräsentiert, sind Gegenstand und Medium der Linguistik letztlich eins, nämlich Sprache. Diese Sprache ist für den Fußball von größter Bedeutung, auch wenn der innerste Kern des Fußballspielens, also die Bewegungen von Körper und Ball, ohne Sprache auskommt. Aber erst durch Sprache wird der Fußball kommunizierbar, deutbar und schließlich auch erzählbar, angefangen von den vielfältigen Bezeichnungen der Spiel- und Wettkampfelemente (Burkhardt 2022) über die Metaphern zur bildhaften Reprä‐ sentation des Geschehens (Küster 2009) bis hin zu den kulturellen Schemata, die ein Spiel etwa als „Kampf von David gegen Goliath“ erscheinen lassen (Meier- Vieracker 2024: 157-160). All diese sprachlichen Ausdeutungen des Fußballs deutet die Linguistik ihrerseits sprachlich aus - und setzt auch damit nur fort, was im Feld des Fuß‐ balls bereits angelegt ist. Denn die Sprache des Fußballs mit ihren besonderen Eigenschaften und Funktionen bleibt natürlich auch den Fußballakteur: innen nicht verborgen. Zahlreiche Fußballpodcasts wie „Zeigler und Köster“, deren Hosts mit kindlicher bis diebischer Freude des Fußballjargons frönen und ihn zugleich thematisieren, sind ein Beispiel dafür. Es gilt aber auch für die mitunter 8 Simon Meier-Vieracker <?page no="9"?> zu nationalen Mythen erhobenen Spiele wie das „Wunder von Bern“, das ohne Zitate aus Herbert Zimmermanns Rundfunkkommentar („aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen-…“) überhaupt nicht erzählt werden kann. Eine Linguistik des Fußballs, wie sie in diesem Band in vielen Einzelper‐ spektiven entwickelt wird, führt also das Reden (und Schreiben) über Fußball fort, das selbst oft genug ein Reden über dieses Reden über Fußball ist. Aber natürlich bringt die Linguistik als Wissenschaft auch noch andere Ansprüche in Sachen Methodik und begrifflicher Reflektiertheit in den Fußballdiskurs ein. Sie schaut eben doch soweit es geht von außen auf diesen Diskurs und unterbricht vielleicht auch mal seine üblichen kommunikativen Routinen. Mit dem für den Band titelgebenden Fußballausdruck gesprochen: Es wird reingegrätscht! Das Wörterbuch der Fußballsprache (Burkhardt 2022) definiert „grätschen“ als „einen langgezogenen, häufig gesprungenen Spagatschritt […], um den ballführenden Gegner vom Ball zu trennen o. zu Fall zu bringen.“ In metaphori‐ scher Übertragung, die zeigt, dass nicht nur der Fußball versprachlicht, sondern auch Sprache im Lichte des Fußballs betrachtet wird, ist „reingrätschen“ ein Akt des Unterbrechens, der meist ungefragten, wenn auch oft durch Entschul‐ digungen begleiteten Intervention in ein laufendes Gespräch. Man kann das auf unfaire und gewaltvolle Weise tun - im Fußball spricht man dann von einer „Blutgrätsche“ -, ebenso aber auf gekonnte, vielleicht sogar kunstvolle Weise. Im Fußball gelten Grätschen als Ausdruck von Einsatzwille und Leidenschaft, und abgesehen von Toren vermag wenig das Stadionpublikum so sehr zu elektrisieren wie eine präzise Grätsche, die ein sicher geglaubtes Tor in letzter Sekunde verhindert. Auch verbales Reingrätschen kann kunstvoll sein, ein präziser Einwurf zur rechten Zeit, der das Gespräch im besten Falle bereichert statt stört. Für den vorliegenden Band habe ich ein Team von Sprachwissenschaftler‐ innen und Sprachwissenschaftlern zusammengestellt, die die so verstandene Kunst des Reingrätschens besonders gut beherrschen und die in ihren Beiträgen vorführen, was eine Linguistik des Fußballs zu leisten imstande ist. Bei der Kaderzusammenstellung habe ich, wie das auch Fußballtrainer: innen von Na‐ tionalmannschaften zu tun pflegen, auf Ausgewogenheit geachtet. International erfahrene und bestens ausgewiesene Fußballlinguist: innen sind dabei, aber auch Newcomer bekommen ihre Chance, sich im Feld der linguistischen Fußballfor‐ schung zu bewähren, denn gerade diese können der Forschung neue Impulse geben. Einige dürften sich bei der Einladung gefühlt haben wie einst der Flügel‐ flitzer David Odonkor, der von Jürgen Klinsmann vollkommen überraschend in den deutschen WM-Kader 2006 berufen worden war. Aber, so formulierte ich im Einladungsschreiben, ich kannte ihre Stärken und wusste, „dass sie noch Geht’s raus und schreibt’s über Fußball! 9 <?page no="10"?> sehr wichtig werden können auf unserem gemeinsamen Weg zum Erfolg“. Ich sollte recht behalten, denn alle haben ihren Teil dazu beigetragen, dass wir jetzt, pünktlich zur Europameisterschaft 2024 der Männer, das Buch in Händen halten und in den Himmel strecken dürfen. ⚽️-⚽️-⚽️ So wie sich um jedes Fußballspiel auch in zeitlicher Hinsicht ein ganzes Universum an Texten, Bildern und Gesprächen herumlagert, angefangen von den Vorberichten bis hin zu den Spielanalysen und Interviews nach Abpfiff, so orientiert sich auch die Zusammenstellung der Beiträge an der Chronologie des Spiels in seiner medialen Inszenierung. Die Vorberichte eröffnet Karina Frick mit der Frage, warum der Fußball der Männer eigentlich für gewöhnlich einfach „Fußball“ heißen darf, während sein Gegenstück, der Frauenfußball, immer als solcher benannt werden muss. Sie zeigt, wie diese Bezeichnungsungleichheit in der medialen Berichterstattung weiter ausbuchstabiert wird und damit auch Ungleichheiten jenseits der Sprache zum Vorschein bringt und zugleich reproduziert. Thomas Gloning nimmt sodann mit Torhütern einen besonderen Spielertypus in den Blick und zeigt auf, wie dieser in verschiedenen Medienangeboten sprachlich und bildlich präsen‐ tiert wird. Das geht weit über Schilderungen der Torhüteraktion schlechthin, der Parade, hinaus und reicht bis zu umfassenden Spielerporträts. Eine weniger positionsgebundene als vielmehr leistungsbezogene Rollenzuschreibung nimmt schließlich Nele Gerhardt in den Blick: den Fehleinkauf. Sie zeigt, wie karrie‐ reschädigend dieses Label für einzelne Spieler: innen sein kann, dass es aber auch besonderes erzählerisches Potential hat, wenn ausgerechnet der vermeintliche Fehleinkauf für den Sieg sorgt und zum Held wird. Die erste Halbzeit gehört zunächst den Fans. Marcus Callies lenkt unseren Blick auf die Tribünen im Stadion, wo insbesondere die organisierten Fans mit ihren spektakulären Aktionen, ihren Gesängen, Spruchbändern und Cho‐ reographien für Stimmung sorgen. Das reicht über Anfeuerungen des eigenen Teams hinaus und erschöpft sich auch nicht in Beschimpfungen des Gegners und dessen Fans. Denn der gemeinsamen Kampf für einen möglichst kommerzfreien Fußball bietet auch Anlässe zu Solidarisierung. Digitale Begleitkommunikation untersucht dagegen Tatjana Scheffler, die der Frage nachgeht, wie in der Fankommunikation auf Twitter Emojis genutzt werden, um Gruppenidentität zu stiften und zugleich Individualität auszuleben. Ähnlich expressiv, aber rein sprachlich funktionieren die evaluativen Wortbildungsmuster wie Traum-X, 10 Simon Meier-Vieracker <?page no="11"?> Sahne-X oder Horror-X, die Sören Stumpf in seiner Analyse von Fußball- Livetickern untersucht. Sie bieten den Autor: innen hochvariable Mittel, um den Lesenden das Spielgeschehen auch in der Schrift auf mitreißende Weise zu vermitteln. Die Halbzeitpause nutzen wir, um uns im Internet über Hintergründe zu informieren. Mit Daniel Pfurtscheller lesen wir in der deutschsprachigen Wikipedia nach, wie dort - je nach Perspektive - das Wunder oder die Schmach von Córdoba, das 1978 ausgetragene und von Österreich gewonnene Spiel gegen Deutschland beschrieben wird, und er zeigt, dass sich die nationale Mythenbildung rund um dieses Spiel noch in den Artikeldiskussionen und den dort nachvollziehbaren Edit Wars fortsetzt. Sven Staffeldt nutzt dagegen eine ganz neue Wissensressource und fragt ChatGPT, was es mit der eigenartigen Rede von der „Statik des Spiels“ auf sich hat. Der Chatbot erweist sich als unzu‐ verlässiger Gesprächspartner, regt aber genau dadurch zu einer Selbstreflexion linguistisch-lexikographischer Tätigkeit an. Vor dem Wiederanpfiff richten wir nach Österreich den Blick auf einen noch viel kleineren Player im Weltfußball: François Conrad zeigt, wozu die luxemburgische Fußballsprache in der Lage ist, die in Sachen Mehrsprachigkeit in einer ganz eigenen Liga spielt. Das ist schon die perfekte Überleitung zur zweiten Halbzeit, die Alexander Geyken mit seiner Vorstellung der fußballlexikographischen Ressourcen des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache einleitet. Das dort angebotene und laufend erweiterte Fußballglossar ist mit den angeschlossenen Korpus‐ ressourcen die ideale Ergänzung zum bereits genannten Wörterbuch der Fuß‐ ballsprache von Burkhardt (2022), indem es auch regionale Verteilungen und zeitliche Entwicklungen abbilden kann. Während hier Gattungsnamen wie „Viererkette“ im Fokus stehen, nimmt Sascha Wolfer sodann Eigennamen in den Blick; allerdings in der auch im Fußball nicht ungewöhnlichen Kombination mit unbestimmtem Artikel („ein Lothar Matthäus“), die sie doch wieder in die Nähe von Gattungsnamen rücken. Mit dem Abpfiff des Spiels ist dann klar, wer von beiden Teams als Sieger vom Platz geht. Angelika Linke zeigt anhand von Siegerfotos aus verschiedenen Jahrzehnten, dass die Körper und ihre Gesten, sosehr diese als spontane Gefühlsausdrücke erscheinen mögen, auf historisch variable Weise als Zeichen genutzt werden und somit auch auf sich wandelnde kulturelle Konzepte etwa von Leistung verweisen. In den Nachberichten kommen endlich auch einmal die Spieler: innen zu Wort. Antje Wilton untersucht das Medienritual der Post Match Inter‐ views, jenen zumeist allzu vorhersehbaren kurzen Gesprächen mit den ver‐ schwitzten Spieler: innen am Spielfeldrand. Sie zeigt, welche Fragetechniken Journalist: innen nutzen und was passiert, wenn ein Spieler das Spiel nicht Geht’s raus und schreibt’s über Fußball! 11 <?page no="12"?> mitspielt und die Fragen als „Scheißfragen“ zurückweist. Versatzstücke aus diesen Interviews können berühmt werden, besonders dann, wenn sich die Spieler: innen versprechen. Stefan Hauser sichtet berühmte Versprecher und zeigt, wie man sie psycholinguistisch erklären kann und wie man damit auch die wegen ihrer Versprecher oft vorschnell als hohl verschrienen Spieler entlasten kann. Den Band beschließt Konstanze Marx, die gleichsam als Gegenstück zu Linkes Analyse der Siegergesten untersucht, wie die deutschen Nationalspielerinnen nach ihrem überraschenden Vorrunden-Aus ihrer Enttäu‐ schung auf Instagram Ausdruck verleihen und tröstende Worte ihrer Fans entgegennehmen. Die Sozialen Medien werden zu einer Bühne, auf der Werte und Wertorientierungen gemeinsam sprachlich ausgedrückt und verhandelt werden. Wer sich am Ende der Fußball-Europameisterschaft der Männer mit Sieger‐ gesten fotografieren lassen darf und wer stattdessen auf Instagram Trost suchen muss; welcher Torhüter dem Turnier den Stempel aufdrücken wird und welcher in seinem Club als Fehleinkauf gehandelte Spieler im Nationaltrikot vielleicht doch überzeugen kann; ob ein Mbappé wieder einmal mit seinen Sahnepässen glänzen wird, ob Österreich womöglich Frankreich bezwingen und für ein neues Córdoba sorgen wird; wie sich derweil Luxemburg die Zeit vertreibt, nachdem es sich erneut nicht qualifizieren konnte; ob die Fans in den Stadien Gelegenheit zum Protest gegen die UEFA und ihre Machenschaften finden werden; welche Stilblüten die Spieler in den Interviews raushauen werden und welche Social Media Plattform sich für die Second Screen Aktivitäten etablieren wird, nachdem X, ehemals Twitter, als zunehmend von Rechten gekaperte Plattform keine Option mehr ist - das alles wird sich ebenso zeigen wie die Antwort auf die Frage, ob die Fußball-EM der Männer in den Medien auch als solche bezeichnet wird, oder ob sie immer noch als „die“ Fußball-EM den Alleinvertretungsanspruch haben darf. Derweil mögen sich alle, die sich für die sprachliche Seite dieser Fragen interessieren, mit dem vorliegenden Buch, mit dieser kleinen Linguistik des Fußballs die Zeit vertreiben. Ich hoffe, es bereitet Spaß. Und dieser ist zum Glück auch unabhängig von den Spielergebnissen - egal zu welcher Mannschaft man hält. Dresden, im April 2024 Simon Meier-Vieracker 12 Simon Meier-Vieracker <?page no="13"?> ⚽️-⚽️-⚽️ Biermann, Christoph. 2018. Matchplan: Die neue Fußballmatrix. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Burkhardt, Armin. 2022. Wörterbuch der Fußballsprache: Von Abblocken bis Zweitligist. 2. Auflage. Hildesheim: Arete Verlag. Gebauer, Gunter. 2016. Das Leben in 90 Minuten: Eine Philosophie des Fußballs. München: Pantheon. Küster, Rainer. 2009. Metaphern in der Sportsprache. In Armin Burkhardt & Peter Schlobinski (eds.), Flickflack, Foul und Tsukahara: Der Sport und seine Sprache, 60-79. Mannheim: Dudenverlag. Leischwitz, Christoph. 2020. Die Wissenschaft des Fußballs: Von der Physik der Bananen‐ flanke bis zur Biologie des Rasens. München: Riva. Meier-Vieracker, Simon. 2024. Sprache ist, was du draus machst. Wie wir Deutsch immer wieder neu erfinden. München: Droemer. Geht’s raus und schreibt’s über Fußball! 13 <?page no="15"?> VORBERICHTE <?page no="17"?> 1 Ich schließe mich hier Küppers (2018: 85) an, die den Asterisk an (im medialen Diskurs häufig einseitig) vergeschlechtlichte Begriffe anhängt, „um die geschlechtliche Adressierung kenntlich zu machen, ohne diese zu reifizieren.“ Fußball und Frauenfußball? (Bezeichnungs-)Ungleichheiten im Fußball Karina Frick Als Unterstützerin der italienischen (Männer-)Nationalmannschaft musste ich mein Fantum früher stets legitimieren - und zwar nicht aufgrund der von mir als unterstützenswert auserwählten Nation (als Liechtensteinerin ergibt sich die Gelegenheit, die Geburtsnation anzufeuern, leider nur selten), sondern vielmehr aufgrund meines eigenen Geschlechts: weibliche Fußballfans? Ich soll doch bitte zunächst alle Spieler [sic] der Nationalmannschaft aufzählen und die Abseitsregel erklären, erst dann ist frau offenbar des Fantums würdig (vgl. dazu auch Meuser 2017: 185 sowie Sülzle 2011: 225). Auch wenn mein eigenes Fantum nun schon lange nicht mehr auf die Probe oder in Frage gestellt wurde, ist Fußball-Fankultur, insbesondere abseits der großen Turniere, noch immer sehr stark männlich geprägt und kodiert, während „Frauen* als Fußballinteressierte nahezu unsichtbar bleiben“ (Küppers 2018: 88; vgl. dazu auch Meier-Vieracker 2022; Meuser 2017; Claus & Gabler 2017; Dezort 2014; Sülzle 2011). Aber nicht nur das Interesse am Sport, sondern auch dessen Ausübung durch Frauen* 1 ist nach wie vor von großen Ungleichheiten in der Bewertung und Wahrnehmung geprägt, was auf eine jahrzehntelange, systematische und institutionelle Unterdrückung des Frauenfußballs zugunsten der Förderung des Männerfußballs zurückzuführen ist (vgl. Dezort 2014: 120). An der diesjährigen Weltmeisterschaft wurde einmal mehr deutlich, wie weitrei‐ chend und tiefgreifend das Sexismusproblem im (Frauen-)Fußball ist (vgl. dazu auch Meuser 2017: 185 sowie Sülzle 2011: 223-228), als das Ende des Turniers von einem Kussskandal überschattet wurde, der letztlich ein größeres mediales Echo auslöste als die beeindruckende Leistung des siegreichen spanischen Teams. Diese Ungleichheiten manifestieren sich auch und im Besonderen, und das ist das zentrale Thema dieses Beitrags, auf der sprachlichen Ebene: Wenn <?page no="18"?> 2 Siehe https: / / www.faz.net/ aktuell/ sport/ frauenfussball-em/ fussball-em-wieso-das-wor t-frauenfussball-abgeschafft-werden-sollte-18154189.html <25.03.2024> 3 Siehe https: / / www.welt.de/ sport/ fussball/ article239588591/ Geschlechter-Debatte-War um-heisst-es-Frauenfussball-aber-nicht-Maennerfussball.html <25.03.2024> beispielsweise von Fußball die Rede ist, wird damit in aller Regel auf von Männern* gespielten Fußball Bezug genommen und werden vermutlich erstmal vorwiegend heteronormativ-männliche Bilder aufgerufen, während Frauenfuß‐ ball meistens durch das Determinativkompositum sprachlich explizit als sol‐ cher ausgezeichnet wird (ebenso in: ‚Nationalmannschaft‘ vs. ‚Frauen-Natio‐ nalmannschaft‘). Auch bei den offiziellen Bezeichnungen wichtiger Turniere werden die Frauen* in Form eines Genitivattributs zum ‚Anhängsel‘ gemacht: Während Männer* in der ‚Fußball-Europameisterschaft‘ (UEFA Euro) gegenein‐ ander antreten, messen sich Frauen* in der ‚Fußball-Europameisterschaft der Frauen‘ (UEFA Women’s Euro). Mit solchen Bezeichnungsungleichheiten geht nicht nur eine Abwertung - im Sinne einer sprachlichen Markierung des von der Norm abweichenden - einher, sondern darin spiegeln sich gleichsam weitere Formen der Ungleichbehandlung, beispielsweise, was das Prestige des Sports oder die Bezahlung der Spielerinnen anbelangt. Die deutsche Nationaltorhüterin Almuth Schult hat diesen Umstand vor der Europameisterschaft 2022 öffentlich kritisiert und damit eine mediale Debatte ausgelöst. Die FAZ titelte im Juli 2022 „Schluss mit Frauenfußball“ 2 und die Welt stellte die titelgebende Frage „Warum heißt es Frauenfußball, aber nicht Männerfußball? “ 3 . Unter anderem dieser Frage geht auch der vorliegende Beitrag nach, indem mediale Diskurse zu (Bezeichnungs-)Ungleichheiten in den Bewertungen von bzw. Positionierungen gegenüber von Frauen* gespieltem Fußball in den Blick genommen werden. Ich stütze mich dabei vorwiegend auf Medienberichte aus Deutschland und der Schweiz, die aus den letzten beiden Jahren stammen (und damit die Europa- und Weltmeisterschaft einschließen). Weitere Beispiele aus sozialen Medien werden schlaglichtartig hinzugezogen. Bezeichnungsungleichheit: Warum heißt es nicht Männerfußball? Zunächst möchte ich den Begriff ‚Männerfußball‘ kurz umreißen, da dieser, wie Meier-Vieracker (2018) aufzeigt, mindestens zwei verschiedene Lesarten aufweist: „[Z]unächst mal dient die Bezeichnung ‚Männerfußball‘ der eindeu‐ tigen Bezugnahme“ in Abgrenzung zum Frauenfußball, oft in kontrastierender Thematisierung. Die zweite Deutung betrifft nicht die geschlechtsbezogene Kategorisierung der spielenden Personen, sondern „eine bestimmte Spielweise“ 18 Karina Frick <?page no="19"?> 4 Bei der Spracheinstellung ‚Deutsch (Schweiz)’ sind interessanterweise beide Varianten unmarkiert, werden also nicht als korrekturbedürftig angezeigt. im Sinne einer bewertenden Stellungnahme des gespielten oder zu spielenden Fußballs. Männerfußball in diesem Sinn zeichnet sich durch als typisch männ‐ lich gelesene Attribute wie ‚Härte‘ oder ‚Kampfgeist‘ aus. Auf diese zweite Lesart werde ich im zweiten Teil meines Textes eingehen, zunächst widme ich mich aber der kontrastierenden Thematisierung durch die spezifizierenden Determinativkomposita, wobei - wie einleitend erwähnt - das Determinativ‐ kompositum vorwiegend bei von Frauen* gespieltem Fußball zum Einsatz kommt, während von Männern* gespielter Fußball quasi den unmarkierten (und deswegen sprachlich nicht zu markierenden) Fall darstellt und daher nicht näher spezifiziert werden muss (vgl. dazu auch Meier-Vieracker 2018). Dazu möchte ich gleich eine erste Beobachtung in punkto (sprachlicher) Ungleichheit erwähnen, die mir während des Schreibens dieses Beitrags aufgefallen ist: Als Schweizerin ist mir die Verwendung des Eszett nicht geläufig, ich schreibe deshalb alle Wörter erstmal mit Doppel-s und übernehme anschließend die entsprechenden Korrekturvorschläge des Textverarbeitungsprogramms - so auch beim Wort Fußball. Bei den Kompositaschreibungen ergibt sich dabei folgende Situation: Abb. 1: Keine Vorschläge gefunden Während es für das Kompositum ‚Frauenfußball‘ einen Korrekturvorschlag für die bundesdeutsche Variante mit dem Eszett gibt, ist das bei ‚Männerfuß‐ ball‘ nicht der Fall: Diesen Begriff scheint die Rechtschreibsoftware nicht zu (er)kennen. 4 Das mag zwar ein Detail, aber sicher kein Zufall sein - und abgesehen davon, dass es für meinen Schreibprozess ziemlich mühsam ist, widerspiegelt sich darin letztlich die angesprochene Ungleichheit in der Bezeichnung: Männer* spielen Fußball, Frauen* spielen Frauenfußball. Der Fußball und Frauenfußball? 19 <?page no="20"?> 5 Einen lexikalischen Eintrag gibt es aber für Männerfußball im DWDS nicht, dort heißt es stattdessen: „Es tut uns leid, Ihre Anfrage Männerfußball ist nicht in unseren gegenwartssprachlichen lexikalischen Quellen vorhanden.“ (siehe https: / / www.dwds.d e/ ? q=M%C3%A4nnerfu%C3%9Fball&from=wb <25.03.2024>). Vollständigkeit halber muss jedoch hinzugefügt werden, dass der Duden online beide Varianten verzeichnet, wenn auch das Wort ‚Frauenfußball‘ gemäß den dortigen Angaben eine höhere Gebrauchsfrequenz aufweist. Das zeigt sich indes auch an den DWDS-Verlaufskurven: 5 Abb. 2: DWDS-Verlaufskurve für ‚Frauenfußball‘ Abb. 3: DWDS-Verlaufskurve für ‚Männerfußball‘ Die zwei Kurven sehen sich zwar auf den ersten Blick ähnlich, bei beiden ist ein deutlicher Anstieg im neuen Jahrtausend, insbesondere seit den 2010er- 20 Karina Frick <?page no="21"?> Jahren zu verzeichnen. Dieser erste Eindruck täuscht jedoch mit Blick auf die absoluten Zahlen, wie sie auf der y-Achse erfasst sind: Der Begriff ‚Frauen‐ fußball‘ benötigt eine Skala bis 10‘000, mit einem Peak im Jahr 2011 (damals fand die Weltmeisterschaft in Deutschland statt), in dem es 9081 Nennungen gibt und einer zweiten Spitze im Jahr 2022 (ein Europameisterschaftsjahr), die aber nur noch 4871 Nennungen erreicht. Die Achse beim Männerfußball reicht hingegen überhaupt nur bis 700, der höchste Punkt ist mit 647 Nennungen im Jahr 2023 zu verzeichnen, die zweithöchste im Weltmeisterschaftsjahr 2011 mit 634. Daran zeigt sich erstens, dass das Turnier in Deutschland dem von Frauen* gespielten Fußball große Aufmerksamkeit verschaffte (vgl. dazu auch Dezort 2014: 119), während der Begriff zuvor nur selten zur Anwendung kam, obwohl er seit den 1970er-Jahren in der Presse Verwendung findet (vgl. Meier-Vieracker 2024: 44). Zweitens wird deutlich, dass die Bezeichnung ‚Frauenfußball‘ im zeitlichen Verlauf tendenziell seltener gebraucht wird, während sich beim Begriff ‚Männerfußball‘, der übrigens erst 1992 geprägt wurde (vgl. Meier- Vieracker 2024), tendenziell eine Zunahme abzeichnet. Auch wenn die Zahlen noch immer sehr weit voneinander entfernt sind und diese Entwicklung im alltäglichen Sprachgebrauch oder auch in der Wahrnehmung der Sprachbe‐ nutzer: innen vermutlich (noch) kaum nachzuverfolgen ist, so lässt sich an den Kurven doch wenigstens ablesen, dass in den Medien vermehrt über diese Bezeichnungsungleichheit reflektiert wird - ganz im Sinne der Forderung von Almuth Schult. Offen bleibt indes die Frage, ob die Entwicklung in Richtung einer Bedeutungserweiterung von ‚Fußball‘ geht, sodass damit Teams beider Geschlechter gleichermaßen gemeint sind (wie es der oben zitierte FAZ-Artikel vorschlägt oder beispielsweise in Schweden schon seit längerem der Fall ist), oder ob vermehrt auch bei männlichen Teams das Determinativkompositum zum Einsatz kommen wird (wie es die ‚Welt‘ vorschlägt), und zwar auch in nichtkontrastierender Funktion. Letzteres könnte sich allerdings aufgrund der mit den Begriffen verbundenen Konnotationen als problematisch erweisen, wie ich weiter unten nochmal genauer zeigen werde. Dieser sich zögerlich andeutenden Entwicklung steht einerseits die offizielle Sprachregelung der Verbände und der Europäischen Fußball-Union entgegen. Kritik daran kommt etwa in der einleitend erwähnten Forderung der deutschen National-Keeperin nach einer neuen Sprachregelung zum Ausdruck, die Ende Juni 2022 in zahlreichen Medien aufgegriffen wurde: Nationaltorhüterin Almuth Schult hat die großen Fußball-Verbände aufgefordert, für mehr Geschlechtergerechtigkeit zu sorgen. Die offizielle Unterscheidung zwischen Fußball und Frauenfußball sei eine Abwertung. (NDR, 27-06-2022) Fußball und Frauenfußball? 21 <?page no="22"?> 6 https: / / www.news.uzh.ch/ de/ articles/ media/ 2023/ Frauenfussball.html <25.03.2024> Andererseits hat sich, wie es im Artikel weiter heißt, der Begriff längst - auch als Selbstbezeichnung vieler Spielerinnen - etabliert, entsprechend ist er auch im alltäglichen (im Gegensatz zum massenmedialen) Sprachgebrauch viel stärker verankert als ‚Männerfußball‘. Das Bewusstsein um die damit einhergehende Abwertung dürfte unterschiedlich stark ausgeprägt sein, mitgetragen oder auch gezielt eingesetzt werden - dass aber durch die begriffliche Auszeichnung Frauenfußball als sich vom ‚normalen‘, nicht zusätzlich spezifizierten Fußball unterscheidende Form des Spiels markiert wird, ist nicht zu bestreiten. Das anerkennt auch die FAZ, nur um die damit aufgerufenen Vorurteile anschließend selbst zu bekräftigen: Und ja, das Spiel der Frauen mag im Vergleich zu den Männern nicht so dynamisch, nicht so schnell, nicht so kraftvoll sein. Aber ist es deswegen schlechter? Brauchen wir diesen Vergleich überhaupt, zwischen dem einen und dem anderen? (FAZ, 07-07-2022) Wie stark solche Bewertungen fußballerischer Leistungen von Gendervorur‐ teilen geprägt - und eben nicht auf irgendwie objektiv messbare Parameter zurückzuführen - sind, hat kürzlich eine experimentelle Studie der Universität Zürich aufgezeigt, in der 613 Studienteilnehmende sich verschiedene Torszenen aus dem Spitzenfußball angesehen und diese bewertet haben. 6 Die Ergebnisse waren deutlich: Nur wenn die Proband: innen das Geschlecht der spielenden Person identifizieren konnten, wurde der Männerfußball signifikant besser be‐ wertet; wurden die Spieler: innen verpixelt, verschwanden die Unterschiede zwi‐ schen den Bewertungen. Von Frauen* gespielter Fußball ist also entgegen immer noch vorherrschender gängiger Meinungen keineswegs qualitativ schlechter als der von Männern* gespielte (mal abgesehen von Defiziten, die der verspäteten und teils aktiv verhinderten Professionalisierung geschuldet sind) - er ist aber von geschlechtsspezifischen stereotypen Zuschreibungen geprägt, die ich im Folgenden noch etwas genauer betrachten möchte. Fußball ist ein Männersport! In diesem Sinne werde ich nun wie angekündigt noch auf die zweite Lesart von Männerfußball eingehen, der man sich bei der Beschäftigung mit diesem Thema kaum entziehen kann und in der sich letztlich die ganze „Unerträglichkeit der Rede von ‚Männerfußball‘“ (Meier-Vieracker 2018) manifestiert. Eine kürzlich publizierte Zitat-Schlagzeile aus dem Schweizer Boulevard-Blatt ‚Blick‘ veran‐ schaulicht diese Konzeptualisierung: 22 Karina Frick <?page no="23"?> Abb. 4: Schlagzeile vom 27.11.2023 im Schweizer Boulevard-Blatt ‚Blick‘ Abgesehen vom deutlichen Clickbait-Charakter dieser Schlagzeile - das Zitat spielt eine untergeordnete Rolle im gesamten Artikel und widerspiegelt lediglich eine (Außenseiter-)Position zum thematisierten Foul - kann man daran ablesen, welche Eigenschaften sogenanntem ‚Männersport‘ im Gegensatz zu als nichtmännlich bewerteten Sportarten wie Schach zugeschrieben werden: „Bezogen auf die Sportler selbst gelten etwa körperliche Härte und Disziplin als besonders männliche und zugleich geforderte Spielweisen“ (Meier-Vieracker 2022: 249). Damit werden letzten Endes heteronormative Männlichkeitsvorstellungen re‐ produziert (vgl. ebd.: 251), die als Bewertungsfolie für Negativzuschreibungen für von Frauen* gespielten Fußball dienen - bspw. durch die Degradierung eines Spielers, der unter „Effeminierungsverdacht“ gestellt und von dem im Zuge dessen behauptet wird, „er spiele wie eine Frau oder ein Mädchen“ (Meuser 2017: 183) als „eine der schlimmsten Herabsetzungen für einen Spieler“ (Sülzle 2011: 225). Diese Abwertungsressource wird dabei quasi metonymisch von den Spielern auf die Fans übertragen, indem das Absprechen von Männlichkeit resp. die damit einhergehende Zuschreibung weiblicher Attribute - übrigens häufig in Kombination mit Homophobie - zu den zentralen Topoi der Beschimp‐ fungskultur von Fußballfans gehört und so zum „hegemoniale[n] Maßstab“ der Zugehörigkeit wird (vgl. Meier-Vieracker 2022: 248). Diese mit Stärke und Härte konnotierte, heterosexuell-hegemoniale Lesart von ‚Männerfußball‘ als Ausgangspunkt wirkt sich zwangsläufig auf das Be‐ deutungsspektrum von ‚Frauenfußball‘ als (auch historisch bedingtes) quasi sekundäres, nachgeordnetes Phänomen aus, wobei das kontrastive Moment gerade das Fehlen dieser für Männerfußball typischen Eigenschaften impliziert: Wenn Männerfußball ‚hart‘, ‚körperbetont‘ und ‚stark‘ ist, kann Frauenfußball Fußball und Frauenfußball? 23 <?page no="24"?> das nicht im gleichen Masse sein. Auf diese mehr oder weniger explizit gemachte Annahme wird unterschiedlich reagiert: Einerseits wird ex negativo gerade das Fehlen der für Männerfußball typischen Merkmale positiv (um)gedeutet, von Frauen* gespielter Fußball zeichnet sich dann beispielsweise zwar durch „Kraft“ (nicht aber Stärke! ) aus, er ist aber auch „verspielt“ und „elegant“: Doch dann passierte etwas. Die Frauen foulten seltener, sie spuckten nicht, sie hatten Kraft, sie spielten verspielt und elegant. Die Siegerinnen zeigten ihre Freude nicht überschwänglich, das fand ich cool, gerade, weil man von den Frauen das Gegenteil erwartet: Gefühle natürlich. Sie rannten, wirbelten, sprangen hoch, fielen hin, standen auf. Beim dritten Treffer schob eine Engländerin den Ball mit der Ferse ins Tor. Wer braucht da noch Männerfussball? (NZZ-Kolumne, 29-07-2022) Dieser - meines Erachtens ziemlich ungelenke - Versuch einer positiven Begriffsbesetzung zementiert letzten Endes die stereotypen Zuordnungen: Männer* kämpfen entschlossen und mit allen ihnen körperlich zur Verfügung stehenden Mitteln, Frauen* wirbeln verspielt über das Feld. Und weil die starken Emotionen bereits für den ‚echten‘ Männerfußball reserviert sind (vgl. Meuser 2017: 181 f.), zeigen die Siegerinnen ihre Freude auch nicht überschwänglich, sondern halten sich zurück, was für sie als gefühlsgeleitete Wesen ganz unty‐ pisch ist (aber das sind Emotionen bei Männern* ja auch: Die Verhältnisse kehren sich also im Fußball einfach um). Andererseits werden die mit dem Männerfußball verknüpften Eigenschaften auch für den Frauenfußball reklamiert, um damit letztlich eine ‚Vermännli‐ chung‘ im Sinne einer gesteigerten Wertschätzung in der Wahrnehmung des Frauenfußballs anzustreben; dies geschieht häufig in Form von rechtfertigenden oder verteidigenden Aussagen, wie es die folgenden Ausschnitte exemplarisch illustrieren: Und er bot allerbeste Werbung dafür, wie attraktiv und kurzweilig der Frauenfussball auch in der Schweiz sein kann. (NZZ, 07-06-22) Aber auch damit, dass eine breite Masse erkennt, dass die jahrelang mal mehr, mal weniger offensiv ausgesprochenen chauvinistischen Vorurteile einfach nicht stimmen: dass der Fussball weniger attraktiv sei, qualitativ schlechter. Das hat die Euro eindrücklich widerlegt, eine Vielzahl der Partien war hochstehend, mit Duellen, die mit offenem Visier geführt wurden (NZZ, 02-08-2022) Es macht Freude, Frauenfussball zu schauen. Die Qualität stimmt, der Unterhaltungs‐ wert ist gross, das hat der diesjährige Champions-League-Final in Eindhoven gezeigt (Blick, 15-07-2023) 24 Karina Frick <?page no="25"?> Die Attraktivität und die Qualität des von Frauen* gespielten Fußballs scheint immer noch explizit thematisiert und verteidigt werden zu müssen; das zeugt davon, wie hartnäckig sich solche herabsetzenden Annahmen halten (auch wenn sie in Studien widerlegt wurden, siehe oben). Auch der nachfolgend abgebildete Instagram-Post des ARD-Accounts verdeutlicht diesen Umstand: Abb. 5: Frauenfußball ist echt, spaßig und leidenschaftlich Die hier zitierte deutsche Fußballnationalspielerin Alexandra Popp betont die ‚Echtheit‘ von Frauenfußball (im Bild zusätzlich markiert durch die Großschrei‐ Fußball und Frauenfußball? 25 <?page no="26"?> 7 Die Farbgebung dürfte hier allerdings nicht zufällig einen Kontrast zu den darin vermittelten Inhalten eröffnen, da es sich um eine tendenziell weiblich konnotierte Farbe handelt. bung und die farbliche Markierung) 7 und demonstriert diese anhand der Werte ‚Authentizität‘ (in gewisser Weise eine Doppelung der ‚Echtheit‘, was die Notwendigkeit ihrer Betonung offenkundig macht), (extreme) ‚Leidenschaft‘ und ‚Spaß‘. Inwiefern diese letzte Zuschreibung auch im Männerfußball eine entscheidende Rolle spielt, ist angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der teilweise in den Fan(sub)kulturen agiert wird (vgl. Meuser 2008), fraglich; der Post verdeutlicht aber, dass es neben der offensichtlich immer noch bestehenden Notwendigkeit zur Legitimierung von Frauenfußball als ‚echtem‘ Fußball die Anlehnung an männlich gelesene Werte ist, die diesen Zweck letztlich am besten zu erfüllen vermag. Mit diesen Vermännlichungsstrategien einher gehen letztlich auch prototypi‐ sche und weit verbreitete Vorstellungen von lesbischen und/ oder burschikosen Fußballerinnen (vgl. Schöndorfer 2014: 105). Kompliziert - und interessant - wird es deshalb immer dann, wenn diese prototypischen Zuschreibungen nicht mehr funktionieren. Das möchte ich zum Abschluss gerne an dem Beispiel der Schweizer Nationalspielerin Alisha Lehmann illustrieren, die auf Instagram 16.3 Millionen und damit mehr als fünfmal so viele Follower: innen als der Captain des schweizerischen Männer-Nationalteams Granit Xhaka aufweist (dieser hat 3.1 Millionen Follower: innen, Stand Dezember 2023). Diese Popularität ihrer Person, die mit ihrem Aussehen begründet wird, lässt sich für viele nicht mit ihrer Aufgabe als Fußballprofi zusammenbringen, wie die folgenden Kommentare zu einem Watson-Artikel, der sich mit Lehmanns Rückkehr in die Nationalmannschaft und ihren Instagram-Follow: innerzahlen befasst, zeigen: Das ist jetzt eine ganz ernste Frage, kann diese Dame auch Fussball spielen? Ich lese nur immer von ihren Instagram Aktivitäten und sehe mer nackte Haut als Fussball Utensilien. (Kommentar watson.ch, 01-02-2023). Ich tippe auf extreme Unsicherheit bezüglich sich selbst (also das Gegenteil von Selbstvertrauen). Schau dir das Titelbild an: Links und rechts sitzen zwei Damen, in natura, ungeschminkt. Diese strahlen mehr Selbstsicherheit aus, als die finanziell erfolgreiche Frau Lehmann. Warum muss man auf dem Fussballplatz gestylt sein wie auf dem Model-Laufsteg? Ich bin sicher, Alisha Lehmann wäre ohne 2 kg Make-Up- Maske und ohne gemachte (sind die gezeichnet oder sogar tättowiert? ) Augenbrauen eine wirklich schöne Frau (Kommentar watson.ch, 02-02-2023). 26 Karina Frick <?page no="27"?> Ich habe immer gehofft, dass Frauenfussball mehr Aufmerksamkeit bekommt. Aber nicht so. Die hat mehr Follower als Marta Silva. Stimmt mich schon traurig. (Kom‐ mentar watson.ch 01-02-2023) Abgesehen davon, dass der Artikel an sich tendenziös ist, indem er die Kombina‐ tion ‚Fußballerin und Influencerin‘ als bemerkenswert herausstellt, wird deut‐ lich, dass die Kommentierenden hier vermeintlich unvereinbare Dissonanzen relevant setzen, die bei männlichen Fußballprofis in dieser Form nicht oder kaum je thematisiert werden; so sind ja auch zahlreiche Fußballprofis auf Instagram in ganz ähnlicher und nicht weniger finanziell ertragreicher Weise aktiv (z. B. Cristiano Ronaldo). Bei Fußballerinnen scheint das aber ein Problem zu sein: Diese können nicht gleichzeitig in einem ‚Männersport‘ erfolgreich sein (das setzt ja gerade die oben beschriebene ‚Vermännlichung‘ voraus) und ihr weiblich gelesenes Aussehen - das bei Alisha Lehman ja insbesondere auch an ihrer als zu exzessiv bewerteten Vorliebe für Makeup und Styling festgemacht wird - vermarkten. Dass Fußballerinnen sich für ihr Aussehen und ihre Styling- Präferenzen rechtfertigen müssen, ist letztlich ein weiteres Spiegelbild für den tief und auf allen Ebenen verankerten Sexismus im Fußball; und solange geschlechtsbezogene Informationen sich so stark auf die Wahrnehmung von Leistung auswirken - die ohne diese Information ganz anders bewertet wird - sind die in diesem Beitrag nur andeutungsweise aufgezeigten Ungleichheiten im Fußball kaum zu überwinden. ⚽️-⚽️-⚽️ Claus, Robert & Jonas Gabler. 2017. Sprache und Kommunikation in Fußballfangruppen. In Eva Neuland & Peter Schlobinski (eds.), Handbuch Sprache in sozialen Gruppen, 370-384. Berlin, Boston: De Gruyter. Dezort, Philipp. 2014. Fankulturen des Männer- und des Frauenfußballs: Qualitative Unterschiede und mögliche historische Ursachen. In Jonas Bens, Susanne Kleinfeld & Karoline Noack (eds.), Fußball. Macht. Politik, 119-142. Bielefeld: transcript. Küppers, Carolin. 2018. Die mediale Konstruktion von Männlichkeit und Heteronor‐ mativität zur Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. In Martin K.W. Schweer (ed.), Sexismus und Homophobie im Sport, 85-104. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wies‐ baden. Meier-Vieracker. 2018. „Männerfußball“. Fußballlinguistik. https: / / fussballlinguistik.de/ 2 018/ 06/ maennerfussball/ (20.12.2023). Meier-Vieracker, Simon. 2022. Zwischen Gay Pride und archaischer Männlichkeit. Linguistische Perspektiven auf Diversität unter Fußballfans. Jahrbuch des Russischen Fußball und Frauenfußball? 27 <?page no="28"?> Germanistenverbandes 19. 246-262. https: / / doi.org/ 10.47388/ 2782-2605/ lunn2022-19-2 46-262. Meier-Vieracker, Simon. 2024. Sprache ist, was du draus machst! Wie wir Deutsch immer wieder neu erfinden. München: Droemer Knaur. Meuser, Michael. 2008. It’s a Men’s World. Ernste Spiele männlicher Vergemeinschaftung. In Gabriele Klein & Michael Meuser (eds.), Ernste Spiele, 113-134. Bielefeld: transcript Verlag. Meuser, Michael. 2017. Fußballfans: Inszenierungen außeralltäglicher Männlichkeit. In Gabriele Sobiech & Sandra Günter (eds.), Sport & Gender - (inter)nationale sportsozi‐ ologische Geschlechterforschung, 179-192. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Schöndorfer, Simone. 2014. Fußball ist nicht gleich Fußball: Ein Sport. Zwei Geschlechter. Unzählige mediale Berichterstattungsdifferenzen. In Jonas Bens, Susanne Kleinfeld & Karoline Noack (eds.), Fußball. Macht. Politik, 101-118. Bielefeld: transcript. Sülzle, Almut. 2011. Fußball, Frauen, Männlichkeiten: eine ethnographische Studie im Fanblock. Frankfurt, New York: Campus Verlag. 28 Karina Frick <?page no="29"?> Torhüter in Texten und Medien. Eine Annäherung Thomas Gloning Philipp Heineken schrieb im Jahr 1898, also in der Frühzeit des Fußballspiels, über die Position des Torhüters: d) Der Thorwächter (Goalkeeper) Wenn sich der Wert eines Postens nach seiner Verantwortlichkeit beurteilen lässt, so gebührt in dieser Hinsicht dem Thorwächter die Palme. (Heineken 1898: 74) Auch heute gelten die Torhüter als „besondere“ Spieler. Sie tragen üblicherweise die Trikotnummer 1, sie werden normalerweise in Partien oder in ganzen Spiel‐ zeiten nicht ohne triftige Gründe ausgewechselt, für Torhüter gelten besondere Regularien (etwa für die Nutzung der Hände) und auch im Hinblick auf die Kleidung unterscheiden sich Torhüter von Feldspielern. Noch wichtiger ist aber, dass ihre Aufgaben und Leistungen eigenen Thematisierungsprinzipien und Beurteilungsmaßstäben unterliegen. Torhüter können sehr gut spielen, auch wenn die Mannschaft schlecht war und letztlich verloren hat. Was in Bezug auf einen Stürmer als scheitern charakterisiert wird, kann in der Torwartperspektive als überragend abwehren formuliert werden (Meier-Vieracker 2023: 584 ff.). Da stellen sich u. a. die Fragen, wie Torhüter und ihr Wirken thematisiert werden, welche thematischen Facetten dabei behandelt werden und ob die Darstellungsformen und sprachlich-bildlichen Mittel und Verfahren ggf. auch spezifische Ausprägungsformen aufweisen oder nicht. Torhüter stehen normalerweise im Tor und tun das, wofür sie da sind: Tore verhindern. 90 oder gar 120 Minuten geben vielfältigen Anlass, diese Aufgabe mehr oder weniger gut zu erfüllen. Aber die Zeiten zwischen den Torpfosten in Spielen mit all den „Glanzparaden“, den „Torwartpatzern“ und allem, was dazwischen liegt, sind nur die prominenten Momente. Zwischen den Spielen trainieren sie, geben Interviews, führen Transferverhandlungen, ma‐ chen Skitouren, kurieren Verletzungen aus, heiraten oder lassen sich scheiden, sprechen auf Pressekonferenzen, lassen sich photographieren usw. Und: Sie sind Gegenstand medialer Darstellungen, z. B. in Spielberichten, in Porträts, in <?page no="30"?> Talkshows, in Biographien, zuweilen schreiben sie auch selbst. Mir geht es in diesem Beitrag um die Frage, wie Torhüter in Texten und komplexeren medialen Angeboten repräsentiert werden, in Zeitungsberichten und Zeitschriften, in audiovisuellen Beiträgen (z. B. Fernsehen, YouTube) oder im Rahmen von Internetangeboten. Ich ziehe auch ein paar historische Quellen mit heran, damit wir nicht vergessen, dass die sportliche Sozialfigur „Torhüter“ auch eine geschichtliche Dimension hat. Ich beschränke mich in dieser „Annäherung“ auf Beispiele aus dem Männerfußball, das ist aber nur dem thematischen Anlass des Bandes geschuldet. Wann und zu welchen Anlässen werden Torhüter in Medien thematisiert? Wenn man ein „Medienjahr“ oder auch nur eine „Medienwoche“ in verschie‐ denen Angebotsbereichen (z. B. Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Hörfunk, soziale Medien) durchkämmt und sich fragt, wo und zu welchen Arten von Anlässen Torhüter thematisiert werden, welche thematischen Facetten dabei zur Sprache kommen und welche Darstellungsformen genutzt werden, dann kann man in Bezug auf die Thematisierungsanlässe einige Grundtypen finden. Ein sehr häufiger und wiederkehrender Anlass der Thematisierung von Torhütern sind die Leistungscharakterisierungen im Rahmen der Berichterstat‐ tung zum laufenden Fußball-Geschehen, die vor allem in den Spielberichten zu einzelnen Begegnungen zu finden sind. Diese Art von wiederkehrendem Thematisierungsanlass ergibt sich aus der seriellen Struktur der Bundesliga, verschiedener Pokale, von Länderspielen usw. Ein Beispiel für die spielbezogene Art der Thematisierung einer Torhüterleistung ist die Zwischenüberschrift „PSG-Torwart Donnarumma changiert zwischen Weltklasse und Bolzplatz“ (SZ 30.11.2023: 23), die sich auf das Champions League-Spiel Paris Saint-Germain gegen Newcastle bezieht, in dem Torhüter Donnarumma nach Ansicht des Berichterstatters eine sehr schwankende Leistung gezeigt hat, was dann im Fließtext des Artikels auch noch näher ausgeführt wird: PSG-Keeper Gianluigi Donnarumma, immer noch erst 24 Jahre alt, wo er doch schon ewig dabei zu sein scheint, bewies mal wieder, dass bei ihm das Gefälle zwischen Weltklasse und Bolzplatz fließend ist. Was wird in Paris nicht über ihn debattiert! Es heißt, die Mitspieler scheuten es, ihm den Ball zuzuspielen, weil er mit seinen Füßen recht ungelenk ist. Auf der Linie aber, heißt es auch, sei „Gigio“ eine Bank. Nun, diesmal klatschte Donnarumma den Ball mit den Händen linkisch und zentral weg, direkt in die Füße von Isak. Wahrscheinlich würde Enrique gerne auch mal wieder mit einem anderen Torwart spielen, doch mit wem? Keylor Navas, die Nummer 30 Thomas Gloning <?page no="31"?> zwei, laboriert offenbar an einem Hexenschuss, aber so genau weiß das niemand. Und Sergio Rico fiel vor einigen Monaten dramatisch vom Pferd […] - Die Klage über Donnarumma übertönt alles. Doch seine Aussetzer sind nur die halbe Erklärung dafür, dass Paris nach fünf Gruppenspielen nur sieben Punkte hat, so wenige wie zuletzt 2004. Man sieht an diesem Beispiel, wie eine einzelne spielbezogene Leistung ein‐ geordnet werden kann in ein weiteres Gefüge von thematischen Aspekten (Diskussionen in Paris, Stellung in der Mannschaft, Ersatztorhüter, Erklärung für die schwache Leistung von PSG). Und es ist interessant, wie im selben Beitrag der Torhüter der gegnerischen Mannschaft charakterisiert wird, der nur durch einen zweifelhaften Elfmeter überwunden werden kann: Natürlich, die Engländer hatten so etwas wie die Antithese von Donnarumma im Tor stehen, einen Mann mit einem fast unschlagbaren Namen: Nick Pope. Er parierte alles, was auf ihn zukam. „Die Götter sind gegen Paris“, sagte der Kommentator von Canal+, als es spät wurde. Kein Wunder: Newcastle hatte einen Papst im Tor. - Dann endlich kam die 98. Minute: Elfmeter für Paris, wegen eines flüchtigen Handspiels. (…) Nicht alle Thematisierungen sind so kunstreich ausgeführt wie in diesem Bei‐ spiel. Man kann schon im Vokabular für Torwart-Leistungen sehen, dass es eine Art von Skala zwischen Fehlern („Patzer“) und Hochleistungen („Glanzparade“) gibt, im Bereich dazwischen liegt das, was handwerklich von einem guten Torhüter zu erwarten ist. So heißt es in einem ARD-Filmbeitrag „Die Nummer Eins - Deutschlands große Torhüter“ (2018) über ein Gegentor, das der bei der Weltmeisterschaft 2002 in sechs Spielen überragend agierende Oliver Kahn einstecken musste: Ein Ball, den man normalerweise halten müsste. Man muss es leider sagen in diesem Zusammenhang: Torwartfehler. (8: 23) Es gibt - zweitens - auch Thematisierungsanlässe, die über einzelne Spiel- Begegnungen hinausgehen. In unserem Buch über Personenporträts (Cheng & Gloning 2017) haben wir einen Beitrag von 2005 über den Frankfurter Torhüter Markus Pröll analysiert, der seinerzeit wesentlich zur Saison-Leistung seines Vereins beigetragen hat und der aus diesem Anlass mit einem Porträt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (13.3.2005: 10) gewürdigt wurde. Solche eigenständigen Einzelporträts zu Torhütern, in denen eine längerfristige Leistungsbewertung im Vordergrund steht, sind im alltäglichen Textkosmos aber eher selten. In Fachmedien wie „Kicker“ gibt es zwar häufiger Beiträge, in denen einzelne Torhüter fokussiert werden, aber nicht mit dem Schwerpunkt auf einer längerfristigen Leistungsbewertung. Torhüter in Texten und Medien 31 <?page no="32"?> Sodann gibt es als dritte Gruppe, die ich anführen will, immer wieder auch Beiträge, in denen thematische Aspekte zur Sprache kommen, die einen oder mehrere Torhüter einer Mannschaft betreffen, z. B. Verletzungen, Transferopti‐ onen, die Perspektiven älterer Torhüter, das Verhältnis eines Stammtorhüters zu seinen Vertretungen oder auch Gesichtspunkte der Aufstellung für ein be‐ stimmtes Spiel oder ein Turnier. Solche Aspekte können einzeln oder kombiniert behandelt werden. Ein Beispiel für die kombinierte Thematisierung ist ein Beitrag in der SZ (30.11.2023: 23), in dem die Perspektiven des inzwischen 37-jährigen FC Bayern-Torhüters Manuel Neuer behandelt werden. Thematisch bunt werden hier seine Verletzungen, die Geschichte der Armbinde in Qatar, das gute Verhältnis zu seinem Stellvertreter, die Arbeit im Torhüter-Trainingsteam beim FC Bayern München, aktuelle Entwicklungen usw. behandelt. Dieses thematische „Potpourri“ folgt der übergeordneten Frage - und das ist der Thematisierungsanlass -, wie es im Tor des FC Bayern München mittelfristig weitergeht und was die aktuellen Entwicklungen (z. B. Vertragsverlängerungen) sind. Für Vertreter und Vertreterinnen einer gusseisernen Textsortenkonzeption ist ein solches Beispiel eine harte Nuss, weil man sich sehr schwertut, eine etablierte Textsorte zu benennen, der unser Exemplar als Muster folgt. Vielmehr ist das Textexemplar Resultat einer offenbar anlassbezogenen journalistischen Problemlösestrategie. Solche Beispiele sind nicht nur interessant im Hinblick darauf, wie Torhüter dargestellt werden, sie relativieren in sprachwissenschaft‐ licher Hinsicht die Annahme, dass Texte im Rahmen der Textproduktion immer konventionalisierten Textsorten folgen. Vergleichbare Darstellungsformen, bei denen Torhüter im Mittelpunkt stehen, finden sich regelmäßig auch im Fachmagazin „Kicker“ (z. B. Kicker 64/ 2023: 20 f.). Thematische Facetten in Darstellungsformen über Torhüter Wie das letzte Beispiel zeigt, werden in Torwart-Texten neben der Berichter‐ stattung über das laufende Fußballgeschehen in einzelnen Begegnungen auch weitere Facetten der Thematisierung von Torhütern genutzt. Im erwähnten Buch über die Personenporträts haben Hsin-Yi Cheng und ich (2017) festge‐ stellt, dass für Porträts sog. „Personenkategorien“ eine zentrale Rolle spielen. Personenkategorien sind nicht überzeitlich gedacht, sondern sind bezogen auf den jeweiligen Thematisierungsanlass. Eine zu einem bestimmten Anlass porträtierte Opernsängerin, ein Fußballtorwart (der vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt eine ganz andere Rolle spielt), eine neue Politikerin, ein Jazzmusiker mit einem neuen Album eröffnen jeweils spezifische Thematisierungsoptionen. 32 Thomas Gloning <?page no="33"?> Aber auch die Darstellungsform (z. B. Spielbericht vs. Personenporträt) spielt für die Frage nach den relevanten thematischen Aspekten eine wichtige Rolle. Wenn man sich fragt, im Hinblick auf welche thematischen Facetten Torhüter charakterisiert werden, dann spielen also die Personenkategorie „Torhüter“ und die jeweilige Darstellungsform zusammen. Ich will das mit drei Beispielen verdeutlichen. (1) In einem gedruckten oder audio-visuellen Bericht über ein aktuelles Fußballspiel stehen Aspekte der Ereignisdarstellung und der Leistungscharak‐ terisierung normalerweise im Vordergrund, auch in Bezug auf die Rolle von Tor‐ hütern. Auf YouTube gibt es z. B. das audio-visuelle Format des kommentierten Zusammenschnitts wichtiger Szenen aus einem Fußballspiel („Highlights“), auch solcher Spiele, die in voller Länge nicht zugänglich oder hinter Bezahl‐ schranken abgeschirmt sind. Solche Beiträge sind üblicherweise fünf bis acht Minuten lang und enthalten in der bildlichen Darstellung u. a. wichtige Tore, verpasste oder vereitelte Chancen, mit dem Kommentar der Off-Stimme darüber hinaus auch wichtige Hintergrundinformationen, Bewertungen und Formen der Einordnung. Während vielfach die Stürmerbzw. Torerfolg-Perspektive überwiegt, spielen die Torleute im Hinblick auf vereitelte Torchancen oder Torwartfehler eine zentrale Rolle. Ein gutes Beispiel ist ein YouTube-Zusam‐ menschnitt der Begegnung Barcelona vs. Almeria vom 20.12.2023, das mit einer Überschrift versehen wurde, welche die Rolle der beiden Torhüter schon andeutet: „Spektakuläres Torhüter-Duell bei Chancenfestival: FC Barcelona - Almeria | LaLiga | DAZN Highlights”. Schon in den ersten Sekunden ist eine spektakuläre Abwehr von Almerias Torhüter Maximiano zu sehen, die so kommentiert wird: „Maximiano, das ist überragend gehalten“. Und später: „Das ist ja brutal, was der heute hält“. Und noch später, zu einer anderen Gelegenheit: „Wieder Maximiano. Dem bauen sie eine Statue in Almeria nach dem Spiel“. Und bei einem Gegentor: „Super platziert. Kann Maximiano nichts machen.“ Auch in einer anderen Begegnung (FC Liverpool vs. FC Fulham) wird die „Haltbarkeit“ eines Treffers kombiniert mit der Charakterisierung als „Traumtor“: „Wir eröffnen mit dem Traumtor. Wahnsinn. 20. Minute trifft Alexander Arnold. (…) Volle Punktzahl 10 von 10. Traumtor. Das 1 zu 1. Nix zu machen für den bandagierten Bernd Leno im Kasten des FC Fulham“ (0: 15 ff.). Meier-Vieracker (2019) hat herausgestellt, dass auch die sprachlichen Mittel bei der Charakterisierung von Spielerleistungen z. T. spezifisch sind für bestimmte Positionen wie Stürmer vs. Verteidiger und Torleute. (2) Es gibt Medienbeiträge, die sich nicht auf ein bestimmtes Spiel beziehen, sondern auf eine aktuelle Frage wie z. B. die Nachfolge eines Torhüters, die Entscheidung, wer die „Nummer eins“ auf einer Torwartposition ist, Fragen Torhüter in Texten und Medien 33 <?page no="34"?