Bildung und Region
Wissenstransfer und Institutionen in Schwaben und im Alpenraum vom 15. bis ins 20. Jahrhundert
1127
2023
978-3-3811-1492-4
978-3-3811-1491-7
UVK Verlag
Wolfgang Scheffknecht
Dietmar Schiersner
Anke Sczesny
10.24053/9783381114924
Die Beiträge des Bandes nähern sich der Bildungsgeschichte aus regionalhistorischer Perspektive: Inwiefern und wie stehen Räume einerseits und Bildungsinhalte, -institutionen und -transfer andererseits in einer sich gegenseitig erhellenden Verbindung? Untersuchungsraum ist vor allem Oberschwaben und der benachbarte Alpenraum (Tirol, Vorarlberg, St. Gallen) von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert. Der Bildungsbegriff ist weit gefasst und reicht von der schulischen Ausbildung bis zur Selbstbildung. Ein Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Institutionen.
<?page no="0"?> Bildung und Region Wolfgang Scheffknecht, Dietmar Schiersner, Anke Sczesny (Hg.) Wissenstransfer und Institutionen in Schwaben und im Alpenraum vom 15. bis ins 20. Jahrhundert 15 <?page no="1"?> Wolfgang Scheffknecht, Dietmar Schiersner, Anke Sczesny (Hg.) Bildung und Region <?page no="2"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 15 <?page no="3"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 15 Bildung und Region Wissenstransfer und Institutionen in Schwaben und im Alpenraum vom 15. bis ins 20. Jahrhundert Herausgegeben von Wolfgang Scheffknecht, Dietmar Schiersner und Anke Sczesny UVK Verlag · München <?page no="4"?> Einbandmotiv: MAG Zusmarshausen, Schulklasse 1897. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen, der Sparkasse Memmingen-Lindau-Mindelheim, der Bezirk-Schwaben-Stiftung für Kultur und Bildung und des Zentrums für Regionalforschung der Pädagogischen Hochschule Weingarten. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381114924 © UVK Verlag 2023 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-381-11491-7 (Print) ISBN 978-3-381-11492-4 (ePDF) ISBN 978-3-381-11493-1 (ePub) mm Stadt Memmingen <?page no="5"?> 5 Vorwort Die 18. Tagung des ›Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e. V.‹ widmete sich vom 18. bis 20. November 2022 dem Thema ›Bildung und Region. Wissenstransfer und Institutionen in Schwaben und im Alpenraum vom 15. bis ins 20. Jahrhundert‹. Ein Jahr später als ursprünglich geplant - die pandemiebedingten Gründe dafür sind sattsam bekannt - kamen im Memminger Rathaus Referentinnen und Referenten aus dem bayerischen und dem württembergischen Schwaben, aus Tirol, Vorarlberg und St. Gallen zusammen, stellten ihre Forschungen dem interessierten Publikum vor und luden zur Diskussion ihrer Thesen ein. Bewusst hatten sich die Veranstalter gegen eine virtuelle oder hybride Veranstaltungsalternative im Jahr 2021 ausgesprochen, zählt doch der Ort der Zusammenkunft, das Memminger Rathaus mit seiner spürbar reichsstädtischen Aura, zu den unverzichtbaren Konstituenten der Forumstagungen. Für eine historische Vereinigung, die sich von Anfang an mit der Bedeutung des Raumes für die Geschichte auseinandersetzt, scheint das nur konsequent, denn ein Rathaus ist auch Ort von Information und Wissensvermittlung, von Debatte und Öffentlichkeit. Im Memminger Rathaus trafen Gesandte anderer Reichsstädte und umliegender Herrschaften ein; städtische Bürger und bäuerliche Untertanen führte ihr Weg ebenso hierher wie Geistliche, Kaufleute oder Adlige aus Stadt und Umland: An solch einem Ort werden regionale Vernetzung und Austausch über Grenzen hinweg beispielhaft sichtbar und erfahrbar. Dort tagen zu dürfen ist deswegen ein Privileg, für das wir der Stadt Memmingen, ihrem seinerzeitigen Oberbürgermeister Manfred Schilder und dem Stadtrat zu besonderem Dank verpflichtet sind. Nicht weniger danken wir der Stadt Memmingen für deren überaus großzügige Förderung bei der Drucklegung unseres Tagungsbandes sowie der Bezirk-Schwaben-Stiftung für Kultur und Bildung. Unterstützung gewährte zudem dankenswerterweise auch für den vorliegenden 15. Band der Reihe ›Forum Suevicum‹ wiederum die Sparkasse Schwaben-Bodensee. Für inhaltlich wertvolle Anregungen ebenso wie für personelle Unterstützung dankt das Memminger Forum dem ›Zentrum für Regionalforschung (ZeReF)‹ der Pädagogischen Hochschule Weingarten als einem für Fragen der Bildung prädestinierten Kooperationspartner. Allen Autorinnen und Autoren gilt für diesen Band ein besonderer Dank für ihre Bereitschaft, sich bei der Verschriftlichung ihrer Vorträge einer diesmal sehr rigiden Zeitdisziplin zu unterwerfen, damit der Tagungsband im gewohnten Turnus erscheinen konnte. Nicht weniger zu danken ist auch deswegen unserer Lektorin Angela Schlenkrich M. A., die selbst unter enormem Zeitdruck mit gewohnter Zuverlässigkeit und Akribie zu Werke ging. Stefan Selbmann <?page no="6"?> 6 vom UVK-Verlag und dem Memminger MedienCentrum danken wir für die verlegerische Betreuung und den Druck dieses Buches. In gesellschaftlichen Debatten, politischen Vorgaben und administrativen Vorgängen wird heute alles, was mit Ausbildung und Bildung zu tun hat, in einem atemraubenden Tempo traktiert. Die Grenze zur Absurdität ist längst überschritten, wenn neue Reformen auferlegt und gefordert werden, noch ehe vorangehende Neuordnungen wirksam werden konnten. Möge die Auseinandersetzung mit historischen Facetten und Dimensionen des Themas zum Nachdenken und zur Nachdenklichkeit anregen. Lustenau, Weingarten und Augsburg Wolfgang Scheffknecht, im September 2023 Dietmar Schiersner und Anke Sczesny <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 W OLFGANG S CHEFFKNECHT / D IETMAR S CHIERSNER / A NKE S CZESNY Einführung 11 I. Stadt und Land S TEFAN S ONDEREGGER Schreiben, Rechnen, Buch führen. Handlungswissen als Schlüssel zum beruflichen Erfolg in einer internationalen Handelsstadt. St. Gallen im Übergang vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit 21 N ICOLE S TADELMANN Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Die vielfachen Möglichkeiten einer handwerklichen Ausbildung in St. Gallen 55 L OTHAR S CHILLING Periodika als Medien der Vermittlung ökonomischen Wissens im südlichen Reich im 18. Jahrhundert 79 R EGINA D AUSER Realienkunde für künftige Handwerker? Zum Augsburger Schulwesen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts 105 A NKE S CZESNY Das ländliche Volksschulwesen in Schwaben am Beispiel des Bezirksamtes Zusmarshausen (1802 - 1871) 125 E RICH M ÜLLER -G AEBELE Das Schulhaus als Gegenstand bildungshistorischer Forschung. Beispiele aus Oberschwaben 153 G ERHARD H ETZER Mundart und Hochsprache in Volksschulen des 19. Jahrhunderts. Spannungsbögen und Ausgleichsversuche 175 <?page no="8"?> 8 S TEFFEN K AISER Von Ackerbau- und Winterschulen. Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Schulwesens im Königreich Württemberg 1818 - 1914 205 II. Religion und Konfession W OLFGANG S CHEFFKNECHT Universitätsbesuch und Seelsorge. Rekrutierung und Ausbildung von Priestern im frühneuzeitlichen Vorarlberg 229 D IETMAR S CHIERSNER Humanismus und Konfessionalisierung. Die Lateinschulstiftung und Schulordnung Anton Fuggers in Babenhausen (1554). Einführung - Edition - Übersetzung 269 B ARBARA R AJKAY Familie, nicht Kloster. Evangelische Mädchenbildung in Augsburg 335 M ARIELUISE K LIEGEL Übe früh dich hauszuhalten. Die Vermittlung textiler Alltagskompetenzen in der Mädchen- und Lehrerinnenbildung 357 T HOMAS A LBRICH Über die Anfänge der Deutschen Schule bey der Judenschaft in Hohenems vor 1814 377 C LAUDIA R IED Ein staatliches Erfolgsmodell? Jüdisches Schul- und Bildungswesen in bayerisch-schwäbischen Landgemeinden während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 387 D OMINIK B URKARD Kirchenpolitische Implikationen der württembergischen Schulpolitik der NS-Zeit zwischen zeitgenössischer Wahrnehmung und revisionistischem Rückblick 409 Autorenverzeichnis 433 Nachweis der Abbildungen 435 <?page no="9"?> 9 Abkürzungsverzeichnis AA Altes Archiv (Bestand: StadtA SG) AD 57 Archives départementales de la Moselle ADB Allgemeine Deutsche Biographie ÄA Ämterarchiv (Bestand: StadtA SG) AIZ Augspurgischer Intelligenz-Zettel Art. Artikel AWT Archiv des Wilhelmsstifts Tübingen BA Bezirksamt BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv BBKL Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon BR Bürgerregister (Bestand: StadtA SG) BSB Bayerische Staatsbibliothek München BVP Bayerische Volkspartei CGM Codex Germanicus Monacensis CIB/ MIB Churbaierisches Intelligenzblatt/ Münchner Intelligenzblatt (ab 1777) DA Diözesanarchiv DNVP Deutschnationale Volkspartei Ev.-Luth. KA Evangelisch-Lutherisches Kirchenarchiv EWA Evangelisches Wesensarchiv FA Fürstlich und Gräflich Fuggersches Familien- und Stiftungs archiv FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung fl. Gulden FS Festschrift GemA Gemeindearchiv gen. genannt ha Hektar HStA Hauptstaatsarchiv k. b. königlich bayerisch kr. Kreuzer LGäO Landgericht älterer Ordnung MInn Ministerium des Innern MK Ministerium für Unterricht und Kultus NDB Neue Deutsche Biographie NF Neue Folge NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei <?page no="10"?> 10 OSB Ordo Sancti Benedicti OSF Ordo Sancti Francisci p. pagina PfarrA Pfarrarchiv r recto RM Reichsmark RP Ratsprotokolle SA Sturmabteilung SpA Spitalarchiv StA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv StadtA SG Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen TH Technische Hochschule UA Universitätsarchiv v verso VadSlg Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen VD 16 Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts der Bayerischen Staatsbibliothek [analog VD 17, VD 18] Veröff. Veröffentlichung(en) Veröff. SFG Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft e . V. VLA Vorarlberger Landesarchiv VP Verordnetenprotokolle (Bestand: StadtA SG) WJB Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben ZWLG Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte <?page no="11"?> 11 W OLFGANG S CHEFFKNECHT / D IETMAR S CHIERSNER / A NKE S CZESNY Einführung Das Feld der Bildungsgeschichte ist weit; sie wird, von der Philosophie über die Pädagogik und Soziologie bis hin zu den Geschichtswissenschaften, von verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Methoden und Erkenntnisinteressen beleuchtet. In den Erziehungswissenschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten ein eigener disziplinärer Schwerpunkt unter dem Begriff der ›Historischen Bildungsfor schung‹ entwickelt. Das jüngst, 2021, erschienene Handbuch ›Historische Bildungs forschung‹ 1 macht den Stand der deutschen und zum Teil internationalen Forschung, geordnet nach Konzepten, Methoden und Forschungsfeldern, komprimiert zugänglich. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem 18. bis 20. Jahrhundert. Die Leitperspektive auf den Gegenstand ist erziehungswissenschaftlich - nur zwei der 36 Autorinnen und Autoren sind Historiker. Behandelt werden sowohl das im engeren Sinne pädagogische Feld von Bildungssystem, Erziehungs- und Fürsorgeeinrichtungen als auch die historischen Verhältnisse von Bildung und Gesellschaft insgesamt, kollektive und individuelle Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung in ihren institutionellen und nicht-institutionellen Kontexten. Historische Bildungsforschung sieht sich demnach als historische Sozialisations- und Institutionenforschung (von der Familie über die Schule und Universität bis zu den Peer Groups), als Professionsforschung zu pädagogischen Tätigkeiten und als Untersuchung der Lebensphasen von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter im historischen Wandel. Zu dem noch bis vor kurzem als ›Geschichte der Pädagogik‹ gelehrten Teilfach zählt darüber hinaus die Beschäftigung mit historischen pädagogischen Debatten, Programmatiken und Denkformen. Das klingt nun sehr umfassend, und es stellt sich die Frage, was vor dem Hintergrund dieser Konzeption der Beitrag eines allgemeinhistorischen Zugangs zur Bildungsgeschichte sein kann. Es scheint, vergröbernd gesagt, den Erziehungswissenschaften diene der geschichtli che Kontext primär zur Erhellung von ›Bildung‹ und der mit ihr verbundenen Aspekte, während die Geschichtswissenschaft bei ihrer Frage nach Bildungszusammenhängen vorzugsweise auf historische Erkenntnisse in anderen Bereichen oder auf anderen Ebenen abziele. Tendiert deswegen die Historische Bildungsforschung dazu, mit einem eher normativen Bildungsbegriff und einem auf die Gegenwart hin teleologisch ausgerichteten Bildungsverständnis zu 1 G ERHARD K LUCHERT u. a. (Hg.), Historische Bildungsforschung. Konzepte - Methoden - Forschungsfelder, Bad Heilbrunn 2021. <?page no="12"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT / D IE TMA R S CHIER S NER / A NK E S C ZES N Y 12 operieren, so fällt in der geschichtswissenschaftlichen Herangehensweise eine gewisse Unreflektiertheit oder - will man es positiv sehen - Offenheit des Bildungsbegriffes auf. Auch unter den Überschriften der Beiträge dieses Sammelbandes ist ja eine Viel zahl an Begriffen von ›Bildung‹ über ›Wissen‹ und ›Kunde‹ bis hin zu ›Aus bildung‹ und ›Kompetenzen‹ vertreten. Um den disziplinären Unterschied an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die bildungsgeschichtliche Frage etwa nach der »Bedeutung staatlichen Handelns für den Gang der Schulentwicklung« 2 würde aus allgemeinhistorischer Perspektive wohl umgekehrt formuliert, weil diese sich aus der Analyse von Schulgeschichte und der mit ihr verbundenen Institutionalisierungs- und Professionalisierungsvorgänge z. B. Aufschluss über den Prozess staatlicher Machtakkumulation verspricht. Schulpflicht lässt sich eben, um es griffiger zu formulieren, nicht nur als Innovation zugunsten von Bildung, sondern auch als Repression zugunsten des Staates, als Beitrag zu Staatsbildung und intensivierter Staatlichkei t, beschreiben. Tendenziell also ist ›Bildung‹ das Z i e l des erziehungswissenschaftlichen, aber eher eine m e t h o d i s c h e S o n d e des historischen Zugriffs auf freilich häufig dieselben Themen. Das stark von der Aufklärung geprägte Selbstverständnis der Pädagogik macht deren epochale Schwerpunktsetzung auf die Zeit seit dem 18. Jahrhundert plausibel, während Phänomene von Bildung im Mittelalter oder in der Antike eher von Historikern untersucht werden. Der auf unserer Tagung praktizierte regionale Ansatz wiederum bringt in die Auseinandersetzung mit bildungsgeschichtlichen Themen speziell das Interesse am Raum ein. Die programmatische Beachtung räumlicher Zusammenhänge drängt sich im Falle der Bildungsgeschichte sogar in besonderer Weise auf. Denn die organisierte Vermittlung von Lesen, Schreiben und Rechnen ebenso wie die der darauf aufbauenden Kenntnisse und Fertigkeiten ist zunächst in den Anwesenheitsgesellschaften der Vormoderne notwendigerweise l o k a l i s i e r t , geschieht also an konkreten Orten, von der Schul- oder Kirchenbank über das Schulhaus bis hin zu Seminar und Hörsaal, und wird organisiert in Klöstern, Städten und Ländern - ein Zusammenhang, der auch das Interesse der Architektur- und Baugeschichte weckt. Beispielhaft dafür kann eine vor kurzem publizierte Dissertation über Basler Schulhausbauten von 1845 bis 2015 im schweizerischen und internationalen Kontext stehen, in der Ernst Spycher der raumgeschichtlich zentralen Frage nachgeht: »Wie beeinflussen Reformen Formen? « 3 2 G ERHARD K LUCHERT / R ÜDIGER L OEFFELMAIER , Schule, in: G. K LUCHERT u. a. (Hg.), Historische Bildungsforschung (Anm. 1), S. 232 - 254, hier 242. 3 E RNST S PYCHER , Bauten für die Bildung. Die Entwicklung der Basler Schulhausbauten im nationalen und internationalen Kontext, Basel 2019. Vgl. den Aufsatz von E RICH M ÜLLER - G AEBELE im vorliegenden Tagungsband. <?page no="13"?> E INFÜHR UNG 13 Institutionalisierung von Bildung und Urbanisierung oder Territorialisierung gehören spätestens seit dem späten Mittelalter zusammen und erfahren reformations- und konfessionalisierungsbedingt eine deutliche Intensivierung. Bildungsvorgänge gehen mit Raumprägungen einher und besitzen gleichsam regiogenetische Potenz, so dass etwa von ›Schullandschaften‹ gesprochen werden kann, wie dies Hel mut Flachenecker und Rolf Kießling 2005 in einem Altbayern, Franken und Schwaben vergleichenden Tagungsband taten. 4 Als wichtigste Triebfeder für die von inhaltlicher wie räumlicher Expansion und Differenzierung gekennzeichnete Entwicklung des Bildungswesens in der Frühen Neuzeit erwies sich hierbei die Konfessionalisierung. In einer von konfessionellen und herrschaftlichen Gemengelagen in so beispielhafter Weise charakterisierten Landschaft wie Ostschwaben wirkte sich dieser Umstand deutlich erkennbar im Sinne fruchtbarer Konkurrenz aus. Parallel zur Territorialisierung der gymnasialen und universitären Bildung - verwiesen sei auf den neu entstehenden Typus der ›Landesuniversität‹ - , die durchaus Aspekte regionaler Engführung, ja Provinzialisierung erkennen lässt, entwickelten sich jedoch auch neue Verbindungen und Zusammenhänge von bisweilen geradezu globaler Dimension, denkt man etwa an den Austausch unter Universitäten und Akademien in den protestantischen Teilen des Reichs und im (lutherischen) Skandinavien oder an das weltweite Wirken des Jesuitenordens, der seine Lehre über nahezu zwei Jahrhunderte hinweg allerorten an der ›Ratio studiorum‹ ausrichtete. Der räumlichen Konzentration und Abgrenzung nach außen standen und stehen also zugleich immer grenzüberschreitende, integrierende Aspekte der Bildung gegenüber, unmittelbar verständlich, sofern es deren Inhalte betrifft, deutlich auch bei den personellen Austauschprozessen, aber ebenso bei der Herausbildung und Frequenz von Institutionen, wie dies freilich schon der mittelalterliche Universitätsbesuch demonstriert. Diese Transfervorgänge negieren keineswegs die Räumlichkeit von Bildung, sie erfassen vielmehr die Bewegung im Raum. Auch die seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert wachsende, nach dem Dreißigjährigen Krieg nochmals erheblich gesteigerte und dabei inhaltlich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend diversifizierte Medialisierung von Wissen in Büchern, Kleinschriften, Journalen und Zeitungen, aber auch Briefen ist dieser räumlichen Metaebene zuzuweisen. In diesem hier nur knapp skizzierten Kontext stehen die Beiträge des vorliegenden Tagungsbandes. Sie legen den Fokus ebenfalls auf die Fragestellung, inwiefern, wie, wo und warum räumliche Spezifika einerseits und Bildungsinhalte, -institutionen und -transfer andererseits in einer sich gegenseitig erhellenden Verbindung stehen. Untersuchungsraum ist vor allem Oberschwaben und der benachbarte 4 H ELMUT F LACHENECKER / R OLF K IESSLING (Hg.), Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Untersuchungen zur Ausbreitung und Typologie des Bildungswesens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (ZBLG 26), München 2005. <?page no="14"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT / D IE TMA R S CHIER S NER / A NK E S C ZES N Y 14 Alpenraum (Tirol, Vorarlberg, St. Gallen) von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert. Der Bildungsbegriff selbst wird nicht vorab definiert; er wird weit gefasst und reicht von der schulischen ›Ausbildung‹ bis zur durch Buchbesitz un d Lektüre initiierten ›Selbstbildung‹. Aus Gründen der Überlieferung, aber auch um der struk turellen Vergleichbarkeit willen liegt dabei ein Schwerpunkt auf der Untersuchung von Institutionen, ein anderer auf dem Wissenstransfer im Bereich der Agrarwissenschaften sowie der Handwerkerbzw. Berufsausbildung. Die 15 Beiträge dieses Bandes sind in zwei Sektionen gegliedert, die sich an den beiden beschriebenen, für Schwaben und dessen benachbarte Regionen zentralen Strukturmerkmalen orientieren: dem Spannungsverhältnis zwischen Stadt und Land und den - davon teils mitbedingten - konfessionellen bzw. religiösen Grenzziehungen und Abgrenzungen zwischen Juden und Christen, Katholiken und Protestanten. Zwei Beiträge richten darüber hinaus den Blick speziell auf geschlechterspezifische Aspekte. * In der auf Besonderheiten und Beziehungen von ›Stadt und Land‹ konzentrierten Sektion I befasst sich eingangs S TEFAN S ONDEREGGER mit der Bedeutung von Handlungswissen für die berufliche Laufbahn im spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen St. Gallen. In St. Gallen, seit dem Spätmittelalter Zentrum der Textilproduktion und des -handels, stießen Kenntnisse aus Wirtschaft, Recht und Verwaltung sowie Fertigkeiten auf herausgehobenes Interesse, die im beruflichen und administrativen Alltag des 14. und 15. Jahrhunderts besonders gebraucht wurden. Ebenfalls mit St. Gallen beschäftigt sich N ICOLE S TADELMANN , die jene Handwerkslehrlinge aus der Stadt in den Blick nimmt, die im 17. und 18. Jahrhundert ihre Ausbildung auf dem Land absolvierten, um sich so die nicht unerheblichen Ausbildungsgebühren bei den zünftischen Meistern in der Stadt zu sparen. Die Möglichkeit, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land ein Handwerk zu erlernen, führte zur Entwicklung und Entfaltung eines breiten Spektrums an Ausbildungsorten für die Stadtsanktgaller Lehrlinge. Periodika als Medien der Vermittlung ökonomischen Wissens in Süddeutschland im 18. Jahrhundert sind - so L OTHAR S CHILLING in seinem Beitrag - bislang noch wenig erforscht, obgleich sie eine wichtige Funktion für die Wissensvermittlung auch und vor allem an Erwachsene abseits der urbanen Zentren übernahmen. Sowohl die quantitative Auswertung ökonomischen Wissens in verschiedenen Periodika, wie Kalendern, gelehrten Schriften und Intelligenzblättern, als auch die Beschäftigung mit typischen Gattungen und deren Inhalten lassen jedoch den - vorläufigen - Schluss zu, dass sich Periodika im bayerisch-schwäbischen Raum weniger als anderswo mit konkreten Innovationen und Experimenten befassten und weniger lokal spezifisches Wissen weitergaben. Die Erforschung der Periodika in unserem Raum, darauf weist Schilling eindringlich hin, steckt dabei noch ganz in den Anfängen. <?page no="15"?> E INFÜHR UNG 15 R EGINA D AUSER zeigt am Beispiel des evangelischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg auf, wie schwierig sich der Umbau einer auf den Universitätsbesuch vorbereitenden Ausbildungsstätte zu einer Stadt- oder Bürgerschule gestaltete. Hinter dem Versuch der Schaffung einer ›Real‹ -Schule in den 1760er bis 1790er Jahren stand das reformerische Bemühen, künftigen Handwerkern und Kaufleuten eine breite, auch gewerbliche Basisbildung angedeihen zu lassen. Eingebettet in den zeitgenössischen Diskurs über Bildungsreformen, ließen sich die Anstrengungen aus vielerlei Gründen jedoch nur begrenzt umsetzen. Langfristig indes mündete das Aufbrechen herkömmlicher Schulstrukturen dann doch in den Aufbau von Bürgerschulen. Während sich die genannten Beiträge stark auf wirtschaftlich-ökonomische Wissensvermittlung konzentrieren, gehen die folgenden intensiv auf das noch wenig erforschte allgemeinbildende Volksschulwesen im ländlichen Bereich ein. A NKE S CZESNY tut dies am Beispiel des schwäbischen Bezirksamtes Zusmarshausen im 19. Jahrhundert. Neben der Organisation des Schulwesens sowie der nicht unproblematischen Durchsetzung der Schulpflicht auf dem Land wird der Blick auf die Lehrerausbildung gelenkt, deren Qualität sich in der Wissensvermittlung an die Kinder niederschlagen sollte. Dass auch Klassenräume und Schulgebäude Einfluss auf das Lernverhalten der Kinder hatten, wird hier nur angedeutet, während sich der folgende Beitrag von E RICH M ÜLLER -G AEBELE explizit mit der Entwicklung und den Veränderungen des Schulgebäudebaus vom 19. Jahrhundert bis hinein in die Gegenwart in Oberschwaben auseinandersetzt. Er veranschaulicht die zugleich bildungspolitische wie dörflich-soziale Dimension der Schule am Ort, aus deren Funktionsverlust oder gar Verschwinden sich gravierende Folgen für die Identität des ländlichen Raums ergeben haben und weiter ergeben werden. G ERHARD H ETZER widmet sich Mundart und Hochsprache in den Volksschulen des 19. Jahrhunderts. Er führt aus, wie zunächst in den Lehrplänen und durch Lehrmittel die Abgrenzung der beiden Sprecharten erfolgte und Gelehrte wie Theodor Friedrich Niethammer oder Joseph Wiesmayr und zahlreiche andere um die richtige Vermittlung rangen. Letztlich setzte sich, parallel zur Formierung des Nationalstaates und der sukzessive fortschreitenden Normierung in Politik und Gesellschaft, der Unterricht des Hochdeutschen durch. Eine spezifische Lehranstalt bzw. Schule stellt S TEFFEN K AISER mit den Ackerbauschulen im Königreich Württemberg vor. Innovativ war hier die Schule in Hohenheim, die, ursprünglich für Waisen gedacht, finanzkräftigen Bauern- und Handwerkersöhnen eine dreijährige landwirtschaftliche Ausbildung ermöglichte und von der innerhalb kurzer Zeit weitere Schulgründungen angeregt wurden. Da nicht alle Bewerber über entsprechende Mittel verfügten, wich man für die ärmeren Schüler auf Winterschulen und abendliche Fortbildungskurse aus, was wiederum die Schultypen in Konkurrenz zueinander brachte. W OLFGANG S CHEFFKNECHT leitet mit seinem Aufsatz zur Rekrutierung und Ausbildung von Priestern zu den Beiträgen in Sektion II über, die Aspekte von <?page no="16"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT / D IE TMA R S CHIER S NER / A NK E S C ZES N Y 16 Religion und Konfession aufgreifen. Scheffknecht, der sich detailliert mit den Wegen der priesterlichen Ausbildung im frühneuzeitlichen Vorarlberg beschäftigt und sich den Kandidaten prosopographisch nähert, kann nicht nur klerikale Familientraditionen ermitteln, sondern auch regionale Netzwerke freilegen, die den angehenden Geistlichen systematisch Protektion gewährten. Familiale, kommunale und landesherrliche Förderung trugen entscheidend zum Fortkommen eines Priesters und zur Herausbildung von ›Priesterdynastien‹ bei. Mit der Stiftung einer Lateinschule in der Fugger-Herrschaft Babenhausen 1554 stellt D IETMAR S CHIERSNER eine bemerkenswerte Bildungsinitiative aus humanistischer Tradition einerseits, aus dem Geist der sich entwickelnden katholischen Konfessionalisierung andererseits vor. Die im Gründungszusammenhang entstandene lateinische ›Institutio scholastica‹ wurde in der Forschung bislang nicht als außeror dentlich frühes Beispiel einer Schulordnung katholischer Provenienz erkannt und gewürdigt. Stiftungsurkunde sowie Schulordnung werden hier deswegen in einer kommentierten Edition samt Übersetzung zugänglich gemacht. Der noch viel zu wenig erforschten Mädchenbildung wenden sich Barbara Rajkay und Marieluise Kliegel zu. Ein weiteres Mal in der ehemaligen Reichsstadt Augsburg bewegt sich der Beitrag von B ARBARA R AJKAY mit ihrer Untersuchung über die Errichtung von Mädchenschulen seit dem 16. Jahrhundert, wobei einzelne, vor allem protestantische Bildungsanstalten im Fokus stehen. Dass die Lernziele für die Mädchen in öffentlichen Schulen denen der Knaben entsprachen, wird ebenso herausgearbeitet wie die Bedeutung des Lernortes Familie. Sie nahm erst mit der Errichtung höherer Töchterschulen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ab, die indes zunächst mit finanziellen Schwierigkeiten und ideologischen Vorbehalten zu kämpfen hatten. Mit gänzlich anderen Quellen zur Mädchenbildung befasst sich M ARIELUISE K LIEGEL . Sozusagen weibliche textile Bildungsorte im 19. und frühen 20. Jahrhundert sind ihre Untersuchungsräume; und auch sie thematisiert die Verlagerung der Ausbildung aus privat-familiären Kontexten in den Bereich öffentlich-gesellschaftlich definierter Mädchenbildung. Dass dabei die Aufgaben der Ehe- und Hausfrau bzw. Mutter sowie - gerade für ärmere Bildungsschichten - der sparsame Umgang mit Ressourcen zentrale Gegenstände waren, ist wenig überraschend. Nichtsdestoweniger sollten sich aus solchen Bildungszusammenhängen ebenfalls Anstöße zur späteren emanzipatorischen Frauenbewegung entwickeln. Im gesamten Kanon schulischer Ausbildung und institutioneller Wissensvermittlung werden jüdische Bildungseinrichtungen immer noch nur am Rande thematisiert. T HOMAS A LBRICH kann hier aufzeigen, dass die jüdische Gemeinde in Hohenems das Toleranzpatent von 1781 erstaunlich schnell umsetzte und schon seit 1785 einen jüdischen Lehrer vor Ort unterrichten ließ. Allerdings rangen die Lehrer mit finanziellen Schwierigkeiten und zurückgehenden Schülerzahlen, da sich die Schulpflicht in Vorarlberg nicht konsequent durchsetzen ließ und Privatlehrer zu Lasten <?page no="17"?> E INFÜHR UNG 17 der öffentlichen Schulen an Attraktivität gewannen. Albrich zeichnet das Problemfeld anhand der Biographie des jüdischen Lehrers Lazar Levi detailliert nach. C LAUDIA R IED nimmt, zeitlich daran anknüpfend, die bayerisch-schwäbischen Judengemeinden in den Blick, und zwar unter dem Vorzeichen des Bayerischen Judenedikts von 1813, das die jüdischen Akteure vor Ort vor die Aufgabe stellte, Elementarschulen zu gründen und die daraus resultierenden Auseinandersetzungen mit den christlichen Schulen zu bewältigen. Differenziert fragt sie nach den Intentionen des Judenedikts im Hinblick auf das jüdische Elementarschulwesen und nach dessen Umsetzung in den ländlichen Gemeinden und kommt zu dem Schluss, dass keineswegs von einem »staatlichen Erfolgsmodell« gesprochen werden könne. 5 Der Aufsatz von D OMINIK B URKARD schließt die Sektion mit einer Analyse der württembergischen Schulpolitik in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur thematisch, sondern auch chronologisch ab. Vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes von Kirche und Regime analysiert er anhand der ›Erinnerungen und Betrach tungen‹ des ehemaligen württembergischen Kultminister s Christian Mergenthaler, einer retrospektiven und rechtfertigenden Schrift, und der Protestschreiben des Bischöflichen Ordinariats zwischen 1933 und 1945 gegen die Eingriffe in das kirchliche Schulsystem, die Schrittmacherfunktion Württembergs bei der Durchsetzung nationalsozialistischer Bildungspolitik ebenso wie die letztlich erfolglosen Versuche der Kirchenleitung, die Konfessionsschulen beizubehalten, um weiterhin christlichreligiöse Werte zu vermitteln. 5 C LAUDIA R IED in diesem Band, S. 407. <?page no="19"?> I. Stadt und Land <?page no="21"?> 21 S TEFAN S ONDEREGGER Schreiben, Rechnen, Buch führen. Handlungswissen als Schlüssel zum beruflichen Erfolg in einer internationalen Handelsstadt. St. Gallen im Übergang vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit Eine Methode, um Bildung in einer spätmittelalterlichen Stadt zu untersuchen, besteht in der Interpretation ihres schriftlichen Nachlasses. Im Falle St. Gallens ist dies besonders reizvoll. Beim mittelalterlichen St. Gallen kommt einem vor allem die Stiftsbibliothek mit ihren Büchern des frühen und hohen Mittelalters, die den Kern des UNESCO-Welterbes bilden, in den Sinn. Schriftlichkeit auf dieser Ebene ist Bildungswissen; Litterati aus Klöstern haben die dort überlieferten Bücher geschrieben und abgeschrieben. Zu dieser frühmittelalterlichen Entstehung und Weitervermittlung von Gelehrtenwissen kam im Hoch- und Spätmittelalter zunehmend eine andere Art von Wissen hinzu. Insbesondere mit der Entstehung und dem schnellen Wachstum von Städten seit dem 12. und 13. Jahrhundert wurden die Fähigkeiten, lesen, schreiben und rechnen zu können, im Lebensalltag immer wichtiger. Bildung in der städtischen Gesellschaft war verbunden mit der Ausbildung für die berufliche, administrative und politische Tätigkeit als Kaufmann, Handwerksfrau und -mann, Notar, Amtsinhaber und Ratsherr. Neben das gelehrte wissenschaftliche Wissen trat nun immer mehr das Handlungswissen. »Allmählich begann eine alte Gleichung an Wert zu verlieren, die für Jahrhunderte gegolten hatte: Der Litteratus war nicht mehr nur der Clericus und der Illiteratus nicht mehr nur der Laicus«. 