> des Transfers oder Gestaltung von Verträgen usw. Diese Gruppe habe ich im letzten Abschnitt schon charakterisiert. Der aktuelle Thematisierungsanlass (z. B. eine Verletzung) steuert in solchen Fällen auch die Auswahl der damit zusammenhängenden thematischen Facetten, die zur Sprache kommen, z. B. die zukünftigen Einsatzperspektiven und die Rolle der Ersatztorhüter wie in einem Beitrag im „Kicker“ (99/ 2023: 31). (3) In Darstellungsformen, die sich nicht an einzelnen Spielen, sondern an Personen oder Personengruppen orientieren, ist das Spektrum der thematischen Facetten besonders reichhaltig. Beispiele sind die schon erwähnte Filmdoku‐ mentation „Die Nummer eins - Deutschlands größte Torhüter“, Beiträge (z. B. Interviews mit Torhütern) im Fachmagazin „Kicker“ sowie ein Themenheft der Zeitschrift „Kult! “ (2019/ 1) mit dem Schwerpunkt „Fußballspieler der Bundesliga 1963-1989“, in dem jeweils auf einer Einzelseite auch Torhüter in Form von Kurzporträts dargestellt sind (z. B. Wolfgang Kleff, Jean-Marie Pfaff, Sepp Maier, Bodo Illgner, Toni Schumacher). So sehen Einzelseiten aus diesem Themenheft aus: Jean-Marie Pfaff, Kult! 1/ 2019 Sepp Maier, Kult! 1/ 2019 34 Thomas Gloning <?page no="35"?> Diese Kurzporträts folgen einem Schema von Textbausteinen, das in wiederkeh‐ render Folge den Namen des Porträtierten, eine mehr oder weniger pfiffige Überschrift, einen Leadtext mit einigen Kernaspekten, sodann einen thematisch komplex strukturierten Haupttext zu unterschiedlichen thematischen Aspekten insbesondere zur Biographie und zur sportlichen Karriere der Fokusperson enthält. Eingelagert in den Haupttext ist ein Infokasten mit wichtigen, tabellarisch organi‐ sierten Kerndaten. Zum multimodalen Arrangement dieser Seiten gehört jeweils auch ein Foto, das den Torhüter in einer bestimmten Phase seines Wirkens zeigt. Der abgebildete Sepp Maier ist jedenfalls ein sehr junger Sepp Maier, den man gut mit dem ergrauten Sepp Maier, der im Film „Die Nummer Eins - Deutschlands größte Torhüter“ auftritt, verbinden kann. Auf diese Weise kann man verbale Prädikate wie „Torwart-Legende“ auch mit der bildlichen Repräsentation von Torhütern in unterschiedlichen Phasen ihrer Karriere und ihres Lebens zusammenbringen. Die Torwart-Porträts im Magazin „Kult! “ (1/ 2019) sind einerseits schemati‐ siert, indem sie typische Stationen der Biographie und des Werdegangs des je‐ weiligen Torhüters als Informationspositionen ausführen, sie sind andererseits aber auch „besonders“, weil sie jeweils spezifische Aspekte in der Biographie und des Werdegangs der betreffenden Person darstellen. Auch diese Medien‐ produkte werfen die sprachwissenschaftliche Frage auf, wie konventionelle „Textsorten“ mit stärker kreativen, problemlösungsorientierten und ad hoc her‐ vorgebrachten Darstellungsformen in ein Verhältnis zu bringen sind. Das Kult- Themenheft zeigt zwar Aspekte der Schematisierung, sie sind aber spezifisch für dieses Themenheft, auch wenn sich Verwandtschaften zu anderen Formen von Porträts ausmachen lassen. Das Repertoire der thematischen Facetten des Berichtens über Torhüter erweitert sich, wenn wir den Filmbeitrag „Die Nummer Eins - Deutschlands beste Torhüter“ (2018) betrachten. Auch hier zeigt sich, dass in den einzelnen Biographien und sportlichen Werdegängen sehr unterschiedliche Aspekte an‐ gesprochen werden können. Da ist nicht nur von Leistungen, Erfolgen oder Rückschlägen die Rede, sondern z. B. auch vom Umgang mit Berühmtheit, von Ängsten, von spezifischen Vorbereitungstechniken und von persönlichen Entwicklungen wie etwa der Depression in der Biographie von Robert Enke, die schließlich in seiner Selbsttötung endete. Der Machart dieses Films entspre‐ chend sind (ehemalige) Torhüter als „Talking heads“ zu sehen, zum Teil aber auch Gewährsleute wie z. B. die Ehefrau von Robert Enke. Neben Interview- Konstellationen werden auch historische Bildmaterialien und kommentierende Off-Stimmen genutzt. Insgesamt ist das Repertoire der Thematisierungsfacetten, auch über die Spielberichte hinaus, sehr breit. Es umfasst u. a.: Torhüter in Texten und Medien 35 <?page no="36"?> • spielerische Leitungen in einer bestimmten Begegnung; • die (aktuelle) Stellung eines Torhüters in seinem Verein und zu verschie‐ denen Personen des Vereins (z. B. Mitspieler, Trainer, Torwarttrainer, andere Torhüter); • die körperlich-persönlichen Anlagen (z. B. Körpergröße, Fitness, mentale Eigenschaften); • Fragen der Gesundheit (z. B. Verletzungen, Behandlungen, Heilungschancen); • die Perspektiven der sportlich-beruflichen Entwicklung (z. B. Beendigung der Karriere, Vereinswechsel, Konflikte); • und viele andere. Die Frage, welche thematischen Facetten in einem Medienbeitrag angesprochen werden, wie sie kombiniert und sequentiell entfaltet werden, stellt sich für jeden Beitrag neu. Es lohnt sich bei der Lektüre, die Augen offen zu halten auch für diesen Aspekt der sprachlich-medialen Machart. Was erfahren wir jeweils (wodurch und wann)? Was erfahren wir nicht? Multimodale Ressourcen bei der Thematisierung von Torhütern Bei der Vielfalt von Medienbeiträgen, in und mit denen Torhüter in Bezug auf verschiedene thematische Aspekte charakterisiert werden, stellt sich auch die Frage nach den multimodalen Ressourcen und ihrer Kombinatorik. Wie oben schon dargestellt, spielt dabei die geschriebene und gesprochene Sprache nach wie vor eine zentrale Rolle, dabei kann man die unterschiedlichen Orga‐ nisationsebenen von Wörtern, Phrasen, Sätzen, größeren Textbausteinen bis hin zur Ebene unterschiedlicher Arten von Beiträgen und Beitragsserien berück‐ sichtigen. Viele pfiffige und aufschlussreiche Blogbeiträge von Simon Meier- Vieracker auf dem Blog von „fussballlinguistik.de“ widmen sich der Analyse von spezifischen Wörtern, Wortbildungen und Phrasen in den umfangreichen Fußball-Korpora. Aber neben geschriebener und gesprochener Sprache werden auch Bilder, Infographiken, Farben und Farbschemata, die Raumorganisation auf Sehflächen, nicht-sprachliche Geräusche usw. als Ressourcen genutzt und medienspezifisch „orchestriert“. Ein gutes Beispiel für die Orchestrierung multimodaler Ressourcen sind Live‐ Ticker (Hauser 2010). Am folgenden Beispiel aus dem Kicker-Liveticker kann man gut erkennen, dass im oberen Bereich des Beitrags mehrere Überblicks‐ elemente (z. B. zur Aufstellung) koordiniert werden, während der umgekehrt chronologische Teil zu den Ereignissen im Wesentlichen aus räumlich arran‐ giertem Text und Bildern, vor allem Szenenbildern und Porträtbildern, besteht. 36 Thomas Gloning <?page no="37"?> https: / / www.kicker.de/ leverkusen-gegen-paderborn-2014-bundesliga-2407283/ ticker (12.1.2024) Torhüter in Texten und Medien 37 <?page no="38"?> In diesem Kicker-Ticker-Beitrag kommen Torwartaktionen nur in den Text‐ teilen vor, z. B. in den zwei Textzeilen zur 46. Minute im folgenden Beleg. Man sieht hierbei, dass neben dem Ereignisbericht („lenkt über die Latte“) auch eine bewertende Komponente („Glanztat“) enthalten ist: Ein wichtiger Bestandteil der Darstellung von Torhütern in fast allen Medien sind statische oder dynamische Bilder, z. B. Porträtphotographien oder Bilder einer Torwartaktion. Je nach Medium spielen Bilder eine unterschiedliche Rolle. In einem Zeitungs- oder Zeitschriftenbeitrag können ein paar wenige statische Bilder abgedruckt werden, in Fernsehbzw. Filmbeiträgen sind na‐ türlich bewegte Bilder die zentrale Grundlage. In einer audiovisuellen Gesamt‐ übertragung sind normalerweise alle Szenen enthalten, in denen ein Torwart aktiv ist; in einem 5-Minuten-Zusammenschnitt werden Torleute nur dann zu sehen sein, wenn sie entweder bemerkenswerte Abwehraktionen machen oder bemerkenswerte Fehler zu verantworten haben. Dabei ist die filmische Perspektivierung wesentlich für das erzeugte Bild eines Torhüters und die Sichtweise auf seine Aktionen. Beispiele für unterschiedliche Arten der Verwendung statischer Bilder sind • Porträtbilder, die der Gegenstandskoordination oder der thematischen Kennzeichnung dienen (z. B. oben im Liveticker-Beispiel); • Szenenbilder, die eine Facette eines Ereignisses veranschaulichen können (z. B. ein quer in der Luft hängender Tormann beim Hechtsprung oder im Zweikampf; siehe die beiden Bilder unten) oder • Ausschnittvergrößerungen mit Belegfunktion (Ball über der Linie oder nicht? ). Fotos können auch bearbeitet sein, um eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Die folgende Montage (links) soll als Vorschaubild für einen YouTube-Filmbeitrag („15 Unglaubliche Torwart-Paraden im Fußball“) die Leistung eines Tormanns und das Erstaunen eines Stürmers ankündigen: 38 Thomas Gloning <?page no="39"?> Quelle: YouTube-Vorschaubild Titelblatt Olympiaheft „Fußball“ 1935: Torwart im Zweikampf‐ duell Auch bei dynamischen Bildern kann man die Frage stellen, welche Sicht‐ weise auf Torhüter und ihre Leistungen mit bestimmten Bildeinstellungen erzeugt werden können, wenn z. B. ein Tor, bei dem ein Schütze dem Tor‐ mann zwischen die Beine hindurchschießt, von einem Standort hinterm Tor aus gezeigt wird. Oder wenn ein glänzender Schuss in eine obere Ecke durch einen spektakulären Hechtsprung gerade noch mit den Fingerspitzen über die Latte gehoben wurde. All dies sind Aspekte der bildlichen Inszenierung von Torwart-Leistungen. Gibt es ein spezifisches Torwart-Vokabular? Wörter und Wendungen spielen eine wichtige Rolle bei der Thematisierung von Torhütern, ihren Leistungen und all den thematischen Facetten, die oben genannt wurden. Dabei geht es nicht nur um etablierte Wörter (z. B. Torwart, fausten) und Verwendungsweisen von Wörtern (z. B. halten ‚einen Torschuss durch Fangen des Balles abwehren‘), man kann darüber hinaus nach der Rolle von Wortbildungen (z. B. Glanzparade) und auch nach kreativen Wortgebräuchen, die mehr oder weniger stark verfestigt sind (z. B. Ausflug für Torwartaktionen außerhalb des eigentlichen räumlichen Zuständigkeitsbe‐ Torhüter in Texten und Medien 39 <?page no="40"?> 1 https: / / www.dwds.de/ themenglossar/ Fußball. Vgl. auch Geyken in diesem Band. reichs eines Torhüters), fragen. Das Wort Ausflug ist in den Textkorpora von fussballlinguistik.de allerdings auch für andere Spieler geläufig, die den ihrer Position zugeschriebenen Wirkungsbereich verlassen. Und auch ein Wort wie Gegenpressing ist nicht spezifisch für Handlungen eines Torhüters, es wird aber mit Bezug auf Torleute verwendet, wenn sie ihren eigenen Strafraum verlassen, um im gegnerischen Strafraum z. B. in den letzten Minuten noch Druck zu erhöhen und damit vielleicht zu einer Wende in einem schon verlorenen Spiel beizutragen. Das Torwart-Vokabular weist darüber hinaus eine interne Gliederung auf, zu der etwa Wortschatzsektoren mit Bezeichnungen für die Position des Tor‐ hüters gehören (z. B. Torwart, Torhüter, Tormann, Keeper, Goalie), mit Wörtern und Wendungen für Torwartaktionen (z. B. fausten, hechten, über die Latte lenken), für Ausrüstungsgegenstände (z. B. Torwarthandschuhe, Schoner), für die Organisation des Torhüterwesens in einem Kader (Nummer eins, Nummer zwei, Ersatztorhüter, Torwarttrainer), für die Bewertung von Torwartaktionen (z. B. Glanzparade, Patzer, Torwartfehler, Bock) und viele andere. Man sieht am Gebrauch von „Bock“ für einen Torwartfehler, dass z. T. auch alltagssprachliche Ressourcen gebraucht werden können. Man kann also fragen, ob bestimmte lexikalische Mittel nur oder vor allem im Kontext der Thematisierung von Torhütern gebraucht werden (z. B. Elfmetertöter, fausten) oder ob sie ein breiteres Anwendungsspektrum haben. Die unterschiedlichen Bezeichnungen für die Torleute werden u. a. in der Presseberichterstattung genutzt, um im Ausdruck zu variieren, dafür werden zusätzlich auch die Eigennamen (z. B. Kruse) und Wortbildungen (z. B. BVB-Keeper) genutzt. Im „Kicktionary“ (www.kicktionary.de) sind solche systematischen Wort‐ schatz-Strukturen mit sog. Szenen (z. B. „Shot“) und darauf bezogenen Frames (z. B. „Save“) erfasst, denen dann lexikalische Einheiten wie abklatschen, ent‐ schärfen oder parieren zugewiesen werden können. Im DWDS-Themenglossar Fußball 1 sind derzeit ( Januar) über 500 wichtige Wörter dieses Themengebiets dokumentiert, auch im Hinblick auf ihre regionale Spezifik. Mit den DWDS- Wortstatistiken lassen sich auch Verschiebungen in der zeitlichen Dynamik des Gebrauchs von Ausdrücken ablesen, so erscheint z. B. Elfmeterkiller als etwas jüngeres Gegenstück zu Elfmetertöter. Wenn man Heinekens Darstellung zum Association-Fußball (1898) liest, wird auch deutlich, dass der Fußballwortschatz historische Entwicklungen durchlaufen hat. So ist das Wort Freistoß zum Beispiel schon geläufig, aber die „Benaglung der Schuhe“ ist heute kein Aspekt 40 Thomas Gloning <?page no="41"?> 2 https: / / www.dwds.de/ r der Ausrüstung mehr und auch keiner, der im Regelwerk vorkommt, auffällig sind hier viele englische Entlehnungen wie Off-Side oder Halftime. Der Wortgebrauch beim Berichten über Torhüter ist auch durch Stereotypen und Phrasen geprägt, wie Simon Meier-Vieracker (2016) in einem Blogbeitrag mit dem Titel „Der perfekte Torwart“ gezeigt hat. Hierzu gehören etwa Formu‐ lierungen wie „starke Parade“, „Chancen vereiteln“, „ohne Gegentreffer“ oder „machtlos sein“. Die Figur des Torhüters in der schönen Literatur und in Sachbüchern Neben der aktuellen medialen Berichterstattung werden Torhüter auch in der sogenannten schönen Literatur und in bestimmten Zweigen des Sachbuch‐ marktes thematisiert. Ein immer wieder genanntes Werk ist Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ (1970), in dem aber die Bezüge zur Figur des Torwarts nicht prominent sind. Ein ähnlich gelagertes literarisches Beispiel ist der Roman in gesprochener berndeutscher Sprache „Der Goalie bin ig“ (2010) von Pedro Lenz, das im Jahr 2014 auch verfilmt und mit hochdeutschen Untertiteln versehen wurde. Auch hier war der Protagonist in seinem früheren Leben „Goalie“. Wenn man in den DWDS-Korpora 2 nach „Torwart“ im Bereich „Belletristik“ sucht, dann findet man nur wenige Belege, die auch nicht sehr profiliert sind im Hinblick auf die Charakterisierung von Fußball-Torleuten. Dieselbe Suche mit „Torhüter“ bringt überwiegend Belegstellen für Personen, die den Eingang zu bestimmten Gebäuden oder Bereichen bewachen: „Einer der Torhüter sagte der kleinen Maja das Losungswort ihres Volkes, ohne das keine Biene in die Stadt gelassen wird.“ (Bonsels, „Die Biene Maja“, 1912). Eine schöne Korpus- Fundstelle ist demgegenüber diese Passage aus Walter Moers’ „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“: Gebba ist die Urform des heute so beliebten Fußballs, nur daß die Mannschaften damals bis zu 5000 Mann stark waren und anstelle eines Fußballs mit vierhundert verschiedenfarbigen Holzscheiben auf eine schwer zu schätzende Anzahl von kleinen runden Toren gespielt wurde, die jeweils von vierzig Torhütern streng bewacht wurden. Ein ganz eigenes Feld ist der Bereich der Sachliteratur, der von Fachbüchern zum Torwarttraining über sportgeschichtliche Darstellungen bis hin zu Biographien Torhüter in Texten und Medien 41 <?page no="42"?> (z. B. über Toni Turek oder Robert Enke), biographischen Lexika („Das große Lexikon der Bundesligatorhüter“, 2003) und Autobiographien (Oliver Kahn, Sepp Maier) reicht. Zusammenfassung, Rückschau und Ausblicke In diesem Beitrag ging es um die Frage, wie Torhüter in unterschiedlichen Medi‐ enangeboten behandelt werden. Teilaspekte waren u. a. die Fragen, wann und zu welchen Anlässen Torhüter thematisiert werden, was die thematischen Facetten der Berichterstattung über Torhüter sind, welche textuellen, bildlichen, audiovisuellen und multimodalen Darstellungsformen dafür genutzt werden können, ob es ein spezifisches Vokabular gibt und wie sich die Thematisierung von Torhütern historisch entwickelt hat. Im Rahmen dieser „Annäherung“ konnte ich diese Gesichtspunkte nur exemplarisch und eher essayistisch vorführen und damit aber hoffentlich deutlich machen, dass die Frageperspektiven fruchtbar sind und weiterverfolgt werden können. Zu möglichen nächsten und weiteren Schritten gehört die weitere Unter‐ fütterung der bisherigen Frageperspektiven und Befunde auf der Grundlage von größeren Text- und Medienkorpora. Interessant ist sicherlich auch die historische Vertiefung der sportlichen Sozialfigur des Torhüters und seiner medialen Darstellung in einer Längsschnittperspektive oder in vergleichenden historischen Querschnitten (z. B. Repräsentationen von Torhütern in den 1920er, 1930er, 1940er Jahren). Und auch Fragen wie die nach der medialen Thematisie‐ rung des Privatlebens von Sportlerinnen und Sportlern lassen sich in Bezug auf Torhüter stellen. Wesentlich ist schließlich die Bearbeitung all dieser Aspekte im Hinblick auf Torhüterinnen, die Facetten ihrer Thematisierung und Fragen der historischen Entwicklung. Für solche Vertiefungen und Ergänzungen müssen wir uns wohl noch etwas strecken. Aber für das „Sich-Strecken“ sind Torhüter und Torhüterinnen ja gute Vorbilder … 42 Thomas Gloning <?page no="43"?> FFussball. Das Magazin für Mädchen- und Frauenfußball, 11-12/ 2023 Torhüter in Texten und Medien 43 <?page no="44"?> Quellen ARD. 2018. Die Nummer Eins - Deutschlands beste Torhüter. https: / / www.youtube.com/ watch? v=NgcYNK0PRwk (12.1.2024) DWDS. Themenglossar Fußball. https: / / www.dwds.de/ themenglossar/ Fußball (12.1.2024) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Ausgabe vom 13.03.2005. Propaganda-Ausschuß für die Olympischen Spiele Berlin 1936 in Gemeinschaft mit dem Reichssportführer (eds.). 1936. Fußball. Olympia-Heft 5. Berlin: Amt für Sportwerbung. Handke, Peter. 1970. Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. Kicker. Ausgabe 64/ 2023 vom 07.08.2023. Kicker. Ausgabe 99/ 2023 vom 07.12.2023. Kicker. Bundesliga-Liveticker: Bayer 04 Leverkusen - SC Paderborn 07. https: / / www.kicke r.de/ leverkusen-gegen-paderborn-2014-bundesliga-2407283/ ticker (12.1.2024) Kicktionary. The multilingual electronic dictionary of football language. https: / / www.kicktionary.de (12.1.2024) kult! Edition. Ausgabe 1/ 2019. Nr.-4. „100 Fußballer Bundesliga 1963-1989“. Lenz, Pedro. 2010. Der Goalie bin ig. Luzern: Der gesunde Menschenversand. (Verfilmt 2014 von Sabine Boss.) Meier-Vieracker, Simon (ed.) 2021. Korpora zur Fußballlinguistik (Release 2021-09), Pro‐ fessur für Angewandte Linguistik, TU Dresden, https: / / www.fussballlinguistik.de/ korpora. Süddeutsche Zeitung (SZ). Ausgabe vom 30.11.2023. YouTube. Reds mit VIER Traumtoren! | FC Liverpool - FC Fulham | Highlights - Premier League 2023/ 24. https: / / www.youtube.com/ watch? v=DoEK7NR082E YouTube. Spektakuläres Torhüter-Duell bei Chancenfestival: FC Barcelona - Almeria | LaLiga | DAZN Highlights. https: / / www.youtube.com/ watch? v=F40r_hAkUnE YouTube. 15 Unglaubliche Torwart-Paraden im Fußball. https: / / www.youtube.com/ watc h? v=jtWpdpdTRxE ⚽️-⚽️-⚽️ Cheng, Hsin-Yi & Thomas Gloning. 2017. Spielarten des Personenporträts in Zeitungen. Strukturen und Funktionen eines Textmusters. Gießen: Gießener elektronische Biblio‐ thek. http: / / dx.doi.org/ 10.22029/ jlupub-2022 Hauser, Stefan. 2010. Der Live-Ticker in der Online-Berichterstattung. Zur Entstehung einer neuen Mediengattung. In Bucher, Hans-Jürgen, Thomas Gloning & Katrin 44 Thomas Gloning <?page no="45"?> Lehnen (eds.), Neue Medien - neue Formate: Ausdifferenzierung und Konvergenz in der Medienkommunikation, 207-225. Frankfurt am Main: Campus Verlag. Heineken, Philipp 1898. Das Fußballspiel. Association und Rugby. Hannover: Verlag Th. Schäfer (Klassiker der Sportliteratur 2). Nachdruck. Hoffmann, Bernd Franco. 2003. Das große Lexikon der Bundesligatorhüter. Berlin: Lexikon Imprint Verlag. Meier-Vieracker, Simon. 2016. Der perfekte Torwart. fussballlinguistik.de. https: / / fussballlinguistik.de/ 2016/ 11/ der-perfekte-torwart/ . Meier-Vieracker, Simon. 2019. Einzelkritiken in der Fußballberichterstattung. Evalua‐ tiver Sprachgebrauch aus korpuspragmatischer Sicht. Muttersprache 2019(1). 1-23. Meier-Vieracker, Simon. 2023. Klatsche oder Kantersieg? Framesemantische Analyse zur Perspektivierung in Fußballspielberichten. Journal für Medienlinguistik. Diskussions‐ papier-2. https: / / dp.jfml.org/ wp-content/ uploads/ DP002_2023_Meier-Vieracker.pdf Torhüter in Texten und Medien 45 <?page no="47"?> 1 https: / / www.welt.de/ print/ welt_kompakt/ print_sport/ article117045348/ Die-traurige- Geschichte-vom-froehlichen-Karl-Del-Haye.html 2 https: / / www.sport1.de/ news/ fussball/ bundesliga/ 2022/ 08/ fc-bayern-erster-millionen-t ransfer-delhaye-nagelsmann-ist-mir-zu-flapsig Der Fehleinkauf als Held Cornelia Gerhardt Der Fehleinkauf bzw. sein Ausbleiben gehören zu den ausschlaggebenden Faktoren, die den sportlichen Erfolg im Fußball bestimmen. Dies gilt für Vereine, aber vor allem auch für Spieler selbst. Bei Darmstadt 98 wurde der schlechteste Spieler im Training mit dem sogenannten Tussi-Trikot ausgestattet, rosa, mit der Spielernummer Null und dem Schriftzug „Fehleinkauf “ auf dem Rücken (Niem & Helle 2016: 54). Diese zweifelhafte Motivationsmaßnahme in Form einer öffentlichen Bloßstellung verweist auf die Bedeutung dieser Zuschreibung im fußballerischen Kontext, auch jenseits finanzieller Erwägungen. Karl del’Haye gilt als „Musterbeispiel eines Fehleinkaufs“ (Schmidt & Wenzel 2021: 59). FC Bayern-Manager Uli Hoeneß „erwarb“ ihn 1980 für fast 1,3 Millionen DM, um durch die Verpflichtung des damals wohl besten Rechtsaußen den Erzrivalen Mönchengladbach zu schwächen. 1 Der Trainer ließ ihn allerdings nicht auf dieser Position spielen: „In Gladbach war ich der Konterspieler und in München musste ich viel mehr Fläche abdecken. Für mich war das keine so schöne Situation, weil ich mein Spiel umstellen musste… es war dort eine andere Erwartungshaltung, weil man für mich viel Geld bezahlt hat…“. 2 Trotz dieser Gemengelage aus gegensätzlichen Absichten verschiedener Akteure und hohem finanziellem Einsatz des Vereins blieb das Prädikat „Fehleinkauf “ am Spieler selbst haften, wie dieses Interview mit del’Haye von 2022 aufzeigt, mehr als vierzig Jahre nach dem missglückten Vereinswechsel. Während es sich bei Fehleinkäufen sportwissenschaftlich eher um eine Form des Missmanagements handelt (Quitzau & Vöpel 2009), prangern Listen im Internet die Spieler selbst an. Somit stellt sich die Frage, wie die Zuschreibung „Fehleinkauf “ in fußballerischen Texten diskursiv verwendet wird. Ist der <?page no="48"?> Spieler nicht fit genug? Passt er nicht ins Spielsystem? Wurde vom Verein zu viel bezahlt? Wann werden Spieler als Fehleinkauf klassifiziert? Fehleinkauf oder Fehlkauf? Der Fehleinkauf unterscheidet sich vom Fehlkauf darin, dass ersterer vor allem im Bereich Fußball bzw. im sportlichen Register benutzt wird, während das Standarddeutsche generell das Wort Fehlkauf vorsieht. So definiert der Duden den Fehleinkauf als „sich im Nachhinein als falsch erwiesene Verpflichtung eines Sportlers, einer Sportlerin“ und „verpflichteter Spieler oder verpflichtete Spielerin, der/ die an ihn/ sie gestellten Erwartungen nicht erfüllt“. Der Fehlein‐ kauf bezieht sich also sowohl auf den Akt des Kaufens als auch als Metonymie auf die davon betroffenen Spieler: innen: Sie werden selbst zum Fehleinkauf. Der Fehlkauf wiederum bezeichnet laut Duden „einen Kauf, dessen Gegenstand, die Erwartungen des Käufers, der Käuferin enttäuscht; [einen] unnötigen, zu hoch bezahlten Kauf “ sowie den „Gegenstand eines Fehlkaufs“. Der allgemeinsprach‐ liche Fehlkauf ist also an keine bestimmte Domäne geknüpft und bezeichnet Objekte und nicht Menschen. Somit handelt es sich beim Fehleinkauf um eine Unterart des Fehlkaufs, bei dem der Mensch zur Handelsware wird und den Begriff als Identitätsbeschreibung zugewiesen bekommt. Wie immer im sprachlichen Gebrauch sind Ausnahmen die Regel. Unten werden zwei Beispiele der Benutzung des Ausdrucks Fehlkauf für enttäuschende Verpflichtungen im Fußball angeführt. Umgekehrt wird aber auch z. B. in einem Marketinghandbuch zu Lizenzen das Wort Fehleinkauf in Bezug auf Übertra‐ gungsrechte (Brandt 2011) gebraucht. Auch in einer Kunstkritik findet, vielleicht bewusst gewählt, der Ausdruck Fehleinkauf für ein im Depot verbliebenes Kunstwerk Verwendung (Grasskamp 2016). Der Fehleinkauf wird auch als Transferflop bezeichnet (etwa Vacic 2019). Dies zielt mehr auf die finanzielle Transaktion ab als auf den Spieler oder die Spielerin selbst. Solcherart kontextuell synonym verwendete Wörter werden hier nicht weiter beachtet. Da in den für den Artikel verwendeten Daten und der Literatur nur männliche Spieler als Fehleinkauf bezeichnet werden, wird in diesem Beitrag nur von Spielern die Rede sein. Grund für diese genderspezifische Verwendung liegt in der deutlich größeren Kommerzialisierung des Männerfußballs und den daraus resultierenden hohen finanziellen Verpflichtungen, die bei Transfers entstehen können. Eine Arbeit zu Genderunterschieden in der Sportpresse zeigt ebenfalls auf, dass der Fehleinkauf im Sinne des Rollenbildes eines „Abgeschriebenen“ nur für Männer benutzt wird (Wöhler 2011: 23 und 55). 48 Cornelia Gerhardt <?page no="49"?> Der Fehleinkauf in der Wissenschaft In den Sportwissenschaften, den Feldern Sportmanagement und Sportökonomie sowie verwandten Disziplinen liegen kaum Arbeiten zu Fehleinkäufen vor, so dass grundsätzlich vor dem Hintergrund der Relevanz dieses Phänomens eher davon ausgegangen werden kann, dass der Begriff nicht zur akademischen Fachsprache gehört. Von einem Fehleinkauf wird gesprochen, „wenn ein von einem Verein vertraglich verpflichteter Spieler die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt“ (Rahn 2017: 49). Diese Erwartungen sind monetarisiert und in der Ablösesumme sichtbar. Es handelt sich also um die Relation zwischen einer zum Erwerbszeitpunkt vereinbarten Geldsumme, die von verschiedenen Akteuren ausgehandelt wird, und einer in der Zukunft erhofften Leistung, die sich bei Fehleinkäufen in der Rückschau nicht „gerechnet“ hat. Die Spieler werden als Handelsmasse gesehen, der ein bestimmter Wert zugesprochen wird: „Somit sind auch die im Sportmanagement diskutierten Fehleinkäufe bilanzierungsfähig, weil sie sich erst ex post als solche erweisen“ (Schmidt 2010: 4). Fehleinkäufe können mit finanziell erfolgreichen Transfers verrechnet werden. Dabei spielt die Ablösesumme ein tragende Rolle: „Leichter gestaltet sich die Thematik [der Fehleinkäufe] bei ablösefreien Neuzugängen. Grundsätzlich wird von diesen Spielern weniger erwartet als beispielsweise von einem Neuzugang, für den der Verein eine siebenstellige Ablösesumme bezahlt hat“ (Vacic 2019: 20). In der Bilanz können bei der Rechnungslegung Fehleinkäufe somit zu finan‐ ziellen Krisen führen (Lotz 2005). So wird der Fehleinkauf mit dem Abstieg europäischen Spitzenclub in Zusammenhang gebracht, die durch die Teilnahme an europäischen Wettbewerben und den daraus resultierenden Einnahmen mit einer „wundersamen Geldvermehrung“ (Rohlmann 2010: 77 f.) rechnen können. Laut Autor bewirken nur Fehleinkäufe als Fehler des Managements die Rückkehr solcher Clubs in die Mittelmäßigkeit. Ähnlich argumentiert wird auch hier: Zahlreiche Vereine haben […] gezeigt, dass hohe Einnahmen noch keine Garantie für sportlichen Erfolg sind, denn es bedarf eines Managements, das die prinzipiellen Vorteile einer hohen Finanzkraft auch in sportliche Leistungen und in sportlichen Erfolg umzusetzen vermag. So gelingen einigen Bundesligisten immer wieder „kos‐ tengünstige“ Glücksgriffe auf dem Transfermarkt, während andere Bundesligisten regelmäßig viel Geld für vermeintliche Stars ausgeben, die sich im Nachhinein als Fehleinkäufe erweisen. (Quitzau & Vöpel 2009: 1) Der Fehleinkauf als Held 49 <?page no="50"?> 3 https: / / www.bild.de/ sport/ fussball/ fussball-bundesligen/ die-10-tricks-der-spielerberat er-45225792.bild.html Die Autoren verknüpfen Fehleinkäufe also direkt mit der Qualität des Manage‐ ments und nicht mit einzelnen Spielern, da Transferpolitik eine der zentralen Aufgaben der Vereinsführung ist (Vöpel 2011: 35). Ähnlich argumentiert wird auch in Hinblick auf das Scouting, einem wich‐ tigen Bindeglied bei Transfers, insbesondere in Ausbildungsvereinen (Rejas- Tresch 2014: 30). Der Erfolg der Scoutingtätigkeit wird anhand von Fehl‐ einkäufen beurteilt (Vacic 2019: 27). Laut Wolfgang Dremmler, ehemaliger Chefscout des FC Bayern, dienen „95% des Scoutings […] dazu, Spieler auszu‐ schließen, Fehleinkäufe zu vermeiden“ (Reng 2017). Unvollständige Informa‐ tionen und die daraus resultierende Unsicherheit werden als ursächlich für Fehlentscheidungen angesehen (Vöpel 2011, Vacic 2019). Wichtig ist dabei neben der Größe der Scoutingabteilung auch die Aufbereitung und Auswertung von Sportdaten, die enorm an Bedeutung gewonnen haben (Biermann 2020). Auch Trainer werden als Schuldige für das Zustandekommen von Fehlein‐ käufen ausgemacht, wenn sie die jeweiligen Spieler nicht in die Mannschaft integrieren können (Akbas 2007). So werden Spieler zum Fehleinkauf, wenn sie nicht ins taktische Konzept passen (Schmidt 2010: 40). Es dreht sich also um die „grundsätzliche Idee, welcher Fußball gewünscht ist und wie Neuzugänge dort hineinpassen könnten. Und natürlich entstehen Werte auch dadurch, dass Trainer ihre Spieler weiterentwickeln“ (Biermann 2020: 208). Schließlich stellen Spielerberater als Akteure nicht nur durch ihren Einfluss, sondern auch durch die immensen Summen, die sie bei Transfers als Provi‐ sionszahlungen von den Vereinen bekommen, einen wichtigen Faktor dar (Freud 2022). Eine Auflistung der Bildzeitung unter dem Titel „So kassieren sie kräftig ab“ verweist auf ihre Rolle bei Geldtransfers im Zusammenhang mit Vereinswechseln. 3 In der Literatur werden als Akteure in Hinblick auf Fehleinkäufe somit die Vereinsführung, Manager, Trainer, Scouts sowie Spielerberater diskutiert. Insgesamt sind Veröffentlichungen, die das Stichwort Fehleinkauf enthalten, in erster Linie studentische Abschlussarbeiten. Auch gibt es keine Veröffentli‐ chung, die sich dem Fehleinkauf als eigentlichem Thema widmet. Dennoch sei der Rückschluss erlaubt, dass interessanterweise die Spieler selbst, ihre körperliche Verfassung, ihre Motivation beim Training, ihr Auftreten gegenüber Mannschaft und Fans nicht diskutiert werden. Ausnahmen sind die Erwähnung von mangelnder Integration in die Mannschaft und von Verletzungen (Schmidt 2010: 40). Vertiefend beleuchtet wird nur der Spieler als möglicher Sündenbock 50 Cornelia Gerhardt <?page no="51"?> 4 https: / / sportbild.bild.de/ bundesliga/ 2010/ der-bundesliga-geschichte-14594154.sport.ht ml 5 https: / / www.ran.de/ sports/ fussball/ bundesliga/ galerien/ fc-bayern-muenchen-sadio-m ane-ein-fehleinkauf-goetze-podolski-und-co-diese-stars-floppen-beim-fcb-85119 für den Misserfolg einer ganzen Gruppe (Wübbena 2017). Aus wissenschaftli‐ cher Sicht ist also der Spieler selbst nicht der entscheidende Faktor, sondern Rahmenbedingungen, auf die er nur begrenzt Einfluss hat. Der Fehleinkauf in den Medien In längeren Beiträgen wie etwa dem Spiegel-Bestseller „Matchplan“ (Biermann 2020) finden sich ähnlich nuancierte Begründungen für das Zustandekommen von Fehleinkäufen. Trainern wird im Kapitel „Die hohe Kunst des Fehleinkaufs“ unter dem Motto: „Mein Auto, mein Haus, mein Fußballstar“ ein Interesse an teuren Verpflichtungen zugesprochen (Biermann 2009: 190), gerne auch aus bestimmten prestigeträchtigen Ländern wie Brasilien. Auffällig sind jedoch im medialen Diskurs die oft im Internet veröffentlichten Listen, regelrechte Pranger, in denen Spieler als Fehleinkäufe gelabelt und in Randordnungen gebracht werden. Auf Sport Bild werden „Die 50 größten Fehl‐ einkäufe der Bundesliga“ gelistet: an erster Stelle dort Igor Belanow, Gladbachs Verpflichtung aus der UdSSR, dem im Artikel Diebstahl vorgeworfen wird. 4 Das Fußballformat ran beschränkt sich auf die Bayern: „Sadio Mané ein Fehleinkauf ? Götze, Podolski und Co.: Diese Stars floppen beim FCB“ 5 . Im Artikel wird ausdrücklich auch auf Manés unakzeptables Verhalten in der Kabine nach dem Champions-League-Spiel des FC Bayern bei Manchester City (26.07.2023) und die anschließende Suspendierung als Begründung für die Klassifizierung als Fehleinkauf verwiesen. Auch werden einzelne Spieler in der Presse durch statistische Aufbereitungen als Fehleinkauf gebrandmarkt. So veröffentlichte die Berliner Zeitung die Trefferquote des Brasilianers Lima und übte Druck auf Hertha BSC aus, den ausgeliehenen Spieler nicht zurückzunehmen („Die Lima-Katastrophe“, Berliner Zeitung 02.01.2009 nach Klatt 2011). Auch im Genre der Internet-Ranglisten ist die Nennung der geleisteten Zahlungen regelmäßig festes Registerrepertoire. Es geht also auch hier um die Relation zwischen bezahlter Summe und erbrachter Leistung. Der Fehleinkauf als Held 51 <?page no="52"?> Daten und Methodologie Die widersprüchliche Behandlung des Fehleinkaufs in der wissenschaftlichen Literatur und in der Presse bzw. im Internet macht diesen Begriff für eine nähere linguistische Betrachtung interessant. Wie wird der Begriff im Sportdiskurs spontan eingesetzt? Folgen Sportreporter: innen eher der Literatur und finden Begründungen für Fehleinkäufe im komplexen Zusammenspiel verschiedener Akteure in Relation zu den für den Spieler bezahlten Geldern oder wird mit Hilfe des Ausdrucks Fehleinkauf ein bestimmter Spieler abgestempelt? Einen Einblick ermöglicht die Sammlung des Livetickers von Weltfussball.de der Jahre 2006 - 2016 (Meier-Vieracker 2021). Liveticker repräsentieren einen spontaneren Sprachgebrauch als die oben diskutierten akademischen Genres und Listen, da sie unter Zeitdruck entstehen (Meier 2019a: 13). Es handelt sich um ein Genre, das ein gerade stattfindendes Spiel im Stile des gesprochenen TV-Live-Kommentars beschreibt, interaktive Elemente enthalten kann, und ein Narrativ und eine virtuelle Gruppenidentität herstellt (Chovanec 2018, Jucker 2010). Mittel der Mündlichkeit wie Interjekti‐ onen wurden aus Fernseh- und Radiokommentar übernommen, um den Live- Charakter hervorzuheben (Hauser 2008) bzw. Aktualität und Lebendigkeit zu in‐ szenieren (Blokisch 2014). Dies erlaubt es den Fans, mitzufiebern (Meier 2019b). Bei der Entwicklung dieses Genres lässt sich diachron eine Standardisierung Richtung Schriftsprache festhalten (Meier-Vieracker 2021). Im Liveticker-Korpus, das aus 13.077.803 Token und 121.223 Types besteht (Meier-Vieracker 2021), findet sich zweimal das Wort Fehlkauf und neunmal das Wort Fehleinkauf. Beide werden im Folgenden als vollständige Synonyme betrachtet und nicht unterschieden. Die elfmalige Verwendung entspricht selbst in diesem spezialisierten Korpus einer niedrigen Häufigkeit. Auffällig bei der Verwendung ist, dass Spieler in sieben der elf Fälle als vermeintliche Fehleinkäufe klassifiziert werden, also als irrtümlich eingeordnet und durch aktuelle Leistung rehabilitiert. Dies entspricht auch dem Wortprofil von Fehleinkauf im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS): Dort werden als typische Kollokationen abstempeln und vermeintlich genannt. Die Daten der Liveticker (Meier-Vieracker 2021) wurden unsystematisch durch Beispiele aus anderen Bereichen der fußballerischen Berichtserstattung ergänzt, die ebenfalls dieser Praktik der Reklassifizierung folgen. 52 Cornelia Gerhardt <?page no="53"?> Der Fehleinkauf als Fehlzuschreibung Bei der Verwendung des Begriffs Fehleinkauf als Fehlzuschreibung lassen sich trotz der geringen Datenmenge eine Reihe deutlicher Muster erkennen. In den Livetickern zeigt sich genau wie in den oben genannten wissenschaftlichen Abhandlungen und den Listen im Internet die Bedeutung der Ablöse als ein wichtiger Faktor bei der Einschätzung. • für viel Geld (wfb_BL1112_lt_1592) • der Millionen-Transfer (wfb_BL0708_lt_307) • für 3,5 Millionen Mark (Vinckel-Roisin 2011) • für drei Millionen Mark (Götz 2014: 37) Es bestätigt sich also, dass die Spieler genreübergreifend sowohl in akademi‐ schen als auch in medialen Kontexten als Handelsware dargestellt werden, deren Leistung an der für sie gezahlten Summe gemessen wird: der Fehleinkauf als schlechter Deal. Grammatikalisch findet sich der Ausdruck meist in Relativ‐ sätzen mit dem Spieler als Kopf: der […] schon als Fehleinkauf abgetan wurde (wfb_BL1112_lt_1592) den viele bereits als Fehleinkauf abstempeln (wfb_BL0708_lt_307) der von vielen bereits als Fehleinkauf abgestempelt wurde (wfb_BL0708_lt_582) der bereits als Fehleinkauf abgestempelt wurde (wfb_BL0809_lt_774) den viele als Fehleinkauf sahen (wfb_BL1011_lt_1453) Als Variante ist im Deutschen auch Prämodifikation möglich, die den Fehlein‐ kauf nochmal näher an den Spieler rückt: der bereits als Fehlkauf gehandelte X (wfb_BL0708_lt_392) der eigentlich schon als Fehleinkauf abgestempelte X (Götz 2014: 37) Es handelt sich beim Fehleinkauf um eine in der Vergangenheit liegende Zuschreibung einen Spieler betreffend, die sich durch neuere Erkenntnisse als falsch herausstellt und eine Neubewertung erforderlich macht. Im hier diskutierten Fall der Liveticker ist es meist der aktuelle Spielverlauf, der eben diese neuere Erkenntnis über den Spieler hervorbringt. Das die Rehabilitierung auslösende Geschehen wird dabei im Hauptsatz behandelt. X zeigt … mit einem lupenreinen Hattrick… (wfb_BL0708_lt_392) Nach einem … Sololauf markiert X … seine zweite Kiste (wfb_BL0708_lt_582) Auf diese Weise wird der Spielkommentar im Sinne des play-by-play announcing (Gerhardt 2008, Ferguson 1982) aufrechterhalten und die im Spiel ablaufende Der Fehleinkauf als Held 53 <?page no="54"?> 6 Der Wechsel im Gebrauch von Präsens und Imperfekt kann leider nicht analysiert werden, da die Spiele selbst als Bildmaterial bzw. die Live-Ticker in ihrer multimo‐ dalen Darstellung (Hauser 2022: 215) nicht vorliegen und es sich auch nur um eine „quasi-synchrone Berichterstattung“ handelt (Hauser 2008: 2). Auch im klassischen Fernsehkommentar oder im Kommentar von Zuschauenden gibt es mehrere Faktoren, die einen Einfluss haben: die Sprechgeschwindigkeit im Verhältnis zur Dynamik des Spielgeschehens, die Einblendung von Wiederholungen, aber auch die psychologische Nähe im Sinne eines verschobenen Origos oder einer Intersubjektivität (Gerhardt 2008, Gerhardt 2014). 7 https: / / abseits.at/ fusball-international/ deutschland/ deutsche-bundesliga-burgstaller-u nd-baumgartlinger-als-gluecksbringer Szene (Meier-Vieracker 2021: 13) löst die Rehabilitierung von der Klassifizierung als Fehleinkauf aus. 6 In einigen Beispielen wird auch auf die Bedeutung der Aktion im Spielverlauf verwiesen: X traf … zum Sieg (wfb_BL1011_lt_1453) X … schießt das Ausgleichstor (Vinckel-Roisin 2011) X … schießt den VfB mit 3: 0 in Front (wfb_BL0708_lt_582) Die gute Leistung, die die Rehabilitierung auslöst, ist also gerne spielentschei‐ dend. Die neue Erkenntnis kann sich auch auf eine im Jetzt andauernde Phase beziehen, auf die während des Spiels im Sinne eines colour commentary eingegangen wird, mit dem sich die Kommentator: innen vom direkten Spielge‐ schehen lösen, das Geschehen einordnen oder Hintergrundinformationen geben (Gerhardt 2008, Ferguson 1982). erlebt momentan seinen zweiten Frühling und hat seine leistungstechnisch stärkste Phase bei der TSG (wfb_BL1112_lt_1592) Dieses Muster findet sich auch in einem Spielbericht: Der vermeintliche Fehleinkauf Franco Di Santo mit einem Hackentrick (44.) … sicherten den Schalkern nach drei Remis wieder einen Dreier. 7 Dieser Sieg ist also besonders bedeutsam. Um die Außergewöhnlichkeit des gerade Geschehenen hervorzuheben und zu dramatisieren, vermitteln auch Zeitadverbien die Singularität der Ereignisse: im letzten Moment (wfb_BL0708_lt_307) keine 60 Sekunden nach seiner Einwechslung (wfb_BL1011_lt_1453) binnen weniger Minuten (wfb_BL0708_lt_582) Auch dies führt dazu, dass eine Rehabilitierung des Spielers nur folgerichtig erscheint. Schließlich werden evaluative Elemente wie Adjektive gebraucht, um 54 Cornelia Gerhardt <?page no="55"?> 8 https: / / www.bvb-forum.de/ index.php? mode=thread&id=2311349#p2311766 die besondere Leistung der Spieler zu betonen, Emotionen zu wecken und das Geschehen als spektakulär darzustellen (Meier 2019b: 164). Wahnsinns Einzelaktion (wfb_BL0708_lt_307) Nach einem herrlichen Sololauf (wfb_BL0708_lt_582) In manchen Fällen wirken die fußballerischen Erfolge an sich bereits in dieser Weise: Ein lupenreiner Hattrick (wfb_BL0708_lt_392) referenziert sowohl das Ereignis als auch eine zeitliche Abfolge und eine Wertung. Den gleichen Effekt hat auch die Erwähnung des Gewinns der Torjägerkanone (Götz 2014: 37). Die Agenten der Zuschreibung als Fehleinkauf bleiben in den Beispielen ungenannt: Es bleibt unklar, wer genau die Spieler vor diesem Zeitpunkt als Fehleinkauf klassifiziert hat. Dies erlaubt die Verwendung des Passivs (abge‐ stempelt wurde) oder des generischen Pronomens viele, die offenlassen, ob es die Fans waren, die den Spieler voreilig abgeschrieben haben, die Vereinsführung oder die Presse. In jedem Fall schließt sich der Journalist oder die Journalistin durch die Verwendung der dritten Person aus: Sie selber waren an dieser Fehlzuschreibung nicht beteiligt. Durch den häufigen Gebrauch der synonymen Adverbien schon und bereits wird die frühere Zuschreibung in der Rückschau als voreilig eingeordnet. Es scheint, als würden Journalist: innen durch die Verwendung ihre eigene Expertise herausstellen. Sie selbst waren an der übereilten Klassifizierung als Fehleinkauf nicht beteiligt und die Analyse des laufenden Spielgeschehen erlaubt es ihnen, diese Fehlklassifizierung aufzuzeigen. Ähnlich klingt auch dieser Post in einem Fanforum, aus dem man eine gewisse Rechthaberei heraushören kann: „So empfindlich? Vor zwei Wochen haben etliche Haaland hier als Fehleinkauf bezeichnet. Darauf darf man nicht hinweisen? “. 8 Auch hier scheint der Hinweis auf die verfrühte Verwendung des Begriffs Fehleinkauf durch andere dazu zu dienen, sich selbst als Kenner: in zu positionieren. Während das Genre Fanforum es zulässt, eine solche frühere Verwendung in den Chats nachzulesen, handelte es sich bei der Verwendung in Livetickern und Sportberichten um eine nicht direkt nachzuvollziehende Behauptung: Es ist durchaus möglich, dass niemand im Vorfeld öffentlich den Spieler als Fehleinkauf gebrandmarkt hat. Der Fehleinkauf als Held 55 <?page no="56"?> 9 https: / / stuttgart.international/ und-es-hat-klick-gemacht/ Der Fehleinkauf als Retter und Held Live-Ticker beschreiben ein Match nicht nur Spielzug für Spielzug, sondern sie verweben die Ereignisse zu einer Geschichte, um das Publikum emotional einzubinden (Chovanec 2018: 261). Durch die Verwendung des Ausdrucks Fehleinkauf zur Ehrenrettung der Spieler wird ein altes Narrativ evoziert, der Monomythos, in der der Protagonist durch eigene Leistung Hindernisse überwinden muss, um zum Held zu werden (Campbell 1970). Dies erkennt man auch im folgenden Beispiel: „55 000 feierten zwei neue Helden. Ausgerechnet zwei Wackelkandidaten machten die späten Retter-Tore: Kacar und Choupo- MoPeng [sic]… Der eingewechselte Serbe galt bisher als Fehleinkauf “ (BAMS 40: 76, zitiert nach Wöhler 2011: 66 f.). Der Vereinswechsel wird als Heldenreise dramatisiert. Die entscheidende Probe ist überstanden; der Fehleinkauf wandelt sich zum Held und wird mit Anerkennung belohnt. Auch in diesem Blog- Eintrag, einem Spielbericht, wird eine solche Entwicklung aufgezeigt: „Aus Buhmännern werden Strahlemänner… Zwei vermeintliche Fehleinkäufe avan‐ cieren zu Matchwinnern“. 9 Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass die Verwendung des Be‐ griffs Fehleinkauf in Livetickern eine bestimmte Funktion zu haben scheint. Eine Anprangerung einzelner Spieler, wie in Internetlisten, findet nicht statt. Auch wird bis auf die gezahlte Summe nicht weiter auf andere relevante Faktoren, wie Spieltaktik oder Qualität des Managements, eingegangen. Stattdessen zeigen Liveticker auf, dass der Ausdruck im spontanen Gebrauch im Sportdiskurs in dem Augenblick verwendet wird, in denen Spieler eine herausragende, besonders wichtige, oft spielentscheidende Leistung erbringen, sich als Retter herausstellen. Neben Toren kann es sich auch um wichtige Abwehrleistungen handeln, wie wenn es heißt: „Bordon blockt im letzten Moment den Brasilianer im 16er ab. Da ist er also, der Millionen- Transfer der Schalker, den viele bereits als Fehleinkauf bei dieser Summe abstempeln.“ (wfb_BL0708_lt_307). 56 Cornelia Gerhardt <?page no="57"?> Abb. 1: Fan von Werder Bremen (Foto: Marcus Callies) Vielleicht war dem Fan in der Abbildung diese Verwendung durchaus unbewusst vertraut, als er sich selbst zum Fehleinkauf labelte. Der Fehleinkauf ist nämlich nur vermeintlich einer; in ihm schlummert immer der Held. ⚽️-⚽️-⚽️ Akbas, Hidir. 2007. Der Fußballtrainer im Spannungsfeld zwischen Verein und Öffentlich‐ keit---eine komparative Studie Deutschland : Türkei. 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Am Spieltag selbst ist die Interaktion organisierter Fangruppen gegnerischer Vereine im Stadion, ganz besonderes in den nationalen Ligen, gekennzeichnet durch die Darbietungen der sogenannten Ultras, die sich in eine Art Wettbewerb um die schönste und lauteste Perfor‐ mance begeben (Winands 2015). Dies wird für die anderen Stadionbesucher sichtbar durch die Verwendung von Gesängen, Fahnen, Spruchbändern oder Choreographien. Dabei kommt es relativ häufig zu verbalen und symbolischen Schmähungen des jeweils gegnerischen Klubs und seiner Fans. Seltener ist zu beobachten, dass sich Fangruppen rivalisierender Vereine solidarisieren und zusammenarbeiten. Formen der Solidarität und Kooperation sind ein relativ wenig beachteter und kaum erforschter Aspekt der Fankultur im Fußball. Es gibt bislang nur sehr wenige Arbeiten, die sich damit beschäftigt haben (z. B. Brandt & Hartel 2016 und Bresemann & Duttler 2017). Wie kommt es dazu, dass rivalisierende, ja oft geradezu verfeindete Fangruppierungen ihre Dif‐ ferenzen (wenn auch nur temporär) überwinden und sich solidarisieren oder gar <?page no="64"?> kollektiv zusammenarbeiten? Welche Umstände ermöglichen diese Formen der Verbundenheit? Die Ergebnisse erster Arbeiten legen nahe, dass Solidarisierung und Kooperation dann zustande kommen, wenn es um Entwicklungen geht, die von beiden Fangruppen jenseits ihrer Rivalität als Auswüchse des „modernen Fußballs“ und Bedrohung für Fankultur und Fanrechte empfunden werden, wie z. B. Polizeipräsenz und -repression an Spieltagen, Kollektivstrafen für Fangruppen, oder aber die scheinbar ungebremste Kommerzialisierung in Form von steigenden Ticketpreisen und die Spieltagszerstückelung zur Maximierung von TV-Geldern (Brandt & Hartel 2016: 33). Im Zuge bundesweiter Aktionen und Aktionsspieltage wie „Kein Zwanni für ‘nen Steher - Fußball muss bezahlbar sein! ” (gegen Ticketpreiserhöhungen) oder „Pro 15: 30“ (für gleiche Anstoßzeiten aller Partien einer Liga), die von Fanorganisationen wie Unsere Kurve oder ProFans koordiniert wurden, waren sogar überregionale Fankooperationen zu beobachten. Der vorliegende Beitrag beleuchtet verschiedene sprachlich-kommunikative Aspekte, die im Kontext der Solidarisierung und Zusammenarbeit von orga‐ nisierten Fangruppen zu beobachten sind. Insbesondere geht es dabei um Fanaktionen für den Erhalt traditioneller Stadionnamen und gegen den Verkauf der Namensrechte an finanzkräftige Sponsoren. Exemplarisch geschieht dies durch eine Analyse der Merkmale einer Reihe von in verschiedenen Bundesli‐ gastadien gezeigter Spruchbänder, einem der wichtigsten und sichtbarsten Stil- und Kommunikationsmittel von organisierten Fangruppen, das allerdings in der linguistischen Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat (siehe z. B. Siebetcheu 2016 und Callies 2023). In der Sache vereint: Kommunikative Formen und Merkmale der Solidarität im Stadion Ein bemerkenswertes Beispiel kommunikativer Solidarität, ausgedrückt durch kollektives Schweigen, stellt die Aktion „12: 12 - Ohne Stimme - Keine Stim‐ mung“ dar, bei der mehrere Dutzend aktive Fangruppen in den drei deutschen Profiligen vereinsübergreifend gegen ein von der Deutschen Fussball Liga (DFL) geplantes Konzept „Sicheres Stadionerlebnis“ protestierten. An drei aufeinanderfolgenden Spieltagen im November und Dezember 2012 stellten die jeweils beteiligten Gruppen von Heim- und Gastverein zu Beginn der Spiele für 12 Minuten und 12 Sekunden die gewohnte lautstarke Unterstützung ein und nahmen erst nach Ablauf dieser Zeit den organisierten Support wieder 64 Marcus Callies <?page no="65"?> 2 Beispielvideo dieser Aktion: https: / / www.youtube.com/ watch? v=MP-Fceo0rSc 3 https: / / www.youtube.com/ watch? v=oEYIr0gbNps auf (siehe Duttler 2014: 371-373; Bresemann & Duttler 2017: 42-44). 2 Mit dieser so entstandenen, deutlich wahrnehmbaren Stimmungslücke zu Beginn des Spiels sollte auf die Bedeutung der organisierten Ultragruppen für die Stadionkultur in Deutschland aufmerksam gemacht werden. Zuletzt fand das Mittel des zwölfminütigen solidarischen Schweigens und Stimmungsboykotts wieder Anwendung am Spieltag vom 15. - 17. Dezember 2023 anlässlich von Protesten gegen die Investorenpläne der DFL. Eine weitere, lautstärkere und häufiger vorkommende Form der spontanen Fansolidarität ist der Wechselgesang, der üblicherweise von verschiedenen Fangruppen derselben Mannschaft als Stilmittel zur Anfeuerung im Stadion verwendet wird. Dabei initiiert eine Fangruppe, typischerweise eine Ultragrup‐ pierung, den Wechselgesang, in dem sie den ersten Teil des Gesangs laut skandiert und so die andere Gruppe (oft das Kollektiv der anderen Stadionbesucher) zur Ant‐ wort auffordert, um den Gesang zu erwidern oder zu vervollständigen. Winands (2015: 191-194) beschreibt die Sonderform des solidarischen Wechselgesangs als „freiwillige Ensemble-Kooperation”, bei der sich rivalisierende Ultra-Ensembles blockübergreifend zusammenschließen, spontan verbrüdern und einen gemein‐ samen Gegner verschmähen (Winands 2015: 191 f.). Aus dieser Verständigung auf einen gemeinsamen Gegner erwachse so „eine neue Form der temporären Kollektivität” (Winands 2015: 193). Bei diesem Gegner kann es sich um einen Verein handeln, mit dem beide Fanlager eine Rivalität verbinden, typischerweise ist dies aber eine Institution, die im Kampf gegen den „modernen Fußball“ als Feindbild ausgemacht wird, etwa der Deutsche Fußball Bund (DFB). Ein Beispiel ist der „Scheiß DFB“-Wechselgesang zwischen Anhängern von Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt beim DFB-Pokalfinale 2017 in Berlin. 3 Eine zentrale und im Grunde in jedem Spiel genutzte Form der Fankommu‐ nikation ist das Präsentieren von Spruchbändern, die zum Teil auf vielfältige, multimodale semiotische Ressourcen zurückgreifen und typischerweise von Ultragruppierungen für eine begrenzte Zeitspanne während des Spiels zur Schau gestellt werden (siehe Callies 2023). Spruchbänder werden insbesondere für vielfältige Zwecke des Fanprotests eingesetzt, unter anderem um für den Erhalt von traditionellen Stadionnamen und gegen den Verkauf von Namens‐ rechten an finanzkräftige Sponsoren zu protestieren (siehe Callies, Clarke & Gerhardt 2024). Ein Beispiel: 2005 erwarb die Dortmunder Signal Iduna Versicherungsgruppe die Namensrechte am Dortmunder Stadion, das zwar offiziell in „Signal Iduna Park“ umbenannt wurde, von Fans in Dortmund In den Farben getrennt, in der Sache vereint 65 <?page no="66"?> 4 Hintergründe zur Aktion und Fotos des Banners: https: / / www.schwatzgelb.de/ artikel/ 2023/ unsa-senf/ barbara-streisand-im-westfalenstadion 5 https: / / www.ksta.de/ sport/ 1-fc-koeln/ 1-fc-koeln-fc-fans-solidarisieren-sich-mit-befre undeten-bvb-anhaengern-557799 6 https: / / twitter.com/ ftamsut/ status/ 1650130790418620418? t=4yL-96QAvf WTcPBGtLvb Eg&s=19 7 https: / / www.faszination-fankurve.de/ fanfotos/ fotos/ 32869/ heimfans--eintracht-braun schweig-1-fc-magdeburg-22042023-1-2? mid=56925 und ganz Deutschland aber traditionell und auch nach der Umbenennung als „Westfalenstadion“ bezeichnet wird. Im Heimspiel gegen Union Berlin am 08.04.2023 präsentierte die Dortmunder Südtribüne im Rahmen einer Fancho‐ reographie ein großes Banner mit der Aufschrift „Für immer Westfalenstadion“. 4 Dieses Symbol der Verbundenheit und Erinnerung an die Traditionen des Vereins löste allerdings beim Chef der Signal Iduna Gruppe, Ulrich Leitermann, heftige Kritik aus. Er bezeichnete die Fanaktion als inakzeptabel, da sie ein Zeichen mangelnder Wertschätzung gegenüber seinem Unternehmen darstelle, das den Verein seit vielen Jahren als Sponsor unterstütze. Als Antwort auf diese Kritik reagierten nicht nur die Dortmunder Fans im Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt am 22.04.2023 mit einem schwarz-gelben, die ganze Breite der Tribüne ausfüllenden Banner „Herzlich Willkommen im Westfalenstadion Dortmund“, sondern es solidarisierten sich auch verschiedene andere Fangruppen mit den Dortmundern. So zeigten befreundete Fangruppen des 1. FC Köln beim Auswärtsspiel in Hoffenheim am 22.04.2023 ein schwarz-gelbes Banner mit der Aufschrift: „Für immer Westfalenstadion“ 5 , und die ebenfalls mit den Dort‐ mundern befreundeten Fans des dänischen Klubs Brondby IF aus Kopenhagen zeigten im Heimspiel gegen Randers FC am 23.04.2023 ein gleichlautendes Spruchband. 6 Doch selbst nicht befreundete Fanlager solidarisierten sich mit den BVB-Fans. Ein Banner mit der Aufschrift „Für immer Westfalenstadion“ war im Block von Eintracht Braunschweig beim Heimspiel gegen den FC Magdeburg am 22.04.2023 zu sehen. 7 Auf die Verwendung von Spruchbändern als Zeichen der Solidarisierung im Kampf für den Erhalt von traditionellen Stadionnamen soll im folgenden Abschnitt ausführlicher eingegangen werden. Stadionnamen erhalten! Identität bewahren! Spruchbänder und Choreographien als kommunikative Form der Solidarisierung Der Verkauf von Namensrechten ist mittlerweile eine weit genutzte und lu‐ krative Praxis in der deutschen Bundesliga und, in geringerem Maße, in der englischen Premier League (siehe Gerhardt, Clarke & Lecarpentier 2022). Im 66 Marcus Callies <?page no="67"?> 8 https: / / www.fc-erzgebirge.de/ neues/ crowdfunding Zuge der grundlegenden Kritik vornehmlich der organisierten Fanszene an der stetig wachsenden Kommerzialisierung des „modernen Fußballs“ kam es gegen die Einführung von kommerziellen Stadionnamen, die in der Regel den Namen des geldgebenden Unternehmens beinhalten, zu durchaus heftigen, deutschlandweit rezipierten Fanprotesten, etwa am Standort Nürnberg (Ger‐ hardt, Clarke & Lecarpentier 2022). Für die Fankultur haben Stadien und ihre Namen als Orte des kulturellen Gedächtnisses und der lokalen oder regionalen Identität eine besondere Bedeutung. Stadien wurden traditionell sehr häufig nach verdienten Persönlichkeiten benannt oder mit identitätsstiftenden Ortsbzw. Regionennamen versehen, die aber inzwischen durch den rasanten Anstieg von Firmennamen durch Umbenennungen bedroht erscheinen (Bering 2007). Umbenennungen durch Veräußerung der Namensrechte an kommerzielle Un‐ ternehmen werden dabei offenbar mit einem Verlust an Tradition und regionaler Identität verbunden. Die Reaktionen der Fans sind vielfältig, resultieren aber in aller Regel in der grundsätzlichen Vermeidung oder gar Tabuisierung des neuen, kommerziellen Namens (Gerhardt, Clarke & Lecarpentier 2022; Callies, Clarke & Gerhardt 2024). Entscheidend für den Prozess der Solidarisierung ist dabei, dass inzwischen viele Fanszenen lokale Stadionumbenennungen trotz intensiver Proteste hinnehmen mussten und andere Standorte davon mehr oder weniger akut bedroht sind. In einigen wenigen Fällen ist es durch Proteste, andere Sponsoren oder aber Crowdfundinginitiativen gelungen, den traditionellen Namen wieder einzuführen, zum Beispiel in Aue 8 . Über die vergangenen Jahren hat diese Thematik die Fankurven zunehmend beschäftigt und zu zahlreichen Aktionen innerhalb und außerhalb der Stadien geführt. Bemerkenswert dabei ist, dass es immer wieder zu Solidarisierungen von rivalisierenden Fangruppen am Spieltag innerhalb des Stadions kommt. So wurden zum Beispiel am 26.02.2011 beim Spiel 1. FC Kaiserslautern gegen den Hamburger SV in der Kurve der Heimfans kurz nacheinander zwei sich reimende Banner gezeigt, auf denen zu lesen war „AOL, HSH, IMTECH … Wer weiss das denn genau? “ und „Für immer Volksparkstadion beim HSV! “ Die Hamburger Gästefans zeigten zum einen ein zweiteiliges Spruchband mit der Aufschrift „Reclaim the name - Pro Volksparkstadion! ! ! “ und antworteten den Lauterern dann mit einem dreiteiligen Banner in Blockschrift „Eine Legende in unserem Land gehört nicht aus dem Stadionnamen verbannt - Pro Fritz- Walter-Stadion“. Ebenfalls am Betzenberg in Kaiserslautern beim Spiel der Heimmannschaft gegen den SV Werder Bremen am 14.05.2011 wurde in der Heimkurve ein mehrteiliges Spruchband mit der Aufschrift „Vereine bewahrt In den Farben getrennt, in der Sache vereint 67 <?page no="68"?> eure Identität - Für immer Weserstadion“ gezeigt und im Gästebereich stand auf zwei Bannern zu lesen „Stadionnamen erhalten ←“ gefolgt von „Für immer: Fritz-Walter-Stadion! RV“, siehe Abbildung 1. Abb. 1: Spruchbänder beim Spiel 1. FC Kaiserslautern gegen den SV Werder Bremen am 14.05.2011 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Thomas Hilmes - https: / / www .der-betze-brennt.de) 68 Marcus Callies <?page no="69"?> Beim Heimspiel des 1. FC Union Berlin gegen den SV Werder Bremen am 14.09.2019 bekundeten Heim- und Gästefans ebenfalls ihre Solidarität im Protest gegen eine Stadionumbenennung, die in Bremen im Juni 2019 erfolgt war, als das Weserstadion offiziell in „Wohninvest Weserstadion“ umbenannt wurde. Die Heimkurve präsentierte ein die Breite des gesamten Blocks ausfüllendes Banner mit der Aufschrift „Stadionnamen erhalten - Für immer Weserstadion! “, die Gästekurve antwortete mit einem ebenso großen Banner in Blockschrift „Für immer Stadion an der Alten Försterei! WB“. Ganz ähnliche Solidaritätsbekun‐ dungen gab es zu beobachten bei den Zweitligaspielen zwischen Greuther Fürth und dem 1. FC Kaiserslautern am 12.08.2013 und zwischen dem 1. FC Nürnberg und Hannover 96 am 06.03.2020. Bei den Spruchbändern handelt es sich mit Blick auf Materialität, Text/ Typographie und Farbgebung um jeweils relativ kostengünstig und einfach herzustellende Transparente aus Stoff, Tapeten- oder Papierrollen, auf denen in großen Druckbuchstaben die jeweiligen Texte aufgemalt wurden. Der Name des betreffenden Stadions ist dabei typischerweise in einer der Hauptfarben des jeweiligen Vereins gehalten, um so die Zugehörigkeit des Stadionnamens zum Verein zu dokumentieren und die traditionelle Verbindung herzustellen. Auf den in Abbildung 1 gezeigten Spruchbändern ist der Name „Weserstadion“ daher in grün gehalten (die Farben des SV Werder Bremen sind grün und weiß), der Name „Fritz-Walter-Stadion“ in rot, der Farbe des 1. FC Kaiserslautern. Die Texte entsprechen den von Callies, Clarke & Gerhardt (2024) beschrie‐ benen formelhaften Mustern, insbesondere dem Muster „Für immer (und ewig) STADIONNAME“ bzw. „STADIONNAME für immer (und ewig)“, bei dem vereinzelt das Jahr der Einweihung des Stadions hinzugefügt wird, zum Beispiel „Westfalenstadion seit 1974 und für immer“. Auf einigen Bannern sind auch weitere von Callies, Clarke & Gerhardt (2024) beschriebene Schlüsselbegriffe wie bewahren, erhalten, Identität, und Tradition zu finden, die charakteristisch sind für den Fandiskurs, der sich in den Protesten um den Erhalt traditioneller Stadionnamen bundesweit etabliert hat. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel, das über die Verwendung von relativ einfachen Spruchbändern hinausgeht, ist die Halbzeitchoreographie im Bremer Weserstadion beim Achtelfinalspiel im DFB-Pokal zwischen Werder Bremen und Borussia Dortmund am 04.02.2020. In der Halbzeitpause zeigten die organisierten Bremer Fangruppen im Stadion vom Oberrang herabhängend große Banner, die in schwarzer Blockschrift auf weißem Grund die folgenden traditionellen und zum Teil nicht mehr verwendeten Stadionnamen trugen: Stadion am Böllenfalltor (Darmstadt), Ruhrstadion Bochum, Wedaustadion (Duisburg), Stadion am Bieberer Berg (Offenbach), Parkstadion (Gelsenkir‐ In den Farben getrennt, in der Sache vereint 69 <?page no="70"?> 9 https: / / wanderers-bremen.de/ fotos/ 19-20-dfb-pokal-sv-werder-bremen-borussia-dort mund/ chen), Rheinstadion (Düsseldorf), Neckarstadion (Stuttgart), Emslandstadion (Meppen), Georg-Melches-Stadion (Essen), Müngersdorfer Stadion (Köln), Bie‐ lefelder Alm, Dreisamstadion (Freiburg im Breisgau), Waldstadion (Frankfurt am Main) und Niedersachensenstadion (Hannover). Dazu wurde vom Oberrang der Ostkurve des Stadions herabhängend ein großes grün-weißes Blockbanner mit der Aufschrift „Weserstadion“ präsentiert und am unteren Rand der Kurve ein weiteres Blockbanner mit der Frage „Kennt ihr sie noch alle? “, bezogen auf die im Stadion gezeigten traditionellen Stadionnamen. Schließlich wurde mittig im Unterrang der Kurve ein Choreoelement aufgezogen, auf dem in schwarzweiß eine gereckte Faust und ein stilisiertes Spruchband mit der Aufschrift „Kämpft um euer Erbe“ zu sehen waren. 9 Auf diese Art und Weise solidarisierten sich die Bremer Fangruppen mit solchen, die (wie die Werderfans zum damaligen Zeitpunkt auch) durch den Verkauf des traditionellen Stadionnamens einen Teil der Identität des Vereins bedroht oder gar verloren sahen. Auch hier wird durch die Verwendung des Begriffs Erbe an den bereits erwähnten Bewahrungsdiskurs angeknüpft. Brandt & Hertel (2016: 31-33) stellen soziale Identität und Belonging (Englisch für „Zugehörigkeit“) sowie einen geteilten Wertekatalog als eine Gelingensbedingung für Solidarität und Kooperation zwischen rivalisierenden Fangruppen heraus. Die oben beschriebenen vielfältigen Formen des solidari‐ schen Protests lassen sich so deuten, dass insbesondere das Stadion und sein traditioneller Name, der sehr häufig auf lokale oder regionale Besonderheiten und Schlüsselorte rekurriert, als identitätsstiftender Ort und Ort der Zugehö‐ rigkeit begriffen wird, an dem sich die organisierten Fangruppen am Spieltag einfinden, um ihren Verein zu unterstützen, an dem sie aber auch jenseits des eigentlichen Spieltags zusammenkommen, um ggf. in ihnen vom Verein zur Verfügung gestellten Räumen Spruchbänder zu bemalen oder aufwendige Choreographien vorzubereiten. Wenn nun diese Herzkammer der Fanidentität im Zuge der zunehmenden Vermarktung des „modernen Fußballs“ durch eine Umbenennung von einem kommerziellen Unternehmen eingenommen wird, dann wird dies als Angriff auf Fanidentität begriffen und verstößt gleichsam gegen den geteilten Wertekatalog der organisierten Fangruppen. Die oben beschriebenen Formen der Solidarität sind auch deshalb als bemer‐ kenswert hervorzuheben, da sowohl der Heimals auch der Gästebereich im Stadion für Farben und Symbole des gegnerischen Vereins eine Tabuzone ist und ihr Zurschaustellen eine maximale Provokation darstellt. Nicht zuletzt 70 Marcus Callies <?page no="71"?> deshalb verbieten die meisten Stadionordnungen den Zutritt zum Heim- und Gästebereich in Fanutensilien des jeweils gegnerischen Vereins. Angesichts des übermächtigen gemeinsamen Feinbildes der Kommerzialisierung und des drohenden Ausverkaufs des Fußballsports an finanzstarke Investoren rücken Rivalitäten aber vorübergehend in den Hintergrund und ermöglichen so unge‐ kannte Formen der temporären kommunikativen Kollektivität. ⚽️-⚽️-⚽️ Bering, Dietz. 2007. Die Kommerzialisierung der Namenwelt: Beispiel: Fussballstadien. Zeitschrift für germanistische Linguistik 35(3). 434-465. Brandt, Christian & Fabian Hartel. 2016. In den Farben getrennt. In der Sache geeint? So‐ lidarität und Kooperation rivalisierender Fangruppen im Ruhrgebiet und in Glasgow. Zeitschrift für Ethnologie 141(1). 19-39. Bresemann, Patrick & Gabriel Duttler. 2017. Divided in colours, united in course? Rivalry and solidarity of supporting fans in Germany. In Christian Brandt, Fabian Hertel & Sean Huddleston (eds.), Football Fans, Rivalry and Cooperation, 33-47. London: Routledge. Buchheister, Hendrik. 2023. We call it a Klassiker. 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In anderen Kontexten können sie Nähe simulieren oder zumindest Informalität signalisieren. Insbesondere bei der Nutzung von mobilen Geräten wie Smartphones sind sie schnell zur Hand. Die inzwischen über 3000 verschiedenen Emojis werden dabei sehr unterschiedlich häufig verwendet. Über viele Jahre hat die Webseite https: / / emojitracker.com/ die Verwendung von Emojis auf der Plattform Twitter in Echtzeit widergespiegelt, bis Anfang des Jahres 2023. Aus den Ergebnissen kann man erkennen, dass Gesichts-Emojis („Smileys“), Herzen sowie einige Symbole (Pfeile, Fotokamera und Musiknoten) die Emoji-Hitliste anführen. Es ist interessant, darüber nachzudenken, was genau Emojis in digitaler Kommunikation so unersetzbar macht, dass sie sich in der kurzen Zeit seit ihrer Einführung einen festen Platz in unseren Textnachrichten und Social- Media-Posts erkämpft haben. Werden Nutzer: innen gefragt, warum sie Emojis einsetzen, geben sie oft an, dass diese nützlich sind, um Emotionen auszudrücken und die Interaktion informell und persönlich wirken zu lassen. Außerdem machen sie einfach Spaß (Prada et al. 2018)! Aus diesem Grund haben Emojis auch ihre Vorgänger, die aus Satzzeichen zusammengesetzten Emoticons, aus vielen Formen der Kommunikation verdrängt (Pavalanathan & Eisenstein 2016). Emojis können viele Funktionen haben (Pappert 2017). Neben der informellen Rahmung von Nachrichten werden Emojis auch oft zur Kommentierung oder Evaluierung <?page no="74"?> eingesetzt, um eigene Beiträge zu verstärken, abzuschwächen oder einzu‐ ordnen, sowie zur Beziehungsgestaltung. Die letztgenannte Funktion können wir in persönlichen Chat-Gesprächen immer dann beobachten, wenn wir uns angehalten fühlen, auf eine Nachricht mit herzlichen Emojis ebenfalls mit netten Gesichtern zu antworten - weil das Gegenüber sonst eine Verstimmung vermuten könnte. Auch in (halb-)öffentlicher Kommunikation in Sozialen Medien sind Emojis oft anzutreffen. In diesen Kontexten können sie spielerisch und locker wirken. Da sie visuell auffallen, geben sie einen guten ersten Eindruck über den Ton eines Beitrages oder die emotionale Stimmung der Nutzer: innen. Die beiden folgenden Kommentartweets zu einem Fußballspiel der deutschen Herren-Na‐ tionalmannschaft transportieren zum Beispiel sehr unterschiedliche Emotionen, auch ganz unabhängig vom textuellen Inhalt: diese Woche war fußballerisch, gelinde gesagt, sehr ernüchternd 🤬🤡 #vfb #dfb #DieMannschaft #Japan #Spain Glückwunsch an Japan 👀❤ geile WM, geile neue Technologie, geile Zeit 🥰👋🏼 [Link entfernt] „Second Screen“ und Twitter Gerade während großer Sportveranstaltungen werden Plattformen der Sozialen Medien als sogenannter Second Screen verwendet. Die Begleitkommentierung von Fernsehserien und Veranstaltungen auf Twitter ist schon lange bekannt, und wird seit mindestens 2012 auch wieder in die klassischen Medien wie Zeitungen und Fernsehen gespielt. Diese Medien zitieren gern aus den Social- Media-Reaktionen auf öffentliche Ereignisse aus Politik, Fernsehen und Sport. Androutsopoulos & Weidenhöffer (2015) untersuchten die Twitterbeiträge zu zwei Tatort-Folgen aus den Jahren 2012 und 2013 und stellten fest, dass Nutzer: innen die Plattform umfangreich zur Kommentierung des Tatorts im Allgemeinen verwendeten. In großen Teilen der Tweets wurde aber auch die einzelne Sendung live begleitet, indem Nutzer: innen Fragen stellten, zukünftige Ereignisse (zum Beispiel den Täter) voraussagten und einzelne Szenen bewer‐ teten. Die Bewertung von Einzelszenen nimmt bei Livetweets zum Fußball ebenfalls einen zentralen Raum ein. Meier (2019) beschreibt das „Mitfiebern“, mit dem sich Fans emotional an Sportereignissen beteiligen. Häufig beobachtet er auch Minimalreaktionen, nämlich wenn einzelne Tweets gar keine Beschreibung oder Erläuterung der Geschehnisse, auf die sich beziehen, mehr enthalten. Diese Beiträge enthalten stattdessen nur eine spontane emotionale Bewertung, die 74 Tatjana Scheffler <?page no="75"?> sich in Echtzeit auf das Fußballspiel bezieht, wie „Ist das geil! “ oder dieser Tweet zum Ausscheiden aus der Herren-Weltmeisterschaft 2022: 😂 #DieMannschaft In der Sprachwissenschaft sprechen wir in solchen Fällen von Positionierung (Du Bois 2007), weil Bewerter: innen einerseits ihre Position zum Objekt der Bewertung darstellen, in diesem Fall dem Abschneiden oder der Leistung der deutschen Herren-Nationalmannschaft. Andererseits positionieren sie sich so indirekt auch gegenüber anderen Personen, die ebenfalls eine Meinung ausgedrückt haben, nämlich als Fan oder Gegner: in der Mannschaft. So werden auch sprachlich Gruppen von Fans und Anti-Fans gebildet, ohne dass explizit gesagt werden muss „Heute halte ich zur deutschen Mannschaft“. Emojis in Fußballdiskursen auf Twitter Es ist erwartbar, dass sich Emojis als inzwischen gut etablierte, visuelle Dar‐ stellungen von Emotionen besonders gut zum medienbegleitenden Ausdruck von spontanen, informellen Reaktionen eignen. Im Folgenden wollen wir uns genauer anschauen, was uns die Emojis in Sozialen Medien außer den Gefühlen der Autor: innen, während sie ein Fußballspiel sehen, noch verraten können. Grundlage für die Untersuchung der Rolle von Emojis in Fußballtweets bildet zunächst ein Datensatz von deutschsprachigen Tweets, welcher inhaltsunab‐ hängig gesammelt wurde (vgl. Scheffler 2014). Aus diesem Datensatz wurden alle Tweets herausgefiltert, die ein fußballbezogenes Hashtag enthielten (z. B. #FIFAWorldCup2022, #dfb, #DieMannschaft) und während der Herren-Fußball- WM 2022 gepostet wurden. Abbildungen 1-2 zeigen die Häufigkeit dieser Tweets während zweier Spiele der deutschen Nationalmannschaft: gegen Costa Rica (Abb. 1) und gegen Japan (Abb. 2). Zur Orientierung wurden die offiziellen Anstoßzeiten und die ungefähren Endzeiten der Spiele aufgetragen. Es ist sofort ersichtlich, dass die Fußballtweets sich klar an den Ereignissen orientieren und die beiden Spiele, mit etwas Vorlauf bzw. Nachgeplänkel, sprachlich begleiten. Anscheinend sind die Spiele in der Realwelt auch Anlass und Aufhänger für die sprachlichen Handlungen in der virtuellen Welt: Obwohl die Plattform permanent verfügbar ist, finden Äußerungen zum Fußball fast ausschließlich im Rahmen der virtuellen Gemeinschaft der Fußballinteressierten auf Twitter statt. Die Nutzer: innen zählen darauf, dass das Publikum ebenfalls gerade das Fußballspiel schaut und fühlen sich der Gruppe der Fußballfans zugehörig. Emojis und Gruppenidentität auf Twitter 75 <?page no="76"?> Abb. 1: Häufigkeit deutscher Tweets zu Fußballthemen während des Spiels Deutschland- Costa Rica Abb. 2: Häufigkeit deutscher Tweets zu Fußballthemen während des Spiels Deutschland- Japan Natürlich sind die Zuschauer: innen während der Spiele emotional sehr invol‐ viert. Auch an den Häufigkeitskurven allein kann man schon erkennen, dass die zweite Halbzeit mehr Reaktionen hervorruft als die erste. Als Ausdruck der Emotionalität enthalten 14 % der Tweets beim Costa-Rica-Spiel und fast 16 % beim Japan-Spiel mindestens ein Emoji - meistens sogar zwei oder mehr. Abb. 3: Häufigkeit der top 50 Emojis während des Spiels Deutschland-Costa Rica 76 Tatjana Scheffler <?page no="77"?> Abb. 4: Häufigkeit der top 50 Emojis / Emoticons während des Spiels Deutschland-Japan Die Arten der verwendeten Emojis (Abbildungen 3-4) geben Auskunft über die Grundstimmung der Kommentator: innen während der Spiele und lassen sich in Gruppen einteilen: Einige machen sich lustig durch lachende Gesichter oder das Clowns-Gesicht (😂, 🤣, 🤡, 😆, 🤪). Andere sind traurig, wütend, oder können gar nicht hinschauen (😭, 🤬, 🙈, 😬, 😤). Emojis werden auch zur Aufmerksamkeitslenkung verwendet (⚠, 🔥, ❗, ➡) oder zur Dekoration (🆚, ⚽). Nicht zuletzt dienen die Emojis auch dazu, den Text aufzulockern und eine informelle Atmosphäre herzustellen. Gleichzeitig ermöglichen sie es den Nutzer: innen, sich in der Fangemeinschaft, die unterschwellig adressiert wird, zu positionieren, egal ob mit Emojis der Trauer und Wut (😭, 🤬, 🙈, 😬, 😤) oder mit Emojis der Schadenfreude und des Sarkasmus (😂, 🤣, 🤡, 😆, 🤪). Auch an den Emojis lässt sich ablesen, wie die deutschen Fußball-Fans mit dem bescheidenen Verlauf der WM hadern, und ob sie sich sprachlich durch Ausdruck von Trauer und Wut auf die Seite der Mannschaft stellen oder sich durch Schadenfreude und Sarkasmus abgrenzen. In beiden Fällen partizipieren sie als Teil der Gruppe der Fußballfans am Geschehen. Im internationalen Fußball geschieht die explizierte Einordnung als Fan einer bestimmten Nationalmannschaft typischerweise durch die Verwendung von Nationalflaggen, die sofort signalisieren, welcher Seite sich die Nutzer: innen zugehörig fühlen. Die Flagge kann aber auch in farbigen Herz-Emojis nachge‐ bildet sein: Kommt Jungs wir glauben alle an euch ihr schafft das wir haben es heute nur zum Teil in der Hand trotzdem 100 % geben und endlich mal Chancen nutzen. macht uns stolz und bringt uns ins Achtelfinale 🇩🇪🇩🇪 #FIFAWorldCup2022 #DFBTeam #GERCRC [Link entfernt] Tooooooooooooooor 🖤❤💛 Deutschland 1-0 Japan #GERJPN #WM2022 #FIFA‐ WorldCup2022 #QatarWorldCup2022 Emojis und Gruppenidentität auf Twitter 77 <?page no="78"?> Die Nutzer: innen ordnen sich demnach nicht nur direkt über ihre emotionalen Äußerungen in eine Fangemeinde ein, sondern auch indirekt durch Selbstoffen‐ barung wie die Verwendung von gruppentypischen Symbolen. Einige der Emojis haben sogar die Möglichkeit, dass sie weitere Hinweise auf die persönlichen Eigenschaften ihrer Nutzer: innen geben können. Emojis, die Personen abbilden, können nämlich vielfältig modifiziert werden, in Bezug auf das Geschlecht, das Alter und die Haut- und Haarfarbe. Die folgenden Nutzer: innen verraten uns daher auch eine Selbstbeschreibung zusammen mit ihrer Äußerung: 3 Fach Chancen und wir lassen alles liegen sehr gut 🤦‍♂️ #GERJPN #DieMannschaft Auftaktspiel verloren wie so oft , gegen Japan wie peinlich. 🤦‍♂️ Was nutzen euch jetzt eure Gesten und Zeichen und Binden wenn Ihr stets verliert und die Leistungen nicht bringt ? 🤷‍♂️ Glückwunsch an Japan 👏 [Link entfernt] Die Emojis „Sich an den Kopf fassender Mann“ 🤦‍♂️ und „Schulterzuckender Mann“ 🤷‍♂️ existieren jeweils auch in anderen Versionen: als „Sich an den Kopf fassende Person“ 🤦 oder als „Schulterzuckende Frau“ 🤷‍♀️ zum Beispiel, sowie jeweils in fünf verschiedenen Hauttönen zusätzlich zum gelben Emoji, welches hier verwendet wurde. Wissenschaftliche Studien zur Verwendung von solchen modifizierbaren Personen-Emojis auf Twitter konnten zeigen, dass diese Bild‐ zeichen tatsächlich zum größten Teil den Eigenschaften der postenden Person entsprechen, also Personen mit hellen Hauttönen eher helle Emojis verwenden und Personen mit dunklem Hautton hauptsächlich dunkle (Robertson, Magdy & Goldwater 2018). Um dies herauszufinden, hatten die Wissenschaftler: innen die verwendeten Emojis mit den Profilfotos der jeweiligen Nutzer: innen vergli‐ chen. Wir können daher aus den gewählten Emojiformen schließen, dass die anonymen Autor: innen der eben aufgeführten Tweets höchstwahrscheinlich männlich sind. Technisch ist das Zeichen „Schulterzuckender Mann“ 🤷‍♂️ zusammengesetzt aus drei Teilen: dem Zeichen „Schulterzuckende Person“, einem unsichtbaren Verbindungselement, sowie dem Attribut „männlich“. Ebenso besteht „Schulter‐ zuckende Frau“ 🤷‍♀️ aus „Schulterzuckende Person“, dem Verbindungselement und dem Attribut „weiblich“. Die Suche nach den Zeichenteilen „männlich“ und „weiblich“ zeigt uns, dass die WM-2022-Datensätze viermal so viele Tweets mit männlichen Emojis (🤷🏾‍♂️, 🙋🏼‍♂️, usw.) wie Tweets mit einem weiblichen Emoji wie 🤦🏻‍♀️ oder 💁🏼‍♀️ enthalten. Die Nutzer: innen haben also zusätzlich zu ihrer Bewertung der Spiele auch demographische Informationen mitkommuniziert: Wir können das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Fußballfans, die sich während der WM auf Twitter äußern, anhand der Emojis auf ca. 4: 1 schätzen. 78 Tatjana Scheffler <?page no="79"?> Ein 💙 für Fußball Zur Fankommentierung von Fußballspielen auf Twitter gehört wie schon diskutiert auch die eigene Positionierung als Unterstützer: in einer bestimmten Mannschaft. Während der internationalen Spiele beziehen sich die meisten Kommentator: innen auf die heimische Nationalmannschaft und untermalen dies auch häufig mit dem Flaggen-Emoji (die deutsche Flagge hat Platz 2 bzw. 3 der häufigsten Emojis in Abbildungen 3-4). Eine andere Möglichkeit, mit Emojis Liebe zu zeigen, sind die Herzen: ❤🖤💚🧡💛💙. Herz-Emojis sind einige der meistverwendeten Emojis überhaupt, das rote Herz besetzt seit vielen Jahren Platz zwei aller Emojis auf Twitter laut emojitracker.com (und beweist damit gleichzeitig, dass der Ton auf dieser Plattform lange nicht so negativ war, wie oftmals angenommen). Um zu sehen, wie genau sich Fußball-Liebe auf Twitter in Emojis ausdrücken lässt, schauen wir uns nun noch einen Datensatz aus dem nationalen Fußball an. Hierzu wurden Tweets aus dem Zeitraum Mitte 2014 bis Anfang 2023 gesammelt, die die Hashtags „#fussball“ oder „#bundesliga“ enthielten, sowie mindestens ein Herz-Emoji. Insgesamt wurden 1278 Tweets gefunden, die Verteilung der verschiedenfarbigen Herzen ist in Abbildung 5 zu sehen. Hierbei ist zu beachten, dass das braune und weiße Herz erst 2019 eingeführt wurden, lila und gelb erst 2015. Abb. 5: Häufigkeit verschiedenfarbiger Herz-Emojis in deutschen Fußballtweets 2014- 2023 Die Herzen werden nicht zufällig, sondern farblich passend zu den Vereins‐ farben gewählt. So drücken diese Emojis nicht allgemein eine positive Meinung oder Stimmung aus, sondern dienen dazu, sich im virtuellen Raum in der Fangemeinschaft zu orientieren - genau wie man es in der Stadt durch Schals in Vereinsfarben oder im Stadion durch die Platzwahl im entsprechenden Fanblock getan hätte. Tweets, in denen das Stichwort „Werder“ vorkommt, haben vor allem grüne Herzchen, Tweets mit „BVB“ oder „Dortmund“ gelbe und schwarze, Emojis und Gruppenidentität auf Twitter 79 <?page no="80"?> und so weiter. Und die wenigen Vorkommen des neuen, braunen Herz-Emojis beziehen sich alle auf den FC St. Pauli: …zum ersten Mal im Stadion. Bin aufgeregt 🤎🤍 #Derby #fcsp #millerntor Wenn mir das jemand vor ein paar Jahren erzählt hätte 😂. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich jemals für #fussball interessiere. Und dann kam der #fcsp 🤎🤍 [Link entfernt] Die Herz-Emojis können erstens am Ende von Äußerungen oder ganzen Tweets zur Kommentierung, Evaluierung oder einfach zur Dekoration einge‐ setzt werden, so wie im Beispiel eben. Sie können aber auch paarweise um einzelne Wörter und ganze Sätze herum eingesetzt werden, und drücken dann sowohl eine positive Meinung als auch eine Positionierung als Fan des mit den Emojifarben symbolisierten Teams aus. Ein Emoji, oder eben Emojipaar, kann sogar einen Wortteil ersetzen, wie das Teilwort „Herz“ im folgenden Tweet: 💚🤍lichen Glückwunsch zum Aufstieg! #werder #svw #bundesliga #LebensLang‐ GruenWeiss #SVWSSV 🚀🎉🥳🍾🎊 [Link entfernt] In diesem Beispiel erfüllen die Emojis mindestens zwei Funktionen gleichzeitig. Ihre Herzform bildet Teil des Ausdruckes „Herz-lichen Glückwunsch“, welcher ohne die Emojis nicht verständlich wäre. Die Farbwahl der verwendeten Herz- Emojis zeigt zudem die Identifikation des Tweet-Autors oder der Autorin mit Werder Bremen so an, dass sie sofort auf den ersten Blick ersichtlich ist, auch ohne die folgenden Hashtags. Kein Wort kann diese Funktionen gleichzeitig ausfüllen. Das ⚽ muss ins 🥅 Als inzwischen gut etablierte, visuelle Darstellungen von Emotionen eignen sich Emojis besonders gut zum medienbegleitenden Ausdruck von Gefühlsreak‐ tionen, nicht nur, aber auch während Fußballwettkämpfen. Sie spielen dabei eine wichtige Rolle bei der Erzeugung der Illusion von Nähe, denn Nutzer: innen kennen Emojis vor allem aus persönlichen Chats. Dadurch helfen die Emojis dabei, eine virtuelle Gemeinschaft herzustellen: die Gemeinschaft der Fußball‐ fans, die sich zu einem laufenden Spiel äußern möchten. Die einzelnen Emojis verraten aber auch Details über die Meinungen und Eigenschaften der Autor: innen, die diese absichtlich oder unabsichtlich mit übertragen: Die Farben der Emojis können bestimmte Fan-Gruppen symbo‐ lisieren (zum Beispiel ein bestimmtes Fußballteam). Die Hautfarbe und die Zusammensetzung der Emojis, die Gesten oder Personen abbilden, können sogar Rückschlüsse auf die demographischen Eigenschaften der Autor: innen 80 Tatjana Scheffler <?page no="81"?> 1 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 470106373 - SFB 1567 Virtuelle Lebenswelten. erlauben, auf ihr Alter, Geschlecht, oder ihre Hautfarbe. So erreichen Emojis einen sprachlichen Spagat: Sie erlauben es Nutzer: innen, sich einerseits als Teil einer Gruppe darzustellen, und andererseits, ihre Individualität auszuleben. Ziemlich toll für so ein kleines Zeichen, oder? 1 ⚽️-⚽️-⚽️ Androutsopoulos, Jannis & Jessica Weidenhöffer. 2015. Zuschauer-Engagement auf Twitter: Handlungskategorien der rezeptionsbegleitenden Kommunikation am Bei‐ spiel von #tatort. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 62(1). 23-59. Beißwenger, Michael & Steffen Pappert. 2019. Handeln mit Emojis: Grundriss einer Linguistik kleiner Bildzeichen in der WhatsApp-Kommunikation. Duisburg: Universi‐ tätsverlag Rhein-Ruhr. Du Bois, John W. 2007. The stance triangle. In Robert Englebretson (ed.), Stancetaking in Discourse: Subjectivity, evaluation, interaction (Pragmatics & Beyond New Series), 139-182. Amsterdam: Benjamins. Meier, Simon. 2019. mitfiebern - Mediatisierte emotionale Kommunikationspraktiken in Fußball-Livetickern und Livetweets. In Stefan Hauser, Martin Luginbühl & Susanne Tienken (eds.), Mediale Emotionskulturen, 155-178. Bern: Lang. Pappert, Steffen. 2017. Zu kommunikativen Funktionen von Emojis in der WhatsApp- Kommunikation. 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Emojis und Gruppenidentität auf Twitter 81 <?page no="83"?> „Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich“ Evaluative Wortbildung in Fußball-Livetickern Sören Stumpf Samstag, 15: 30 Uhr - in den Köpfen deutscher Fußballfans dürfte diese Zeitan‐ gabe fest verankert sein. Denn für gewöhnlich finden zu dieser Zeit zwischen August und Mai die Samstagnachmittagsspiele der Fußball-Bundesliga statt. Wer die Partien nicht live über einen Pay-TV-Sender oder im Radio sehen bzw. hören kann, konsultiert höchstwahrscheinlich einen der zahlreichen Fußball- Liveticker, die im Internet angeboten werden. Auf diese Weise kann man sich quasi in Echtzeit über die wichtigsten Geschehnisse, die sich in den Stadien abspielen, informieren. Im Fokus der Berichterstattung stehen die vielfältigen Aktionen, die ein Fußballspiel ausmachen (z. B. Tore, Torschüsse, Paraden, Pässe, Flanken, Grätschen, Fouls, Aus- und Einwechslungen). Die Sprache der Liveticker ist dabei keineswegs nüchtern-informativ, sondern sie ähnelt der mündlichen Berichterstattung, indem Merkmale spontan-gesprochener Sprache aufgegriffen werden (z. B. Ellipsen, Interjektionen). Zudem zeichnet sie sich durch eine emotionale Färbung aus, wenn beispielsweise positive wie negative Bewertungen einzelner Spielszenen vorgenommen werden (Meier 2019; Meier- Vieracker 2021). Die Textproduzent: innen bringen nicht selten ihre Einstellung gegenüber dem beschriebenen Ereignis zum Ausdruck. Dies kann unter an‐ derem mit (be-)wertenden Adjektiven (z. B. schön, toll) und Steigerungspartikeln (z. B. sehr, ziemlich) geschehen: Statt Tor von Harry Kane heißt es dann Sehr schönes Tor von Harry Kane. Ein weiteres Verfahren der Evaluation bietet die Wortbildung (Erben 2006; Fleischer & Barz 2012; Stumpf 2023). So können sich Sprecher: innen durch den Gebrauch sogenannter evaluativer Wortbildungsmuster gegenüber bestimmten Kommunikationsgegenständen positionieren (Dammel 2021: 148; Stumpf & Merten 2023). Beispielsweise existiert innerhalb des Systems der Komposition (Zusammensetzung zweier lexikalischer Einheiten) das Wortbildungsverfahren der Augmentation (Ruf 1996; Wiegand 2001; Werth 2022), bei dem ein Erstglied <?page no="84"?> 1 Die Belege, die im Folgenden angeführt werden, stammen aus den Korpora zur Fuß‐ balllinguistik (Meier 2017). Wortbildungen, die Teil der Analyse sind, werden (kursiv) hervorgehoben. 2 Die Siglen für die Korpusbelege folgen dem Muster Quelle_Wettbewerb+Saison_Text‐ sorte_TextID. Die Abkürzungen sind wie folgt aufzulösen: wfb = weltfussball.de; BL = Bundesliga; DFB = DFB-Pokal; CL = Champions League; WC = World Cup (Weltmeis‐ terschaft); EC = European Championship (Europameisterschaft); lt = Liveticker. 3 Informationen über die Korpusdokumentation mit Hinweisen zur Zusammenstellung der Korpora, zu den Quellen und zur Textrepräsentation sowie zur korpuslinguisti‐ schen Aufbereitung finden sich auf fussballlinguistik.de/ korpora/ korpusdokumenta‐ tion/ (Stand 04.12.2023). (z. B. Glanz) eine verstärkende und bewertende Funktion gegenüber einem Zweitglied (z. B. Parade) besitzt und bei dem die gesamte Wortbildung der Evaluation einer außersprachlichen Entität dient (Glanzparade als Bewertung einer Torvereitelung durch den Torhüter). Augmentative Wortbildungen „cha‐ rakterisieren ihre Referenten als (in Bezug auf einen Standard) besonders groß, riesig bzw. wichtig, oft verbunden mit einer positiven oder negativen Wertung“ (Fleischer & Barz 2012: 143-144). Dies kann anhand des sprechenden Zitats im Aufsatztitel veranschaulicht werden: Der Pass sowie das Tor, das in der Partie zwischen Hannover 96 und dem 1. FC Köln am 29. Spieltag der Saison 2008/ 09 aus eben jenem Zuspiel resultierte, waren in den Augen des Sportjournalisten nicht einfach nur ein normaler Pass und ein erwartbares Tor. Deshalb hebt er mithilfe der beiden Erstglieder Zucker und Traum die Außergewöhnlichkeit dieser beiden Aktionen hervor (vgl. Beleg 1): 1 (1) Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich. Ein Auftakt nach Maß für 96 und keine, aber auch wirklich keine Chance für Mondragon diesen Gegentreffer zu verhindern. Erste richtig gute Chance und das erste Tor. Der Anfang ist also gemacht … (wfb_BL0809_lt_871) 2 Im Folgenden werden solche evaluativen Wortbildungen der Fußballberichter‐ stattung empirisch genauer unter die Lupe genommen. Als Datengrundlage dient ein Korpus bestehend aus 5.192 Livetickern von weltfussball.de, die über die Wettbewerbe Bundesliga, DFB-Pokal, Champions League, Weltmeisterschaft sowie Europameisterschaft des Zeitraums 2006-2016 berichten und die primär auf sportbild.de wiederveröffentlicht wurden (Meier 2017). 3 In den Fokus rü‐ cken Wortbildungsmuster, mit denen positive (z. B. Traum-X [Traumtor]) und negative Bewertungen (z. B. Horror-X [Horror-Foul]) vorgenommen werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Gebrauchsfrequenz und Produkti‐ vität sowie den formalen, semantischen und pragmatischen Charakteristika der verwendeten Muster geschenkt. 84 Sören Stumpf <?page no="85"?> Von Riesenchance bis Mördertempo: Quantitative Einsichten in augmentative Wortbildungsmuster Auf der Grundlage von Sammlungen und Überblicksdarstellung zu nominalen Augmentativa des Deutschen (Wiegand 2001; Fleischer & Barz 2012: 143-145) wurde im Weltfußball-Liveticker-Korpus nach augmentativen Erstgliedern ge‐ sucht, um auf diese Weise die Auftretenshäufigkeit der einzelnen Muster sowie derjenigen Wörter, die als Zweitglied vorkommen, festzustellen (vgl. Tabelle 1). Erstglied Treffer insge‐ samt verschie‐ dene Zweit‐ glieder Auswahl an Zweitgliedern (sortiert nach Frequenz, Anzahl der Belege in Klammern) Riesen 3.179 160 Chance (1.872), Parade (104), Möglichkeit (102), Glück (90), Ding (82) Spitzen 1.224 52 Spiel (347), Reiter (337), Mannschaft (147), Team (121), Gruppe (41) Traum 824 50 Tor (371), Pass (199), Start (82), Kombination (17), Fußball (15) Glanz 705 13 Parade (339), Tat (283), Leistung (43), Punkte (18), Zeit (7) Weltklasse 299 66 Parade (57), Pass (24), Leistung (22), Spieler (20), Reflex (15) Wahnsinns 243 86 Tat (20), Parade (16), Reflex (15), Tor (15), Spiel (11) Zucker 204 12 Pass (160), Flanke (16), Pässchen (7), Anspiel (5), Ball (3) Sahne 119 23 Tag (41), Pass (35), Stück (9), Leistung (4), Tor (4) Hammer 64 25 Schuss (15), Gruppe (9), Tor (7), Chance (5), Spiel (4) Horror 57 26 Bilanz (7), Saison (6), Szenario (6), Start (5), Grätsche (3) Wunder 50 17 Kind (13), Stürmer (9), Dinge (6), Waffe (4), Floh (3) Bilderbuch 32 11 Konter (16), Angriff (4), Pass (2), Spielzug (2), Start (2) Mammut 28 2 Aufgabe (25), Programm (3) „Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich“ 85 <?page no="86"?> 4 Bedeutungsangabe nach: www.dwds.de/ wb/ riesen- (Stand 06.12.2023). Bomben 19 9 Start (4), Reflex (3), Schuss (3), Form (2), Saison (2) Monster 19 8 Chance (6), Sprint (5), Grätsche (3) Höllen 18 8 Tempo (7), Lärm (5), Druck (2) Jahrhundert 13 6 Spiel (5), Chance (2), Talent (2), Trainer (2) Mords 11 9 Schuss (2), Tempo (2) Vollblut 11 3 Stürmer (9), Mittelstürmer, Verteidiger Mörder 9 5 Tempo (4), Sprint (2) Alptraum 4 3 Triple (2), Halbzeit, Gegner Tabelle 1: Gebrauchshäufigkeit augmentativer Erstglieder und frequente Zweitglieder im Weltfußball-Liveticker-Korpus Tabelle 1 verdeutlicht, dass es große Unterschiede im Gebrauch der augmenta‐ tiven Wortbildungsmuster gibt. Mit Abstand am häufigsten treten Komposita mit dem Erstglied Riesen auf, das innerhalb dieses Musters in etwa die Bedeu‐ tung ,von besonders großem Umfang, Ausmaß, von besonders großer Anzahl bzw. von großer Intensität, Qualität‘ besitzt (vgl. Belege 2 und 3). 4 (2) Nach einer Riesenvorarbeit von Klose ist Özil rechts durch, überwindet mit Ach und Krach Keeper Schwarzer, doch dann kratzt ein Aussie---ich glaub, Chipperfield war's---das Ding von der Linie! (wfb_WC10_lt_84_wfb) (3) Riesenjubel im Moselstadion! Eintracht Trier bezwingt Arminia Bielefeld nach einem tollen Pokalfight mit 4: 2 und zieht damit ins Achtelfinale ein. (wfb_DFB0910_lt_169) Dass dieses Erstglied an erster Stelle rangiert, verwundert nicht, da Riesen auch im Standarddeutschen eines der produktivsten Augmentativa darstellt (Fleischer & Barz 2012: 144). Hervorzuheben ist allerdings, dass in circa 59 Pro‐ zent aller Belege das Zweitglied Chance auftritt (1.872 Belege von 3.179 Belegen). Es handelt sich bei Riesenchance also um eine sehr gebräuchliche Wortbildung im Weltfußball-Liveticker (vgl. Beleg 4). 86 Sören Stumpf <?page no="87"?> (4) Und dann doch noch DIE Riesenchance für Bayer. Voronin köpft den Ball im Strafraum auf Rolfes, der drückt ab. Doch Enke pariert. Das wärs gewesen … (wfb_BL0607_lt_196) Erfolgsversprechende Möglichkeiten, ein Tor zu erzielen, sind mit Blick auf Tabelle 1 bedeutsame Ereignisse eines Fußballspiels, über die nicht nur neutral (Chance), sondern auch mit einer (Be-)Wertung von Seiten der Journalist: innen berichtet wird. Angesichts der Trefferzahlen lässt sich zudem festhalten, dass das Muster „Riesen + Nomen“ im untersuchten Korpus nicht wirklich produktiv eingesetzt wird. Denn die 3.179 Belege enthalten nur 160 unterschiedliche Wörter (zahlreiche Zweitglieder kommen also mehrfach vor). Setzt man diese beiden Werte in ein Verhältnis zueinander (sogenannte Type-Token-Relation, Stefanowitsch 2020: 315-316), so zeigt sich, dass sich nur circa fünf Prozent aller Belege voneinander unterscheiden. Unter den 160 verschiedenen Treffern gibt es darüber hinaus 79 Belege, die nur ein einziges Mal in den untersuchten Texten auftreten (z. B. Riesendribbling [vgl. Beleg 5], Riesenlupfer, Riesenkonter‐ möglichkeit). (5) Riesendribbling von Arjen Robben! Durch fünf Mann marschiert der Doppeltorschütze über rechts hindurch, schießt aus spitzem Winkel. (wfb_BL1415_lt_2633) Solche Einmalbelege werden in der Forschung „Hapax Legomena“ genannt. Wenn diese in ein Verhältnis mit der Gesamttrefferzahl (n=3.179) gesetzt werden (sogenannte Hapax-Token-Relation, Stefanowitsch 2020: 316-318), können sie ebenso Aufschluss über die Produktivität eines Wortbildungsmusters geben. So sind gerade einmal circa 2,5 Prozent aller Realisierungen des Musters „Riesen + Nomen“ Einmalbelege, was für eine geringe Produktivität dieses augmentativen Modells spricht. Produktiver sind dagegen beispielsweise die Modelle „Weltklasse + Nomen“ (Type-Token-Relation von 22 Prozent; Hapax-Token-Relation von 10 Prozent), „Wahnsinns + Nomen“ (Type-Token-Relation von 35 Prozent; Hapax-Token- Relation von 21 Prozent) und „Hammer + Nomen“ (Type-Token-Relation von 39 Prozent; Hapax-Token-Relation von 28 Prozent). Insgesamt lassen sich also unterschiedliche Produktivitätsgrade der augmentativen Muster feststellen, die unabhängig von der Gebrauchsfrequenz zu interpretieren sind. Mit anderen Worten: Bestimmte Modelle dienen häufiger als Basis für Neubildungen in‐ nerhalb des Weltfußball-Livetickers als andere. Darüber hinaus belegen die Korpusdaten, dass es in der Regel ein bis zwei Realisierungsformen je Muster „Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich“ 87 <?page no="88"?> gibt, die besonders häufig vorkommen und somit stark verfestigt sind. Erwähnt seien neben dem bereits besprochenen Beispiel Riesenchance die Wörter • Spitzenspiel und Spitzenreiter (jeweils 28 Prozent aller Belege des Musters „Spitzen + Nomen“), • Traumtor und Traumpass (45 und 27 Prozent aller Belege des Musters „Traum + Nomen“), • Glanzparade und Glanztat (48 und 40 Prozent aller Belege des Musters „Glanz + Nomen“), • Zuckerpass (78-Prozent aller Belege des Musters „Zucker + Nomen“) sowie • Sahnetag und Sahnepass (34 und 29 Prozent aller Belege des Musters „Sahne + Nomen“). Bei Augmentativa mit sehr geringer Trefferzahl ist es dagegen kaum sinnvoll, quantitative Berechnungen vorzunehmen. Beispielsweise treten die Erstglieder Bomben, Monster, Höllen, Jahrhundert, Mords, Vollblut, Mörder und Alptraum weniger als 20-mal im Korpus auf. Sie stellen also evaluative Elemente dar, die im untersuchten Weltfußball-Liveticker nur selten gebraucht werden. Lohnend ist auch ein Blick auf die Zweitglieder, die mit augmentativen Erstgliedern verbunden werden. So gibt es Zweitglieder, die (mehr oder we‐ niger häufig) in unterschiedlichen Modellen auftreten. Es zeichnen sich also Gebrauchs- und Kombinationspräferenzen ab, die im Umkehrschluss auch als Einschränkungen der Kombinationsmöglichkeiten interpretiert werden können. Um Abwehraktionen des Torhüters zu bewerten, wird in der Regel auf die Augmentativa Glanz (Glanzparade [n=339] [vgl. Beleg 6], Glanztat [n=283]), Riesen (Riesenparade [n=104]), Weltklasse (Weltklasseparade [n=57], Weltklassereflex [n=15] [vgl. Beleg 7]) und Wahnsinns (Wahnsinnstat [n=20] [vgl. Beleg 8], Wahnsinnsreflex [n=15]) zurückgegriffen. Die Augmentativa Spitzen, Traum, Zucker, Sahne und Hammer werden dagegen überhaupt nicht oder nur sehr selten mit den Wörtern Parade, Tat und Reflex kombiniert. (6) Doppelchance Rostock! Nach einer Ecke ist es zunächst Gledson, der zum Kopfball kommt, Neuer mit einer Glanzparade; im Anschluss dann Menga mit dem Schuss, den Streit von der Linie kratzen kann. (wfb_BL0708_lt_547) (7) Chancen im Minutentakt und allesamt für Rom: Nach tollem Ball in den Lauf ist Gaby Mudingayi allein vor Tim Wiese, aber der Torhüter pariert erneut mit einem Weltklassereflex und hält seinen Bremern den Punkt fest! (wfb_CL0708_lt_156) (8) Die Cottbuser nutzen direkt den Platz und Farina zimmert die Kugel auf den Kasten. Ischdonat rettet mit einer Wahnsinnstat! (wfb_BL0708_lt_355) 88 Sören Stumpf <?page no="89"?> Zur positiven Evaluation eines erzielten Tores mittels des Modells „Augmenta‐ tivum + Tor“ wird vor allem Traum (n=371) verwendet (vgl. Beleg 1 und 9); vereinzelt sind aber auch die Augmentativa Wahnsinns (n=15), Hammer (n=7) und Sahne (n=4) belegt. (9) Was für ein Traumtor durch Rosicky. Aus 20-25 Meter bekommt er den Ball von Nedved und zieht trocken ab. Genau in den Winkel. (wfb_WC06_lt_25) Hervorragende Pässe werden insbesondere durch die Erstglieder Traum (n=199) (vgl. Beleg 10), Zucker (n=160) (vgl. Beleg 1), Sahne (n=35) (vgl. Beleg 11) und Weltklasse (n=24) (vgl. Beleg 12) evaluiert (nach dem Muster „Augmentativum + Pass“). (10) Wesley Sneijder spielt einen Traumpass mit dem Außenrist über rund 35 Meter genau in den Fuß des "Hunters". (wfb_EC12_lt_38) (11) Gündoğan schickt Kagawa mit einem Sahnepass in den gegnerischen 16er! (wfb_BL1112_lt_1744) (12) Schweinsteiger findet Gomez mit einem Weltklassepass. (wfb_BL1112_lt_1744) Zur Bewertung eines außergewöhnlich guten hohen Zuspiels in den Strafraum des Gegners werden bevorzugt die Augmentativa Zucker (n=16) (vgl. Beleg 13) und Traum (n=13) (vgl. Beleg 14) gebraucht („Augmentativum + Flanke“). (13) Tomas Costa schlägt von rechts eine Zuckerflanke in die Mitte. (wfb_CL0809_lt_325) (14) Das Traumduo im Zusammenspiel: Podolski mit einer Traumflanke von der linken Außenbahn in die Mitte auf Novakovič. (wfb_BL1011_lt_1475) Während Zuckerflanke und Traumflanke also gängige Wortbildungen in den untersuchten Livetickern darstellen, gibt es dagegen beispielsweise keinen einzigen Beleg für das Wort Hammerflanke. Das Augmentativum Hammer wird vielmehr mit Schuss verbunden (n=15) (vgl. Beleg 15). (15) Rooney legt für Ronaldo auf und der holt einen Hammerschuss raus. (wfb_BL1011_lt_1475) Diese Gebrauchsrestriktion bzw. -präferenz ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Merkmale ,weich‘, ,elegant‘ und ,gezielt‘ mit (erfolgreichen) Flanken as‐ soziiert werden und nicht etwa die Merkmale ,schnell‘ und ,hart‘. Das Augmen‐ „Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich“ 89 <?page no="90"?> tativum Hammer verträgt sich somit semantisch weniger gut mit dem Lexem Flanke. Mit dem Zweitglied Schuss ist es dagegen problemlos kombinierbar, da es für die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolgs eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, mit welcher Geschwindigkeit und Härte auf das gegnerische Tor geschossen wird. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Augmentativa trotz ihres grammatisch-funktionalen und reihenbildenden Status, der ihnen in der Wortbildungslehre mitunter eine Stellung zwischen Lexem und Wortbildungs‐ affix verleiht (sogenannte „Affixoide“, Stein 2008), auch (immer noch) eine semantische Autonomie besitzen, die sich aus der Bedeutung des Ursprungsle‐ xems speist. Ein sehr enger Zusammenhang besteht auch zwischen dem augmentativen Erstglied Bilderbuch und dem Zweitglied Konter (n=16) (vgl. Beleg 16); kein anderes Wort wird so häufig mit diesem Augmentativum verbunden (50 Prozent aller Belege dieses Musters). (16) Tooor für Bor. Mönchengladbach, 0: 2 durch Raffael. Ein Bilderbuchkonter sorgt für den zweiten Borussentreffer! (wfb_BL1415_lt_2682) Das Vorhandensein von Kombinationsbeschränkungen kann darüber hinaus besonders gut in der Gegenüberstellung der Modelle „Zucker + Nomen“ und „Sahne + Nomen“ aufgezeigt werden. Zwar wird in beiden Modellen recht häufig Pass eingesetzt, Tag findet sich aber nur in Verbindung mit Sahne (n=41). Zudem lässt sich das Zweitglied Leistung nur mit Sahne (n=4), nicht aber mit Zucker kombinieren. Bestimmte Muster dienen weniger der Evaluation von Geschehnissen auf dem Fußballplatz (Pässe, Flanken, Schüsse, Tore, Paraden usw.), als vielmehr der Bewertung von Personen, die (beruflich) in der Fußballbranche tätig sind. Zu nennen ist hierbei das Modell „Wunder + Nomen“. In sieben von 17 Belegen werden Personen evaluiert, die ungewöhnliche Fähigkeiten besitzen bzw. die Leistungen vollbringen, welche die Erwartungen und die Norm weit übertreffen. Vor allem junge Fußballer, denen ein großes Talent attestiert wird (Wunderkind [n=13] [vgl. Beleg 17]), sowie Angreifer, die beispielsweise durch ihre Torquote herausstechen (Wunderstürmer [n=9] [vgl. Beleg 18]), werden im Rückgriff auf dieses Modell äußerst positiv hervorgehoben. (17) Unfassbar was das Wunderkind mit der 3 von Tottenham alles drauf hat. Gareth Bale wird kein Großer, das ist schon jetzt einer! (wfb_CL1011_lt_509) (18) Tor für Milan! Inzaghi ist in Topform. Von links kam eine tolle Flanke und der Wunderstürmer steigt traumhaft hoch! (wfb_CL0607_lt_85) 90 Sören Stumpf <?page no="91"?> Möchten die Liveticker-Journalist: innen ausdrücken, dass in ihren Augen be‐ stimmte Personen(gruppen), die auf und neben dem Fußballplatz agieren, im internationalen Vergleich zu den besten ihrer Zunft gehören, so ziehen sie das Muster „Weltklasse + Nomen“ heran (vgl. Tabelle 2). Weltklasse Spieler (20), Stürmer (10), Mann (7), Keeper (5), Mannschaft (4), Torhüter (4), Coach (2), Fußballer (2), Trio (2), Abwehrspieler, Akteur, Boxer, Elf, Ensemble, Innenverteidiger, Kader, Kicker, Leute, Rechtsverteidiger, Routinier, Schiri, Startelf, Torwart, Verteidiger Tab: 2: Zweitglieder innerhalb des Musters „Weltklasse + Nomen“ zur positiven Evalua‐ tion von Personen(gruppen) (in Klammern Anzahl der Belege) Zudem existiert mit „Vollblut + Nomen“ ein Modell, mit dem einzelne Spieler‐ typen evaluiert werden. Mit Vollblutstürmer (n=9) (vgl. Beleg 19), Vollblutmittel‐ stürmer (n=1) oder Vollblutverteidiger (n=1) wird auf Fußballprofis referiert, die mit voller Hingabe ihren Beruf ausüben. (19) Mario Gomez feuert aus allen Lagen! Sobald er eine Torchance wittert, sucht er den direkten Abschluss. So muss das ein Vollblutstürmer auch machen … (wfb_BL0607_lt_190) Und auch das Modell „Jahrhundert + Nomen“ bezieht sich in der Regel auf Personen, die so talentiert und/ oder erfolgreich sind, dass sie - wortwörtlich - nur alle einhundert Jahre in Erscheinung treten (Jahrhunderttalent [n=2] [vgl. Beleg 20], Jahrhunderttrainer [n=2]). (20) Ein Hauptaugenmerk bei dieser Partie wird wohl auf dem Duell zwischen Philipp Lahm und Lionel Messi liegen. Der Münchner, zweifelsohne einer der besten Linksverteidiger der Welt, trifft auf das argentinische Jahrhundertta‐ lent. (wfb_CL0809_lt_366) Von Weltklasseparade bis Horrorgrätsche: Wortbildungsmuster zwischen positiver und negativer Evaluation Mit den augmentativen Erstgliedern nehmen die Textproduzent: innen in der Regel eine Aufwertung derjenigen Elemente vor, die in die Zweitstelle treten; gleichzeitig werden dadurch die außersprachlichen Handlungen, Personen usw. evaluiert. Dabei können Wörter mit positiver Bedeutung (z. B. Weltklasse, „Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich“ 91 <?page no="92"?