1 Im folgenden Beitrag werden Aspekte der Bildung in der städtischen Gesellschaft St. Gallens behandelt. Ausgehend von der Tatsache, dass die Stadt seit dem Spätmittelalter ein Zentrum der Textilproduktion und des -handels war, konzentrieren sich die Ausführungen auf die Bereiche Wirtschaft, Recht und Verwaltung. Von besonderem Interesse ist, welche spezifischen Fertigkeiten im beruflichen und administrativen Alltag des 14. und 15. Jahrhunderts gebraucht und wie diese vermittelt wurden. Informationen dazu finden sich in der sogenannten pragmatischen Schriftlichkeit, im vorliegenden Fall in Urkunden, Satzungen und Rechnungen. Es ist völlig unmöglich, einen die ganze Breite der Gesellschaft umfassenden Eindruck des 1 M ARTIN K INTZINGER , Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Ostfildern 2007 (zweite Ausgabe), S. 127. Ich danke Dr. Dorothee Guggenheimer, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen, für Hinweise und Korrekturen. <?page no="22"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 22 Handlungswissens zu vermitteln. Die Untersuchung hat sich auf ausgewählte Akteure bzw. Akteursgruppen zu beschränken, die eine Funktion in der städtischen Administration und Politik sowie Wirtschaft hatten und zu denen deshalb schriftliche Informationen verfügbar sind. Hierzu werden Informationen zu Mandatsträgern wie Stadtschreibern und Ratsherren, die Aufgaben für die Stadt und städtische Institutionen erfüllten, ausgewertet. 1. St. Gallen Einleitend soll kurz der Untersuchungsort vorgestellt werden. 2 St. Gallen im Spätmittelalter bedeutete das enge Nebeneinander eines Reichsklosters und einer Reichsstadt. Das Kloster St. Gallen als herrschaftliches und kulturelles Zentrum der frühmittelalterlichen Bodenseeregion war schon früh ein Anziehungspunkt für Menschen, die sich in seiner Umgebung niederließen. Erste schriftliche Hinweise für eine langsam um die Abtei wachsende weltliche Siedlung finden sich für das 10. Jahrhundert. Im Laufe des 13., 14. und 15. Jahrhunderts gelang der Stadt St. Gallen, die bis in die 1450er-Jahre der Herrschaft des Klosters unterstand, die Emanzipation. Dies drückt sich beispielsweise in der ersten, auf deutsch geschriebenen sogenannten Handfeste von 1291 aus. Dabei handelt es sich um einen Ansatz städtischer Gesetzgebung mit der Definition des städtischen Hoheitsgebiets innerhalb von vier, auf alle Himmelsrichtungen verteilten Grenzkreuzen. Das war ein Gebiet von rund drei Kilometern von Osten nach Westen und zwei Kilometern von Norden nach Süden. Diese enge Begrenzung der Stadt innerhalb des äbtischen Territoriums sollte bis zur Auflösung des Klosters zu Beginn des 19. Jahrhunderts Bestand haben. Dem Aufstieg der Stadt im 14. Jahrhundert stand eine eigentliche Krise des Klosters gegenüber. Die Schwäche des Klosters nutzte die erstarkende Stadt, um die bevorzugte Stellung einer Reichsstadt zu erlangen. Streng genommen hatte St. Gallen diese Position erst 1451 erreicht, weil ihr damals Friedrich III. neben der Maß- und Gewichtshoheit auch das Münzregal gewährte. Angesichts der bereits früher erlangten Freiheiten und der Verbindungen ins Reich kann St. Gallen aber schon ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts faktisch als Reichsstadt bezeichnet werden. Ausdruck der Reichszugehörigkeit sind Bündnisse mit anderen Reichsstädten seit 1312. Waren es anfänglich vier Partner (St. Gallen, Konstanz, Zürich und Schaffhausen), bestand der Schwäbische Städtebund in den 1380er-Jahren aus über 30 mehrheitlich deutschen Städten in einem Gebiet von Rothenburg ob der Tauber im 2 Das ganze Kapitel zur Geschichte St. Gallens bezieht sich auf S TEFAN S ONDEREGGER / M ARCEL M AYER : St. Gallen (Gemeinde), in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 6.1.2012. Online: https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 001321/ 2012-01-06/ (aufgerufen am 1.1.2023). <?page no="23"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 23 Norden bis St. Gallen und Wil im Süden sowie Kaufbeuren im Osten bis Rottweil im Westen. Der Zweck dieser Städtebünde lag in der gegenseitigen Hilfeleistung bei Konflikten. Weiter stellten sie, modern gesprochen, Wirtschafts- und Rechtsabkommen dar. Bis kurz vor 1400 bestanden besonders enge Verbindungen St. Gallens zur Bischofsstadt Konstanz; von dieser hatte St. Gallen rechtliche und wirtschaftliche Regelungen übernommen. 1.1 Textilhandelszentrum seit Mitte des 15. Jahrhunderts Die St. Galler und St. Gallerinnen lebten zu jener Zeit in einem territorial sehr engen, aber wirtschaftlich ungemein weiten Umfeld. Mit 3 bis 4.000 Bewohnern um 1500 war St. Gallen im europäischen Vergleich eine mittelgroße, geografisch hingegen eine kleine Stadt - aber mit einem internationalen Horizont, und dieser gründete auf der Wirtschaft. Die Herstellung von Leinentüchern war im Bodenseegebiet schon früh verbreitet, im ausgehenden Mittelalter erreichte St. Gallen die Spitzenposition im Handel und überflügelte damit Konstanz als zuvor führende Textilstadt im Bodenseegebiet. St. Gallens Handelsnetz reichte von Spanien bis Polen und von Norddeutschland bis Italien. Man beherrschte in St. Gallen Fremdsprachen, Auslandaufenthalte gehörten zur Karriere als Textilkaufmann. 1.2 Austausch über den Bodensee Im Gegensatz zu heute bildeten Bodensee und Rhein bis ins 19. Jahrhundert keine Grenzen, sondern waren verbindende Transportwege. Kontakte über den See gehörten zum Alltag. Die engsten Beziehungen nach Süddeutschland bestanden im Bereich der Textilwirtschaft. Sowohl bei der Herstellung als auch im Vertrieb von Tuchen arbeiteten die Produktions- und Handelshäuser der Städte um den Bodensee zusammen. Es war beispielsweise verbreitet, Leinentücher aus Deutschland zur Veredelung nach St. Gallen zu bringen. Grund dafür war das hohe Ansehen, welches die St. Galler Qualitäts-Schau und damit Tücher, die mit dem St. Galler Schauzeichen versehen waren, genoss. Aus Geschäftsbeziehungen entstanden auch familiäre Verbindungen von St. Galler Familien mit solchen aus Konstanz, Ravensburg, Lindau, Isny und aus anderen Städten. Über einen eigenen Hafen in Steinach hatte die Stadt St. Gallen zudem direkten Seeanschluss. Diese Infrastruktur war wichtig, weil die Ostschweiz im Gefolge der Spezialisierung auf Vieh- und Textilwirtschaft im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit den Ackerbau vernachlässigte. Häufigster Importartikel war denn auch schwäbisches Getreide, dieses diente der Versorgung der Stadt St. Gallen sowie der umliegenden Landschaft. 3 3 S TEFAN S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Spezialisierungen in der Region Ostschweiz und ihre Bedeutung für den interregionalen Austausch zwischen Oberschwaben und der <?page no="24"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 24 1.3 Städtische Schulen Schon früh gab es in St. Gallen im Kloster eine Lateinschule. Im 12. und 13. Jahrhundert wurde der Betrieb der Lateinschule in der Stadt aber nicht mehr von den Mönchen des nahen Klosters, sondern von Weltklerikern aufrechterhalten. 4 Über die Anfänge der städtischen Schulen weiß man wenig. Es gab eine Deutsche Schule und eine daran anschließende Lateinschule; allerdings ist wenig zu den spätmittelalterlichen Lehrinhalten bekannt. Möglicherweise nahm die Stadtschule mit dem vom Rat Mitte des 14. Jahrhunderts angestellten Schulmeister Johann von Gaienhofen ihren Anfang. Es wurden vielleicht 40 Knaben in der Grundstufe und einige ältere Jahrgänge bis zur Hochschulreife unterrichtet. Die für die spätere berufliche Tätigkeit grundlegenden Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten vermittelte die Deutsche Schule. Aufgabe der Lateinschule war die Vorbereitung zur Universität, nicht die Vermittlung von allgemeiner Bildung für einen praktischen Beruf. Reiche Bürger wie die Familie Zollikofer, die vor allem im Textilhandel tätig war, beschäftigten zudem wie Adlige eigene Hauslehrer. Studienorte von St. Gallern waren um 1500 die Universitäten in Basel, Wien, Leipzig, Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Erfurt, Tübingen, Wittenberg, Krakau. Nebst persönlichen Beziehungen spielten Netzwerke aus dem internationalen St. Galler Textilhandel - zum Beispiel im Falle von Krakau - eine Rolle bei der Wahl des Studienortes. 5 2. Schriftgebrauch im Alltag Im Zentrum dieses Beitrags steht das für den beruflichen Alltag notwendige Handlungswissen. Um von diesem einen Eindruck zu gewinnen, bietet es sich methodisch an, den Schriftgebrauch im Alltag zu untersuchen. Hierzu wird der im Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde verwahrte schriftliche Nachlass der mittelalterlichen Stadt St. Gallen beigezogen. Bis in die Zeit um 1400 bilden Urkunden den weitaus größten Ostschweiz, in: S IGRID H IRBODIAN / R OLF K IESSLING / E DWIN E RNST W EBER (Hg.), Herrschaft, Markt und Umwelt. Wirtschaft in Oberschwaben 1300 - 1600 (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 3), Stuttgart 2019, S. 159 - 182. 4 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf P AUL S TAERKLE , Beiträge zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte St. Gallens (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte XL), St. Gallen 1939, S. 27 - 50, und auf das Kapitel Bildung, Schulen und Wissenschaft in der St. Galler Kantonsgeschichte: A LFRED Z ANGGER , Von der Feudalordnung zu kommunalen Gesellschaftsformen, Sankt-Galler Geschichte 2003. Hochmittelalter und Spätmittelalter, Bd. 2, St. Gallen 2003, S. 11 - 101, hier 99. 5 Sankt-Galler Geschichte (Anm. 4), S. 100. Liste der Universitäten bei P. S TAERKLE , Beiträge zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte St. Gallens (Anm. 4), S. 110. <?page no="25"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 25 Teil der schriftlichen Überlieferung. Im frühen 15. Jahrhundert kommen serielle Reihen von Rechnungen (Steuerbücher, Säckelamtsbücher, Baurechnungen) und Briefe hinzu. Ratsprotokolle sind ab den 1470er-Jahren vorhanden. Der Urkundenbestand ermöglicht Aussagen zum Schriftgebrauch in der rechtlichen und wirtschaftlichen Organisation der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Nach 35 Jahren Neubearbeitung des aus dem 19. Jahrhundert stammenden › Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen ‹ ist die gesamte urkundliche Überlieferung nicht nur der Stadt, sondern auch der Region St. Gallen von 700 bis 1411 in einer neuen Volltextedition mit dem Namen Chartularium Sangallense greifbar. Nebst der Druckversion ist für die Zeit nach 1000 eine online-Version über monasterium.net, teils mit Faksimiles der Vorder- und Rückseite sowie der Siegel der edierten Urkunden, verfügbar. Dadurch ist es möglich, die urkundliche Schriftproduktion in dieser Region umfassend zu erforschen. Gegenüber dem alten Urkundenbuch umfasst das Chartularium Sangallense weit mehr Urkunden. Der Trend ist steigend; im 14. Jahrhundert macht der Anteil der neu erschlossenen Urkunden bis zu 40 Prozent aus. Der weitaus größte Teil dieser neu erschlossenen Urkunden besteht aus Privaturkunden, die in einem städtischen Bezug stehen. Dazu gehören Bündnisurkunden, Verkaufs- und Belehnungsurkunden, Urkunden zu Rentenkäufen, Urfehden sowie Urkunden, in denen der städtische Alltag fassbar wird (Baurechte, Nachbarschaftsstreitigkeiten usw.). Wie umfangreich die Zunahme der urkundlichen Überlieferung im Spätmittelalter ist, zeigt folgende Grafik, welche in Fünfzigjahresschritten die Zahl aller im Chartularium Sangallense edierten Urkunden von 1000 bis und mit 1399 wiedergibt. Anhand der Grafik sind zwei Tatsachen deutlich zu erkennen: erstens die Zunahme der urkundlichen Überlieferung seit 1200 und zweitens die Beschleunigung der Zunahme nach 1350. Zweiteres zeigt sich darin, dass von den insgesamt 6.204 zwischen den Jahren 1000 bis und mit 1399 überlieferten Urkunden allein schon 2.915 Stücke auf die Zeit zwischen 1350 und 1399 fallen. Die erste Phase bis 1349 korrespondiert mit Beobachtungen von Roger Sablonier zur Schriftlichkeit im Gebiet der heutigen Ostschweiz, wo in der zweiten Hälfte des 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine rasche Zunahme des Schriftgutes nachgewiesen werden kann. Die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts ist in der heutigen Ostschweiz als Zeit einer erheblichen Dynamik und gleichzeitig einer starken Ausdehnung des Schriftgebrauchs zu sehen, die Sablonier mit einer ersten Phase der »Profanierung« von Schriftgebrauch in Zusammenhang bringt. 6 Seine These bezieht sich auf Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Schriftgebrauch des Adels. 6 R OGER S ABLONIER , Schriftlichkeit, Adelsbesitz und adliges Handeln im 13. Jahrhundert, in: O TTO G ERHARD O EXLE / W ERNER P ARAVICINI (Hg.), Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 133), Göttingen 1997, S. 67 - 100. Zum weiten und von der Forschungsliteratur kaum überblick- <?page no="26"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 26 Grafik 1: Zahl der überlieferten und im Chartularium Sangallense edierten Urkunden von 1000 bis 1399, in Fünfzigjahresschritten dargestellt. Diese Aussagen lassen sich mit unseren, bereits an anderer Stelle 7 publizierten Beobachtungen und statistischen Ergebnissen, die über die von Sablonier untersuchte Zeitspanne hinausreichen, ergänzen und erweitern. 2.1 Zunahme der städtischen Schriftproduktion Die Zunahme des Schriftgebrauchs im weltlichen Bereich betrifft nicht nur den Adel, sondern noch weit mehr den städtischen Bereich. Die folgende Grafik weist deutlich in diese Richtung. baren Thema Schriftlichkeit immer noch grundsätzlich M ICHAEL T. C LANCHY , From Memory to Written Record. England 1066 - 1307, 2. Aufl. Oxford 1993; H AGEN K ELLER , Die Entwicklung der europäischen Schriftkultur im Spiegel der mittelalterlichen Überlieferung. Beobachtungen und Überlegungen, in: Geschichte und Geschichtsbewusstsein, FS für Karl- Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag, Münster 1990, S. 171 - 204. 7 S TEFAN S ONDEREGGER , Vom Nutzen der Bearbeitung einer regionalen Urkundenedition. Dargestellt am Chartularium Sangallense, in: T HEO K ÖLZER / W ILLIBALD R OSNER / R OMAN Z EHETMAYER (Hg.), Regionale Urkundenbücher (Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 14), St. Pölten 2010, S. 86 - 116. <?page no="27"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 27 Grafik 2: Vom Kloster St. Gallen bzw. von der Stadt St. Gallen ausgestellte Urkunden 1282 - 1297 und 1382 - 1397. In zwei Zeitschnitten im Abstand von 100 Jahren wurden alle Urkunden ausgezählt, die entweder vom Kloster oder von der städtischen Seite - das heißt von Bürgermeister und Rat, einer städtischen Institution wie dem Spital oder von einem Bürger - ausgestellt wurden. Während zwischen 1282 und 1297 erst drei Urkunden von städtischer Seite und demgegenüber 60 Urkunden vom Kloster ausgestellt worden waren, hatten sich hundert Jahre später die Verhältnisse völlig geändert. Ende des 14. Jahrhunderts wurden deutlich mehr Urkunden von städtischer Seite ausgestellt. Diese Stichprobe zeigt, dass die nochmals markante Zunahme der Urkundenüberlieferung seit 1350 in erster Linie mit der Zunahme der Schriftproduktion in der Stadt zusammenhängen muss. Die Gründe für diese Zunahme sind vielfältig und können hier nicht ausgiebig diskutiert werden; wenigstens drei Beobachtungen seien jedoch hervorgehoben. Einher mit der Loslösung der Stadt aus der Klosterherrschaft ging ihre Vernetzung mit anderen Städten im erweiterten Bodenseegebiet, die sich markant in der Zunahme der schriftlichen Kommunikation nach außen äußert. Davon zeugen die vielen Städtebundsurkunden seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, sodann die Briefkorrespondenz (Missiven), die Ende des 14. Jahrhunderts einsetzt und im 15. und 16. Jahrhundert massiv zunimmt, 8 und schließlich die in den 8 In St. Gallen wird in einem Langzeitprojekt der Missivenbestand digital ediert. Vgl. dazu S TEFAN S ONDEREGGER , Austausch über den Bodensee im Spätmittelalter und in der Frühen <?page no="28"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 28 städtischen Rechnungen dokumentierten Ausgaben für Briefboten und Gesandte. 9 Hinzu kommt der Auf- und Ausbau einer schriftgestützten Verwaltung seit den 1350er-Jahren. Davon zeugen Einträge im ältesten, zu jener Zeit begonnenen und bis 1426 reichenden Stadtbuch, welches Abrechnungen zwischen der Stadt und dem Steuermeister, Baumeister und Säckelmeister der Stadt festhält. 10 Die Zunahme der städtischen Schriftproduktion zeigt zum Zweiten auch die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisbare Tätigkeit der Stadtschreiber. Einer Arbeit zur Urkundensprache ist zu entnehmen, dass fünf zu unterscheidende Schreiber der Stadt und des städtischen Spitals zwischen 1362 und 1416 etwa 300 Urkunden verfassten. 11 Die Schreiber der Abtei schrieben gemäß dieser Studie zwischen 1350 und 1400 nur 199 Urkunden. 12 Dass die Schreiberhände der ersten Stadtschreiber auch im ersten Stadtbuch aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nachzuweisen sind, werte ich als Hinweis darauf, dass es sich bei diesen Schreibern um die Ratsschreiber handeln dürfte. Dies wiederum deutet auf die Anfänge oder zumindest die Vorformen einer städtischen Kanzlei hin, welche wesentlich am Auf- und Ausbau einer schriftgestützten Verwaltung und somit an der Zunahme der städtischen Urkundenproduktion beteiligt war. Diese regionale Situation nach der Mitte des 14. Jahrhunderts entspricht der Entwicklung in Mitteleuropa. 13 Als dritter Grund für die Zunahme des Schriftgebrauchs kommt meiner Meinung nach der wirtschaftliche Aufstieg St. Gallens zu einer international vernetzten Handelsstadt dazu. Der spätmittelalterliche Textilhandel der Bodenseeregion setzte eine Kommunikation über weite Distanzen, das heißt vom Hauptsitz einer Handelsfirma zu den Filialen an anderen Orten in Europa, voraus. Auch wenn die schriftliche Überlieferung zum Fernhandel dünn ist, 14 kann doch angenommen werden, dass in Wirtschaft und Handel der Schriftgebrauch seit Mitte des 14. Jahrhunderts zunahm und dadurch die Schriftproduktion in allen Bereichen gefördert wurde. Neuzeit. Perspektiven einer Edition von Missiven der ehemaligen Reichsstadt St. Gallen, in: H ARALD B ERSCHKA / J ÜRGEN K LÖCKLER / T HOMAS Z OTZ (Hg.), Konstanz und der Südwesten des Reiches im hohen und späten Mittelalter, FS für Helmut Maurer zum 80. Geburtstag (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen XLVIII), Ostfildern 2017, S. 171 - 187. 9 D ORIS K LEE , Das St. Galler Säckelamtsbuch von 1419 als sozialgeschichtliche Quelle, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 120 (2002), S. 105 - 129, hier 117. 10 StadtA St. Gallen, Bd. 538. 11 H ANS S CHMID , Die St. Galler Urkundensprache in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts, Zürich 1953. 12 H. S CHMID , Die St. Galler Urkundensprache (Anm. 11), S. 179. 13 T OBIAS H ERRMANN , Anfänge kommunaler Schriftlichkeit. Aachen im europäischen Kontext (Bonner historische Forschungen 62), Siegburg 2006. 14 S TEFAN S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung in der spätmittelalterlichen Nordostschweiz. Eine Untersuchung ausgehend von den wirtschaftlichen Aktivitäten des <?page no="29"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 29 2.2 Stadtschreiber Wie oben dargelegt, besteht der umfangreichste Archivnachlass bis Mitte des 15. Jahrhunderts aus Urkunden. Erst danach setzen Rechnungsserien und Briefe ein, die dann im Übergang zur Frühen Neuzeit rasch an Quantität zunehmen. Bei einem Großteil der Urkunden können die Schreiber identifiziert werden. Das ermöglicht es bis zu einem gewissen Grad, deren Aufgabenprofil, Ausbildung und beruflichen Werdegang zu ermitteln. Zwischen etwa 1350 und 1436 sind fünf Schreiber auszumachen. Heinrich Garnleder war etwa von 1352 bis 1389 öffentlicher Notar und verfasste vor allem Urkunden. Hans Schmid weist ihm in seiner Untersuchung zur St. Galler Urkundensprache in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts 84 Stück zu, wobei zu erwähnen ist, dass Schreiberzuweisungen als Größenordnung und nicht als feste Zahl zu verstehen sind, da die Schreiber der Urkunden selten namentlich erwähnt sind und deshalb die Zuordnung über Handschriftvergleiche zu erfolgen hat. Weiter ist Garnleders Mitwirkung bei Abrechnungen des Ungelds der Stadt nachzuweisen, und zwar im ersten, Mitte des 14. Jahrhunderts beginnenden Stadtbuch. Ebenfalls in diesem Stadtbuch ist Heinrich Garnleders Schrift bei einzelnen Satzungen zu erkennen. Der Erste, der eindeutig als eigentlicher Stadtschreiber bezeichnet werden kann, ist Johannes Zili. Hans Schmid weist seiner Hand 46 Urkunden zu. Im Stadtbuch ist seine Handschrift zwischen 1362 und 1389 nachweisbar. Johannes Zili hat die städtische Gesetzgebung, wie sie im Stadtbuch dokumentiert ist, am nachhaltigsten geprägt. 290 Seiten stammen laut der Editorin des Stadtbuches, Magdalena Bless- Grabher, 15 von seiner Hand. Bei den Einträgen handelt es sich nebst Satzungen um Einträge zu Kreditgeschäften mit städtischen Liegenschaften, die zur Absicherung als Grundpfand hinterlegt werden mussten (Pfandversatzungen). Weiter ist - wie bei Garnleder - seine Mitwirkung bei Abrechnungen mit den Inhabern städtischer Administrationsstellen - Ungeldeinzieher, Steuer- und Baumeister - sowie bei Einbürgerungen im Stadtbuch nachweisbar. Von 1388 bis 1416 ist Johannes Garnleders Handschrift im Stadtbuch bezeugt. Johannes war der Sohn vom oben erwähnten Heinrich Garnleder. Als Stadtschreiber ist er seit 1388 dokumentiert, im Stadtbuch stammen ca. 185 Seiten von seiner Hand, und Schmid weist ihm 117 Urkunden zu. Bezeugt ist seine Teilnahme an diplomatischen Missionen der Stadt. Nebst der Erstellung neuer Satzungen im Stadtbuch ist Heiliggeist-Spitals St. Gallen (St. Galler Kultur und Geschichte 22), St. Gallen 1994, S. 195 - 202. 15 Zu den fünf Stadtschreibern siehe M AGDALEN B LESS -G RABHER unter Mitarbeit von S TE - FAN S ONDEREGGER , Die Rechtsquellen der Stadt St. Gallen. Die Stadtbücher des 14. bis frühen 17. Jahrhunderts (Sammlung schweizerischer Rechtsquellen 2.1.1), Aarau 1995, S. XV - XVIII. <?page no="30"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 30 seine Redaktion von bestehenden zu erkennen, indem er die Satzungen mit Titeln ergänzte, wodurch die Benutzerfreundlichkeit stieg. Nachfolger von Johannes Garnleder war Johannes Beck, dessen Hand im Stadtbuch ab 1410 auf ca. 37 Seiten zu identifizieren ist. Schmid weist ihm die Ausfertigung von 75 Urkunden zu. Beck war an grundsätzlichen Reformen der Stadtsatzungen beteiligt. 1426 eröffnete er ein neues, das zweite Stadtbuch, das die Zeit zwischen 1426 und 1508 umfasst. Dieses zweite Stadtbuch unterscheidet sich vom ersten, indem es weitgehend nur noch Satzungen und keine Abrechnungen, wie dies im ersten Buch noch der Fall ist, enthält. Als Neuerung finden sich zudem durchgehend Titeleien und ein Register. Das sind Hinweise auf eine Rationalisierung der städtischen Administration. Dazu passt, dass wenige Jahre vor der Anlage dieses zweiten Stadtbuches serielle Reihen wie Steuerbücher, Säckelamtsbücher und Baurechnungen einsetzen. Das ermöglichte die systematische Konzentration des neuen Stadtbuches auf den gesetzgeberischen Bereich. Hans Golder ist von 1419 bis 1420 als Schreiber in der Stadtkanzlei nachweisbar. Im Stadtbuch sind seine Spuren spärlich, und Schmid weist ihm lediglich die Ausstellung von sechs Urkunden zu. Golder hatte eine ähnliche Schrift wie Johannes Beck; Bless vermutet, dass er eine Art Substitut des Stadtschreibers Beck war. Spätestens 1422 schlug er eine andere Laufbahn, nämlich als Säckel- und Steuermeister, ein. 16 Stadtschreiber des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit verfügten über ein breites Anforderungsprofil. Eine Bildung mit Universitätsabschluss war nicht notwendig, und wie die Beispiele von St. Gallen zeigen, wohl eher die Ausnahme. Von den erwähnten fünf Schreibern scheint nämlich keiner eine Universität besucht zu haben, ihre Ausbildung erfolgte vielmehr im Sinne von › learning by doing ‹ in der Stadtkanzlei. Am Beispiel von Vater und Sohn Garnleder wird dies besonders augenfällig. Ihre Schrift lässt sich nur schwer voneinander unterscheiden. Sogar die Zeichen am Anfang und am Schluss der Urkunden sind identisch. Der einzige, durchgehende Unterschied konnte beim Buchstaben v ausfindig gemacht werden: Heinrich Garnleder, der Vater von Johannes Garnleder, begann das v von unten, Johannes hingegen von oben. (Abb. 1 und 2) Die weitgehend identische Schrift lässt sich nur dadurch erklären, dass der Sohn beim Vater in der Stadtkanzlei quasi in die Lehre ging und bei ihm das Schreiberhandwerk und alles andere, was zur Aufgabe als Stadtschreiber gehörte, erlernte. Bei Golder und Beck bestehen ebenfalls Ähnlichkeiten. Das Ausstellen von Urkunden umfasste nicht nur die Schreibarbeit, sondern erforderte breite rechtliche Kenntnisse. Besonders augenfällig wird dies bei Lehensurkunden, in welchen eine städtische Institution - allen voran das kommunale Spital, das Siechenhaus und das städtische Frauenkloster St. Katharinen - Partei waren. In vielen Fällen tritt der Stadtschreiber als Rechtsvertreter (Träger) der jeweiligen städtischen Institution und zugleich als Verfasser der Lehensurkunde in Erscheinung. 16 M. B LESS -G RABHER , Die Rechtsquellen der Stadt St. Gallen (Anm. 15), S. XVIII. <?page no="31"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 31 Dies hängt damit zusammen, dass die Institutionen Korporationen im kirchenrechtlichen Sinn waren und somit streng genommen nach kanonischem Recht nicht selbstständig Lehen übernehmen konnten. 17 Spitäler und Siechenhäuser verfügten im Gegensatz zu Bürgern im Spätmittelalter häufig nicht über die Lehensfähigkeit, waren aber zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau ihres Betriebes auf die Übernahme von Lehengütern angewiesen, und sie waren ökonomisch sehr aktiv. 18 Die von Stadtschreibern verfassten Lehensurkunden für die städtischen Institutionen fallen durch ihre Ausführlichkeit auf. Unter anderem werden die von den Lehensnehmern zu entrichtenden Abgaben aufgelistet und Sanktionen bei Nichteinhaltung von Zahlungen erwähnt, weiter sind Umschreibungen der Lehensgüter, Folgen bei Vernachlässigung der Bewirtschaftung des Hofes und schließlich Regelungen bei der Vergütung von Investitionen, die durch Bauern auf den Lehenhöfen getätigt wurden, enthalten. In wenigen Fällen sind sogar Bestätigungen der Trägerschaft des Stadtschreibers vorhanden. 19 Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass diese Ausführlichkeit der rechtlichen Absicherung der städtischen Institution, die der Stadtschreiber vertrat, diente. 20 Rechtliche Kenntnisse waren auch in der städtischen Gesetzgebung, in der Protokollierung der Ratssitzungen sowie der Beratung des Rates in den Sitzungen und auf diplomatischen Missionen gefragt. Letzteres zeigt beispielsweise ein Eintrag im Ratsprotokoll von der Sitzung des Großen Rates der Stadt St. Gallen vom 29. November 1514. Der Rat delegierte den amtierenden Bürgermeister, den Unterbürgermeister und den Stadtschreiber nach Zürich. Diese hatten eine schwierige Aufgabe: 1513 war das Land Appenzell als 13. und letzter Ort in die Alte Eidgenossenschaft aufgenommen worden. St. Gallen bemühte sich laut diesem Ratseintrag offenbar ebenfalls um eine Aufnahme. In den Verhandlungen mit den Eidgenossen sollten die St. Galler Gesandten gemäß Auftrag von Bürgermeister und Rat aber darauf achten, dass man mit dem Kaiser und Rich ains were. 21 17 Vgl. C LAUSDIETER S CHOTT , Der ›Träger‹ als Treuhandform (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte), Köln 1975, S. 229 - 235. 18 Grundsätzlich dazu R EZIA K RAUER , Die Beteiligung städtischer Akteure am ländlichen Bodenmarkt. Die Region St. Gallen im 13. und 14. Jahrhundert, Zürich 2018, S. 60 - 63. Zur dynamischen Ökonomie des St. Galler Spitals siehe S TEFAN S ONDEREGGER , Aktive Grundherren und Bauern. Beziehungen zwischen Herren und Bauern im wirtschaftlichen Alltag im 14. bis 16. Jahrhundert, in: E NNO B ÜNZ (Hg.), Landwirtschaft und Dorfgesellschaft im ausgehenden Mittelalter (Vorträge und Forschungen LXXXIX), Ostfildern 2020, S. 213 - 250. 19 Beispiel solcher Urkunden: Chartualium Sangallense, Bd. 8, Nr. 5172, 27.4.1369: Heinrich Garnleder, Schreiber und Bürger zu St. Gallen, stellt dem Kloster St. Katharinen einen Revers für die Trägerschaft von Weingärten, Wiesen und Äcker bei Kobel aus. 20 Zum Beispiel Chartularium Sangallense, Bd. 10. Nr. 6358, 15.11.1389. 21 StadtA St. Gallen, Ratsprotokoll 1514, S. 165. <?page no="32"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 32 Abb. 1: Von Johannes Garnleder, dem Sohn von Heinrich Garnleder, geschriebene, auf den 12. März 1376 datierte Urkunde. <?page no="33"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 33 Abb. 2: Von Heinrich Garnleder, dem Vater von Johannes Garnleder, geschriebene, auf den 19. Oktober 1357 datierte Urkunde. <?page no="34"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 34 Ihr Auftrag lautete also, das gute Verhältnis mit dem Reich auf keinen Fall zu gefährden. Dies versteht sich vor dem Hintergrund, dass der Tuchexport und umgekehrt der Import vor allem von Getreide aus Deutschland existentiell waren. Man könnte diese Haltung Politik mit Vorrang wirtschaftlicher Interessen nennen (was ja nichts Außergewöhnliches ist …). Solche Mandate verlangten Vertraulichkeit oder gar Geheimhaltung. 22 Als Stadtschreiber kamen deshalb nur Vertrauensleute in Frage, die zudem angesichts der vielen Aufgaben und nicht zuletzt auch wegen diplomatischer Reisen effizient und wenn möglich körperlich robust waren. 23 In der Frühen Neuzeit nahmen die Aufgaben der Stadtschreiber wohl noch zu. Dies zeigt sich beispielsweise an der steigenden Zahl brieflicher Korrespondenz, die in der städtischen Kanzlei erledigt werden musste. Weiter musste ein Stadtschreiber in der Lage sein, nebst lateinischen Briefen auch solche auf Französisch oder Italienisch zu verstehen und dem Rat sachlich fokussiert darzulegen. 24 Schließlich hatten die Stadtschreiber eine zentrale Rolle inne bei der Abrechnung mit den Säckel-, Steuer- und Baumeistern sowie dem Einzieher des Ungelds. Das folgende Zitat aus dem ersten Stadtbuch bringt dies griffig zum Ausdruck: Anno 1383 widerrechnote ich Joh. Zili der Statschriber den Burgern alles, das ich von iro und der Stat wegen […] ingenommen hatt, es wär das Ungelt von dem 82. Jar, Stüran, Zins, Buossan, Anzalan oder dehainerlay ander Sach. 25 Hier stellt sich die Frage, was die Stadtschreiber zu dieser wirtschaftlich wichtigen Position befähigte. War dazu ein spezielles Know-how auf dem Gebiet der Buchhaltung notwendig? Um dieser Frage nachgehen zu können, ist es erforderlich, aufgrund der vorhandenen Quellen einen Eindruck der konkreten Abrechnungsvorgänge zu erhalten. 26 22 M. B LESS -G RABHER , Die Rechtsquellen der Stadt St. Gallen (Anm. 15), S. XV. 23 E LISABETH B REITER , Die Schaffhauser Stadtschreiber. Das Amt und seine Träger von den Anfängen bis 1798, Winterthur 1962, S. 38 24 E. B REITER , Die Schaffhauser Stadtschreiber (Anm. 23), S. 26, 57. 25 StadtA St. Gallen, Bd. 538, S. 238. 