> Wunder und Glanz), Wörter mit neutraler Semantik (z. B. Riesen, Traum, Zucker, Sahne und Hammer), insbesondere aber auch Wörter, die an sich eine negative Bedeutung besitzen (z. B. Wahnsinns, Bomben, Höllen, Mords oder Mörder), der positiven Evaluation dienen. Erwähnenswert ist, dass nicht jedem Muster pauschal eine positive oder negative Bedeutung zugesprochen werden kann. Beispielsweise lässt sich bei Komposita mit dem Augmentativum Riesen nicht immer eindeutig entscheiden, ob mit diesen etwas positiv oder negativ bewertet wird. In solchen Fällen kann die unmittelbare sprachliche Umgebung, in der das Wort verwendet wird, Hinweise auf die Evaluationsrichtung geben. Riesenchance tritt beispielsweise nicht selten mit Verben auf, mit denen die Tatsache in den Mittelpunkt gerückt wird, dass eine vielversprechende Torgelegenheit ungenutzt blieb; in solchen Verwendungskontexten fällt die Evaluation eher negativ aus (vgl. Beleg 21). (21) Nun vergibt der HSV erneut eine Riesenchance: Olic setzt Laas in Szene, der genau wie Schröter zuvor auf der anderen Seite wenige Zentimeter am langen Pfosten vorbei schießt! (wfb_BL0607_lt_228) Zudem spielt die Semantik des Wortes eine Rolle, das durch das Augmentativum modifiziert wird. So stellen Riesenreflex, Riesentalent und Riesensaison positive, Riesenpatzer, Riesenfehler und Riesenabspracheprobleme negative Evaluationen dar. Bei Letzteren erfolgt die Bewertung also genau genommen durch die Zweitglieder (Patzer, Fehler, Abspracheprobleme); Riesen bezieht sich als Inten‐ sivierungselement lediglich auf das Ausmaß. Auch die Bewertung mithilfe des Augmentativums Höllen kann je nach sprachlicher Realisierungsform und Kontexteinbettung sowohl negativ (vgl. Beleg 22) als auch positiv ausfallen (vgl. Beleg 23). (22) Rote Karte für Matthieu Delpierre (VfB Stuttgart) Matthieu Delpierre geht mit vollem Körperverletzungsvorsatz und einge‐ sprungenem Kung-Fu-Kick auf den Knöchel von Patrick Ochs. Der Frankfurter lässt einen Höllenschrei von sich und hat Glück dass da die Knochen heil bleiben. Was war das für eine üble Aktion des Kapitäns? (wfb_BL1011_lt_1285) (23) Von Beginn an war hier Tempo und Einsatz vom Allerfeinsten drin. Allen voran vom FC Liverpool, die zusammen mit ihrem Publikum ein Höllenspek‐ takel abgeliefert haben und vollkommen verdient mit 1: 0 in Führung gegangen sind. (wfb_CL0607_lt_123) Die positive Bewertung kann durch syntaktische Einbettungsstrukturen der Wortbildungen verstärkt werden. Beispielsweise finden sich nicht wenige aug‐ 92 Sören Stumpf <?page no="93"?> mentative Bildungen innerhalb des exklamativen Satzmusters „Was (für) ein/ e X“ (vgl. Belege 24 bis 26), durch das Überraschung und emotionale Involviertheit zum Ausdruck gebracht werden (Chovanec 2018: 197; Meier 2019: 164-165). Hier zeigt sich also ein enges Zusammenspiel zwischen Wortbildung, Syntax und Pragmatik. Darüber hinaus können Interjektionen der Begeisterung und Bewunderung die emotionale Aufladung der Äußerung zusätzlich untermauern (vgl. Wow in Beleg 25 und Leck mich fett in Beleg 26). (24) Tooor für Real Madrid, 0: 1 durch Cristiano Ronaldo. Was für ein Zuckerfreistoß von Cristiano Ronaldo! (wfb_CL0910_lt_411) (25) Tooor für Werder Bremen, 2: 0 durch Naldo. Wow, was für ein Mordshammer! (wfb_BL1112_lt_1655) (26) Leck mich fett, was ist das denn für ein Hammerschuss! (wfb_CL1011_lt_552) In der Regel besitzen die untersuchten Wortbildungsmuster eine usualisierte Wortbildungsbedeutung, die sich mitunter (metaphorisch) aus der Semantik der Augmentativa ableiten lässt. So referiert das Muster „Zucker + Nomen“ ausschließlich auf filigrane und mitunter ästhetisch ansprechende Aktionen, die nicht von jedem Fußballprofi auf die gleiche Weise ausgeführt werden können. Zucker hat hier also in etwa die Bedeutung ,sehr schön‘. Ein Zuckerpass ist demnach ein sehr schöner Pass, ein Zuckerlupfer ein sehr schöner Lupfer. Mit dem Augmentativum Bilderbuch wird eine bestimmte Handlung oder ein Umstand als ,perfekt, ideal‘ perspektiviert. Ein Bilderbuchkonter ist ein perfekt ausgespielter Konter, ein Bilderbuchwetter ein Wetter, das ideale Vorausset‐ zungen für ein Fußballspiel bietet. Mords drückt ein sehr großes Ausmaß von etwas aus. Eine Mordssprungkraft ist somit eine sehr große Sprungkraft, ein Mordstempo ein sehr schnelles Tempo. Viel seltener als Augmentativa, die aufwertende Eigenschaften besitzen, treten Augmentativa auf, mit denen eine negative Evaluation vorgenommen wird. Neben dem niedrigfrequenten Alptraum (z. B. Alptraumhalbzeit) ist vor allem Horror zu nennen. Dieses Augmentativum bezieht sich unter anderem auf unterdurchschnittliche, mitunter besorgniserregende Bilanzen (n=7) (vgl. Beleg 27), Saisons (n=6), Starts (n=5), Hinrunden (n=3), Wochen (n=3), Auftritte (n=1), Halbzeiten (n=1), Rückrunden (n=1), Serien (n=1) und Tage (n=1) von Fußballmannschaften. Ferner werden mit Horror missglückte Handlungen von Spielern bewertet (Horrorabschlag [n=2] [vgl. Beleg 28], Horrorfehlpass [n=2]). Nicht zuletzt können mit Horror auch Aktionen, mit denen die Gefährdung der Gesundheit des Gegners billigend in Kauf genommen wird, als inakzeptabel bewertet werden (Horrorgrätsche [n=3] [vgl. Beleg 29], Horrorfoul [n=1]). „Zuckerpass, Traumtor, die Fans außer sich“ 93 <?page no="94"?> (27) Es ist aber auch eine Horrorbilanz, welche die Werderaner in den letzten Wochen vorzuweisen haben: In den letzten sechs Spielen kassierten sie insgesamt 20 Gegentreffer, fünfmal mussten sie drei oder mehr Gegentore hinnehmen. (wfb_BL1314_lt_2272) (28) Tooor für Bayer Leverkusen, 2: 0 durch Eren Derdiyok. Schon wieder so ein Horrorabschlag von Pouplin! (wfb_BL0910_lt_1098) (29) Roberto Punčec grätscht Lars Bender brutal am eigenen Strafraum um, aber der Schiedsrichter lässt fälschlicherweise weiterlaufen. Das ist eine ganz klare Fehlentscheidung. Bei so einer Horror-Grätsche muss es mindestens die Gelbe Karte geben. (wfb_DFB1213_lt_368) Hervorzuheben ist, dass bestimmte Geschehnisse (eher) negativ sowie (eher) positiv evaluiert werden können, bestimmte Zweitglieder also sowohl mit dem negativen Augmentativum Horror als auch mit positiven Augmentativa verbunden werden. So wird - wie oben beschrieben - eine missglückte und mitunter den Gegner verletzende Grätsche als Horrorgrätsche bezeichnet, per‐ fekt ausgeführte und erfolgreiche Grätschen dagegen als Monster- (n=3), Riesen- (n=3), Wahnsinns- (n=2), Bilderbuch- (n=1), Hammer- (n=1), Mörder- (n=1) und Weltklassegrätschen (n=1). Schlussbemerkungen Die korpuslinguistische Analyse illustriert das breite Spektrum an augmenta‐ tiven Wortbildungsmustern, die in der Fußballberichterstattung zur (emotio‐ nalen) Bewertung von Spielszenen oder am Spiel beteiligten Personen überaus häufig eingesetzt werden. Aus quantitativer Sicht lässt sich festhalten, dass bestimmte Muster (deutlich) frequenter auftreten als andere (z. B. „Riesen + Nomen“ gegenüber „Mörder + Nomen“). Zudem unterscheiden sich die Muster hinsichtlich ihrer Produktivität sowie der lexikalischen Auffüllung der Leer‐ stelle. So existieren einige Wörter, die zwar auf ein Muster zurückführbar sind, die aufgrund ihrer hohen Frequenz aber stark verfestigt sind und dem‐ nach als besonders typisch für die Textsorte Fußball-Liveticker gelten können (z. B. Riesenchance, Traumtor, Glanzparade). Ferner lassen sich präferierte Kom‐ binationen und daraus resultierend Bildungspräferenzen und -restriktionen der evaluativen Wortbildungsmuster ableiten (z. B. Sahnetag, nicht aber Zu‐ ckertag). Es existieren weitaus mehr Wortbildungsmuster, die der positiven Evaluation dienen (z. B. „Weltklasse + Nomen“, „Bilderbuch + Nomen“); Wortbil‐ dungsmuster, mit denen Handlungen, Personen usw. negativ evaluiert werden, kommen selten im Weltfußball-Liveticker vor (z. B. „Horror + Nomen“). 94 Sören Stumpf <?page no="95"?> Aus der Perspektive eines Fußballbegeisterten und Linguisten möchte ich abschließend festhalten, dass ein gelungener Liveticker nicht ohne eine ordent‐ liche Menge an evaluativen Wortbildungen auskommt. Denn sie tragen zur Emotionalität der Berichterstattung bei und ermöglichen denjenigen Fans, die weder im Stadion noch vor dem Fernseher oder Radio sitzen, die teils dramatischen Ereignisse, die sich auf den Plätzen abspielen, auf anschauliche, spannende und begeisternde Art und Weise mitzuverfolgen. ⚽️-⚽️-⚽️ Chovanec, Jan. 2018. The discourse of online sportscasting: Constructing meaning and interaction in live text commentary. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins. Dammel, Antje. 2021. Evaluative Wortbildung und Personenreferenz. Maskulina auf -i und ihre femininen Entsprechungen in alemannischen Dialekten - auch als Indikator für Geschlechterstereotype im Wörterbuch. Linguistik Online 107(2). 145-176. Erben, Johannes. 2006. Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin: Schmidt. Meier, Simon. 2017. Korpora zur Fußballlinguistik - eine mehrsprachige Forschungs‐ ressource zur Sprache der Fußballberichterstattung. 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Juni 1978, Österreich - Deutschland 3: 2 Um Wissen zu ordnen, helfen uns Namen: „Werden Dinge bekannt und so interessant, daß bloßes Aufweisen und/ oder umschreibende Kennzeichnung nicht genügt, in der Kommunikation unpraktisch ist, erhalten sie einen Namen.“ Diese Notwendigkeit der Benennung, wie sie der Wissenschaftsphilosoph Rolf Löther (1972: 137) hier formuliert, findet sich nicht nur in der Biologie und Medizin, sondern auch im Sport. Im Gebiet des Männerfußballs sind es insbesondere einzelne Länderspiele, die aufgrund der ihnen zugeschriebenen Bedeutung einen Namen erhalten. Als betitelte Erinnerungsspiele gehen sie in das kollektive Fußballgedächtnis ein: als das Wunder von Bern, die Partita del secolo, Schande von Gijón oder Nacht von Sevilla usw. Ein solches Erinnerungsspiel ging am 21. Juni 1978 im eigens für die Fußball- Weltmeisterschaft errichteten Estadio Mario Alberto Kempes über die Bühne: Im argentinischen Córdoba unterlag die deutsche Nationalmannschaft im letzten Spiel der WM-Zwischenrunde Österreich mit 2: 3. Ein Ereignis, das - je nach Perspektive - als Schmach oder als Wunder von Córdoba in die Fußballgeschichte eingegangen ist. Für Österreich war und ist dieser historische Sieg über den damaligen Weltmeister - obwohl für den Turnierverlauf bedeutungslos - jedenfalls etwas Einmaliges. Vergleichbar mit dem deutschen Weltmeistertitel von 1954 und dessen Auswirkungen auf das nationale Selbstverständnis ( Jö‐ ckel 2015) waren Córdoba 1978 und das in der medialen Berichterstattung hochkochende Wir-Gefühl so etwas wie „Seelenkitt für das moderne Kollektiv“ (Scheuble & Wehner 2006, 27). Man war wieder wer. Der Historiker Wolfgang Maderthaner (1995: 129) geht sogar so weit, Córdoba „als zentrales Moment im Prozeß der österreichischen Nationswerdung“ zu bewerten. Das mag über‐ trieben sein. Unbestritten ist aber, dass der Sieg von Córdoba 1978 weit über den Fußball hinaus identitätsstiftend war. Die kulturelle und politische Bedeutung manifestiert sich in der kollektiven Erinnerungsarbeit, in Jubiläumsfeiern (20, 30 und zuletzt 40 Jahre Córdoba mit Festakt in der Hofburg), in Erinnerungs‐ <?page no="100"?> orten (in Wien gibt es seit 2009 einen Córdoba-Platz, 2021 wurden der Stadt einige originale Stadionsitze als Geschenk übergeben) und nicht zuletzt in der umfangreichen wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas (Wieselberg 2008, Labitsch 2009, Dimitriou, Sattlecker & Müller 2010, Kneidinger 2010). Diese historische und kulturelle Bedeutung von Córdoba 1978 ist medial und sprachlich geprägt. Wie Pentzold, Lohmeier und Birkner (2022, 47) hervorheben, sind es vor allem kommunikative Prozesse, die Erinnerungen und Gedächtnis‐ inhalte lebendig werden lassen. In diesem Beitrag untersuche ich die Darstellung auf der Wikipedia, die man als zentralen Knotenpunkt des globalen Erinnerns im Internet sehen kann (Pentzold 2009). Anhand von quantitativen Größen wie Zugriffszahlen und Überarbeitungsprotokollen sowie sprachlichen Daten aus den Wikipedia-Artikeln und den dazugehörigen Diskussionsseiten untersuche ich im Detail, wie Córdoba in der deutschsprachigen Wikipedia dargestellt und verhandelt wird. Ausgangslage und Fragestellung Das Match in Córdoba 1978 steht exemplarisch für die Fußballbegegnungen zwischen Österreich und Deutschland. Diese waren immer mehr als nur sport‐ liche Wettkämpfe, sie waren auch Schauplatz tief verwurzelter kultureller und historischer Rivalitäten. „Wenn Österreich in einer sportlichen Auseinanderset‐ zung auf Deutschland trifft, scheinen Zurückhaltung und Fairness fehl am Platz. Es herrscht Krieg.“ (Leidinger, Moritz & Moser 2010: 237). Diese Gegnerschaft lässt sich zum Teil auf einen „Deutschen-Komplex“ zurückführen, der bis heute noch nicht gänzlich aus dem kollektiven Bewusstsein der österreichischen Sportfans verschwunden. In der österreichischen kollektiven Erinnerung war die 47-jährige Sieglosigkeit gegen Deutschland die Voraussetzung, dass der Mythos Cordoba entstehen konnte. (Urbanek 2012, 141) Sich durch ein negatives Deutschlandbild abzugrenzen und aufzuwerten, be‐ gann in einer Zeit, in der Österreich seine Identität zu finden suchte. „Der ‚Anschluß‘ musste in Vergessenheit geraten; in der Nachkriegszeit war daher in Österreich ein emotionaler Antigermanismus weit verbreitet.“ ( John 1990: 82). Ein zentraler Ausdruck dieser selbst-aufwertenden Abgrenzung ist die abwertende Fremdbezeichnung Piefke, die im Fußballkontext schon ab 1938 im Umlauf war ( John 1990: 147 f.). Das „stolze Bewusstsein, kein Piefke zu sein“ (Godeysen 2010, 255), ist ein zentraler Ankerpunkt der österreichischen Identität, die sich zum Teil gerade über das Nicht-Deutsch-Sein definiert. 100 Daniel Pfurtscheller <?page no="101"?> Ein weiteres zentrales Identitätsmerkmal ist für viele Österreicher: innen die eigene Art, Deutsch zu sprechen (Wodak et al. 1999: 193). In Österreich lebende Deutsche sind daher in ihrem Alltag häufig Polarisierungshandlungen ausgesetzt, deren vordergründiger Auslöser die Sprache ist (Greth & Köllen 2016). Es ist daher naheliegend, dass sich sprachbezogene Polarisierungshand‐ lungen auch im Kontext der deutschsprachigen Wikipedia finden lassen, auf der österreichische und deutsche Nutzer: innen kollaborativ Texte schreiben. Wikipedia lässt sich als globaler Erinnerungsort sehen (Pentzold 2009), auf dem identitätsbildende Sportereignisse wie Córdoba diskursiv verhandelt werden können. Anders gesagt dient Wikipedia nicht nur als Informationsquelle, sondern auch als Diskursraum für die aktive Aushandlung und Gestaltung mediatisierter Erinnerungen (van Dijck 2007: 21). Die Linguistik hat solche Diskurse auf Wikipedia genauer untersucht und dafür auch methodische Ana‐ lyseinstrumente erarbeitet (z. B. Arendt & Dreesen 2015, Gredel 2017, Gredel 2018). Im Anschluss an diese diskurslinguistischen Arbeiten untersuche ich im Folgenden, wie Córdoba auf Wikipedia als Teil eines digitalen kollektiven Gedächtnisses dargestellt und verhandelt wird. Die nächsten Abschnitte stellen drei Analyseaspekte vor. Um das anhaltende öffentliche Interesse und die Relevanz von Córdoba zu erfassen, ist zunächst ein Blick auf die Zugriffsstatistiken der Wikipedia-Seite aufschlussreich. Seit 2015 stellt Wikipedia die Zugriffszahlen aller Artikel über die sogenannte Pageviews- Schnittstelle zur Verfügung (Andreescu 2015). Anschließend rekonstruiere ich die Genese des Wiki-Artikels anhand seiner Revisionen und wende mich schließlich einer detaillierten Analyse der Diskussionsseite des Wikipedia- Artikels zu. Zugriffszahlen und das anhaltende Interesse an Córdoba 1978 Die Auswertung der Zugriffsdaten zeigt insgesamt ein konstantes, wenn auch mäßiges Interesse an der Wikipedia-Seite. Dieses wird durch einzelne Fußball‐ ereignisse unterbrochen, die als Katalysatoren die kollektive Erinnerung an das historische Spiel befeuern. Von Juli 2015 bis Januar 2024 verzeichnete die Wikipedia-Seite insgesamt 567.878 Aufrufe, was einem durchschnittlichen Tageswert von 182 Seitenauf‐ rufen entspricht. Bemerkenswerter als dieses gleichbleibende, aber moderate Interesse an der Begegnung ist der sprunghafte Anstieg der Zugriffszahlen zu verschiedenen Zeitpunkten (Abbildung 1). Córdoba in der deutschen Wikipedia 101 <?page no="102"?> Abb. 1: Zugriffstatistik von 2015 bis heute (eigene Darstellung auf Basis der Wikipedia Pageviews-Daten). Die in Abbildung 1 dargestellte Zugriffsstatistik zeigt gewissermaßen den Puls der kollektiven Erinnerung und erlaubt es, einzelne Momente zu identifizieren, in denen die geteilte Erinnerung an das Spiel massenhaft reaktiviert wird. Zwei der markantesten Spitzen sind gut bestimmbar: • 2. Juni 2018, Klagenfurt: An diesem Tag fand ein Testspiel zwischen Öster‐ reich und Deutschland statt, das mit einem 2: 1-Sieg für Österreich endete. Der Artikel zeigt an diesem Datum einen außerordentlichen Anstieg auf 19.453 Zugriffe. • 21. November 2023, Wien: Ein weiterer Anstieg der Zugriffe ist am Tag des bisher letzten Freundschaftsspiels zwischen Österreich und Deutschland, das Österreich mit 2: 0 gewann, zu verzeichnen. Mit 7.744 Zugriffen am Spieltag ist das Interesse an Córdoba zwar etwas geringer, aber immer noch deutlich ausgeprägt. Die weiteren Zugriffsspitzen lassen sich weniger klar deuten. Der Anstieg der Zugriffe im Juni 2016 und 2021 geht mit den jeweils stattfindenden Fußball- Europameisterschaften einher. Warum ausgerechnet der Zeitraum der Fußball- Europameisterschaften 2016 und 2021 zu solch sprunghaften Anstiegen führt, lässt sich nicht eindeutig sagen. An beiden Turnieren nahmen die National‐ mannschaften von Österreich und Deutschland teil, allerdings ohne direkte 102 Daniel Pfurtscheller <?page no="103"?> Konfrontation im Spiel. Die sprunghaften Anstiege könnten darauf hindeuten, dass das Interesse an der historischen Begegnung als Teil der Vorbereitung auf die Spiele oder als Mittel zur Einordnung der aktuellen Leistungen der Nationalmannschaften wiederkehrt. Eine Spitze in den Zugriffszahlen ist jedenfalls einem Zufall geschuldet: Am 21.06.2021, also am Jahrtag des historischen Spiels in Córdoba, gelang der österreichischen Nationalmannschaft erstmals der Einzug ins EM-Achtelfinale. Das geschichtsträchtige Datum des Spiels wurde in der spielbegleitenden Berichterstattung mehrfach aufgegriffen: Ein Bundesliga-Duo hat Österreich in sein erstes EM-Achtelfinale geführt und genau 43 Jahre nach der deutschen Schmach von Cordoba für einen neuen rot-weiß-roten Fußball-Feiertag gesorgt. (faz.net 2021) Sie haben es geschafft, 43 Jahre nach Cordoba wieder an einem 21. Juni Geschichte geschrieben! Kein Rechnen und kein Zittern, man ist aus eigener Kraft aufgestiegen. Alle dürfen stolz sein. (krone.at 2021) Der Bezug zum historischen Spiel in Córdoba wird hier von journalistischer Seite hergestellt, indem das aktuelle EM-Match in historische Zusammenhänge gestellt wird. Eine solche Kontextualisierung ist ein typisches mediales Ver‐ fahren. Das anhaltende Interesse an Córdoba 1978 ist jedoch nicht alleine der journa‐ listischen Berichterstattung geschuldet, die in spielbegleitenden Kommentaren, Berichten und Analyse, historische Vergleiche anstellen, Verknüpfungen her‐ stellen und somit diskursive Anlassfälle für Wikipedia-Nachschlagehandlungen produzieren. Manchmal sind die Medien durch die Wiedergabe von Äußerungen auch mehr Vermittler einer direkten Thematisierung durch die Fußballer selbst: Nach dem Länderspiel in Klagenfurt, das in der Auswertung den größten Zugriffspeak auslöste, war der Rückbezug auf Córdoba ganz explizit. Der österreichische Stürmer Marko Arnautovic wurde im Interview nach dem Spiel etwa mit diesen Worten zitiert: Wir haben immer gehört Cordoba, Cordoba, jetzt anscheinend heißt es Klagenfurt. Wir haben Cordoba zur Ruhe gebracht. (ORF.at 2018) Als Österreich am 21.11.2023 erneut ein Länderspiel gegen Deutschland ge‐ wann, tauchte der Córdoba-Vergleich hingegen nur in der Boulevardberichter‐ stattung auf (Österreich.at 2023). Auch die Zugriffszahlen waren hier vergleichs‐ weise geringer. Dies könnte insgesamt auf eine nachlassende Bedeutung von Córdoba als historische Vergleichsfolie für aktuelle Fußballspiele hindeuten. Insgesamt lässt sich anhand der beobachtbaren Zugriffsdaten aber gut erkennen, Córdoba in der deutschen Wikipedia 103 <?page no="104"?> wie Wikipedia als öffentliche Wissensressource genutzt wird, um historischen Vergleichen und Kontextualisierungen im fußballzentrierten Mediendiskurs auf die Spur zu kommen. Textgenese und kollaborative Textproduktion Aus linguistischer Sicht stellt Wikipedia das bekannteste (und erfolgreichste) Modell von kollaborativer Textproduktion dar, die sich deutlich von traditionel‐ leren Formen des Schreibens unterscheidet. Prototypische Texte stellen wir uns zumeist als Ergebnis der Arbeit einzelner Autor: innen oder eines festen Teams vor. Im Gegensatz zu dieser Alltagsvorstellung basiert Wikipedia auf einem kollaborativen, oft nicht-linearen Prozess, bei dem viele Einzelpersonen - oft mit unterschiedlichem Wissensstand und sprachlichem Hintergrund - zur Erstellung und Bearbeitung von Inhalten beitragen. Im konkreten Fall wurde der Córdoba-Artikel im Jahr 2004 angelegt, also kurz nach der Gründung der deutschsprachigen Wikipedia. Insgesamt haben 124 Per‐ sonen, sowohl registrierte Benutzer: innen als auch anonyme Bearbeiter: innen (sog. IPs), an dem Artikel mitgewirkt und mehr oder weniger umfangreiche Ergänzungen und Änderungen vorgenommen. Insgesamt sind 470 Revisionen verzeichnet, die letzte im August 2023. Das Besondere an Wikipedia ist dabei auch die Transparenz dieses digitalen Schreibprozesses: Anhand der Verlauf‐ sprotokolle und weiterer offen zugänglicher Daten lässt sich die kollaborative Textproduktion gut nachvollziehen und rekonstruieren. In Abbildung 2 kann die Entwicklung des Wikipedia-Artikels zu Córdoba 1978 seit seiner Entstehung im Jahr 2004 nachvollzogen werden. Deutlich zu erkennen sind die Größenveränderungen des Artikels im Laufe der Zeit, die auf kontinuierliche inhaltliche Änderungen und Ergänzungen hindeuten. Zu sehen sind auch zwei Vorfälle von Vandalismus, die sich in plötzlichen Verkleinerungen des Artikelumfangs äußern. In der Revisionsgeschichte des Artikels sind auch mehrere Umbenennungsversuche dokumentiert. Auf diese werde ich später noch näher eingehen. 104 Daniel Pfurtscheller <?page no="105"?> Abb. 2: Entwicklung des Wikipedia-Artikels seit seiner Entstehung 2004. Die Entstehungsphase des Artikels begann mit einer moderaten Anzahl von Bearbeitungen in den ersten Jahren, mit 13 Bearbeitungen im Jahr 2004 und einem leichten Anstieg auf 14 Bearbeitungen im Jahr 2005. Eine intensive Bearbeitungsphase fällt in die Jahre 2006 und 2007, in denen die Anzahl der Bearbeitungen und die Beiträge nicht registrierter Benutzer (IPs) deutlich zu‐ nahmen. In diesen Jahren gab es auch eine große Anzahl kleinerer Änderungen, was auf eine kontinuierliche Feinabstimmung des Artikels hinweist. Die Revisionstätigkeit erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 2008, möglicher‐ weise beeinflusst durch die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft, die zu einer erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit und damit zu einer Welle von Aktualisierungen und Korrekturen führte. Allein im Juni dieses Jahres wurden 119 Revisionen durchgeführt - ein deutliches Zeichen für das gesteigerte Interesse und die Bemühungen um eine korrekte Darstellung des Geschehens während eines relevanten sportlichen Großereignisses. Nach 2008 begann eine Konsolidierungsphase, in der die Bearbeitungsfre‐ quenz abnahm und der Artikel eine stabilere Form annahm. Es gab weiterhin regelmäßige Updates und Feinjustierungen, wie die 41 Bearbeitungen im Jahr 2010 zeigen, aber die Anzahl der Änderungen pro Jahr ging in den folgenden Jahren zurück. Dies deutet darauf hin, dass der Artikel eine gewisse Reife und Vollständigkeit erreicht hat. Córdoba in der deutschen Wikipedia 105 <?page no="106"?> Die Revisionsgeschichte des Artikels zeigt somit eine lebhafte Anfangsphase, eine Phase intensiver Bearbeitung im Kontext eines Fußball-Großereignisses und eine anschließende Phase der Stabilisierung. Bemerkenswert ist, dass der Artikel in seiner Revisionsgeschichte auch mehrfach umbenannt („verschoben“) wurde: Der erste Umbenennungsversuch im Jahr 2006, gefolgt von weiteren Versuchen im Jahr 2007, scheint in eine Phase der Unsicherheit und Diskussion über die angemessene Bezeichnung des Artikels zu fallen. Im Jahr 2008 hat sich der Artikel nach mehreren Verschiebungen unter dem aktuellen Titel Córdoba 1978 konsolidiert, was auf einen erreichten Konsens in der Wikipedia- Community schließen lässt. Benennungsdiskussion und Edit-War Unter einem Edit-War versteht man im Kontext der Wikipedia eine Serie von Konflikten zwischen Nutzer: innen, die sich in einem fortlaufenden Zyklus von gegenseitigen Änderungen und Rückgängigmachungen eines Artikels manifestieren. Die Diskussion um die Benennung, die im Zusammenhang mit dem Artikel geführt wurde, ist ein weiterer Beleg für die Dynamik, mit der das historische Fußballereignis im Rahmen der kollaborativen Textproduktion der Wikipedia verhandelt wird. Benennungsdiskussionen sind ein zentrales Element von sogenannten Edit-Wars, da die Wahl des Titels eines Artikels auch eine Perspektive und Rahmen für das gesamte Thema vorgibt. Im untersuchten Artikel waren diese Diskussionen besonders intensiv, wie die angesprochenen Umbenennungsversuche zeigen. Abbildung 3 visualisiert alle protokollierten Umbenennungen als Graph. Die Knoten entsprechen den vorgeschlagenen Artikel-Titeln. Ausgehend von dem ursprünglichen Titel Schmach von Córdoba zeigen die Kanten die Richtung und das Datum der Umbenennungsaktivitäten an, die nach mehreren Kreisbewegungen schließlich in dem aktuellen neutralen Titel Córdoba 1978 münden. 106 Daniel Pfurtscheller <?page no="107"?> Abb. 3: Übersicht der Umbenennungen (Artikel-Verschiebungen). Wie die Analyse zeigt, sind Artikelnamen für dieses Ereignis oft und schnell geändert worden, was die dynamischen und oft kontroversen Ansichten über die Benennung dieses Ereignisses verdeutlicht. Es ist auffällig, dass viele Än‐ derungen fast sofort rückgängig gemacht wurden, was auf eine kontroverse Auseinandersetzung innerhalb der Gruppe der Autor: innen hinweist. Die Frage der angemessenen Benennung ist ein zentraler Punkt auf der Diskussionsseite des Artikels, der den geschilderten Edit-War begleitet. Der erste Änderungsvorschlag wird von Benutzer: in Tinti eingebracht: Hallo Leute, ich finde, daß es überlegenswert wäre, diesen Artikel unter der positiven Überschrift - also Wunder von Cordoba - zu setzen. Klar, es gibt natürlich mehr Deutsche als Österreicher und damit auch wahrscheinlich mehr Stimmen dagegen. Und damit das gleich klar ist, mein Ansuchen hat nichts mit Schadenfreude zu tun, dieses Ereignis ist ja ein paar Jährjchen her. Gruß Tinti 19: 44, 11. Apr 2006 (CEST) Tintis Vorschlag spiegelt nicht nur den Wunsch nach einer „positiven Über‐ schrift“ wider, sondern berücksichtigt auch das demografische Verhältnis zwi‐ schen Deutschland und Österreich. Interessant ist die Betonung, dass der Córdoba in der deutschen Wikipedia 107 <?page no="108"?> Vorschlag unabhängig von Schadenfreude ist. Benutzer: in PälzerBu stimmt wenig später zu und stellt den Artikel unter das neue Lemma Wunder von Córdoba: Hab's mal verschoben, Geschichte wird ja vom Sieger geschrieben, also von daher vllt besser sorum. PälzerBu 00: 30, 17. Apr 2006 (CEST) Der Sichtweise, dass „Geschichte vom Sieger geschrieben“ wird stimmt Be‐ nutzer: in Ureinwohner uff nicht zu, vielmehr werden demografische Mehr‐ heiten als Grundlage für die bestehende Benennung des Artikels angeführt: Also 80 Millionen Deutsche vs. 8 Millionen Ösis. ich denke die weitere Verbreitung dürfte klar sein. werds gleich wieder rückverschieben! (falls noch Diskussionsbedarf besteht, wovon ich ausgehe bitte VOR einer Verschiebung, nicht danach….) --Urein‐ wohner uff 00: 41, 17. Apr 2006 (CEST) An dieser Stelle bricht der Austausch von Argumenten ab und es kommt in der Diskussion zur Thematisierung der Sprache. Tinti weist auf die Notwendigkeit eines respektvollen und sensiblen Sprachgebrauchs hin. Im Kommentar wird die Verwendung des Ausdrucks Ösi hinterfragt und mit anderen potenziell abwertenden Fremdbezeichnungen für Deutsche verglichen: @Ureinwohner: Warum Ösi? Ich schreib ja auch nicht Piefke oder Sau-Preuß… Tinti 21: 12, 18. Apr 2006 (CEST) Die Antwort von Ureinwohner uff zeigt jedoch, dass die Wahrnehmung und Intention hinter sprachlichen Ausdrücken stark variieren kann: Das ist mir eigentlich vollkommen gleich. Ist in meinem Sprachgebrauch nicht abwertend sondern einfach kürzer.. --Ureinwohner uff 17: 46, 21. Apr 2006 (CEST) Ureinwohner uffs Antwort auf Tintis Kritik an der Verwendung des Ausdrucks Ösi zeigt eine eher distanzierte Haltung, die die emotionale und kulturelle Tragweite der Diskussion vernachlässigt. Die Bezeichnung des Begriffs als unproblematische Abkürzung wird der von Tinti angesprochenen Sensibilität des Themas nicht gerecht. Diese distanzierte und abgeklärte Reaktion könnte zum Abbruch der Diskussion beigetragen haben. Einen Monat später geht die Diskussion über den Artikelnamen in eine neue Phase über. Nutzer: innen versuchen, den offensichtlichen Konflikt zu lösen. Folgender Vorschlag illustriert das Bemühen um einen Ausgleich zwischen den kontrastierenden Sichtweisen der beiden beteiligten Fußballnationen: Ich hab jetzt einmal einen Neutralitätszweifel eingebracht. Könnte der Artikel nicht z. B. unter Córdoba (Fußballspiel) oder Córdoba 1978 laufen - nur so als Kompromiss‐ 108 Daniel Pfurtscheller <?page no="109"?> vorschlag? Und das Wunder und die Schmach (Göttin, welch Pathetik! ) könnten dann einfach dorthin verlinken. (Alle wären glücklich und zufrieden - oder zumindestens nicht völlig unzufrieden - und einem fröhlichen Ringelreihen auf dem Grünen Rasen stünde nichts mehr im Weg.) ; -) --Susu the Puschel 00: 29, 21. Mai 2006 (CEST) Der Kommentar von Susu the Puschel ist ein Beispiel dafür, wie in Online- Diskussionen komplexere sprachliche Handlungen wie Verhandeln, Kritik und Humor gleichzeitig eingesetzt werden können, um einen Konsens in einem polarisierten Umfeld zu erreichen. Zunächst wird ein „Neutralitätszweifel“ ar‐ tikuliert. Dieser bezieht sich auf das Hinzufügen eines Neutralitäts-Bausteins im Artikel, der Nutzer: innen darüber informiert, dass seine Neutralität umstritten ist, und auf die Diskussionsseite verweist. Der Vorschlag, den Artikel unter einem neutraleren Titel wie „Córdoba (Fußballspiel)“ oder „Córdoba 1978“ zu führen, ist ein Akt der Problemlösung und zielt darauf ab, einen Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Sichtweisen zu finden. Die Erwähnung von „Wunder“ und „Schmach“ in Klammern, begleitet von der rhetorischen Inter‐ jektion „Göttin, welch Pathetik! “, hebt die emotionale Ladung dieser Begriffe hervor und kritisiert zugleich die dramatische, fast theatralische Natur ihrer Verwendung in historischen Kontexten. Schließlich zeigt der abschließende humorvolle Ausdruck „fröhlichen Ringelreihen auf dem Grünen Rasen“ und das Emoticon eine gewisse Leichtigkeit und Humor, was darauf hindeutet, dass Susu the Puschel die Diskussion zwar ernst nimmt, aber auch auf die Notwendigkeit einer gewissen Distanz und Leichtigkeit im Umgang mit solchen kontroversen Themen hinweist. Die Reaktion von Ureinwohner uff auf den Vorschlag für einen neutraleren Artikeltitel offenbart eine tief verwurzelte Verbundenheit mit den etablierten, kulturell geprägten Bezeichnungen. Ureinwohner uff steht dem Vorschlag skeptisch gegenüber und verwirft ihn als nicht zweckdienlich. Dabei wird die Relevanz und das Gewicht der traditionellen Benennungen hervorgehoben: Ich kapier nicht so ganz, was du damit bezwecken willst. … Wieso sollte man das ganze unter ein völlig sinnfreies Lemma stellen? --Ureinwohner uff 10: 05, 21. Mai 2006 (CEST) Diese Äußerung spiegelt wider, wie die Identifikation mit historischen Ereig‐ nissen und deren Benennung eng mit nationalen Narrativen und kulturellen Selbstverständnissen verknüpft sind. Ureinwohner uffs Betonung der geläu‐ figen Bezeichnungen zeigt, dass die Titelwahl nicht nur eine sprachliche Ent‐ scheidung ist, sondern auch eine Frage der historischen Anerkennung und des kulturellen Gedächtnisses. Córdoba in der deutschen Wikipedia 109 <?page no="110"?> Susu the Puschel verteidigt den neutralen Ansatz und betont die Wichtigkeit einer nicht-parteiischen Darstellung in einer gemeinsamen Enzyklopädie: Hallo Ureinwohner, Wieso sinnfrei, meines Wissens gings doch um ein Fußballspiel, oder? Es könnt ja auch Fußballländerspiel BRD: Ö 1978 Córdoba heißen oder was auch immer. War einfach ein Kompromissvorschlag, wo nicht 80 Mio Deutsche bzw. 8 Mio ÖsterreicherInnen für einen Titel vereinnahmt werden, der schwerlich neutral im Sinne der Wikipedia ist. (Nämlich keiner von beiden.) --Susu the Puschel 13: 29, 21. Mai 2006 (CEST) In der Verteidigung eines neutralen Ansatzes greift Susu the Puschel auf meh‐ rere sprachliche Strategien zurück. Zunächst wird die Kritik von Ureinwohner uff hinterfragt, indem die Kernfrage der Diskussion - die Benennung eines Fußballspiels - in den Vordergrund gerückt und damit der Fokus auf das eigentliche Ereignis gelenkt wird. Durch alternative Benennungsvorschläge (Fußballländerspiel BRD: Ö 1978 Córdoba) demonstriert Susu the Puschel Flexi‐ bilität und Offenheit für verschiedene Formulierungen, wobei zugleich der Kompromisscharakter des Vorschlags betont wird. Der Kommentar hebt die Bedeutung einer nicht parteiischen Darstellung hervor und spricht sich gegen die Vereinnahmung des Themas durch eine der beiden beteiligten Nationen aus. Er verweist darauf, dass die Wahl eines neutralen Titels im Sinne der Wikipedia- Richtlinien und des enzyklopädischen Anspruchs ist, wobei argumentiert wird, dass keiner der beiden vorgeschlagenen Titel (Wunder oder Schmach) eine neu‐ trale Position im Sinne einer gemeinsamen, objektiven Enzyklopädie darstellt. Diese Argumentation unterstreicht das Bestreben nach einem ausgewogenen und unparteiischen Ansatz in der Darstellung historischer Ereignisse auf Wiki‐ pedia, was die Plattform als einen Ort der gemeinsamen Wissensbildung und des kulturellen Austauschs kennzeichnet. Die hier dargestellten fortlaufenden Diskussionen und mehrfachen Umbe‐ nennungen des Artikels bis hin zur endgültigen Festlegung auf „Córdoba 1978“ im Juni 2008 spiegeln die Komplexität und Herausforderung wider, die eine gemeinsame, kulturübergreifende Geschichtsschreibung in einem digitalen, kollaborativen Umfeld mit sich bringt. Ein anonymer Kommentar bringt diesen Punkt klar zum Ausdruck, indem die Notwendigkeit eines neutralen Titels in einer gemeinsamen deutsch-österreichischen Enzyklopädie hervorgehoben wird: Es sollte selbstverständlich sein, dass gerade in einer gemeinsamen (unter an‐ derem) deutsch-österreichischen Enzyklopädie ein neutraler Titel gewählt wird … --84.57.6.139 18: 38, 21. Jun. 2008 (CEST) 110 Daniel Pfurtscheller <?page no="111"?> Die fortgesetzte Debatte um die Benennung des Wikipedia-Artikels zeigt, wie die digitale Kollaboration in der Wikipedia-Community von unterschiedlichen nationalen Perspektiven und dem Wunsch nach Neutralität geprägt ist. Die Diskussionen zeigen, wie Wikipedia als Plattform für die Aushandlung und Gestaltung kollektiver Erinnerungen dient. Dabei sind Sprachgebrauch und historische Interpretation eng miteinander verknüpft und formen die kollektive Erinnerung an historische Ereignisse. Fazit und Ausblick Ein Jahr nach Córdoba spielte die österreichische Nationalmannschaft am 13. Juni 1979 gegen England und gewann im Wiener Prater mit 4: 3. Obwohl es bis heute der letzte Sieg gegen die englische Nationalmannschaft war, wurde kein Erinnerungsspiel daraus. Dies liegt an den Umständen, die bereits beschrieben wurden: keine Nachbarn, keine Rivalität, kein identitätsstiftendes Potential - also auch keine Wikipedia-Seite, die man studieren könnte. Ziel dieses Aufsatzes war es, zu untersuchen, wie das Fußballspiel von Córdoba in Wikipedia dargestellt und erinnert wird. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Wikipedia weit mehr als nur eine Enzyklopädie ist: Es ist ein dynamischer Begeg‐ nungsort, an dem Menschen aktiv unsere gemeinsame Vergangenheit verhandeln und gestalten. Mit anderen Worten: Wir nutzen Medientechnologien (wie z. B. Wikis und andere digitale Plattformen), um unsere gemeinsamen Erinnerungen zu schaffen und zu formen (van Dijck 2007, 21). Bei der Analyse der Zugriffszahlen fielen deutliche Spitzen auf, die zeigen, dass das Interesse an Córdoba durch bestimmte Ereignisse stark beeinflusst wird. Der Bearbeitungsverlauf des Artikels zeigt ein intensives Ringen um die passende Benennung und Darstellung des Ereignisses. Dieses Bemühen um die richtigen Worte und Perspektiven sieht man besonders auf der Diskussionsseite, wo die Wikipedia-Community daran arbeitet, einen Konsens über die Darstel‐ lung des historischen Matchs zu finden. All diese Beobachtungen zusammenge‐ nommen unterstreichen die Rolle von Wikipedia als länderübergreifenden Ort sprachlicher Erinnerungsarbeit. Sie führen uns die „discursive organization of remembrance“ (Pentzold 2009, 267) vor Augen, also die sprachliche Organisation von Erinnerung, deren dynamischen Schritte sich in der linguistischen Analyse nachvollziehen lassen - von der zwischenmenschlichen Interaktion bis zum konsolidierten Artikel mit enzyklopädischem Anspruch. Übrigens ist die anhaltende Bedeutung von Córdoba als Sieg über den Nach‐ barn in Österreich auch jenseits des Sports evident. Als 2019 der Europäische Gerichtshof zum Schluss kam, dass die deutsche Pkw-Maut nicht mit EU-Recht Córdoba in der deutschen Wikipedia 111 <?page no="112"?> vereinbar ist und damit einer Klage Österreichs stattgegeben wurde, erschien im Österreichischen Der Standard ein Kommentar mit diesem Anfang: Es ist ein großer Tag für Österreich, ein unerwarteter Sieg über den deutschen Nachbarn, ein zweites Córdoba, das allerdings viel mehr zählt als jeder Erfolg der Fußballnationalmannschaft. Der Europäische Gerichtshof hat der Republik Österreich recht gegeben, dass die deutschen Pläne für eine Pkw-Maut, die in der Praxis nur von Ausländern gezahlt werden muss, gegen das Unionsrecht verstoßen. (Frey 2019) Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Córdoba 2028 seinen 50. Ge‐ burtstag feiern wird. Die Wikipedia-Seite wird höchstwahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt noch als Erinnerungsort existieren, möglicherweise mit der einen oder anderen Änderung oder Detaildiskussion mehr. ⚽️-⚽️-⚽️ Andreescu, Dan. 2015. Making our pageview data easily accessible. Diff. https: / / diff.wik imedia.org/ 2015/ 12/ 14/ pageview-data-easily-accessible/ (23 January, 2024). Arendt, Birte & Philipp Dreesen. 2015. Kontrastive Diskurslinguistik. Werkstattbericht zur Analyse von deutschen und polnischen Wikipedia-Artikeln. Standortbestimmung, eine reflektierende Vorbemerkung. In Heidrun Kämper & Ingo H. Warnke (eds.): Dis‐ kurs interdisziplinär. Zugänge, Gegenstände, Perspektiven. 427-445. Berlin: de Gruyter. Dimitriou, Minas, Gerold Sattlecker & Erich Müller. 2010. Der „Mythos Córdoba 1978“ im Spiegel der Berichterstattung über die Fußballeuropameisterschaft 2008. Zwischen diskursiver Rekonstruktion des Vergangenen und kollektiver Identitätsbildung. Sport und Gesellschaft 7(2). 145-174. FAZ.NET. 2021. 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Das ist schön anzusehen. Und auch anzuhören. Kommentatoren machen diese Welt erfahrbar. Da wird mit Namen hantiert, da werden Tore bejubelt, da werden Ballannahmen gewürdigt oder als nicht ganz gelungen hingestellt, ungepfiffene Fouls gesehen, gepfiffene heruntergestuft oder es wird auch mal die Schiedsrichterleistung gelobt - da passiert etwas und man ist mittendrin, ohne allzu viel dafür tun zu müssen. Mit den durchlaufenden Kommentaren kann man ein Angebot nutzen, die Relevanz dessen, was da geschieht, einschätzen zu können. Man sieht zwar auch vieles und wenn man es wollte, könnte man den Ton ausstellen, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Auch wenn Live-Kommentare ziemlich vieles enthalten dürften, was nicht unbedingt als Wesentliches durchgeht, so leisten Sie aber doch im Grunde genau dies: eine Anreicherung der Realität, wie sie sich gerade ereignet, mit Wesentlichem durch Prozessierung einer Wirklichkeitsmaschine, die das Eigentliche auf den Punkt bringt (Hauser 2009). Und sei es nur, dass hintereinander weg die Namen derjenigen genannt werden, die gerade den Ball bekommen und wieder loswerden oder damit eine Weile rumlaufen. Ein solcher wirklichkeitskonstitutiver Zugriff auf das anzureichernde Pas‐ sieren einer fußballerischen Realität ist durch begriffliche Innovation gegeben, die so attraktiv ist, dass man sich als KommentatorIn nicht die Chance entgehen lassen kann, das betreffende Wort auch mal auszuprobieren. Ein solches Wort ist meines Erachtens Statik. Die kann sich z. B. ändern, wenn ausgewechselt wird (da wird eine ganz neue Statik reingebracht), wenn ein System umgestellt wird (vielleicht schraubt man sogar an der Statik), wenn eine Position auf eine bestimmte Art anders interpretiert wird (da verschiebt sich die Statik eventuell) usw. Das interessiert mich. Was ist die Statik eines Fußballspiels? Wie wirkt sie <?page no="116"?> sich aus? Was beeinflusst sie? Was kann man mit ihr machen? Ich nehme an, dass es sich dabei um eine eher journalistische Beobachterkategorie handelt, mit der zunächst einmal KommentatorInnen wie auch ExpertInnen besonders wichtige Bemerkungen machen können (ohne dies jetzt despektierlich zu meinen). Die sich dann aber durchaus auch verselbstständigen kann. Leider habe ich es in den letzten Jahren versäumt, hier Daten zu erheben. Ich habe nur immer mal hingehört, wenn das Wort gesprochen wurde. Nur eben leider nichts aufgeschrieben oder aufgezeichnet und ich habe auch keine Aufzeichnungen durchsucht. Sehr nachlässig und auch schade. Und da habe ich mir nun gedacht: Vielleicht kann mir künstliche Intelligenz weiterhelfen (wenn schon meine eigene in diesem Fall nicht dazu ausgereicht hat, mir klar werden zu lassen, dass ich Daten erheben muss, wenn ich etwas - nun ja: fußballlinguistisch Relevantes herausfinden und dann sagen möchte). Da kam mir der Hype um ChatGPT gerade recht. Kann mir diese KI weiterhelfen? Es folgt das angereicherte Protokoll der Chatkonversation zwischen mir (sta) und ihr (ChatGPT). ⚽️-⚽️-⚽️ sta Was kannst du mir über die Statik von Fußballspielen sagen? ChatGPT legt erst einmal direkt einen Kommunikationsstrang an und benennt diesen Statistik von Fußballspielen. Sie geht davon aus, dass ich eher Statistik gemeint haben dürfte, lässt mir meinen Fehler aber durchgehen, indem sie weiterhin von Statik redet. Insofern geht sie fürsorglich mit mir um. Sie greift Statik zweimal auf und ersetzt es dann ohne weiteren Hinweis durch Statistik. Wie Eltern in kindgerichteter Sprache, die Fehlerhaftes sanft korrigieren durch Verwendung des Richtigen, ohne das Falsche explizit als falsch zu brandmarken. ChatGPT Die Statik von Fußballspielen bezieht sich im Allgemeinen auf die Analyse von Daten und Informationen über ein Fußballspiel, insbesondere über die Verteilung des Spielgeschehens auf dem Spielfeld. Hier sind einige mögliche Aspekte der Statik von Fußballspielen: 1. Ballbesitz: Die Statistik des Ballbesitzes zeigt, welches Team während des Spiels mehr Zeit in Ballbesitz war. Dies kann ein Hinweis auf die Kontrolle des Spiels durch ein Team sein. 116 Sven Staffeldt <?page no="117"?> 2. Schüsse: Die Anzahl der Schüsse, die ein Team während des Spiels auf das Tor des Gegners abgibt, kann ein Hinweis auf seine Torgefährlichkeit sein. 3. Pässe: Die Anzahl und Genauigkeit der Pässe, die ein Team im Spiel ausführt, kann ein Hinweis auf seine Fähigkeit sein, den Ball effektiv zu bewegen und Chancen zu kreieren. 4. Fouls: Die Anzahl der Fouls, die von jedem Team während des Spiels begangen wurden, kann ein Hinweis auf die Intensität des Spiels und die Fähigkeit der Teams sein, den Gegner zu kontrollieren. 5. Tore: Die Anzahl der Tore, die von jedem Team erzielt wurden, ist natürlich ein wichtiger Indikator für den Ausgang des Spiels. Diese Statistiken können verwendet werden, um das Spielgeschehen zu analysieren und mögliche Muster und Trends aufzudecken, die in zukünftigen Spielen genutzt werden können. ChatGPT hat in dieser Dreigliedrigkeit mit der akkuraten Aufzählung im Mittelteil zwar formal und auch inhaltlich ansprechend geantwortet und dabei wichtige Parameter in Sachen Statistik hervorgezaubert (allemal bemerkens‐ wert), aber ich stelle dann doch fest, dass dies nicht das war, was ich wissen wollte. Ich hake also nach: sta Ich glaube, wir haben uns da missverstanden. Es geht mir um Statik, nicht um Statistik. ChatGPT Oh, entschuldigung für das Missverständnis. In der Physik bezieht sich Statik auf die Lehre von Kräften und Gleichgewicht in Ruhe. Im Kontext von Fußballspielen würde dies bedeuten, dass man sich mit den Kräften und Kräftegleichgewichten beschäftigt, die auf den Spielern und dem Ball wirken, wenn sie sich nicht bewegen. Hier sind einige mögliche Aspekte der Statik von Fußballspielen: 1. Gewichtsverteilung: Die Statik von Fußballspielen beinhaltet die Analyse der Gewichtsverteilung der Spieler, wenn sie in Ruhe sind, zum Beispiel beim Verteidigen eines Freistoßes oder Einwurfs. Eine ungleichmäßige Gewichtsverteilung könnte dazu führen, dass ein Spieler das Gleichge‐ wicht verliert oder dass ein Team anfälliger für Konterangriffe wird. 2. Positionierung: Die Positionierung der Spieler auf dem Feld kann auch ein wichtiger Aspekt der Statik sein. Eine gut positionierte Abwehr kann Die Statik des Spiels 117 <?page no="118"?> beispielsweise dazu beitragen, dass das Spielgeschehen im Mittelfeld eingedämmt wird und der Gegner keine Chancen bekommt. 3. Bodenbeschaffenheit: Die Statik von Fußballspielen kann auch die Bo‐ denbeschaffenheit des Spielfelds berücksichtigen, insbesondere bei nassen oder schlammigen Bedingungen. Eine unebene Oberfläche oder eine zu rutschige Fläche können dazu führen, dass Spieler das Gleichge‐ wicht verlieren und schwieriger zu kontrollieren sind. 4. Ballbeschaffenheit: Auch die Beschaffenheit des Balls kann ein Faktor sein, der die Statik beeinflusst. Ein aufgepumpter oder zu harter Ball kann dazu führen, dass er in unberechenbarer Weise springt oder ab‐ prallt, was die Kontrolle erschwert. Insgesamt bezieht sich die Statik von Fußballspielen auf die Analyse der Kräfte, die auf Spieler und Ball einwirken, wenn sie in Ruhe sind, und wie diese Kräfte das Spiel beeinflussen können. ChatGPT bemüht sich redlich. Sie wechselt das Pferd und erklärt Statik aus phy‐ sikalischer Perspektive, woraus sie mögliche Anwendungen auf das Fußballspiel ableitet. Ganz hübsch ist dabei unter Punkt 1 die Gefahr des Gleichgewichts‐ verlustes. Aber klar, stimmt doch: Personen können auch so stehen, dass die Gefahr besteht, dass sie hinfallen. Im Grunde richtig. Auch der Boden und der Ball sind als statisch gedachte Requisiten in ihrer Beschaffenheit ein Statik- Faktor. Gut herausgearbeitet, auch wenn das mit den Kräften, die auf Spieler und Ball in Ruhe wirken, nicht so ganz ausgefaltet wird (am ehesten noch bei der Sache mit dem Gleichgewicht). Aber Punkt 2 geht in genau die Richtung, die ich mir vorgestellt hätte: das Positionsspiel. Man kann beeindruckt sein. Höflich beenden wir unser Gespräch. sta Interessant, danke ChatGPT Gerne geschehen! Wenn Sie weitere Fragen haben oder weitere Informa‐ tionen benötigen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Einige Zeit später komme ich auf unsere Unterhaltung und ihr Angebot zurück. Es ist komfortabel, liegengelassene Gespräche direkt wieder aufnehmen zu können und dabei die bisherige Konversation zur Verfügung zu haben. ChatGPT und ich haben eine gemeinsame Diskursgeschichte. 118 Sven Staffeldt <?page no="119"?> sta Würdest du sagen, die Statik bei Spielen von Bayern München sei irgendwie anders als die Statik bei Spielen von Manchester City? ChatGPT Ja, es gibt Unterschiede in der Statik zwischen verschiedenen Fußballmann‐ schaften, einschließlich Teams wie Bayern München und Manchester City. Diese Unterschiede können sich aus verschiedenen Faktoren ergeben, dar‐ unter: 1. Spielsystem und Taktik: Jede Mannschaft hat ihre eigene Spielphiloso‐ phie, Taktik und bevorzugtes Spielsystem. Bayern München und Man‐ chester City haben beide ihre charakteristischen Spielweisen. Zum Beispiel bevorzugt Bayern München oft ein dominantes Ballbesitzspiel, während Manchester City bekannt ist für sein schnelles Kombinations‐ spiel und seine vertikale Spielweise. Diese Unterschiede beeinflussen die Positionierung der Spieler auf dem Feld und die Art und Weise, wie sie sich in der Statik des Spiels verhalten. 2. Spielerstil und individuelle Fähigkeiten: Die Spieler einer Mannschaft haben individuelle Fähigkeiten und Spielstile, die sich auf die Statik des Spiels auswirken können. Ein Team mit schnellen und wendigen Spielern wird möglicherweise versuchen, durch schnelle Richtungswechsel und Dribblings den Gegnern auszuweichen, während ein Team mit starken physischen Spielern möglicherweise versucht, das Spiel mehr über Kör‐ perlichkeit zu kontrollieren. 3. Spielmentalität: Die Mentalität und der Teamgeist einer Mannschaft können ebenfalls die Statik beeinflussen. Ein Team, das für seinen ag‐ gressiven Pressingstil bekannt ist, wird möglicherweise höher stehen und den Gegner frühzeitig unter Druck setzen, während ein Team, das eine defensivere Spielweise bevorzugt, möglicherweise tiefer stehen und versuchen wird, die Räume eng zu machen. 4. Trainerphilosophie: Der Trainer hat einen großen Einfluss auf die Spiel‐ weise einer Mannschaft und damit auch auf die Statik des Spiels. Unterschiedliche Trainer haben unterschiedliche Vorlieben und Heran‐ gehensweisen an das Spiel, was sich in der Statik der Mannschaft niederschlagen kann. Es ist wichtig anzumerken, dass die Statik eines Spiels von vielen Faktoren abhängt und sich im Verlauf des Spiels dynamisch ändern kann. Jedes Team Die Statik des Spiels 119 <?page no="120"?> hat seine eigenen Stärken, Schwächen und Besonderheiten, die zu einer einzigartigen Statik führen. Nicht schlecht: Sie erklärt mir allgemein etwas zur Statik eines Spiels und gibt dann (zumindest unter Punkt 2) auch ein Beispiel im Sinne der Frage. Interessant sind vor allem die übergreifenden allgemeinen Erläuterungen. Hier wird Statik kotextualisiert verstehbar gemacht im Zusammenhang mit Spielphilosophie, Taktik, Spielweise, Positionierung, individuelle Fähigkeiten, Spielstile, Mentalität, Trainervorlieben, Herangehensweisen. ChatGPT produziert hier genau das, wo‐ nach man als korpusbasiert arbeitende Linguistin ebenso sucht, wie dies auch ein Wortfeldtheoretiker tut. Man kann förmlich dabei zusehen, wie ChatGPT Be‐ deutung herstellt, Semantik erzeugt durch Sprachgebrauch. Spock würde wohl sagen: „Faszinierend! “ Das ganze ist selbstverstärkend, denn auch ChatGPT muss ja erstmal darauf kommen, diese semantischen Netze auszubeuten, um angewandte Gebrauchssemantik betreiben zu können, und unsere Konversation hilft ja gerade dabei, Wahrscheinliches wahrscheinlicher werden zu lassen. sta Welcher Spieler hat deiner Meinung nach die beste Statik? ChatGPT Als KI-Modell habe ich keine persönliche Meinung oder Vorlieben. Die Beur‐ teilung der "besten Statik" eines Spielers hängt von verschiedenen Faktoren ab und kann subjektiv sein. Es gibt jedoch einige Spieler, die für ihre beein‐ druckende Statik bekannt sind. Ein Spieler, der oft für seine hervorragende Statik gelobt wird, ist Lionel Messi. Seine außergewöhnliche Balance, Wendigkeit und Körperbeherrschung er‐ möglichen es ihm, auch in schwierigen Situationen das Gleichgewicht zu halten und seine Technik präzise einzusetzen. Auch Cristiano Ronaldo hat eine bemerkenswerte Statik. Seine physische Stärke, seine Sprungkraft und sein Gleichgewichtssinn ermöglichen es ihm, in der Luft und bei Kontaktsituationen standhaft zu bleiben und trotzdem gefährlich zu sein. Es gibt jedoch viele weitere Spieler mit beeindruckender Statik, die je nach individuellen Fähigkeiten und Spielstilen herausragen können. Jeder Spieler hat seine eigenen Stärken, die sich in seiner Statik widerspiegeln können. ChatGPT hat also keine Meinung und keine Vorlieben. Interessant: deiner Meinung nach scheint ein Trigger zu sein. ChatGPT ist also nicht dazu da, eigene Meinungen zu haben bzw. solche mitzuteilen. Wohl ein eingebauter Schutz, ChatGPT nicht allzu sehr als menschgleiche, mit eigenen Meinungen ausgestattete Konversions‐ 120 Sven Staffeldt <?page no="121"?> partnerin anzusehen. Konversationsethisch durchaus ansprechend, auch wenn - ich muss es gestehen: die Zurückweisung erst ein wenig brüsk wirkte. Aber meine Frage wird dann doch noch abgearbeitet. Messi und Ronaldo fallen nicht schnell um. Auch hier gilt: Die Antwort ist nah dran. Es stimmt ja, dass man für präzise Ballbehandlungen eine entsprechende Körperspannung braucht (wozu allerdings auch gut kalkuliertes Hinfallen gehören kann). sta Ist "Statik eines Siels" etwas anderes als "Statik eines Spielers"? ChatGPT Entschuldigung für das Missverständnis. Tatsächlich bezieht sich der Begriff "Statik eines Spiels" nicht auf die Statik eines einzelnen Spielers, sondern auf die statischen Aspekte und Eigenschaften des Spiels als Ganzes. Es geht um die Verteilung der Spieler auf dem Spielfeld, die Positionierung, die räumlichen Beziehungen und die allgemeine Organisation während eines Spiels. Die Statik eines Spiels umfasst beispielsweise die Formation, in der eine Mannschaft spielt, die Positionen der Spieler in verschiedenen Phasen des Spiels (Angriff, Verteidigung, Übergang), die Abstände zwischen den Spielern und die Art und Weise, wie sie sich auf dem Spielfeld bewegen, um Räume zu schaffen oder zu schließen. Es ist ein Konzept, das darauf abzielt, das taktische Verhalten einer Mann‐ schaft zu analysieren, insbesondere in Bezug auf ihre räumliche Organisation und wie sie die statischen Elemente des Spielfelds nutzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Schwer beeindruckend. Zwar hätte sich ChatGPT nicht unbedingt entschul‐ digen müssen. Immerhin: Eigene Meinungen hat ChatGPT nicht, emotionale Zustände jedoch, die mit Entschuldigungen einhergehen könnten, scheint das nicht zu betreffen. ChatGPT hat aber - und das ist wieder sehr interessant - meine Frage als eine Art Kritik (vielleicht als Vorwurf, jedenfalls aber als Zwi‐ schenfall) interpretiert. Das ist mich betreffend in der Tat ein Missverständnis. Woran hat’s gelegen? Hätte ich mit der Antwort zufriedener sein (mich zum Beispiel für die Auskunft bedanken) sollen, statt noch einmal nachzuhaken? Legt etwas anderes als nahe, dass ich die Sache anders sehe als ChatGPT und ist das Grund genug, sich zu entschuldigen? Wann entschuldigen wir uns eigentlich, wenn wir unter uns Menschen sind? Was sind alles - konkreter gefragt - gute Anlässe für metakommunikative Entschuldigungen? Inhaltlich fasst die Antwort noch einmal zusammen, was vorher alles aufgezählt und besprochen wurde. Sicher eine Kernkompetenz von ChatGPT. Die Statik des Spiels 121 <?page no="122"?> sta Seit wann redet man eigentlich von der Statik eines Spiels? ChatGPT Der Begriff "Statik eines Spiels" wird im Fußball nicht allgemein verwendet, um taktische oder räumliche Aspekte zu beschreiben. In meiner vorherigen Antwort habe ich den Begriff "Statik eines Spiels" verwendet, um das Missver‐ ständnis in Bezug auf "Statik eines Spielers" zu klären und zu verdeutlichen, dass es um die statischen Aspekte und Eigenschaften des Spiels als Ganzes geht. In der Fußballanalyse und -diskussion werden eher Begriffe wie Taktik, For‐ mation, räumliche Organisation, Positionierung und Spielstruktur verwendet, um das taktische Verhalten einer Mannschaft zu beschreiben. Es ist möglich, dass der Begriff "Statik eines Spiels" in einigen spezifischen Kontexten oder Diskussionen von bestimmten Analysten oder Autoren ver‐ wendet wird, aber es ist kein allgemein etablierter Begriff im Fußballjargon. Es ist wichtig, die üblicheren Begriffe zu verwenden, um taktische und räumliche Aspekte eines Spiels zu beschreiben. Dass ChatGPT Auskunft darüber gibt, wie sie einen Ausdruck verwendet hat, ist offenbar kein diskursethischer Trigger. ChatGPT klärt und verdeutlicht in der ersten Person. Sie erläutert, was sie getan hat, und wirft dabei noch einmal ein semantisches Netz aus, man könnte auch sagen: bestellt ein Wortfeld. Die Frage ist: Wie kann ChatGPT etwas zur Statik eines Spiels sagen, wenn dieser Ausdruck genau dazu nicht allgemein verwendet wird? Können wir ChatGPT hier beim Denken zuschauen? Zum Schluss sichert sich ChatGPT schließlich ab, es könnte auch hier und da anders sein, aber man sollte die üblicheren Begriffe verwenden. Woher dieser Rat, dies Empfehlung, diese Vorgabe? Weil man sonst nicht oder schlecht verstanden wird? Woher weiß ChatGPT eigentlich, was man sollte, was hier wichtig ist? Und wäre das dann nicht eine Meinung? Leider ist mir diese Nachfrage im Gespräch nicht eingefallen, ich war zu baff. sta Könntest du dennoch versuchen, einzelne Belege zu finden, wo von Statik eines Spiels die Rede ist? Oder kannst du vielleicht sogar herausfinden, wer als erstes Statik so gebraucht hat? ChatGPT Nach eingehender Recherche konnte ich keine spezifischen Belege oder Quellen finden, in denen der Begriff "Statik eines Spiels" im Fußballkontext 122 Sven Staffeldt <?page no="123"?> verwendet wird. Es scheint kein gängiger oder etablierter Begriff in der Fußballanalyse oder -diskussion zu sein. Es ist möglich, dass der Begriff in einigen spezifischen Kontexten oder mög‐ licherweise in einer begrenzten Anzahl von Quellen verwendet wurde, aber dies scheint nicht weit verbreitet zu sein. Es ist wichtig zu beachten, dass die Verwendung eines Begriffs in der Sprache stark von verschiedenen Faktoren abhängt, einschließlich der Popularität, der Akzeptanz und der Konsistenz bei der Verwendung durch Experten und Fachleute in einem bestimmten Bereich. In Anbetracht dessen konnte ich auch keine Informationen darüber finden, wer den Begriff "Statik eines Spiels" zuerst verwendet haben könnte. Es scheint also, dass der Begriff "Statik eines Spiels" nicht in der allgemeinen Fußballterminologie verankert ist und andere Ausdrücke wie Taktik, Formation und räumliche Organisation üblicher sind, um das taktische Verhalten einer Mannschaft zu beschreiben. ChatGPT bleibt also dabei und gibt sogar an, keinen einzigen Beleg gefunden zu haben. Mit Statik eines Spiels im Fußballkontext ist ChatGPT also nicht in Kontakt geraten. Sie hat daher wohl ziemlich gut geraten, was damit gemeint sein könnte, und so eine neue Gesprächsrealität geschaffen. Man könnte auch sagen: Ab sofort gibt es eine Statik des Spiels - für ChatGPT. Freilich taucht Statik auch woanders durchaus auf (s. unten Nachspielzeit), nur ist ChatGPT nicht damit gefüttert worden. Umso erstaunlicher ist es, dass ChatGPT eine doch wohl als sinnvoll zu bezeichnende Antwort generieren kann. sta Ok, das habe ich verstanden, danke. Aber: Wenn ich bei Google "Statik des Spiels" Fußball eingebe, bekomme ich Treffer. Zum Beispiel: Gomez verändert die Statik des Spiels - aus dem Jahr 2016. Kannst du das nicht auch? Du bist doch sicher besser als Google. ChatGPT Es tut mir leid für die Verwirrung. Als KI-Modell habe ich Zugriff auf eine umfangreiche Datenbank mit Informationen bis September 2021. Obwohl ich bemüht bin, genaue und aktuelle Informationen bereitzustellen, kann ich nicht in Echtzeit auf das Internet zugreifen und keine spezifischen Such‐ ergebnisse abrufen. Es ist möglich, dass es spezifische Fälle oder Quellen gibt, in denen der Begriff "Statik des Spiels" im Fußballkontext verwendet wird, wie der von Ihnen genannte Artikel aus dem Jahr 2016. Es kann Situationen geben, in denen der Begriff von Einzelpersonen oder in bestimmten Kontexten verwendet wurde. Die Statik des Spiels 123 <?page no="124"?> Ich entschuldige mich, wenn ich nicht auf Ihre spezifische Suchanfrage ein‐ gehen konnte. Wenn Sie weitere Informationen oder Diskussionen zu diesem Thema haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. sta Kurze Frage nebenbei: Wieso kannst du nicht in Echtzeit auf das Internet zugreifen? ChatGPT Als KI-Modell bin ich eine vorgefertigte Textgenerierung und -antwortma‐ schine, die auf dem Wissen basiert, das bis September 2021 verfügbar war. Ich wurde nicht entwickelt, um Echtzeitinformationen abzurufen oder auf das aktuelle Internet zuzugreifen. Meine Antworten basieren auf dem Training, das auf vorliegenden Daten und Informationen beruht. Mein Zweck ist es, allgemeine Informationen und Unterstützung zu bieten, basierend auf dem Wissen, das zum Zeitpunkt meines Trainings verfügbar war. Daher kann ich nicht auf aktuelle Ereignisse, Nachrichten oder spezifi‐ sche Websites zugreifen, die nach meinem Trainingszeitpunkt erstellt wurden. Es ist wichtig, aktuelle und spezifische Informationen aus zuverlässigen Quellen zu beziehen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben und die aktu‐ ellsten Entwicklungen zu verfolgen. sta Aber 2016 ist doch vor 2021. ChatGPT Das ist korrekt, 2016 liegt zeitlich vor meinem Wissensstand, der im Sep‐ tember 2021 endet. Wenn der von Ihnen genannte Artikel aus dem Jahr 2016 existiert und Ergebnisse bei einer Google-Suche zu "Statik des Spiels" im Fußball liefert, könnte es sich um eine spezifische Quelle oder einen bestimmten Kontext handeln, in dem der Begriff verwendet wurde. Da ich jedoch keinen direkten Zugriff auf das Internet habe, kann ich nicht auf spezifische Artikel oder Informationen von 2016 oder danach zugreifen. Meine Antworten basieren auf dem Wissen, das mir zum Zeitpunkt meines Trainings zur Verfügung stand. Es tut mir leid, dass ich Ihnen möglicherweise nicht direkt auf Ihren spezifi‐ schen Artikel oder Kontext eingehen kann. Wenn Sie weitere Fragen oder Themen haben, stehe ich Ihnen jedoch gerne zur Verfügung. Die Sache mit den Jahreszahlen lasse ich mal unkommentiert. Zwei Dinge nur: Auf die Google-Provokation geht ChatGPT nicht ein. Und sie zieht die Absicherungskarte. Das war die Sache mit einem spezifischen Verwendungs‐ 124 Sven Staffeldt <?page no="125"?> kontext, in dem Statik eines Spiels verwendet worden sein könnte. Hier übrigens der Beleg von 2016: https: / / www.stuttgarter-zeitung.de/ inhalt.fussball-em-201 6-gomez-oder-goetze-oder-gomez-und-goetze-page1.1f04d53d-558d-41d7-9911 -e35cf3d7f130.html. Bei der Gelegenheit: Es gibt einen schönen Kommentar auf faz.net dazu aus dem Jahr 2023 (Autor: Thomas Klemm): https: / / www.faz. net/ aktuell/ sport/ fussball/ bundesliga/ bundesliga-start-wie-kam-der-begriff-sta tik-in-den-fussball-18617423.html. Den kann ChatGPT in der Version, die ich (kostenfrei) genutzt habe, in der Tat nicht kennen. Einstweilen reicht es jetzt vielleicht auch. Wir verabschieden uns höflich. sta Ok, danke. Ich komme darauf zurück. ChatGPT Kein Problem! Wenn Sie weitere Fragen haben oder zu einem späteren Zeitpunkt auf das Thema zurückkommen möchten, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Zögern Sie nicht, mich jederzeit anzusprechen. Ich bin hier, um zu helfen! sta Hallo, nun ist ja einige Zeit vergangen, Weißt du inzwischen mehr über die Statik von Fußballspielen? ChatGPT Als KI-Modell habe ich keinen Zugriff auf Echtzeitinformationen oder spezifi‐ sche Entwicklungen seit meinem Wissenstand im September 2021. Meine Antworten basieren auf dem Wissen und den Informationen, die mir bis zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen. Es tut mir leid, dass ich keine aktualisierten Informationen über die Statik von Fußballspielen liefern kann. Die Statik von Fußballspielen bezieht sich auf die räumliche und taktische Organisation einer Mannschaft während eines Spiels. Dies umfasst Aspekte wie Formationen, Positionierung der Spieler, Ballbesitz, Verteidigungslinien und räumliche Dynamik. Die Statik eines Spiels kann sich auf die Spielstruktur und die Art und Weise auswirken, wie die Mannschaften auf dem Feld inter‐ agieren. Um über aktuelle Entwicklungen und spezifische Statik-Aspekte von Fußball‐ spielen auf dem Laufenden zu bleiben, empfehle ich, aktuelle Fußballnach‐ richten, Analyseberichte und Expertenmeinungen zu verfolgen. Dort erhalten Sie die aktuellsten Informationen und Einsichten in die Statik von Fußball‐ spielen. Die Statik des Spiels 125 <?page no="126"?> Ganz offensichtlich kommt ChatGPT gut mit renitenten Nachfragen zurecht. Sie behält die Ruhe, wiederholt noch einmal die wichtigsten Punkte und gibt mir am Ende sogar noch einen Tipp, was ich tun könnte, um mein Problem zu lösen: aktuelle Fußballtexte (Nachrichten, Berichte, Meinungen) verfolgen. Wenn ich’s mir recht überlege, schlägt ChatGPT mir hier vor, mich ein wenig mehr wie sie zu verhalten: Sprachvorkommen zu durchforsten und sinnvoll neu zu (re)generieren, aus dem Gebrauch von Sprache etwas über Sprache zu erfahren und Ergebnisse in ‚eigenen‘ Worten festzuhalten. Also im Grunde das zu tun, was korpusbasiert arbeitende Linguisten so tun. Danke, ChatGPT, für diese Empfehlung. Dann machen wir ja alles richtig, oder? ⚽️-⚽️-⚽️ Verlängerung Simon Meier-Vieracker hat mir - vielen Dank, Simon - direkt nach Einreichung dieses Textes eine txt-Datei geschickt mit 28 Belegen von Statik in den Korpora zur Fußballlinguistik (Meier-Vieracker 2021), genau genommen aus dem Sub‐ korpus „spielverlagerung.de - Taktikanalysen (2011-2021)“, das knapp 3000 Texte des berühmten Taktikblogs enthält. Der älteste Beleg stammt aus dem Jahr 2012. Wenn man die Belege einzeln durchsieht, kann man folgende grundlegende Beobachtungen machen (ohne allzu sehr ins Detail zu gehen). Ich gehe sie einzeln durch. Die Bezifferung der Belege habe ich nach der chronologischen Reihenfolge der Belege vorge‐ nommen, wie sie in der txt-Exportdatei zu finden ist. (28) ist dabei der älteste Beleg. Es gibt tatsächlich Statik-Verwendungen im Sinne von in Ruhe, mit wenig Bewegung usw., die einzelne Spieler, einen bestimmten Teil von Mannschaften oder die ganze Mannschaft betreffen können. Das kann dann vor allem auch einer gewissen Abwertung ausgesetzt sein (seltener auch neutral, wie in den Belegen (3) und (1)). Und es sind vor allem die älteren Belege: (28) Ronaldo und Nani arbeiteten nicht immer stark nach hinten mit, offene Räume waren teilweise vorhanden. Allerdings krankte das Spiel über die Flügel an zu großer Statik (2012) (27) Das orangene Pressing sorgt für Statik - oder: wieso das Spiel so langweilig wirkte (2012) (26) Durch die großen Räume hinter der Freiburger Abwehrreihe wurden die Bayern, ein wenig erinnernd an die Probleme vom Frankfurt-Spiel, etwas zu 126 Sven Staffeldt <?page no="127"?> vorschnell und positionsorientiert in ihren Angriffsbemühungen, was zu mehr und mehr Statik und schließlich zum Verlust des eigenen Rhythmus führte. (2012) (25) Tatsächlich sind es vor allem die statischen Situationen, die Gomez am wenigsten liegen (ist das ein Wortspiel? ) und die er auch nicht wirklich zu erzeugen in der Liga ist. Im Grunde genommen verhält sich die Statik als eine Art Gegenpol zur Spielweise und dem Charakter von Mario Gomez, der ihr in vielerlei Hinsicht entgegenläuft. Mario Gomez kann von seiner Natur aus gar nicht in irgendeiner Weise statisch sein oder sich "wund liegen" - es ist anatomisch nicht möglich. (2013) (24) Mit der Einwechslung Martinez‘ gab es endgültig wieder die Rückkehr zu etwas mehr Statik und Bayern spielte den Stiefel kalt runter. (2013) (23) Gelegentlich bleiben die Akteure auch etwas positionstreuer und klarer in der Viereroffensive. Dann versucht Honda mehr auf Einzelaktionen und raumgreifende Spielmacher-Szenen zu gehen - leicht aus der Statik heraus, mit weniger unterstützenden sondern etwas mehr nutzenden Aktionen der Kollegen, wobei de Sciglio hier natürlich sehr konsequent einen klassischen Außenverteidiger für mögliche Pärchenbildung gibt. (2014) (22) Durch die Statik und Verbindungsmängel konnte die TSG ihr - gerade in dieser formativen Konstellation - hohes spielerisches Potential nicht abrufen. (2014) (20) So agierte sein defensiv ausgerichteter Nebenmann Medjani extrem statisch, wodurch er allerdings auch seinen Raum sicherte und im Umschalten schnellen Zugriff hatte. Diese statische Rolle hätte den Koreanern das Pressing sehr erleichtert - tat es auch in gewissem Rahmen -, doch Bentaleb gelang es sehr geschickt diese Statik auszugleichen und manchmal sogar auszunutzen. (2014) (14) Manche Szenen enden - nachdem die erste Dynamikwelle nicht für Schnitt‐ stellenpässe, Dribblings oder Freispielen des Außenverteidigers genutzt werden konnte - in Statik am Flügel und muss mit improvisierten Unterzahld‐ ribblings zur Grundlinie beendet werden. (11) In diesem Fall sorgte dies jedoch gegen Hoffenheim für eine Pattsituation, die einer gewissen Statik nicht entbehrte. (2016) (3) Der große Vorteil für Leipzig ist die pure Physis, die Schick ebenso wie Yussuf Poulsen oder Dayot Upamecano bei Eckbällen mitbringt. Selbst aus der Statik heraus, wenn sie am Fünfmeterraum platziert sind, können sie noch Kopfballduelle für sich entscheiden. (2020) (1) Wenn er aus dem Stand oder in relativer Statik zu beschleunigen beginnt, legt er sich den Ball zumeist etwas vor und verliert für einen Moment den unmittelbaren Kontakt zum Objekt der Begierde. Das veranlasst natürlich Verteidiger dazu, sich zum Ball hinzubewegen. (2020) Wenn die gesamte Mannschaft oder Mannschaftsteile gemeint sind, die irgend‐ etwas mit Statik zu tun haben, besteht die Möglichkeit zu einer semantischen Abzweigung. Dann ist Statik nicht mehr oder nicht mehr nur das Gegenteil Die Statik des Spiels 127 <?page no="128"?> von Bewegung, sondern betrifft eher auch die Konstitution einer Mannschaft im Spiel - durchaus mit taktischen Erwägungen. Diese Abzweigung muss aber nicht genommen werden, was der Beleg (18) zeigt (man beachte auch die abwertende Lexik hier). Das ist dann der Übergangsbereich in den Statik-Ver‐ wendungen (s. auch Beleg (16)). (21) Mit dem Rückstand kamen dann neben Drogba (für Bony) auch die beiden Dribbler Bolly und Kalou für Serey Die und Gradel. Das bedeutete, dass Touré ins defensive Mittelfeld zurückging, was die Statik der kolumbianischen Defensive natürlich änderte. Sie hatten nun keinen defensiven Ankerpunkt mehr, sondern improvisierten in ihrer "Laufdeckung" wieder verstärkt. Das führte - im Verbund mit der Führung - dazu, dass die kolumbianische Defensive nun häufiger im Abwehrpressing agierte als zuvor. (2014) (19) Feghouli rückte von rechts nach und konnte mit seinen technischen Fähig‐ keiten diese Dynamiken bespielen. Diese Kombinationen wurden nicht in der gegnerischen Statik gespielt, sondern meist in Verbindung mit einer sehr aggressiven Vorwärtsbewegung. Durch diesen enorm zügigen Rhythmus wurden die geduldig raumorientiert agierenden Koreaner aus ihrer Spielweise gezwungen. (2014) (18) Natürlich braucht es für einen tödlichen Pass einen entsprechenden Lauf in die Spitze, ähnlich ist es bei Kombinationen und strukturellen Dribblings. Wenn seine Mannschaft um ihn herum in Statik verfällt und es keine saubere, konstruktive Option gibt, fehlt ihm der "dreckige" Plan B. (2014) (17) Wie so oft muss nicht nur die Statik und die mannschaftliche Ausrichtung passen, sondern auch die individuelle und gruppentaktische Umsetzung sowie die Dynamik innerhalb der Organisation. Antizipation der Gegenpressingsi‐ tuation Um möglichst schnell umschalten zu können, sind nicht nur die Antrittsgeschwindigkeit der Einzelspieler oder die geringe Distanz zum Ball entscheidend, sondern auch, wann der Spieler losläuft. (2015) (16) So hatte der Bundesliga-Absteiger vielleicht sogar die Mehrzahl an gefährlich wirkenden Szenen. Dafür blieb Bielefeld etwas häufiger in kollektiv geschlos‐ sener Grundkompaktheit hinten, wenngleich diese vereinzelt sogar durch auch in Statik individuell starke Unterzahldribblings, beispielsweise von Ndjeng, geknackt wurde und brenzlige Momente zu überstehen hatte. (2015) Zwischenbemerkung: In Beleg (16) haben wir vielleicht eine Verwendung, wie sie ChatGPT vorschwebte. Dribblings, die so stark sind, dass die Spieler dabei nicht umfallen, klar ist das hier aber nicht. Es könnte auch so zu verstehen sein, dass Dribblings in ansonsten statischen Bereichen gemeint sind. (13) Jedoch lassen sie sich nicht dazu verleiten, Verfolgungsläufe zu starten. Denn eben jene würden die Statik des Sacchi’schen Pressings arg gefährden. Vielmehr sind sie sich im Klaren darüber, dass bei erfolgreichem Initialpass des Gegners, ein Mitspieler aus dem Mittelfeld herausrücken wird. (2015) 128 Sven Staffeldt <?page no="129"?> (07) Seine plötzlichen Richtungswechsel bei Ballannahmen, die explosiven Haken im Kontrast zum Plumpen des Verteidigers kreierten eben jenes unkalkulier‐ bare Element, das Statik und Stillstand aufbrechen konnte. (2017) (04) De Bruyne und Silva bewegten sich dazu zwar recht viel und tauschten auch immer mal wieder die Seiten, doch eine gewisse Statik war im Spiel des amtierenden Meisters kaum zu übersehen. (2018) (02) Größere defensive Schwierigkeiten hat Leipzig vor allem, wenn es sich im 4-4-1-1 oder auch 4-4-2 zurückzieht und im Abwehrpressing zu verteidigen versucht. Die Statik innerhalb der Leipziger Verteidigungsformation ist Gift für die Mannschaft, da sie seltener Zugriff herstellen kann und stattdessen bei schnellen Passfolgen des Gegners zum Passagier wird. Leipzig lebt von seiner Zweikampfstärke und ballnahen Intensität, die sich aber nur entfalten können, wenn sich die Mannschaft in Bewegung befindet. Was mir aber vor allem aufgefallen war und die Idee zu diesem Beitrag aus‐ machten, sind Verwendungen des Typs, wie sie z. B. in Beleg (15) zu finden sind. Hier gibt es eine weitere semantische Verzweigung, die ins leicht Diffuse führt. Was ist die komplette Statik des Spiels? Wahrscheinlich sind damit Aspekte des durchaus auch dynamischen Positionsspiels gemeint, das sich verändern kann (etwa wenn Einwechselungen vorgenommen werden) oder durch die taktische Aufstellung bedingt ist. Wir sind hier auf dem Gebiet feiner Spielbeobachtungen. Denn solcherlei Statik im Spiel (jenseits der bloßen Aufstellung) will erstmal erkannt werden, insbesondere wenn sie sich verändert. Manchmal (wie in Beleg (09)) führt ein verändertes Positionsspiel aber auch nicht dazu, dass sie die Statik mitverändert. Und manchmal ist sie auch vorübergehend nur auf ein paar (Quadrat-? )Meter in ihrer Beeinflussung beschränkt (s. Beleg (5)). (15) Der zu erwartenden Messi-Rakitić-Wechsel brachte mit dem Argentinier sowie Rafinha auf der Acht mehr Kontrolle halbrechts, was sich auf die komplette Statik des Spiels auswirkte. (2015) (12) Eine entsprechend taktische Reaktion des BVB - und keine Reaktion à la "wir müssen wachsam sein" - würde die Statik der kompletten Mannschaft verändern. Die Abwehrlinie müsste tiefer stehen und folglich wären die anderen Spieler dazu gezwungen, nach hinten zu rücken, damit vertikale Kompaktheit erhalten bliebe. (2016) (10) Angepasste Mechanismen im Spiel gegen den Ball und eine deutlich höhere Aktivität der tschechischen Außenverteidiger veränderten die Statik des Spiels nach der Pause. (2016) (09) Mit der Zeit schob Götze immer häufiger herüber. Doch dies änderte nichts daran, dass beim BVB die eingangs erwähnte Statik zurückkehrte. (2017) Die Statik des Spiels 129 <?page no="130"?> (08) Er setzte auf eben jenes Rezept mit dem sowohl Hannover als auch Frankfurt Erfolge gegen den BVB erzielen konnten: strikte Manndeckung aus einem 3-4-1-2 heraus. Eine komplette Spiegelung der Dortmunder Statik. (2017) (06) Die Chronik der zweiten Halbzeit: Keine Änderungen an der Statik des Spiels Mit dem Beginn der zweiten Hälfte machten weder Andersson noch Petkovic von einem personellen Wechsel Gebrauch. (2018) (05) Im 4-2-3-1 des deutschen Rekordmeisters spielte er direkt neben Tymoshchuk, der sich in der ungewohnten Rolle des rechten Innenverteidigers wiederfand. Tymoshchuk unternahm von Spielbeginn an viele, teils wilde Vorstöße, die natürlich, wenn auch nur auf ein paar Meter begrenzt, die Statik der bayeri‐ schen Mannschaft beeinflussten. Lahm balancierte in diversen Kontexten den Aufbau seiner Mannschaft, indem er tief positioniert blieb und nicht direkt auf die Formation der Engländer zulief und dadurch nur mit tadellosen Pässen erreichbar gewesen wäre. (2018) So, da hätten wir jetzt ja doch noch ein paar Statiken gefunden. Danke nochmals, Simon. ⚽️-⚽️-⚽️ Hauser, Stefan. 2009. Aspekte des Performativen in der Live-Berichterstattung von Sportereignissen. In Mareike Buss, Stephan Habscheid, Sabine Jautz, Frank Liedtke & Jan Schneider (eds.), Theatralität des sprachlichen Handelns. Eine Metaphorik zwischen Linguistik und Kulturwissenschaften, 243-259. München: W. Fink. Meier-Vieracker, Simon (ed.). 2021. Korpora zur Fußballlinguistik (Release 2021-09), Professur für Angewandte Linguistik, TU Dresden. https: / / www.fussballlinguistik.de / korpora. 130 Sven Staffeldt <?page no="131"?> Fußballzwerg und fußballsprachlicher Riese Lexikalische Vielfalt im Luxemburgischen François Conrad Das kleine Großherzogtum Luxemburg - gelegen zwischen Deutschland, Frank‐ reich und Belgien und mit knapp 650.000 Einwohnerinnen bzw. Einwohnern eines der kleinsten Länder der EU - war national und auf Vereinsebene bislang wahrlich kein Big Player auf der europäischen Fußballbühne. Auf Club-Ebene war der größte Erfolg der letzten Jahrzehnte das Erreichen der Gruppenphase in der Europa-League 2018/ 2019 und 2019/ 2020 durch den FC Düdelingen. Auch wenn in beiden Spielzeiten das Tabellenende winkte, wurden etwa die beiden Tore zum zwischenzeitlichen 2: 1 im altehrwürdigen Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion gegen den großen AC Mailand gefeiert wie ein Titel- Triumph - selbst wenn das Spiel letztlich mit 2: 5 verloren ging. Ähnlich erging es dem luxemburgischen Fußball lange Zeit auch auf der Ebene der Nationalmannschaft: Selbst ein Unentschieden und jedes einzelne der zeitweise seltenen eigenen Tore wurde ausgiebig zelebriert, waren sie doch lange das höchste der Gefühle. Zwischen 1995 und 2007 wurde international gar kein einziges Spiel gewonnen und Luxemburg grüßte zeitweise von Platz 186 der Fifa-Weltrangliste (von 207 möglichen Plätzen im Januar 2007). Die Situation war auch früher nicht besser, was aber auch daran lag, dass lange Zeit kein einziger Profi im Aufgebot der Nationalmannschaft zu finden war. Der legendäre luxemburgische Sportreporter Pilo Fonck fasste etwa das Länderspiel am 2. Februar 1979 zwischen Frankreich und Luxemburg (3: 0) folgendermaßen zusammen: Mir wëssen net, wie méi zefridden ass: D’Fransousen, déi 3: 0 gewanne konnten, oder d’Lëtzebuerger, déi 0: 3 verluer hunn, déi awer mat der Angscht gelieft hunn, eng méi héich Nidderlag anzestiechen. […] Eng franséisch Ekipp, déi et sech awer ganz schwéier gemaach huet, ier se endlech an der 39. Minutt d’Äis brieche konnt, an dat <?page no="132"?> eemol méi, aus Lëtzebuerger Siicht gekuckt, duerch ee vun deenen domme Goler, wéi mer der an de leschte Joren Dosende kritt haten. ‚Wir wissen nicht, wer zufriedener ist: Die Franzosen, die 3: 0 gewinnen konnten, oder die Luxemburger, die 0: 3 verloren haben, die aber mit der Angst gelebt haben, eine noch höhere Niederlage einzustecken. […] Eine französische Mannschaft, die sich aber ganz schwergetan hat, ehe sie endlich in der 39. Minute das Eis brechen konnte, und dies einmal mehr, aus Luxemburger Sicht betrachtet, durch eines dieser dummen Tore, wie wir sie in den letzten Jahren zu Dutzenden bekommen haben.‘ So grenzte es nahezu an ein Fußballwunder, dass Luxemburg in der Qualifikation zur EM 2024 plötzlich von einer Teilnahme träumen durfte. Der K I C K E R titelte am 13. Oktober 2023, kurz vor dem wichtigen Qualifikationsspiel gegen Island (1: 1): „Realistische Chance in der EM-Qualifikation. Das Schnauzbart-Vermächtnis: Warum Luxemburg plötzlich ernstzunehmen ist“. ‚Ernstzunehmen‘ - Balsam für die Luxemburger Fußballseele! Letztlich hat es zwar wieder nicht gereicht: Luxemburg wurde hinter Portugal und der Slowakei Dritter, das aber vor Island, Bosnien-Herzegowina und Liechtenstein und mit satten 5 Siegen, insgesamt 17 Punkten und 13 eigenen geschossenen Toren. Das Playoff-Spiel gegen Georgien ging am 21. März 2024 mit 0: 2 verloren. Dennoch: ein Fußballmärchen, das vor Jahren noch undenkbar schien. Gab es sportlich im luxemburgischen Fußball also rezent kleinere Höhen und zuvor längere, fast selbstverständliche und gewohnte Tiefen, spielt das Luxemburgische fußballsprachlich in einer ganz eigenen Liga. Die Sprache des Fußballs in Luxemburg ist bestens aufgestellt und an jeder Position gut besetzt: Aufgrund des jahrhundertealten und andauernden Sprachkontakts des Luxemburgischen insbesondere mit dem Deutschen und Französischen, gepaart mit wichtigen fußballsprachlichen Entlehnungen aus der Muttersprache des Fußballs (Englisch), ist die Fußballsprache ein Brennglas für die komplexe und einzigartige Mehrsprachigkeit des Landes, die zudem so dynamisch ist wie die aktuelle Formkurve der Nationalmannschaft. Kreative Mehrsprachigkeit in einer komplexen sprachlichen Gesellschaft Luxemburg ist ein offiziell dreisprachiges Land (Luxemburgisch, Deutsch, Französisch). Hinzu kommen neben dem internationalen Englisch aufgrund des ausländischen Bevölkerungsanteils an der Wohnbevölkerung im Land von etwa 47 Prozent viele weitere Sprachen. Die größte Rolle spielt dabei das Portugiesische, das von einem Großteil der Menschen mit portugiesischem Pass 132 François Conrad <?page no="133"?> - mit 31 Prozent die größte ausländische Bevölkerungsgruppe - gesprochen wird. Die Namen der Startelf der luxemburgischen Nationalmannschaft beim bereits genannten Qualifikationsspiel am 13. Oktober 2023 gegen Island zeigen diese kulturelle Vielfalt eindrücklich: Moris, Dzogovic, Mahmutovic, Chanot, Carlson, Mica Pinto, Thill, Sinani, Martins, Barreiro, Curci. Und genau diese Vielfalt zeigt sich auch sprachlich: In einer Analyse der Mehrsprachigkeit in der luxemburgischen Fußballberichterstattung (Conrad 2020a) wurde deutlich, wie Elemente aus dem Deutschen, dem Französischen und dem Englischen neben luxemburgischen Eigentümlichkeiten Seite an Seite benutzt werden. In der Untersuchung wurden die luxemburgischen Original‐ kommentare der Champions-League-Finalspiele aus den Jahren 2008, 2009, 2015, 2017 sprachlich ausgewertet. Kommentiert wurden sie unter anderem vom bereits weiter oben genannten ‚Schnauzbart‘ Paul Philipp, der erst 14 Jahre Nationalspieler (Kapitän beim oben genannten 0: 3 gegen Frankreich 1979), dann 16 Jahre Nationaltrainer war und seit 19 Jahren luxemburgischer Verbandspräsident ist - und den luxemburgischen Fußball nicht nur jahrzehn‐ telang geprägt hat, sondern zudem genauso lang einen opulenten Schnauzbart trägt. Seit längerem kommentiert er im Sender RTL Luxemburg Fußballspiele. In Deutschland undenkbar, in Luxemburg Realität. Wie ein Zusammenschnitt aus der Berichterstattung von Paul Philipp und seinem Co-Kommentator Nico Keiffer zeigt (CL-Finale 2017 zwischen Real Ma‐ drid und Juventus Turin), ist das Luxemburgische gespickt mit fremdsprachigen Elementen (Fettdruck): Den Navas, wéi mer e kennen. Am Degagement ass en net … an der Relance ass en net dee Beschten. ‘Navas, wie wir ihn kennen. Beim Abschlag ist er nicht … im Wiederaufbau ist er nicht der Beste.’ Dybala, gutt recuperéiert do. […] Ah, Feeler vum Pjanic op de Kroos. ‘Dybala, gut zurückgeholt da. […] Ah, Foul von Pjanic auf den Kroos.’ Kroos … léisst de Ball gutt lafen … Lo ass Plaz! Gutt gespillt - Gol! An de Réck vun der Defense. Herrlech erausgespillt. A wie schéisst de Gol? Natierlech - Cristiano Ronaldo. ‘Kroos … lässt den Ball gut laufen … Jetzt ist Platz! Gut gespielt - Tor! In den Rücken der Abwehr. Herrlich herausgespielt. Und wer schießt das Tor? Natürlich - Cristiano Ronaldo.’ Bereits auf den ersten Blick wird die an und für sich germanische Struktur des Luxemburgischen deutlich, und die Kommentare sind in weiten Teilen für Fußballzwerg und fußballsprachlicher Riese 133 <?page no="134"?> Menschen mit Deutschkompetenzen klar zu verstehen. Zugleich zeigen sich einige französische (Defense, Degagement, Relance; Fehler op < fr. faute sur ‚Fehler auf = Foul an‘) sowie englische (Gol, Hands) Begriffe beziehungsweise Lehnüber‐ setzungen. Die ausführliche Analyse dieses ‚Champions-League-Korpus‘ ergab in Bezug auf die fußballsprachliche Mehrsprachigkeit im Luxemburgischen folgende Hauptergebnisse: • Die zahlreichen französischen Elemente beziehen sich vor allem auf den Bereich der Bezeichnungen für Titel und Wettbewerbe (Coupe ‚der (Liga)Pokal‘, Coupe d’Europe ‚Europameisterschaft‘, Coupe vun de Cham‐ pionen ‚Europapokal der Landesmeister‘, Palmarès ‚Titelbilanz‘, den Doublé ‚das Double‘) sowie der Ballaktionen (Crochet ‚Haken‘, Degagement ‚To‐ rabwurf/ Befreiungsschlag‘, Interceptioun ‚Abfangen des Balles‘, Deviatioun ‚Abfälschung‘). Besonders häufig finden sich französische Verben, die über das Suffix -éieren ins Luxemburgische übernommen werden, etwa deviéieren ‚abfälschen‘, blesséieren ‚verletzen‘, sech afiltréieren ‚sich einschleusen‘, de Géigner fixéieren ‚den Gegner fixieren‘, de Ball recuperéieren ‚den Ball wiedererlangen‘. • Die Elemente aus dem Englischen sind weniger zahlreich, dafür betreffen sie häufig den Kernbereich der Fußballsprache: Gol ‚Tor‘, (Gol)Kipp(er) ‚Torwart‘, Hands ‚Handspiel‘, Back ‚Verteidigungsbereich‘, Corner ‚Eckball‘, Pressing, Match, Tackling/ tackelen, Trainer, Dress, Club, Replay. Anders als in Deutschland, wo um 1900 englische Fußballterminologie häufig einge‐ deutscht wurde, blieb diese in Luxemburg - ähnlich wie in der Schweiz und in Österreich - größtenteils erhalten. • Deutsche Elemente sind aufgrund der historisch begründeten engen Ver‐ wandtschaft und somit Ähnlichkeit des Luxemburgischen und des Deut‐ schen schwerer klar zu bestimmen, sind aber überaus häufig. Zahlreiche Determinativkomposita - also zusammengesetzte Wörter wie Ballbesëtz ‚Ballbesitz‘ -, die im Luxemburgischen seltener als im Deutschen vor‐ kommen, gehen vermutlich auf deutschen Einfluss zurück. Klarer zu er‐ kennen sind die Elemente vor allem, wenn sich die Lautung gegenüber dem Deutschen in bestimmter Weise unterscheidet, wie in Eelefmeeterschütze ‚Elfmeterschütze‘ (das Wort Schütze existiert im Luxemburgischen zudem nur als aus dem Deutschen entlehntes Fremdwort) oder Weltklassereaktioun ‚Weltklassereaktion‘ (Klasse-wäre im Luxemburgischen eigentlich Klass). • Schließlich gibt es auch luxemburgische ‚Eigengewächse‘, häufig wörtliche Übersetzungen aus anderen Sprachen (Lehnübersetzungen), etwa Selbstgol ‚Eigentor‘, Meeschter vum Spill ‚Spielleiter‘ < fr. maître de jeu oder National‐ ekipp ‚Nationalmannschaft‘ < fr. équipe nationale. Auch die Bezeichnung 134 François Conrad <?page no="135"?> des Spielgeräts findet etwa in d’Klatz ‚der Klotz‘ kreative luxemburgische Formen. Insbesondere das parallele Auftreten von französischen, deutschen und engli‐ schen Begriffen ist im Luxemburgischen bemerkenswert. Um dem ‚Schnauzbart‘ Paul Philipp und anderen Kommentatorinnen und Kommentatoren bei der Übertragung von auf Luxemburgisch kommentierten Fußballspielen folgen zu können - ganz zu schweigen von der Kommunikation auf dem Fußballplatz selbst! -, sind folglich ausreichende Kompetenzen in all diesen Sprachen gefordert - oder zumindest das Wissen um diese spezifischen Ausdrücke. Besonders spannend ist darüber hinaus, dass es bei vielen dieser Begriffe mehrsprachige Synonyme gibt (in der luxemburgistischen Forschung unter anderem als ‚Dublette‘ bezeichnet). Und diese werden zum Teil von derselben Person verwendet. Im ‚Champions-League-Korpus‘ spricht etwa Paul Philipp sowohl vom Matspiller als auch vom Coequipier < fr. coéquipier (beide be‐ deuten ‚Mitspieler‘), genauso vom Foul als vom Feeler < fr. faute (beide ‚Foul(spiel‘) sowie vom Wiessel als vom Changement < fr. changement (beide ‚(Spieler)Wechsel‘). Es finden sich in der luxemburgischen Sprache somit nicht nur generell viele fremdsprachliche Elemente aus unterschiedlichen Sprachen, sondern häufig finden sich für denselben Gegenstand oder Sachverhalt Syn‐ onyme aus mehreren Sprachen, die teilweise von ein und derselben Person verwendet werden. Zahllose Kombinationsmöglichkeiten für jede beliebige Taktik. Was sagen die Fußballfans? Um herauszufinden, ob sich einzelne Luxemburgerinnen und Luxemburger dieser großen sprachlichen Variation im Fußball bewusst sind und ob sie eine Präferenz für eine der möglichen Varianten bei den ‚Dubletten‘ haben, wurde die Online-Umfrage ‚Lëtzebuerger Futtballsprooch‘ (‚Luxemburger Fuß‐ ballsprache‘) im April 2020 geschaltet (Conrad 2020b, 2023a, 2023b). Entgegen der Befürchtungen des Studienleiters am Beginn der Corona-Pandemie war der Rücklauf gerade deswegen besonders groß: Innerhalb weniger Tage haben 1189 Personen teilgenommen (dies entspricht 0,2 Prozent der Bevölkerung, was in Deutschland 162.000 Personen wären! ). Wie bei Online-Umfragen üblich, war ein Großteil der Personen 50 Jahre und jünger, aber auch aus älteren Kohorten nahmen Personen teil. 88 Prozent der Teilnehmenden haben auf die entsprechende Frage angegeben, ‚(sehr) großes‘ Interesse an Fußball zu haben. 81 Prozent der Teilnehmenden waren zudem Männer. Somit sind die Ergebnisse sehr repräsentativ für fußballbegeisterte und vor allem männliche Menschen in Fußballzwerg und fußballsprachlicher Riese 135 <?page no="136"?> Luxemburg mit Luxemburgisch als Erstsprache oder mit zumindest sehr guten Kompetenzen in dieser Sprache. In einem kurzen Quiz wurden die Teilnehmenden zunächst gefragt, wie man etwa den ‚Mann mit der Pfeife‘ nennt (häufigsten Antworten: Schiidsrichter < dt. Schiedsrichter oder Arbitter < fr. arbitre). In einem zweiten Teil mussten sie sich zwischen beiden Varianten (etwa erneut Schiidsrichter/ Arbitter) entscheiden oder aber weitere Varianten nennen. Schließlich konnten sie in einem dritten Teil weitere ihnen bekannte Synonyme nennen (etwa Trikot/ Maillot ‚Trikot‘ oder Eelefmeeter/ Penalty ‚Elfmeter‘). Abb. 1: Exemplarische Ergebnisse aus der Online-Erhebung ‚Lëtzebuerger Futtball‐ sprooch‘ (nach Conrad 2020b: 330). Wie Abbildung 1 exemplarisch zeigt, fielen die Präferenzen für die einzelnen Synonyme sehr unterschiedlich aus. Bei bestimmten Synonymen überwiegt der Begriff, der mit dem Deutschen in Zusammenhang steht (etwa bei Fräis‐ touss/ Coup-franc ‚Freistoß‘), bei anderen der Begriff, der mit dem Französischen in Zusammenhang steht (etwa bei Mannschaft/ Ekipp ‚Mannschaft‘). Bei wieder anderen Begriffen sind die Präferenzen nicht ganz so eindeutig (etwa bei Doppelpass/ Une-deux ‚Doppelpass‘). Zudem wurde bei einigen Synonymen auch die Option ‚beide gleichermaßen‘ angegeben, wie die Werte für ‚Dublette‘ in Abbildung 1 zeigen. Schließlich hat sich ebenfalls gezeigt, dass Menschen, die grundsätzlich lieber Deutsch sprechen, lesen und gebrauchen, auch häu‐ figer die Variante wählen, die mit dem Deutschen in Zusammenhang steht (germanische Variante). Und Menschen, die grundsätzlich lieber Französisch sprechen, lesen und gebrauchen, häufiger die französische Variante wählen 136 François Conrad <?page no="137"?> (romanische Variante). Eine dritte Gruppe wiederum hat keine sprachlichen Präferenzen - tatsächlich wählen diese auch mal die eine, mal die andere Form. Mit jüngerem Alter steigt zudem bei vielen Synonymen die Wahrscheinlichkeit, dass die germanische Variante gewählt wird, was auf einen derzeit allgemeinen stärkeren Einfluss des Deutschen auf das Luxemburgische gegenüber dem Französischen hindeutet (ähnlich bereits Conrad 2017, siehe auch Gilles im Druck sowie der Luxemburgische Variationsatlas unter Gilles 2021). Aufsteigender Fußballzwerg doch fußballsprachlicher Riese - ein Fazit Auch Fußballsprache kann folglich - und das zeigen auch die weiteren Beiträge in diesem Band - seriös wissenschaftlich untersucht werden. Im luxemburgi‐ schen Fall konnte die empirische Erforschung der Mehrsprachigkeit in der Fuß‐ ballsprache zeigen, wie komplex, vielschichtig und dynamisch fußballerische Begriffe im Luxemburgischen verwendet werden können. Die Fußballsprache stellt damit zugleich ein Brennglas für das Verständnis und die Erforschung der sprachlichen Verhältnisse in Luxemburg insgesamt dar: In fast allen sprachli‐ chen Bereichen gibt es diese Variantenvielfalt, die somit auch eine sprachliche Parallele zu der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt im Großherzogtum Luxemburg darstellt. Warum aber konnten die luxemburgischen Teams die mit der außergewöhn‐ lichen mehrsprachigen Situation einhergehende große (sprachliche) Kreativität und Flexibilität so lange nicht op den Terrain bzw. op d’Feld (beides ‚auf das Feld/ den Platz‘) bringen, wo rezente Studien (etwa Lavric 2021) doch zeigen, dass Mehrsprachigkeit bei Spielern und Trainern durchaus förderlich für fuß‐ ballerische Erfolge sein kann? Und was sagen die zunehmenden Erfolge in der jüngeren Vergangenheit aus: Trägt die täglich gelebte Mehrsprachigkeit im Land letztlich doch auch sportliche Früchte? Immerhin liegt Luxemburg mittlerweile auf Rang 92 der Fifa-Weltrangliste (von 210 möglichen Plätzen, Stand Dezember 2023). Die Zukunft wird es zeigen: Durch weitere Forschung auf und neben dem Platz - und womöglich einer erfolgreichen Qualifikation für eine der nächsten Europameisterschaften. Und sollte dies nie Realität werden, erfreuen wir Luxemburgerinnen und Luxemburger uns weiter wie gewohnt einfach an den kleinen Erfolgen: Die ein oder andere Victoire, ein gelungener Petit-pont/ Tunnel, eine Weltklassereaktioun des Golkipper nach einem Corner - oder der ein oder andere Gol unserer Nationalekipp. Fußballzwerg und fußballsprachlicher Riese 137 <?page no="138"?> ⚽️-⚽️-⚽️ Conrad, François. 2017. Variation durch Sprachkontakt. Lautliche Dubletten im Luxembur‐ gischen (Études luxembourgeoises/ Luxemburg-Studien 14). Frankfurt am Main: Peter Lang. Conrad, François. 2020a. Mehrsprachigkeit in der luxemburgischen Fußballberichterstat‐ tung. In Janina Behr, François Conrad, Stephan Kornmesser & Kristin Tschernig (eds.), Schnittstellen der Germanistik. Festschrift für Hans Bickes. 235-260. Frankfurt am Main: Peter Lang. Conrad, François. 2020b. Lexikalische Dubletten in der luxemburgischen Fußballsprache. Muttersprache 130. 319-338. Conrad, François. 2023a. The sociolinguistics of Luxembourgish football language: A case study of contact-induced lexical variation in a complex multilingual society. Sociolinguistica 37(2). 231-256. Conrad, François. 2023b. Deutsch-Luxemburgischer Sprachkontakt in Luxemburg. In Barbara Hans-Bianchi & Barbara Maria Vogt (eds.), Deutsch im Kontakt. Neue empiri‐ sche Studien zu Kontaktphänomenen und -szenarien in der Gegenwart (Germanistische Linguistik 260-262). Hildesheim: Georg Olms. 53-88. Gilles, Peter. 2021. Variatiounsatlas vum Lëtzebuergeschen. https: / / infolux.uni.lu/ variatio unsatlas/ Gilles, Peter. Im Druck. Regional variation, internal change and language contact in Luxembourgish: Results from an app-based language survey. In Taal en tongval. Kicker. 2023. Realistische Chance in der EM-Qualifikation. Das Schnauzbart-Vermächtnis: Warum Luxemburg plötzlich ernstzunehmen ist. Beitrag vom 13. Oktober 2023. ht tps: / / www.kicker.de/ das-schnauzbart-vermaechtnis-warum-luxemburg-ploetzlich-er nstzunehmen-ist-972378/ artikel. Lavric, Eva. 2021. Es braucht nicht nur Füße, sondern auch Zungen: Zur Mehrsprachig‐ keit auf dem Fußballfeld. In Isabella Matticchio & Luca Melchior (eds.), Mehrsprachig‐ keit am Arbeitsplatz (Sprachen lehren - Sprachen lernen 10), 95-121. Berlin: Frank & Timme. 138 François Conrad <?page no="139"?> ZWEITE HALBZEIT <?page no="141"?> Die Zeit von der Uhr nehmen Einige aktuelle Entwicklungen der Fußballsprache im Allgemeinwortschatz Alexander Geyken Fußball in der Allgemeinsprache Fußball begeistert nicht nur ein Milliardenpublikum, es ist auch längst ein Milliardengeschäft. Besonders deutlich wird dies anlässlich von gesellschaft‐ lichen Großereignissen, wie Welt- oder Europameisterschaften, zu denen weltweit, vor allem aber im Land der austragenden Nation für die Zeit des Turniers eine besondere Atmosphäre herrscht. Einen solchen Höhepunkt der Fußballbegeisterung gab es hierzulande letztmals im Jahr 2006, als Deutsch‐ land Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft war. Dass diese WM überhaupt in Deutschland stattfinden konnte, war maßgeblich das Verdienst von Franz Beckenbauer, der nicht nur seine weltweite Berühmtheit in die Waagschale warf, sondern vor allem unermüdlich um den Erdball reiste, um die Stimmen für Deutschland auch noch jedem noch so kleinen Land abzuringen. Mit dem knappsten Ergebnis der Fußball-Historie setzte sich Deutschland gegenüber Südafrika durch und erhielt den offiziellen Zuschlag für die Ausrichtung der FIFA-WM 2006. Diese sollte sich zu einem ganz besonderen Ereignis entwickeln. Dazu trugen nicht nur das außerordentlich gute Wetter, die vielen internationalen Fans und spannende Fußballspiele bei, sondern auch das Public Viewing, ein Ausdruck, der sich bereits während der Planungen der WM im Jahr 2004 als Neologismus im Deutschen gebildet hatte und seit 2006 im Allgemeinwortschatz fest etabliert ist. Der damals populärste Ort des Public Viewings war die Berliner Fanmeile auf der Straße des 17. Juni. Dieser 1,8 Kilometer lange und 40 Meter breite Streifen zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor, der von 11 Großbildleinwänden gesäumt wurde, hatte eine offizielle Kapazität von 900.000 Menschen. Rund 10 Millionen internationale Fans versammelten sich dort in den fünf Wochen der WM <?page no="142"?> und feierten friedlich und freundschaftlich. Das Wort Fanmeile steht seitdem synonym für ausgelassen-friedliche Sportevents und wurde folgerichtig zum Wort des Jahres 2006 gewählt. In der Medienberichterstattung ging die WM als das Sommermärchen in die deutsche Fußballgeschichte ein. André Heller, der künstlerische Berater der WM 2006, kommentierte die Bedeutung dieser WM, insbesondere aber auch die Leistung von Frank Beckenbauer: „Für das Image der Deutschen im Ausland hat er [Beckenbauer] mehr geleistet als 50 Jahre Diplomatie und zehn Goethe-Institute zusammen.“ Vor dem Hintergrund einer so großen gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für den Fußballsport und einer damit einhergehenden Medienpräsenz ist es nicht verwunderlich, dass vieles, was auf dem Fußballplatz von den Spielern, den Trainern und den Funktionären gesprochen wird, über die mediale Berichterstattung in die Allgemeinsprache gewandert ist. Im Jahr 2024 ist Deutschland wieder Gastgeber eines Fußballgroßereignisses, der Fußball-Europameisterschaft 2024 (offiziell UEFA EURO 2024). Eine ausge‐ zeichnete Gelegenheit, um Revue passieren zu lassen, wie der deutsche Fußball‐ wortschatz für die Allgemeinsprache dokumentiert ist und welche Tendenzen sich seit 2006 ausgebildet haben. Bevor wir diese beiden Themen behandeln, sei noch bemerkt, dass an dieser Stelle nicht der Fachwortschatz des Fußballs in seiner ganzen Tiefe behandelt werden soll, sondern lediglich dessen Einfluss auf den Allgemeinwortschatz, so wie er sich in den in großen Textmengen verfügbaren Sportteilen großer Tageszeitungen, aber auch einschlägigen Inter‐ netportalen, Tickern oder Blogs niederschlägt. Die Fußballsprache Das Fußballspiel umfasst zunächst in seiner engeren Bedeutung als Sportart viele Handlungen, Situationen und Techniken, die in der Alltagssprache nicht vorkommen. Diese bilden den Kern des Fußballwortschatzes und enthalten insbesondere das Regelwerk, die im Fußball praktizierten und in Trainingsein‐ heiten eingeübten Taktiken, Techniken und Tricks. Hinzu kommen Wörter und Wendungen, die von den Akteuren auf dem Fußballplatz genutzt werden, um sich untereinander zu verständigen, die „Fansprache“ und schließlich die Berichterstattung in den Medien. Gerade letztere ist es, die den Fußballwort‐ schatz durch die Kreativität der Kommentatorinnen und Kommentatoren stark bereichert hat. Spielsituationen werden dadurch bildhafter, lebendiger und damit auch unterhaltsamer geschildert. Beispielsweise werden Bälle nicht nur einfach ins Tor geschossen, sondern unter die Latte gezimmert, um damit die be‐ sondere Intensität des Schusses zu betonen, oder ins leere Tor eingeschoben, wenn 142 Alexander Geyken <?page no="143"?