26 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf meine 1994 publizierten und andernorts weiterentwickelten Bemerkungen zur Buchführung in der städtischen Verwaltung, im Heiliggeistspital und bei Kaufleuten; S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 14); D ERS ., Weit weg und doch nah dran. Blick ins Mittelalter mit Quellen aus dem Stadtarchiv St. Gallen, in: 148. Neujahrsblatt des historischen Vereins des Kantons St. Gallen, St. Gallen 2008, S. 7 - 39; D ERS ., Aushandeln, festlegen, abrechnen, kontrollieren - Zur Finanzierung und schriftlichen Administration des Spitals der Reichsstadt St. Gallen im Spätmittelalter, in: A RTUR D IRMEIER / M ARK S POERER (Hg.), Spital und Wirtschaft in der Vormoderne. Sozial-karitative Institutionen und ihre Rechnungslegung als Quelle für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens 14), Regensburg 2020, S. 65 - 101. <?page no="35"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 35 2.3 Die Ausgaben › erzählen ‹ Wie erwähnt, enthält ein großer Teil des Stadtsatzungsbuchs aus der Zeit zwischen Mitte des 14. Jahrhunderts und 1426 Abrechnungen. Die hier wiedergegebene Abrechnung der städtischen Delegation mit dem Steuerbzw. Baumeister soll exemplarisch dazu dienen, Einblick in eine spätmittelalterliche Buchhaltung zu geben. 1388 widerrechnote Hug Ruopreht den Burgern die Herbststeuer des Jahres 1387, die er bis zum Abrechnungstag von der Bürgerschaft eingenommen hatte. Offenbar war ihm auch die Organisation des städtischen Bauens und die Aufsicht darüber anvertraut, denn er hatte in dieser Sache Rechnung abzulegen: Er saite ouch do dez selben Mals, er hetti verbuwen 56 Pfund, 15 Schillinge und 4 Pfennige […] er erzallte und bewiste aber nit von Stuk ze Stuk, wa und wem und wie und umb welherlay und von welherlay Büw wegen er den genannten Betrag verbaut hatte. 27 In unserem Zusammenhang ist nicht die Tatsache relevant, dass der Steuer- und Baumeister offenbar nicht in der Lage war, seine Ausgaben darzulegen, sondern die Art der Rechnungsprüfung. Der Geprüfte › erzählte ‹ demnach Stück für Stück einer Rechnungsprüfungskommission, die namentlich erwähnt wird und der auch der Bürgermeister angehörte, die verschiedenen Ausgabenposten. Dabei dienten ihm vielleicht heute nicht mehr vorhandene Notizen als Rechnungsgrundlage und Gedächtnisstütze. Dieser Vorgang wurde › widerrechnen ‹ genannt, und zwar deshalb, weil die beiden Parteien - auf der einen Seite der Geprüfte und auf der anderen die Prüfer als Vertreter des Stadtrates und in der Regel zusammen mit dem Stadtschreiber - › gegeneinander ‹ (= wider) abrechneten. Das Stadtarchiv verfügte einst über eine ganze Reihe solcher Widerrechnungen, leider sind sie im 19. Jahrhundert im Zuge einer Archivrevision vernichtet worden. Hingegen sind im Spitalarchiv vereinzelte Widerrechnungen erhalten geblieben, die den Vorgang zu erklären helfen: 27 StadtA St. Gallen, Bd. 538, S. 244. <?page no="36"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 36 Abb. 3: Widerrechnung des Heiliggeistspitals 1446. Item als ich den Ussermaister widerrechnot uff ain Mitwuchen nach sant Uolrichß tag Anno [14]46 mit Namen Cuonrat von Ainwill, Hans Ramsperg und Andres Vogelwaider, do ward uff mich geschriben ain Schuld in den Büecher, als hernach geschriben stat: Item im grosßen Zinsbuoch ward uff mich geschriben ain Schuld 517 Pfund 3 Schillinge 1 Pfennige. Item im Rintal Schuldbuoch ward uff mich geschriben, es sig in Höhst, in Bernang, in Marpach, in Altstetten ain Schuld 816 Pfund 13 Schillinge 7 Pfennige. Item im Almisdorff Zinsbuoch ward uff mich geschriben ain Schuld 25 Pfund 19 Pfennige. Item in Spaltistain ward uff mich geschriben ain Schuld 12 Pfund 14 Schillinge 10 ½ Pfennige. Item im Vechbuoch ward uff mich geschriben ain Schuld 1496 Pfund 17 Schillinge 10 Pfennige. Item im Schuldbuoch ward uff geschriben an Schuld 531 Pfund 17 Schillinge 3 ½ Pfennige. Summa ain Schuld in den Büecher 3400 Pfund 8 Schillinge 3 ½ Pfennige. Item so vindet es sich, das ich me ingnomen denn ußgen ain barem Gelt, als ich widerechnot, tuot 110 Pfund 3 ½ Pfennige uff ain Mitwuchen nach Uolrici [14]46, bin ich och schuldig zuo dem vordrigen. Summa summarum 3510 Pfund 8 Schillinge 7 Pfennige. 28 28 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, B,2, Einleitung. <?page no="37"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 37 Diese Zeilen schildern den Rechnungsabschluss des Spitalmeisters vor den sogenannten Aussermeistern, der vom Rat bestellten Oberbehörde des Spitals, die hier in der Funktion der Rechnungsprüfer auftraten. Der Spitalmeister als Betriebsleiter hatte für das zu Ende gegangene Jahr Rechnung über Einnahmen und Ausgaben abzulegen. Der Stadtrat wurde durch die namentlich aufgeführten Aussermeister vertreten (Konrad von Andwil, Hans Ramsberg, Andres Vogelweider). Diese Behördenvertreter hatten die Aufgabe, mit dem Spitalmeister zu widerrechnen, dabei hatte der Spitalmeister für die Einnahmen und Ausgaben sowie die gewissenhafte Kassaführung einzustehen. Was hier als › Schulden ‹ des Spitalmeisters ausgewiesen wurde, waren Einnahmen aus verschiedenen Bereichen wie beispielsweise dem Weinbau in Höchst, Berneck, Marbach und Altstätten oder den Viehgemeinschaften mit Appenzeller Bauern. 29 Die Formulierung, ward uff mich geschriben ain Schuld, bringt die allgemeine Auffassung zum Ausdruck, dass Finanzverwalter der Stadt oder von städtischen Einrichtungen für die Einnahmen als Schuldner - und umgekehrt für die Ausgaben als Gläubiger - für ihnen anvertrautes Vermögen betrachtet wurden. 30 Den Vorgang kann man sich als Versammlung des Spitalmeisters und der Aussermeister um einen Rechentisch oder ein Rechentuch (Abacus) vorstellen. Es handelt sich dabei um die Methode des Rechnung-Legens auf Linien. 31 Beim Rechnung-Legen können die Rechenoperationen visuell dargestellt werden, was den Vorteil hat, dass alle Anwesenden den Vorgang nachvollziehen können. Zuerst wurden die dem Spital zustehenden Beträge aus den verschiedenen, heute nur noch zum Teil erhaltenen Büchern 32 zusammengezählt (Summa ain schuld in den Büecher 3400 Pfund 8 Schillinge 3 ½ Pfennige), nachher wurde ein Posten Bargeld (110 Pfund 3 ½ Pfennige) hinzugezählt. Auch wenn der Ablauf des Widerrechnens des Spitalmeisters mit den Aussermeistern nicht bis ins Detail rekonstruiert werden kann, so wird doch klar, dass es sich um einen Vorgang handelte, bei dem die Mündlichkeit eine größere Rolle spielte als die Schriftlichkeit. Der Zweck der Notizen oder der Rechnungen - also der Buchhaltung - lag noch nicht darin, wie in einer voll ausgebildeten doppelten Buchhaltung schriftlich und ohne Beisein und Hilfe der Rechnungsführer den Geschäftsgang nachvollziehbar zu machen. Vielmehr sollten die Notizen oder 29 Vgl. dazu die entsprechenden Kapitel in S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 14). 30 O LIVER L ANDOLT , Der Finanzhaushalt der Stadt Schaffhausen im Spätmittelalter (Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 48), Ostfildern 2004, S. 55. 31 Zur Anwendung im Heiliggeistspital vgl. M ATTHIAS W EISHAUPT , Vieh- und Milchwirtschaft im spätmittelalterlichen Appenzellerland, unpublizierte Lizentiatsarbeit, Zürich 1986, S. 37 - 41. 32 Mit dem grossen Zinsbuoch ist das Pfennigzinsbuch gemeint. Die anderen im Widerrechnungs-Zitat erwähnten Zinsbücher von Almisdorff und Spaltenstein und die Gemeindeviehbücher fehlen. <?page no="38"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 38 Rechnungen die Grundlagen für den konkreten Rechnungsvorgang und vor allem eine Gedächtnisstütze bilden, welche es dem jeweiligen Amtsinhaber bei der Endabrechnung vor den Augen der Rechnungsprüfer ermöglichte, den Geschäftsgang vorzurechnen. Um dieser Anforderung zu erfüllen, genügte wenig Geschriebenes, das heißt im Wesentlichen die Auflistung der Ausgaben und Einnahmen, von Namen und knappen sachlichen Hinweisen, wie dies in den Abrechnungen im Stadtsatzungsbuch Ende des 14. Jahrhunderts der Fall ist. Dieses System galt auch noch im 15. Jahrhundert, als die Buchführung differenzierter wurde und sich in verschiedene Bereiche mit eigenen Büchern auffächerte. Für die Zeit nach 1400 lassen sich nämlich die ersten in den verschiedenen Ämtern entstandenen Bücher nachweisen, welche jährlich geführt wurden: Die Steuerbücher beginnen 1402, die Säckelamtsbücher 1401, die Bauamtsrechnungen 1419, die Jahrrechnungen 1425. 33 Vom Rat delegierte Männer standen den Ämtern vor und führten die Rechnung. 34 Diese Bücher sind so aufgebaut, dass sie Ausgaben bzw. Einnahmen der betreffenden Ämter auflisten. In den Bauamtsrechnungen werden die Ausgaben des Baumeisters aufgeführt; darunter befinden sich Ausgaben für Holzführen, Arbeiten am städtischen Kornhaus, Waldarbeiten, die Herstellung von Schindeln, Arbeiten in der Sand- oder Kalkgrube usw. Die Säckelamtsbücher halten in umfangreichem Ausmaß ganz unterschiedliche Ausgaben und Einnahmen des Stadtsäckels fest, und zwar in der Regel mit dem Datum. Dazu gehören Einnahmen von Zinsen, Steuern, Bußen, Waag- und Schaugeldern usw. sowie Ausgaben für Gesandte, Boten, Diener, Sitzungsgelder, Bauarbeiten etc. 35 Ohne mündliche Erläuterungen der für die Einnahmen und Ausgaben verantwortlichen Personen waren diese Notizen unverständlich. Was hier am Beispiel St. Gallens dargelegt wird, scheint keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel gewesen zu sein. Allein von der Tatsache, dass seit dem 14. und 15. Jahrhundert die Prinzipien der doppelten Buchhaltung bekannt waren, darauf zu schließen, dass sie auch angewendet wurden, wäre falsch. Franz Josef Arlinghaus bringt es in seiner Untersuchung zur schriftlichen Überlieferung des italienischen Kaufmanns Francesco Datini auf den Punkt, wenn er schreibt, dass bis in die jüngste Zeit hinein die Doppik für das kaufmännische Rechnungswesen weitgehend überschätzt wurde. »Erst ihre Anwendung, so meinte man, habe die Möglichkeit geschaffen, überhaupt gewinnorientiert zu wirtschaften. Mehr noch: Seit Sombart galt die doppelte Buchführung als Beleg für das Vorhandensein einer 33 Es ist nicht auszuschließen, dass solche Bücherreihen etwas früher begannen, aber nicht überliefert sind. 34 E RNST P ITZ , Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln 45), Köln 1959, S. 405. 35 E RNST Z IEGLER , Kostbarkeiten aus dem Stadtarchiv in Abbildungen und Texten, St. Gallen 1983, S. 62. <?page no="39"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 39 rational-kapitalistischen Wirtschaftsform, ja als Ausdruck von kapitalistischem Denken überhaupt. Wo Kapitalismus, da doppelte Buchführung, und wo doppelte Buchführung, da Kapitalismus.« 36 Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde auch in der Textilmetropole St. Gallen, einem Ort, wo kapitalistisches Denken und Handeln seit Jahrhunderten verbreitet war, die doppelte Buchhaltung nicht angewendet. In einem Protokoll aus dem Jahr 1836 der Spitalkommission mit dem Titel Gutachtliche Vorschläge an den Verwaltungsrat über den Rapport der Herren Rechnungsrevisoren wird festgehalten, man sei in Bezug auf die Einführung einer doppelten Buchhaltung nach langer Beratung zum Schluss gelangt, den bisherigen Modus beyzubehalten, um unnöthige Unkosten mit Anschaffung neuer Bücher und vergebliche Mühe und Arbeit mit Einrichtung derselben, die vielleicht späterhin wieder Abänderungen unterworfen seyn möchten, zu vermeiden. 37 Was mit dem bisherigen Modus gemeint war, soll in der Folge dargelegt werden. Die im schriftlichen Nachlass der stadtsanktgallischen Institutionen und Akteure nachweisbare Buchführung zeigt eine langsame Entwicklung von Aufzeichnungen in Fließtextform zu Zeilen pro Transaktion. Der unten wiedergegebene Auszug von 1388 aus dem ersten Stadtbuch betrifft den bereits genannten Abrechnungsvorgang mit der Erwähnung, dass die Rechnung erzählt wurde (linke Seite). Deutlich zu erkennen ist, dass es sich um einen aneinandergehängten Fließtext ohne Strukturierung in Zeilen und Spalten handelt. 38 36 F RANZ -J OSEF A RLINGHAUS , Zwischen Notiz und Bilanz. Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/ di Berto-Handelsgesellschaft in Avignon (1367 - 1373) (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 8), Frankfurt am Main 2000, S. 97, mit entsprechenden Belegstellen. 37 StadtA St. Gallen, OGA, Bd. II, 8, 2. 38 StadtA St. Gallen, Bd. 538, S. 244f. D ORIS T OPHINKE , Handelstexte. Zu Textualität und Typik kaufmännischer Rechnungsbücher im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts (Script Oralia 114), Tübingen 1999, S. 34, macht die interessante Bemerkung, dass die Volltextstruktur bei Rechnungen darauf hinweist, dass die Rechnungen Rechtscharakter haben. Dies wird im St. Galler Fall dadurch bestärkt, dass sich die Abrechnungen in der heutigen Überlieferung im Stadtsatzungsbuch befinden. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sie erst nachträglich als Konvolut den Satzungen im Buch hinzugefügt wurden. <?page no="40"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 40 Abb. 4: Abrechnung 1388 im ersten St. Galler Stadtbuch. Der Übergang von Fließtextaufzeichnungen zu solchen mit einzelnen Zeilen pro Transaktion lässt sich im Falle der Buchführung unter städtischer Leitung am Beispiel der sogenannten Rheintaler Schuldbücher des kommunalen Spitals zeigen. Dabei handelt es sich um eine Buchführung, die spezifisch die Tauschbeziehungen zwischen dem Spital und seinen Weinbauern im Sanktgaller Rheintal festhielt. Aufgelistet sind einerseits Waren- und Geldlieferungen des Spitals an die Bauern, die ihnen als Schulden belastet wurden, und andererseits Lieferungen von Wein der Bauern an das Spital, die dem Abbau ihrer Schulden dienten. Die Einträge zum Weinbauern Hans Nesler aus Berneck im St. Galler Rheintal beginnen im ersten Exemplar dieser Rheintaler Schuldbuchreihe im Jahr 1437 (links). 39 Es handelt sich um einen Fließtext. Im zweiten erhaltenen Exemplar dieser Reihe (rechts) ist zur gleichen Person Nesler hingegen eine zeilenorientierte Buchungsform zu erkennen. 40 Zuoberst findet sich ein Übertrag der Schulden auf Epiphanie 1444. Darunter folgen die Waren- und Geldbezüge des Bauern beim Spital. Dass sie als Schulden verbucht sind, zeigt sich an der Formulierung sol im Sinne von › der Bauer soll einen 39 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, C,1. 40 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, C,2, Bl. 33r. <?page no="41"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 41 Geldbetrag für die dafür beim Spital bezogene Ware ‹ bezahlen. Auf der untersten Zeile, und zwar abgesetzt von den oberen Einträgen, erfolgt die Gegenlieferung des Bauern an das Spital in Form von Wein, die dem Abbau seiner Schulden diente und entsprechend mit der Formulierung das Spital sol im, das heißt, › das Spital soll ihm gutschreiben ‹ verbucht wurde. Ein weiteres Merkmal einer klareren Strukturierung des jüngeren Schuldbuches mit zeilenorientierten Einträgen gegenüber dem ersten Exemplar mit dem Fließtext findet sich ungefähr in der Mitte mit einer Zwischensummierung, die mit der Formulierung Restat die ausstehenden Schulden des Bauern bis zu diesem Zeitpunkt festhält. Dieses jüngere Exemplar lässt ganz eindeutig die Absicht nach mehr Übersichtlichkeit erkennen. Abb. 5: Links das erste erhaltene Rheintaler Schuldbuch 1437, rechts das zweite Rheintaler Schuldbuch 1444 mit Abrechnungen mit dem Weinbauern Hans Nesler in Berneck, St. Galler Rheintal. Die Spitalverwaltung in St. Gallen begann Ende der 1430er-Jahre zudem damit, eine Parallelschriftlichkeit mit Urbaren und Zinsbüchern zu führen. Die Urbare halten nach Höfen geordnet die Abgabenforderungen an die Bauern in Naturalien und <?page no="42"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 42 Geld fest. Ein solcher Hof ist die Schoretshueb westlich der Stadt St. Gallen. Der entsprechende Eintrag im Urbar, unterste Zeile, lautet: Abb. 6: Urbar des Heiliggeistspitals St. Gallen, Ende der 1430er-Jahre. Der hof ze Schorantzhuob gilt 24 malter Korn, 3 lb d, 10 hüenr, 200 ayer und 2 kloben werch [= Flachs]. 41 41 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, G,9. <?page no="43"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 43 Aus der gleichen Zeit stammt ein Zinsbuch; in den ersten beiden Zeilen des Zinsbuches sind entsprechend dem Urbar die Abgabenforderungen des Spitals an die Bewirtschafter des Hofes Schoretshueb festgehalten. 42 Der ganze Eintrag im Zinsbuch lautet: Abb. 7: Pfennigzinsbuch des Heiliggeistspitals St. Gallen 1442 und 1443. 1 Schorantzhuob der hof git jaerlich 24 malter baider korn [= Fesen und Hafer] Celler mess, 2 3 lb d und 10 hüenr und 200 ayer und 2 kloben werch. 3 Samen 12 malter vesen, 8 malter haber daz sol uff dem hof beliben. 4 Hans Rütiner sol 1 lb d ratione sabato post pasce 1442. Dedit ayer de 1442. 5 Dedit hüenr de 1442. Dedit 2 kloben werch de 1442. 6 Dedit 12 malter 2 fiertel vesen uff den ersten tag octobris 1442. 7 Dedit 30 s d gab Uoli Hafner Martini 1442. 8 Dedit 3 malter 3 fiertel haber Otmari 1442. [9 Zeile gestrichen.] 42 StadtA St. Gallen, Spitalarchiv, A,3, fol. 22r. <?page no="44"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 44 10 Dedit 3 malter 1 mut haber Katherine 1442. 11 Dedit 3 malter haber uff Nicolai 1442. 12 Dedit 30 s d Anthonii 1443. 13 Sol 9 mut 3 fl haber ratione uff 13 tag aberellen 1443. 14 Dedit ayer de 1443. Dedit hüenr de 1443. 15 Dedit 1 malter haber uff Philippi et Jacobi 1443. 16 Restat 5 mut 3 fiertel haber. 17 Item de anno 1443 ist etwas ungewaechst 18 da gewesen, dafür gat im ab 19 2 malter korn. Mit der Erwähnung von samen in Zeile 3 ist Saatgut gemeint. Offenbar hatte das Spital zu einem früheren Zeitpunkt dem Bewirtschafter der Schoretshueb zwölf Malter Fesen und acht Malter Hafer als Saatkörner zur Verfügung gestellt. Mit der Anweisung, diese sollten auf dem Hof bleiben, wird ausgedrückt, dass bei einem allfälligen Wegzug der Bauernfamilie diese Investition dem Spital zurückzuzahlen war. Aus Zeile 4 des Zinsbuches erfahren wir, wer den Hof bewirtschaftete. Das war 1442 ein Hans Rütiner, mit dem man nach Ostern (post pasce) abgerechnet hatte und der dem Spital damals ein Pfund schuldig blieb. Dass die Abrechnung zwischen der Spitalleitung und Hans Rütiner stattgefunden hatte, ist aus dem abgekürzten lateinischen Wort ro für ratio im Sinn von › Rechnung, Abrechnung ‹ zu schließen. Die nun folgenden, mit dedit (= gab, das heißt, der Bewirtschafter Hans Rütiner gab dem Spital) beginnenden Zeilen sind besonders aussagekräftig. Während sowohl im Urbar als auch im sogenannten Grundeintrag dieses Zinsbuchs auf den ersten beiden Zeilen die Rechtsansprüche des Spitals vermerkt wurden, geben die Zeilen 5 bis 12 sowie 14 und 15 im Zinsbuch die effektiv geleisteten Abgaben des Bauern an das Spital wieder. Dies bedeutet eine enorme Informationserweiterung gegenüber normativen Angaben, wie sie in Urbaren vorkommen. Dank dieser Buchführung mit verschiedenen, parallel geführten Büchern, mit der Notiz von Abgabeforderungen gegenüber Lehenbauern, Waren- und Geldlieferungen, Schulden und Schuldenabzahlungen sowie Saldierungen und Überträgen in ein neues Rechnungsjahr war das Spital bestrebt und durchaus in der Lage, seine finanzielle Situation zu überblicken bzw. zu kontrollieren. Dazu genügte eine erweiterte einfache Buchhaltung, die in der Führung der › Nebenbücher ‹ mit Personenkonten (Pfennigzinsbücher, Rheintaler Schuldbücher, Pfrundbücher, Dienstbücher) besteht. Diese ermöglichten es den Spitalbehörden, den aktuellsten Stand - vor allem die Abgabenpflichten und Schulden der Bauern - jederzeit zu kontrollieren. Zwar machte dies teilweise eine doppelte Buchung erforderlich, und zwar <?page no="45"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 45 einerseits in diesen › Nebenbüchern ‹ und andererseits in den noch vorhandenen Jahrrechnungen, jedoch wurde nicht das System der doppelten Buchhaltung angewendet; eine Bestandskontrolle für Warenein- und -ausgänge fehlte beispielsweise. 43 Die bisherigen Ausführungen betrafen die städtische Administration und mit dem Spital einen städtischen Betrieb; es stellt sich die Frage, ob sich deren Buchführung von einer privaten unterschied. Das interessiert im Falle St. Gallens besonders, da angesichts der hohen wirtschaftlichen Bedeutung dieser Stadt in der Textilproduktion und im Textilhandel seit dem 15. Jahrhundert Privat- und Firmenarchive zu erwarten wären, die einen Blick in deren Buchführung gewähren würden. Dem ist leider nicht so. Es sind kaum Quellen bekannt, die Einblick in die Kapital- und Gewinnverhältnisse sowie die Buchführung der großen St. Galler Fernhandelsunternehmen erlaubten. Aber auch wenn nur Weniges erhalten ist, kann davon ausgegangen werden, dass der schriftliche Verkehr zwischen der Zentrale und den Niederlassungen im Ausland wohl umfangreich war. Für St. Gallen sind jedoch nur vereinzelte Briefe überliefert. Diese zeigen, dass die Teilhaber über die Preise bzw. die Marktsituation für Leinwand genau zu berichten hatten. 44 Einigen Prozessakten und Briefen von Angestellten oder Teilhabern, die von auswärts an den Hauptsitz in St. Gallen geschrieben wurden, ist zu entnehmen, dass am Sitz der Firma von Zeit zu Zeit Gesellschaftstage abgehalten wurden. 45 Hier konnten alle Teilhaber zu Wort kommen; weiter wurde über die Tätigkeit Bericht erstattet, die neue Geschäftsleitung bestimmt, und nötigenfalls wurden die in der Regel auf drei Jahre abgeschlossenen Gesellschaftsverträge erneuert. An solchen Tagen wurde auch abgerechnet, zudem fand eine Gewinnverteilung statt. Dass private Handelsfirmen eine Buchhaltung führten, geht beispielsweise aus Konkursverfahren hervor, an denen wichtige St. Galler Textilhandelsfamilien wie die Zollikofer beteiligt waren. Am 2. und 7. August 1547 baten der Bürgermeister und Rat von Isny den Bürgermeister und Rat in St. Gallen dafür zu sorgen, dass in der Erbangelegenheit von Wolf Zollikofers Witwe die Gesellschaft, an der Zollikofer beteiligt war, endlich eine Prüfung der Register und Rechnungen dieser Gesellschaft vornehmen könne. Da sich die Gesellschaft bisher weigere, sei es nicht möglich zu ermitteln, wem wieviel zustehe, weshalb der Streit vorderhand nicht beigelegt werden könne. 46 43 M. W EISHAUPT , Vieh- und Milchwirtschaft (Anm. 31), S. 26, 35. Zu den Details siehe S T . S ONDEREGGER , Aushandeln (Anm. 26). 44 H EKTOR A MMANN , Die Diesbach-Watt-Gesellschaft. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte des 15. Jahrhunderts (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 37, 1), St. Gallen 1928, S. 106; H ANS C ONRAD P EYER , Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St. Gallen von den Anfängen bis 1520, 2 Bde. (St. Galler wirtschaftswissenschaftliche Forschungen 16), St. Gallen 1959, hier Bd. 2, S. 58. 45 H. C. P EYER , Leinwandgewerbe und Fernhandel (Anm. 44), Bd. 2, S. 57. 46 StadtA St. Gallen, Missiven Nr. 660 und 662. <?page no="46"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 46 Normalerweise wurden solche Gesellschaftstage alle zwei bis drei Jahre durchgeführt, bei außerordentlichen Ereignissen oder schlechtem Geschäftsgang jedoch häufiger. Den wenigen erhaltenen Quellen nach zu schließen, wurde auch im kaufmännischen Bereich dieselbe Art der Abrechnung angewendet wie in der städtischen Verwaltung oder im Spital. 47 Das folgende Urteil des Lindauer Rates von 1501 betreffend einen Streit zwischen zwei Handelsherren, die miteinander Handel trieben und eine neue Geschäftsabrechnung erstellen sollten, weist in diese Richtung: Die beiden hatten handel mitainander gehept und uff ain zyt gerechnet […,] daß si sich zusammen fügen und rechnen sölten. Das Urteil zeigte auch keinen neuen Weg auf: Urtail, das si mitainander rechnen soellen, weß si ains werden. Daby sol es beliben. Wenn sie nicht handelseinig würden, sollten sie erneut an den Rat gelangen. 48 Man kann sich das bildlich so vorstellen, dass die beiden Handelsparteien um einen Rechentisch versammelt waren und ihre Rechnungen und anderes verglichen und besprachen. Sie tauschten also nicht einfach die Bücher aus, um die gegenseitige Kontrolle im Kontor vorzunehmen. Die Bücher wurden auch nicht einer überparteilichen, vom Rat eingesetzten Instanz überlassen, um sie unter Ausschluss der beiden Streitparteien zu prüfen. Eine von mehreren möglichen Erklärungen für dieses Verfahren liegt meines Erachtens darin, dass die angewandte Technik der Buchführung auf einem Niveau war, welches es Dritten nicht ermöglichte, den Inhalt ohne Erläuterungen des Buchführers nachzuvollziehen. - Also auch bei den im Fernhandel tätigen St. Galler Kaufleuten des 15. Jahrhunderts noch keine doppelte Buchhaltung? Der Forschung widersprechen diese Beobachtungen für St. Gallen nicht. Zwar ließ die Entwicklung des Handels im Hoch- und Spätmittelalter den Umfang der Geschäftsbücher anwachsen, aber die doppelte Buchführung mit doppeltem Buchungssatz, mit einem Abschluss und mit Schlussinventar zur Kontrolle der Bestände wurde »während der ganzen Renaissance« nicht verwendet. 49 Die ersten Zeugnisse kaufmännischer Buchführung gehen in Italien und Deutschland auf den 47 H. A MMANN , Die Diesbach-Watt-Gesellschaft (Anm. 44), Nr. 104. Zum Zusammenhang siehe dort S. 108. 48 H. C. P EYER , Leinwandgewerbe und Fernhandel (Anm. 44), Bd. 1, S. 425f., Nr. 796. und S. 356, Nr. 649e: Ein Ratsprotokoll-Eintrag von 1490 hält Aussagen in einem Prozess zwischen Caspar Rugg und Gorius Wirt, den Teilhabern einer Handelsgesellschaft, nach dem Tode eines weiteren Teilhabers fest. 49 J OSEPH L ÖFFELHOLZ , Geschichte der Buchhaltung, in: E RICH K OSIOL (Hg.), Handwörterbuch des Rechnungswesens (Enzyklopädie der Betriebswirtschaftslehre 3), Stuttgart 1970, S. 587; H ANSJÖRG G ILOMEN , Wirtschaftliche Eliten im spätmittelalterlichen Reich, in: R AINER C. S CHWINGES / C HRISTIAN H ESSE / P ETER M ORAW (Hg.), Europa im späten Mittelalter. Politik - Gesellschaft - Kultur (Historische Zeitschrift, Beihefte NF 40), München 2006, S. 357 - 384, hier 365, Anm. 45, erwähnt, dass die Bedeutung der doppelten Buchhaltung in der Geschichte überschätzt werde. <?page no="47"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 47 Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert zurück. Es handelt sich dabei um Handlungsbücher, die betriebswirtschaftliche Klarheit nach modernen Maßstäben vermissen lassen. Solche Bücher sind eher Berichte und keine streng in Konten und Zahlen umgesetzten Geschäftsbücher. 50 Der Zweck solcher Bücher war, im Sinne von Gedächtnisstützen die Grundlage für eine Abrechnung nach Abschluss des Geschäftes zu schaffen. 51 Zur Buch- und Rechnungsführung in St. Gallen im 15. Jahrhundert kann zusammenfassend Folgendes festgehalten werden: Weder in der städtischen Administration noch im privaten Bereich ist eine Buchhaltung nach modernen Grundsätzen nachzuweisen. Die Buchführung der Verwaltung der Stadt St. Gallen und ihres Spitals zeichnet sich im 15. Jahrhundert durch Differenzierung und Rationalisierung aus, was sich in der Führung verschiedener Bücher nebeneinander und von nach Personen und Sachbereichen geschiedenen Teilen zeigt. Diese äußeren Merkmale dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir nicht wissen, wie vollständig diese Bücher über die geschäftlichen Transaktionen Auskunft geben. Die wenigen Hinweise zur Buchführung von privaten Textilhandelsfirmen, die für St. Gallen verfügbar sind, hinterlassen den Eindruck, die Buchführung der Stadt- und Spitalverwaltung St. Gallens des 15. Jahrhunderts habe sich nicht grundsätzlich von den Prinzipien kaufmännischer Buchführung unterschieden: Grundlagen zu schaffen für die Abrechnung. Die Grundzüge waren hier wie dort das gemeinsame Abrechnen, die Widerrechnung als vom Rechnungsführer sichtbar gemachte, mündlich kommentierte und so für die Rechnungsprüfer bzw. Geschäftspartner nachvollziehbare Buchbzw. Rechnungsführung. Eine solche Buchführung durfte durchaus persönliche Züge haben und - gemessen an modernen Ansprüchen - unvollständig sein. Zum Schluss stellt sich trotz aller Quellenarmut die Frage, wie stark kaufmännisches Denken und Handeln bzw. die Bildung und Berufserfahrung von Handelsherren prägend für die städtischen Institutionen und deren Schriftlichkeit waren. Im Falle des Spitals scheint ab Mitte des 15. Jahrhunderts der Einfluss kaufmännischen Handlungswissens auf die Betriebsführung des Spitals klar gegeben. Viele Handelsherren waren nämlich Ratsmitglieder und hatten Aufsichtsfunktionen gegenüber städtischen Institutionen wie dem Heiliggeistspital. Das betrifft explizit die Aussermeister, das heißt die drei vom städtischen Rat delegierten Spital-Aufsichtspersonen. Ihnen fielen im Sinne von Verwaltungsräten die strategische Leitung des Spitals sowie Kontrollfunktionen zu. In vereinzelten, vom Stadtrat erlassenen Satzungen ist zu erkennen, dass bei städtischen Institutionen darauf geachtet wurde, dass die Ausgaben die Einnahmen nicht überstiegen. Das sind unternehmerische 50 H ANS P ATZE , Neue Typen des Geschäftsschriftgutes im 14. Jahrhundert, in: D ERS . (Hg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, Bd. 1 (Vorträge und Forschungen 13), Sigmaringen 1970, S. 9 - 64, hier 58ff. 51 E. P ITZ , Schrift- und Aktenwesen (Anm. 34), S. 198. <?page no="48"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 48 Grundsätze, die für St. Galler Textilkaufleute selbstverständlich waren. Das hohe Kostenbewusstsein gegenüber dem kommunalen Spital drückt sich zum Beispiel in einer vom Stadtrat Mitte des 15. Jahrhunderts erlassenen Satzung im zweiten Stadtbuch aus; sie liest sich wie eine Eignerstrategie. Die Satzung hielt unter anderem fest, es solle künftig nur noch Leuten, die bereits alt und schwach seien, ein Pflegeplatz im Spital verkauft werden. 52 Lange Verweildauern im Spital generierten nämlich hohe Kosten, denn die Einkaufsummen waren pauschal: Je länger jemand lebte, desto länger musste das Spital für diese Person aufkommen. Solche ökonomischen Vorgaben erstaunen nicht angesichts der Zusammensetzung der Aussermeister. Von 26 Aussermeistern des kommunalen Spitals St. Gallen der Zeit 1430 bis ca. 1500 waren 19 im Textilhandel tätig. 53 Es ist anzunehmen, dass diese dezidiert ökonomische Haltung des Stadtrates gegenüber dem Spital dazu geführt hatte, dass die Stadt sogar eine eigene, summarische Buchführung - als Gegenbücher betitelt - zum Spital unterhielt. Diese Gegenbücher erinnern an jährliche Erfolgsrechnungen; dabei wurden Vergleiche mit früheren Jahren angestellt. Der Rat hatte nämlich in der Ordnung von 1511 festgehalten, er solle ein Gegenbuoch gegen im [ihm = dem Spitalmeister] haben, worin der Grundbesitz, die Viehgemeinden sowie alle Zinsen und Zehnten eingetragen sein mussten, damit wenn man rechni, das man das Gegenbuoch dar leg, damit der Spittalmaister unnd sin Buoch gegen dem Gegenbuoch glich stanndig unnd man sehen moeg, ob der Spittal uff oder abganng […] . 54 Der Zweck lag laut dieser Bestimmung in der Einschätzung des Geschäftsgangs. Diese Gegenbücher sind folgendermaßen aufgebaut: Getrennt zwischen Einnahmen und Ausgaben werden im Gegenbuch zum Jahr 1482 auf zwei separaten Seiten Erträge und Aufwendungen in Naturalien und Geld aufgelistet. Die Seite mit den Einnahmen ist wie folgt gestaltet: Im Titel wird erwähnt, dass der Spitalmeister namens Ulrich Keller mit der Stadtobrigkeit widerrechnott. In der linken Spalte finden sich die Einnahmen in Geldwerten, in der rechten Spalte die Einnahmen in Naturalien, das heißt Kernen und beiderlei Korn (Dinkel und Hafer). Die untersten drei Zeilen links unterstreichen den Zweck dieser Gegenbücher, der in der Absicht bestand, den finanziellen Erfolg und dessen Entwicklung aufzuzeigen. In der ersten der drei untersten Zeilen in der linken Spalte ist die Gesamtsumme erwähnt, die Zeile darunter gibt den Vergleich mit dem Vorjahr wieder, und die allerletzte Zeile erwähnt zudem explizit die Differenz zwischen dem aktuellen Rechnungsjahr und 52 StadtA St.Gallen, Bd. 540, fol. 85v. 53 S T . S ONDEREGGER , Landwirtschaftliche Entwicklung (Anm. 14), S. 144 - 184. 