> die Leichtigkeit der Chancenverwertung hervorgehoben werden soll. Ebenso kreativ sind die Medien bei der Verwendung von Synonymen. Der Fußball kann beispielsweise als Ei, Kirsche, Kugel, Leder, Nille, Pille oder auch ganz profan als Spielgerät bezeichnet werden (vgl. Burkhardt 2022). Mittelstürmer werden bei Erfolg gerne als Goalgetter, Knipser, Torjäger, Top-Scorer oder Tormaschine bezeichnet. Wird dem Mittelstürmer eine systematische und länger anhaltende Ladehemmung attestiert, läuft er Gefahr, weit weniger schmeichelhaft als Chancentod bezeichnet zu werden. Übrigens lassen sich von diesen Wörtern auch movierte Formen bilden, also Goalgetterin, Knipserin, Mittelstürmerin, Scorerin und Torjägerin. Was davon ist aber in der Allgemeinsprache gebräuchlich, wieviel ist fußball‐ typisch, also entweder nur ausschließlich im F UẞB AL L gebraucht oder zumindest mit einer Lesart im übergreifenden Sachgebiet des B AL L S P O R T S bzw. des S P O R T S allgemein? Dazu möchte ich im nächsten Abschnitt kurz auf die beiden, bezogen auf die Anzahl der Einträge, umfangreichsten Werke eingehen, die den aktuellen deut‐ schen Wortschatz der „Fußballsprache“ dokumentieren: das WÖRTERBUCH DER FUẞBALLSPRACHE von Armin Burkhardt und das FUẞBALLGLOSSAR des DWDS . Wörterbuch der Fußballsprache (Burkhardt) Das „Wörterbuch der Fußballsprache“ von Armin Burkhardt (Burkhardt 2006, 2022) enthält die wohl umfangreichste Sammlung von Wörtern und Wendungen, die im Fußball üblich sind. In der Einleitung zu seinem Wör‐ terbuch unterscheidet Burkhardt folgende Bereiche der Fußballsprache: die Fachsprache (z. B. Freistoß, Innenverteidiger oder Dropkick), den Jargon (z. B. Pille für den Ball oder Bude für das Tor), die Berichterstattung mit ihren kreativen Wortbildungen (z. B. Fehlpass-Festival, Fußballgott) und schließlich die Fansprache (z.b. Allesfahrer oder supporten). Er fügt einschränkend hinzu, dass „all dies nur tendenzielle Zuordnungen [seien] - in der Praxis vermischen sich die Bereiche“ (Burkhardt 2022: 13). Aufgenommen werden Wörter und Wendungen dann, wenn sie fußballbezogen sind und daher im Fußballkontext eine etwas andere Verwendung finden als in Zusammenhängen außerhalb des Fußballs. Für jeden Wörterbucheintrag gibt es eine Bedeutungsbeschreibung und, wenn zum Verständnis notwendig, auch einer Herkunftsbeschreibung. Darüber hinaus illustriert Burkhardt alle Einträge anhand authentischer Belegsätze aus der Sportberichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen. In seiner ersten Auflage 2006, welche anlässlich der in Deutschland ausgetra‐ Die Zeit von der Uhr nehmen 143 <?page no="144"?> 1 https: / / www.dwds.de/ themenglossar/ Fußball genen Endrunde der 18. FIFA-Fußballweltmeisterschaft erschien, umfasste das Wörterbuch rund 2200 Wörtern und Wendungen; in der überarbeiteten 2. Auflage (Burkhardt 2022) kamen über 300 weitere Wörter und Wendungen hinzu. Zur Zielgruppe schreibt der Autor: Als Benutzer des Wörterbuchs habe ich mir in erster Linie diejenigen vorgestellt, die die deutsche Fußballsprache nur wenig beherrschen, z. B. Fußballlaien und Nicht- Muttersprachler, aber mitreden und vor allem: mitverstehen möchten. Die Fußballer und Fußballerinnen selbst und die Fußballfans wachsen dagegen in gewisser Weise mit dem Fußballwortschatz auf, und man muss ihnen das Meiste nicht erklären. Aber auch ihnen wird ein Blick ins Wörterbuch zeigen, wie reichhaltig die Fußballsprache ist und dass es etliche Wörter gibt, die auch ihnen weniger geläufig sind oder deren Bedeutung sie faktisch nicht genau genug kennen. (Burkhardt 2022: 9) DWDS-Fußballglossar Das DWDS-Fußballglossar 1 ist Teil des Informationssystems des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS, www.dwds.de). Es verzeichnet 1100 der wichtigsten Wörter und Wendungen aus dem Fachbzw. Sachgebiet des Fußballs. Es enthält sowohl unverzichtbare „Klassiker“ wie Abseits, Doppelpass oder Elfmeter als auch Wörter und Wendungen, die erst in jüngerer Zeit in Gebrauch gekommen sind und zumindest für interessierte Laiinnen und Laien nur zum Teil intuitiv verständlich sein dürften, wie beispielsweise Gegenpressing oder der bzw. die vierte Offizielle. Verzeichnet werden Wörter und Wendungen, • die ausschließlich im F UẞB AL L S P O R T bzw. allgemeiner dem B AL L S P O R T ver‐ wendet werden, wie beispielsweise die Doppelsechs, der falsche Neuner (beide nur im Fußball verwendet) oder chippen (welches vor allem im Golf‐ sport verwendet wird und auf den Fußball übertragen wurde, gleichzeitig aber auch eine Homographenlesart besitzt, i.S.v. ‘jdn./ etw. mit einem Chip als Datenträger kennzeichnen‘), • die neben der fachspezifischen auch eine allgemeinsprachliche Bedeutung haben, wie etwa der Querschläger, einnicken oder der Ausdruck zum Ab‐ schluss kommen), • die vorwiegend regional in Österreich oder der Schweiz verwendet werden, wie beispielsweise das Gurkerl, zangeln oder der Goalie. 144 Alexander Geyken <?page no="145"?> Der Zugriff auf die Einträge des DWDS-Fußballglossars erfolgt entweder in alphabetischer Form, über eine thematische Suche (z. B. Spieler, Matches, Tak‐ tiken) oder über ein freie Sucheingabe, die zu einer Suche in allen Einträgen des DWDS-Wörterbuch führt. Für jedes Wort im Glossar wird eine Bedeutungs‐ übersicht gegeben, bei der die Fußballlesart hervorgehoben ist und die anderen Bedeutungen des Wortes ausgegraut, aber noch lesbar sind. Jeder Glossareintrag ist mit dem zugehörigen Wörterbuchartikel des DWDS verknüpft. Man erhält darüber unmittelbar Zugriff auf die umfassenden lexikalischen Informationen des DWDS, insbesondere das DWDS-Wörterbuch mit seinen 250.000 Einträgen, die zeitliche und regionale Verteilung von Wortformen bzw. Mehrwortausdrü‐ cken sowie den Einblick in Belegzitate über die Recherche in den DWDS- Korpora. Vergleich beider Ressourcen In quantitativer Sicht ist zunächst festzustellen, dass das Wörterbuch der Fußballsprache weitaus mehr Einträge enthält als das DWDS-Fußballglossar. Mit 2500 Einträgen gegenüber 1100 ist es mehr als doppelt so groß. Allerdings zeigt die Durchsicht der im Fußballglossar nicht verzeichneten Einträge, dass a) viele dieser Begriffe zwar fußballbezogen sind, jedoch vergleichsweise leicht aus den Bedeutungen der einzelnen Bestandteile erschlossen werden können und damit über die Freitextsuche des Fußballglossars gefunden werden können. Dies lässt sich anhand der zahlreich im Wörterbuch der Fußballsprache verzeichneten Kompositareihen illustrieren, wie beispielsweise für Abwehr: Ab‐ wehrbollwerk, Abwehrchef, Abwehr-Hüne, Abwehrmann, Abwehrrecke, Abwehr- Riese, etc.; oder für Bundesliga: Bundesliga-Duell, Bundesligaprofi, bundesliga‐ reif, Bundesligasaison, Bundesligaspieler. All diese Wörter können durch einen Wortzerlegungsalgorithmus im DWDS in die jeweiligen Bestandteile zerlegt werden (also z. B. Abwehrbollwerk in Abwehr und Bollwerk usw.), die wiederum allesamt entweder im Fußballglossar selbst verzeichnet sind, wenn diese idio‐ matisch ist, oder aber im DWDS-Wörterbuch in ihren Bedeutungen hinreichend beschrieben sind; b) wiederum andere nur zu einem geringen Teil eine fußballspezifische Bedeutung haben. Beispiele hierfür sind Wörter wie aufholen, Aufholjagd oder auflaufen, die allesamt im DWDS-Wörterbuch verzeichnet sind. Sie verfügen jeweils über ein breites Bedeutungsspektrum mit einer oder mehr Lesarten im S P O R T B E R E I C H , aber über keine eigene ‘Fußballlesart’. Diese können ebenso über das freie Suchfeld des Fußballglossars, welches unmittelbar mit dem DWDS- Wörterbuch verlinkt ist, nachgeschlagen werden. Die Zeit von der Uhr nehmen 145 <?page no="146"?> In qualitativer Hinsicht verfolgt das DWDS-Fußballglossar einen etwas anderen Ansatz. Während im Fußballglossar alle Einträge in das allgemeine Bedeutungsgerüst der deutschen Allgemeinsprache eingeordnet sind, liegt der Fokus im Wörterbuch der Fußballsprache auf der Bedeutungserläuterung der Fußballlesart mit ggf. einem Bezug zur wörtlichen Lesart. Dieser Unterschied lässt sich gut am Wort Konter illustrieren. Das DWDS-Fußballglossar gibt hierfür insgesamt sechs Lesarten an, von denen allein fünf verschiedenen Sportarten zugeordnet werden können. Burk‐ hardt hingegen verweist in seinem Eintrag nur auf die Fußballlesart. • DWDS- Fußballglossar: „1. [Sport] im Kampfsport: (Technik zur) Abwehr eines gegnerischen Angriffs in Kombination mit einem Gegenangriff (a); 2. [Ballsport] Gegenangriff einer Mannschaft unmittelbar nach (Gewinn des Spielgeräts bei der) Abwehr eines gegnerischen Angriffs; 3. [Schach] Zug, mit dem ein gegnerischer Angriff abgewehrt und eine Attacke der eigenen Schachfiguren eingeleitet wird; 4. [Turnen] Synonym zu Konterschwung; 5. [selten] [ Jargon, Reiten] Synonym zu Kontergalopp; 6. [übertragen, umgangssprachlich] offensive Gegenreaktion auf eine (gegen die eigene oder eine nahestehende Person, Institution o. Ä. gerichtete) Handlung oder Äußerung“ • Wörterbuch der Fußballsprache: „kein Boxhieb o. Ringergriff, sondern: ein nach einem gegnerischen →Ballverlust schnell, überfallartig vorgetragener →Gegenangriff bzw. →Gegenstoß, meist über die →Flügel“ Im zweiten Teil des Eintrags Konter verweist Burkhardt auf die Wendungen Konter fahren, Konter kassieren, auf Konter lauern, in einen Konter laufen, einen Konter spielen. Diese Wendungen sind im Fußballglossar selbst nicht enthalten, dafür aber im zugehörigen Wörterbucheintrag des DWDS, auf die man vom Glossar aus mit einem Klick gelangt. Hier findet man für die Lesart 2 [B AL L S P O R T ] folgende Kollokationen, die allesamt aus den Korpora maschinell vorberechnet und vom Lexikographie-Team des DWDS vor der Publikation redaktionell geprüft und ausgewählt wurden: • mit Adjektivattribut: ein klassischer Konter; ein blitzschneller, blitzartiger, überfallartiger, gefährlicher, brandgefährlicher Konter; • als Akkusativobjekt: einen Konter starten, einleiten, ausspielen, abschließen, verwerten, verwandeln; einen Konter unterbinden • in Präpositionalgruppe/ -objekt: auf Konter lauern; [sich] auf Konter be‐ schränken; auf Konter umschalten 146 Alexander Geyken <?page no="147"?> Der zweite qualitative Unterschied besteht darin, dass alle Ressourcen im DWDS mit Wortstatistiken verknüpft sind, aus denen sich die zeitliche und örtliche Verteilung ableiten lässt. Auf die Nutzung der zeitlichen Entwicklungen gehen wir im nächsten Abschnitt ein. Zuvor wollen wir an einem Beispiel illustrieren, wie man die regionale Verteilung nicht nur beschreiben, sondern auch empirisch messen kann. Dazu nehmen wir das Wort Beinschuss, das im DWDS-Glossar definiert ist als der durch die Beine des Gegenspielers gespielte Pass oder Torschuss, und das österreichische Äquivalent Gurkerl. Letzteres wird in den beiden Ressourcen, wie folgt beschrieben: • DWDS-Fußballglossar: „1. [mundartlich, typisch für A, D-Südost (Alt‐ bayern)] kleine Essiggurke oder Gewürzgurke, 2. [mundartlich, Jargon, Fußball, A] Synonym zu Beinschuss (2)“ • Wörterbuch der Fußballsprache: „österr. für →Beinschuss“ Im DWDS ist es, wie bereits erwähnt, möglich, sich die räumliche Verteilung des Gebrauchs von Beinschuss (Abb. 1, linke Grafik) und Gurkerl (Abb. 1, rechte Grafik) in Deutschland, Österreich und der Schweiz anzeigen zu lassen. Auf der Karte werden insgesamt 8 Areale unterschieden (6 für Deutschland, jeweils eines für Österreich und die Schweiz). Die Aufretenshäufigkeit einer Wortform wird durch die Balken gemessen: je höher der Balken in einem Areal desto verbreiteter ist die Wortform in diesem Areal. Die Worthäufigkeiten wiederum werden aus einem über 10 Milliarden Text‐ wörtern großen Korpus ermittelt, dem ZDL-Regionalkorpus (Nolda et al. 2023). Das ZDL-Regionalkorpus enthält über 40 regionale Zeitungen, die über den gesamten geographischen Raum möglichst gleichmäßig verteilt sind, um die regionalen Besonderheiten möglichst gut abzubilden. Auf der Karte erkennt man, dass das Wort Beinschuss in Deutschland und der Schweiz, nicht aber in Österreich verbreitet ist. Bei Gurkerl verhält es sich umgekehrt. Die Zeit von der Uhr nehmen 147 <?page no="148"?> Abb. 1: Regionale Verteilung von Beinschuss und Gurkerl im ZDL-Regionalkorpus Entwicklungen des Fußballwortschatzes seit 2006 - einige Beobachtungen Armin Burkhardt hat die erste Auflage seines Fußballwörterbuchs für die Fußball-WM 2006 veröffentlicht. Mehr als 15 Jahre später machte er sich an die Überarbeitung der ersten Auflage, einerseits, weil neue Ausdrücke die Fußballsprache bereichert haben und nachgetragen werden mussten, wie beispielsweise das Umschaltspiel, der No-Look-Pass, oder der Videoassistent, andererseits, weil auch die Belegzitate nach 15 Jahren einer Aktualisierung bedurften. Die zweite Auflage erschien im Sommer 2022 und ist mit über 2500 Wörtern und Wendungen deutlich erweitert gegenüber der ersten Auflage, in der etwa 2200 Wörter und Wendungen verzeichnet sind. Eine semantische Klassifikation der seit 2006 neu hinzugekommenen Aus‐ drücke findet sich im Vorwort der zweiten Auflage nicht. Lediglich eine kurze Passage zur Bedeutung der Anglizismen in der Fußballsprache: Zwar fallen die direkten Entlehnungen aus dem Englischen (wie Foreche‐ cking/ Pressing, Scorpion-Kick, Top-Scorer oder Kick & Rush und natürlich die englischen Wettbewerbsbezeichnungen wie Champions oder Nations League) beson‐ 148 Alexander Geyken <?page no="149"?> ders auf, ihr Anteil am Gesamtwortschatz des Fußballs beträgt jedoch auch heute kaum mehr als ein Prozent. (Burkhardt 2022, Vorwort) Einerseits weist Burkhardt mit dieser Passage darauf hin, dass ein auffallend hoher Anteil des Fußball-Wortschatzes in den letzten 15-20 Jahren aus dem Englischen kommt, andererseits schätzt er den Gesamtanteil als nicht höher als 1 Prozent ein. Auch wenn man davon ausgeht dass der ursprünglich englische Fußballwortschatz in den 1870er und 1880er Jahren des 19. Jh. durch Konrad Koch „verdeutscht“ wurde und dies ebenso für die damit gebildeten Komposita gilt, so sind in den letzten Jahren doch so viele Anglizismen über die Medien „wieder eingewandert“, dass der Anteil von 1 Prozent zu gering erscheint. Wir haben dies anhand der für das DWDS aufgebaute, aber nur projektintern verwendeten Fußballwörter-Datenbank überprüft. Diese Datenbank, die fort‐ laufend seit 2021 erweitert wird, enthält insgesamt ca. 2900 Wörtern und Wendungen; etwa 170 davon sind Anglizismen, was einem Anteil von knapp 6-% entspricht. Eine andere Frage ist, wie gebräuchlich die Anglizismen sind, auch im Vergleich zu ihren deutschen „Vorgängern“ bzw. Synonymen. Das DWDS stellt für diese Fragestellungen mittlerweile sehr hilfreiche Hilfsmittel für die Wortstatistik bereit, die es ermöglichen, zeitliche Verläufe von Wortformen und Mehrwortausdrücken gemäß ihrer Häufigkeit darzustellen. Diese sogenannten Wortverlaufskurven basieren auf den Korpora des DWDS. Das meistgenutzte ist das „große“ Zeitungskorpus, welches die vollständigen digitalen Ausgaben von 47 Tages- und Wochenzeitungen enthält und einen Gesamtumfang von 25 Milliarden Textwörtern aufweist. Anhand der Wortverlaufskurven lässt sich ablesen, wie gebräuchlich das Wort in der Sprache ist, seit wann es vorkommt und vor allem, ob die Häufigkeit zunimmt, in etwa gleichbleibt oder abnimmt. Daraus lassen sich Merkmale, wie Neuprägung (Neologismus), veraltend oder veraltet ableiten. Besonders aufschlussreich ist es, wenn man zwei oder mehr nahe Synonyme miteinander vergleicht. Hierzu ein Beispiel: Die Wörter Elfmetertöter und Elfmeterkiller stehen für Torwarte, die den Ruf haben, Elfmeter besonders oft zu halten und dabei besonders nervenstark zu sein. Der Elfmetertöter war bereits in den 1970er Jahren im Gebrauch, der Elfmeterkiller hingegen laut den Korpora des DWDS erst in den späten 1980er Jahren. Abb. 2 (links), zeigt, dass der Anglizismus das ursprüngliche Wort überholt. Ein weiteres Beispiel für die Gebräuchlichkeit der in die Fußballsprache gekommen Anglizismen ist der One-Touch-Fußball, der spezifischer ist als die Ausdrücke Direktpassspiel oder (schnelles) Kurzpassspiel und diese sogar in der Gebrauchshäufigkeit verdrängt (s. Abb. 2, rechts). Die Zeit von der Uhr nehmen 149 <?page no="150"?> Jenseits der Anglizismen liegt die treibende Kraft der sprachlichen Verän‐ derung in der veränderten Art und Weise, wie Fußball praktiziert wird. Die Taktik hat sich stark weiterentwickelt, so dass auf Wörter wie Ausputzer oder Vorstopper heute nur noch verwiesen wird, wenn man beispielsweise anlässlich einer Welt- oder Europameisterschaft auf die vergangenen Heldentaten der eigenen Nationalmannschaft hinweisen möchte. Darunter fällt das „Wunder von Bern“, aber auch oder die Heim-WM 1974, die zumindest der Boomer- Generation noch im Gedächtnis ist. Aber das bedeutet nicht, dass diese Wörter noch genauso im Gebrauch sind wie vor 50 Jahren. Abb. 3 (links) illustriert die abnehmende Verwendungshäufigkeit von Vorstopper, und auch in der normali‐ sierten Frequenz liegt dieses Wort weiter hinter den Dreier- und Viererketten, die diese Position heutzutage ersetzen. Aus das folgende Zitat illustriert diesen Sachverhalt: Außerdem kannte [früher] jeder Fußballfan den Ausputzer, den Vorstopper, […], bevor er mit den Dreier- und Viererketten verschwand. [Die Welt, 25.08.2018] Ein weiteres Beispiel ist der Libero, (der ‚freie Mann‘ in einer Mannschaft, dem kein Gegenspieler zugeordnet ist), eine Position, die in Deutschland auf das engste mit Franz Beckenbauer verbunden ist, aber seit über 20 Jahren in der Spieltaktik keine Rolle mehr spielt. Dafür gibt es heutzutage die Doppelsechs, bei der der defensiv ausgerichtete Sechser die erste Station im Aufbau spielt. Abb. 2: links: Spielsysteme im Wandel: Vorstopper vs. Viererkette; rechts: Verlaufskurve von Gegenpressing 150 Alexander Geyken <?page no="151"?> 2 Das Ballsportkorpus (https: / / www.dwds.de/ d/ korpora/ ballsport) ist ein Webkorpus, umfasst ( Januar 2024) über 750 Tsd. Dokumente, u. a. aus Blogs, Nachrichtenportalen und Verbandsseiten. Das Korpus wird laufend aktualisiert. Abb. 3: links: Elfmetertöter vs. -Elfmeterkiller; rechts: Direktpasspiel vs. One-Touch- Fußball Ebenso führt die zunehmende Geschwindigkeit des Fußballspiels zu neuen Aus‐ drücken, die zum Teil sehr gebräuchlich in der Fußballsprache sind. Dies wird beispielsweise durch ein Wort wie Vollgasfußball dokumentiert, ein Begriff, der eng mit dem Spielstil des Erfolgstrainers Jürgen Klopp verbunden ist. Gemeint ist damit eine Spielweise, die auf hohem Tempo, aggressivem Pressing und schnellen Angriffen basiert. Ein anderes wichtiges Taktikkonzept ist der One- Touch-Fußball, eine Sonderform des Direktpassspiels, die darauf ausgerichtet ist, den Ball mit nur einem Kontakt weiterzugeben, um das Spiel zu beschleunigen. Beim Vergleich dieser beiden Wörter erkennt man, dass sich One-Touch-Fußball im Frequenzprofil der Korpora klar gegenüber dem Direktpassspiel durchgesetzt hat (s. Abb. 3, rechts). Ein weiteres Beispiel für einen solchen Vergleich ist das Umschaltspiel (seit 2000 im DWDS-Ballsportkorpus 2 belegt); der Umschaltfuß‐ ball hingegen erst seit 2011. Bis etwa 2006 war das Wort Startaufstellung üblich, seit über 10 Jahren wird dieses durch Startformation verdrängt. Auf diese Art und Weise ließen sich alle im Wörterbuch der Fußballsprache zwischen 2006 und 2022 neu verzeichneten Wörter und Wendungen untersu‐ chen, und man bekäme ein gutes Bild davon, wie neu und wie frequent ein Wort tatsächlich ist und mit welchen Synonymen es konkurriert. Burkhardt schreibt in seinem Vorwort, dass das Wörterbuch der Fußballsprache trotz des gegenüber der ersten Auflage deutlich erweiterten Umfangs von über 2500 Stichwörtern nicht lückenlos den gesamten deutschen Fußballwortschatz Die Zeit von der Uhr nehmen 151 <?page no="152"?> abbilden kann. Neue Begriffsschöpfungen oder einfach weitere neue Komposita können jederzeit gebildet werden. Exemplarisch habe ich das einmal für das Konzept des Pressings vorgenommen, welches eine wichtige Spieltaktik abbildet und daher in etlichen Varianten praktiziert wird. Extrahiert man beispielsweise im DWDS- Ballsportkorpus alle Komposita von Pressing, gelangt man zu folgenden Zusam‐ mensetzungen, die zwischen 250 und 8000 Vorkommen im Korpus aufweisen: Gegenpressing, Angriffspressing, Mittelfeldpressing, Abwehrpressing, Rückwärtspres‐ sing und Offensivpressing. Das Wörterbuch der Fußballsprache verzeichnet an der Stelle nur das Gegenpressing und das Angriffspressing. Zum Schluss sind wir noch die Auflösung für den seltsam anmutenden Ausdruck die Zeit von der Uhr nehmen schuldig. Dieser bedeutet so viel wie das Tempo aus dem Spiel nehmen bzw. auf Zeit zu spielen, die beide schon länger im Gebrauch sind. Die Wortverlaufskurven zeigen (Abb. 4), dass die neue Wendung an Gebrauchshäufigkeit zunimmt, aber doch noch weit unter dem klassischen auf Zeit spielen liegt. Abb. 4: auf Zeit spielen / Zeit von der Uhr nehmen 152 Alexander Geyken <?page no="153"?> ⚽️-⚽️-⚽️ Burkhardt, Armin. 2006. Wörterbuch der Fußballsprache. Göttingen: Werkstatt-Verlag. Burkhardt, Armin. 2022. Wörterbuch der Fußballsprache. Von abblocken bis Zweitligist. Arete Verlag, Hildesheim 2022 Geyken, Alexander. 2015. Kollokationen im Fußballwortschatz. Der Beitrag des DWDS- Wortprofils. In: Joachim Born & Thomas Gloning (eds.): Sport, Sprache, Kommunika‐ tion, Medien: Interdisziplinäre Perspektiven, 155-175. Gießen: Gießener Elektronische Bibliothek. Nolda Andreas, Adrien Barbaresi & Alexander Geyken (2023): Korpora für die lexiko‐ graphische Beschreibung diatopischer Variation in der deutschen Standardsprache. In Arnulf Deppermann, Christian Fandrych, Marc Kupietz & Thomas Schmidt (eds.), Korpora in der germanistischen Sprachwissenschaft: Mündlich, schriftlich, multimedial, 29-52. Berlin, Boston: De Gruyter. Die Zeit von der Uhr nehmen 153 <?page no="155"?> 1 Nachdem der vorliegende Beitrag fertiggestellt wurde (sozusagen nach Abpfiff), ver‐ öffentlichte Gillmann (2023) einen thematisch ähnlichen Artikel. Allen Lesenden, die sich tiefergehend mit dem Thema auseinandersetzen möchten, sei diese linguistische Aufarbeitung wärmstens empfohlen. Lukas Podolski, Birgit Prinz und Joseph Haydn Unbestimmt stehen sie für mehr Sascha Wolfer Wir schreiben das Jahr 2002 und die besten Herrenmannschaften messen sich in Südkorea und Japan bei der Fußballweltmeisterschaft. 1 In Deutschland wird der Bundestrainer zur Melodie von Guantanamera lauthals besungen: Ein’ Rudi Völler / es gibt nur ein’ Rudi Völler / ein’ Rudi Völlaaa hallt es durch alle Straßen. Ganz abgesehen davon, ob das stimmt - und man mag sich gar nicht ausmalen, welche Qualen die zweifelsohne vorhandenen Namensvettern des Bundestrainers damals über sich ergehen lassen mussten - behaupteten die Fans, dass es nicht zwei oder gar noch mehr Rudi Völlers gibt, sondern genau einen. Wir haben es hier also mit einer verkürzten Form von einen (in meiner Verschriftlichung signalisiert durch das Apostroph am Ende) zu tun. Wenn im Jahr 2005 der damalige ZDF-Sportchef Gruschwitz sagt, dass „ein Rudi Völler mit seiner Sympathie und Persönlichkeit […] natürlich ein Thema für den Sender“ (Berliner Zeitung, 14.02.2005) sei, ist das ein anderes ein, nämlich der omnipräsente unbestimmte Artikel: ein Mensch, ein Auto, ein Kuchen und ein Rudi Völler eben. Doch ob das tatsächlich alles dasselbe ist, und welche Funktion der unbestimmte Artikel vor Rudi Völler in der obigen Aufzählung eigentlich hat, dieser Frage möchte ich in diesem Beitrag nachgehen. Alles ganz einfach: Der unbestimmte Artikel Wann brauchen wir eigentlich - ganz generell - einen unbestimmten Artikel? Eine typische Definition finden wir im Grammatischen Informationssystem grammis <?page no="156"?> 2 Indefiniter Artikel. In: Leibniz-Institut für Deutsche Sprache: "Propädeutische Grammatik". Grammatisches Informationssystem grammis. DOI: 10.14618/ programm; https: / / grammis.ids-mannheim.de/ progr@mm/ 5231 [letzter Zugriff am 30.08.2023]. des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache: „Der indefinite (unbestimmte) Artikel ein/ eine dient dazu […], einen Gegenstand in einen Verwendungszusammenhang neu einzuführen, ihn zu konstituieren und dem Adressaten bekannt zu machen“ 2 . Anders ausgedrückt: Der unbestimmte Artikel führt eine Sache oder ein Lebe‐ wesen, über das bisher noch nicht gesprochen wurde, in das augenblickliche „Diskursuniversum“ ein. Wie im folgenden Beispiel: Konstanze und Simon spielten Fußball. Plötzlich kam ein Hund auf den Platz gelaufen und schnappte sich den Ball. Man könnte sagen, dass der ballklauende Hund aus dem Unbekannten in das Fußballspiel „hineinbricht“ - ähnlich einem Schauspieler, der die Bühne der Erzählung betritt. Ist dieser Hund einmal bekannt, werden wir auf ihn mit der Hund (also mit bestimmtem Artikel) verweisen. Unsere Geschichte oben könnten wir folgendermaßen fortsetzen: Der Hund war so schnell, dass ihm niemand den Ball wegnehmen konnte. Hier wäre der unbestimmte Artikel fehl am Platze, denn der Hund wurde bereits in den Diskurs eingeführt. Ähnliche Verwendungsweisen des unbestimmten Artikels lesen und hören wir vermutlich jeden Tag zigfach. Das Problem ist nur: So klar und einfach funktioniert das nicht, sobald Namen beteiligt sind. Komplizierter: Der unbestimmte Artikel mit Namen Wir sehen das bereits am Beispiel oben. Wenn ZDF-Sportchef Gruschwitz damit zitiert wird, dass „ein Rudi Völler […] natürlich ein Thema für den Sender“ sei, dann ist Rudi Völler zu diesem Zeitpunkt schon längst in den Diskurs eingeführt worden, nämlich früher im Artikel. Mehr noch: Dieser Satz würde gar nicht richtig funktionieren, wenn wir nicht wenigstens ansatzweise wissen würden, wer Rudi Völler überhaupt ist. Er befindet sich also bereits in unserem (breiteren) Diskursuniversum. Die „klassische“ Funktion des unbestimmten Artikels, nämlich dass Neues eingeführt wird, fällt also als Erklärung weg. Doch welche Funktion hat der unbestimmte Artikel dann vor Eigennamen? Schauen wir uns ein paar vergleichbare Beispiele an: Und wer weiß, ob da nicht vielleicht ein kleiner Lukas Podolski oder eine Birgit Prinz darunter sind? (Braunschweiger Zeitung, 05.09.2009, Thema: Ein Kleinfeldtur‐ nier für Grundschüler und -schülerinnen in Leiferde) Bei den Gästen fehlt ein Patrick Hermann für das schnelle Konterspiel natürlich. (Live‐ ticker von weltfussball.de, 04.03.2012, 1. FC Nürnberg gg. Borussia Mönchengladbach) 156 Sascha Wolfer <?page no="157"?> 3 Der Franz, der Beckenbauer oder ein Beckenbauer? — Artikelgebrauch bei Eigennamen. In: Leibniz-Institut für Deutsche Sprache: "Grammatik in Fragen und Antworten". Grammatisches Informationssystem grammis. DOI: 10.14618/ grammatikfragen; https: / / grammis.ids-mannheim.de/ fragen/ 34 [letzter Zugriff am 30.08.2023]. Und wenn man die U20 oder die U19 sieht, da kommt auch nicht viel Qualität und Quantität im Sturm nach. Man müsste es schaffen, dass jedes Jahr Podolskis oder ein Mario Gomez nachrücken. (Hamburger Morgenpost, 01.07.2009) und das schlimmste ist dass sich eine jenni hermoso jetzt sicher ganz elend fühlt obwohl sie zu 1000 prozent im recht ist und ein rubiales sich mit seinen dudes den arsch ablacht (Misandra auf Twitter/ X am 28.08.2023, https: / / twitter.com/ LaraLeni1/ status/ 1696155315098497084 [letzter Zugriff am 31.08.2023]) Teilweise finden sich auch erstaunliche Aneinanderreihungen dieses Phäno‐ mens: Die meisten Spieler haben deswegen ein recht klares Profil in ihrem Offensivver‐ halten: Ein Özil, der offene Räume sucht. Ein Cristiano Ronaldo, der immer wieder steil geht. Ein Thiago, der die Verbindungen zwischen seinen Mitspielern herstellt und das Spiel macht. Ein Sven Bender, der als Sechser hauptsächlich Kontermöglichkeiten absicherte. (https: / / spielverlagerung.de/ 2017/ 12/ 17/ tuerchen-1 7-henrikh-mkhitaryan/ [letzter Zugriff am 31.08.2023]) Ihr Sprachgefühl sagt es Ihnen vermutlich schon: In all diesen Beispielen könnte man den unbestimmten Artikel „ein“ ersetzen durch „eine/ r wie“ oder „so jemand wie“. Auf grammis wird auch diese Funktion beschrieben: Durch die Voranstellung eines unbestimmten Artikels erhalten die Eigennamen „den Rang eines Gattungsnamens“ 3 . Noch ausführlicher könnte man bspw. paraphrasieren: „so eine, wie Birgit Prinz eine ist“. Belege dieser Art sind nicht auf den Fußballkontext beschränkt. Auch in den folgenden Beispielen kann der unbestimmte Artikel mit „eine/ r wie“ ersetzt werden. Im wesentlichen konzentrieren sich die Symphonikern [sic] auf ein Repertoire zwischen Mozart und Richard Strauss. Fehlt da nicht etwa ein Joseph Haydn? (Nürnberger Nachrichten, 06.08.2009) Der Schriftsteller sagte zum Auftakt seiner "politischen Lesereise" in Berlin: "Euch fehlt ein Herbert Wehner im Hintergrund. Ich kann ihn nicht ersetzen, aber ich werde es wenigstens versuchen." (Nürnberger Nachrichten, 09.09.2009) Lukas Podolski, Birgit Prinz und Joseph Haydn 157 <?page no="158"?> 4 Nicht immer ist dieser Einsatz des unbestimmten Artikels mit einer positiven Charak‐ terisierung verbunden. So bspw. in der Berliner Zeitung vom 23.02.2005: Ihre Bedingung ist eine Asymetrie der Schwäche. Ein Osama Bin Laden oder ein afrikanischer Warlord kann nicht einfach einen Flugzeugträger bauen. Er kann nur einen terroristischen Krieg führen. Hier wird wohl eher auf die Eigenschaft von Osama Bin Laden als nichtstaatlicher Akteur bzw. als Terroristenführer abgehoben. 5 Diese Zitate kann ich nicht mit eindeutigen Quellen (z. B. Datumsangaben von Inter‐ views) belegen. Allerdings werden sie auf einer Vielzahl von Internetseiten repliziert Eine Madonna haut so schnell nichts um… (queer.de auf Twitter/ X am 10.07.2023, h ttps: / / twitter.com/ queer_de/ status/ 1678370260670468096) Das Prototypen-ein Der unbestimmte Artikel befördert all diese Namen (bzw. die bezeichneten Personen) in den Rang eines Gattungsnamens. Man könnte auch sagen, dass die Person für mehr als nur sie selbst steht - und zwar meist im positiven Sinne. 4 Die Person selbst steht für eine Klasse von Personen, die so ist wie die Person selbst. Das erinnert an die Prototypensemantik, die sich an die von Eleanor Rosch entwickelte Prototypentheorie (Rosch 1973; Rosch et al. 1976) anlehnt, weshalb wir diese Verwendung als „Prototypen-ein“ bezeichnen möchten. Einer der zentralen Gedanken der Prototypentheorie ist, dass die Zugehörigkeit von Dingen (oder weiter gefasst: Entitäten) zu Kategorien graduell, das heißt abstufbar, ist. Man kann nicht immer klar entscheiden, zu welcher Kategorie ein Ding gehört: Sind Avocados Obst oder Gemüse? Ist ein Delphin ein Fisch? Ist ein Pinguin ein Vogel? Gleichzeitig, und daher stammt der Name der Theorie, gibt es in jeder Kategorie Vertreter, die sehr zentral sind: die sogenannten Prototypen (Apfel für Obst, Hering für Fisch, Amsel für Vogel). Beziehen wir das auf die Beispiele oben, kann man sagen: Die Namen, die auf den unbestimmten Artikel folgen, stehen prototypisch für eine größere Kategorie, zum Beispiel besonders spielstarke Fußballerinnen oder Fußballer, durchsetzungsstarke und charisma‐ tische Politikerinnen und Politiker oder berühmte Popikonen. Die Attribute, die dieser Klasse zugeschrieben werden (spielstark, berühmt, durchsetzungsstark, charismatisch, künstlerisch hochbegabt usw.) werden interessanterweise dabei meist nicht genannt, denn die Person, deren Name genannt wird, verkörpert diese Eigenschaften. Was die Kategorie eigentlich genau ausmacht, wird meist nur implizit ausgedrückt, muss von den Leserinnen und Lesern also geschluss‐ folgert („inferiert“) werden. Besonders auffällig wird es dann, wenn eine Person von sich selbst als ein + Eigenname spricht. Wahrlich meisterhaft beherrscht dies Lothar Matthäus, dem Zitate wie die folgenden nachgesagt 5 werden: 158 Sascha Wolfer <?page no="159"?> (bspw. https: / / www.t-online.de/ sport/ fussball/ id_45061636/ bilder/ die-besten-sprueche -von-lothar-matthaeus.html [letzter Zugriff am 06.10.2023]). 6 Zugegeben: Diese Stilblüte stammt nicht von Lothar Matthäus, sondern von Bruno Labbadia (siehe https: / / www.spiegel.de/ sport/ fussball/ fussballer-im-sprachgewirr-ich -gratuliere-die-bayern-a-575872.html) Ein Lothar Matthäus gehört in den Sportteil und nicht auf die Klatschseiten. Ein Lothar Matthäus kann es sich nicht leisten, sich zu blamieren. Ein Lothar Matthäus lässt sich nicht von seinem Körper besiegen, ein Lothar Matthäus entscheidet selbst über sein Schicksal. Der zweifellose Cringe-Faktor (das Fremdschämpotential) dieser Äußerungen stammt wohl zu einem guten Teil daher, dass hier jemand versucht, sich selbst in den Rang eines Gattungsnamens und somit zu einem prototypischen Vertreter seiner Zunft „hochzusterilisieren“ 6 . Zu Matthäus‘ Verteidigung muss aber angeführt werden, dass natürlich auch Fußballer die Sprache wahrnehmen, mit der über sie berichtet wird. Und vielleicht ist deshalb der Weg zur derartigen Selbstbezeichnung nicht mehr weit, wenn man oft genug liest oder hört, wie ein + Eigenname im Fußballzusammenhang benutzt wird. Das Werk-ein Doch steht der Name nach dem unbestimmten Artikel wirklich immer prototy‐ pisch für eine größere Kategorie? Sicher haben Sie eine solche Verwendung schon einmal gehört: Im Prinzip, sagt Stenger, ließe sich mit diesem Verfahren auch ein Rembrandt oder ein Michelangelo restaurieren: "Vorausgesetzt natürlich, Sie wissen, wie das Bild einst ausgesehen hat." (Der Spiegel, 17.11.2014) Es liegt auf der Hand, dass es hier nicht darum geht, dass konkrete Personen restauriert werden sollen, sondern - wie es schon der Inhalt der direkten Rede verrät - Bilder, die von diesen Personen gemalt wurden (zur Frage, ob z. B. bei einem Werk von Frida Kahlo ‘ein’ oder ‘eine’ stehen müsste, siehe Hansen, Lang & Volodina im Erscheinen). Hier steht also Rembrandt nicht für die Kategorie „große Künstler*innen“ oder ähnliches, sondern der Name steht stellvertretend für das Werk des konkreten Künstlers - mehr noch: für ein ganz bestimmtes Gemälde. Noch deutlicher kommt das hier zum Ausdruck: Spitzenstück der Ausstellung, mit Leihgaben der berühmten St. Petersburger Ere‐ mitage und anderer internationaler Museen, ist ein Rembrandt. (Nordkurier, 11.03.2013) Lukas Podolski, Birgit Prinz und Joseph Haydn 159 <?page no="160"?> Während beim Prototypen-ein der Name als Paradebeispiel für eine größere Kategorie und damit für mehr als nur die benannte Person steht, ist hier nur ein ganz bestimmtes Werk der genannten Person gemeint. Wir könnten das das „Werk-ein“ nennen. Und da große Fußballspieler und -spielerinnen natürlich auch immer ein bisschen Künstlerinnen oder Künstler sind (oder zumindest zu solchen „hochgeschrieben“ werden), lässt sich eine ähnliche Verwendung auch für einen der ganz Großen finden: Doppelpass mit Higuaín, vorbei an drei Gegenspielern, Ball vom rechten Fuß auf den linken Fuß, strammer Flachschuss vom linken Strafraumeck gegen die Innenseite des linken Pfostens und ins Tor. 2: 0, 65. Minute. Ein echter Messi, mitten im Maracan-. (Süddeutsche Zeitung, 17.06.2014) Beim Werk-ein steht somit gar nicht die Person selbst im Mittelpunkt, sondern etwas, das diese Person geschafft oder geschaffen hat. Man sagt, dass z. B. „ein Rembrandt“ in metonymischer Beziehung zum eigentlich Bezeichneten steht (ähnlich wie „Washington“ für die US-Regierung stehen kann oder „ein Teller“ für eine Mahlzeit). Ein weiterer Unterschied ist, dass das Prototypen-ein - wie der Name schon sagt - für eine größere Kategorie oder Klasse steht. Das ist beim Werk-ein nicht der Fall: Hier ist meist ein ganz bestimmtes Werk gemeint und weniger die Menge alle Werke. Fasst man den Begriff des Werks etwas weiter, lohnt sich ein kurzer Exkurs zum bestimmten Artikel und dessen Kombination mit Eigennamen und dem Verb „machen“. Schauen wir uns die folgenden Beispiele an: Schöne Schauspieleinlage von Tranquillo Barnetta. Der Schweizer macht den Andy Möller und fällt ohne von Kessler berührt zu sein theatralisch zu Boden. (Liveticker von weltfussball.de, 13.11.2010, FC St. Pauli gg. Bayer Leverkusen) Eggimann macht den Lucio, tankt sich über mehrere Stationen nach vorne. (Liveti‐ cker von weltfussball.de, 07.11.2010, Hannover 96 gg. Borussia Dortmund) Chris macht den Lucio und läuft unbedrängt mit dem Ball am Fuß 40, 50 Meter weit in die Mainzer Hälfte. (Liveticker von weltfussball.de, 05.12.2009, Eintracht Frankfurt gg. FSV Mainz 05) Andreas Möllers „Schutzschwalbe“ vom 13. April 1995 wird wohl ewig mit seinem Namen verbunden bleiben - und wird somit im obigen Beispiel klar als sein unvergessliches „Werk“ referenziert. Interessant sind auch die beiden Beispiele, in denen Lucio auftaucht. Hier wird nicht auf ein so eindeutig identifizierbares singuläres Werk wie Möllers Schwalbe Bezug genommen, sondern eher auf eine Spielweise bzw. die unwiderstehliche Art, wie Lucio in die 160 Sascha Wolfer <?page no="161"?> gegnerische Hälfte eindringt. Solcherlei Beispiele finden sich noch einige mehr, so bspw. unter Bezugnahme auf Manuel Neuer (als Torhüter stark dem Stürmer entgegengehen), Frank Mill (aus wenigen Metern über das Tor schießen) und Mario Basler (einen Eckball gefährlich in Richtung Tor zirkeln). Doch wir schweifen ab vom eigentlichen Thema dieses Beitrags, nämlich dem unbestimmten Artikel. Dieser kann, wie oben gezeigt, in seiner Funktion als Werk-ein in Kombination mit einem Eigennamen benutzt werden, um auf ein Werk der genannten Person zu referieren. Das gewisser-ein Doch auch das beschreibt noch nicht alle Funktionen von ein + Eigenname erschöpfend. Schauen wir uns die folgenden Beispiele einmal genauer an. In dem Brief fordert ein "Carl Hoffmann" von der "Rechtsabteilung" auf, endlich den "25000 Euro Bar-Anteil-Gewinn" abzurufen. (Rhein-Zeitung, 19.12.2002) Eine Anna Ilg beobachtete an Pfingsten 1664, wie katholische Söldner in Lipperswil vor der Kirche lärmten und mit ihren Degen fuchtelten. (St. Galler Tagblatt, 30.01.2009) Bei der 70jährigen Margaret Whitman meldete sich ein Vince von der Firma Jay Enterprises und fragte, ob sie sich an ihn erinnere. (Berliner Zeitung, 20.04.1999) Das letzte Beispiel ist der oben zitierten grammis-Seite entnommen, wo argu‐ mentiert wird, dass auch „Vince“ hier durch den unbestimmten Artikel zum Gattungsnamen wird, also für die „Menge derer, die Vince heißen“ steht. Selbst wenn man dieser etwas bemüht wirkenden Beschreibung folgen will, steht doch zumindest eine andere Funktion eher im Vordergrund. Diese wird hoffentlich deutlicher, wenn man - und das ist meines Erachtens möglich - in all diesen Bei‐ spielen „ein/ e“ durch „ein/ e gewisse/ r“ ersetzt. Interessanterweise wird hier die ganz zu Beginn eingeführte und völlig alltägliche Funktion des unbestimmten Artikels wieder aktuell, denn es werden neue und bisher unbekannte Akteure ins Diskursuniversum eingeführt - oft mit einem negativen oder verächtlichen Beigeschmack, in den Beispielen besonders bei „Carl Hoffmann“ und Vince. Während also bei Prototypen-ein und Werk-ein die „klassische“ Funktion des unbestimmten Artikels, Neues in den Diskurs einzuführen, verblasst, scheint sie hier wieder deutlich durch. Dass der Name hier für etwas anderes steht (eine größere Kategorie oder ein Werk) ist nicht zu erkennen. Wir könnten diese Funktion das „gewisser-ein“ nennen. In der Fußballsprache könnte das gewisser-ein bspw. dann eingesetzt werden, wenn von einem bisher völlig Lukas Podolski, Birgit Prinz und Joseph Haydn 161 <?page no="162"?> 7 Eine weitere häufige Kombination aus unbestimmtem Artikel und Eigennamen könnte man das „Auto-ein“ nennen, das aber einigermaßen uninteressant ist und deshalb hier nicht näher besprochen wird. Das sind Belege der Art „Ein unbekannter Täter hat einen Opel Vectra beschädigt, der auf einem Parkstreifen in der Wilhelmstraße in Diez abgestellt war“ (Rhein-Zeitung, 08.04.2009). Das Auto-ein kommt auch mit Namen von Weinen vor: „Bei unserem Besuch wählten wir einen Lezaun Crianza aus Navarra, eine kräftige Assemblage aus Tempranillo, Merlot und Cabernet-Sauvignon.“ (St. Galler Tagblatt, 07.05.2009). Die Namen nach dem Auto-ein sind ganz eindeutig Gattungsnamen, was sie mit dem Prototypen-ein gemeinsam haben. Allerdings ist hier der Name nach dem ein nicht der typischste Vertreter aus einer größeren Kategorie, der implizit bestimmte Charakteristiken zugeschrieben werden. 8 Dieses Beispiel stammt aus den Livetickern von weltfussball.de vom 27.10.2009, SpVgg Greuther Fürth gg. den VfB Stuttgart. Für den Zugang zu diesem Datensatz danke ich Simon Meier-Vieracker. unbekannten Spieler gesprochen wird, der sich in einem Spiel unerwartet durch großartige Leistungen hervortut, etwa wie im folgenden (erdachten) Beispiel: Und dann macht ein Stefan Hauser den Topspielern vom FC Bayern plötzlich die größten Probleme. Solche Verwendungen aus dem Bereich des Fußballs sind aber entweder gar nicht oder nur sehr selten zu finden. Eine ein-Typologie Für die Kombination aus unbestimmtem Artikel und Namen haben wir nun also die Funktionen Prototypen-ein, Werk-ein und gewisser-ein identifiziert. 7 Tabelle-1 fasst die bisherigen Ergebnisse knapp zusammen. ein-Typ typischer Beleg Personen‐ bezug charakteri‐ siert Kate‐ gorie Konnotation Prototypen So ein Mario Gomez wäre jetzt ganz praktisch für die Schwaben. 8 ja ja eher positiv Werk Spitzenstück […] ist ein Rembrandt nein nein neutral gewisser ein „Carl Hoff‐ mann“ von der „Rechtsabteilung“ ja nein eher negativ Tabelle 1: Kategorisierung der Funktionen von ein in Kombination mit Eigennamen 162 Sascha Wolfer <?page no="163"?> Das Rätsel Doch gerade in der Fußballsprache finden sich immer wieder Belege, die sich einer Einordnung in das in Tabelle 1 gezeigte Schema zu entziehen scheinen: Ein Lionel Messi, der die Torschützenliste der «Königsklasse» mit acht Treffern anführt, blieb blass. Die genialen Pässe eines Xavi Hernandez verfehlten meist ihre Wirkung. (St. Galler Tagblatt, 29.04.2009) Dass zum Beispiel ein Mohammed Abdellaoue auch auf dem Platz steht, ist nur auf dem Spielberichtsbogen zu erkennen. Vom Norweger war noch überhaupt nichts zu sehen. (Liveticker von weltfussball.de, 22.02.2014, VfB Stuttgart gg. Hertha BSC Berlin) Abseits! Ein Xabi Alonso setzt zum weiten und präzisen Schlag Richtung Robben an, doch der Niederländer ist dabei einen Tick zu früh gestartet. (Liveticker von kicker.de, 21.11.2015, FC Schalke 05 gg. FC Bayern München) Schwache Aktion von Ricardo Costa. Eine Finte, ein Tunnel und ein Ricardo Costa, der nur noch den Knöchel von Aguirre im Visier hat und diesen volle Kanne trifft. (Liveticker von sport.de, 20.11.2016, FC Luzern gg. FC Lugano) Wie könnte in all diesen Beispielen der unbestimmte Artikel vor den jeweiligen Namen motiviert sein? In keinem dieser Beispiele ist eindeutig erkennbar, dass die jeweilige Person wie beim Prototypen-ein für eine größere Kategorie steht. Das ein könnte in jedem Beispiel ohne Verlust weggelassen werden. Das wird im ersten und letzten Beispiel ganz besonders deutlich, weil sich der angeschlos‐ sene Relativsatz eindeutig auf die jeweilige Person in einer bestimmten Situation (Messi, der die Torschützenliste anführt sowie Costa, der nur noch den Knöchel im Visier hat) bezieht. Abdellaoues individuelle Leistung wird im nachfolgenden Satz ganz individuell bewertet, und auch Alonso wird in einer ganz bestimmten Spielsituation angesprochen: Sein Pass auf Robben ist zwar präzise, kommt aber nicht an. Haben wir es also mit einem Werk-ein zu tun? Das lässt sich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Und auch das gewisser-ein liegt zumindest für Messi, Alonso und Costa aufgrund ihres Bekanntheitsgrads nicht gerade nahe. Nun könnte man annehmen, dass diese und ähnliche Beispiele einfach daher stammen, dass das in der Fußballsprache so häufig verwendete Prototypen-ein „durchsickert“ auf andere Verwendungen, wo es eigentlich fehl am Platz ist. Doch diese Erklärung wäre etwas unbefriedigend, weil sie nach einem einfachen Ausweg aus einem linguistischen Rätsel klingt. Daher möchte ich hier eine Hypothese in den Raum stellen, die allerdings noch empirisch überprüft werden Lukas Podolski, Birgit Prinz und Joseph Haydn 163 <?page no="164"?> müsste: Es gibt noch eine weitere Funktion von ein + Eigenname, die besonders in der oft emotional aufgeladenen Fußballsprache relevant wird. Diese Funktion könnten wir in Ermangelung einer besseren Alternative das „ausgerechnet-ein“ nennen. Verwendet eine Autorin oder ein Autor das ausgerechnet-ein, wird dabei vom Prototypen-ein die Eigenschaft geliehen, dass ein ganz vorzüglicher Vertreter einer bestimmten Kategorie genannt wird (bspw. Lionel Messi als ein herausragend begabter Musterfußballer). Beim ausgerechnet-ein steht der Name aber nicht für eine größere Kategorie, sondern es ist tatsächlich nur Lionel Messi gemeint - und ausgerechnet dieser Lionel Messi, der auch noch die Torschützenliste anführt, blieb blass. Anders formuliert: Durch das ein wird eine bestimmte Fallhöhe für das Individuum geschaffen und der Text wird dadurch emotionalisiert (eine wichtige Eigenschaft von Fußballsprache). Diese Fallhöhe macht dann die individuelle negative Leistungsbeschreibung noch „vernich‐ tender“. Dieses Prinzip funktioniert für alle der oben aufgeführten Beispiele (hier etwas übertrieben paraphrasiert): Ausgerechnet vom so hochgelobten Mohammed Abdellaoue war noch überhaupt nichts zu sehen. Ausgerechnet der große Ricardo Costa, der sonst so ein feiner Fußballer ist, hat es auf die Knöchel des Gegners abgesehen und trifft diese volle Kanne. Nur Xabi Alonso kann eigentlich gar nichts dafür, dass sein Steilpass nicht ankommt, denn es war eigentlich Arjen Robben, der zu früh gestartet ist - trotzdem: Der Pass kommt eben nicht an. Wie oben bereits erwähnt ist das eine erste Hypothese, die durch empirische Daten untermauert werden müsste. Dabei hilft es vermutlich wenig, noch wei‐ tere Belege zu sammeln, denn die Wirkung, die das postulierte ausgerechnet-ein auf die Leser*innen (vielleicht) hat, lässt sich daraus nicht direkt ablesen. Sinnvoller wäre ein Verarbeitungsexperiment, in dem vielen Personen „Mini‐ malpaare“ von Sätzen vorgelegt werden und diese dann verschiedene Dinge einschätzen sollen. Ein solches Minimalpaar könnte sein: Ein Lionel Messi, der die Torschützenliste der «Königsklasse» mit acht Treffern anführt, blieb blass. versus Lionel Messi, der die Torschützenliste der «Königsklasse» mit acht Treffern anführt, blieb blass. Sollte es tatsächlich so etwas wie ein ausgerechnet-ein mit der oben beschrie‐ benen emotionalisierenden Wirkung geben, müssten Menschen, die den un‐ teren Satz lesen, auf die Frage „Bewerten Sie auf einer Skala von 0 bis 10 die Leistung von Lionel Messi im beschriebenen Spiel“ zwar eher niedrige 164 Sascha Wolfer <?page no="165"?> Werte angeben, jedoch leicht höhere als für den ersten Satz. Denn dort wird (so zumindest die Hypothese) durch das kleine Wörtchen ein eine Fallhöhe für Lionel Messi als Individuum geschaffen, ein hoher Anspruch, dem er in diesem Spiel nicht genügen konnte. Eine alternative Frage könnte sein: „Wie überrascht sind wohl die Leserinnen und Leser von der Leistung Lionel Messis? “ Verdeutlicht der unbestimmte Artikel im ersten Satz tatsächlich eine größere Fallhöhe, müssten die „Überraschungswerte“ für diesen Satz höher sein als für den zweiten. Wie auch immer solch ein Experiment ausgeht und welche Folgen das für die Theorie vom ausgerechnet-ein hat, eines wird nach wie vor für alle Zeiten gelten: Es gibt nur ein‘ Rudi Völler. ⚽️-⚽️-⚽️ Hansen, Sandra & Lang, Christian & Volodina, Anna. im Erscheinen. ‘Hänge nie einen Pollock neben ein(e/ -en) Kahlo! ’: Genusunsicherheiten bei Referenz auf Werke weib‐ licher Kunstschaffender. Linguistische Berichte. Rosch, Eleanor H. 1973. Natural categories. Cognitive Psychology 4(3). 328-350. Rosch, Eleanor H., Carolyn B. Mervis, Wayne D. Gray, David M. Johnson & Penny Boyes- Braem. 1976. Basic objects in natural categories. Cognitive Psychology 8(3). 382-439. Lukas Podolski, Birgit Prinz und Joseph Haydn 165 <?page no="167"?> 1 Ich stütze mich in diesem Beitrag zum Teil auf Überlegungen, die ich bereits in einem früheren Text (Linke 2009a) vorgelegt habe. Sieg! Zur Geschichte eines Emotionsdisplays 1 Angelika Linke Zwischen den beiden im Folgenden wiedergegebenen Fotographien liegen 60 Jahre Fussballgeschichte. Die erste dokumentiert das «Wunder von Bern», den Sieg der deutschen Mannschaft an der Weltmeisterschaft 1954, die zweite den WM-Sieg der deutschen Mannschaft 2014 in Rio de Janeiro. Die beiden Fotographien dokumentieren gleichzeitig 60 Jahre Emotionsge‐ schichte - vom erschöpften Ernst im oberen zum triumphierenden Jubel im unteren Bild. Abb. 1: WM 1954. Bundestrainer Sepp Herberger, Kapitän Fritz Walter mit Pokal und Torwart Toni Turek nach dem Sieg. <?page no="168"?> 2 Ich gehe hier nicht auf die konzeptuellen Unterschiede ein, welche von emotions‐ psychologischer Seite mit terminologischen Differenzierungen, also etwa zwischen Emotion, Gefühl, und Affekt verbunden werden, sondern erlaube mir die weitgehend synonyme Verwendung von Gefühl und Emotion. Abb. 2: WM 2014. Die Sieger-Mannschaft. Kapitän Philipp Lahm mit Pokal. Diese Veränderungen im Ausdruck bzw. in der Zurschaustellung von Sieges‐ gefühlen sind der Gegenstand dieses Beitrags. Einige grundsätzlichere Überle‐ gungen zum Verhältnis von Emotionen und Körperzeichen schicke ich voraus. Körperzeichen Während Sprache als das zentrale Medium menschlicher Kognition gilt, schreiben wir den Ausdruck von Emotionen in erster Linie dem Körper zu. Dies gilt sowohl in alltäglichen wie auch in wissenschaftlichen Kontexten. Bestimmte Körperdisplays - sehr häufig komplexe Kombinationen von Mimik, Körperhaltung und Gestik - erscheinen uns als direkte, wenn auch nicht immer eineindeutige Korrelate bestimmter Gefühle 2 , als deren für andere wahr‐ nehmbarer und wiedererkennbarer spontaner Ausdruck. Diese Lesbarkeit des menschlichen Körpers durch andere ist ein wesentliches Element menschlicher Sozialität (De Jaegher 2015). Die Zeichenrelation, die wir hier, bewusst oder unbewusst, im Regelfall an‐ setzen, ist eine symptomatisch-indexikalische. Das heisst, wir deuten äusserlich wahrnehmbaren Körperausdruck - etwa Händezittern - als metonymisch mit einem innerlichen Gefühl - in diesem Fall etwa Nervosität - verbunden. Wir behandeln Körperzeichen also diagnostisch, so wie wir bestimmte Rötungen der Haut als Anzeichen einer Krankheit verstehen, in diesem Fall also etwa Masern. Diese enge Koppelung von Körperzeichen und Befinden, die uns allen als Erfahrungswert vertraut ist, mag einer der Gründe sein, weshalb 168 Angelika Linke <?page no="169"?