54 StadtA St. Gallen, Bd. 535, fol. 38r. Das älteste im Stadtarchiv erhaltene Gegenbuch umfasst die Jahre von 1482 bis 1523 (StadtA St. Gallen, Bd. 24) und ist betitelt: Dis Buoch wyst die Rechnungen, do ain Spitalmaister von des Spitals wegen alle Jar gipt. Der zweite Band (StadtA St. Gallen, Bd. 25) trägt folgenden Titel, der explizit auf die Gegenrechnung hinweist: Rechenbuoch gegem Spital anno 1524, angefangen und continuirt biß uf anno 1552. <?page no="49"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 49 dem Vorjahr. Der Vergleich weist ein zum Vorjahr schlechteres Ergebnis in der Höhe von 20 Pfund, 13 Schilling und 8 Denaren aus, was mit der Formulierung Item so ist hür minder ingenomen den fern ausgedrückt wird. Abb. 8: Gegenbuch 1482. <?page no="50"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 50 Die Seite mit den Ausgaben beginnt mit der Titelzeile hie statt alles usgen verrechnott Uolrich Keller uff mitfasten im 82 jar. Diese Formulierung lässt den Eindruck entstehen, es handle sich um eine vollständige Auflistung aller Ausgaben. Ob dies der Realität entspricht, muss offen bleiben. Die 18 Zeilen vermitteln aber einen Eindruck der Aufwendungen der Betriebsführungen eines kommunalen Spitals. Die ersten drei Zeilen betreffen Ausgaben für die Ernährung: Fleisch, Fisch und Molkenprodukte. Das sind Erzeugnisse, die im Gegensatz zu Getreide offenbar nicht vollständig aus der eigenen Wirtschaft bereitgestellt werden konnten und deshalb eingekauft wurden. Weitere Einträge betreffen Zahlungen an Handwerksleute (Zeile 8), Winzer (Zeile 13) oder Taglöhner im Rebbau (drittletzte Zeile). Weiter sind Ausgaben für Transporte (Fuor), für Verpflegung (Zerung), für Leibrenten (Lipding), den Totengräber, für Eisen und Salz etc. erwähnt. Auch hier werden in drei Zeilen getrennt die Gesamtsumme der Ausgaben, der Vergleich mit dem Vorjahr und die Differenz zwischen diesen beiden Jahren ausgewiesen. Das Gegenbuch ermöglichte den Aussermeistern und dem städtischen Rat eine Übersicht über die Einnahmen- und Ausgabensituation ihres Spitals. Weiter diente es dem ›Controlling‹. Dass die Gegenbücher nebst der Übersicht über den geschäft lichen Erfolg der wichtigsten städtischen Institution auch der Kontrolle dienten, wird nämlich aus der getrennten Aufbewahrung ersichtlich: Die Gegenbücher befinden sich nicht in den Beständen des Spitalarchivs, sondern in denjenigen des alten Stadtarchivs, wo das gesamte Schriftgut der Stadtverwaltung aufbewahrt wird. Damit konnte beispielsweise eine allfällige unrechtmäßige nachträgliche Änderung der Zahlen in den Büchern, die sich im Spital befanden, jederzeit nachgewiesen werden. <?page no="51"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 51 Abb. 9: Gegenbuch 1482. <?page no="52"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 52 3. Fazit Der Beitrag behandelt am Beispiel der Stadt St. Gallen Aspekte der Bildung und Ausbildung in der städtischen Gesellschaft im Übergang vom 14. ins 15. Jahrhundert. Als Quellengrundlage dient der schriftliche Nachlass des Stadtarchivs der Ortsbürgergemeinde, in welchem sich die Archivalien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit befinden. Das waren im Sinne von pragmatischem Schriftgut Urkunden, Satzungen und Wirtschaftsquellen wie Rechnungen oder Zinsbücher. Da es aufgrund der beschränkten vorhandenen Informationen nicht annähernd möglich ist, einen die ganze Breite der Gesellschaft umfassenden Eindruck zu vermitteln, konzentriert sich der Beitrag auf ausgewählte Akteure bzw. Akteursgruppen aus den Bereichen Administration und Politik sowie Wirtschaft. Dabei handelt es sich um Schlüsselpersonen in der städtischen Verwaltung wie die Stadtschreiber und um Mandatsträger für städtische Institutionen wie das kommunale Spital. Letztere gehörten dem Stadtrat an und waren beruflich mehrheitlich als Kaufleute tätig. Aufgrund der neuen, vollständigen Veröffentlichung der Urkunden von Stadt und Umland St. Gallens und der Edition der Stadtbücher kann gezeigt werden, dass im Laufe des 14. Jahrhunderts die städtische Schriftproduktion massiv zunahm. Dies hängt mit einem Ausbau der städtischen Administration, der Rechtssetzung und mit der Vernetzung mit anderen Städten in Form von Bündnissen zusammen. Voraussetzung für diese Entwicklung war, dass seit dem Spätmittelalter in St. Gallen zumindest bei einem Teil der städtischen Gesellschaft die Bildung und der Zugang zum Ausbildungsangebot für die berufliche, administrative und politische Tätigkeit als Kaufmann, Handwerker, Notar, Amtsinhaber und Ratsherr vorhanden waren. Die wohl wichtigste Rolle in der städtischen Administration fiel den Stadtschreibern zu. Sie waren Verfasser von Urkunden und Satzungen, hatten die Ratsverhandlungen zu protokollieren, Ratsvertreter auf Gesandtschaften zu begleiten, und sie hatten darüber hinaus eine leitende Funktion bei der Abrechnung des Steuer- und Baumeisters, des Ungeldeinnehmers und des Säckelmeisters auf der einen mit den Vertretern des Stadtrates als Oberbehörde auf der anderen Seite. Entsprechend breit war das › Know-how ‹ von Stadtschreibern, das die Bereiche Recht, Politik, Finanzen und Buchhaltung umfasste. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Stadtschreiber ihr Wissen in der Praxis erwarben. Für deren Anstellung war in einer mittelgroßen Stadt wie St. Gallen keine Universitätsbildung notwendig; der übliche Ausbildungsweg war wohl › learning by doing ‹ in der städtischen Administration bzw. die Arbeit unter einem Vorgänger. In den rund 100 Jahren von Mitte des 14. bis Mitte des 15. Jahrhunderts fand eine bemerkenswerte Entwicklung im Einsatz pragmatischer Schriftlichkeit statt, die am deutlichsten an der Buchhaltung zum Ausdruck kommt. Die Abrechnungen der Bau-, Steuer-, Säckelmeister und des Einziehers des Ungeldes sowie auch jene der operativen Leitung des städtischen Spitals sind im 14. Jahrhundert und im Falle des <?page no="53"?> S CHR EI BEN , R E CHN EN , B U CH FÜHR EN 53 Spitals bis Ende der 1430er-Jahre noch als Fließtexte gestaltet. Erst danach werden nach Bereichen getrennt serielle Buchreihen eingeführt, in denen jede Transaktion auf einer eigenen Zeile festgehalten wird. Es ist in der Buchhaltung ein Trend hin zu mehr Übersichtlichkeit und damit Kontrolle über die Einnahmen, Ausgaben und ausstehenden Forderungen gegenüber Schuldnern zu erkennen. Diese Entwicklung wurde wohl von der wirtschaftlich stärksten Gruppe, den Textilkaufleuten, die auch in der städtischen Politik und Administration eine starke Stellung hatten, gefördert. Mitte des 15. Jahrhunderts übernahm St. Gallen von Konstanz die Spitzenposition als Textilhandelsstadt in der Bodenseeregion. Lesen, Schreiben und Rechnen gehörten je länger je mehr zum notwendigen Handlungswissen der Stadtsanktgaller Bevölkerung. Allerdings führte diese Entwicklung noch lange nicht zu einer doppelten Buchhaltung nach heutigen Maßstäben. Weder in der städtischen Administration noch im privaten Bereich ist eine Buchhaltung nach modernen Grundsätzen nachzuweisen. Die Buchführung der Verwaltung der Stadt St. Gallen und ihres Spitals zeichnet sich im 15. Jahrhundert zwar durch Differenzierung und Rationalisierung aus, was sich in der Führung verschiedener Bücher nebeneinander und von nach Personen und Sachbereichen geschiedenen Teilen zeigt. Diese äußeren Merkmale dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir nicht wissen, ob diese Bücher über alle geschäftlichen Transaktionen Auskunft geben. Die wenigen Hinweise zur Buchführung von privaten Textilhandelsfirmen, die für St. Gallen verfügbar sind, hinterlassen den Eindruck, die Prinzipien der kaufmännischen Buchführung hätten sich nicht stark von jener der Stadt- und Spitalverwaltung St. Gallens des 15. Jahrhunderts unterschieden. Mit einer erweiterten einfachen Buchhaltung wurden die Grundlagen geschaffen für die Face-to-Face-Abrechnung zwischen den Rechnungsprüfern und jenen, die geprüft wurden. Ausdruck davon ist die sogenannte Widerrechnung als vom Rechnungsführer sichtbar gemachte, mündlich kommentierte und so für die städtischen Ratsvertreter - bzw. im kaufmännischen Bereich für die Handelspartner - nachvollziehbare Abrechnung. Eine solche Buchhaltung durfte durchaus persönliche Züge haben und gemessen an modernen Ansprüchen unvollständig sein; sie musste nicht per se nachvollziehbar sein. Die Rechnungsbücher dienten in erster Linie dazu, eine eigene Ordnung für den Überblick und im Sinne von Erinnerungshilfen die Grundlagen für die mündliche Abrechnung zu schaffen. Eine wichtige Grundlage der Tätigkeit in führender Position, sei es als Politiker bzw. Inhaber eines städtischen Amtes oder als Kaufmann, bildete das mündliche und schriftliche Anordnen. Anordnungen schriftlich zu kommunizieren waren die Verwaltungsräte (Aussermeister) des städtischen Spitals aus ihrer beruflichen Tätigkeit als Inhaber von Handelsorganisationen gewohnt. In dieser Position leiteten sie alle Geschäfte einer Gesellschaft; sie residierten im Hauptsitz und versandten schriftliche Aufträge an ihre Untergebenen, die sogenannten Diener oder Gesellen, in den Filialen im Ausland. Für einen St. Galler Handelsherrn war die Fähigkeit, <?page no="54"?> S TE FAN S OND ER EGG ER 54 schreiben und rechnen zu können, existentiell. Diese Fähigkeiten stellten den Kern der Bildung im Bereich des Handlungswissens dar, und sie wurden mit der frühneuzeitlichen Bedeutungszunahme St. Gallens als internationale Textilstadt immer wichtiger: In der Vadianischen Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen hat sich ein Rechenbuch aus dem Jahr 1546 von Clemens Hör, der zwischen 1535 und 1553 in St. Gallen Deutsch sowie Lesen und Rechnen unterrichtete, erhalten. Aus dem Titel wird ersichtlich, zu welchem Zweck Hör sein Rechenbuch verfasste: Das Lehrmittel sollte seiner Leserschaft, insbesondere der Jugend und den im Gewerbe und Handel Tätigen dienlich und lehrreich sein. Hör hatte ein breit gefächertes mathematisches Wissen. Er arbeitete sehr praxisbezogen, ließ sich stark auf die Lernenden ein, indem er ihnen versicherte, dass er ihnen im ganzen Prozess zur Seite stehen und sie unterstützen würde mit nützlichen und gut durchdachten Ratschlägen. Damit sollte das neue Wissen für die künftige berufliche Tätigkeit als Kaufmann und Handwerker stufenweise erlernt werden. 55 55 T ABEA A DINA M OSCHETTINI , Der sankt-gallische Lehrmeister Clemens Hör. Eine Untersuchung seiner Fähigkeiten anhand seines ersten Rechenbuches, unveröff. Bachelorarbeit, Univ. Zürich 2021, S. 33. <?page no="55"?> 55 N ICOLE S TADELMANN Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Die vielfachen Möglichkeiten einer handwerklichen Ausbildung in St. Gallen 1 St. Gallen war eine zunftverfasste Stadt: Politische Zünfte nahmen ab dem 14. Jahrhundert Einsitz im Großen und Kleinen Rat und waren damit an der Regierung beteiligt. Seit der Reformation besetzten die sechs politischen Zünfte St. Gallens die Hälfte der Ratssitze mit ihren Mitgliedern. Die andere Hälfte des Kleinen Rats wurde durch die sogenannten Ratsherren und die drei im Turnus wechselnden Bürgermeister besetzt. 2 Von den politischen Zünften zu unterscheiden sind die gewerblichen Zünfte, die eigentlichen Berufsverbände. Handwerker konnten mit Einwilligung der St. Galler Obrigkeit, und sofern genügend Angehörige desselben Berufs in der Stadt arbeiteten, gewerbliche Kooperationen gründen. Teilweise, aber nicht immer verfügten diese über ein Produktionsmonopol und den Zunftzwang. Besaßen Gewerbezünfte diese Zwangsrechte, durften nur noch deren Mitglieder im städtischen Territorium die entsprechenden Erzeugnisse produzieren. Allerdings schlossen sich viele Handwerke aus unterschiedlichen Gründen nicht zu gewerblichen Zünften zusammen, 3 sodass diese außerzünftig betrieben werden konnten. Zugang hatten dann alle, die über das entsprechende Wissen zur Herstellung der Produkte verfügten - unabhängig davon, ob sie zuvor eine zünftige Lehre durchlaufen oder sich das notwendige Wissen außerzünftig angeeignet hatten. 4 1 Ich danke Dr. phil. Dorothee Guggenheimer, Co-Leiterin Stadtarchiv und Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde St. Gallen, sowie MA Noëmi Schöb, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen, für wichtige Hinweise und Unterstützung. 2 Zur tatsächlichen Verteilung der Ratssitze unter Handwerkern und Nicht-Handwerkern vgl. N ICOLE S TADELMANN , Handwerker als Ratsherren in Mittelalter und Früher Neuzeit in der Reichsstadt St. Gallen, in: A NTJE S CHLOMS (Hg.), Reichsstädtische Akteure. 9. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte Mühlhausen 28. Februar bis 1. März 2022 (Studien zur Reichsstadtgeschichte 9), Petersberg 2023, S. 261 - 289. 3 Dazu zählten kleinere Handwerke, die keine gewerblichen Zünfte bildeten, Gewerbe wie die Seidenproduktion, die von der Obrigkeit bewusst zunftfrei belassen wurden, und Handwerke, die sowohl mit oder ohne zünftige Mitgliedschaft betrieben werden konnten; vgl. N ICOLE S TADELMANN , Mobile Ökonomien. Das Wirtschaften und Haushalten St. Galler Handwerkerfamilien in der Frühen Neuzeit, im Druck. 4 In jedem Fall, ob zu gewerblichen Zünften organisiert oder nicht, war jedes Handwerk <?page no="56"?> N ICOL E S TAD ELMANN 56 Obwohl St. Gallen also eine Zunftstadt war, fand ein großer Teil der handwerklichen Produktion außerhalb gewerblicher Zünfte statt. 5 Deshalb richtet dieser Beitrag sein Augenmerk nicht nur auf die zünftige Lehre, sondern auch auf die außerzünftige Ausbildung. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf Stadtkindern, die für ihre zünftige oder außerzünftige Ausbildung in die Region gingen. Um die Ursachen und Muster dieses Wissenstransfers zu verstehen, befasst sich der erste Teil der Analyse einerseits mit den Bedingungen, den Modalitäten, den Kosten und dem Wert einer zünftigen Lehre. Andererseits gab es weitere Wege für Frauen und Männer, um an handwerkliches Wissen zu gelangen. Ohne zünftige Meisterschaft stand Handwerkerinnen und Handwerkern der außerzünftige Arbeitsmarkt offen. 6 In einem zweiten Hauptteil wird dem Phänomen der Ausbildung von Stadtkindern in der Region nachgegangen. Seit den 1720er-Jahren verließen immer mehr Knaben die Zunftstadt St. Gallen, um ihre Lehre auf dem Land bei einem reformierten Landhandwerker zu absolvieren. Auch Mädchen wurden mehr und mehr für ihre zünftige oder außerzünftige Ausbildung in die dörfliche Region gesandt. Das handwerkliche einer der sechs politischen Zünfte zugeordnet. Jeder Handwerker war damit zwingend Mitglied einer politischen Zunft. Frauen leisteten in St. Gallen, sobald sie Haushaltsvorstände oder selbst in einer gewerblichen Zunft inkorporiert waren, den Bürgereid und waren auch Mitglied in den politischen Zünften; vgl. N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Die Ehefrau als Chefin des Mannes: Barbara Merz als Bürgerin, Meisterin und Zunftmitglied ‹ . Auch Studer geht davon aus, dass Zunft- und Bürgerrechte von der Führung eines selbstständigen Haushalts abhingen; B ARBARA S TUDER , Frauen im Bürgerrecht. Überlegungen in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, in: R AINER C HRISTOPH S CHWINGES (Hg.), Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250 - 1550) (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 30), Berlin 2002, S. 169 - 200, hier 178. Da in diesem Beitrag die Aneignung von handwerklichem Wissen interessiert, werden im Folgenden die politischen Zünfte nicht in den Fokus gerückt. Im Zentrum steht die Berufsbildung auf der Ebene der gewerblichen Zünfte und der außerzünftigen Handwerke. 5 Das ist eine Erkenntnis der Dissertation der Autorin; vgl. N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3). 6 Bis heute dominieren in der Zunft- und Handwerksforschung die Vorgaben des Zunftsystems die Sicht auf die frühneuzeitliche Berufsbildung. Jüngere Studien wenden sich aber vermehrt den alternativen Möglichkeiten der beruflichen Ausbildung zu. Vgl. dazu die Untersuchungen im Sammelband von B ERT DE M UNCK / S TEVEN L. K APLAN / H UGO S OLY (Hg.), Learning on the Shop Floor. Historical Perspectives on Apprenticeship (International Studies in Social History 12), New York-Oxford 2007, insbesondere von C LARE C ROWSTON , From School to Workshop: Pre-training and Apprenticeship in Old Regime France, in: Ebd., S. 46 - 62; K AREL D AVIDS , Apprenticeship and Guild Control in the Netherlands, c. 1450 - 1800, in: Ebd., S. 65 - 84. Diese Neuausrichtung verläuft parallel zur jüngeren Handwerks- und Zunftforschung, die nicht mehr von rigorosen Monopolen gewerblicher Zünfte ausgeht. So werden legale Formen der außerzünftigen Produktion überhaupt erst sichtbar. <?page no="57"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 57 Lernen von Stadtkindern im ländlichen Umland folgte spezifischen Mustern, denen dieser Artikel nachgeht. 1. Ziel Meisterrecht? Zünftige Lehren und außerzünftige Berufsbildung Nach dem Durchlaufen der städtischen Knabenschule, in der die Jungen Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt hatten, traten diese normalerweise im Alter von 14 Jahren ihre handwerkliche Ausbildung an. 7 Meist bestand diese aus einer zünftigen Lehre, die in St. Gallen seit dem Jahr 1679 in allen zünftig organisierten Handwerken mindestens drei Jahre dauern sollte. Auch die Gesellenzeit wurde zu diesem Zeitpunkt auf mindestens drei Jahre festgelegt. 8 Nach dieser sechsjährigen Berufsausbildung waren die jungen Männer berechtigt, einer gewerblichen Zunft beizutreten und ein Meisterrecht in ihrem Handwerk zu erlangen. In einigen Handwerken war die Anfertigung eines Meisterstücks für die Erreichung der Meisterschaft obligatorisch. In allen gewerblichen Zünften mussten sie sich in die Zunft einkaufen und jährlich unterschiedlich hohe Auflaggelder (Mitgliedsbeiträge) in die gemeinsame Zunftkasse einzahlen. Die Kosten für eine Meisterschaft waren bisweilen recht hoch - sodass nicht jeder Knabe, der eine zünftige Ausbildung absolviert hatte, in der Lage war, ein Meisterrecht zu erlangen. 9 Viel eher muss das Meisterrecht als Ressource betrachtet werden, die zusätzlich erworben werden konnte. 10 Der Meistertitel war zudem nicht in allen Handwerken eine Voraussetzung, um als selbstständiger Produzent arbeiten 7 Im Jahr 1820 kritisierte eine Untersuchung zur Lage des Handwerks den teilweise zu frühen Lehrbeginn von Knaben im Alter von 13 Jahren; StadtA SG, Altes Archiv (AA), Bd. 616d: Der jetzige Zustand des Handwerkstandes der Stadt und Gemeinde St. Gallen, hg. von einem Verein gemeinnützig denkender Männer, St. Gallen 1820, S. 75 und 125. Ein festgesetztes Mindestalter für den Lehrbeginn existierte in zünftigen oder städtischen Ordnungen selten. Der Lehreintritt fand zwischen zwölf und 18 Jahren statt; R UDOLF W ISSELL , Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. I, 2. erw. u. bearb. Ausg. Berlin 1971, S. 276f. 8 StadtA SG, AA, Bd. 591: Satzungsbuch der löblichen Zunft der Weber, 1608 - 1792, S. 131f. 9 Vgl. dazu auch M AARTEN P RAK u. a., Access to the Trade: Monopoly and Mobility in European Craft Guilds in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Journal of Social History 54/ 2 (2020), S. 1 - 32, hier 6. 10 T HOMAS B UCHNER / P HILIP R. H OFFMANN -R EHNITZ , Nicht-Reguläre Erwerbsarbeit in der Neuzeit, in: R OLF W ALTER (Hg.), Geschichte der Arbeitsmärkte. Erträge der 22. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 11. bis 14. April 2007 in Wien (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 199), Stuttgart 2009, S. 319 - 343, hier 337f.; B ERT DE M UNCK , Skills, Trust, and Changing Consumer Preferences: The Decline of Antwerp ’ s Craft Guilds from the Perspective of the Product Market, c. 1500 - c. 1800, in: International Review of Social History 53/ 2 (2008), S. 197 - 233, hier 201. <?page no="58"?> N ICOL E S TAD ELMANN 58 zu können. Neben der zünftigen Wirtschaft existierte in der zunftverfassten Stadt St. Gallen nämlich ein großer Bereich der außerzünftigen Produktion. Dazu zählten kleinere Handwerke, die keine gewerblichen Zünfte bildeten, Gewerbe wie die Seidenproduktion, die von der Obrigkeit bewusst zunftfrei gelassen wurden, und Handwerke, die mit oder ohne zünftige Mitgliedschaft ausgeübt werden konnten. Zu letzteren zählten gerade die Massenhandwerke der Leinenweber, Schneider und Schuhmacher. 11 Nach absolvierter Berufsausbildung konnten diese Handwerker wählen, ob sie als außerzünftige Produzenten ohne Mitgliedschaft in der bestehenden gewerblichen Zunft oder als Meister mit Mitgliedschaft arbeiten wollten. Der Unterschied zwischen beiden Möglichkeiten bestand vor allem im Recht, mit Personal arbeiten zu können: Es war nur zünftigen Meistern gestattet, Gesellen anzustellen und Lehrlinge auszubilden. Zünftig ausgebildete Männer und Frauen waren also insofern auf dem Arbeitsmarkt privilegiert, als alleine sie Zugang zur zünftigen Wirtschaft hatten. 12 Man spricht dabei von der zünftigen Passierlichkeit, die durch die Mitglieder der gewerblichen Zünfte und durch die wandernden Gesellen auch über weite Distanzen hinweg überwacht wurde. Im Gegensatz zu diesen Handwerkern mit zünftigem Meistertitel waren die außerzünftigen Produzenten auf ihre eigene und die Arbeitskraft allfälliger Familienmitglieder beschränkt. Der städtische Markt stand aber in Handwerken, die sowohl mit als auch ohne zünftige Mitgliedschaft betrieben werden konnten, und in all jenen gewerblichen Zünften ohne Produktionsmonopole allen Handwerkern unabhängig vom Meisterrecht offen. Weitere Möglichkeiten der Produktion ohne Meisterrecht existierten in der abhängigen Lohnarbeit. Auch hier gab es zünftige und außerzünftige Formen. 13 Für die außerzünftige Lohnarbeit benötigten Handwerker und Handwerkerinnen häufig keine zunftkonforme Lehre. Diese Lohnarbeiterinnen und -arbeiter produzierten im Dienst eines Handwerkerverlegers. Sie waren in unterschiedlichsten Handwerken zu finden, etwa in der Strumpfstrickerei, der Seidenwirkerei oder der Leinenweberei (Lohnweber). 11 Vgl. N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3). 12 A NKE S CZESNY , Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 7), Tübingen 2002, S. 203. 13 So erlangte, wie später im Artikel erläutert wird, beispielsweise nur eine kleine Minderheit der zünftig ausgebildeten St. Galler Leinenfärber auch die Meisterschaft. <?page no="59"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 59 2. Eine Frage des Budgets: Die Finanzierung der Ausbildung als finanzielle Herausforderung Die teure handwerkliche Ausbildung der Söhne war für viele St. Galler Handwerkerfamilien eine große finanzielle Herausforderung. Im 17. und 18. Jahrhundert zählte der Großteil von ihnen zur arbeitenden Stadtarmut. 60 Prozent aller Handwerker versteuerten im Jahr 1731 Vermögenswerte zwischen 100 und 200 Gulden. 14 Die Lehrgelder schwankten von Handwerk zu Handwerk stark und betrugen 25 bis 200 Gulden. 15 Knaben mit beschränkten finanziellen Mitteln hatten deshalb nur sehr begrenzte Berufswahlmöglichkeiten. 14 Dies hat das abgeschlossene Dissertationsprojekt zum Wirtschaften und Haushalten St. Galler Handwerkerfamilien im 17. und 18. Jahrhundert ergeben. Für die Promotion wurde eine prosopographische Datenbank aller männlichen St. Galler Bürger - und nicht nur handwerkliche Haushaltsvorstände - erstellt, die zwischen 1680 und 1731 geheiratet haben und deshalb steuerpflichtig wurden. Sie umfasst 3.238 Stadtbürger und enthält Hinweise auf das Vermögen, den Beruf, Zunftmitgliedschaften, Ehrenämter und Ämter niederen Ranges, zur Umzugsmobilität der männlichen Haushaltsvorstände sowie biographische Daten wie Geburts-, Sterbe- und Heiratsdaten der Ehepartner. Um Heiratsnetzwerke nachvollziehen zu können, umfasst die Datenbank auch Hinweise zum Handwerk des Vaters der Frau. Die quantitativen Auswertungen wurden in der Dissertation ergänzt um mikrohistorische, akteurszentrierte Fallbeispiele von sechs unterschiedlichen Handwerkerfamilien; N. S TADEL - MANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3). Die Auswertung zeitgenössischer Hochzeits- und Ständemandate zeigt, dass 1.722 Haushalte bis zu einem Steuervermögen von 400 Gulden als arm oder ›vermögenslos‹ galten ; Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, SG/ II/ 1/ 2, VI Titul. Waß breütigam und braut einanderen verehren mögen, S. 126f.; StadtA SG, AA, Bd. 548: Mandatenbuch, Bd. 3, 1695 -1794, ›Edict gast und ührtenhochzeit auch andere mähler, item frembde weiber, und tragen der lufftmachenden weheren in die predigten betreffendte‹, 1720, S. 142- 144; ebd., ›Abge endertes mandat gast- und ührten hochzeitmähler betre ffende‹, 1722, S. 156- 157; sowie N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3). 15 So verlangte der Schneidermeister Georg Hildbrand im Jahr 1731 25 Gulden Lehrlohn; StadtA SG, AA, RP, 2.2.1731. Der Lehrjunge Joseph Tanner bezahlte für seine zünftige Seckler lehre bei ›Herr‹ Marx Haltmeyer im Jahr 1703 200 Gulden. Der zur höheren Gruppe der Handwerker zählende Haltmeyer profitierte bei der Forderung eines solch hohen Lehrgelds von seinem Sozialkapital. Er versteuerte im Jahr 1700 Vermögenswerte zwischen 1.200 und 1.300 Gulden; vgl. zu Marx Haltmeyer ID 1236, StadtA SG, Bürgerregister (BR): Familie Haltmeyer, Nr. 48; StadtA SG, AA, Bd. 296el: Steuerbuch 1700, S. 21. Der praktisch gleich vermögende Secklermeister Mainrat Gmünder (im Jahr 1700 Vermögenswerte zwischen 1.100 und 1.200 Gulden) konnte zur selben Zeit ›nur‹ 80 Gulden Lehrgeld verlangen. Er gehörte noch nicht zur höheren Gruppe des Handwerks; vgl. zu Mainrat Gmünder ID 1003, StadtA SG, BR: Familie Gmünder, Nr. 51; StadtA SG, AA, Bd. 296el: Steuerbuch 1700, S. 6, sowie StadtA SG, AA, Bd. 603k: Handwerkssachen der Seckler, was von Zeit zu Zeit passiert, samt einem Verzeichnis der Meister, 1706 - 1828, S. 11. Für die folgenden Ausführungen vgl. <?page no="60"?> N ICOL E S TAD ELMANN 60 Die Höhe des dem Lehrmeister zu bezahlenden Lehrgeldes war abhängig von unterschiedlichen Faktoren. Eine Rolle spielten das zu erlernende Handwerk selbst, die Reputation des Lehrmeisters, die Auslastung seiner Werkstatt, die vereinbarte Dauer der Lehre oder auch, wo der Lehrling während seiner Ausbildung wohnte - beim Lehrmeister zu Hause oder weiterhin im elterlichen Haushalt. Unterschiede in der Höhe der Lehrgelder bestanden aber nicht nur zwischen einzelnen Berufen, sondern auch innerhalb von Handwerken. So verlangten Schneidermeister in St. Gallen Lehrgelder zwischen 25 und 80 Gulden, je nachdem, über welches soziale Kapital sie verfügten. Für Handwerke mit guten Berufsaussichten und Möglichkeiten zur Erlangung einer Meisterschaft forderten die Meister höhere Lehrgelder als in Handwerken mit nur geringen Chancen auf eine Meisterstelle oder in überbesetzten Berufen. Zu den kostengünstigen Lehren zählten beispielsweise diejenigen der überbesetzten Massenhandwerke wie der Leinenweber, Schuhmacher und Schneider. Bei den Leinenwebern reichte ein Lehrlohn von mindestens 25 Gulden, um am Schluss ein Zeugnis über einen zünftigen Lehrabschluss in den Händen zu halten. Alternativ wurde auf eine Zukunft innerhalb des zünftigen Systems verzichtet und eine kostenlose Ausbildung zum Weber durchlaufen. Je nach Entscheidung konnte man später als selbstständiger Weber eine Werkstatt mit Personal führen oder als Lohnweber in den Diensten eines zünftigen Webermeisters seinen Lebensunterhalt verdienen. 16 Auch andere Handwerke waren - aus unterschiedlichen Überlegungen - mindestens teilweise gratis zu erlernen, so etwa die Berufe der Steinmetze, Dachdecker, Maurer oder Leinenfärber. 17 Während das Maurerhandwerk zu den ärmsten Handwerken zählte, gehörten die Leinenfärber zu den tendenziell reicheren Berufen. 18 Allerdings erlangte bei den Leinenfärbern nur ein kleiner, privilegierter Kreis die Meisterschaft, N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Eine Frage des Budgets: Söhne und die Wahl ihres Handwerks ‹ . 16 StadtA SG, AA, RP, 13.8.1723. Vgl. zur zünftigen und außerzünftigen Leinenweberei N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Vielfältige Produktion: Die Leinenweber als Beispiel für Handwerke mit zünftiger und ausserzünftiger Produktion ‹ . 17 Siehe für die Maurer StadtA SG, AA, RP, 23.5.1727, für die Dachdecker ebd., 13.6.1737, für die Weber und Färber ebd., 13.8.1723, für die Steinmetze StadtA SG, AA, Bd. 594a: Der Steinmetzen Bruderschaft-Ordnung, erneuert zu Strassburg auf der Haupthütte, Bruderbuch 1563 - 1810, Art. 57. Bei den Webern wurde teilweise auf ein Lehrgeld verzichtet, teilweise aber eines verlangt; vgl. StadtASG, AA, RP, 13.8.1723, und StadtA SG, Ämterarchiv (ÄA), VII, 135: Einnahmen und Ausgaben des Stockamts, 1680 - 1681, S. 40. 18 Das haben die Auswertungen des Dissertationsprojekts auf der Basis der Steuervermögen der Bürgerschaft zwischen 1680 und 1731 sowie ihre Zuordnung zu den unterschiedlichen Berufen und Handwerken ergeben; vgl. N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Klumpenrisiko: Gewerbestruktur und rückläufige Textilwirtschaft ‹ . <?page no="61"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 61 denn diese war an den Besitz einer der fünf bis acht teuren, städtisch konzessionierten Leinenfärbereien gebunden. Alle übrigen Leinenfärber blieben zeitlebens im Gesellenstatus und waren Lohnarbeiter bei einem der Meister. Damit blieb dem Großteil der zünftig ausgebildeten Färber die Selbstständigkeit verwehrt. 19 Der Verzicht auf ein Lehrgeld diente wohl dazu, genügend Nachwuchskräfte für das personalintensive Gewerbe zu finden, in welchem die meisten Bürger trotz zünftiger Lehre nicht Meister werden konnten. Anders bei den Maurern: Hier wurde auf ein Lehrgeld verzichtet, weil die Lehrlinge für ihre Ausbildung nicht in den Meisterhaushalt zogen, sondern bei den Eltern zu Hause wohnen blieben. Die Kosten für Verpflegung und Unterkunft entfielen damit für den Lehrmeister. Ursache für den nicht erfolgenden Auszug von zu Hause war die Tatsache, dass der Maurerberuf zu den sogenannten halben Handwerken zählte, die nur im warmen Sommerhalbjahr ausgeübt wurden. 20 3. St. Galler Lehrtöchter und Lehrmeisterinnen In der Näherei konnten auch Mädchen in St. Gallen eine zünftige Lehre absolvieren. Sie war in der Stadt St. Gallen die einzige gewerbliche Zunft, die nur aus Frauen bestand. 21 Die Erlernung des Näherinnenhandwerks stand allen Mädchen offen. Voraussetzung für die Erlangung einer späteren Näherinnenmeisterschaft war allerdings eine zünftige Lehre. Die Lehrzeit dauerte zwischen sieben und 14 Monaten und wurde - analog zu den Knaben - im Haushalt der Lehrmeisterin verbracht. 22 So 19 N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Die Mehrheit erreicht die Meisterschaft nicht: Limitierte Leinenfärbereien ‹ . 20 In Innsbruck wohnten die Maurerlehrlinge dagegen im Sommer bei ihren Meistern und im Winter im elterlichen Haushalt; A RND K LUGE , Die Zünfte, Stuttgart 2007, S. 158. 21 Die Produktpalette der Näherinnen umfasste die Herstellung von ›wei ß em Zeug‹, also von Bett- und Tischwäsche, die Verarbeitung gröberer Stoffe aus Leinen und Baumwolle sowie das Nähen aller Arten von Frauenkleidern. Die von den Nähermeisterinnen hergestellte Ware ähnelte jener der Schneidermeister und -meisterinnen. Allerdings besaßen Schneiderinnen und Schneider das Monopol zur Anfertigung von Männerkleidern und durften gleichzeitig ebenfalls alle Arbeiten von Näherinnen ausführen. Siehe die Artikel der Näherinnen in StadtA SG, AA, Bd. 595: Statuten, Ordnung und Satzungen der Schneiderzunft, 1625 - 1794, Art. 116 - 123, und VadSlg, Ms S 137: B ERNHARD W ARTMANN , Geschichte der Stadt St. Gallen, 1794, S. 183. 22 Dies wird aufgrund der Auszahlungen des Lehrgelds in zwei Tranchen durch das Stockamt deutlich. So begannen Magdalena Mörli und Susanna Anhorn ihre Näherlehre im Mai 1693. Sie erhielten dafür die erste Hälfte des Lehrgelds vom städtischen Stockamt in der Höhe von vier Gulden. Im November 1693 zahlte das Stockamt die zweite Hälfte des Lehrgelds aus; <?page no="62"?> N ICOL E S TAD ELMANN 62 lebten im Jahr 1700 gleich fünf Lehrtöchter bei der St. Galler Nähermeisterin Katharina Engler. Von drei Mädchen ist das Alter bekannt: sie waren 13- und 14-jährig. 23 In der Stadt St. Gallen war die Ausbildung zur Näherin bei den Mädchen weit verbreitet. 24 Die Näherinnenausbildung war nicht nur bei ärmeren Mädchen beliebt, auch Kaufleute und Rentiers ließen ihre Töchter zu Näherinnen ausbilden. 25 Dies hatte mehrere Gründe: Wohl einer der wichtigsten lag in der Tatsache, dass die Mädchen mit Kenntnissen in der Näherei später einfacher eine Anstellung als Dienstmagd fanden. Aus diesem Grund organisierte das städtische Spital 1625 eine Nähermeisterin, welche die jungen Mädchen in der Näherei unterrichtete. Auch Mädchen aus dem Waisenhaus wurde eine Näherinnenausbildung ermöglicht. Anders als im Spital wurden dort allerdings die Mädchen ab dem Alter von elf Jahren als Lehrtochter in den Haushalt einer Nähermeisterin gesandt. Mit Kenntnissen in der Näherei waren nicht nur leichter Anstellungen als Dienstmagd zu finden - auch später konnte die Familie Geld sparen, da jeder Frau das Nähen für den Eigengebrauch in der Familie gestattet war und somit Kosten für fremde Schneider oder Näherinnen eingespart werden konnten. Darüber hinaus ermöglichte die Näherinnenlehre den Mädchen, später die zünftige Näherinnenmeisterschaft zu erlangen und als Nähermeisterin selbstständig einen Betrieb zu führen und Lehrtöchter auszubilden. 26 vgl. StadtA SG, ÄA, VII, 150: Stockamts-Rechnung, 1693 - 1694, S. 26f. Je nachdem ob die zweite Hälfte in der Mitte oder am Schluss der Lehre ausbezahlt wurde, dauerte eine Näherinnenlehre sieben oder 14 Monate; A. K LUGE , Die Zünfte (Anm. 20), S. 154. 23 Vgl. StadtA SG, ÄA, VII, 156: Stockamts-Rechnung, 1700 - 1701, S. 24. 24 Im Jahr 1680 übernahm das Stockamt für 18 Mädchen, 1700 für elf Mädchen und 1731 für 15 Mädchen die Kosten von acht Gulden für die Näherinnenausbildung. Im Jahr 1730/ 31 kann nicht genau zwischen Lehrgeldern für Näherinnen und Strickerinnen unterschieden werden. In den vorangegangenen Stockamtsrechnungen lagen die Lehrgelder für Strickerinnen allerdings tiefer als für Näherinnen. Da in der Rechnung für das Jahr 1730/ 31 immer vier Gulden - üblicherweise die Hälfte des Lehrgelds für Näherinnen - aufgeführt sind, kann davon ausgegangen werden, dass die unterstützten Mädchen in diesem Jahr alle zu Näherinnen ausgebildet wurden; vgl. StadtA SG, ÄA, VII, 135: Einnahmen und Ausgaben des Stockamts, 1680 - 1681, S. 40 - 46; StadtA SG, ÄA, VII, 156: Stockamts-Rechnung, 1700 - 1701, S. 24f.; StadtA SG, ÄA, VII, 177: Stockamts-Rechnung, 1730 - 1731, S. 32. Neben der Unterstützung durch das Stockamt konnten Töchter aus ärmeren Familien auch auf die Schenkung des Lehrgelds durch die politische Schneiderzunft hoffen. Am Nikolausabend 1721 spendete der Zunftmeister der politischen Schneiderzunft drei ärmeren Mädchen das Lehrgeld für eine Näherinnenausbildung; StadtA SG, AA, Bd. 598: Zunft-Urteilbuch, 1693 - 1724, 6.12.1721, S. 109. 25 StadtA SG, AA, Bd. 597: Zunft-Urteilbuch, 1678 - 1693, 12.1.1681, fol. 76r. 26 StadtA SG, AA, Bd. 598: Zunft-Urteilbuch, 1693 - 1724, 18.6.1692, S. 167. Vgl. für die Hinweise zur Näherei in Spital und Waisenhaus A LICE D ENZLER , Jugendfürsorge in der <?page no="63"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 63 4. Je teurer desto besser? Qualität der Handwerkslehren Das in den Familien verfügbare Budget für die Ausbildung bestimmte nicht nur die Berufswahl, sondern auch den Ausbildungsinhalt. Mit höheren Lehrgeldern ging die Erwartung an eine qualitativ höherwertige Ausbildung einher. 27 So variierten die Lehrgelder, die St. Galler Schneidermeister verlangten, zwischen 25 und 80 Gulden. In einer Diskussion um die angemessene Höhe des Lehrgeldes für eine zünftige Schneiderlehre meinten die Schneidermeister im Jahr 1685, dass jene Lehrmeister, die weniger als 40 Gulden Lehrgeld forderten, ihre Lehrlinge statt in der Werkstatt auszubilden zum Holzen und für andere Arbeiten im Haushalt einsetzen würden. Solche Lehrlinge würden dann später aufgrund ihrer schlechteren Ausbildung viel eher ‚Stümper‘ - also außerzünftige Schneider ohne Meisterrecht - als jene mit einer teureren und inhaltlich höherwertigeren Lehre. 28 Auch die Spitalleitung ermahnte mehrere Schneidermeister, ihre Lehrjungen weniger oft in den Wald zum Holzschlagen zu senden und dafür besser im Handwerk auszubilden. Das Problem war nicht nur, dass die Lehrlinge wenig lernten, sondern auch, dass sie aufgrund der Arbeit im Wald häufig erkrankten und ihre Kleider und Schuhe kaputt gingen. Da das Spital für die Kleidung der Spitalknaben zuständig war, entstanden der Institution durch den schnelleren Verschleiß höhere Kosten. Die Spitalleitung bat deshalb die Meister, ihre Lehrlinge bei schlechtem Wetter nicht mehr in den Wald zu senden. 29 1697 tadelte die Spitalleitung den Schuhmachermeister Ulrich Wild, weil er seinen Lehrling mehr für haußgeschäffte benutze, anstatt ihn auszubilden - wofür er schließlich bezahlt werde. Er solle den Jungen auch unterrichten, wie man neue Schuhe anfertige, und ihm nicht nur alte Schuhe zum Flicken geben. 30 Ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer Lehrzeit verbrachten die Knaben also bei häuslichen Arbeiten oder beim Holzen. Dementsprechend verfügten Lehrlinge nach dem Abschluss ihrer zünftigen Lehre nicht immer über genügend handwerkliches Wissen und Können, um sich alten Eidgenossenschaft. Ihre Entwicklung in den Kantonen Zürich, Luzern, Freiburg, St. Gallen und Genf bis 1798, Glarus 1925, S. 411f. und 422. 27 De Munck, Kaplan und Soly konstatieren, dass der Status des Lehrlings sowie seine finanziellen Möglichkeiten wichtiger waren als die rechtlichen und finanziellen Vorschriften gewerblicher Zünfte zu Lehrzeit und -modalitäten. Auch die Entscheidung, ob und wann man eine zünftige Meisterschaft erreichte, war beim Lehrantritt sekundär; B. DE M UNCK / S. L. K AP - LAN / H. S OLY (Hg.), Learning on the Shop Floor (Anm. 6), S. 14. 28 StadtA SG, AA, Bd. 597: Zunft-Urteilbuch, 1678 - 1693, 5.2.1685, fol. 25v. 29 StadtA SG, SpA, W, 20: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1695 - 1703, 11.3.1699; StadtA SG, AA, Bd. 598: Zunft-Urteilbuch, 1693 - 1724, 2.12.1715 und 16.10.1716, S. 189, 193f. 30 StadtA SG, SpA, W, 20: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1695 - 1703, 16.4.1697. <?page no="64"?> N ICOL E S TAD ELMANN 64 eine Zukunft aufzubauen. 31 Der Spitalknabe Michael Steinmann konnte mit städtischer Unterstützung das Schuhmacherhandwerk lernen und ging nach seiner beendeten zünftigen Lehre als Geselle auf Wanderschaft. Dort zog er sich eine nicht näher spezifizierte Krankheit an einem Finger zu. Von dieser wurde er in St. Gallen kuriert, fand aber dennoch keine Anstellung bei einem zünftigen Meister. Die Ursachen dafür waren sowohl seine physische Schwäche an der Hand als auch sein ungenügendes handwerkliches Können. Die Vormünder des Knaben baten deshalb die Spitalleitung um Hilfe. Man beschloss, den Knaben umlernen zu lassen und auf eine Probe hin bei dessen Vetter als Strumpfweber auszubilden, 32 ein Vorhaben, das scheiterte. Einen Monat später kam der ernüchternde Befund: Michael Steinmann sei aufgrund seines bösen fingers untüchtig für die Strumpfweberei. In der Zwischenzeit zeichnete sich allerdings eine andere Lösung ab. Ein Schuhmachermeister wollte den Knaben noch einmal für zwei Jahre in die Lehre nehmen, weil er wol mercke, daß ihme viel mehr die schlechte information als der böse finger bißher in der Ausübung des Handwerks hinderlich gewesen sei. 33 Die erste Ausbildung war demzufolge so schlecht gewesen, dass Steinmann schlichtweg nicht befähigt worden war, als Schuhmachergeselle Arbeit zu finden und das Handwerk auszuüben. Die zünftige Lehre war also keine Garantie für das Erlernen von ausreichend Wissen, weshalb die handwerkliche Ausbildung im Zunftsystem bereits von den Zeitgenossen verschiedentlich kritisiert wurde. Knaben, die aufgrund ihrer ökonomisch schwachen Herkunft eine kostengünstigere Lehre absolviert hatten, erwarben später - gemäß Aussagen der Schneidermeister - seltener eine zünftige Meisterschaft. Dies hatte allerdings nicht nur mit der qualitativ oft mangelhaften Ausbildung zu tun, sondern auch damit, dass der Erwerb der Meisterschaft durch die Aufnahmegebühren in gewerbliche Zünfte, durch die Anfertigung von Meisterstücken und durch die Kosten für die Einrichtung einer eigenen Werkstatt für ärmere Bürgersöhne auch nach der Heirat häufig finanziell nicht erreichbar waren. Ihnen blieb also nur die Möglichkeit der außerzünftigen Produktion - entweder als selbstständiger Produzent in jenen Handwerken, die außerzünftig betrieben werden konnten, oder als verlegter Lohnarbeiter für andere Handwerksmeister. Für eine solche außerzünftige Produktion benötigten sie kein Meisterrecht. 31 Das Problem, dass Lehrlinge häufig als günstige Arbeitskräfte im Haushalt benutzt wurden, bestand reichsweit. 1860 schrieb die allgemeine Zunftordnung Kurhessens vor, dass Lehrlinge im Winter mindestens zwei Drittel, im Sommer mindestens die Hälfte ihrer Arbeitszeit im Handwerk verbringen mussten; A. K LUGE , Die Zünfte (Anm. 20), S. 158f. Die kürzeren Zeiten im Sommer verweisen vermutlich auf die in dieser Jahreszeit zusätzlich anfallenden landwirtschaftlichen Aufgaben, für die Lehrlinge genutzt wurden. 32 StadtA SG, SpA, W, 23: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1734 - 1742, 13.2.1741. 33 StadtA SG, SpA, W, 23: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1734 - 1742, 6.3.1741. <?page no="65"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 65 5. Auβerzünftige Ausbildungen: Lohnarbeit und Bindung durch Kredite Außerzünftige Berufsbildungsmöglichkeiten wurden vor allem von Frauen, die als unzünftige Lohnarbeiterinnen beschäftigt waren, genutzt. Sie arbeiteten im Seidengewerbe als Spinnerinnen, Weberinnen und Wirkerinnen, aber auch als verlegte Strumpfstrickerinnen oder gegen Lohn bei einer Meisterin als angestellte Stauchentröcknerinnen. 34 Für einige dieser Tätigkeiten konnten sie eine außerzünftige Ausbildung durchlaufen, die bei Bedarf von der Obrigkeit unterstützt wurde. Dazu zählten die Strumpfstrickerei und die Seidenwirkerei. Nach diesen außerzünftigen Ausbildungen hatten die Mädchen allerdings keine Möglichkeit, eine Meisterschaft zu erwerben. 35 Die Ausbildung zur Strumpfstrickerin dauerte denn auch weniger lang als die Lehre zur zünftigen Näherin - und zwar zwischen drei Monaten und einem halben Jahr. Das Lehrgeld für die Strumpfstrickerei betrug meist drei Gulden. 36 Die Mädchen zogen für diese Ausbildung meist zu Hause aus und wohnten bei ihrer Lehrmeisterin. Eine andere, gerade bei bedürftigen Bürgertöchtern verbreitete außerzünftige Ausbildung war das Seidenweben. Das Gewerbe wurde ab den 1730er-Jahren durch die Obrigkeit stark gefördert - nicht zuletzt, um ärmeren Handwerkerfamilien ein zusätzliches Einkommen zu ermöglichen. Aus diesen Gründen blieb das Gewerbe zunftfrei, sodass jede und jeder die Möglichkeit hatte, in diesem Bereich ohne zünftige Ausbildung oder Zunftmitgliedschaft zu arbeiten. Die Ausbildung zur Seidenweberin kostete meist acht Gulden. Auch hier verbrachten die Mädchen ihre Lehrzeit im Haushalt der Lehrmeisterin. 37 Wenn sie Glück hatten, wurden sie in das nahe 34 Das Stauchentrocknen war ein Handwerk im Textilsektor. Die Stauchentröcknerinnen und -tröckner trockneten und glätteten schmale Tuche, die sogenannten Stauchen. Im Stauchentröcknerhandwerk konnten auch Frauen die Meisterschaft erlangen, wobei die Mehrheit der Meister im 17. und 18. Jahrhundert Frauen waren. Es existierten zudem geteilte Meisterschaften, wenn sich zwei Meisterinnen die Stelle teilten. Die zünftigen Stauchentröcknermeisterinnen beschäftigten viele nicht zünftig gelernte Stauchentröcknerinnen und -tröckner; vgl. N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Stauchentröcknerinnen und Nähermeisterinnen: weiblich geprägte gewerbliche Zünfte ‹ . 35 In der Strumpfstrickerei konnten nur Töchter von Strumpfstrickermeistern das Meisterrecht erlangen und selbst Lehrtöchter ausbilden. Mädchen, deren Eltern nicht selbst eine zünftige Meisterschaft im Strumpfstricken besaßen, hatten auch nach ihrer Ausbildung keine Möglichkeiten, das Handwerk selbstständig auszuüben. Sie blieben Stückarbeiterinnen und wurden von einem zünftigen Meister verlegt. 36 StadtA SG, ÄA, VII, 156: Stockamts-Rechnung, 1700 - 1701, S. 25. 37 StadtA SG, AA, RP, 24.11.1735. <?page no="66"?> N ICOL E S TAD ELMANN 66 Umland, vor allem ins Appenzellerland, in die Lehre gesandt. 38 In der Verarbeitung von Seide - sowohl beim Spinnen als auch beim Weben - hatte die Nachbarschaft gegenüber der Stadt St. Gallen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nämlich die Nase vorn. Höherwertige Seidenqualitäten wurden von St. Galler Seidenfabrikanten zu höheren Löhnen Frauen im Appenzellerland zur Verarbeitung übergeben. In der Stadt St. Gallen wurden dagegen nur die minderwertigen Seidengarne versponnen und verwoben. 39 In der Region verfügten Handwerkerinnen und Handwerker des Seidengewerbes also über mehr Wissen und Können als in der Stadt. Auch Knaben lernten außerzünftige Handwerke, die sie später teilweise mit ihrer zünftigen Arbeit vereinbaren konnten. Häufig, wie etwa in der Strumpfstrickerei, wurden solche außerzünftigen Ausbildungen via Kredite beim späteren Arbeitgeber finanziert. So lernte der St. Galler Schneider Hans Joachim Hildbrand gemeinsam mit einigen seiner Söhne beim Strumpfstrickermeister Georg Stäheli Ende des 17. Jahrhunderts gratis die Strumpfstrickerei. Bedingung für diese kostenlose Ausbildung war allerdings die spätere Lohnarbeit für ebendiesen Lehrmeister. Nur falls sie die Kosten für die Ausbildung zurückerstatten konnten, durften sie den Arbeitgeber wechseln. 40 6. Kalkulierte Veränderung? Lehrabbrüche und die Frage der Konfession Die Möglichkeit der außerzünftigen Arbeit führte zu einem anderen Phänomen - und zwar jenem der Lehrabbrüche. Da für außerzünftige Berufe nur das Wissen über die Fertigungsprozesse und keine zünftige Lehre ausschlaggebend war, konnten nach Erwerbung der nötigen Fertigkeiten Lehren auch abgebrochen werden. Der St. Galler Hans Jacob Bastart gehörte zu den Lehrabbrechern. Er hatte in Lindau eine zünftige Kammmacherlehre begonnen, diese aber kurz vor Lehrabschluss aus unbekannten Gründen beendet. Lindau war ein Zentrum der Kammmacherei - um 38 So etwa die beiden St. Galler Schwestern Ursula (14-jährig) und Anna Katharina (13-jährig) Wild, die für je acht Gulden das Seidenweben bei Barbara Hofstetter im appenzell-ausserrhodischen Speicher lernen konnten; StadtA SG, AA, RP, 24.11.1735. 39 Dies wird deutlich anhand unterschiedlicher Klagen St. Galler Seidenspinnerinnen. Vgl. StadtASG, AA, Verordnetenprotokolle (VP), 1739, S. 419 und 402. In der Quelle wird nicht zwischen Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden unterschieden - genannt wer den nur ›Appenzellerinnen‹. 40 Vgl. zu den Arbeits- und Anstellungsbedingungen in der Strumpfstrickerei N. S TADEL - MANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Berufswechsel und Aufstieg: Die Familie Stäheli-Major und ihr Strumpfverlag ‹ ; zur Familie Hildbrand-Studer Kapitel › Flexibel und hochmobil: Die pluriaktive Familie Hildbrand-Studer ‹ . <?page no="67"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 67 1680 arbeiteten 59 Meister in der Stadt. 41 Bastart hatte seine handwerkliche Ausbildung also in einem auf die Kammmacherei spezialisierten Wissensort in der Region absolviert. In St. Gallen bestand kein zünftiges Kammmacherhandwerk, sodass er diesen Beruf in seiner Heimat ohne zünftige Ausbildung ausüben konnte. Dass er letzten Endes gar kein Interesse an einer zünftigen Ausbildung hatte, kommt durch einen Konflikt mit einem zünftigen Kammmachermeister in St. Gallen zum Ausdruck. Der in St. Gallen tätige Kammmachermeister Caspar Hugentobler war in der gewerblichen Zunft der Zürcher ‚Strählmacher‘ inkorporiert und trug alle Kosten einer zünftigen Mitgliedschaft. Die Vorteile dieser Mitgliedschaft kamen ihm aber abhanden durch die außerzünftige Konkurrenz des nach St. Gallen zurückgekehrten Bastart, da dieser günstiger produzieren konnte als Hugentobler. Letzterer bemühte sich deshalb darum, dass Bastart einen zünftigen Lehrbrief in Lindau erhielt. Doch Bastart selbst war gar nicht interessiert an einer zünftigen Meisterschaft, sodass diese Bemühungen im Sand verliefen. Hugentobler meinte deshalb, dass er hinsichtlich der Konkurrenz durch Bastart seine zünftige Mitgliedschaft aufgebe und ebenfalls außerzünftig arbeite. 42 Nicht jeder Handwerker strebte also überhaupt eine zünftige Mitgliedschaft an - und so waren auch nicht alle von einer zünftigen Lehre abhängig. Ein weiterer Lehrabbrecher war der St. Galler Tobias Müller, ein ehemaliger Spitalknabe. Er hatte während vier Jahren das Goldschmiedehandwerk bei seinem Onkel gelernt, war aber kurz vor der Beendigung der Lehrzeit fortgegangen. Auf Bitte des Lehrmeisters zahlte ihm die Spitalleitung die zweite Hälfte des Lehrgeldes aus, das üblicherweise erst nach der Abdingung (die ritualisierte Entlassung aus der Lehre durch den Lehrmeister) dem Meister übergeben wurde. Zudem beschloss man, dem Jungen trotz vorzeitigem Abbruch einen Lehrbrief auszustellen. 43 Damit wäre er in der Lage gewesen, seine Gesellenzeit innerhalb der Zunftwirtschaft zu beginnen. Müller lebte in der Zwischenzeit in Köniz im heutigen Kanton Bern und arbeitete dort als Schweinehirt. Offenbar war er völlig mittellos und ohne meister, ohne kleider und ohne nahrung. Er wandte sich an den dortigen Pfarrer, der für ihn bei einem St. Galler Geistlichen um die Zusendung von Geld für Kleidung sowie um seinen Tauf- und Kommunionsschein bat. 44 Die Spitalleitung sandte ihm zehn Gulden, bat den jungen 41 R AINER S. E LKAR , Recht, Konflikt und Kommunikation im reichsstädtischen Handwerk des späten 17. Jahrhunderts - oder: Die Geschichte von den drei ungerechten Kammmachern zu Ulm nebst Anmerkungen zu einem fast untergegangenen Beruf, in: H ELMUT B RÄUER / E LKE S CHLENKRICH (Hg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, FS für Karl Czok zum 75. Geburtstag, Leipzig 2001, S. 187 - 237, hier 227. 42 StadtA SG, AA, Bd. 597: Zunft-Urteilbuch, 1678 - 1693, 1.10.1680 bis 12.1.1681, fol. 121v - 122v. 43 StadtA SG, SpA, W, 23: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1734 - 1742, 11.8.1741. 44 StadtA SG, SpA, W, 23: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1734 - 1742, 30.10.1741. <?page no="68"?> N ICOL E S TAD ELMANN 68 Mann allerdings, nach St. Gallen zurückzukommen, damit ihm sein Lehrbrief ausgestellt werden könne. Müller holte seinen Lehrbrief jedoch nicht ab. Er zog es offenbar vor, in Köniz zu bleiben. Mit Hilfe des dortigen Pfarrers kam er im Dezember 1741 bei einem Goldschmied in Bern unter, der jedoch für die Annahme Müllers als Angestellten eine Kaution verlangte. Die alleinerziehende Mutter suchte deshalb um eine Bürgschaftsleistung durch die St. Galler Obrigkeit nach, welche ihr bewilligt wurde. 45 Weshalb aber wurden zünftige Lehren so kurz vor deren Ende abgebrochen? In Frage kommen meines Erachtens folgende Überlegungen: Möglicherweise sparte der Lernende sich bei einem Abbruch vor der Abdingung die zweite Hälfte des Lehrgeldes. Im Fall des Kammmachers Bastart, der wusste, dass er in St. Gallen zur Ausübung seines Metiers keinen zünftigen Lehrbrief benötigte, könnte das ein auslösendes Moment gewesen sein. Für den Goldschmiedelehrling Tobias Müller dürfte dies aber eher unwahrscheinlich sein - das restliche Lehrgeld hätte ja die Spitalleitung beglichen. Versuchte er als sehr günstige Arbeitskraft - er war ein praktisch ausgelernter Lehrling, der allerdings noch einmal als Lehrling durch einen Meister angestellt werden konnte - , sich außerhalb der Stadt St. Gallen ein berufliches Beziehungsnetzwerk aufzubauen? Hatte er in Bern bessere Aussichten auf eine Anstellung als günstiger Lehrling kurz vor Ende der Lehrzeit, denn als teurerer zünftiger Geselle, der hätte besoldet werden müssen? Hätte Müller letzteres überlegt, wäre sein Kalkül wohl aufgegangen: Er wurde von einem Berner Goldschmied angestellt - trotz oder gerade wegen seines Lehrabbruchs. Ein weiterer Lehrabbrecher war Abraham Huber. Sein Beispiel illustriert die Bedeutung der Konfession, die gerade bei der Berufsbildung in der Region eine Rolle spielte. Die reformierte Stadt St. Gallen besaß ein nur sehr kleines Herrschaftsgebiet von rund vier Quadratkilometern rund um die Stadt, über dieses hinaus war sie vom großen Territorium der Fürstabtei St. Gallen umgeben. Das bedeutete, dass weite Teile der Region katholisch waren. Grundsätzlich wurden reformierte Lernorte bevorzugt. Doch gab es vereinzelt auch Mädchen und Knaben aus der reformierten Stadt, die bei katholischen Lehrmeistern und Arbeitgeberinnen untergebracht wurden. So arbeitete die St. Gallerin Helena Erpf als Dienstmagd beim hochfürstlichen hohenzollerischen Geheimrat Hugo zu Langenargen. 46 Im Zeitalter der Konfessionalisierung verdächtigte die städtische Obrigkeit den St. Galler Fürstabt, reformierte Lehrlinge gezielt zur Konversion zu bringen. Lehrabbrecher waren in den Augen der Stadtobrigkeit besonders leichte Opfer für den Fürstabt. 47 Unter ihnen war Abraham Huber. Er begann als 14-Jähriger eine Handwerkslehre in Biel. Welchen Beruf er erlernen sollte, ist leider unbekannt. In Biel 45 StadtA SG, AA, RP, 21.12.1741. 46 StadtA SG, AA, RP, 10.11.1735 47 StadtA SG, AA, Bd. 864: Protokoll äbtischer Akten, 1681 - 1683, 19.3.1681, S. 17. <?page no="69"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 69 entfloh Abraham allerdings seinem Lehrmeister, worauf er in die Ostschweiz zurückkam und hier bei einem Meisterehepaar in Bischofszell eine Lehre absolvieren sollte. Zuerst musste er jedoch eine zweiwöchige Probezeit absolvieren, die er aber nicht bestand, sodass er daraufhin wieder nach Hause geschickt wurde. Anschließend wurde er zu einem katholischen Handwerkerpaar in Altstätten im St. Galler Rheintal gegeben. In diesem Haushalt machte Abraham offenbar Erfahrungen mit der anderen Konfession. Schon bald ging er in Altstätten zum katholischen Geistlichen und beantragte, seine Konfession ändern zu dürfen - und zwar, weil er anscheinend vernommen hatte, dass er bei seinem Vater durch sein Verhalten in Ungnade gefallen sei. Mit einer Konversion hätte er sich der Obhut seines Vaters entziehen können. Als seine Familie von diesen Plänen erfuhr, wurde Abraham sofort nach St. Gallen zurückgebracht, wo er Reue zeigte. Offenbar fürchtete er sich aber immer noch vor dem Zorn des Vaters: An einem Montagmorgen schlich Abraham von zu Hause weg und ging ins Kloster. Dort begab er sich in den sogenannten Schutz des Fürstabts, den Stadtbürger häufig dann annahmen, wenn sie in der Stadt Probleme hatten (beispielsweise um vor Schuldnern, Lehrmeistern oder wütenden Familienmitgliedern zu fliehen). 48 Der Fürstabt gewährte Schutz - das bedeutete, dass die städtische Obrigkeit keinen Zugriff mehr auf ihre Bürger hatte - allerdings nur unter der Bedingung, dass der Schutzsuchende die Konfession wechselte. Das war wohl ganz in Abrahams Sinne. In der reformierten Stadt wurde jedoch alles versucht, den Knaben aus den Fängen des Fürstabts zu befreien. Mehrmals wurden Boten ins Kloster gesandt, um die Herausgabe des Knaben zu erreichen. Die verzweifelten Eltern und Geschwister lauerten Geistlichen und ihrem Sohn in der Umgebung der Stadt auf, um diesen zur Rückkehr zu bewegen. Man diskutierte auch, ob man wegen der Minderjährigkeit des Knaben einen Prozess gegen das Kloster anstreben wolle. 49 Der Stadtrat vermutete gar eine Strategie der Fürstabtei und fürchtete, daß sie im closter noch mehr burgersknaben anzulocken understanden […]. 50 So wurde dem Rat am 15. Januar 1683 von einem bürgerlichen Weberjungen berichtet, der seinem Lehrmeister davongelaufen und fürstäbtischen Schutz angenommen habe. Man war besorgt, dass dieser von der reformierten Lehre abgefallen sei. Allerdings stellte sich heraus, dass es sich nur um ein falsches Gerücht gehandelt hatte. 51 48 StadtA SG, AA, Bd. 864: Protokoll äbtischer Akten, 1681 - 1683, 19.3.1681, S. 17 - 19. 49 Diskutiert wurde dabei, zu welchem Zeitpunkt die elterliche Gewalt und Vollmacht über das Kind erlosch. Heinrich war zum Zeitpunkt seiner Flucht gerade 15 Jahre alt geworden. Man erkundigte sich deswegen auch bei den evangelischen Orten einer Tagsatzung. Der Fall von Abraham Huber ist in den Protokollen äbtischer Akten und den Ratsprotokollen überliefert: StadtA SG, AA, Bd. 864: Protokoll äbtischer Akten, 1681 - 1683, März 1681 - 30.5.1682, S. 17 - 19, 21 - 24, 95 - 105. 50 StadtA SG, AA, Bd. 864: Protokoll äbtischer Akten, 1681 - 1683, 22.3.1681, S. 18. 51 StadtA SG, AA, Bd. 864: Protokoll äbtischer Akten, 1681 - 1683, 15.1.1683, S. 153f. Solche Vorwürfe des ›Ankaufens‹ oder Abwerbens von Reformierten wurden von Protestanten im <?page no="70"?> N ICOL E S TAD ELMANN 70 Abraham allerdings blieb bei seinem Entscheid. Er wurde zu einem Verwandten nach Wil gesandt, der katholischer Priester am dortigen äbtischen Hof war. Unter dessen Obhut wurde Abraham in seinem Entschluss, die Konfession zu wechseln, bestärkt. 52 Im April 1681 erhielt die Familie Huber die Nachricht von der Konversion ihres Sohnes. Sie wurde von den fürstäbtischen Beamten ins Kloster eingeladen, um den Widerruf Abrahams an der sonntäglichen Messe selbst mitanzuhören. Aufgrund solcher Konversionen protestantischer Kinder wurde es, wenn möglich, vermieden, Jugendliche zur Berufsbildung in katholische Haushalte im Umland zu schicken. 53 7. Von der Stadt aufs Land: Städter lernen bei Landhandwerkern Das nahe, reformierte Umland bot Knaben und Mädchen sowohl zünftige Lehrplätze als auch außerzünftige Ausbildungsmöglichkeiten. Bei jenen Ausbildungswilligen, die für eine zünftige Lehre zu Landhandwerkern in die Region gingen, zeigt sich ein spezifisches Muster: Vor allem Knaben und Mädchen aus ärmeren Familien wurden für zünftige Ausbildungen aufs Land geschickt. Die Ursache dafür waren Finanzierungsprobleme, Kostenersparnisse und steigende Lehrgelder in der Stadt seit Beginn des 18. Jahrhunderts. Eine weitere Voraussetzung war die zunehmende Verzunftung der Landhandwerker im 17. und 18. Jahrhundert. 54 Diese Entwicklungen 17. Jahrhundert auch gegen fürstäbtische Beamte auf der Landschaft erhoben, die Konvertiten mit Geld und anderen Geschenken zum Übertritt bewogen oder sie nach der Konversion damit unterstützten; J OHANNES D UFT , Die Glaubenssorge der Fürstäbte von St. Gallen im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Seelsorgegeschichte der katholischen Restauration als Vorgeschichte des Bistums St. Gallen, Luzern 1944, S. 371f. 52 Ein Brief des Vetters mit einem Postscriptum von Abraham Huber selbst ist überliefert: StadtA SG, AA, Missiven, 9.4.1681. 53 Im Fürstenland wurden die katholischen Untertanen des Fürstabts im 17. Jahrhundert mehrmals vor zu häufigem Verkehr mit Andersgläubigen gewarnt und gefordert, den Kontakt - sofern möglich - zu vermeiden. Die Fürstabtei machte bei ihren Untertanen vor allem wirtschaftliche Abhängigkeit von Protestanten als Ursache für zu häufigen Kontakt oder gar den Abfall vom Katholizismus aus. Seit 1638 waren Pfarrer auf der Landschaft im fürstäbtischen Gebiet verantwortlich, dass katholische Eltern ihre Söhne und Töchter nicht als Dienstboten oder Handwerkslehrlinge in nicht-katholische Orte schickten; J. D UFT , Glaubenssorge (Anm. 51), S. 308 - 313. 54 Vgl. die Forschungen zum Landhandwerk: A. S CZESNY , Zwischen Kontinuität und Wandel (Anm. 12), S. 169 - 176; D IES ., Textilproduktion komplementär: Mischökonomische Verhältnisse und institutionalisierte Interessen am Beispiel eines Weberdorfes (18. Jahrhundert), in: J OCHEN E BERT / W ERNER T ROSSBACH (Hg.), Dörfliche Erwerbs- und Nutzungsorientierungen (Mitte 17. bis Anfang 19. Jahrhundert). Bausteine zu einem überregionalen Vergleich, Kassel 2016, S. 61 - 78; R OLF K IESSLING , Entwicklungstendenzen im ostschwäbischen Textilrevier während der Frühen Neuzeit, in: J OACHIM J AHN / W OLFGANG H ARTUNG (Hg.), <?page no="71"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 71 spiegeln sich vor allem bei jenen Lehrkindern, die von der Stadtobrigkeit finanzielle Unterstützung zur Aufbringung ihres Lehrgeldes erhielten. 55 In St. Gallen waren drei Institutionen für die Auszahlung von Lehrgeldern oder für die Ausbildung bürgerlicher Kinder zuständig: Das Stockamt, das städtische Spital und das Zucht- und Waisenhaus. Das Stockamt war für die Unterstützung armer Bürgerinnen und Bürger verantwortlich und bezahlte deshalb auch Lehrgelder für Bürgersöhne und -töchter. In das städtische Spital wie auch in das Zucht- und Waisenhaus wurden hingegen Waisen oder Kinder von verarmten oder ›liederlichen‹ Eltern auf genommen. Während die Kinder im Zucht- und Waisenhaus eine außerzünftige Ausbildung in der Woll- oder Seidenweberei erhielten, verließen die Spitalkinder bei Ausbildungsreife die Institution, um eine Lehre bei einer Lehrmeisterin oder einem Gewerbe und Handel vor der Industrialisierung. Regionale und überregionale Verflechtungen im 17. und 18. Jahrhundert (Regio historica 1), Sigmaringendorf 1991, S. 27 - 48; R OLF K IESSLING , Oberschwaben - eine offene Gewerbelandschaft. Wirtschaftliche Entwicklung und ›Republikanismus‹, in: P ETER B LICKLE (Hg.), Verborgene republikanische Traditionen in Oberschwaben (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 4), Tübingen 1998, S. 25 - 55; H ANS M EDICK , Weben und Überleben in Laichingen 1650 - 1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126), Göttingen 1996; L INA H ÖRL , Handwerk in Bamberg. Strukturen, Praktiken und Interaktionen in Stadt und Hochstift Bamberg (1650 - 1800) (Stadt und Region in der Vormoderne 2), Würzburg 2015, S. 53, 94f., 113, 120f.; H ANS -J OACHIM S CHUSTER , Landhandwerk und -gewerbe im nördlichen Hegau. Gliederung, Organisation und soziodemographische Bedeutung gewerblicher Betätigung in der frühen Neuzeit, in: H ORST R ABE / F RANK G ÖTTMANN / J ÖRN S IEGLER - SCHMIDT (Hg.), Vermischtes zur neueren Sozial-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraumes. Horst Rabe zum Sechzigsten, Konstanz 1990 (Hegau-Bibliothek 72), S. 215 - 231, hier 224; K ATRIN K ELLER , Kleinstädte in Kursachsen. Wandlungen einer Städtelandschaft zwischen Dreißigjährigem Krieg und Industrialisierung (Städteforschung 55), Köln u. a. 2001, S. 80, 161 - 163. 55 Da es sich bei den mündlich oder schriftlich geschlossenen Lehrkontrakten um private Vereinbarungen zwischen dem Lehrmeister und der Familie des Lehrknaben oder -mädchens handelte, sind nur wenige Hinweise zu Modalitäten zünftiger Berufsbildung erhalten. Häufig wurden Lehrverträge mündlich abgeschlossen. Zu den wichtigsten Inhalten zählte die Festsetzung des Lehrgelds; A. K LUGE , Die Zünfte (Anm. 20), S. 154. Im frühmodernen Italien wurde die Ausbildungs- und Lehrlingszeit in nur 40 Prozent der 1.132 untersuchten Zunftsatzungen erwähnt. Die Lehrzeit blieb größtenteils informell geregelt; E LEONORA C ANEPARI , Working for someone else. Adult Apprentices and dependent work (Rome, 17th to early 18th century), in: E VA J ULLIEN / M ICHEL P AULY (Hg.), Craftsmen and Guilds in the Medieval and Early Modern Periods (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 235), Stuttgart 2016, S. 261 - 275, hier 267. Die im Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen zum Thema vorhandene Quellenüberlieferung erstreckt sich vor allem auf jene Fälle, in der obrigkeitliche Unterstützung in Anspruch genommen wurde. <?page no="72"?