> 3 Wortbildungen wie anlächeln/ anlachen oder zulächeln signalisieren den starken Ad‐ ressierungs- und damit auch den überaus sozialen Charakter des entsprechenden Emotionsausdrucks in allen seinen Schattierungen. wir indexikalische Körperzeichen als unmittelbaren, ‚echten‘ Ausdruck von Emotionen verstehen. Die Zeichenkraft des Körpers ist allerdings nicht auf solche Index-Zeichen beschränkt. Wir kennen auch stark konventionalisierte symbolische Zeichen, wie etwa den hochgereckten Mittelfinger als Beleidigungsgeste, die, wie auch in diesem Fall, oft einen ikonischen, also bildhaften Anteil haben. Diese Zeichen‐ typen unterstehen sehr viel stärker unserem bewussten Zugriff, wir können sie gewollt einsetzen und, wenn auch nicht in jedem Fall und auch nicht immer vollständig, unterdrücken (Kendon 2013). Ein weiteres Charakteristikum körperlichen Emotionsausdrucks ist dessen zeitliche Ausdehnung. Wir haben es mit einer Abfolge von Einsetzen, An‐ schwellen, Abklingen und Aufhören von Muskelspannungen und oft auch mit einer spezifischen Bewegungsdynamik zu tun. Dabei sind stark konventionalisierte, emblematische Körper-Zeichen (Ekman&Friesen 1972, 1975, Teßendorf 2013) wie etwa das Victory-Zeichen, militärisches Strammstehen oder die tiefe Verneigung meist ‚Haltezeichen’, d. h. Körpergesten, die für einen kurzen Moment und soweit dies dem lebendigen Körper überhaupt abzuverlangen ist, zu einem ‚Bild’ eingefroren werden, welches sich dann auch in stilisierter graphischer Form wiedergeben lässt. Emojis machen hiervon ausgiebigen Gebrauch. Ausdruck, Willkür und Kommunikation Doch nicht alle körperlichen Ausdrucksformen sind kommunikativ intendiert und an andere adressiert. Zumindest auf den ersten Blick unterscheiden sich hier die unwillkürlichen, indexikalisch lesbaren Visualisierungen des Körpers von willkürlichen, kommunikativ intendierten und meist auch stärker konven‐ tionalisierten Körperzeichen. Daher die Erwartung, dass erstere auch erfolgen, wenn kein wahrnehmendes Gegenüber vorhanden ist, letztere jedoch nicht. Sehr viele unserer Emotionsdisplays liegen allerdings in einem Zwischen‐ feld (Damasio 2003, Müller 2013). Wenn wir lächeln, ist das zwar meist an ein Gegenüber gerichtet, ab und an lächeln wir aber auch ganz alleine vor uns hin, als Folge einer momentanen positiven Gefühlsregung. Zudem sind manche Emotionsdisplays von den zugehörigen Gefühlen ablösbar: Wir können jemanden erfreut anlächeln 3 , ja sogar laut lachend Erheiterung und gute Laune zeigen, ohne solche Gefühle tatsächlich zu empfinden (Krumhuber et al. 2013). Sieg! 169 <?page no="170"?> Doch in allen Fällen, ‘echt’ oder ‘unecht’ oder irgendwo dazwischen, nehmen wir das, was wir anderen an unserem Körper visuell zu erkennen geben, immer auch selbst - propriozeptiv - wahr: Wir sind Akteure und Material unseres Emotionsausdrucks in einem. Körperzeichen, ob sie kommunikativ an ein Gegenüber adressiert sind oder nicht, sind deshalb nie ohne Rückschlag auf das Selbsterleben. Bei Körperzeichen ist zudem davon auszugehen, dass sie von einem Gegen‐ über wie auch von nicht-adressierten Dritten nicht nur ‚gelesen’, sondern zumindest zum Teil auch ‚empfunden’ werden: Sie lösen Mit-Gefühl aus (De Ja‐ egher 2015). Körperlicher Emotionsdisplay verfügt über eine Ansteckungskraft, der man sich kaum entziehen kann. Die rezente Forschung zu den sogenannten Spiegelneuronen bietet hier ein neurologisches Korrelat zu unserem Alltagser‐ leben an (Rizzolatti & Sinigaglia 2014, vgl. zudem Rosa 2016). Siegergesten Für meine nachfolgende Skizze zum historischen Wandel im Körperausdruck siegreicher Sportler*innen nutze ich in erster Linie Fotografien zu den WM- Siegen der deutschen Fussballmannschaft seit 1954. Die zeitliche Verteilung dieser WM-Siege - 1954, 1974, 1990, 2014 - ist für eine historische Betrachtung insofern geeignet, als damit 60 Jahre Fussballgeschichte in drei mehr oder weniger gleich grosse Zeitsprünge gegliedert wird, die Veränderungen im Körperausdruck deutlich werden lassen müssten. Meine konkreten Quellen - Fotografien von Situationen wenige Minuten nach dem Sieg bzw. nach dem Empfang des Pokals - sind dennoch nicht unproblematisch: Erstens, weil sie jeweils nur einen minimalen Moment aus einem dynamischen Körperausdruck fixieren, und zweitens, weil die Bilder aus den vier WM-Siegen nie genau denselben Zeitpunkt im Geschehen festhalten und deshalb trotz grundsätzlicher Übereinstimmung im Motiv doch nur beschränkt vergleichbar sind. Anderer‐ seits kann man immerhin davon ausgehen, dass die durchwegs aus Pressepubli‐ kationen stammenden Bilder von den jeweiligen Bildredaktoren für besonders aussagekräftig, typisch für das Geschehen und zudem den Erwartungen des Lesepublikums entsprechend erachtet wurden. Die Bilder sind also zumindest mit Blick auf die ihnen zugeschriebene Signifikanz und Typik vergleichbar. Und hier lassen sich nun folgende Beobachtungen machen: 1954 erscheint der emotionale Display der siegreichen Spieler stark von verhaltener Freude, von Ernst, aber auch Erschöpfung geprägt. Der Ausdruck von Freude durch Lachen bzw. Lächeln kommt zwar vor (vgl. Abb. 3), allerdings eher in Momenten, in denen die siegreichen Spieler sich der Anwesenheit einer 170 Angelika Linke <?page no="171"?> 4 Dies gilt auch für Fotografien von siegreichen Mannschaften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die entspre‐ chenden Fotografien zumindest zum Teil nachträgliche, gestellte Fotos sind. Aus dieser quellenkritischen Überlegung heraus beschränke ich mich hier auf die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Veränderung der Arm-, Hand- und Mundgesten in diesem Zeit‐ raum sowohl im Fussball wie auch in anderen Sportarten wird besonders augenfällig, sobald man einen Fotoband zur Hand nimmt, der die gesamte Zeitspanne chronologisch abdeckt. Vgl. z. B. Das Olympia-Buch. Athen 1896-2004. Bielefeld: Delius, Klasing & Co, 2003 oder Gödeke, Peter 2005: Tor! Die grosse Fussball-Chronik. München: Herbig. Kamera wenig bewusst sind, während der offizielle Siegesauftritt (Abb. 1) mit einem ernst-erschöpften Gesichtsausdruck einhergeht. 4 1974 wird mehr Lächeln gezeigt, nicht zuletzt im Kontext einer Körper-Pose, die im Bildmaterial von 1954 noch völlig fehlt: das Hochrecken des Pokals mit beiden Händen, wie dies Abb. 4 (mit Kapitän Fritz Beckenbauer) und Abb. 6 (mit Bundestrainer Schön) dokumentieren. Die Pose, die deutlich publikums- und kameraadressiert ist, findet sich auch 1990 und 2014 und gehört heute - zusammen mit dem Küssen des Pokals - zum Gestenrepertoire von WM- Siegesfeiern. Der 1974 noch wenig exaltierte Ausdruck von Siegesfreude (vgl. auch Abb. 5) geht seit den späteren 70er Jahren dann zunehmend in einen von demonstrativer Ausgelassenheit und Jubel über - wer im Netz nach entsprechenden Bildern siegreicher Mannschaften aus den 80er Jahren sucht, wird auch jenseits von Weltmeisterschaftskontexten rasch fündig. Spätestens die Fotos zur WM von 1990 (vgl. Abb. 7 und Abb. 8) dokumentieren dann die tiefgreifende Veränderung im Emotionsdisplay, die seit den 70er Jahren stattgefunden hat. Diese betrifft zentral den mimischen Ausdruck: Wo auf älteren Fotographien gelächelt oder gelacht wird, zeigen viele der Spieler nun eine Mundpartie, in welcher bei nach oben gezogenen Mundwinkeln und entblösster oberer Zahnreihe der Mund wie zu einem sehr lauten Schrei (der diese Mundgeste auch tatsächlich begleiten mag) weit geöffnet wird, was zudem mit einem mehr oder weniger starken Zusammenpressen der Augenpartie einhergeht. Damit kippt das Lachen in eine Bissgeste und bildet das Zentrum eines insgesamt angespannten, latent aggressiven Gesichtsdisplays. Abb. 2 und Abb. 8 zur Siegerehrung der deutschen Mannschaft 2014 dokumentieren, dass dieser Gesichtsdisplay als Siegesausdruck emblematisch geworden ist. Das gilt bis heute (vgl. Abb.-13). Die neue Mundgeste kommt allerdings nicht allein. Sie geht vielmehr einher mit einer Hand- und Armgestik, die sich durch einen hohen Muskeltonus auszeichnet, mit einer insgesamt gespannten Körperhaltung verbunden ist und die - im Gegensatz zu den ans Publikum gerichteten Wink-Gesten, wie sie sich Sieg! 171 <?page no="172"?> 5 Die zentralen gestaltbildenden Formelemente bleiben auch bei Reduktionsformen der Geste erhalten, wie sie inzwischen auch ganz ausserhalb sportlicher Kontexte kommunikativ genutzt werden: So etwa bei der im Normalfall mit nur einem Arm durchgeführten ruckartige Zugbewegung des im Ellenbogen stark abgeknickten Armes nach unten - mit geschlossen-gespannter Faust, stark gespannten Armmuskeln und oft typischerweise auf älteren Fotos finden (vgl. Abb. 5) - in ihrer kommunikativen Ausrichtung schillernd ist. Hierher gehören zum einen Streckgesten wie in Abb. 7 und 8, bei denen die Arme nach oben und meist deutlich über die Kopfhöhe hinausgereckt werden, oft in Kombination mit einer zur Faust geballten Hand. Zum anderen werden, wie in Abb. 9, die Arme bei angespannter Oberarmmuskulatur in Taillenhöhe angewinkelt und auch die Unterarme durch den Schluss beider Hände zur Faust in sichtbare Spannung versetzt. Diese Faustgeste ist jeweils besonders ausgeprägt und, neben dem aufgerissenen Mund, ein salientes Formelement. Der Blick ist häufig, wie auch in Abb. 9, undefiniert nach oben, oft aber auch relativ starr nach vorne bzw. in die Weite gerichtet, der Oberkörper meist leicht nach hinten gebogen. Zusammen mit der zwischen Biss-, Lach- und Schreigeste oszillierenden Mundöffnung ergibt sich hier ein Körperzeichen positiv aufgeladener Aggressivität. Die Geste ist im Übrigen nicht auf den Fussballsport beschränkt und dürfte auch nicht dort, sondern im Individualsport geprägt worden sein. Eine ikonisch gewordene Aufnahme von Björn Borg nach dessen Wimbledon-Sieg 1980 zeigt sie bereits in voller Ausformung (Abb. 10). In der Aufnahme wird zudem gut sichtbar, dass durch Borgs abgebremsten Kniefall und den weit nach hinten gebogenen Oberkörper auch die Unter- und v. a. Oberschenkelmuskeln und letztlich der gesamte Körper in eine durchgehende Spannung versetzt werden. Die Abbildung fängt das Körperzeichen in seiner Vollform ein. Die Geste ist zudem nicht gegendert (vgl. Abb.11): Sie ist im Frauenfussball wie auch im Frauentennis seit den 2000er Jahren durchwegs vorhanden, auch wenn sie im Frauensport, zumindest meiner Beobachtung nach, insgesamt weniger präsent ist als im Männersport und dort wohl auch später erscheint. Wir haben es insgesamt mit einem Körperzeichen zu tun, in dem mehrere Formelemente zu einer Gestalt von hoher Typik synthetisiert sind. Auch unvoll‐ ständige Ausformungen, also etwa mit nur einem angewinkelten Arm, sind ohne Weiteres als Varianten dieser Geste erkennbar. Die Gestaltlinien der Armgestik in Verbindung mit dem insgesamt gespannten Körperdisplay sind so prominent, dass sie sich problemlos selbst auf Schaufensterpuppen übertragen lassen (Abb. 12). 5 172 Angelika Linke <?page no="173"?> begleitet von einem abrupt hervorgestossenen und mit entblösster oberer Zahnreihe produzierten „ja! “ oder auch „yes! “. 6 Vgl. auch Fussnote 4. Es wäre in einem genaueren zeitlichen Durchgang durch die Quellen zudem zu prüfen, wie weit die Ausbildung der Geste im Sportbereich an die zunehmende Präsenz nicht nur von Foto-, sondern auch Film- und vor allem TV- Kameras sowie an das Bewusstsein der Sportler bezüglich der medialen Kraft ihres Auftritts gebunden ist. Triumph und Selbstfeier Der für die Körpergeste in ihren unterschiedlichen Varianten typische situative Kontext ist - auch ausserhalb sportlicher Wettkämpfe - der von Konkurrenz und Sieg. Die Bildunterschrift zum Pressefoto in Abb. 8 lautete entsprechend: „So sehen Sieger aus“. Die Zeitlinie der Abbildungen belegt allerdings, dass Sieger nicht so aussehen, sondern sich in der 2. Hälfte des 20.-Jahrhunderts zunehmend so inszenieren. 6 So zeigen die Sieges-Fotos der WM vom 1954 noch einen Körperdisplay, der den vorausgegangenen erschöpfenden Körpereinsatz ikonisch ins Bild setzt und zudem zum Ausdruck bringt, dass der Sieg und dessen Anerkennung als Moment ernster Freude empfunden werden. Selbst die Aufnahmen von 1974 sind zum Teil noch durch diese Ausdruckstypik geprägt, auch wenn Mimik und Körpergestik sehr viel stärker eine fröhliche Freude zum Ausdruck bringen, welche in den Aufnahmen von 1990 dann zu einem Ausdruck jubelnden Triumphes geformt erscheint, der den Körperdisplay von Siegergefühlen bis heute in seiner Typik prägt. Die hier vorgelegte kleine Geschichte des Ausdrucks von Siegergefühlen seit der Mitte des letzten Jahrhunderts kann also als Beispiel dafür gelesen werden, dass, wie eingangs ausgeführt, der Körperausdruck von Emotionen zwar nicht als deren rein zufällige, sozusagen dekorative Einkleidung verstanden werden kann, aber auch nicht als deren unmittelbarer und natürlicher Ausdruck. Ganz ähnlich, wenn auch stärker aus handlungssoziologischer Perspektive heraus, argumentiert Jochem Kotthaus, wenn er den Jubel von Torschütze, Mannschaft und Publikum unmittelbar nach einem Torerfolg nicht als spontanen Emotions‐ ausbruch, sondern als symbolisches Handeln versteht (Kotthaus 2017). Die Tatsache, dass die von mir herangezogenen Aufnahmen in so gut wie allen Fällen Situationen dokumentieren, in denen den jeweiligen Akteuren die Öffentlichkeit ihres Körperauftritts und die Anwesenheit von Publikum durchaus bewusst ist, dürfte die gewollte Zurichtung der Körpergesten und damit deren Inszenierungscharakter zusätzlich steigern. Sieg! 173 <?page no="174"?> Umso berechtigter ist die Frage danach, welches Zeichen die so stilisierten Siegerkörper eigentlich setzen oder, anders formuliert, wie diese Zeichen semio‐ tisch zu lesen sind. Relevant ist hier, dass der Aggressivität von Faust und Bissmund das Gegen‐ über fehlt. Sowohl das Stadionpublikum als auch das durch die anwesenden Kameras repräsentierte Presse- und TV-Publikum scheidet als Adressat aggres‐ siver Emotionen aus, beide Publika sind aber gleichzeitig sehr wohl Adressaten des Körperzeichens. Der so zur Schau gestellte Siegeskörper ist also in erster Linie als ungerichtete Demonstration aggressiver Potenz, als Körperinszenierung als Triumphator zu lesen. Auf diese Weise werden sportliche Siege in die Sphäre von Kampf und Krieg gerückt - im Ausdruck der Siegeskörper dominiert gerade beim Blick in die Kamera die Aggression über die Freude. Mit Blick auf die Adressierung der Siegesgeste ist zudem deren latenter Selbstbezug auffällig. Dies betrifft in erster Linie die zusammengepressten, in Einzelfällen auch ganz geschlossenen Augen (die dann gerade kein Gegenüber adressieren), den zum Teil nach oben, vom Publikum abgewendeten Blick (der in Erzählsituationen als Signal stattfindender Erinnerungstätigkeit eingesetzt wird und damit Selbstzuwendung signalisiert) sowie die mit den Handflächen zum Körper gewendeten und häufig zusätzlich in den Handgelenken zum Körper hin abgeknickten Fäuste (die deshalb auch nicht als Andeutung einer Schlagbewegung gedeutet werden können). Alle diese Displays lassen sich als körpermetaphorische Visualisierung eines Selbstbezuges lesen. Ein weiteres Charakteristikum der Geste ist schliesslich, dass in deren Voll‐ form tatsächlich der gesamte Körper eingesetzt wird: Von den Gesichtsmuskeln über die Nacken- und Bauchmuskulatur bis in die Extremitäten von Hand und Fingern, von Beinen und Füssen ist der Muskeltonus gespannt. Dies kann als Symbolisierung eines Totalitätskonzepts gelesen werden, das über die Propriozeption zudem auf den Akteur zurückschlägt. Die körpergestische Zuschaustellung des Siegeskörpers ist dann gleichzeitig maximale Selbstaffizie‐ rung - wir haben es mit Momenten einer körpersemiotischen Selbstfeier zu tun. 174 Angelika Linke <?page no="175"?> Abb. 1: WM 1954. Bundestrainer Sepp Herberger, Kapitän Fritz Walter mit Pokal und Torwart Toni Turek nach dem Sieg. Abb. 2: WM 2014. Die Sieger-Mannschaft. Kapitän Philipp Lahm mit Pokal. Sieg! 175 <?page no="176"?> Abb. 3: WM-Finale 1954. Fritz Walter und Horst Eckel (rechts) werden von begeisterten Anhängern vom Spielfeld getragen. Abb. 4: WM 1974. Kapitän Franz Beckenbauer mit Pokal. 176 Angelika Linke <?page no="177"?> Abb. 5: WM 1974. Die deutsche Fussballmannschaft nach dem Sieg. Abb. 6: WM 1974. Bundestrainer Schön 1974 mit Pokal. Sieg! 177 <?page no="178"?> Abb. 7: WM 1990. Die Siegermannschaft. (Mit Pokal: Pierre Littbarski). Abb. 8: WM 1990. „So sehen Sieger aus“. (Mit Pokal: Lothar Matthäus). 178 Angelika Linke <?page no="179"?> Abb. 9: WM 2014. Kapitän Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger (mit Pokal). Abb. 10: Björn Borg nach seinem Sieg 1980 in Wimbledon. Sieg! 179 <?page no="180"?> Abb. 11: WM der Frauen 2023. Die deutschen Fussballerinnen nach dem Sieg gegen Marokko. Abb. 12: Angebot eines Schaufensterpuppeverleihs. „Maennliche-Schaufensterpuppejubelnd“. 180 Angelika Linke <?page no="181"?> Abb. 13: FC Bayern siegt am 12. Dezember 2023 in der Champions-League gegen Manchester United. Bildunterschrift: „Manuel Neuer: Zufrieden! “ Leistung! Bei dem hier herausgearbeiteten Siegeskörper handelt es sich also um eine Ausdrucksgestalt, welche historisch geprägt ist und die soziale Figur des Siegers wie auch Sieg und Siegen als kulturelles Konzept in spezifischer Weise formt. Stärker thesenhaft formuliert heisst das: Der Siegeskörper ist als Zeichen eines soziokulturellen Konzeptes zu lesen, er ist Ausdruck und zugleich Medium einer spezifischen, historisch verankerten Bedeutungsbildung. In den frühen 80er Jahren, als die hier beschriebene Siegespose ihren eigenen Siegeszug antritt, steht die westliche Welt in einer sozial- und wirtschaftsge‐ schichtlichen Phase, die von Deregulierung und Privatisierung geprägt ist. Neologistische Personenbezeichnungen wie „yuppie“ (young urban professional bzw. young upwardly-mobile professional) oder „dinks“ (double income, no kids) verweisen auf neue Sozialfiguren, und in Fernseh-Kultserien wie Dallas oder Denver Clan - zu Beginn der 80er Jahre reine Strassenfeger - werden in plaka‐ tiver Stereotypisierung Charaktere vorgeführt, die dann seit den 90er Jahren unter den sprachlichen Labels von „winner“ und „loser“ zu Grundkategorien soziomoralischer Bewertung werden. In der umfassenden Ökonomisierung der Sieg! 181 <?page no="182"?> 7 In den 90er Jahren ist die neue Siegerfigur sogar in der Linguistik angekommen. Die Optimalitsätstheorie als ein Modell der theoretischen Linguistik kennt in ihrem Vokabular Kandidaten, Wettbewerb, Ranking und Gewinner und trägt dazu bei, selbst die Grammatik mit Sieger-Figuren zu bevölkern. 8 In diesem Kontext ist zudem signifikant, dass die aufgezeigten Veränderungen parallel zur Professionalisierung und damit auch zu einer veränderten ökonomischen Wertung von Sportler*innen verlaufen. Die Gewinnprämie für die Fussballer der siegreichen Elf von 1954 betrug umgerechnet rund 1300 Euro. Bei der WM 2014 waren es 300 000 Euro (FAZ.NET, aktualisiert am 14.7.2014, zuletzt abgerufen am 18.12.2023). Lebenswelt wird der „winner“ schliesslich zur ubiquitären Leitfigur - selbst in den Wissenschaften. 7 Im Rahmen einer selbstdeklarierten Leistungsgesellschaft, die ihr Kernkon‐ zept - Leistung - als eine steigerbare, individuell verantwortete Grösse definiert, die den Wert des Einzelnen im Vergleich mit anderen bestimmt (Verheyen 2018), kommt der Sozialfigur des Siegers ein besonderer Stellenwert zu. Dass diese Sozialfigur ausgerechnet im Sportkontext ihren sowohl breitenwirksamen als auch vordergründig unpolitischen Körperausdruck findet, sagt viel über die gesellschaftliche Relevanz dieser Domäne aus 8 . Neue Sozialfiguren wie auch die Ausdrucksformen, in denen sie ihre Gestalt finden, erscheinen nicht aus dem Nichts - auch die hier vorgeführten Körper‐ visualisierungen entstehen allmählich, es gibt Vorformen und Nebenformen, aus denen sich aber eine recht klare Formtypik ausbildet. Dies geschieht in Rückkoppelungsspiralen zwischen Produzenten und Rezipienten, welche die Momente von Formgebung, Gefallen, Übernahme, Wiederholung, Aneignung und Normalisierung (Linke 2009b) verbinden. Dass solche Formgebungen im Medium des Körpers auf ihre Produzenten zurückwirken, verstärkt diesen Prozess, ebenso wie das Phänomen des körperlichen Mit-Empfindens, das die Übernahme von Ausdrucksformen und indirekt von deren Korrelaten erleich‐ tert. Dass solche Visualisierungen auf Seiten der Betrachter*innen nicht nur Attraktion, sondern auch Ablehnung und damit verbunden sowohl ästhetische wie moralische Wertungen auslösen können, ist eine notwendige Folge. Visualisierungen von Emotionen im Medium des Körpers sind ein besonders potentes Mittel der kulturellen Formung von Individuen wie von sozialen Gruppierungen. 182 Angelika Linke <?page no="183"?> Abbildungsnachweise Abb. 1: Planet Wissen (https: / / www.planet-wissen.de/ gesellschaft/ sport/ fussball_wel tmeisterschaft_vierundfuenfzig/ pwiediesiegermannschaft102.html), Erstveröffentli‐ chung 2006. Letzte Aktualisierung 08.09.2021, abgerufen am 04.12.2023. Abb. 2: Welt (AP/ Martin Meissner) (https: / www.welt.de/ sport/ fussball/ wm-2018/ article1 77643176/ Fussball-WM-2014-Zwei-Saetze-gingen-Philipp-Lahm-vor-dem-Finale-dur ch-den-Kopf.html). Veröffentlicht am 16.6.2018, abgerufen am 05.12.2023. Abb. 3: NDR Info (https: / / www.ndr.de/ geschichte/ chronologie/ Wunder-von-Bern-Fussb all-WM-1954-wird-Balsam-fuer-deutsche-Seele,wundervonbern188.html). Veröffent‐ licht am 14.07.2021, abgerufen am 04.12.2023. Abb. 4: Planet Wissen (AP) (https: / / www.planet-wissen.de/ gesellschaft/ sport/ fussball_w eltmeisterschaft_vierundsiebzig/ index.html) Erstveröffentlichung 2006, letzte Aktua‐ lisierung 08.09.2021, abgerufen am 06.12.2023. Abb. 5: Wikipedia. Bild: Verhoeff, Bert/ Anefo Collectie (http: / / proxy.handle.net/ 10648/ a c4fab0a-d0b4-102d-bcf8-003048976d84). Abgerufen am 12.12.2023 Abb. 6: Wikipedia. Bild: Verhoeff, Bert / Anefo Collectie (http: / / proxy.handle.net/ 10648/ ac4fae70-d0b4-102d-bcf8-003048976d84). Abgerufen am 08. 12. 2023. Abb. 7: BR 24 Sport. Bild: imago images. (https: / / www.br.de/ themen/ sport/ inhalt/ fussb all/ nationalmannschaft/ fussball-weltmeisterschaft-1990-100.html). Veröffentlicht am 03.07.2015, abgerufen am 06.12.2023. Abb. 8: BR 24 Sport. Bild: imago images. (https: / / www.br.de/ themen/ sport/ inhalt/ fus sball/ nationalmannschaft/ fussball-weltmeisterschafti1990-100.html). Abgerufen am 06.12.2023. Abb. 9: Spox. Bild: getty. (https: / / www.spox.com/ de/ sport/ fussball/ dfb-team/ 1803/ Artik el/ deutschland-wird-weltmeister-gegen-argentinien-so-lief-das-wm-finale-2014.htm l). Veröffentlicht am 25.03.2018, abgerufen am 08.12.2023. Abb. 10. r/ wimbledon. (https: / / www.reddit.com/ r/ wimbledon/ comments/ vrpa86/ bj orn_borg_beats_john_mcenroe_in_an_epic_final_at/ ? rdt=43516). Abgerufen am 10.12.2023. Abb. 11: Bild: Sebastian Christoph Gollnow/ dpa (https: / / www.bild.de/ sport/ fussball/ fus sball/ frauen-wm-2023-grosser-jubel-und-kuriose-szenen-bei-dfb-stars-84804244.bild .html). Veröffentlicht am 24.07.2023, abgerufen am 11.12.2023. Abb. 12. Schaufensterpuppen-Verleih. (http: / / www.schaufensterpuppenverleih.de/ prod uct_info.php/ info/ p6987_Maennliche-Schaufensterpuppe--jubelnd.html). Abgerufen am 11.12.2023. Abb. 13: Bild: Reuters. FAZ.NET (https: / / www.faz.net/ aktuell/ sport/ fussball/ champio ns-league/ fc-bayern-siegt-in-champions-league-gegen-manchester-harry-kane-bege istert-19380879.html? clob=clob01&xtor=EREC-7-%5BMein%20FAZ%20Newsletter%5 Sieg! 183 <?page no="184"?> D-20231213&affiliate=PEM21577&campID=MAIL_REDNL_AUDI_OWN_na_na_na_ na_na_na_na_Mein-FAZ_PEM21577). Aktualisiert am 13.12.2023, abgerufen am 13.12.2023. ⚽️-⚽️-⚽️ De Jaegher, H. 2015. How we affect each other. Michel Henry's 'pathos-with' and the enactive approach to intersubjectivity.-Journal of Consciousness Studies 22(1-2). 112- 132. Kendon, Adam. 2013. Exploring the utterance roles of visible bodily action: A personal account. In Cornelia Müller et al. (eds.), Body-Language-Communication. An Interna‐ tional Handbook on Multimodality in Human Interaction. Volume 1, 7-28. Berlin, New York: de Gruyter. Kotthaus, Jochem. 2017. Das Ritual des Jubels im Fußballsport. Sozialer Sinn 18(2). 341-370. 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Sie dienen dazu, die Akteure 1 des Spiels persönlich zu Wort kommen zu lassen, ihnen eine Stimme, eine Plattform zu geben, auf der sie sich dem Medienpublikum präsentieren können. Dies schafft eine Nähe zu den Fans, die ihre Idole nicht nur als bewegte Figuren auf dem Platz verfolgen können, sondern ihnen in der Medieninszenierung eines persönlichen Gesprächs quasi selber gegenüberstehen (Horton & Wohl 1956). Ganz pragmatisch dienen die Interviews aber auch zur Verlängerung der Berichterstattung über das eigentliche Spiel hinaus, um die oft teuren Übertragungsrechte mit der gezielten Platzierung von Werbung zu finanzieren (Schaffrath 2002: 200). Trotz der etablierten Rolle, die die Interviews in der Fußballberichterstattung vorweisen können, sind sie beim Medien- und Fachpublikum nicht uneinge‐ schränkt beliebt: Während die einen Wert auf die persönliche Sicht der Akteure des Spiels legen, sehen andere darin eine überflüssige und oft schlecht gemachte Pflichtübung sowohl für die Spieler als auch für die Journalist*innen (Wilton 2018). Dies mag daran liegen, dass an das Sportlerinterview Erwartungen angelegt werden, die man vom klassischen Interview kennt: Das Interview ist prinzipiell ein Format, das aus Frage-Antwort-Sequenzen besteht, die der Informationsge‐ winnung dienen sollen. Man interviewt Personen, bei denen man ein Wissen vermutet, das zum einen noch unbekannt und zum anderen für das jeweilige Thema relevant und für das Publikum interessant ist. Für die Fußballberichter‐ <?page no="188"?> stattung ist diese Form der Informationsgewinnung durchaus eine Herausfor‐ derung: Da die Berichterstattung, insbesondere im TV beziehungsweise im Stream, das gesamte Spiel abdeckt, darüber hinaus zusätzlich viele Hintergrund‐ informationen liefert, eine Reihe an Expert*innen zu Wort kommen lässt und für detaillierte Analysen engagiert, scheint es wenig Spielraum zu geben, um Auskunft über wirklich Neues geben zu können. Ein Themenbereich, zu dem ein Befragter mit Sicherheit Auskunft geben kann, ist die persönliche Erfahrung (Wilton 2021: 4). Somit ist das Neue, zu dem die einzelnen Sportler*innen im Rahmen einer Wettkampfaktivität beitragen können, im Wesentlichen auf das persönliche Erleben und die persönliche Einschätzung beschränkt. Bezogen auf diesen exklusiven Wissensbereich des Persönlichen kann der Fragende also eine Auskunft erwarten - allerdings werden Annahmen des Fragenden über das persönliche Befinden oder Erleben des Befragten unter Umständen als unangemessen oder sogar übergriffig wahrgenommen und führen dann dazu, dass der Befragte möglicherweise die Kooperation verweigert (Wilton 2022). Woran erkennt man im Interview nun, dass ein Spieler eine Frage als unangemessen empfunden hat? Im Beitrag soll deutlich werden, dass schon die Gestaltung der Frage Vorhersagen über eine möglicherweise problematische Rezeption zulässt, die Skala der Reaktionen auf potenziell problematische Fragen jedoch breit ist und von Akzeptanz und Kooperation bis hin zur kompletten Verweigerung der Kooperation reichen kann. In meinen Studien zu Fußballerinterviews habe ich mich unter anderem mit der Aushandlungen der Wissensbereiche unter den Beteiligten sowie dem Design der Fragen befasst und dabei einen Fragetyp identifiziert, der tendenziell problematisch sein kann. Epistemischer Status: Aushandlung von Wissensbereichen In Gesprächen sind die Wissensbereiche oder -territorien (Heritage 2013) der Beteiligten eine wichtige Größe, die sowohl die Gesprächsdynamik als auch das Verhältnis der Beteiligten zueinander bestimmt. Wissensbereiche werden permanent im Gesprächsverlauf ausgehandelt und unterliegen dabei impliziten sozialen Normen und Erwartungen (Stivers, Mondada & Steensig 2011: 9). Dazu gehört beispielsweise, dass der oben schon erwähnte Wissensbereich des persönlich Erlebten einerseits exklusiv dem Erlebenden zuzurechnen ist, andererseits die Person damit auch zumindest theoretisch auskunftspflichtig bezüglich dieses Wissensbereichs ist. Einer Frage nach dem persönlichen Be‐ finden kann man daher nicht einfach mit dem Hinweis auf Nichtwissen bzw. Unkenntnis ausweichen und muss ggf. erhebliche argumentative Arbeit leisten, 188 Antje Wilton <?page no="189"?> um die eigene Auskunftsunwilligkeit zu begründen. Eine weitere, insbesondere für den Mediensportkontext relevante Norm ist die Vermeidung von Fragen nach bereits Bekanntem (Vincze et al. 2016), die üblicherweise spezifischen Kontexten wie beispielsweise didaktischen Settings und Prüfungssituationen vorbehalten sind. In Interviewsituationen, die üblicherweise in einem institutionellen und/ oder medialen Kontext stattfinden, wird durch das Frage-Antwort-Format schon eine Wissensasymmetrie vorausgesetzt bzw. konstruiert: Jemand mit einem geringeren Wissensbestand bezüglich einer Sache befragt eine Person, der man einen höheren epistemischen Status bezüglich des zu erfragenden Sachverhalts zuschreibt. Im medialen Kontext sind die Interviewer jedoch in den seltensten Fällen komplette Laien bezüglich der jeweiligen Thematik, im Gegenteil: Journa‐ list*innen haben fachliche Ressorts, in denen sie als journalistische Expert*innen agieren und Wissensbestände aufbauen und verwalten. Diese überlappen sich jedoch mit denen der unmittelbar beteiligten Akteure, also der Spieler, deren Expertenstatus allgemein als maßgeblich anerkannt wird bzw. im Interview als maßgeblich hervorgehoben werden soll (Wilton 2021). Die Wissensbereiche sind jedoch nicht deckungsgleich: Auch wenn sowohl Journalist*innen wie auch Spieler direkten Zugang zum Spielgeschehen haben, ist die Art des Zugangs unterschiedlich. Journalist*innen beobachten das Spielgeschehen, während die Spieler aktiv am Spiel teilnehmen und dadurch einen unmittelbareren Zugang zum Geschehen für sich beanspruchen können (Wilton 2021). Für den Inter‐ viewer besteht nun die Herausforderung darin, in den Fragen den eigenen Expertenstatus so einzusetzen, dass die Frage zum einen Hintergrundwissen für das Publikum vermittelt oder darauf verweist, also das Erfragte kontextualisiert, zum anderen aber genug Raum für eine Antwort des Spielers lässt, mit der dieser seine Perspektive in den Fokus rücken kann (Wilton 2021). Mit einer gelungenen Frage, die eine ausführliche und kooperative Antwort des Spielers zur Folge hat, wird somit von den Beteiligten epistemische Kongruenz (Heritage 2013) hergestellt - eine Situation, in der die Manifestation der Wissensbestände der Beteiligten ihrem zugeschriebenen Status entsprechen. Übergriffe auf die Wissensbereiche des Gegenübers, insbesondere auf die, zu denen der Spieler exklusive Zugriffsrechte hat, können dagegen problematisch werden, weil der Befragte diesen Übergriff abwehren und ggf. (implizite) Unterstellungen richtigstellen muss (Wilton 2021: 5). Dies läuft dem impliziten Ziel des Fußball‐ erinterviews zuwider, das idealerweise zu einer kooperativen und konsensuellen Bewertung des Spiels durch die Beteiligten führt (Wilton 2017, Caldwell 2009, File 2012). Über Scheißfragen 189 <?page no="190"?> Degree Questions In einer vergleichenden Untersuchung zu Fragetypen in deutschen und engli‐ schen Fußballerinterviews habe ich einen Fragetyp identifiziert, der das Risiko einer unkooperativen Reaktion seitens des Spielers birgt: die sogenannte degree question (Wilton 2021). Dieser Fragetyp zeichnet sich dadurch aus, dass damit nicht ein Sachverhalt oder eine Einschätzung erfragt wird, sondern die Inten‐ sität, mit der etwas der Fall ist. Beispiele für degree questions aus meinem Korpus sind: wie wichtig (.) WAR der sieg heute in mainz? wie sehr freuen sie sich auf DIESen vergleich; wie viel spaß macht es ! IHN! en (.) mit diesen: […] ribérob zuSAMMM(e)n zu spielen, wie heiß WAR die mannschaft denn eigentlich endlich mal wieder gegen dortmund zu gewinnen; wie groß ist die vorfreude auf einen TRAIner (.) wie pep guardiola? how PLEAsed are you to get the job done and with the game to spare; how (.) FAR short are you (.) of being one hundred percent fit; HOW good (.) Are this arsenal team, how exCIting is it to play (.) in that trio with sanchez (.) and lacazettehow disappointed are you after that (.) that was over tonight; = how confident are YOU as players °h that you GET the results you now need to finish the job and finish in the top four; Degree questions beinhalten in der Regel ein Fragewort (wie), gefolgt von einem (gradierbaren) Adjektiv (z. B. wie wichtig) und einem optionalen Substantiv (z. B. wie viel Spaß) oder Adverb. Im deutschsprachigen Subset meiner Studie machen degree questions 17 von 100 Fragen aus und sind somit der dritthäufigste Fragetyp. Sie sind eine gesonderte Betrachtung wert, da sie zum einen häufig vorkommen und zum anderen stark assertiv wirken, was bei Spielern zu negativen Reaktionen führen kann. Degree questions setzen einen Sachverhalt als gegeben voraus - im Kontext eines Fußballspiels können dies Aspekte sein, die der Fragende als geteiltes Wissen voraussetzen kann, und zwar sowohl beim 190 Antje Wilton <?page no="191"?> Spieler als auch beim Publikum. Dies wiederum kann problematisch werden, da das Erfragen von Bekanntem zunächst dem Zweck einer Frage zu widersprechen scheint und darum, wie oben schon erwähnt, besonderen Situationen vorbe‐ halten ist, in denen festgestellt oder offengelegt werden soll, ob das als geteilt angenommene Wissen beim Befragten auch tatsächlich vorhanden ist. Eine implizit kritische Reaktion auf das Thematisieren von bereits bekanntem Wissen kann man in einer spezifischen Verwendung von bestätigenden Adjektiven wie natürlich, klar oder logisch beobachten - sie signalisieren, dass der angespro‐ chene Sachverhalt bekannt ist und damit nicht erfragt werden muss oder sollte (Reinecke 2018, Stivers 2011). Degree questions spielen also eine entscheidende Rolle in der Aushandlung von Wissensbeständen, und sind in der ihnen eigenen affirmativen Form potenziell problematisch. Um dies zu illustrieren, werde ich im Folgenden drei Beispiele aus meinem Korpus detaillierter besprechen. Untersuchungsmethode Die Untersuchung geht theoretisch sowie methodisch nach den Prinzipien der Gesprächsanalyse (Deppermann 2008) vor, indem zunächst ein detailliertes Transkript der Interviews angefertigt wird, das die untersuchungsrelevanten Aspekte des Gesprächs kodiert, wie beispielsweise Überlappungen, Unterbre‐ chungen, Veränderungen in Lautstärke und Tonhöhe und Betonungsmuster. In Kombination mit dem Originalvideo kann das Transkript nun auf gesprächs‐ organisatorische Auffälligkeiten bzw. Muster hin untersucht werden. Dabei gilt die Prämisse, dass jeder Gesprächsbeitrag sowohl eine Reaktion auf den vorherigen Beitrag darstellt als auch den folgenden Beitrag vorbereitet bzw. die Bedingungen für den Folgebeitrag schafft. Für Interviews ist daher besonders interessant, wie die Frage und ihre Gestaltung Einfluss auf die folgende Antwort hat - umgekehrt sieht man an der Gestaltung der Antwort, wie die vorherige Frage vom Antwortenden aufgenommen und interpretiert worden ist. Analyse Für Fußballerinterviews ist zunächst zu beobachten, dass Fragen des Inter‐ viewers und die darauffolgende Antwort eine Einheit bilden, die sich in dieser Form mehrfach während des Interviews wiederholt. Die Frage-Antwort-Ein‐ heiten sind jedoch in den seltensten Fällen untereinander verbunden, d. h. der Interviewer fährt nach einer Antwort des Spielers mit einer neuen Frage fort, ohne noch einmal auf die Antwort Bezug zu nehmen, mögliche Inhalte aufzu‐ greifen und weiterzuentwickeln oder zu kommentieren. Bis auf gelegentliche Über Scheißfragen 191 <?page no="192"?> Nachfragen finden sich also kaum Bezugnahmen, so dass die Frage-Antwort- Einheiten relativ isoliert (und damit auch prinzipiell austauschbar) bleiben. In den deutschen Interviewdaten, zumindest des öffentlichen Rundfunks, ist dennoch eine Tendenz zu thematischen Mustern zu beobachten. So thematisiert die erste Frage typischerweise das Spiel insgesamt, die zweite Frage fokussiert ein besonders prominentes Ereignis innerhalb des Spiels, wie beispielsweise ein Tor, ein Foul oder einen Spielzug, während die letzte Frage auf die Relevanz des Spiels für zukünftige Ereignisse wie weitere Spiele oder Turniere abzielt. Mehr als drei Fragen sind in meinen Daten selten und kommen eher bei Privatsendern bzw. vereinsbezogenen Nachrichtenkanälen vor. Im englischsprachigen Kontext werden oft zwei Spieler gemeinsam befragt, so dass hier mehr Fragen und eine wechselnde Adressierung üblich sind. Nichtsdestotrotz können implizite Beziehungen zwischen Fragen und Ant‐ worten beobachtet werden, die sich in manchen Fällen durch das gesamte Interview ziehen. Im folgenden Beispiel eines Interviews mit Philipp Lahm zeigt sich zum einen die oben diskutierte implizit kritische Antwort auf die degree question mit der Verwendung des Wortes natürlich sowie eine gehäufte Verwendung des beurteilenden Adjektivs wichtig durch beide Beteiligten: Interviewer: Int Philipp Lahm: PhL 01 Int: philipp LAHM; 02 - kurz äh die: anaLYse (.) des sieges HEUTE, 03 - wie wichtig (.) WAR der sieg heute in mainz? 04 PhL: ! SEHR! wichtig natürlich; 05 - jetzt sind wir ! ERST! mal auf platz ZWEI bis mor(ge)n, 06 - und ähm des (is) wichtig für die MANNschaft; 07 - vor ALlem (-) weil JETZT die englischen WOCHen ähm ANgehen- 08 - und ähm da wars WICHtig dass man mit (-) DREI punkte startet. 09 Int: äh jetz wars natürlich im vergleich zum HINspiel, 10 - als ihr verLOREN habt gegen mainz- 11 - n ganz anderes SPIEL; 12 - WAS is eigentlich ANders inzwischen bei den bayern; 13 PhL: .hh ja ich glaub wir ham uns besser EINgestellt wenn der 14 - gegner DRUCK macht; 192 Antje Wilton <?page no="193"?> 15 ehm äh wir tun uns dann (-) äh LEICHter als als in der HINrunde, 16 - und heute ham wir (--) die ERste chance gleich geNUTZT; 17 - und <<lachend> des (is) immer> wichtig für ne MANNschaft- 18 - ähm ich glaub am schluss hätt mers noch besser AUSspielen können- 19 - .h und hätten NOCH höher gewinnen können- 20 - in: geWISSen phasen hatten (wir) aber auch n bisschen GLÜCK, 21 - ähm: dass MAINZ kein tor erzielt hat- 22 - .hh aber INSgesamt glaub ich wars ne ORdentliche LEIstung- 23 - woBEI wir spielerisch natürlich BESser spielen können; 24 Int: s gibt ne ganz wichtige WOche, 25 - international das spiel gegen MAILAND, 26 - aber natürlich auch der nächste BUNDESligaknaller gegen DORTmund; 27 - wie wichtig ist DIESes spiel FÜR die saison (.) in der 28 - BUNdesliga gegen die borussia; 29 PhL: ja es wär WICHtig; 30 - nachdem ähm heute hannOVER schon gewonnen hat, 31 - ähm (-) und ähm eben HIER in MAINZ, 32 - dass wir den ABstand auf mainz ähm äh verGRÖSSern, 33 - dass wir den (-) den: VORsprung auf hannover her’ALten, 34 - dass wir (.) LEverkusen n bisschen unter DRUCK setzen morgen, 35 - .hh <<ausatmend> ähm joa (.) aber> (.) es geht immer 36 - WEIter: ähm (.) in der bundesliga, 37 - ! WEIL! (.) wir eben (.) paar punkte hintenDRAN sind; 38 Int: und wie wichtig ist das spiel gegen DORTmund- 39 - oder was ist das besondere an der heRAUSforderung jetzt 40 - den taBELLENführer angreifen zu können, 41 - (-) zumindest aus ner (-) disTANZ von punkten natürlich, 42 PhL: (-) <<ausatmend> ja> wir ham so viel punkte RÜCKstand; 43 - wir müssen auf UNS schauen; 44 - und wir wollen unbedingt ZWEITER werden. 45 - .h äh weil der ef zeh bayern einfach in die championsleague geHÖRT, 46 - und (-) DAzu müssen wir zuHAUSE in der allianz arena auch PUNKten. Über Scheißfragen 193 <?page no="194"?> In diesem Beispiel beginnt der Interviewer das Gespräch mit einer degree question nach der Wichtigkeit des gerade errungenen Sieges, d. h. die Tatsache, dass das Spiel wichtig ist, wird durch die Frage schon festgestellt; lediglich der Grad der Wichtigkeit steht zur Disposition. Lahms Antwort zeigt die erwartbare Reaktion unter Verwendung von natürlich, das auf die gemeinsame Wissensbasis sowie auf die Bewertung des Sieges als offensichtlich zutreffend verweist. Die Verwendung von natürlich kann hier als eine implizite Kritik an der Frage interpretiert werden, die unerlaubterweise nach Bekanntem fragt und damit den Befragten in eine Verteidigerrolle drängt. Im vorliegenden Fall bleibt der Befragte aber im weiteren Verlauf der Antwort kooperativ und fährt mit der Analyse des Spiels fort. Das darauffolgende Frage-Antwort-Paar (9-23) ist im Vergleich unproblematisch; der Aspekt der Wichtigkeit aus der Frage wird in Lahms Beitrag fortgeführt. Im dritten Fragebeitrag des Interviewers (24-28) folgt nun wieder eine degree question, diesmal nach der Wichtigkeit des zukünftigen Spiels gegen Dortmund, das er als Bundesligaknaller bezeichnet. Auf diese Frage antwortet Lahm sachorientiert mit einem Hinweis auf das Verkürzen der Punktedifferenz zwischen beiden Mannschaften; auf den leicht emotionalisierenden Ton des Interviewers geht er nicht ein. Offenbar ist der Interviewer mit dieser Antwort nicht ganz zufrieden: er wiederholt seine Frage (38-41), wiederum in Form einer degree question, ändert dann aber seine Fragestrategie und fragt in einer offenen Frage nach der besonderen Relevanz eines Spiels gegen den Tabellenführer. In seiner Antwort liefert Lahm nun mit einem offenbar vom Interviewer gewünschten Anflug von Ehrgeiz mit dem Hinweis auf den angestrebten zweiten Platz in der Tabelle. An diesem Beispiel kann man ganz gut beobachten, wie der Interviewte trotz grundsätzlicher Kooperativität und Auskunftsbereitschaft in der Gestaltung seiner Antworten Möglichkeiten des Widerstands und der impliziten Kritik gegen die in den Fragebeiträgen suggerierten bzw. eingeforderten Aspekten nutzt. Diese Art von Aushandlung ist in vielen Interviews zu sehen; eine echte Eskalation im Sinne einer offenen Auseinandersetzung ist eher die Ausnahme. Aushandlung von Wissensbeständen Eine solche Ausnahme stellt das folgende Beispiel eines Interviews mit Manuel Neuer dar. Hier lässt sich gut zeigen, wie eine Bewertung des Interviewers vom Spieler als übergriffig in Bezug auf den relevanten Wissensbereich des persönlichen Erlebens empfunden wird: 194 Antje Wilton <?page no="195"?> Interviewer: Int Manuel Neuer: MaN 01 Int: (da)s eins eins öh 02 - gibts glaub ich keine zwei MEINungen; 03 - WAR (--) ihr fehler? 04 MaN: ((laughs ironically)) woll(e)n sie mich verARSCHEN? 05 Int: ne ERNSThaft. 06 - also. 07 - (--) war ja (---) FERNschuss (-) eigentlich- 08 - (-) oder wie ham sie s tor überHAUPT gesehen; 09 MaN: ja (.) wenn sie vom FACH sind öh denk ich ma dann wissen 10 - sie beSCHEID, 11 - ähm es war erstmal en verDECKter schuss; 12 - es war n .h öh ball den de: r ö: : h ja voll da (.) 13 - ich weiß nicht ob er ihn so WILL um den mann herumschießen- 14 - der geht LINKS .h am: spieler vorbEI und geht in die RECHte ecke, 15 - und (-) dementsprechend man muss sich die FLUGkurve mal ANgucken; 16 - norMALerweise .h geht er nämlich in meine ! RECHTE! ecke 17 - und äh- (---) 18 - das is schön dass die journalisten sowas äh (--) gut erKENNEN; 19 Int: aber wir einigen uns auf BLÖDES EI. 20 MaN: (---) jo <<shrugging> (-) es is> ja egal wie der 21 - ball REINgeht öh- 22 - <<kopfschüttelnd> .h (--) ich> denke dass dass es en 23 - gegentor IMMER schlecht is, 24 - (.) für UNS als mannschaft, 25 - aber öh (--) m ich denke wir ham vorher geSAGT auch dass 26 - (.) feulner en sehr guten SCHUSS hat, 27 - und öh man weiß ja beSCHEID, Gleich zum Auftakt des Interviews stellt der Interviewer recht kompromisslos einen Fehler seitens Manuel Neuer fest mit der Behauptung, dass es zum Über Scheißfragen 195 <?page no="196"?> Ausgleichstor keine zwei Meinungen geben könne. Er rahmt diese Feststellung als seine persönliche Einschätzung (glaub ich) und scheint sich der Zustimmung des Spielers sicher zu sein (3). Neuer reagiert mit einer Rückfrage; er geht nicht auf den Inhalt der Frage ein, sondern eröffnet auf einer Metaebene eine Diskussion über die Rechtmäßigkeit der Frage (4). Der Interviewer sieht sich daraufhin gezwungen, sein Anliegen in einer anderen Form darzulegen: Er formuliert nun eine offene Frage nach der Perspektive des Spielers auf das Geschehen (8). Neuer zeigt sich nun zwar kooperativ und erläutert den Torschuss aus seiner Perspektive, übt aber durch metakommunikative Anspie‐ lungen auf den Expertenstatus des Interviewers deutliche Kritik und lässt somit erkennen, dass er dessen Bewertung des Tors als einen Übergriff auf seinen eigenen Wissensbereich und damit auch auf seinen Status als Experte für das Spiel empfindet. Der Interviewer versucht zum Abschluss, noch einmal eine Bewertung als konsensuell zu etablieren (19), wird jedoch wiederum von Neuer zurechtgewiesen, wenn auch diesmal deutlich impliziter: Es sei egal, wie der Ball reingeht. Der abschließende Hinweis auf das Bescheidwissen bleibt im Bezug etwas vage, man kann ihn aber durchaus der Kritik am Übergriff auf den Wissensbereich Neuers zuordnen. Im letzten Beispiel wird deutlich, dass ein Zusammenspiel von degree ques‐ tions und einem Übergriff auf einen dem Spieler zugeordneten Wissensbereich zu einer Eskalation führt. Interviewer: Int Jonas Hector: JoH 01 Int: jonas; 02 - null zu EINS- 03 - HINspiel; 04 - in der relegation lassen sie einfach DAMPF ab (bit-). 04 - (-) gerne- 05 JoH: was soll ichn jetz hier DAMPF ablassen, 06 Int: okay=dan: n f=frag ich ANders; = 07 - w w- (.) 08 - is immer schwierig zu fragen wie groß die entTÄUschung is- 09 - is dieses ergebnis ein geRECHtes oder ein UNgerechtes. 10 JoH: (---) hh° 196 Antje Wilton <?page no="197"?> 11 übers spiel gesehen würd ich sagen äh wär ein unentschieden geRECHT 12 - gewesen- 13 - also is jetz mein empfinden (.) ä: h ausm SPIEL raus- 14 - (.) ä: : hm (-) JA- 15 - steht aber null EIns- 16 Int: wie siehts IN ihnen aus, 17 - wie LEER fühlen sie sich; 18 JoH: immer diese SCHEIß frag[en mit ! LEE: : R! =] 19 Int: [ja es tut mir lEId] 20 JoH: ! JA! (.) also (.) sie 21 - das IS' ja ihr job. 22 - JA. 23 - dumme fragen zu stellen das machen sie GUT. 24 - °h he das DING is- 25 - ich bin nisch LE: ER, 26 - ich hab grad NEUNzig minuten gespielt; 27 - ich bin entTÄUSCHT. 28 - (.) äh dass wir das SPIEL verlorn haben- 29 - wir ham aber am samstag die möglichkeit das BESser zu machen, 30 - und das ding zu DREHN; 31 Int: so dann frag ich jetz vielleicht noch eine DUMme frage (.) zum SCHLUSS. 32 - wie SEHR wird dieses menTALE arbeiten jetzt wichtig bis sAmstag- 33 - die GANze zeit sich zu sagen es IS nur eine halbzeit RUM. 34 - es GEHT noch was. 35 JoH: (---) also da=re=rauf hab isch jetz wirklich GAR keine antwort; 36 Int: gUt. 37 - danke JOnas. In seinem ersten Gesprächsbeitrag bietet der Interviewer seinem Gesprächs‐ partner die Gelegenheit, seiner vom Interviewer unterstellten negativen Ge‐ fühlslage Raum zu geben: Er soll gerne Dampf ablassen. Ganz offensichtlich ist dem Interviewer an einer emotional aufgeladenen Reaktion des Spielers gelegen, die er nach einem verlorenen, aber wichtigen Spiel vom Spieler durchaus erwarten kann. Hector jedoch verweigert dies (5), ähnlich wie Neuer im vorigen Über Scheißfragen 197 <?page no="198"?> Beispiel, mit einer Rückfrage als Antwort und signalisiert somit, dass er die Frage bzw. Aufforderung als Provokation auffasst. Der Interviewer erkennt die Pro‐ blematik und versucht nun, mit metakommunikativen Erläuterungen zu seiner Fragetechnik zum einen sein Angebot zu rechtfertigen und zum anderen zu einem weniger provokanten Fragestil überzugehen. Interessant ist hier, dass der Interviewer selbst thematisiert, wie schwierig das Erfragen der Intensität emo‐ tionaler Zustände ist (8). Er wählt zunächst eine Alternativfrage, die Hector die Gelegenheit geben soll, das Ergebnis als gerecht bzw. ungerecht zu beurteilen. Der Spieler reagiert kooperativ, aber minimalistisch mit einer Einschätzung, die er nicht weiter begründet (10-15). Im Anschluss kehrt der Interviewer dann wieder zur Gefühlslage des Spielers zurück und erfragt mit einer degree question den Grad der Leere, die Hector spüren müsse. Damit unterstellt er dem Spieler eine negative Gefühlslage, die anzunehmen zwar in diesem Kontext plausibel ist, die aber vom Spieler als übergriffig aufgefasst wird. Dies wird in Hectors Reaktion deutlich: Er geht nicht auf die Frage ein, sondern kommentiert sie als „Scheißfrage“, aber in einer Form, die über die aktuelle Frage hinausgeht und das Interviewverhalten grundsätzlich kritisiert (18). Die Entschuldigung des Interviewers (19) kann den Spieler nicht besänftigen, sondern spornt ihn zu weiterer Kritik an, indem er dem Interviewer vorwirft, dumme Fragen zu stellen sei dessen Job (20-23). Im weiteren Verlauf seines Beitrags geht Hector auf den Inhalt der Frage ein: Er muss jedoch erheblichen kommunikativen Aufwand betreiben, die Unterstellung des Interviewers zurückzuweisen und seine Sicht des Spiels geltend zu machen. Er gibt seine Enttäuschung zu, verweist aber direkt im Anschluss auf die Motivation und Ehrgeiz seines Teams für das nächste Spiel. Der Interviewer reagiert auf Hectors Kritik an seinem Fragestil mit einer einleitenden Rahmung seiner nächsten Frage als vielleicht noch eine dumme Frage (31). Mit einer weiteren degree question nach der Wichtigkeit mentaler Arbeit im Hinblick auf das nächste Spiel thematisiert er wiederum den Gefühlszustand des Spielers, der daraufhin endgültig unkooperativ reagiert: Er verweigert einfach die Antwort, worauf sich der Interviewer bedankt und verabschiedet. In den Interviews mit Manuel Neuer und Jonas Hector kann man gut beobachten, wie neben der Sachebene des Spiels, die zwischen Interviewer und Sportler thematisiert wird, eine zweite, metakommunikative Ebene eröffnet wird, auf der die Beteiligten ihren Expertenstatus aushandeln. Auf dieser Ebene werden Fragestil und Wissensbestände der Journalisten in Frage gestellt und der höhere epistemische Status der Spieler durch den exklusiven Zugriff auf das Spielgeschehen legitimiert. 198 Antje Wilton <?page no="199"?> Fazit An den Beispielen lässt sich gut nachvollziehen, dass ein Fußballerinterview trotz seiner ritualgleichen Struktur, die durch ihre Vorhersagbarkeit eine gewisse Si‐ cherheit verschafft (Wilton 2019), auch das Potenzial für problematische Verläufe birgt. Zum einen kann man sehen, dass die sprachliche Gestaltung einer Frage oder eines Fragebeitrags wichtig ist: Wie viel Spielraum lässt eine Frage dem Spieler bei der Antwort, welche impliziten Annahmen oder gar Unterstellungen werden mit einer Frage kommuniziert? Je deutlicher Vorannahmen kommuniziert werden, umso größer ist die Gefahr der Ablehnung und des Widerstands. Zum anderen ist ein sensibler Umgang mit Wissensbeständen nötig: Gerade durch den Expertenstatus beider Beteiligter kann es hier durchaus zu Übergriffen und Konflikten kommen, die umso wahrscheinlicher werden, je unzufriedener der Spieler mit dem Spielgeschehen ist. Den Befragten stehen aber auch Möglichkeiten des impliziten Widerstands zur Verfügung, die nicht zwangsläufig zu einem offensichtlich problematischen Verlauf oder gar Scheitern des Interviews führen. Möglicherweise tragen aber schon implizite Widerstände gegen ungeschickte Fragestrategien wie im Beispiel Lahm dazu bei, dass Interviews von einem mediensensiblen Publikum als nicht gelungen empfunden werden, was dem Image des Fußballerinterviews nicht unbedingt förderlich ist. Wenn man das Fußballerinterview also als ein Medienritual (Wilton 2018) ansieht, das durch seine Position direkt nach dem Spiel dazu da ist, den noch schwitzenden und - positiv oder negativ - erregten Spieler dem Publikum näher zu bringen, kann man vielleicht eher akzeptieren, dass an dieser Stelle kein inhaltlich anspruchsvolles Gespräch möglich oder sinnvoll ist. Es geht natürlich primär darum, dem Spieler und seiner unmittelbaren Emotionalität nahe zu kommen; Freud und Leid mit ihm zu teilen. Wie wir an den obigen Beispielen gesehen haben, ist ein solches Ziel aber durchaus journalistisch anspruchsvoll: Wer keine Eskalation insbesondere der negativen Emotionen riskieren möchte, täte gut daran, Frageformen wie degree questions auf ein Minimum zu reduzieren - sie könnten sonst schnell zu einer echten „Scheißfrage“ werden. ⚽️-⚽️-⚽️ Caldwell, David. 2009. “Working Your Words”: Appraisal in the AFL Post-Match Inter‐ view. Australian Review of Applied Linguistics 32(2). 13.1-13.17. Deppermann, Arnulf. 2008. Gespräche Analysieren: eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Über Scheißfragen 199 <?page no="200"?> File, Kieran. 2012. Post-Match Interviews in New Zealand Rugby: A Conciliatory Media Interview Genre. New Zealand English Journal 26. 1-22. Heritage, John. 2013. Epistemics in conversation. In John Sidnell & Tanya Stivers (eds.), The Handbook of Conversation Analysis, 370-394. Hoboken: Wiley-Blackwell. Horton, Donald & R. Richard Wohl. 1956. 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Was beim Fußball der Fehlpass ist, ist beim Reden über den Fußball der Versprecher: eine aus dem Spielaufbau bzw. aus der Sprachproduktion hervorgehende Fehlleistung. Zwar produzieren Fußballprofis nicht mehr sprachliche Stolperer als andere Menschen, aber wenn sie es tun, dann sind sie als öffentliche Personen einer besonderen, nämlichen einer medialen Aufmerksamkeitslogik ausgesetzt. So erzielen sprachliche Fehltritte von Fußballprofis gelegentlich große Aufmerksamkeit und werden in Samm‐ lungen tradiert und in sozialen Medien auch Jahre und Jahrzehnte später noch zitiert. Ein bekannter und unzählige Male reproduzierter Versprecher ist etwa die Beteuerung des zweiundfünfzigfachen Nationalmannschaftsspielers Olaf Thon: „Ich habe ihn nur ganz leicht retuschiert.“ Hierbei handelt es sich um einen Versprecher, den man psycholinguistisch als eine so genannte Addition (Schade, Berg & Laubenstein 2003: 318) bezeichnen kann: Olaf Thon hat seiner Formulierung sprachlich etwas hinzugefügt, was dort eigentlich nicht hingehört - und er hat wohl auch auf dem Platz seinem Gegenspieler etwas zugefügt, was nicht ganz regelkonform war. Thons Beteuerung ist ein nicht so geplanter, aber trotzdem charmanter Versuch, die auf dem Feld begangene Regelwidrigkeit schönzureden. Ein weiteres Beispiel stammt von Rainer Calmund. Der für seine Körperfülle bekannte Leverkusen-Manager, der während mehreren Jahren auch an verschie‐ denen Fernsehkochshows mitwirkte, soll gesagt haben: „Das Trainer-Thema ist bei uns pasta.“ Trotz des Umstands, dass er seine Leibesfülle regelmäßig selbst‐ ironisch thematisierte, ist es hochgradig unwahrscheinlich, dass Calmund die Aussage so geplant hatte. Naheliegender ist wohl, dass er „passé“ sagen wollte. <?page no="202"?> Es darf auch in diesem Fall mit gutem Grund angenommen werden, dass eine ungewollte Divergenz zwischen Planung und Realisierung der Aussage vorliegt. Von Fredi Bobic, der seine erfolgreichste Zeit als Spieler beim VfB Stuttgart hatte, ist ein Versprecher überliefert, bei dem es ebenfalls zu einer vielsagenden Kollision von Aussageintention und Aussageinhalt kommt: „Man darf jetzt nicht alles so schlecht reden, wie es war.“ Mit dieser Aussage manövriert sich Fredi Bobic ungewollt ins rhetorische Abseits. Ein solcher Versprecher ist ein Steilpass für kritische Stimmen, die sich darin bestätigt sehen, dass die Leistung der Mannschaft ungenügend war. Wie ist es nun aber erklärbar, dass Sprecherinnen und Sprecher gelegentlich Dinge sagen, die nicht mit ihrer Äußerungsabsicht übereinstimmen? Um diese Frage beantworten zu können, gilt es Versprecher als Phänomene der spontanen Sprachverwendung näher zu bestimmen und von ähnlichen sprachlichen Phä‐ nomenen abzugrenzen. Definition: Was sind Versprecher? Versprecher werden in der Versprecherforschung als so gennannte Performanz‐ fehler bezeichnet (dies im Unterschied zu Kompetenzfehlern). Damit ist gemeint, dass die sprachlichen Fehlleistungen durch schief gelaufene Sprachproduktions‐ prozesse entstehen und nicht durch mangelndes Wissen. Entsprechend lassen sich Versprecher wie folgt definieren: Ein Versprecher liegt dann vor, wenn die spontane sprachliche Äußerung eines gesunden, der jeweiligen Sprache mächtigen Sprechers ungewollt von der eigentlich beabsichtigten Äußerung abweicht. In der herkömmlichen Definition sind Verspre‐ cher immer Performanzfehler, weil man davon ausgeht, die sprachliche Kompetenz sei völlig intakt. (Schweitzer 2019: 93) Der Unterschied zwischen Performanz und Kompetenz kann begrifflich auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass Versprecher als Sprechfehler bezeichnet werden, dies im Unterschied zu Sprachfehlern, bei denen die sprach‐ liche Kompetenz beeinträchtigt ist. Im Kern fast aller Definitionsansätze findet sich die Vorstellung, wonach ein Versprecher dann vorliegt, wenn eine Äuße‐ rung misslingt und nicht mit dem übereinstimmt, was die sprechende Person zu sagen beabsichtigte. Die Frage ist allerdings, wie man zuverlässig wissen kann, was eine Person zu sagen beabsichtigte. Diesbezüglich gilt es zwischen klaren und weniger klaren Fällen zu unterscheiden. In den eindeutigen Fällen lässt sich aus der Art der Fehlleistung mit großer Sicherheit rekonstruieren, welche Äußerungsabsicht einer Formulierung zugrunde lag. Dies kann z. B. mit 202 Stefan Hauser <?page no="203"?> einem Versprecher von Karlsruhes Christian Eichner illustriert werden: Nach einem Sieg gegen Bayer Leverkusen sagte Eichner: „Da haben wir sicherlich mal das notwendige Glückchen gehabt.“ Bei diesem missglückten, aber fast schon poetisch anmutenden Formulierungsversuch wurde vom Sprecher das sprichwörtliche „Quäntchen Glück“ anvisiert. Weil die Wortschöpfung „Glück‐ chen“ im Deutschen nicht gebräuchlich ist, wohl aber das „Quäntchen Glück“, lässt sich die Verschmelzung, die mit einer Inversion der beiden Bestandteile verbunden ist, mit großer Sicherheit als Versprecher bestimmen. Es sind jedoch nicht alle Aussagen, die eine ungewollte zweite Lesart auf‐ weisen, als Versprecher im engeren Sinne einzustufen. Es gibt auch Fälle, bei denen Planung und Ausführung durchaus kongruent sind, die aber dennoch, z. B. aufgrund eines spezifischen Kontexts, eine unbeabsichtigte Mehrdeutigkeit entfalten. So ist es fraglich, ob Josef Hickersberger, Nationaltrainer Österreichs, tatsächlich zum Ausdruck bringen wollte, dass Österreich so gut wie keine Stärken habe, als er anlässlich der EM 2008 sagte „Wir haben nur unsere Stärken trainiert, deswegen war das Training heute nach 15 Minuten abgeschlossen.“ Ob das tatsächlich so gesagt wurde und welche Aussage damit intendiert war, lässt sich allein aufgrund des überlieferten Zitats nur schwer beurteilen. Entsprechend ist davon auszugehen, dass es zwischen Versprechern im engeren Sinne - also sprachlichen Fehlleistungen, die eindeutig als produktionsbedingte Performanzfehler einzustufen sind - und anderweitig mehrdeutigen oder miss‐ glückten Formulierungen einen gewissen Übergangsbereich gibt. Ob eine Aussage auf einer bewusst sprachspielerischen oder selbstironischen Absicht beruht oder ob sie ungeplant zustande kam und der eigentlichen Äu‐ ßerungsabsicht zuwiderläuft, ist also nicht immer ganz eindeutig entscheidbar. Manchmal spielt diese Frage allerdings auch gar nicht so eine wichtige Rolle, wie etwa im Fall von René van Eck, der als Trainer des FC Carl Zeiss Jena eine fast schon philosophische Aussage machte: „Wir müssen so weiterfahren, wie wir bisher weitergefahren sind.“ Ob die Formulierung so geplant war oder nicht, ist ungewiss. Das ist aber insofern auch nicht entscheidend, als mit der tautologischen Aussage - gewollt oder ungewollt - eine tieferliegende Wahrheit zum Ausdruck kommt. Anders präsentiert sich die Situation, wenn ein Versprecher bemerkt und korrigiert wird. In solchen Fällen geben die Sprechenden durch die Selbstkor‐ rektur zu erkennen, dass zwischen Planung und Artikulation eine ungewollte Divergenz besteht. So bemerkte Markus Schroth, Stürmer des 1. FC Nürnberg, seinen Versprecher und korrigierte ihn: "Wir wollen schauen, dass wir in der Bundesliga schon noch so gut wie möglich absteigen. Ähhhh, Schnitt, nochmal. Dass wir in der Bundesliga so gut wie möglich abschneiden und den fünften „Wir sind eine gut intrigierte Truppe.“ 203 <?page no="204"?> Platz, den wir jetzt haben, natürlich verteidigen bis zum Ende." In diesem Fall bemerkt der Sprecher den Fehler und gibt dies auch metasprachlich zu erkennen („Ähhhh, Schnitt, nochmal.“). In der Reformulierung werden die fehlerhaften Elemente getilgt und durch richtige Formulierungen ersetzt. Korrekturen bzw. Korrekturversuche von Versprechern können sich also bezüglich der Rekon‐ struktion der Äußerungsabsicht als sehr aufschlussreich erweisen. Allerdings werden sie in den Sammlungen von Fußballzitaten eher selten dokumentiert, was ihre psycholinguistische Einordnung nicht unerheblich beeinträchtigt. Psycholinguistische Versprecherforschung Die Psycholinguistik ist eine sprachwissenschaftliche Teildisziplin, die sich an der Schnittstelle von Psychologie und Linguistik befindet. Sie befasst sich mit Fragen des Spracherwerbs, mit Strukturen und Organisationsprinzipien von sprachlichem Wissen im menschlichen Kopf (mentales Lexikon) und mit Sprachverarbeitungsprozessen (Produktion und Rezeption von Sprache). Sprachliche Fehlleistungen stellen für die Psycholinguistik eine Möglichkeit dar, Erkenntnisse über das mentale Lexikon und über Sprachproduktionsprozesse zu gewinnen. Im Unterschied zur Aphasiologie, die sich mit krankheits- und verletzungsbedingten Sprachstörungen beschäftigt, interessiert sich die Ver‐ sprecherforschung für sprachliche Fehlleistungen, die bei gesunden Menschen in der spontanen Sprachverwendung gelegentlich vorkommen. Die von Rudolf Meringer und Karl Mayer im Jahr 1895 veröffentliche Studie „Versprecher und Verleser. Eine psychologisch-linguistische Studie“ wird gewöhnlich als Beginn der sprachwissenschafltlichen Versprecherforschung bezeichnet. Schon diese Autoren vermuteten, dass Sprechfehler Einblicke in wichtige Merkmale und Funktionsweisen des menschlichen Sprachverarbei‐ tungssystems offenbarten. Knapp zehn Jahre nach Meringer und Mayer veröf‐ fentlichte Sigmund Freud (1904) seine „Psychopathologie des Alltagslebens“. Auch er befasste sich mit der Bedeutung von Versprechern und anderen Fehlfunktionen. Allerdings interpretierte er sprachliche Fehlleistungen nicht linguistisch, sondern rein psychoanalytisch: Ein Versprecher ist gemäß Freud ein psychisches Phänomen, das auftritt, wenn das Unbewusste eine Gelegenheit findet, verdrängte oder unterdrückte Inhalte (Freud spricht auch von Trieben und Wünschen) durch eine scheinbare „Fehlleistung“ ans Licht zu bringen. Demgegenüber richtet sich das psycholinguistische Interesse an sprachlichen Fehlleistungen auf die Frage, wie sich Versprecher aus der Organisation des mentalen Lexikons und aus Sprachverarbeitungsprozessen erklären lassen. So kann der Versprecher „Man muss nicht immer das Salz in der Suppe suchen.“ 204 Stefan Hauser <?page no="205"?> (Philipp Lahm) damit erklärt werden, dass zwei feste Wortverbindungen (so ge‐ nannte Phraseologismen) durcheinandergeraten sind, und zwar „das Haar in der Suppe suchen/ finden“ und „das Salz in der Suppe sein“. Obwohl die beiden Phra‐ seologismen eine grundverschiedene Bedeutung haben, sind beide Redewen‐ dungen aktiviert und während des Artikulationsprozesses vermischt worden. In der Psycholinguistik wird dieses Phänomen des Vermischens verschiedener Formulierungsmuster als Kontamination bezeichnet. Um zu verstehen, wie diese Kontamination zustande kommen konnte, gilt es die Organisationsprinzipien des mentalen Lexikons zu berücksichtigen. Ähnlich wie einzelne Wörter (so genannte Lexeme) sind auch Wortverbindungen als Einheiten im mentalen Lexikon abgespeichert, und zwar sowohl formal als auch funktional. Die Ursache für die obige Kontamination liegt formal gesehen darin, dass in beiden Phraseologismen die Komponente „Suppe“ vorkommt. Funktional gesehen wird mit beiden Phraseologismen eine Wertung zum Ausdruck gebracht. Ungewollt (und vom Sprecher vermutlich unbemerkt) hat die Komponente „Suppe“ nicht nur die intendierte Redewendung, sondern auch noch eine andere getriggert. Bei der Umsetzung der geplanten Äußerung hat sich schließlich die falsche Variante durchgesetzt. Versprecher von Fußballprofis als Datengrundlage Wenn sich Fußballprofis im Rahmen von Pressekonferenzen oder (Post- Match-)Interviews mit originellen oder brisanten Äußerungen zu Wort melden, ist ihnen die mediale Aufmerksamkeit gewiss. Neben den so genannten Fuß‐ ballweisheiten wie „Das Runde muss ins Eckige“ (Sepp Herberger) gehören auch flapsige Sprüche wie „Manchmal muss man im Fußball Tore schießen“ (Thierry Henry) und Versprecher zu den beliebten Aussagen, die gerne zitiert und gesammelt werden. Einige dieser als Bonmots bekannten Aussagen haben über den Fußballkontext hinaus Bekanntheit erlangt und werden in modifizierter Form auch in anderen gesellschaftlichen Domänen verwendet (vgl. z. B. „Nach der Wahl ist vor der Wahl.“). Versprecher bilden eine Teilmenge dieser öffent‐ lichkeitswirksamen Zitate. So hat Lothar Matthäus mit der Aussage „Mailand oder Madrid - Hauptsache Italien“ einen fast schon legendären lapsus linguae produziert, der in kaum einer Zitatesammlung von Fußballprofis fehlt. Wenn im Rahmen dieses Beitrags der Versuch unternommen wird, am Beispiel ausgewählter Versprecher einen Einblick in die psycholinguistische Interpretation sprachlicher Fehlleistungen zu bieten, dann gilt es auf verschie‐ dene Dinge hinzuweisen. Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass die hier gemachten Beobachtungen nicht den Anspruch haben, eine umfassende psy‐ „Wir sind eine gut intrigierte Truppe.“ 205 <?page no="206"?> cholinguistische Analyse zu bieten. Dafür ist die Datengrundlage nicht geeignet. Im Rahmen dieses Beitrags wird auf Sammlungen von Sprüchen und Verspre‐ chern zurückgegriffen, die sich über Web-Recherchen finden lassen. Es handelt sich bei den hier behandelten Beispielen also um Belege aus Internetquellen. Dazu gehört auch die Sammlung „Keiner verliert ungerne“ von Arnd Zeigler, die auch als gedrucktes Buch publiziert wurde (2010). Für diese Sammlungen ist charakteristisch, dass die Authentizität der Aussagen nicht gesichert ist. Damit soll zwar nicht in Zweifel gezogen werden, dass diese Versprecher tatsächlich produziert wurden, aber den kolportierten Versprechern fehlen erstens die Merkmale gesprochener Sprache. So werden etwa Verzögerungen, Satzabbrüche, Wiederholungen etc., die für spontane mündliche Sprache normal sind, getilgt. Zweitens werden die Versprecher von ihrem vorangehenden und nachfolgenden Kontext isoliert. Man weiß also typischerweise nicht, welche Aussage einem Versprecher vorausging. Und drittens erfährt man in der Regel auch nicht, ob der Versprecher entdeckt und allenfalls korrigiert wurde. Der folgende Fall einer vom Sprecher bemerkten und korrigierten Vertauschung bildet in Sammlungen von Fußballzitaten eher die Ausnahme als die Regel: „Alles ist stellvorbar … äh: vorstellbar.“ (Bastian Schweinsteiger) Es gibt gute Gründe für die Annahme, „dass sprachlicher und nichtsprach‐ licher Kontext eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen von Verspre‐ chern und Verschreibern spielen“ (Vater 2009, 65). In Versprechersammlungen, die sprachliche Fehlleistungen von Fußballprofis aufführen, gibt es lediglich in einzelnen Fällen Hinweise auf den Gesprächskontext. So hat Michael Ballack den Versprecher „Keiner verliert ungerne“ in der Samstagabendshow „Wetten, dass, …? “ formuliert. Solche sehr allgemeinen Hinweise auf den Äußerungs‐ kontext sind für die Erklärung des Versprechers oftmals wenig relevant. Auf‐ schlussreicher wäre es, etwas über den vorangehenden Gesprächsverlauf zu erfahren. In welchem thematischen Zusammenhang eine Äußerung gemacht wurde, z. B. ob sie als Antwort auf eine spezifische Interviewfrage formuliert wurde, wäre für die Erklärung der Fehlleistung hilfreicher als der Hinweis auf die Fernsehsendung. Für eine ernsthafte Analyse von Versprechern wären darüber hinaus auch noch weitere Aspekte, wie z. B. prosodische Merkmale, von Interesse. Weil diese Voraussetzungen bei den lediglich schriftlich vorliegenden Zitatsammlungen nicht gegeben sind, ist bei der sprachwissenschaftlichen Ana‐ lyse von Versprechern eine gewisse Vorsicht geboten. Aber weil die Intention von Versprechersammlungen typischerweise in der Belustigung liegt, kann die Reduktion von Kontextinformationen als durchaus funktional betrachtet werden: Versprecher von Fußballprofis werden zum Zweck des Amüsements 206 Stefan Hauser <?page no="207"?> zitiert; ein psycholinguistisch begründetes Interesse an den Ursachen der sprachlichen Fehlleistungen besteht bei diesen Sammlungen in der Regel nicht. Typen von Versprechern (oder Deskription und Explikation) Ein in der Versprecherforschung oft formulierter Befund besagt, dass Verspre‐ cher nicht beliebig auftreten: „Obwohl Versprecher spontane, ungeplante Äu‐ ßerungen sind, unterliegen sie häufig starken grammatischen Beschränkungen“ (Leuninger 2009: 63). Wir versprechen uns also nicht einfach irgendwie, son‐ dern nach bestimmten Regeln. „Im Vergleich dazu, was an Fehlern überhaupt vorstellbar wäre, kommen tatsächlich nur sehr wenige Arten von Sprechfeh‐ lern vor, von denen sich viele ohne weiteres bestimmten Typen zuordnen lassen“ (Schweitzer 2019: 94). Bereits Meringer & Mayer (1895) haben auf die Regelhaftigkeit anormaler Äußerungen aufmerksam gemacht. Ihre fünfteilige Versprecherklassifikation hat (in teils modifizierter Terminologie) ihre Bedeu‐ tung für die moderne Versprecherforschung behalten. Allerdings ist vereinzelt kritisiert worden, dass nicht immer sauber zwischen der formalen Deskription von Versprechern und ihrer Explikation unterschieden werde (Schade et al. 2003: 318). Während die Deskription um eine möglichst theoriefreie Darstellung der Unterschiede zwischen geplanter und tatsächlicher Äußerung bemüht sein sollte, geht mit der Explikation der Versuch einher, mittels einer Beschreibung des versprecherbegünstigenden Kontexts zu erläutern, weshalb der Versprecher zustande kam. Bei den folgenden fünf Beispielen handelt es sich auf der Ebene der Deskrip‐ tion um den jeweils gleichen Fall, nämlich um eine Substitution, d. h. um die Ersetzung eines korrekten Elements durch ein falsches. Auf der Ebene der Ex‐ plikation gilt es hingegen zwischen verschiedenen Ursachen zu unterscheiden: 1. „Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken.“ (Lothar Mat‐ thäus) 2. „Da ist schon lange Schnee drüber gewachsen.“ (Andreas Brehme) 3. „Wir müssen gewinnen, alles andere ist primär.“ (Hans Krankl) 4. „Ich bin körperlich und physisch topfit.“ (Thomas Häßler) 5. „Es sind Worte gefallen. Jetzt werden Taten fallen.“ (Huub Stevens) Im ersten Fall ist die Substitution darauf zurückzuführen, dass in einer festen Redewendung zwei Positionen vertauscht wurden. Demgegenüber werden im zweiten Beispiel zwei verschiedene, aber bedeutungsähnliche Aussageweisen miteinander verschmolzen, nämlich „etwas ist Schnee von gestern“ und „über etwas ist Gras gewachsen“. Solche Vermischungen werden, wie bereits ange‐ „Wir sind eine gut intrigierte Truppe.“ 207 <?page no="208"?> 1 Im ZEIT-Korpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache können mit der Suchanfrage COUNT (alles andere ist $p=ADJD) #BY[$l+3] #DESC_COUNT die fol‐ genden Adjektive als häufigste Füllungen der Leerstelle ermittelt werden: zweitrangig, unwichtig, fahrlässig, unrealistisch, verantwortungslos, nebensächlich. merkt, als Kontamination bezeichnet. Beim dritten Beispiel kommt die Substitu‐ tion anders zustande: Die Adjektive „primär“ und „sekundär“ kommen aus dem gleichen Bedeutungszusammenhang, auch wenn sie unterschiedliche Enden einer Wertungsskala belegen. Möglicherweise spielt hier auch das Formulie‐ rungsmuster „Alles andere ist [X]“ eine Rolle, und zwar ist die Leerstelle [X] typischerweise mit einem negativ konnotierten Wertungsadjektiv besetzt, etwa „sekundär“, „irrelevant“ oder „unbedeutend“ etc. 1 Dass dem Sprecher bei der lexikalischen Füllung der Leerstelle ein Fehler unterlaufen ist, ist vermutlich damit erklärbar, dass die Aussage „Wir müssen gewinnen“ noch nachwirkt und die Wortwahl im zweiten Teil der Aussage beeinflusst. Denkbar ist außerdem, dass die gleichlautende Auslautung von „primär“ und „sekundär“ die Ersetzung zusätzlich begünstigt hat. Beim vierten Beispiel lässt sich zwar nicht mit Sicher‐ heit bestimmen, welches Element substituiert wurde, aber die Vermutung liegt nahe, dass die beiden Doppelkonzepte „physisch und psychisch“ und „körperlich und geistig“ (oder ev. „körperlich und mental“) durcheinandergeraten sind. Beim fünften Versprecher besteht der lapsus linguae darin, dass ein bereits geäußertes Element („gefallen“) ein zweites Element („folgen) verdrängt. Für dieses Phänomen gibt es in der Versprecherforschung eine ganze Reihe von Begriffen: Reiteration, Perseveration, Retention, Nachklang etc. Schlusspfiff Versprecher von Fußballprofis bekommen oft besondere Aufmerksamkeit. Teil‐ weise wird damit dem Stereotyp Vorschub geleistet, wonach Fußballprofis nicht die hellsten Köpfe seien. Psycholinguistisch gesehen gibt es dafür - zumindest was die Auftretenshäufigkeit von Versprechern betrifft - keine Evidenz. In der medialen Diskursivierung ist aber eine klare Tendenz festzustellen, Versprecher von Fußballprofis nicht als Performanz-, sondern als Kompetenzfehler einzu‐ ordnen und damit die althergebrachte stereotype Vorstellung fortzuschreiben, dass Fußballprofis rhetorisch und kognitiv restringiert seien. Aus psycholin‐ guistischer Sicht gibt es aber keine plausiblen Gründe, um zwischen einem Versprecher und den geistigen Fähigkeiten des Sprechers einen direkten Zu‐ sammenhang herzustellen. So ist etwa „Das war kein Zuckerbissen für die Fans“ (Mario Gomez) eine Kontamination aus zwei Phraseologismen, die auch bei Menschen vorkommen kann, die ihr Geld nicht mit Fußball verdienen. Wenn 208 Stefan Hauser <?page no="209"?> Versprechern von Fußballprofis überdurchschnittlich hohe Aufmerksamkeit zukommt, dann ist dies letztlich eher medien- oder diskurslinguistisch als psy‐ cholinguistisch relevant. Die äußerst lesenswerte Versprechersammlung „Reden ist Schweigen, Silber ist Gold“ (1993) von Helen Leuninger legt ein Zeugnis davon ab, wie vielfältig und teils amüsant sprachliche Fehlleistungen sein können - auch jenseits der Domäne Fußball. Gelegentlich einen Versprecher zu produzieren, ist also völlig normal. Und man kann daher abschließend festhalten, dass Fußballstars - zumindest in dieser Hinsicht - ganz normale Menschen sind. ⚽️-⚽️-⚽️ Leuninger, Helen. 1993. Reden ist Schweigen, Silber ist Gold. Gesammelte Versprecher. 2. Auflage. Zürich: Ammann. Leuninger, Helen. 2009. Versprecher: Ein Zusammenspiel von Kürze und Komplexität. In Jochen A. Bär, Thorsten Roelcke & Anja Steinhauer (eds.), Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte, 63-69. Berlin, New York: De Gruyter. Meringer, Rudolf & Karl Mayer. 1895. Versprechen und Verlesen. Eine psychologischlinguistische Studie. Stuttgart: Göschen'sche Verlagshandlung. Schade, Ulrich, Thomas Berg & Uwe Laubenstein. 2003. Versprecher und ihre Repara‐ turen. In Gert Rickheit, Theo Herrmann & Werner Deutsch (eds.), Psycholinguistik - Psycholinguistics (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), 317-338. Berlin: Mouton de Gruyter. Schweitzer, Bertold. 2019. Der Erkenntniswert von Fehlfunktionen. Die Analyse von Ausfällen, Defekten und Störungen als wissenschaftliche Strategie. Berlin: J.B. Metzler. Vater, Heinz. 2009. Zur Rolle des Kontextes bei Versprechern und Verschreibern. tekst i dyskurs - text und diskurs 2. 65-79. Zeigler, Arnd. 2010. Keiner verliert ungern. Neue Sprüche und Weisheiten der Fußballstars. Hannover: Humboldt. „Wir sind eine gut intrigierte Truppe.“ 209 <?page no="211"?> Beim Doppelpass: Kopf hoch Konstanze Marx Terminologisches Aufwärmtraining Ein Doppelpass ist ein Pass, der zurückgespielt wird, allerdings schnell und überraschend. Die Spielerin, die den Ball zuerst passt, setzt sich nämlich Rich‐ tung Tor in Bewegung, um den Ball wieder anzunehmen und die gegnerische Abwehr auszuspielen. So oder so ähnlich kann man es in jedem Fußball-Lexikon nachlesen (Burkhardt 2006: 78). Dass es für derlei Kombinationen intensiven Trainings bedarf, ist so sicher wie dass das Runde ins Eckige muss. Spielerin 1 hat die Aufgabe, die Spielsituation zu evaluieren, ihren Laufweg zu planen und ihrer Mitspielerin mit Hilfe von Blickkontakt, vereinbarter Gestik und Bewe‐ gungen zu signalisieren, welcher Spielzug ansteht, wenn sie ihre Teampartnerin anspielt. Spielerin 2 muss diese Signale empfangen, richtig deuten, den Ball annehmen, ihrerseits die Schussbahn berechnen und den Ball entsprechend zurückpassen. Es sind komplexe Abläufe, die immer wieder geübt werden, damit sie in der konkreten Spielsituation funktionieren. Dabei ist es im Idealfall unerheblich, wer in der Offensive den Doppelpass initiiert und wer zurückspielt. Das Muster sollten alle internalisiert haben, die in eine solche Spielsituation kommen könnten. Interessanterweise sind in der verbalen Kommunikation Muster weit verbreitet, die mit Doppelpässen vergleichbar sind - mit einer Abweichung vielleicht: Sie dienen nicht notwendigerweise dazu, einen Dritten (den Gegner) überraschend in die Defensive zu drängen. In sogenannten Nachbarschaftspaaren spielen wir uns gewissermaßen den sprachlichen Ball routiniert zu. Sie bestehen typischerweise aus einem ersten und einem zweiten Paarsequenzteil, wobei eine Sequenz eine Äußerung ist, die auf vorherige Äußerungen, Handlungen oder Ereignisse Bezug nimmt und Folgeäußerungen projiziert (Birkner et al. 2020: 242). Ein Beispiel für einen ersten Paarsequenzteil wäre etwa eine Begrüßung, wenn man jemand Bekanntes auf der Straße trifft oder jemand einen Raum betritt. Diese Begrüßung erfolgt in der Erwartung eines Gegengrußes, dem zweiten Paarsequenzteil (Schegloff & Sacks 1973), und die Abfolge Gruß-Gegengruß gelingt ungeachtet <?page no="212"?> dessen, ob es eine fremde oder bekannte Person ist, die den Raum betritt. Ähnlich erwartbar ist eine Antwort als Entgegnung auf eine Frage, die Annahme oder Ablehnung eines Angebots oder eine Höflichkeitsformel wie „gern geschehen“, wenn sich jemand bedankt. Das Ganze funktioniert auch, wenn die sogenannte Initialsequenz nicht sprachlich ist. Überreicht jemand ein Geschenk, wird das im Regelfall mit einem Dank quittiert. Dass die erste (verbale) Handlung die zweite erwartbar macht, nennt man konditionelle Relevanz. Die genannten Nachbarschaftspaare (Gruß-Gegen‐ gruß, Frage-Antwort, Angebot-Annahme/ Ablehnung, Dank-höfliche Entlas‐ tung) sind in Lehrbüchern zur Konversations- und Interaktionsanalyse Para‐ debeispiele, um zu zeigen, dass man sich im Gespräch nach einem ersten Paarsequenzteil nicht nicht verhalten kann. Dabei werden prototypische Reak‐ tionen des Gegenübers präferiert (Imo & Lanwer 2019: 178) und Abweichungen dispräferiert. Gerade die Abweichungen lösen bei uns Schlussfolgerungspro‐ zesse aus: Wir fragen uns, warum uns jemand zum Beispiel nicht antwortet und aktivieren ein Spektrum an möglichen Annahmen zur Erklärung. Hat die Person meine Frage nicht gehört oder nicht verstanden? Möchte sie mir nicht antworten, hat sie keine Antwort oder war meine Frage einfach eine „Scheiß‐ frage“ - eine Einschätzung, zu der unmittelbar nach dem Match interviewte Spieler: innen offenbar häufiger kommen (dazu Wilton in diesem Band). Es erfordert dann zusätzliche Ressourcen, um in der Kommunikation am Ball zu bleiben. So ist es gerade in solchen Fällen linguistisch interessant, wie die Abweichungen konkret artikuliert werden und wie dennoch beide Interagie‐ renden miteinander kooperieren. Linguistisch interessant ist aber auch, welche weiteren Nachbarschaftspaare sich identifizieren lassen, und ob sie auch abseits des Platzes (der das Face-to-Face-Gespräch wäre) funktionieren? Aufstellung für das Auswärtsspiel In meinem Beitrag verlasse ich nämlich das übliche (wenn man so will heimische) Spielfeld und lenke den Blick in die Sozialen Medien. Warum? Weil mich der Zugzwang, den der erste Paarsequenzteil auslöst, in einem Setting interessiert, in dem man anders als in der Face-to-Face-Situation eigentlich ausweichen kann. Schließlich könnte man gerade auf Social Media den Ball flach halten, niemand ist gezwungen, Posts zu kommentieren. Was jemand auf einer Social- Media-Plattform (wie z. B. Instagram) in einem Initialpost schreibt, adressiert ge‐ wöhnlich zunächst einmal niemanden direkt. Für Cybermobbing und Shitstorms habe ich jedoch an anderer Stelle gezeigt, dass solche Einträge Machtpotenzial aufweisen. Sie können qualitativ und quantitativ Folgeäußerungen (also eine 212 Konstanze Marx <?page no="213"?> 1 https: / / www.sport1.de/ news/ fussball/ frauen-wm/ 2023/ 08/ frauen-wm-dfb-star-weintbitterlich-nach-wm-fiasko Reihe von zweiten Paarsequenzteilen) ganz im häufig perfiden Sinne der Person auslösen, die sich initial geäußert hat (Marx 2017: 126-131). Die Beschaffenheit von Initialsequenzen und deren Anschlusskommunikation näher in den Blick zu nehmen ist also lohnenswert, um z. B. toxische Diskursdynamiken schneller zu erkennen und Interventionsstrategien zu entwickeln. Aber verbale Fouls möchte ich in diesem schönen Buch lieber ausblenden. Vielmehr soll hier konstruktives Diskursverhalten in Enttäuschung-Trost- Doppelpässen im Mittelpunkt stehen. Auch in diesem Fall sind Diskursdyna‐ miken relevant, weil sie supportive Strukturen sichtbar machen, die für unsere Zivilgesellschaft unabdingbar sind. Die Flanke vom Doppelpass zur Zivilge‐ sellschaft mag vielleicht gewagt erscheinen. Dass es durchaus fruchtbar sein kann, Kommunikation im Fußball als Labor für unterschiedliche gesellschaftlich bedeutsame Szenarien heranzuziehen, hat der Fußballlinguist und Herausgeber des vorliegenden Bandes, Simon Meier-Vieracker, jedoch in zahlreichen Pu‐ blikationen (u. a. 2022) gezeigt. Fragen danach, wie man kommunikativ mit großer Enttäuschung umgeht, wie die eigene Schwäche thematisiert und wie gegenseitige Stärkung ausgedrückt werden können, lassen sich im geschützten Fußballrahmen also durchaus mit dem Ziel stellen, daraus Taktiken für Emo‐ tionen evozierende persönliche Interaktionen abzuleiten. Ich kann vorwegschicken, dass es alles andere als einfach ist, die Enttäu‐ schung über eigene Misserfolge in Worte zu fassen. Im Fußball wird diese Fähigkeit immer wieder gefordert, dennoch war es direkt nach dem WM- Vorrunden-Aus der als Titelanwärterinnen gehandelten DFB-Frauen gegen Süd- Korea für die Kapitänin Popp schwer, Worte zu finden. „Es ist noch nicht zu begreifen. Ich weiß nicht, was ich großartiges sagen soll. Ich kann es nicht so ganz verstehen, was gerade abgeht“, wird sie in der SportBILD vom 3. August zitiert. Ganz ähnlich soll sich Jule Brand geäußert haben: „Mir fehlen die Worte. Ich bin gerade einfach sehr enttäuscht, es hat nicht gereicht.“ Auch Svenja Huth hatte „keine Worte gerade“: „Ich weiß gerade ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Ich bin leer, ich bin wie ohnmächtig“, artikulierte sie ihre Sprachlosigkeit. 1 Diese Interviews, in ähnlicher Weise auch auf YouTube abrufbar, werden dort in großen Teilen mit Hohn und Spott quittiert. Auf den vermutlich kuratierten Instagram-Accounts aber, wo sich die Spielerinnen der Nationalmannschaft in den meisten Fällen mit ein paar Tagen Abstand zum enttäuschenden Ereignis äußern, lassen sich eine Reihe von bestärkenden Kommentaren finden. Beim Doppelpass: Kopf hoch 213 <?page no="214"?> Die Postings der Spielerinnen und die solidarischen Antworten sind Gegen‐ stand meiner Analyse. In einem ersten Schritt werde ich mir die sprachliche Beschaffenheit von 18 ersten Paarsequenzen auf den Accounts der DFB-Frauen unter dem Aspekt anschauen, was wie thematisiert wird. Die jeweils ersten 20 deutschsprachigen Reaktionen (zweiten Paarsequenzteile) darauf sind ebenfalls in die Datengrundlage eingeflossen und werden in einem zweiten Schritt hinsichtlich der darin aufgegriffenen Themen und Anschlusssignale an die ersten Paarsequenzteile untersucht. Dabei gehe ich vorwiegend qualitativ vor. Pass hin Das Spektrum der Instagram-Einträge zum Ausscheiden aus der WM 2023 lässt sich gut an zwei Postings von Sjoeke Nüsken aufzeigen, die sich als einzige zweimal auf ihrem Instagram-Account äußerte, direkt am 3. August (1) und noch einmal am 10. August (2). (1) it hurts a lot.. 💔 (2) Trotz des so bitteren Ausgangs, bin ich sehr sehr dankbar für die tolle Erfahrung sowohl auf dem Platz, aber auch neben dem Platz! In erster Linie möchte ich mich aber bei euch Fans für die unglaubliche Unterstützung zuhause vor dem Fernseher, aber auch so zahlreich vor Ort im Stadion bedanken! Wir werden wieder kommen & euch hoffentlich bald das zurückgeben, was ihr verdient ✊🏻🖤❤💛 Beobachtungen dazu lassen sich entlang der Viererkette Sprache - Ausgestal‐ tung - Umfang und Inhalt beschreiben. In (1) drückt Nüsken in einer kurzen Phrase ihren Schmerz aus. Dabei wird das Ereignis, das den Schmerz ausgelöst hat, nicht explizit benannt, sondern in dem neutralen Pronomen it behutsam gebündelt. Auf diese Weise wird der Schmerz nicht noch dadurch verstärkt, dass die Produzentin vor die Aufgabe gestellt wird, den Auslöser noch einmal zu explizieren. Zudem bleibt potenziellen Leser: innen die erneute Konfrontation damit erspart. Die Kürze der Phrase zeigt an, dass es die Tiefe der Empfindungen zu diesem Zeitpunkt verunmöglicht, elaboriert Stellung zu nehmen und rückt den Schmerz ins Zentrum. Auf der Oberfläche wird das sichtbar, weil das sinntragende Wort hurts nicht nur das längste Wort ist, sondern auch fast mittig platziert und am Ende durch ein Zerbrochenes-Herz-Emoji noch einmal intensiviert wird. Somit werden die oben erwähnten, von den Mannschaftskol‐ leginnen unmittelbar nach dem Spiel artikulierten Schwierigkeiten aufgegriffen, die Emotionen in Worte zu fassen. In diesem Zusammenhang sind auch die für 214 Konstanze Marx <?page no="215"?> 2 So wird Schreiben in Sozialen Medien genannt, das auf den unmittelbaren Austausch ausgerichtet und näher an einer Face-to-Face-Interaktion ist als an streng normenba‐ siertem Schreiben von Texten (dazu Storrer 2018). interaktionsorientiertes Schreiben 2 typischen Auslassungspünktchen zu lesen. In der hier quasi-beitragsfinalen Position (es folgt ja noch ein Emoji, aber kein lexikalisches Material) signalisieren sie laut Androutsopoulos (2020: 83), „dass zum relevanten Sachverhalt auch Weiteres, leicht zu Erschließendes, gesagt werden könnte.“ Zu ergänzen wäre an dieser Stelle, dass es die Emotionen sind, die mit dem Schmerz über den Misserfolg verbunden sind, die die Produzentin Nüsken somit als leicht zu erschließen voraussetzt, und damit aber auch umgeht, die eigene Verletzlichkeit weiter offenzulegen. Dafür spricht auch das Codeswitching von der ansonsten überwiegend auf dem Instagram-Kanal verwendeten deutschen in die englische Sprache, mit der es gelingt, Distanz zur eigenen Aussage zu markieren und die Tiefe der eigenen Emotionen sprachlich abzumildern (vgl. Bücker 2007: 17). Dieser Strategie bedient sich auch Lena Oberdorf (3), die eine recht ähnliche Formulierung wählt. (3) Disappointed…That one will hurt for a while.⚽💔 Felicitas Rauch (4) und Lina Magull (5) adressieren den Schmerz ohne Abschwä‐ chung: (4) […] Der Schmerz sitzt noch immer so tief.. […] (5) Soo.. Auch nach ein paar Tagen Abstand sitzt der Schock und die Frustration noch tief. Es tut weh, es tut leid und braucht noch Zeit. […] In den Initialsequenzen der anderen Spielerinnen wird die Enttäuschung als vorherrschende Emotion artikuliert, etwa von Sophia Kleinherne (6) oder Lea Schüller (7), die zudem eine weitere für die Beiträge der DFB-Frauen typische Komponente benennt, die Schwierigkeit, das Ausscheiden aus dem Wettbewerb kognitiv zu erfassen, siehe auch die Gedanken von Merle Frohms (8): (6) AUF und AB der Emotionen - das wohl prägendste Gefühl ist die Enttäuschung unserer leider viel zu kurzen wm---Reise. […] (7) Es ist immer noch schwer zu glauben was passiert ist. Die Enttäuschung ist riesig.. […] Beim Doppelpass: Kopf hoch 215 <?page no="216"?> (8) Wieder zurück in Deutschland und immer noch fällt es mir schwer zu begreifen, was die letzten Tage passiert ist. […] Auffällig aber ist, dass in den meisten dieser Beiträge quasi drei Spielzüge erkennbar werden: 1. die Enttäuschung und Fassungslosigkeit und damit auch die eigene Fehlbar- und Verletzlichkeit zu benennen, 2. den Fans zu danken und 3. eine Formel, die Zuversicht ausdrückt. Exemplarisch sehen wir das in (2): Sjoeke Nüsken bewertet das Ergebnis des Turniers als bitter, benennt dann jedoch positive Aspekte (tolle Erfahrung auf dem Platz und neben dem Platz) und stellt damit den Bezug zu den Fans her, deren Unterstützung sie als unglaublich einstuft und die sie mit ihrem nachdrücklichen durch Ausrufezeichen intensivierten Dank direkt adressiert. In der Abschlussformel formuliert sie ein Versprechen (werden wieder kommen und zurückgeben), in dem die Evaluation (bitter) zu Beginn des Beitrags durch die Überzeugung, nur ungenügende Leistungen erbracht zu haben (wir haben nicht geleistet, was ihr verdient) spezifiziert wird. Etwas kompakter aber vergleichbar formuliert es Klara Bühl (9): (9) enttäuschend, aber wir stehen zusammen! 🫂🤝 Danke an alle Fans, die uns unterstützen und uns den Rücken stärken. 🖤❤💛 Fast alle Fußballerinnen stellen in der Reflexion eine Verbindung zwischen den eigenen Emotionen und der Rolle der Fans her und implizieren, dass deren Beistand die große Enttäuschung nicht nur lindern kann, sondern die Mannschaft auch für neue Herausforderungen stärkt. Damit setzen sie deren Bestätigung und den Support in potenziellen Antworten (zweiten Paarsequenz‐ teilen) konditionell relevant. Pass zurück Die Fans nehmen die Pässe entsprechend an und spielen sie adäquat zurück. Das ist bemerkenswert, weil sie dafür eine automatische Analyse der ersten Paarsequenzteile durchführen müssen. Was vermutlich kaum bekannt ist: Über die Expertise, diese Analyse und im Anschluss daran „Handlungen in einem bestimmten Moment und in einer angemessenen Art und Weise durchzuführen“ (vom Lehn 2021: 303, vgl. Garfinkel 1952), verfügen wir. Insofern richte ich hier den Blick auf ein Terrain, auf dem sich Zuschauer: innen als Kommunizierende und Kommentierende offenbar sicher bewegen. 216 Konstanze Marx <?page no="217"?> 3 11 Wörter und 1 Emoji im 1. Kommentar, 50 Wörter und 5 Emojis im 2. Kommentar, 21 Wörter und 2 Emojis im 3. Kommentar, 12 Wörter und 3 Emojis im 4. Kommentar und 4 Wörter und 1 Emoji im 5. Kommentar 4 22 Wörter und 4 Emojis im 1. Kommentar, 97 Wörter und 2 Emojis im 2. Kommentar, 81 Wörter und 2 Emojis im 3. Kommentar, 34 Wörter und 3 Emojis im 4. Kommentar und 65 Wörter im 5. Kommentar So folgt auf Trauer Trost (10) und in diesem Kontext auf Entschuldigung Entlastung (11) und auf Zuversicht Affirmation (12), wobei die mit Abstand häufigste Trost- und Ermunterungsformel Kopf hoch lautet. (10) Kopf hoch Mädels. Es wird sicherlich noch einige Zeit lang weh tun, aber das wird vergehen. 2025 Em in der Schweiz, eine neue Chance. Auch wenn die Zeiten gerade noch so schlimm sind, gemacht gehen wir da durch. 🇩🇪🇩🇪🙏🏻🙏🏻 (userbom) (11) Warum entschuldigen? Du hast dein bestes da draußen gegeben genau wie das restliche Team am Ende hat es einfach leider nicht gereicht! 🖤❤💛 (userkps) (12) ❤❤❤wir stehen hinter euch, better times will come und wir sind alle trotzdem stolz und unterstützen euch weiterhin (userkrp) Es wird also ersichtlich, dass die zweiten Paarsequenzen inhaltlich auf die ersten Paarsequenzen abgestimmt sind. Ersichtlich wird aber auch, dass dabei unterschiedliche Elemente in den Fokus gerückt werden. Damit können die Fans ihre Antworten unterschiedlich perspektivieren, ggf. auch in Abhängigkeit von Kommentaren, die vor ihnen veröffentlicht worden sind und andere Aspekte in den Vordergrund rücken, das nächste Turnier etwa und damit der Blick nach vorn (2025 Em in der Schweiz) in (10) oder die Bewertung der Leistung und damit der Blick zurück (Du hast dein bestes … gegeben) in (11) . Eine interessante Tendenz ist auch, dass der Umfang der Kommentare (der jeweils zweiten Paarsequenzen) an den Umfang der ersten Paarsequenz angepasst zu werden scheint. So fallen die Kommentare 3 zu (1) (4 Wörter, 1 Emoji von Sjoeke Nüsken) im Vergleich zu einer 68 Wörter und ein Emoji umfassenden ersten Paarsequenz von Sydney Lohmann 4 recht überschaubar aus. Ein weiteres Indiz für sogenanntes Alignement, also die Imitation z. B. von sprachlichen Einheiten auf unterschiedlichen Ebenen (Pickering & Garrod 2004), zeigt sich darin, dass die Kommentator: innen Wortmaterial aus den ersten Paarsequenzen wörtlich zitieren wie z. B. werden unterstützen in (13b) oder paraphrasieren, wie entschuldigen in (14b): Beim Doppelpass: Kopf hoch 217 <?page no="218"?> (13) a. n7coleanyomi 💔. Danke an alle, die trotzdem bis zum Schluss ans uns geglaubt haben und uns weiterhin unterstützen werden🙏🏾 Wir werden noch stärker zurückkommen! #stillHungriGER - b. wir werden euch immer unterstützen! ! Wir stehen hinter euch no matter what (userkrp) (14) a. jule_brand: Es ist immer noch sehr schwer, die richtigen Worte zu finden … und es tut mir leid für alle, die an uns geglaubt und mitgefiebert haben. Vielen Dank für eure ganze Unterstützung 🖤❤💛 - b. Du brauchst dich nicht entschuldigen am Ende zählt das,das du dein bestes gegeben hast wie alle anderen in Team. […] (userjsk) Allerdings liegt in (14b) nicht nur eine einfache Paraphrasierung (tut mir leid und entschuldigen) vor, sondern auch ein supportiver Widerspruch (Du brauchst dich nicht entschuldigen), mit dem die Produzentin der ersten Paarsequenz emotional entlastet werden soll. Derartige Entlastungsstrategien sind in den Trostäußerungen vielgestaltig, etwa die fürsorgliche Marginalisierung von Ereignissen mit Eskalationspoten‐ zial wie diesen ganzen sogenannten Experten in (15) oder Last Euch das von den Medien […] nicht einreden in (16). (15) […] … lasst euch nicht fertigmachen von diesen ganzen sogenannten Experten die immer dann kommen wenn man drauf hauen kann….[…] (usernst) (16) Merle, Ihr seid nicht gescheitert. Last Euch das von den Medien mit „Debakel“ etc. nicht einreden. […] (userepg) Damit solidarisieren sich die hier Schreibenden klar mit den Fußballerinnen gegen all jene, die Häme verbreiten. Ähnlich entlastend und gleichzeitig solida‐ risch wirkt das kollektivierende wir, mit dem die Verantwortung symbolisch auf zusätzliche Schultern verteilt und von den Fans mit übernommen wird: (17) Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen, aber wir stehen immer hinter euch 🖤❤️‍🩹💛 […] (userkkj) (18) Super stolz auf dich🙏 wir stehen hinter euch komme was wolle ✊🇩🇪 wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen so ist der Sport. Aber ihr kommt dafür doppelt so stark zurück ✊✊🇩🇪 […] (userdns) Hierdurch wie durch die direkte Adressierung mit Vornamen (z. B. Merle in 16) oder duzen in (11), (14b) oder (18) wird sprachlich Nähe hergestellt und 218 Konstanze Marx <?page no="219"?> damit ein emotionales Fundament kreiert, auf dem so persönliche sprachliche Handlungen wie Trost überhaupt erst akzeptabel werden. It’s coming home Nach diesem Auswärtsspiel in den Sozialen Medien sind vier Bälle in der Luft: Nähe, Fürsorge, Entlastung und Bestärkung. Sie scheinen elementar für Enttäu‐ schung-Trost-Doppelpässe, sie „nach Hause“ zu bringen, ist Anliegen dieses letzten Absatzes. Welche Schlussfolgerungen lassen sich also aus den oben vorgestellten Nachbarschaftspaaren in schriftlichen Interaktionen zwischen Fremden für Face-to-Face-Gespräche ziehen, in denen Trost als kommunikative Aufgabe relevant wird? Zuerst sei der Nähe-Ball gespielt. Das ist Sache der Personen, die Trost empfangen wollen. So wurde schon in anderen Kontexten gezeigt, dass sie Trost konditionell anbahnen und damit legitimieren. Kinder etwa, die sich verletzt haben und getröstet werden wollen, bestätigen diesen Bedarf auf Nachfrage (Bahlo, Fürstenberg & Drost 2015: 274), Trauernde leiten in Sozialen Medien das Trostszenario selbst aktiv ein (Marx & Tienken 2021). Die aktive Rolle der zu Tröstenden in ersten Paarsequenzen ist offenbar konstitutiv für gelingende tröstende Zuwendung. Diese erste Paarsequenz einzig auf den Ausdruck von Emotionen zu stützen, ist mit Risiken verbunden: Wer sich verletzlich zeigt, könnte auch (noch tiefer) verletzt werden. Mit den Beispielen habe ich gezeigt, dass die DFB-Frauen größtenteils die erwart- und leicht nachvollziehbare Emotion Enttäuschung thematisieren, diese aber geradezu taktisch mit Dankes- und Zuversichtsformeln kombinieren. Die Selbstoffenbarung erfolgt auf Insta‐ gram also wohldosiert und in einer Form, die den Fans Auswahlmöglichkeiten dazu anbietet, wie sie den Ball zurückspielen wollen. Gleichzeitig erfolgt sie ungerichtet, geradezu wie ein hoher und weiter Abstoß, von dem nicht genau vorhergesagt werden kann, ob ihn überhaupt jemand direkt annimmt und wer. Das Ganze geschieht auf sicherem Fundament, denn im Fußball sind Emotionen sozial anerkannt. In der Face-to-Face-Situation ist klar, wer angespielt werden soll, und dank der beispielhaften Vorführung des Doppelpasses zwischen Fremden lässt sich ablesen, dass die Thematisierung von Emotionen eine Voraussetzung für Trost ist. Die Formulierungen von Fußballstars mit hohem Identifikationspotenzial können als Schablonen für den Versuch herangezogen werden, belastende Emo‐ tionen klar zu benennen, psychischen oder physischen Schmerz zu artikulieren. Deutlich wird auch, dass ein solcher Vorstoß in den hier gezeigten Fällen nicht nur goutiert, sondern präferierterweise auch als Anweisung für sprachliche Beim Doppelpass: Kopf hoch 219 <?page no="220"?> Trosthandlungen identifiziert wird. Die auf diese Weise Angespielten müssen diesen Pass aber tatsächlich erst abwarten und dürfen nicht schon ohne einen (oder mehrere) der Bälle Fürsorge, Entlastung oder Bestärkung vorpreschen. Auch für diejenigen, die Trost spenden, bieten die zweiten Paarsequenzen Vorlagen, denn sie sind dank der hierarchienivellierenden Eigenschaften von Sozialen Medien durchaus persönlich gestaltet, um auch unter Vertrauten angewendet zu werden. In Massenmedien vermitteltes sportliches Geschehen, so arbeiten es Hauser und Meier-Vieracker (2024) heraus, lässt sich als Modell einer Performanzkultur betrachten. Sportler: innen, so heißt es in dem Text, bringen „durch einen formel‐ haften Gebrauch des Körpers gesellschaftliche Werte zur Darstellung.“ Meine Analyse hat nun gezeigt, dass Fußballerinnen mit Sozialen Medien eine Bühne nutzen, auf der sie Werte auch sprachlich zum Ausdruck bringen können. Aber nicht nur das. An dieser Schnittstelle, die technisch eine leichte Zugänglichkeit sicherstellt, zeigen sich die Fußballerinnen in ihrer Menschlichkeit auch emo‐ tional zugänglich. Durch die auf Instagram möglichen Kommentare gelingt es, die genannten Werte als Anleitung zur Emotionsregulation gemeinschaftlich, in enger Interaktion mit den Fans hervorzubringen. So werden die Mechanismen einer komplexen, aber eben auch sensiblen und höchst persönlichen sprachli‐ chen Handlung, wie Trost nach Enttäuschung, sichtbar gemacht. Und aus dem Kommentarbereich als „Labor sozialen Verhaltens“ (Stiehler 2003: 163) kann direkt ins Private gedeutet werden. ⚽️-⚽️-⚽️ Androutsopoulos, Jannis. 2020. Digitalisierung und soziolinguistischer Wandel. Der Fall der digitalen Interpunktion. In Konstanze Marx, Henning Lobin & Axel Schmidt (eds.), Deutsch in Sozialen Medien. Interaktiv - multimodal - vielfältig, 75-94. Berlin, Boston: de Gruyter. Bahlo, Nils, Indra Fürstenberg & Michaela Drost. 2015. „muss der papa STREI: cheln? “ -Modalkonstruktionen in interaktionalen Trostprozessen mit Kleinkindern. In Jörg Bücker, Susanne Günthner & Wolfgang Imo (eds.), Konstruktionsgrammatik V, 269- 290. Tübingen: Stauffenburg. Birkner, Karin, Peter Auer, Angelika Bauer & Helga Kotthoff. 2020. Einführung in die Konversationsanalyse. Berlin, Boston: de Gruyter. Bücker, Tanja. 2007. Ethnolektale Varietäten des Deutschen im Sprachgebrauch Jugend‐ licher. Studentische Arbeitspapier zu Sprache und Interaktion. 9. https: / / arbeitspapiere .sprache-interaktion.de/ stud/ arbeitspapiere/ arbeitspapier9.pdf. 220 Konstanze Marx <?page no="221"?> Burkhardt, Armin. 2006. Wörterbuch der Fußballsprache. Göttingen: Werkstatt. Garfinkel, Harold. 1952. The Perception of the Other: A Study in Social Order. Cambridge, MA: Harvard University Press. Hauser, Stefan & Simon Meier-Vieracker. 2024 i.E. Was ist Sport? In Angela Oster (ed.), Roland Barthes Handbuch. Leben. Werk. Wirkung. Stuttgart: Metzler. Imo, Wolfgang & Jens P. Lanwer. 2019. Interaktionale Linguistik. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Marx, Konstanze. 2017. Diskursphänomen Cybermobbing. Ein internetlinguistischer Zu‐ gang zu [digitaler] Gewalt. Berlin, New York: de Gruyter. Marx, Konstanze & Susanne Tienken. 2021. Trost und Trösten. In Christian Braun (ed.), Sprache des Sterbens - Sprache des Todes. Linguistische und interdisziplinäre Perspektivierungen eines zentralen Aspekts menschlichen Daseins, 141-164. Berlin, New York: de Gruyter. Meier-Vieracker, Simon. 2022. Zwischen Gay Pride und archaischer Männlichkeit. Linguistische Perspektiven auf Diversität unter Fußballfans. Jahrbuch des Russischen Germanistenverbandes 19. 246-262. Pickering, Martin J. & Simon Garrod. 2004. Toward a mechanistic psychology of dialogue. Behavioral and Brain Sciences 27(2). 169-226. Schegloff, Emanuel A. & Harvey Sacks. 1973. Opening up Closings. 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Beim Doppelpass: Kopf hoch 221 <?page no="223"?> Aufstellung Im Kader Prof. Dr. Marcus Callies (Bremen) Dr. François Conrad (Hannover) Prof. Dr. Karina Frick (Lüneburg) Dr. Cornelia Gerhardt (Saarbrücken) PD Dr. Alexander Geyken (Berlin) Prof. Dr. Thomas Gloning (Gießen) Prof. Dr. Stefan Hauser (Zürich) Prof. em. Dr. Angelika Linke (Zürich) Prof. Dr. Konstanze Marx (Greifswald) Prof. Dr. Daniel Pfurtscheller (Innsbruck) Prof. Dr. Tatjana Scheffler (Bochum) Prof. Dr. Sven Staffeldt (Halle) PD Dr. Sören Stumpf (München) Prof. Dr. Antje Wilton (Berlin) Dr. Sascha Wolfer (Mannheim) Trainer Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker (Dresden)