> N ICOL E S TAD ELMANN 72 Lehrmeister anzutreten. Die folgenden Ausführungen beziehen sich deshalb vorwiegend auf das städtische Stockamt, das Lehrgelder auszahlte, oder auf das Spital. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts lassen sich an den städtisch bezahlten Lehrgeldern zwei Entwicklungen ablesen. Einerseits wuchs die Anzahl jener Kinder, die auf städtische Unterstützung angewiesen waren. Andererseits reichte der für die Lehre bei einem Lehrmeister in der Stadt vorgesehene städtische finanzielle Beitrag gegen Ende des 17. Jahrhunderts zur Bezahlung eines städtischen Lehrmeisters nicht mehr aus. Damit wurde das Land immer mehr zum Ausbildungsort für ärmere Handwerkskinder aus der Stadt. Bis ins Jahr 1690 zahlte das Stockamt Lehrgelder zwischen 15 und 40 Gulden aus, und bis dahin durften die Knaben jene Handwerke lernen, wozu einjeder lust hat. 56 Im Jahr 1680 bezahlte das Stockamt beispielsweise 25 Gulden für eine Weber-, Schneider- oder Müllerlehre, 30 Gulden für einen Schneider- und Blattmacherlehrling und 40 Gulden für eine Schuhmacherlehre. 57 Hier zeigt sich wiederum, dass die Erlernung desselben Handwerks je nach Lehrmeister unterschiedlich teuer sein konnte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde das Stockamt - die für St. Gallen krisenhaften Hungerjahre der 1690er-Jahre lagen dazwischen - immer stärker mit Ausgaben für Lehrgelder belastet. Gleichzeitig verlangten die städtischen Lehrmeister offenbar ein immer höheres Entgelt. Und so erhielt der Spitalmeister im Sommer 1690 vom städtischen Rat einen Erlass, wonach er den Lehrjungen für eine Lehre maximal 25 Gulden ausbezahlen durfte. Aufgrund der damaligen Teuerung war allerdings kein städtischer Lehrmeister bereit, einen Lehrling für ein solchen Betrag bei sich aufzunehmen - und dies, obwohl man den Lehrmeistern mit einer Verlängerung der Lehrzeit entgegengekommen wäre. Sie hätten damit die Arbeitskraft eines ausgebildeten Lehrlings ein Jahr länger umsonst nutzen können. Dies zeigt, dass das Lehrgeld für Meister vor allem in der Bezahlung von Kost und Logis bestand. Die Spitalleitung beschloss daraufhin, die städtischen Meister mit dem Hinweis unter Druck zu setzen, dass die Knaben ansonsten bei reformierten Meistern in der Region untergebracht würden. 58 Offenbar setzte die Stadtobrigkeit das Vorhaben, nicht mehr als 25 Gulden für eine Ausbildungsplatz auszugeben, in die Tat um: Parallel dazu ist in den Rechnungsbüchern des Stockamtes seit dem Jahr 1700 nämlich festzustellen, dass für zünftige 56 Vgl. den entsprechenden Eintrag vom 27.3.1621 dazu im Verzeichnis StadtA SG, SpA, W, 4: Realregister zu den Protokollen der Ausser- und Innermeister, unter ›Handwerks - Sachen‹. 57 StadtA SG ÄA, VII, 135: Einnahmen und Ausgaben des Stockamts, 1680 - 1681, S. 40 - 42. 58 StadtA SG, SpA, W, 19: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1686 - 1694, 25.6.1690. Immerhin wurde dem Spitalmeister kurz nach diesem Bescheid gestattet, den Frauen der Lehrmeister wenigstens ein zusätzliches Trinkgeld geben zu dürfen; ebd., 6.8.1690. <?page no="73"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 73 Lehren nur noch Beträge in der Höhe von 25 Gulden ausbezahlt wurden - unabhängig davon, wie teuer die Ausbildung beim entsprechenden Lehrmeister tatsächlich war. 59 Ab dem Jahr 1709 gibt es erste Hinweise, dass Knaben mit den ihnen von der Stadt zur Verfügung gestellten 25 Gulden keinen städtischen Lehrmeister mehr zu finden vermochten - auch nicht mehr in den günstiger erlernbaren Handwerken der Weber, Schneider, Schuhmacher, Hafner, Knopfmacher, Müller, Seiler oder Tischler. 60 Zunächst hielt die Obrigkeit am bisherigen Prinzip fest: Mit den städtischen Unterstützungsgeldern sollten nicht nur Bürgersöhne, sondern auch in der Stadt verbürgerte Lehrmeister unterstützt werden - die Ausbildung in der Fremde mit städtischem Geld wurde für Knaben vorderhand unterbunden. So wollte Balthasar Müller 1709 seine Schuhmacherlehre bei Georg Pfifferling in Lindau absolvieren und bat deshalb um die Auszahlung der 25 Gulden Lehrgeld. Ihm wurde beschieden, dass ihm die Unterstützung für Lindau nur ausbezahlt werde, falls er keinen St. Galler Lehrmeister finden würde. 61 In diesem Fall existiert keine weitere Quellenüberlieferung, doch noch 1715 und 1716 wurden Gesuche für eine Schuhmacherlehre in Winterthur und eine Messerschmiedelehre in Genf abgewiesen mit dem Hinweis, dass die Knaben St. Galler Lehrmeister suchen sollten. 62 Die Anträge vor dem St. Galler Rat um die Verwendung der Lehrgelder für auswärtige Lehren in der Region nahmen allerdings laufend zu. Ulrich Giller, Sohn eines Webers und Maurers, wurde vermutlich als erstem St. Galler Auszubildenden gestattet, eine Schuhmacherlehre im ländlichen Birnenmoos im heutigen Kanton Thurgau zu beginnen. Am 20. April 1721 hatte er zunächst noch einen ablehnenden Bescheid erhalten, da sein Gesuch gegen die Ordnung - also das bürgerliche Prinzip - verstoße. Falls er allerdings innerhalb von vier bis fünf Wochen keinen bürgerlichen Meister fände, dem ein Lehrgeld von 25 Gulden reiche, könne er seine Lehre in Birnenmoos antreten. 63 Entweder bemühte sich Ulrich Giller länger als angewiesen um einen hiesigen 59 Vgl. die Ausgaben für Lehrknaben in StadtA SG, ÄA, VII, 156: Stockamts-Rechnung, 1700 - 1701. 60 Das waren jene Handwerke, die von Lehrknaben, die auf städtische Unterstützung angewiesen waren, am meisten gewählt wurden. Diese Auswahl wird anhand der Stockamtsrechnungen der Jahre 1680 und 1700 deutlich; vgl. StadtA SG, ÄA, VII, 135: Einnahmen und Ausgaben des Stockamts, 1680 - 1681, und StadtA SG, ÄA, VII, 156: Stockamts-Rechnung, 1700 - 1701. Einige Handwerke, die besonders häufig von ärmeren Knaben gewählt wurden, sind darunter nicht vertreten, weil für deren Erlernung aus unterschiedlichen Gründen kein Lehrgeld entrichtet werden musste. Dazu zählten unter anderem die Maurer, Dachdecker und Leinenfärber. Gerade das Maurerhandwerk wuchs zwischen 1680 und 1730 überproportional an - was mit den fehlenden Lehrgeldern zusammenhängen könnte. 61 StadtA SG, AA, RP, 17.1.1709. 62 StadtA SG, AA, RP, 25.1.1715, 8.3.1716. 63 StadtA SG, AA, RP, 20.4.1721. <?page no="74"?> N ICOL E S TAD ELMANN 74 Lehrmeister oder der Meister aus Birnenmoos hatte in der Zwischenzeit einen anderen Lehrling angenommen. Auf jeden Fall trat Giller fast auf den Tag genau ein Jahr später wieder vor den Rat mit der erneuten Bitte um Bewilligung der Lehre in Birnenmoos. Der Rat nahm auf das letztjährige Urteil Bezug und bezahlte - vermutlich erstmals - ein Lehrgeld für einen bedürftigen Knaben bei einem zünftigen Landhandwerker. 64 In der Folge gingen immer häufiger städtisch bezahlte Lehrgelder an Meister außerhalb der Stadt. Wagner-, Schreiner-, Schneider-, Müller- und Schuhmacherlehren wurden im Umland der Stadt - in Thal, Hauptwil, Frastanz oder Bürglen - angetreten. 65 Die Obrigkeit hatte das Prinzip der Förderung von Stadtbürgern aufgeben müssen: Es war für die meisten städtischen Meister definitiv nicht mehr rentabel, einen Lehrling für 25 Gulden während vier Jahren auszubilden und im eigenen Haushalt zu versorgen. So begründete die Mutter von Conrad Dieth im Jahr 1728 ihre Bitte um Auszahlung eines Lehrgeld in der Höhe von 25 Gulden zugunsten ihres Sohnes für eine zünftige Schreinerlehre in Thal damit, dass sie in St. Gallen keinen Lehrmeister gefunden habe, der ihren Sohn für weniger als 50 Gulden in die Lehre genommen hätte. 66 Offenbar wählten auch St. Galler Bürgersöhne, die nicht auf städtische Unterstützung angewiesen waren, zünftige Landhandwerker in der Region zu ihren Lehrmeistern - wie zwei für St. Galler Bürger ausgestellte Lehrbriefe zeigen, die beim Kupferschmiedemeister Adrian Höchner aus Rheineck in die Lehre gegangen waren. 67 Doch auch für Lehren in der Region reichten die von der Stadt zur Verfügung gestellten 25 Gulden nicht immer. Laurenz Hochrütiner beispielsweise konnte in Lindau das teure Glaserhandwerk lernen, das 1728 50 Gulden kostete - die Hälfte der Lehrkosten wurde also privat gedeckt. 68 Die höheren Kosten für eine Glaserlehre sind einerseits damit erklärbar, dass es sich bei den Glasern um ein sogenanntes geschenktes Handwerk mit weiten Wanderradien der Gesellen handelte, und andererseits damit, dass die Lehrknaben für die Meister aufgrund der vielen Glasbrüche während der Ausbildung eher eine finanzielle Belastung denn eine nützliche Arbeitskraft waren. So jedenfalls begründeten die St. Galler Glasermeister im Jahr 1691 ihren Beschluss, minimale Lehrlöhne festzulegen. 69 Für Laurenz Hochrütiner wäre eine Glaserlehre in St. Gallen wohl nicht erschwinglich gewesen, denn hier hätte er 64 StadtA SG, AA, RP, 26.4.1722. 65 Vgl. z. B. StadtASG, AA, RP, 13.8.1723, 26.11.1723, 13.7.1724, 23.3.1728, 2.11.1728, 21.6.1729, 30.9.1732, 6.2.1734, 21.8.1736, 20.3.1738, 24.2.1840, 27.4.1741, 27.8.1743. 66 StadtA SG, AA, RP, 23.3.1728. 67 StA St. Gallen, CEA/ X-V.12 und CEA/ X V. 19. Hinweise zu handwerklichen Ausbildungen, die ohne städtische Unterstützung vereinbart wurden, finden sich aufgrund des privaten Charakters in der archivalischen Überlieferung nur selten. 68 StadtA SG, AA, RP, 2.11.1728. 69 StadtA SG, AA, Bd. 594o: Artikel, Ordnungen und Statuten des Glaserhandwerks 1682 - 1777, fol. 31r - 32v. <?page no="75"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 75 bereits 1691 für eine dreijährige Lehre mindestens 156 Gulden und für eine vierjährige Lehre mindestens 88 Gulden aufbringen müssen. Wäre er bei seinen Eltern wohnen geblieben und nicht zum Lehrmeister gezogen, wären immer noch mindestens 73 Gulden zu bezahlen gewesen. 70 Da war die Lehre in Lindau mit 50 Gulden wesentlich günstiger. Auch Hans Conrad Stäheli profitierte vermutlich von günstigeren Konditionen in Lindau. Er erhielt 25 Gulden Lehrlohn von der Stadt für seine Steinmetzlehre beim Lindauer Meister Friedrich Kitt, die insgesamt 75 Gulden kostete. 71 Auch ärmere Töchter wurden von der Obrigkeit mit dem dazu notwendigen Lehrgeld aus dem Stockamt unterstützt. Es betrug für Näherinnen acht Gulden - das heißt, es entsprach ungefähr einem Drittel des Lehrgeldes, das die Knaben erhielten. Analog wie bei den Knaben waren Kostenersparnisse auch bei Mädchen ausschlaggebend dafür, ihre zünftige Lehre zur Näherin in der ländlichen Umgebung zu absolvieren. Dort sahen sie sich allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass sie in der ländlichen Umgebung nur pauren kleider herzustellen lernten. 72 Hier öffnet sich ein Blick auf die Inhalte der handwerklichen Ausbildung: Je nach Milieu des Lehrbetriebs changierten die Aufträge und die Nachfrage der Kunden nach spezifischen Produkten. Auf dem Land wurde für die ländlich-bäuerliche Kundschaft produziert, während in der Stadt andere Produkte nachgefragt wurden. Für städtische Lehrtöchter und -knaben konnte diese unterschiedliche Ausrichtung zu einem Problem werden, wenn sie nach ihrer Ausbildung wieder zurück in die Stadt kamen. Jene Mädchen, die auf dem Land die Näherei lernten, versuchten dieses Problem kreativ zu lösen: Die Lehrtöchter nahmen häufig einfach Arbeiten aus der Stadt mit zu ihren Lehrmeisterinnen, da sie hiesige (also st. gallische) mode und stadtarbeith zulehrnen trachten. 73 Auf dem Land flickten die Lehrtöchter dementsprechend viele alte Stadtkleider und produzierten neue Waren in einem solchen Ausmaß, dass sie zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für die städtischen Schneider wurden. 74 Die zünftigen Schneidermeister St. Gallens klagten denn auch 1740, dass ihnen die städtischen Lehrtöchter auf dem Land auf diese Weise rund einen Drittel ihrer Arbeit entziehen würden. In der Folge wurde den Mädchen verboten, außerhalb der Stadt eine zünftige Lehre zur Näherin zu absolvieren. 75 Bis dahin war dies offenbar - gerade für ärmere Handwerkertöchter - gang und gäbe gewesen. 70 StadtA SG, AA, Bd. 594o: Artikel, Ordnungen und Statuten des Glaserhandwerks 1682 - 1777, fol. 31r - 32v. Die minimalen Lehrlöhne der Glaser sind in Dukaten festgehalten. Umgerechnet wurden sie gemäß den Angaben in U LRICH S TAIGER , Nützliches Rechenbüchlein von allerhand schönen Fragen und Aufgaben so täglich in Kauf-, Wechsel- und Handelssachen fürfallen, St. Gallen, 1701, ETH-Bibliothek Zürich, Rar 5398, S. 156 und 141. 71 StadtA SG, AA, RP, 28.7.1735. 72 StadtA SG, AA, VP, 28.10.1740. 73 StadtA SG, AA, VP, 28.10.1740; StadtA SG, AA, RP, 2.12.1740. 74 StadtA SG, AA, RP, 23.6.1715. 75 StadtA SG, AA, VP, 28.10.1740; StadtA SG, AA, RP, 2.12.1740. <?page no="76"?> N ICOL E S TAD ELMANN 76 Trotz städtischer Unterstützung gelang die Unterbringung bei einem zünftigen Lehrmeister nicht immer. In solchen Fällen wurde auf eine außerzünftige Ausbildung ausgewichen. Im Jahr 1713 sahen sich die Außermeister des Spitals beispielsweise vor das Problem gestellt, dass für etliche große buoben, die wegen ihrer stärckhe und alters solten zum handtwerckh gethan werden, aufgrund des niedrigen verfügbaren Lehrgelds von 25 Gulden keine Lehrmeister zu finden waren. 76 Man beschloss, noch eine Weile abzuwarten in der Hoffnung, dass sich die Zeiten wieder bessern würden. In der Zwischenzeit wollte man beim Zuchtmeister nachfragen, ob er diese Knaben für die außerzünftige Seidenarbeit gebrauchen könne. 77 Nicht alle St. Galler Knaben hatte also die Möglichkeit, eine zünftige Lehre in Angriff zu nehmen. Einige Söhne zogen darum ohne Berufsbildung direkt in Kriegsdienste. 78 Grundsätzlich war in der Zunftstadt St. Gallen für Knaben von Stadtbürgern eine zünftige Lehre vorgesehen. Die Stadt versuchte, bedürftige Bürgersöhne finanziell zu unterstützen, damit dieses Ziel erreicht wurde. Doch nicht immer führte eine zünftige Lehre auch zur Annahme einer zünftigen Meisterstelle. Je nach Handwerk, Situation des Lehrlings und Angeboten auf dem Arbeitsmarkt wurden zünftige Lehren früher beendet oder abgebrochen oder es wurde nach dem Abschluss der zünftigen Ausbildung keine zünftige Mitgliedschaft und kein Meisterrecht erworben. Der groβe auβerzünftige Arbeitsmarkt bot neben der Zunftwirtschaft vielfältige Ver dienstmöglichkeiten. Auch Mädchen wurden handwerklich ausgebildet. Bei ihnen war nicht zwingend eine zünftige Lehre angedacht, die Möglichkeit existierte aber bei einigen Berufen wie den Näherinnen und den Strumpfstrickern. Auch im väterlichen (Zunft-)Handwerk wurden sie häufig unterrichtet, sodass ledige Töchter oftmals in der elterlichen Werkstatt mithalfen oder diese teilweise selbstständig weiterführen konnten - wie etwa bei den Schneidern. Gerade Mädchen erlernten häufig ein auβerzünftiges Handwerk, beispielsweise im Bereich der Seidenverarbeitung, und gelangten aus diesem Grund oftmals früher als Knaben in den Arbeitsmarkt, wo sie mit Lohnarbeit einen eigenen Verdienst erzielten. Bei der Berufswahl spielten sowohl bei Knaben als Mädchen die finanziellen Möglichkeiten der Eltern eine bedeutende Rolle. Aus Kostengründen wurden denn auch ab dem Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert vermehrt Knaben und Mädchen zur Ausbildung in die Region gesandt. Zünftige Lehrmeister und Lehrmeisterinnen auf dem Land waren vielfach günstiger als jene in der Stadt. Eine Rolle bei der Wahl des Ausbildungsorts spielte schlieβlich die Konfession. Sie war ein wichtiges Kriterium, allerdings - wie gesehen 76 StadtA SG, SpA, W, 21: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1704 - 1722, 22.6.1713. 77 StadtA SG, SpA, W, 21: Protokolle der Ausser- und Innermeister, 1704 - 1722, 22.6.1713. 78 So etwa einer der Söhne des Ehepaars Hildbrand-Studer. Vgl. dazu N. S TADELMANN , Mobile Ökonomien (Anm. 3), Kapitel › Flexibel und hochmobil: Die pluriaktive Familie Hildbrand-Studer ‹ . <?page no="77"?> E S IS T NO C H KEIN M EIS TE R VOM H IMM EL GE FALL EN 77 - kein absoluter Hinderungsgrund: Es gab Stadtsanktgaller und Stadtsanktgallerinnen, die Teile ihrer Ausbildung in katholischen Haushalten absolvierten. Die handwerklichen Ausbildungsmöglichkeiten in der Zunftstadt St.Gallen waren vielfältig und verliefen und endeten nicht immer innerhalb der Zunftwirtschaft. <?page no="79"?> 79 L OTHAR S CHILLING Periodika als Medien der Vermittlung ökonomischen Wissens im südlichen Reich im 18. Jahrhundert Das 18. Jahrhundert war - dies bemerkten bereits Zeitgenossen - ein eminent »pädagogisches Jahrhundert« 1 . Maßgeblich verantwortlich dafür war die Aufklärungsbewegung, deren Anhänger ungeachtet aller inhaltlichen Differenzen fast ausnahmslos darin übereinstimmten, dass die Aufklärung den Alltag und die Lebenspraxis möglichst aller Menschen erreichen und verbessern müsse 2 - und dass alle Menschen gleichermaßen mit Verstand begabt und somit »bildbar« seien. 3 Die Aufklärungsbewegung hat bekanntlich nicht nur zahlreiche Initiativen zur Verbesserung der schulischen Bildung hervorgebracht (und die Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin grundgelegt), sondern allgemein der Vermittlung und Popularisierung von Wissen - auch und gerade gegenüber Erwachsenen - große Aufmerksamkeit und Energie gewidmet. Im Mittelpunkt dieser Vermittlungsbestrebungen standen unübersehbar Fragen der Lebensführung und des Wirtschaftens - in der Sprache der Zeit: der Ökonomie. 4 1 Die Formulierung wird in der Regel Joachim Heinrich Campe zugeschrieben; sie wurde schon vielfach aufgegriffen, zeitgenössisch etwa von J OHANN G OTTLIEB S CHUMMEL , Spitzbart - eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert, Tübingen 1779, bzw. in der bildungshistorischen Literatur; vgl. etwa U LRICH H ERRMANN (Hg.), Das pädagogische Jahrhundert. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland (Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens in Deutschland 1), Weinheim-Basel 1981; B ARBARA S TOLLBERG -R ILINGER , Politische und soziale Physiognomie des aufgeklärten Zeitalters, in: N OTKER H AMMERSTEIN / U LRICH H ERRMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 1 - 32, hier 1. 2 Vgl. B. S TOLLBERG -R ILINGER , Politische und soziale Physiognomie (Anm. 1), S. 1f. 3 Vgl. etwa - mit zahlreichen Verweisen - W OLFGANG N EUGEBAUER , Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen, Berlin-New York 1985, S. 60. 4 Vgl. H OLGER B ÖNING / R EINHART S IEGERT , Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, 3 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1990 - 2015; H OLGER B ÖNING u. a. (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007; H ANNO S CHMITT u. a. (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung, Bremen 2011; H EIDRUN A LZHEIMER - H ALLER , Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780 - 1848, Berlin-New York 2004; H ANNO S CHMITT u. a. (Hg.), Ueber das Lesen der ökonomischen <?page no="80"?> L OT HA R S CHILLING 80 Ihren Niederschlag fanden sie nicht zuletzt in einer stark anwachsenden Druckproduktion, darunter einer Vielzahl periodischer Schriften. 5 Ökonomische Themen behandelnde Periodika der Aufklärungszeit sind bis heute - ungeachtet des bahnbrechenden biobibliographischen Handbuchs von Böning und Siegert - für den süddeutschen Raum erst ansatzweise erforscht. Der vorliegende Beitrag kann somit nicht mehr bieten als einen ersten, groben Überblick. Ausgehend von einem knappen Versuch, das Feld ökonomischen Wissens im 18. Jahrhundert abzustecken (1), soll zunächst dessen Behandlung in Periodika in quantitativer Hinsicht beleuchtet werden (2). Anschließend werden typische Gattungen und Inhalte exemplarisch vorgestellt (3), ehe abschließend der Austausch ökonomischen Wissens in den Blick genommen wird (4). 1. Was bedeutet ökonomisches Wissen im 18. Jahrhundert? Der Begriff › Oeconomie ‹ geht bekanntlich auf die praktische Philosophie des Aristoteles zurück, die im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit die Vorstellungen und Konzepte der gebildeten Eliten von menschlicher Soziabilität entscheidend prägte. 6 In diesem Kontext bezeichnete der Begriff die gute Führung eines › oikos ‹ , einer (als weitgehend eigenständige Wirtschaftseinheit verstandenen) großen Hauswirtschaft. Ihren charakteristischsten Ausdruck fand die Bearbeitung Schriften und andere Texte vom Höhepunkt der Volksaufklärung (1781 - 1800) (Volksaufklärung 12/ Philanthropismus und populäre Aufklärung 3), Bremen 2010; G ERRENDINA G ERBER - V ISSER , Volksaufklärung im Gespräch. Fiktive Dialoge in volksaufklärerischen Publikationen der Oekonomischen Gesellschaft Bern bis 1850, in: R EINHART S IEGERT (Hg.), Volksbildung durch Lesestoffe im 18. und 19. Jahrhundert. Voraussetzungen - Medien - Topographie. Educating the People through Reading Material in the 18 th and 19 th Centuries. Principles - Media - Topography, Bremen 2012, S. 189 - 206; V ERENA L EHMBROCK , Der denkende Landwirt. Agrarwissen und Aufklärung in Deutschland 1750 - 1820 (Norm und Struktur 50), Wien u. a. 2020. 5 Vgl. H OLGER B ÖNING , Die Bedeutung von Periodika, insbesondere von Intelligenzblättern, für die Verbreitung der Aufklärung, in: C LAUDIA B RINKER - VON DER H EYDE / J ÜRGEN W OLF (Hg.), Repräsentation, Wissen, Öffentlichkeit. Bibliotheken zwischen Barock und Aufklärung. Bad Arolsen, 30. September bis 1. Oktober 2010, Kassel 2010, S. 37 - 45. 6 Vgl. - noch immer grundlegend - J OHANNES B URKHARDT / O TTO G. O EXLE / P ETER S PAHN , Art. Wirtschaft, in: O TTO B RUNNER / W ERNER C ONZE / R EINHART K OSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 511 - 594, hier insbesondere die von J. Burkhardt verfassten Abschnitte IV - VIII (S. 550 - 592). <?page no="81"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 81 dieses Wissensfelds in der › Hausväterliteratur ‹ . 7 Im Mittelpunkt standen hier nicht Marktorientierung und Gewinn, sondern die Sicherung standesgemäßer Nahrung und eines › guten Lebens ‹ , was meist auch die Aufsicht des Haushaltsvorstands über das moralisch einwandfreie Verhalten der Mitglieder der Hausgemeinschaft einschloss. Abweichend von den Lehren des Aristoteles wurden die mit Blick auf die Hauswirtschaft entwickelten Vorstellungen seit dem Spätmittelalter zunehmend auf Landesherrschaften übertragen. 8 Mit der Hinwendung von Herrschaft und Politik zur Ökonomie ging von etwa 1700 an eine Dynamisierung der Perspektive einher. Ökonomie wurde nun als Gegenstand von › Verbesserung ‹ , Steuerung und Reform verstanden. Diese Perspektive stand für die Ökonomische Aufklärungsbewegung wie auch für die aus ihr hervorgegangene Volksaufklärung im Vordergrund. 9 Die Themen und Gegenstände, die der Ökonomie zugeordnet wurden, waren breit gefächert - und entsprechend vielfältig war, was Zeitgenossen unter ökonomischem Wissen verstanden, von Fragen der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktion über die Berechnung von Pachtgebühren bis hin zu Problemen der Verwaltung des Staates. 10 Der Begriff wurde auf ganz unterschiedlichen Skalen 7 Vgl. zur Gattung G OTTHARDT F RÜHSORGE , Die Begründung der › väterlichen Gesellschaft ‹ in der europäischen oeconomia christiana. Zur Rolle des Vaters in der › Hausväterliteratur ‹ des 16. bis 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: H UBERTUS T ELLENBACH (Hg.), Das Vaterbild im Abendland, Bd. 1, Stuttgart u. a. 1978, S. 110 - 123; P AUL M ÜNCH , Hausväterliteratur, in: H ARALD F RICKE (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin-New York 2000, S. 14 - 17; A LEXANDER S PERL , Hausväterliteratur, in: J OSEF P AUSER u. a. (Hg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16. - 18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien-München 2004, S. 427 - 434; zur historiographischen Überhöhung des in dieser Gattung entwickelten Ideals des › ganzen Hauses ‹ zuletzt P HILIP H AHN , Trends der deutschsprachigen historischen Forschung nach 1945. Vom › ganzen Haus ‹ zum › offenen Haus ‹ , in: J OACHIM E IBACH / I NKEN S CHMIDT -V OGES (Hg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, Berlin 2015, S. 47 - 64. 8 Vgl. P AUL M ÜNCH , Die › Obrigkeit im Vaterstand ‹ . Zu Definition und Kritik des › Landesvaters ‹ während der Frühen Neuzeit, in: E LGER B LÜHM u. a. (Hg.), Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts (Daphnis 11,1), Amsterdam 1982, S. 15 - 40; M ICHEL F OUCAULT , La gouvernementalité [1978], zuletzt in: D ERS ., Dits et écrits 1954 - 1988, Bd. 3, Paris 1994, S. 635 - 657. 9 Vgl. M ARCUS P OPPLOW , Die Ökonomische Aufklärung als Innovationskultur des 18. Jahrhunderts zur optimierten Nutzung natürlicher Ressourcen, in: D ERS . (Hg.), Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Regionale Fallstudien zu landwirtschaftlichen und gewerblichen Themen in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 30), Münster-New York 2010, S. 2 - 48; zur › Volksaufklärung ‹ vgl. Anm. 4. 10 Vgl. zum Folgenden demnächst im Einzelnen L OTHAR S CHILLING , Die Ökonomie der Ökonomischen Aufklärer, in: M ARK H ÄBERLEIN / A NDREAS F LURSCHÜTZ D A C RUZ (Hg.), <?page no="82"?> L OT HA R S CHILLING 82 gebraucht. Er bezeichnete Wissen und wissensgestützte Verbesserungen auf der Ebene der Hauswirtschaft (einschließlich der Gesundheitsfürsorge) ebenso wie in der einzelnen Landwirtschaft, etwa durch neue Anbaumethoden; auf Gemeindeebene, etwa durch Aufhebung von Brache und kollektiven Weiderechten; schließlich auf der Ebene der › Landesökonomie ‹ durch Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Ansiedlung von Manufakturen oder administrative Reformen. Er erfasste zudem vielfältige Bestrebungen, › nützliches ‹ Wissen aus den Bereichen der Medizin, der Geologie, der Naturkunde, der › Technologie ‹ und der Landwirtschaft zu verbreiten. Die Skalierbarkeit, semantische Offenheit und vielfältige Konkretisierbarkeit des Ökonomie-Begriffs trugen zu seinem › Erfolg ‹ bei. Er vermochte vielartige Bestrebungen und Hoffnungen zu bündeln - seine Unschärfe könnte dabei sogar maßgeblich zu seiner breiten Resonanz beigetragen haben. Bei aller semantischen Breite wurden Konsum, Handel und Marktbeziehungen, für unser heutiges Verständnis zentrale Gegenstände des Ökonomiebegriffs, im deutschsprachigen Ökonomie-Diskurs des 18. Jahrhunderts lediglich am Rande in den Blick genommen. In dessen Zentrum stand weiterhin die zu steigernde Produktion - und zwar auch über das Erscheinen von Adam Smiths › Wealth of Nations ‹ im Jahr 1776 hinaus. Mit Blick auf Westeuropa und zumal Großbritannien würde der Befund anders ausfallen. Im deutschen Sprachraum indes wurde ökonomisches Wissen auch noch in der Aufklärungszeit sehr traditionell verstanden - als Feld, das einerseits - über unser heutiges Begriffsverständnis hinaus - medizinisches, naturkundliches und › technologisches ‹ Wissen einschloss, zugleich aber mit dem Markt und der Preisbildung jenen Bereich, der mit der von Smith geprägten › klassischen ‹ Nationalökonomie ins Zentrum der Betrachtung und Analyse des Wirtschaftslebens rückte, nur am Rande berücksichtigte. 11 2. Ökonomisches Wissen in Periodika des 18. Jahrhunderts Auf kaum einem anderen Wissensfeld dürfte das Anwachsen der aufklärerischpopularisierenden Druckproduktion so signifikant ausgefallen sein wie auf dem Feld der Ökonomie. Ein Blick in Bibliothekskataloge genügt, um zu erkennen, dass im 18. Jahrhundert und zumal in dessen zweiter Hälfte kaum ein Themenfeld einen Die Sprachen der Frühen Neuzeit. Beiträge der 14. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands vom 22. - 24. September 2022, im Druck (Köln u. a. 2024). 11 Aus Gründen der Lesbarkeit wird dennoch darauf verzichtet, die vom heutigen Gebrauch abweichende Semantik des Ökonomie-Begriffs in den hier untersuchten Quellen durch Anführungszeichen zu markieren. <?page no="83"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 83 solchen Zuwachs an öffentlicher Aufmerksamkeit erfahren hat wie jenes der Ökonomie. Sucht man etwa im VD 16, VD 17 und VD 18 nach einschlägigen Zeichenketten in den Titeln der dort erfassten Werke (»ökon*« sowie »wirtsch*« in ihren verschiedenen Schreibungen), werden für das 16. Jahrhundert 270 und für das 17. Jahrhundert 849 Titel ausgewiesen, für das 18. Jahrhundert hingegen 5.253, davon 4.030 für dessen zweite Hälfte. 12 Befragt man für die Periodika die Zeitschriftendatenbank ZDB, ergibt die Anfrage mit den vorgenannten Zeichenketten nach Aussonderung von Doubletten 322 Treffer. 13 Die sich im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massiv verstärkende Präsenz ökonomischer Themen in Druckwerken fand freilich nicht nur in Titelstichworten ihren Niederschlag, sondern auch in den Inhalten von Publikationen, die nicht mit einschlägigen Titeln versehen waren. Dies gilt besonders für Intelligenzblätter. 14 Obschon deren Titel nur in Einzelfällen explizit den Begriff Ökonomie erwähnten, 15 enthielten sie sämtlich zumindest Kauf- und Verkaufsanzeigen sowie Angaben über Preise und Tarife von Gütern und Dienstleistungen, stellten also 12 Selbst wenn man bedenkt, dass die Grundgesamtheit der in den drei Katalogen verzeichneten Titel variiert - 106.000 für den VD 16 (https: / / www.gateway-bayern.de/ TouchPoint_ touchpoint/ start.do? SearchProfile=Altbestand&SearchType=2, aufgerufen am 20.9.2022), 310.000 für den VD 17 (https: / / kxp.k10plus.de/ DB=1.28/ ADVANCED_SEARCH FILTER, aufgerufen am 20.9.2022) sowie knapp 280.000 sowie 3.500 Periodika für den VD 18 (https: / / kxp.k10plus.de/ DB=1.65/ ADVANCED_SEARCHFILTER, aufgerufen am 20.9.2022) - und Verzeichnungsgrundsätze wie auch orthographische › Toleranz ‹ der Suchmaschinen voneinander abweichen, ist der Befund eindeutig. Vgl. zur sprunghaften Zunahme › landwirtschaftlicher ‹ Themen in französischsprachigen Publikationen um die Mitte des 18. Jahrhunderts G ILLES D ENIS , Agriculture, esprit du temps et mouvement des Lumières, in: Histoire & Sociétés Rurales 48 (2017), S. 93 - 136. 13 https: / / zdb-katalog.de/ index.xhtml (aufgerufen am 15.11.2022). Es sei ausdrücklich betont, dass die hier vorgestellten Zahlen lediglich der ersten Orientierung dienen können. Zu bedenken ist etwa, dass durchaus nicht alle Periodika in der ZDB erfasst sein dürften, dass sie extrem kurzlebigen Periodika dasselbe Gewicht beimessen wie jahrzehntelang erscheinenden Titeln, dass oftmals umstritten ist, ob bei Änderung des Titels bzw. des Herausgebers von einer Fortsetzung oder einer Neugründung auszugehen ist, dass divergierende Titelaufnahme immer wieder zu Doubletten im ZDB-Katalog führt usw. 14 Forschungsliteratur unten in Anm. 41. 15 Dies ist etwa bei den von Johann Heinrich Gottlob Justi 1756 bis 1758 herausgegebenen › Göttingische[n] Policeyamtsnachrichten, oder vermischte[n] Abhandlungen zum Vortheil des Nahrungsstandes aus allen Theilen der ökonomischen Wissenschaften ‹ (digital verfügbar: http: / / ds.ub.uni-bielefeld.de/ viewer/ toc/ 2103094/ 0/ LOG_0000/ , aufgerufen am 25.3.2023) der Fall, ferner bei den nur 1783 in Kempten erschienenen › Wöchentliche[n] Nachrichten fürs Allgöw: mit nützlichen, für den gemeinen Mann brauchbaren ökonomischen Abhandlungen ‹ (Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1090803230, aufgerufen am 25.3.2023). <?page no="84"?> L OT HA R S CHILLING 84 nützliche Informationen für Wirtschaftssubjekte bereit, die freilich nach dem Verständnis der Zeitgenossen eher einem Randbereich der Ökonomie zuzuordnen waren. Doch auch deren Kernthema, die land- und hauswirtschaftliche sowie gewerbliche Güterproduktion, wurde in den meisten Intelligenzblättern behandelt, besonders in den von der Jahrhundertmitte an in viele dieser Blätter aufgenommenen redaktionellen Beiträgen. Insofern erscheint es sinnvoll, auch jene 138 Intelligenzblätter des 18. Jahrhunderts, in deren Titel nicht ausdrücklich auf Ökonomie bzw. Wirtschaft Bezug genommen wird, einzubeziehen. 16 Obwohl auch Kalender 17 oftmals ökonomische Inhalte aufweisen, ohne dass dies ihrem Titel zu entnehmen ist, wurde auf deren generelle Einbeziehung verzichtet, weil sich bis ins 18. Jahrhundert ein breites Spektrum verschiedenster Kalenderformen herausgebildet hatte, das etwa Amts-, Hof- und Staatskalender ebenso einschloss wie Adelskalender und Almanache. Allein aufgrund der Titel ist oftmals keine Aussage über deren Inhalte möglich. Legt man die genannten Kriterien an, ergibt dies in der Summe 460 deutschsprachige Periodika des 18. Jahrhunderts, in denen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in nennenswertem Umfang ökonomisches Wissen behandelt wurde. Nur 59 von ihnen, 35 Intelligenzblätter und 24 Periodika, wurden bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gegründet. Dies lässt erkennen, dass die breite Berücksichtigung ökonomischer Themen und Wissensbestände in der Druckproduktion offenbar eng mit den Bestrebungen der Ökonomischen Aufklärung sowie der aus ihr hervorgegangenen Volksaufklärung zusammenhängt. Sie setzten auf die Popularisierung nützlichen Wissens, um auch wenig gebildeten Menschen Selbstbildung und als Folge eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu ermöglichen. Vielfältige Formen der Ermunterung und Ermahnung zu Sparsamkeit, Sauberkeit, Fleiß und anderen Tugenden ergänzten das aufgeklärt ökonomische Bildungsprogramm. Dieser Einfluss strahlte auf weitere Publikationen und Formate aus. Denn auch in Publikationen von Akademien, gelehrten und › patriotischen ‹ Sozietäten, ebenso solchen, die nicht als › ökonomische ‹ firmierten, in › nützlichen Sammlungen ‹ , Nachrichtenblättern 18 und selbst in › Moralischen Wochenschriften ‹ 19 fanden sich im 16 Die auf der Grundlage der ZDB erstellte Liste wurde ergänzt nach dem Verzeichnis deutschsprachiger Intelligenzblätter bei F RIEDRICH H UNEKE , Die › Lippischen Intelligenzblätter ‹ (Lemgo 1767 - 1799). Lektüre und gesellschaftliche Erfahrung. Mit einem Vorwort von Neithard Bulst, Bielefeld 1989, S. 207 - 240. 17 Forschungsliteratur unten in Anm. 22. 18 Vgl. unten Anm. 21. 19 Dies betont zurecht W OLFGANG M ARTENS , Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 93; dort der Hinweis auf ein typisches Beispiel für die Verknüpfung › moralischer ‹ und ökonomischer Inhalte, die 1756/ 57 in Braunschweig erscheinende Zeitschrift › Der Wirth und die Wirthin. Eine oeconomische und moralische Wochenschrift ‹ . Vgl. ferner das in Erfurt von 1769 an <?page no="85"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 85 18. Jahrhundert Beiträge zur Ökonomie. Einen Eindruck von der breiten Palette der ökonomisches Wissen behandelnden Druckwerke bietet das mehrbändige Handbuch von Böning und Siegert zur › Volksaufklärung ‹ , das auch periodische Schriften erfasst. 20 3. Ökonomisches in › süddeutschen ‹ Periodika: Gattungen und Inhalte Legt man noch einmal die vorgestellten Zahlen zugrunde, waren im 18. Jahrhundert ökonomisches Wissen behandelnde Periodika im › süddeutschen ‹ Raum - historisch: im bayerischen und schwäbischen Reichskreis einschließlich Vorderösterreichs - seltener als in anderen deutschsprachigen Regionen. Lediglich 59 der 460 erwähnten, ökonomisches Wissen bietenden Titel sind in den beiden genannten Reichskreisen und Vorderösterreich erschienen. Am häufigsten als Druckorte genannt werden Stuttgart (elf Nennungen) und München (zehn), gefolgt von Augsburg (sieben) und Salzburg (vier). In 24 weiteren Städten sowie der Benediktinerabtei Ottobeuren erschienen je ein bis zwei Titel. Die Periodika verteilten sich auf zahlreiche, nicht immer klar gegeneinander abgegrenzte Gattungen, darunter Almanache, › Betrachtungen ‹ , Magazine, Sammlungen; auch Zeitungen wie die › Augsburgische Ordinari erscheinende › Erfurthische[.] Intelligenz-Blatt, bestehend in Anfragen und Nachrichten vor das Publicum mit untermischten gemeinnützigen ökonomischen und moralischen Abhandlungen ‹ ; W ERNER G REILING , … dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zur Aufnahme, Vortheil und Beförderung. Intelligenzblätter in Thüringen, in: Literatur, Politik und soziale Prozesse. Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 8), Tübingen 1997, S. 1 - 38, hier 21 - 23. Auch der › Augsburger Intelligenz-Zettel ‹ verknüpft › ökonomische ‹ Inhalte und Elemente einer aufgeklärten Wochenschrift (vgl. unten 3.3). Im Titel tritt die Verknüpfung von ökonomischen und moralisch-politischen Inhalten bei der 1786 bis 1788 von J OHANN A. C. T HON in Erfurt publizierten Schrift › Das räsonnirende Dorfkonvent, eine gemeinnützige ökonomisch-moralische-politische Schrift für den Bürger und Landmann ‹ hervor; Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1261810643 (aufgerufen am 30.3.2023); Teil-Neudruck, hg. von R EINHART S IEGERT , mit einem Nachwort von Holger Böning (Volksaufklärung. Ausgewählte Schriften 11), Stuttgart-Bad Canstatt 2001). Die Ausrichtung solcher Periodika kann auch als Beleg für das Fortwirken der traditionellen Konzeption der › Oekonomik ‹ gelten. 20 Für einen ersten Überblick sehr nützlich ist das Titelverzeichnis bei H. B ÖNING / R. S IEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch (Anm. 4), Bd. 1, Sp. 849 - 932; Bd. 2.1, Sp. 1165 - 1268, und Bd. 2.2, Sp. 2817 - 2978. <?page no="86"?> L OT HA R S CHILLING 86 Postzeitung ‹ wiesen gelegentlich im Untertitel darauf hin, dass sie ökonomische Neuigkeiten boten. 21 Drei relativ klar abgegrenzte Gattungen sollen im Folgenden allgemein und anhand süddeutscher Beispiele vorgestellt werden. 3.1 Kalender Zwölf der 59 vorgenannten süddeutschen Periodika mit ökonomischen Inhalten lassen sich der traditionellen, bereits seit dem späten 15. Jahrhundert begegnenden Gattung der Kalender zurechnen. 22 Neben einem (in bikonfessionellen Gegenden auch doppelten, gelegentlich sogar dreifachen) Kalendarium boten sie in vielfältigen Varianten unterhaltsame Erzählungen, gerne über Exotisches, Bizarres oder Schauriges. Bereits lange vor dem Aufkommen der Aufklärung behandelten viele Kalender zudem ökonomische Themen. Vorgestellt wurden (oftmals der Hausväterliteratur entnommene) Ratschläge zum Acker-, Wein- und Gartenbau, zur Tierhaltung sowie zur Herstellung und Konservierung von Nahrungsmitteln. Sie wurden ergänzt durch Aussaattermine, Wetterregeln und -prognosen, Hinweise auf wichtige Märkte und Messen sowie medizinische Ratschläge, etwa zu Heil-, Abführ- und anderen Hausmitteln sowie Tabellen mit den idealen Zeitpunkten für Aderlass und Schröpfen. Letztere waren oft verbunden mit Angaben zu den Gestirnkonstellationen, denen auch für die Landwirtschaft Bedeutung beigemessen wurde - entsprechende Informationen fanden sich in der Regel in einem als › Practic ‹ ausgewiesenen Abschnitt. Die oft mit Holzschnitten illustrierten Kalender suchten also zu unterhalten und daneben nützliches Wissen aus dem gesamten Spektrum der traditionellen Ökonomie anzubieten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts genügten die jährlich erscheinenden 21 Die seit 1686/ 87 bestehende › Augsburgische Ordinari Postzeitung ‹ firmierte von den 1770er Jahren bis ins frühe 19. Jahrhundert als › Augsburgische Ordinari Postzeitung von Staats-, gelehrten, historisch- und ökonomischen Neuigkeiten ‹ (vgl. z. B. die Ausgabe vom 6.6.1774: https: / / digipress.digitale-sammlungen.de/ view/ bsb10505140_00003_u001/ 1, aufgerufen am 24.3.2023). Vgl. zu diesem Periodikum J OSEF M ANČAL , Zu Augsburger Zeitungen vom Ende des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts: Abendzeitung, Postzeitung und Intelligenzzettel, in: H ELMUT G IER / J OHANNES J ANOTA (Hg.), Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1997, S. 683 - 733; N ICOLE W AIBEL , Nationale und patriotische Publizistik in der Freien Reichsstadt Augsburg. Studien zur periodischen Presse im Zeitalter der Aufklärung (1748 - 1770) (Presse und Geschichte, Neue Beiträge 31), Bremen 2008, S. 331 - 382. 22 Vgl. zur Gattung und ihrer Geschichte J AN K NOPF , Kalender, in: E RNST F ISCHER u. a. (Hg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700 - 1800, München 1999, S. 121 - 136; L UDWIG R OHNER , Kalendergeschichte und Kalender, Wiesbaden 1978; K ATHARINA M ASEL , Kalender und Volksaufklärung in Bayern. Zur Entwicklung des Kalenderwesens 1750 bis 1830 (Forschungen zur Landes- und Regionalgeschichte 2), St. Ottilien 1997, S. 14 - 24. <?page no="87"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 87 Kalender allerdings den gestiegenen Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsansprüchen bürgerlicher Leserkreise zunehmend weniger. Zwar nutzten diese Kreise weiterhin vielfältige Formen spezialisierter Kalender. Die Kalender traditionellen Typs hingegen wurden nun - von den gebildeten Eliten als › Volkskalender ‹ bezeichnet - vor allem an die einfache, ungebildete Bevölkerung verkauft. Sie erreichten teilweise fünfstellige Auflagen. Aus ihnen wurde häufig vorgelesen, so dass sie auch Personen erreichten, die nicht lesen konnten. Die hohe Reichweite dieser populären Kalender und ihr › Ökonomisches ‹ einschließendes Gattungsprofil machten › Volkskalender ‹ aus der Sicht der Volksaufklärer zu idealen Medien der Popularisierung › nützlichen ‹ Wissens. 23 Sie versuchten, auf deren inhaltliche Gestaltung Einfluss zu nehmen und Anstöße für praktische Verbesserungen und Reformen, etwa im Hinblick auf die alltägliche Hygiene und die Landwirtschaft, zu vermitteln. So trieb die renommierte Ökonomische Gesellschaft Bern erheblichen Aufwand, um bei den Lesern des › Hinkenden Boten ‹ für Kleebau und Stallfütterung zu werben. 24 Die unkritische Übernahme überkommener, aus ihrer Sicht abergläubischer Rezepte, der Rekurs auf Astrologie, das Festhalten an fragwürdigen medizinischen Praktiken und mancherlei als geschmacklos erachtete erzählende Inhalte erregten zugleich das Missfallen der Aufklärer und mündeten nicht selten in obrigkeitliche Zensurbestrebungen. Auch im hier im Mittelpunkt stehenden Raum sind aufklärerische Ansätze erkennbar. Mit Blick auf Kurbayern identifiziert Katharina Masel im 18. Jahrhundert 23 Vgl. G ERHARDT P ETRAT , Einem besseren Dasein zu Dienste. Die Spur der Aufklärung im Medium Kalender zwischen 1700 und 1919 (Deutsche Presseforschung 27), München u. a. 1991; H OLGER B ÖNING , Volksaufklärung und Kalender: Zu den Anfängen der Diskussion über die Nutzung traditioneller Volkslesestoffe zur Aufklärung und zu ersten praktischen Versuchen bis 1780, in: Y ORK -G OTHART M IX (Hg.), Der Kalender als Fibel des Alltagswissens (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 27), Tübingen 2005, S. 137 - 174; W ERNER G REILING , Volksaufklärung, Intelligenzblätter und das Kalenderwesen als Vehikel der Krisenbewältigung im kursächsischen Rétablissement, in: R UDOLF S TÖBER u. a. (Hg.), Aufklärung der Öffentlichkeit - Medien der Aufklärung. FS für Holger Böning zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2015, S. 175 - 192; zu einem besonders populären Subtyp S USANNE G REILICH / Y ORK -G OTHART M IX (Hg.), Populäre Kalender im vorindustriellen Europa: Der › Hinkende Bote ‹ , › Messager boiteux ‹ . Kulturwissenschaftliche Analysen und bibliographisches Repertorium. Ein Handbuch, Berlin-New York 2006; zeitgenössisch (nicht auf periodische Druckwerke beschränkt): J OHANN G EORG K RÜNITZ , Art. Kalender, in: D ERS ., Oekonomische Enzyklopädie, Bd. 32, Berlin: Pauli 1784, S. 443 - 604; ferner J OHANN C HRISTIAN B OCKSHAMMER , Unterricht vom Kalender, dessen Ursprung und Gebrauch, Berlin: Arnold Wever 1784. 24 Vgl. L ISA K OLB , Semantiken der Reform. Konzeptualisierung und Übersetzung ökonomisch-politischer Sprachen in der Oekonomischen Gesellschaft Bern (1758 - 1798), phil. Diss. Augsburg 2022, S. 167 - 189. <?page no="88"?> L OT HA R S CHILLING 88 vor allem drei Tendenzen. Seitens der kurfürstlichen Regierung und der ihr nahestehenden Eliten sind Versuche der Förderung und Verbesserung, aber auch der verstärkten Kontrolle seit 1759 feststellbar, als der philosophischen Klasse der neu gegründeten Akademie der Wissenschaften aufgetragen wurde, sich des Kalenderwesens anzunehmen. 25 Tatsächlich brachte die Akademie dann von 1761 bis 1766 unter leicht variierenden Titeln einen Akademie-Kalender heraus, der freilich vor allem gelehrt-astronomische Bedürfnisse befriedigte und auf begrenzte Resonanz stieß, obwohl 1763 und 1764 der Untertitel ausdrücklich betonte, dass er Oeconomische Zusätze enthielt. 26 1769 wurde dann eine › Bücherzensurkommission ‹ eingerichtet, der auch die in Kurbayern verkauften Kalender unterlagen. Tatsächlich sind einzelne Initiativen feststellbar, die etwa darauf abzielten, dass die sogenannte Aderlaßtafel samt der noch dummern Erklärung derselben ausgemärzt, und dagegen [ … ] Auszüge aus ächten Geschichten, oder nützlichen oekonomischen Beobachtungen eingeruckt werden sollten. Insgesamt intervenierte die Kommission indes bis 1799 lediglich in 18 Fällen - nur fünf betrafen volkstümliche Kalender. 27 Andererseits lässt sich beobachten, dass in den zu erheblichen Teilen von Augustinermönchen gestalteten, in Erscheinungsbild und Aufbau im Wesentlichen traditionellen kurbayerischen Kalendern auch ohne nachweisbare Intervention seitens landesherrlicher Behörden in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts inhaltliche Veränderungen erfolgten. So wurden nach und nach die astrologischen Inhalte und das stark von ihnen geprägte Kapitel der sogenannten › Practic ‹ im Umfang reduziert oder ganz weggelassen. Auch die Aderlasstafeln wurden zunehmend mit aufklärerisch-distanznehmenden Kommentaren versehen, etwa dem Hinweis, Vernunft und Erfahrung bew[ie]sen, daß gut Aderlassen auch möglich sei, wenn die Aderlaßtafel solches für böse hält, ehe sie um die Jahrhundertwende ganz verschwanden. Generell ist die verstärkte Behandlung typischer Modethemen des aufgeklärten Diskurses, etwa zu Fragen des Scheintods, der Forstwirtschaft und der Wetterbeobachtung sowie »eine deutliche Abwendung von religiös-konfessionellen Inhalten hin zu ökonomischen und naturwissenschaftlichen Problemen und neuen methodischen Ansätzen« zu beobachten. 28 Neben diesen allmählichen Änderungen gab es einige wenige Initiativen, die ostentativ mit den Traditionen der Gattung brachen, um Kalender ganz in den 25 Vgl. L UDWIG H AMMERMAYER , Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2 Bde., München 1983, hier Bd. 1, S. 194 - 197; K. M ASEL , Kalender (Anm. 22), S. 71 - 73. 26 Die variierenden Titel bei K. M ASEL , Kalender (Anm. 22), S. 352f.. 27 Vgl. K. M ASEL , Kalender (Anm. 22), S. 73 - 75; das Zitat aus einem 1781 vorgelegten Bericht der Oberlandesregierung, S. 75. 28 Vgl. K. M ASEL , Kalender (Anm. 22), S. 85 - 130, auf der Grundlage der gründlichen Auswertung von fünf kurbayerischen Kalendern; das Quellenzitat S. 121, die zitierte zusammenfassende Einschätzung S. 128. <?page no="89"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 89 Dienst aufgeklärter Ziele zu stellen. 29 Dies gilt für den von Franz Seraph Kohlbrenner, dem Herausgeber des › Churbaierischen Intelligenzblatts ‹ , 1769 in München eingeführten › Addreß- Kunst- und Handwerkskalender ‹ 30 , für Franz Remigius Odernats ebenda 1780 gegründeten › Pfalz-Baierische[n] landwirthschaftliche[n] Kalender ‹ 31 und für Ulrich von Birzeles 1791 eingerichteten Neuburger Kalender. 32 Allen dreien ist gemeinsam, dass sie in innovatorisch-aufgeklärter Perspektive behandelte Themen aus dem Bereich der Ökonomie in großer Breite darboten. Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass sie dabei den Interessen sowie den Verständnishorizonten der angezielten ungebildeten Leser kaum Rechnung trugen. Kohlbrenners Werk, das mit 211 Seiten den Umfang eines traditionellen Kalenders bei weitem überschreitet, geht etwa ausführlich auf die Fahrpläne von Postkutschen und die Tarife von Brief- und Frachtsendungen ein - für einfache Bauern und Angehörige städtischer und ländlicher Unterschichten ebenso unattraktiv wie die an vielen Stellen des Kalenders zu findenden Invektiven gegen den Kalenderaberglauben. In Odernats Kalender wurden auf 52 Seiten eher abstrakt › Grundsätze des Ackerbaus ‹ entwickelt, während bei Birzele die Statuten der elitären Feldbaugesellschaft in Seefeld im Wortlaut abgedruckt und ebenso eingehend wie praxisfern die Geschichte des Ackerbaus behandelt wurde. Masel ist zuzustimmen, wenn sie vermutet, es sei den Herausgebern weniger um tatsächliche Popularisierung gegangen als darum, aufgeklärten Kreisen gegenüber zu verdeutlichen, dass sie den Forderungen nach einer Nutzung des Mediums Kalender im Sinne der Aufklärung nachkamen. 33 Allen drei Unterfangen gemeinsam ist denn auch ihre kommerzielle Erfolglosigkeit. Kohlbrenners und Odernats Kalender wurden nach dem ersten Jahrgang wieder eingestellt, jener 29 Zum Folgenden K. M ASEL , Kalender (Anm. 22), S. 131 - 144. 30 Digitalisat: https: / / gdz.sub.uni-goettingen.de/ id/ PPN823907775 (aufgerufen am 28.3.2023). 31 Digitalisat: https: / / www.digitale-sammlungen.de/ de/ view/ bsb10371933 (aufgerufen am 28.3.2023). 32 Der Kalender ist bislang digital nicht verfügbar - die Titelangaben variieren; Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=023564016 (aufgerufen am 28.3.2023); Permalink Staatliche Bibliothek Regensburg: https: / / www.regensburger-katalog.de/ s/ ubrsbr/ de/ 2/ 1035/ BV014343137 (aufgerufen am 28.3.2023); vgl. zu Birzeles Kalender ergänzend T HO - MAS F RELLER , »Das Vaterland muß man liebenswerth machen, wenn es soll geliebt werden.« Johann Ulrich von Birzeles Projekt eines Kalenders für die Oberpfalz. Eine Miszelle zur Spätaufklärung in Kurbayern, in: Verhandlungen des Historischen Vereins der Oberpfalz 160 (2020), S. 207 - 228. 33 K. M ASEL , Kalender (Anm. 22), S. 131; zur Resonanz des letzteren Kalenders in anderen zeitgenössischen Periodika vgl. T H . F RELLER , Das Vaterland (Anm. 32), S. 222f.; ferner L UD - WIG H AMMERMAYER , Ökonomische Sozietät en miniature. Zur Geschichte der Feldbaugesellschaft in Seefeld/ Oberbayern (ca. 1789 - 1807/ 08), in: G EORG J ENAL (Hg.), Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz, München 1993, S. 155 - 179, hier 167. <?page no="90"?> L OT HA R S CHILLING 90 Birzeles erlebte immerhin zwei; der dritte wurde wohl noch gedruckt, aber nicht mehr ausgeliefert. 34 Anders als für Kurbayern steht für die im 18. Jahrhundert im schwäbischen Raum publizierten Kalender eine detaillierte Erfassung und Analyse noch aus. 3.2 Gelehrte Periodika Ein ganz anderes Publikum adressierten ökonomische Fragen behandelnde periodische Veröffentlichungen von Akademien und aufgeklärten Sozietäten, die den Anspruch erhoben, wissenschaftlich gesichertes Wissen zu verbreiten. Allerdings weist der süddeutsche Raum nur wenige Akademien und aufgeklärte Sozietäten auf: Neben der 1759 eingerichteten Bayerischen Akademie der Wissenschaften 35 ist vor allem die 1765 gegründete, unter wechselnden Namen firmierende › sittlich-ökonomische Gesellschaft ‹ von Ötting-Burghausen 36 zu nennen, daneben noch die 1789 gegründete › Jagd- und Feldbausocietät ‹ in Seefeld am Ammersee, 37 die freilich keine eigene Publikationsreihe unterhielt, deren Aktivitäten aber immerhin in Periodika wie den eben erwähnten Neuburger Kalender Eingang fanden. Lediglich am Rande zu erwähnen ist die Karlsruher › Gesellschaft der nützlichen Wissenschaften ‹ , die bereits ein Jahr nach ihrer Gründung im Jahre 1765 wieder sang- und klanglos einging. 38 Hier mögen wenige Bemerkungen zu den Publikationen der beiden ersteren Institutionen, die gut untersucht sind, genügen. Die Akademie der Wissenschaften in München veröffentlichte neben den Akademiereden in jährlichem Rhythmus in den › Abhandlungen ‹ der Akademie nach Klassen eingeteilt wissenschaftliche Beiträge einzelner Mitglieder sowie preisgekrönte Einsendungen auf die - ebenfalls jährlich publizierten - Preisfragen. Im Spektrum dieser Publikationen nahmen ökonomische Themen - besonders in den ersten Jahren des Bestehens der Akademie - eine bedeutende Rolle ein. 39 So finden 34 L. H AMMERMAYER , Ökonomische Sozietät (Anm. 33), S. 174, geht davon aus, dass Birzeles Kalender »schon 1791 an ein Ende« gelangt sei; die o. g. Angaben nach T H . F RELLER , Das Vaterland (Anm. 32), S. 223f. 35 Vgl. grundlegend L. H AMMERMAYER , Geschichte (Anm. 25). 36 Vgl. S IEGLINDE G RAF , Aufklärung in der Provinz. Die sittlich-ökonomische Gesellschaft von Ötting-Burghausen 1765 - 1802 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 106), Göttingen 1993. 37 Vgl. L. H AMMERMAYER , Ökonomische Sozietät (Anm. 33). 38 Vgl. zur kurzen Geschichte dieser bislang kaum erforschten Sozietät Generallandesarchiv Karlsruhe, Hausfideikommiss, Handschriften (Hfk-Hs), Nr. 397 - 402 (https: / / www2. landes archiv-bw.de/ ofs21/ olf/ struktur.php? bestand=21447&sprungId=1445969, aufgerufen am 28.3.2023). 39 Die folgenden Angaben nach L. H AMMERMAYER , Geschichte (Anm. 25), Bd. 1, S. 373; Bd. 2, S. 389, 395, 399. <?page no="91"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 91 wir in den › Abhandlungen ‹ 1764 einen Versuch […] einer Abhandlung von dem Nutzen und Gebrauche des Kochsalzes, bey Menschen, Thieren und Gewächsen […] , wie auch in der Chymie, Mechanik, Fabriquen, Lands- und Hauswirthschaft, 1766 ebenda eine Preisschrift von Johann Heinrich Gottlob Justi über die Frage, was Pflanzen selbst zur Zubereitung ihres Nahrungssaftes beitragen, und 1775 eine Abhandlung über einige Ursachen des allgemein werdenden Holzmangels in Deutschland. Als Akademierede erschien 1768 ein Beitrag Heinrich Brauns zur Wichtigkeit einer guten Einrichtung im deutschen Schulwesen, 1776 ein Text vom Einfluß des Feldbaues auf das Wohl der Völker und 1780 eine Rede über die Wetter-Beobachtung. Die von der Akademie veröffentlichten Texte waren - kaum überraschend - unverkennbar Beiträge zum gelehrten Diskurs, die einerseits vom Standpunkt der sich herausbildenden naturwissenschaftlichen Disziplinen Grundlagenwissen zu verschiedensten Feldern der Nutzung der Natur bereitstellten oder sich theoretisch, teilweise auch appellativ mit Fragen der sich herausbildenden landesherrlichen Wirtschafts- und Bildungspolitik auseinandersetzten. Ein › Mittelding ‹ zwischen den skizzierten Polen war - wie Sieglinde Graf es treffend formuliert hat - der › Baierisch ökonomische Hausvater ‹ , der zwischen 1780 und 1786 als zunächst inoffizielles, vom zweiten Jahrgang an offizielles Organ der 1765 gegründeten sittlich-ökonomischen Sozietät in Burghausen firmierte. 40 Die von Aloys Friedrich Wilhelm (von) Hillesheim herausgegebene, in ihrem Titel ausdrücklich an die ältere frühneuzeitliche Lehre von der Ökonomie anknüpfende Monatsschrift versuchte, dem gelehrt-gebildeten ebenso wie dem lesefähigen, aber nicht über höhere Bildung verfügenden Publikum in der Stadt und auf dem Land gerecht zu werden. Sie enthielt Akademiereden wie die bereits erwähnte vom Einfluß des Feldbaues, vor allem aber Beiträge von Mitgliedern der Sozietät in Burghausen. Ihr gehörte nur ein Bauer an, aber zahlreiche Amtsträger aus höheren Regierungs- und Verwaltungskreisen, darunter nicht wenige Angehörige der Landesverbesserungs- und Landesökonomie-Kommission. Entsprechend dominant waren im weitesten Sinne kameralwissenschaftliche Abhandlungen. Um dennoch auch praktischen Nutzen für nicht akademisch Gebildete zu bieten, bot der › Hausvater ‹ Elemente eines landwirtschaftlichen Kalenders, etwa Ratschläge für die jeden Monat anfallenden wichtigsten Arbeiten in der Landwirtschaft und ökonomische Nachrichten. Dieser Spagat ist Hillesheim letztlich nur sehr eingeschränkt gelungen. Das Periodikum, das 40 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1046051571 (aufgerufen am 31.3.2023); die Formulierung bei S. G RAF , Aufklärung in der Provinz (Anm. 36), S. 208; vgl. zum Folgenden ferner L UDWIG H AMMERMAYER , Zur Publizistik von Aufklärung, Reform und Sozietätsbewegung in Bayern. Die Burghausener Sittlich-Ökonomische Gesellschaft und ihr »Baierisch-Ökonomischer Hausvater« (1779 - 1786); in: ZBLG 58 (1995), S. 341 - 401; M ICHAEL S CHAICH , Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 136), München 2001, S. 36 - 38. <?page no="92"?> L OT HA R S CHILLING 92 oft den Monatsrhythmus nicht einhalten konnte, wurde von den Lesern kaum angenommen und hielt sich wohl nur deshalb acht Jahre, weil der Landesherr den Landgerichten ein Zwangsabonnement auferlegt hatte. Als Hillesheim 1786 im Kontext der Illuminatenverfolgung auch noch zeitweise verhaftet wurde, ging sie ein. 3.3 Intelligenzblätter Wochen- und Intelligenzblätter beinhalteten neben verschiedensten Anzeigen oftmals obrigkeitliche Verlautbarungen und Gesetze, ferner im Laufe des Jahrhunderts zunehmend häufig auch redaktionelle Beiträge. 41 Folgt man dem Verzeichnis der Intelligenzblätter bei Huneke, sind in Süddeutschland im Laufe des 18. Jahrhunderts 23 Blätter, die ersten bereits in den 1730er Jahren, erschienen. 42 Einige von ihnen sind in gängigen Bibliothekskatalogen wie dem bereits erwähnten ZDB erst deutlich 41 Die lange unterschätzte Gattung ist inzwischen gut untersucht. Vgl. etwa H OLGER B ÖNING , Das Intelligenzblatt als Medium praktischer Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte der gemeinnützig-ökonomischen Presse in Deutschland von 1768 bis 1780, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12 (1987), S. 110 - 133; D ERS ., Das Intelligenzblatt - eine literarisch-publizistische Gattung des 18. Jahrhunderts, in: Ebd. 19 (1994), S. 22 - 34; D ERS ., Das Intelligenzblatt. Gemeinnutz und Aufklärung für jedermann. Studie zu einer publizistischen Gattung des 18. Jahrhunderts, zur Revolution der Wissensvermittlung und zu den Anfängen einer lokalen Presse, 2 Bde., Bremen 2023; L OTHAR S CHILLING , Policey und Druckmedien im 18. Jahrhundert. Das Intelligenzblatt als Medium policeylicher Kommunikation, in: K ARL H ÄRTER (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 413 - 452; D ERS ., › Intelligencers ‹ (Advertisement Sheets) as Media of State-Related Knowledge? , in: D ERS ./ J AKOB V OGEL (Hg.), Transnational Cultures of Expertise. Circulating State-Related Knowledge in the 18 th and 19 th Centuries, Berlin 2019, S. 65 - 87; A STRID B LOME , Wissensorganisation im Alltag - Entstehung und Leistungen der deutschsprachigen Regional- und Lokalpresse im 18. Jahrhundert, in: D IES ./ H OLGER B ÖNING (Hg.), Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung, Bremen 2008, S. 179 - 208; D IES ., Das Intelligenzblatt. Regionale Kommunikation, Alltagswissen und lokale Medien in der Frühen Neuzeit, Habilitationsschrift Hamburg (masch.) 2009; zum organisatorischen und institutionellen Kontext ferner A NTON T ANTNER , Die ersten Suchmaschinen. Adressbüros, Fragämter, Intelligenz-Comtoirs, Berlin 2015. 42 F. H UNEKE , Die › Lippischen Intelligenzblätter ‹ (Anm. 16), S. 207 - 240; Erscheinungsorte von Intelligenzblättern waren demnach (in alphabetischer Reihenfolge mit dem jeweiligen Gründungsjahren nach Huneke): Augsburg (1744, tatsächlich 1745, siehe unten), Dillingen (1773), Dinkelsbühl (1795), Donaueschingen (1779), Eichstädt (1791), Karlsruhe (1756), Kaufbeuren (1787), Kempten (1767), Landsberg/ Lech (1737), Landshut (1793), Lindau (1763), Memmingen (1743), München (1751, nicht in ZDB, 1765, siehe unten), Nördlingen (1750), Oettingen (1772), Rastatt (1763), Regensburg (1761), Reutlingen (1770, nicht in ZDB), Rottweil (1799, nicht in ZDB), Schaffhausen (1740, nicht in ZDB), Schwäbisch-Hall (1788), Stuttgart (1736), Ulm (1752, nicht in ZDB). <?page no="93"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 93 nach dem von Huneke angegebenen Gründungsdatum angeführt; ihnen zufolge ist die Überlieferung oft fragmentarisch, nicht selten auf mehrere haltende Institutionen verteilt. Viele Intelligenzblätter sind bis heute nicht oder nur bruchstückhaft digitalisiert. Zumal im Hinblick auf den schwäbischen Raum ist die Forschung hier (wie bei den Kalendern) noch lückenhaft. Näher untersucht sind vor allem der von 1745 bis 1773 von Johann Andreas Erdmann Maschenbauer publizierte › Augspurgische Intelligenz-Zettel ‹ und das von 1766 bis 1783 von Franz Kohlbrenner herausgegebene › Churbaierische ‹ , später › Münchner Intelligenzblatt ‹ , die recht unterschiedliche Umsetzungen des Gattungsmodells › Intelligenzblatt ‹ darstellen. Der › Augspurgische Intelligenz-Zettel ‹ (im Folgenden AIZ) 43 bot schon bald nach der Gründung vielfältige Inhalte: 44 Neben streng rubrizierten Anzeigen, Angaben zu Preisen und Taxen, obrigkeitlichen Verlautbarungen des Rates der Reichsstadt sowie einigen Reichsgesetzen wurden von Mitte 1747 an redaktionelle Beiträge aufgenommen, die nicht selten durch Illustrationen ergänzt wurden. Diese teilweise als › gelehrte Sachen ‹ firmierenden, seit 1748 durch ein Register erschlossenen Beiträge waren von vornherein mehr als harmlos-nützliches Lesefutter. Nicht nur angesichts ihres Umfangs, der zeitweise über 60 % der einzelnen Hefte einnahm, sondern auch angesichts ihres Bildungsanspruchs, der vor Fußnoten und Quellenhinweisen nicht haltmachte, vermittelte der AIZ nicht selten den Eindruck, als handle es sich nicht um ein Intelligenzblatt mit redaktionellem Teil, sondern um eine aufgeklärte Wochenschrift mit Anzeigenteil. Der redaktionelle Teil des AIZ trug bis 1773 die Handschrift des Verlegers Johann Andreas Erdmann Maschenbauer, der auch als Redakteur und Herausgeber 43 Vgl. zu diesem Periodikum S ABINE D OERING -M ANTEUFFEL u. a. (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (Colloquia Augustana 15), Berlin 2001, darin insbesondere den Beitrag von H ANS -J ÖRG K ÜNAST , Johann Andreas Erdmann Maschenbauer, sein Augsburger Intelligenz-Zettel und der Buchmarkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (S. 337 - 356); N. W AIBEL , Nationale und patriotische Publizistik (Anm. 21), S. 115 - 223; J OSEF M ANČAL , Art. Augsburgischer Intelligenz-Zettel/ Amtsblatt der Stadt Augsburg, in: Historisches Lexikon Bayerns [2012] https: / / www.historisches-lexikonbayerns.de/ Lexikon/ Augsburgischer_Intelligenz-Zettel_/ _Amtsblatt_der_Stadt_Augsburg (aufgerufen am 30.3.2023); D ERS ., Wissensorganisation und -vermittlung im Augsburger Intelligenzblatt. Aspekte einer praktischen Enzyklopädie, in: T HEO S TAMMEN / W OLFGANG E. W EBER (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung (Colloquia Augustana 18), Berlin 2004, S. 413 - 431; S VENJA H IRNER , Ökonomisches Wissen über Land- und Hauswirtschaft im › Augspurgischen Intelligenz-Zettel ‹ von 1745 bis 1773 unter Johann Andreas Erdmann Maschenbauer (1719 - 1773), unveröff. Masterarbeit Augsburg 2021. 44 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=012043737 (aufgerufen am 30.3.2023); die Ausgaben sind sämtlich unpaginiert. <?page no="94"?> L OT HA R S CHILLING 94 fungierte. Maschenbauer, der einer lutherischen Drucker- und Verlegerfamilie entstammte, verstand sich als Aufklärer und war publizistisch ungemein rege. Er kam nicht umhin, sein Blatt für Leser attraktiv zu machen, denn der AIZ musste anders als viele andere Intelligenzblätter ohne Subventionen, Zwangsabonnements und Anzeigenmonopol eine ausreichende Zahl an Käufern finden. Auch als Maschenbauer 1754 seinen Verlag samt Druckerei verkauft hatte, versuchte er die Marktgängigkeit seines Produkts durch den Abdruck einer großen Breite anspruchsvoller, räsonierender Texte sicherzustellen, ehe er dann Ende der 1760er Jahre aus bislang nicht geklärten Gründen den Heftumfang verringerte und verstärkt aktuelle Nachrichten veröffentlichte. Das um 1770 entwickelte Konzept wurde auch über Maschenbauers Tod im Jahr 1773 hinaus bis 1806 beibehalten. Die Inhalte und Themen der zum Teil in literarische Formen gekleideten redaktionellen Beiträge zielten erklärtermaßen auf die Verbreitung naturkundlichen, nützlich-praktischen, gelegentlich auch erbaulichen Wissens und auf die Bekämpfung von Aberglauben und › Unwissen ‹ . Behandelt wurden Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt ebenso wie historische Fragen, aber auch Themen wie Freundschaft, Selbst- Erkanntniß und die Vorzüglichkeiten des Ehe-Standes 45 sowie Naturphänomene wie Blitze, die Gezeiten und die Beschaffenheit gesunder Luft. 46 Auch Land- und Gartenbau wurden behandelt, freilich mit Themen, die auch für Städter interessant waren - etwa in einem Beitrag zur Schädlichkeit derer Laurus- oder sogenannten Mandelblätter, einer Notiz über Mittel, umgebrachtes Geflügel möglichst lange zu erhalten oder einem Hinweis auf ein neuerfundenes Mittel, die Insecten, und den Mehltau an den Fruchtbäumen zu vertreiben. 47 Große Aufmerksamkeit widmete der AIZ der Verbreitung populärmedizinischer Kenntnisse, insbesondere über die Prävention und Selbstbehandlung von Krankheiten. 48 Nicht selten verbunden mit deutlicher Kritik an der zeitgenössischen Ärzteschaft, behandelten im Durchschnitt zwischen 40 und 45 Prozent der redaktionellen Beiträge medizinische Themen - etwa die Heilung von Krankheiten durch Elektrizität, die Behandlung mit chininhaltiger peruanischer Fieberrinde oder kinkina, die Wirkung von Badekuren, Nutzen und Nachteil von Schnupf- und Rauchtabak oder die Folgen des Genusses fetter Speisen. 49 Maschenbauer unterstrich den Nutzen seiner Beiträge für den Gemeinen Mann, setzte aber gerade bei den populärmedizinischen Beiträgen im AIZ einen sprachlich versierten, in medizinischen Fragen und zumal 45 AIZ vom 27.3.1755, 13.6.1765 sowie 18. und 25.9.1755. 46 AIZ vom 7., 14. und 21.8.1755, 19.2.1750 sowie 3., 10. und 17.10.1765. 47 AIZ vom 23.12.1751, 30.3.1775 sowie 16.8.1770. 48 Vgl. U LRIKE G ROSSE , Der »Augsburgische Intelligenz-Zettel« als populärmedizinischer Ratgeber zu Fragen der Prävention und Selbstbehandlung von Krankheiten, in: S. D OERING - M ANTEUFFEL u. a. (Hg.), Pressewesen der Aufklärung (Anm. 43), S. 517 - 536. 49 AIZ vom 7.9.1747, 7.5.1750, 10. und 17.6.1751, 17. und 24.4.1760 sowie 27.11.1760. <?page no="95"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 95 in medizinischer Terminologie nicht ganz unbeschlagenen Leser voraus. Selbst wenn man unterstellt, dass er auf Pfarrer und andere gebildete Vermittler und Multiplikatoren setzte, erscheint unwahrscheinlich, dass er damit tatsächlich ein breites unterbürgerliches Publikum erreichen konnte. Ähnliches gilt für die anderen redaktionellen Beiträge im AIZ, die weder thematisch noch sprachlich einen spezifischen Adressatenbezug auf eine bildungsferne Leserschaft erkennen lassen. Anders als der auf unternehmerische Initiative zurückgehende AIZ war das › Churbaierische ‹ , von 1777 an › Münchner Intelligenzblatt ‹ (im Folgenden CIB/ MIB) das Produkt territorialstaatlicher Medienpolitik. 50 Es wurde 1765 zunächst im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften publiziert, musste aber nach wenigen Monaten erst einmal eingestellt werden, da es kaum Leser gefunden hatte. Es hatte obrigkeitliche Gesetze und Verlautbarungen sowie kommerzielle Anzeigen, aber kaum sonstigen Lesestoff geboten. Im Januar 1766 übernahm Franz Seraph Kohlbrenner als persönlich verantwortlicher Herausgeber und Verleger die Verantwortung für das Blatt. Kohlbrenner war ein vielseitig begabter Autodidakt, der in verschiedenen Funktionen in der Landesverwaltung tätig gewesen war. Heute noch bekannt ist er vor allem durch seine Kirchenlieder. 51 Tatsächlich gelang es ihm, dem Blatt ein inhaltliches Profil zu geben und die Auflage bis zu seinem Tod auf über 1.000 Exemplare zu steigern. 50 Vgl. zum CIB/ MIB O TTO M ERKLE , Das Churbaierische (Münchener) Intelligenzblatt, in: Zeitungswissenschaft. Zweimonatsschrift für internationale Zeitungsforschung 5 (1930), S. 143 - 155, 211 - 223; M. S CHAICH , Staat und Öffentlichkeit (Anm. 40), S. 39 - 41; D ERS ., Churbaierisches Intelligenzblatt/ Königlich Baierisches Intelligenzblatt, in: Historisches Lexikon Bayerns [2008] (https: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Churbaierisches_ Intelligenzblatt/ Königlich_Baierisches_Intelligenzblatt) (aufgerufen am 30.3.2023); C HRI - STOPH B ACHMANN , »[ … ] tuen kund, allen, die dies hörend oder sehend lesen [ … ]«. Das Churbaierische Intelligenzblatt als Medium zur Verbreitung normativer, administrativer und politischer Informationen, in: Oberbayerisches Archiv 137 (2013), S. 192 - 220; L OTHAR S CHILLING , Das Churbaierische (Münchner) Intelligenzblatt - ein Medium der Wissenszirkulation auf dem Land? , in: R EGINA D AUSER u. a. (Hg.), Wissenszirkulation auf dem Land vor der Industrialisierung (Documenta Augustana 26), Augsburg 2016, S. 165 - 182; M ARKUS G RIESSL , Das Churbaierische Intelligenzblatt als Medium der Ökonomischen Aufklärung, phil. Diss. Augsburg 2020 (im Druck). 51 Vgl. zur Person L ORENZ VON W ESTENRIEDER , Leben des Johann Franz Seraph edlen von Kohlbrenner, kurfürstl. wirkl. Hofkammer- Mauth- und Commercienraths in Baiern, München 1783; J OSEF S TARK , Franz Seraph Kohlbrenner als Herausgeber des »Münchener Intelligenzblattes«, München 1929; C ORNELIA B AUMANN , Wie wenig sind, die dieses wagen! Franz von Kohlbrenner, Traunstein 1728 - München 1783. Ein bayerischer Wegbereiter ins 19. Jahrhundert, Grabenstätt 1985. <?page no="96"?> L OT HA R S CHILLING 96 Obwohl Kohlbrenner das Blatt auf eigene Rechnung verlegte, wurde er vom Landesherrn unterstützt - nicht zuletzt durch ein Pflichtabonnement für landesherrliche Ämter und Amtsträger. Hinzu kam die Anbindung an die kurfürstliche Regierung; Kohlbrenner war als Hofkammer- und Kommerzienrat in die Regierungsarbeit eingebunden. So war dem CIB/ MIB also - ausgeprägter als dem AIZ - ein offiziöser Charakter eigen. Wer über den Kreis der Pflichtabonnenten hinaus das Blatt las, ist allerdings kaum zu ermitteln, da bislang keine Abonnentenlisten vorliegen und im Blatt nur wenige Leserbriefe abgedruckt wurden. Das CIB/ MIB 52 erhob deutlicher als der AIZ den Anspruch, nicht nur durch die Publikation das Wirtschaftsleben betreffender Gesetze, von Anzeigen, Preislisten und statistischen Informationen die Landesökonomie voranzubringen, 53 sondern auch auf die ökonomische Lebenspraxis der Landbevölkerung einzuwirken. Von der Anlage von Gemüsegärten 54 über die Vertilgung von › Unkraut ‹ 55 und › Schädlingen ‹ 56 , von verschiedensten Methoden der Verbesserung der Viehzucht 57 und der Düngung 58 über den Mais- 59 , Krapp- 60 und Kleeanbau 61 bis hin zu Fragen der Melioration und 52 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=017708141 bzw. https: / / zdb-katalog. de/ title.xhtml? idn=017708192; Digitalisate: https: / / opacplus.bsb-muenchen.de/ metaopac/ search.do? methodToCall=volumeSearch&dbIdentifier=100&forward=success&catKey=6 195098&isPeriodical=N bzw. https: / / opacplus.bsb-muenchen.de/ metaopac/ search.do? meth odToCall=volumeSearch&dbIdentifier=100&forward=success&catKey=6195168&isPerio dical=N (jeweils aufgerufen am 30.3.2023); vom ersten Jahrgang abgesehen, ist das Blatt jeweils jahrgangsweise paginiert. 53 Vgl. L ARS B EHRISCH , Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime (Francia, Beiheft 78), Sigmaringen 2016, S. 208 - 213. 54 Vgl. etwa Eine auf Erfahrung gegründete leichte Manier, guten Spargel zu ziehen, in: MIB vom 9.5.1778, S. 162f. 55 Vgl. Von dem Gebrauch des Kalchs zu Vertreibung des Unkrauts, in: CIB vom 17.10.1767, S. 194. 56 Vgl. Mittel die Ratzen [Ratten] zu zerstörren, in: CIB vom 20.1.1767, S. 13. 57 Vgl. etwa Von der Schafraude, in: MIB vom 5.12.1778, S. 434f. 58 Vgl. Von der Kenntniß der verschiedenen Natur und Eigenschaft der Felder, Aecker, Wissen, und welche Düngung oder Mist dazu schicklich, auch wie der Dung recht wohlergiebig angewendet und zur mehreren Fruchtbarkeit gebracht werden möge, in: CIB vom 19.2., 28.2., 17.3., 31.3., 17.4.1767, S. 22f., 32, 40 - 42, 52, 64. 59 Vgl. Beschreibung der Art, wie der Maisz oder Türken gebauet wird von Herrn - aus dem Journal oeconomique Juillet 1753. S. 35. u. f. übersetzet, in: CIB vom 2.5. und 16.7.1767, S. 74, 118. 60 Vgl. Beitrag über den Krappanbau in England, der sich gegen die Vorurtheile wendet, wonach diese Pflanze in Bayern nicht anzubauen sei: Aus Canterbury vom 19. December [1766], in: CIB vom 20.1.1767, S. 12; zum selben Thema auch Beitrag ohne Titel, in: CIB vom 1.8.1768, S. 175. 61 Vgl. Vertrauliches Gespräche zwischen einem Pfarrer und einem erst ins Dorf angehausten Bauern in Nordgau, in: MIB vom 29.1. und 5.2.1780, S. 45f., 54 - 56. <?page no="97"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 97 der Waldnutzung 62 wurden alle typischen Themen der ökonomischen Aufklärung und der davon inspirierten Reformbestrebungen eingehend thematisiert. Neue Techniken etwa im Mühlenbau 63 oder beim Holzschutz 64 wurden ebenso behandelt wie Fragen der Konsumlenkung und Förderung heimischer Produkte, etwa über den Anbau von Surrogatpflanzen für importierten Tee (19.1.1767). 65 Das Blatt druckte Kritik am überkommenen Prozessions- und Wallfahrtswesen 66 ebenso ab wie einen eingehenden Kommentar zu einer Reformverordnung über das Trivialschulwesen. Dieser Verordnung wurde eigens ein › Extra-Blatt ‹ gewidmet, das die Alphabetisierungsbestrebungen zeitgenössischer Monarchen, die jüngsten Fortschritte der Pädagogik und nicht zuletzt Johann Basedows 1764 erschienenes Werk › Philalethie ‹ eingehend würdigte. 67 Kohlbrenner dürfte (wie Maschenbauer beim AIZ) jenseits von Anzeigen und obrigkeitlichen Verlautbarungen weite Teile der im CIB/ MIB veröffentlichten Texte selbst verfasst haben - sei es als Autor oder als Redakteur, der Meldungen und Artikel aus einem großen Fundus regelmäßig bezogener Periodika zusammenstellte bzw. zusammenfasste. Auch hinsichtlich der adressierten Leserschaft sind die Unterschiede zum AIZ weniger groß als dies auf den ersten Blick scheinen mag. Denn obschon im CIB die wirtschaftliche Entwicklung des ländlichen Raumes das dominierende Thema darstellte, gehörten (wenn man das Vokabular betrachtet) einfache Bauern und Handwerker offensichtlich nicht zu den Hauptadressaten. Die durch das Blatt angesprochenen Leser waren offensichtlich vor allem Angehörige 62 Vgl. zur Melioration: Wirthschaftlicher Gedanken von Uhrbarmachung oeder und unbebauter Aecker und Gründe, in: MIB vom 6.2., 13.2., 24.2. und 27.2.1779, S. 43f., 58f., 63 - 67, 76 - 78; zur Waldnutzung: Wie dem Gemeinde=Holzmangel abzuhelfen? , in: MIB vom 6.7.1782, S. 286. 63 Vgl. etwa eine Nachricht ohne Titel über die Erfindung einer mobilen Pferdemühle, in: CIB vom 30.1.1767, S. 10. 64 Vgl. Leichte Art, das weiße Holz- und Fichtenholz zu färben, in: CIB vom 2.5.1767, S. 73. 65 Vgl. Kurze Nachricht von einem innländischen Pflanzengewächs: so in Baiern auf dem Feld, in Gärten […] anzutreffen, dessen Blätter die Stelle des japonischen Thee […] vertretten können, in: CIB vom 19.1.1767, unpaginiert. 66 Vgl. Beitrag über die ökonomische Schädlichkeit von Wallfahrten, ohne Titel, in: MIB vom 18.7.1778, S. 243 - 248. 67 General-Landesverordnung die Einrichtung der deutschen oder Trivialschulen in den churbayerischen Landen betreffend. Dat. 3. Sept. 1770 sowie Etwas vom Schulwesen, und von der verdorbenen Policey des Herzens, in: Extra-Blatt zum CIB vom 28.10.1770, unpag.; vgl. zum Kontext u. a. D IETER H ÜTTNER , Von der Normalschule zum Lehrerseminar. Die Entstehung der seminaristischen Lehrerbildung in Bayern (Miscellanea Bavarica Monacensia 118), München 1982, S. 1f., 58f. u. ö. <?page no="98"?> L OT HA R S CHILLING 98 lokaler Eliten und landesherrliche Amtsträger 68 - letztere waren wegen der Zwangsabonnements zum erheblichen Teil ohnehin zur Abnahme verpflichtet. Ziel des Blattes und zumal der kommentierend-reflektierenden Beiträge aus der Feder Kohlbrenners war offensichtlich nicht die unmittelbare Ansprache der breiten Bevölkerung, sondern der Versuch, innerhalb der lokalen und territorialen Eliten für Reformen zu werben 69 - und (auch dies ist nicht zu übersehen) das Profil des Herausgebers als Vordenker aufgeklärter Reform zu schärfen. 70 Unter den auf Kohlbrenner folgenden Herausgebern büßte das Intelligenzblatt (nicht zuletzt wegen neuer, konkurrierender Periodika) seine Alleinstellung als Sprachrohr aufgeklärter Reformforderungen in Kurbayern ein. Es setzte jedoch die Auseinandersetzung mit Fragen der praktischen Reformpolitik ungeachtet der seit der Illuminatenkrise und erst recht seit der Französischen Revolution deutlich ungünstigeren politischen Rahmenbedingungen mit bemerkenswerter Konstanz bis zum Ende der Herrschaft Karl Theodors fort, ehe es dann mit Beginn der Montgelas-Ära zu einem Amtsblatt umgeformt wurde. Intelligenzblätter waren insofern ein Medium mit hohem Potential für die Vermittlung ökonomischen Wissens, als sie ökonomische Fragen und Themen unter vielerlei Gesichtspunkten behandelten. Wenn es gelang, sie inhaltlich auf die thematischen Schwerpunkte der Reformpolitik territorialer Obrigkeiten abzustimmen, boten sie die Chance, über die Bekanntmachung von Regelungen und Gesetzen hinaus als Diskussionsforen zu fungieren und durch informierende und meinungsbildende Beiträge die Akzeptanz und Umsetzung von Reformen zu erhöhen. 71 Diese Perspektive war für das CIB/ MIB fraglos wichtiger als für den AIZ, dessen An- 68 Die Bedeutung kurfürstlicher Amtsträger auf der lokalen wie auf der mittleren Ebene der (Rent)ämter hat die Forschung überzeugend herausgearbeitet. Vgl. etwa S TEFAN B RAKEN - SIEK , Fürstendiener - Staatsbeamte - Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten 1750 - 1830 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 12), Göttingen 1999; A NDRÉ H OLENSTEIN , Die Umstände der Normen - die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: K. H ÄRTER (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Anm. 41), S. 1 - 46; D ERS ., › Gute Policey ‹ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach) (Frühneuzeit-Forschungen 9), 2 Bde., Epfendorf 2003. 69 Vgl. M. S CHAICH , Staat und Öffentlichkeit (Anm. 40), S. 40, der das CIB/ MIB als Medium charakterisiert, »mit dessen Hilfe sich die Beamtenschaft über die dringend notwendigen Reformprojekte verständigen und zugleich die behördeninterne Diskussion für Außenstehende öffnen konnte«. 70 Den letzteren Gesichtspunkt betont M. G RIESSL , Das Churbaierische Intelligenzblatt (Anm. 50), Kap. 3.5. 71 Vgl. L. S CHILLING , Policey und Druckmedien (Anm. 41). <?page no="99"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 99 spruch, Bildung und Wissen zu vermitteln, sich nur in begrenztem Maße mit reformpolitischen Agenden der Reichsstadt Augsburg berührte, während Kohlbrenner sein Intelligenzblatt dezidiert als Pflanzschule konkreter Reformen in Kurbayern verstand. 72 In der Praxis allerdings wurde auch im Fall des CIB/ MIB nur punktuell (wie etwa bei dem erwähnten Extrablatt aus Anlass der Verordnung zum Trivialschulwesen) ein enges Zusammenspiel von Intelligenzblatt und kurfürstlicher Politik erreicht. Kohlbrenners isolierte und durch zahlreiche Konflikte mit maßgeblichen Akteuren belastete Stellung in München mag hier eine maßgebliche Rolle gespielt haben. 73 Dass die tatsächliche Nutzung des Mediums Intelligenzblatt nicht zuletzt von persönlichen und mikropolitischen Faktoren beeinflusst wurde, dürfte wiederum kein Spezifikum des CIB/ MIB sein. IV. Austausch, Zirkulation, geographischer Horizont Die traditionelle alteuropäische Ökonomie war am Ideal einer Autarkie des jeweiligen Oikos orientiert; ihr Horizont war räumlich begrenzt. Ein begrenzter Horizont ist auch bei manchen ökonomisches Wissen vermittelnden Periodika bemerkbar - etwa daran, dass viele von ihnen in ihrem Titel auf einen Ort oder ein begrenztes Territorium verwiesen, lokale bzw. territoriale Verlautbarungen und Gesetze abdruckten oder von lokalen bzw. territorialen Obrigkeiten unterstützt bzw. gefördert wurden. Mit Blick auf Intelligenzblätter wurde bereits zeitgenössisch betont, ihr Hauptendzweck […] sollte local seyn 74 - und diese normative Einschätzung wurde von der Forschung teilweise als empirisches Faktum wiederholt. 75 Der zwischen 1773 und 1781 veröffentlichte › Memmingische Haushaltungs- und Wirthschafts-Calender ‹ warb bereits im Untertitel, er enthalte viele nüzliche Lehren, Erfahrungen und Nachrichten 72 Dies unterstreicht etwa das auf Caelius Statius zurückgehende, von Cicero überlieferte Motto, das Kohlbrenner vor allem in den frühen Jahrgängen den Heften seines Intelligenzblatts voranstellte: Serit arbores quae altero saeculo prosint. Deutlich wird die praktische Reformorientierung auch an den zahllosen Beispielen gelungener Verbesserungen, die das Blatt vorstellt und zur Nachahmung empfiehlt. 73 Vgl. M. G RIESSL , Das Churbaierische Intelligenzblatt (Anm. 50), Kap. 1.1.3. 74 So C ARL J OHANN A LBRECHT M EYER , Voigtländische Beyträge zur Polizeykunde, Erstes Stück, Hof 1786, S. 4. 75 Vgl. H OLGER B ÖNING , Das Intelligenzblatt, in: F ISCHER u. a. (Hg.), Von Almanach bis Zeitung (Anm. 22), S. 89 - 104, hier 92; A STRID B LOME , Gemeinnützige Aufklärung. Vermittlungsleistungen der Publizistik, in: H ANNO S CHMIDT u. a. (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung, Bremen 2011, S. 221 - 238, hier 228. <?page no="100"?> L OT HA R S CHILLING 100 zum Besten der Nahrung und des Hauswesens, in der Stadt und auf dem Lande […] alles auf den Memmingischen und benachbarter Orte Horizont gerichtet. 76 Ungeachtet dieser Befunde war der geographische Horizont vieler ökonomisches Wissen beinhaltender Periodika bemerkenswert weit. Dies gilt nicht nur für Kalendergeschichten, die oft nicht exotisch genug sein konnten, sondern auch für verschiedenste Formen ökonomischen Wissens. 77 Wie ist diese Offenheit zu erklären? Ein erster Grund ist › weltanschaulicher ‹ Natur: Die Überzeugung, Verbesserungen seien vor allem durch die weiträumige Verbreitung lokal erprobten Wissens erreichbar, gehörte zu den Grundsätzen der Ökonomischen Aufklärungsbewegung. 78 Die in der Aufklärung generell verbreitete Tendenz, Lösungsansätze zu generalisieren, legte es nahe, die in ständischen Gesellschaften traditionell vorherrschende soziale Kammerung und Fragmentierung von Wissen zu bekämpfen. Dieser › universalistische ‹ Ansatz erlaubte es zudem, Innovationen primär als Kommunikationsaufgabe, als › Überzeugungsarbeit ‹ zur Überwindung von Indifferenz, Vorurteilen und Traditionalismus zu konzeptualisieren - und damit Druckerzeugnissen und den dahinterstehenden Akteuren eine zentrale Bedeutung bei der Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen zuzuschreiben. Dank der digitalen Verfügbarkeit frühneuzeitlicher Drucke wird zunehmend deutlich, wie stark ökonomische Periodika voneinander abschrieben. Besonders beliebt waren medizinische Hausmittel und Rezepte. Ein Beispiel: Im Mai 1777 wurde in den › Patriotischen Nachrichten der Oekonomischen Gesellschaft in Schlesien ‹ ein Honigpflaster zur Versorgung äußerlicher Verletzungen und Quetschungen empfohlen. Derselbe Artikel findet sich - nach Zwischenstationen in norddeutschen Periodika - im Juli 1777 im MIB, um in gekürzter Fassung u.a. 1786 im › Lindauischen Intelligenzblatt ‹ und 1787 in der › Wiener Ökonomischen Zeitung ‹ aufzutauchen. 79 Bislang ist der Abdruck in zehn Periodika nachweisbar, bei einem Beitrag über eine in Dänemark praktizierte Methode der Pferdepflege in neun. 80 Die bloße Verbreitung angeblich nützlichen ökonomischen Wissens reichte aber in vielen Fällen nicht aus, um Verbesserungen zu erreichen. Sieht man einmal davon ab, dass die stets behauptete Erfahrungsbasiertheit der publizierten Empfehlungen für die Leser kaum nachprüfbar war, stellte sich oftmals - zumal bei Empfehlungen jenseits der Hausmedizin - die Frage der Übertragbarkeit angeblich innovativer 76 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=022132945 (aufgerufen am 31.3.2023). 77 Vgl. etwa zu den Themen im CIB vom 21.10.1770 L. S CHILLING , Das Churbaierische (Münchner) Intelligenzblatt, S. 172. 78 Vgl. dazu L OTHAR S CHILLING , State Reform by Circulating Knowledge, in: J AKOB V OGEL / H ELGE W ENDT (Hg.), Circulation of State-Knowledge in Europe and Latin America, Cambridge (MA) 2023 (im Druck). 79 Vgl. M. G RIESSL , Das Churbaierische Intelligenzblatt (Anm. 50), Kap. 2.1.4. 80 Nachweis: L. S CHILLING , › Intelligencers ‹ (Anm. 41), S. 77. <?page no="101"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 101 Lösungen. Die Vitalität und der Ertrag neuer Nutzpflanzen etwa war abhängig von klimatischen und geologischen Gegebenheiten, Rohstoffe waren nicht überall gleichermaßen verfügbar, Tiefpflügen mochte bei Böden mit mächtiger Humusschicht zu Ertragssteigerungen beitragen, bei Böden, in denen nur wenige Zentimeter Humus den sandigen oder lehmigen Untergrund bedeckten, war es eher kontraproduktiv. Tatsächlich wurde dieses Problem seit den späten 1760er Jahren von Ökonomischen Aufklärern diskutiert, die zunehmend versuchten, lokale Gegebenheiten (etwa Klima, Bodenbeschaffenheit, Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen usw.) systematisch zu erfassen, ökonomisches Wissen also zu differenzieren und lokal zu adaptieren - zumal die Ökonomischen Sozietäten dabei eine wichtige Rolle spielten. 81 Diese Bestrebungen fanden freilich nur begrenzt Niederschlag in ökonomischen Schriften, die weiterhin fleißig aus verschiedensten Weltgegenden › Nützliches ‹ sammelten, ohne auf die lokale Umsetzbarkeit zu achten. Selbst in Intelligenzblättern überwogen nicht selten unkommentierte ökonomische Informationen aus weit entfernten Gegenden. Wertet man beispielsweise in den von Kohlbrenner herausgegebenen Jahrgängen des CIB/ MIB die Nennungen geographischer Einheiten aus und 81 Vgl. zu den Patriotisch-Ökonomischen Sozietäten neben S. G RAF , Aufklärung in der Provinz (Anm. 36), und L. H AMMERMAYER , Zur Publizistik von Aufklärung, Reform und Sozietätsbewegung (Anm. 40), etwa N ORBERT S CHINDLER / W OLFGANG B ONSS , Praktische Aufklärung - Ökonomische Sozietäten in Süddeutschland und Österreich, in: R UDOLF V IERHAUS (Hg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, Göttingen 1980, S. 255 - 353; L UDWIG D EIKE , Die Entstehung der Celler Landwirtschaftsgesellschaft. Ökonomische Sozietäten und die Anfänge der modernen Agrarreformen im 18. Jahrhundert, Hannover 1994; R UDOLF S CHLÖGL , Die patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften. Organisation, Sozialstruktur, Tätigkeitsfelder, in: H ELMUT R EINALTER (Hg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt/ M. u. a. 1993, S. 61 - 81; M. P OPPLOW (Hg.), Landschaften (Anm. 9); J ANI M ARJANEN , Moral Economy and Civil Society in Eighteenth-century Europe: The Case of Economic Societies and the Business of Improvement, in: Journal of Global Ethics 11 (2015), S. 205 - 217; K OEN S TAPELBROEK / J ANI M ARJANEN (Hg.), The Rise of Economic Societies in the Eighteenth Century. Patriotic Reform in Europe and North America, Houndsmill/ Basingstoke 2012; zur besonders eingehend erforschten Oekonomischen Gesellschaft Bern neben L. K OLB , Semantiken der Reform (Anm. 24); A NDRÉ H OLENSTEIN u. a., Nützliche Wissenschaft im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen, Heidelberg 2007; G ERRENDINA G ERBER -V ISSER , Die Ressourcen des Landes. Der ökonomisch-patriotische Blick in den Topographischen Beschreibungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern (1759 - 1855), Baden 2012; D ANIEL S ALZMANN , Dynamik und Krise des ökonomischen Patriotismus. Das Tätigkeitsprofil der Oekonomischen Gesellschaft Bern 1759 - 1797, Nordhausen 2009; M ARTIN S TUBER u. a. (Hg.), Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe. Die Ökonomische und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG (1759 - 2009), Bern u. a. 2009. <?page no="102"?> L OT HA R S CHILLING 102 zieht dabei Erwähnungen als Veröffentlichungsort und Geltungsbereich von Verordnungen ab, werden München und das Kurfürstentum Bayern seltener genannt als London, England, Wien, Frankreich und Paris. Andere bayerische Regionen oder Orte tauchen in der Rangliste der 20 meistgenannten geographischen Einheiten nicht auf. 82 Ein zweiter, medial-struktureller Grund für die geographische Offenheit und Allgemeinheit vieler Publikationen zur Ökonomie ist darin zu sehen, dass die Veröffentlichung von lokalspezifischem bzw. adaptiertem Wissen erhebliche Anstrengungen › vor Ort ‹ voraussetzte, die von den einschlägigen Druckmedien allein nicht geleistet werden konnten. Es war aufwendiger, lokales Wissen zu sammeln, als Verbesserungsvorschläge aus anderen Medien zu übernehmen. Dass ersteres durchaus möglich war, verdeutlichen etwa in Leipzig publizierte ökonomische Periodika, darunter die von Georg Heinrich Zincke herausgegebenen › Leipziger Sammlungen ‹ , 83 die von Peter von Hohenthal herausgegebenen › Ökonomischen Nachrichten ‹ 84 und das › Leipziger Intelligenzblatt ‹ 85 desselben Herausgebers. Auch in den Leipziger Periodika wurde auswärtiges ökonomisches Wissen abgedruckt - ja es erschienen hier sogar deutschsprachige Ausgaben des von der englischen › Royal Academy of Arts ‹ publizierten › Museum rusticum ‹ 86 und der › Schwedischen Akademie der Wissenschaften [neue] Abhandlungen ‹ . 87 Zugleich gab es im Umfeld dieser Periodika eine große Zahl hinreichend wohlhabender, experimentier- und mitteilungsfreudiger Gutsbesitzer, Waldbesitzer und Unternehmer, die Innovationen erprobten und über ihre (gelegentlich auch ernüchternden) Ergebnisse in den Leipziger Periodika berichteten. 88 Im bayerisch-schwäbischen Raum scheint es Vergleichbares bestenfalls ansatzweise gegeben zu haben. Die Periodika der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der sittlich-ökonomischen Sozietät in Burghausen orientierten sich eher an gelehrt-akademischen Standards. Der (durchaus eigenständige und erfolgreiche) AIZ war vorwiegend auf die häusliche Ökonomie und die Gesundheit betreffendes Wissen ausgerichtet, das in einem geringeren Maße als agrarisches und forstliches Wissen der lokalen Überprüfung und Adaption bedurfte. Das CIB/ MIB wiederum verfügte offenbar nur in begrenztem Umfang über Kontakte und Beiträger › auf dem Land ‹ und verlegte sich darauf, Beiträge aus norddeutschen Periodika, etwa den 82 Vgl. M. G RIESSL , Das Churbaierische Intelligenzblatt (Anm. 50), Kap. 3.1.1. 83 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1025300092 (aufgerufen am 31.3.2023). 84 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1046049712 (aufgerufen am 31.3.2023). 85 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=016179404 (aufgerufen am 31.3.2023). 86 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=104605130X (aufgerufen am 31.3.2023). 87 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=013241605 (aufgerufen am 31.3.2023). 88 Vgl. A NDREAS S CHÖNE , Die Leipziger Ökonomische Sozietät von 1764 bis 1825, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 70 (2000), S. 53 - 78. <?page no="103"?> P ERIOD IKA AL S M EDIEN DER V E RMIT TLUNG ÖKON OMIS CH EN W IS S EN S 103 › Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten ‹ 89 , dem › Hannoverschen Magazin ‹ 90 und dem bereits erwähnten › Leipziger Intelligenz-Blatt ‹ zu übernehmen. 91 Manches weist darauf hin, dass das Münchener Intelligenzblatt seinerseits als Vorlage für Blätter wie die › Fränkisch ökonomisch-landwirthschaftlichen Manchfaltigkeiten ‹ 92 und das kurzlebige › Intelligenzblatt der gefürsteten Grafschaft Tirol ‹ 93 diente; auch das › Lindauische Intelligenzblatt ‹ 94 übernahm gelegentlich Artikel. Doch bis heute fehlt zumal für den schwäbischen Raum eine systematische Erfassung und Analyse der ökonomischen Themen gewidmeten Periodika des 18. Jahrhunderts - eines für die Erforschung der Ökonomischen Aufklärung und ihrer druckmedialen Bildungsanstrengungen in diesem Raum fundamentalen Quellenbestandes. Dieser Beitrag endet deshalb mit dem Aufruf, diese Forschungslücke zu schließen - zumal uns mit den Möglichkeiten der Digitalisierung und automatischen Texterkennung heute Werkzeuge an die Hand gegeben sind, um ein solch übergreifendes Projekt mit besseren Erfolgsaussichten zu realisieren. 89 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=011376236 (aufgerufen am 31.3.2023). 90 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=989686027 (aufgerufen am 31.3.2023). 91 Zum Ganzen M. G RIESSL , Das Churbaierische Intelligenzblatt (Anm. 50), Kap. 2.1.2. 92 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1046048465 (aufgerufen am 31.3.2023). 93 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1059537745 (aufgerufen am 31.3.2023). 94 Nachweis: https: / / zdb-katalog.de/ title.xhtml? idn=1059502925 (aufgerufen am 31.3.2023); zum Ganzen M. G RIESSL , Das Churbaierische Intelligenzblatt (Anm. 50), Kap. 2.3. <?page no="105"?> 105 R EGINA D AUSER Realienkunde für künftige Handwerker? Zum Augsburger Schulwesen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Im vielzitierten › pädagogischen Zeitalter ‹ des 18. Jahrhunderts wurden in Europa, so auch im Heiligen Römischen Reich, zahllose Projekte zur Reform der schulischen Ausbildung entworfen, umgesetzt - aber wohl mindestens ebenso oft verworfen oder mehr oder minder abrupt beendet. Neben Initiativen zur Verankerung der Schulpflicht, neben neuen pädagogischen Konzepten, die der Vervollkommnung des Menschen und der optimalen Ausbildung seiner Anlage Rechnung tragen sollten, wurden auch Bildungsinitiativen mit gemeinnützig-ökonomischem Hintergrund entwickelt, die eine fachspezifische schulische Ausbildung des landwirtschaftlichen, handwerklich-gewerblichen und kaufmännischen Nachwuchses empfahlen, um die Qualität der Ausbildung zu steigern - und damit auch die › Nützlichkeit ‹ des Einzelnen für die Gesellschaft. 1 Die »Lücke, die zwischen Elementarschule [die neben religiöser Unterweisung insbesondere Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln sollte] und Gelehrtenschule bestand«, 2 wurde bis zur Ausformung entsprechender Schulkonzepte nahezu ausschließlich durch die handwerkliche und kaufmännische Ausbildung in der Meisterwerkstatt oder im Kaufmannskontor ausgefüllt. Nach Auffassung nicht weniger Reformer sollte sie insbesondere seit dem späten 17. Jahrhundert durch Schulen oder Schulzweige mit einer deutlicheren Orientierung auf beruflich-praktische Tätigkeiten ergänzt werden; die › Realien ‹ sollten auch im schulischen Unterricht zur Geltung kommen und das Niveau der (kunst-)handwerklichen und kaufmännischen Fähigkeiten erhöhen. Mit diesem Ziel ist bis heute der Begriff der Realschulen verbunden - die ersten Bildungseinrichtungen dieses Namens, ungeachtet konzeptionell eng verwandter Vorläuferinstitute, wurden im Heiligen Römischen Reich zu Beginn des 18. Jahr- 1 Zur Einordnung des 18. Jahrhunderts in die deutsche und europäische Bildungsgeschichte in neueren Handbüchern vgl. grundlegend: N OTKER H AMMERSTEIN / U LRICH H ERMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert: Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005; knapp auch K ONRAD F EES , Geschichte der Pädagogik. Ein Kompaktkurs, Stuttgart 2015, S. 156 - 175. 2 So - aus der Sicht des Schulforschers - L EONHARD F RIEDRICH , Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz durch Schule. Schulversuche in Thüringen - Ende des 17., Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts, in: S TEFAN G ERBER u. a. (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland. Hans-Werner Hahn zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Göttingen 2014, S. 15 - 50, hier 31. <?page no="106"?> R EGINA D AUS ER 106 hunderts begründet. 3 Die Zahl der Variationen, mit denen eine Vorbereitung auf nicht-akademische Berufe in schulische Bildungskonzepte des 18. Jahrhunderts integriert werden sollte, war erheblich und bezog dezidiert auch Mischformen ein, die keinen eigenen Schultyp kreierten, sondern sowohl Elementarschulals auch gymnasiale Bildungskonzepte zu erweitern versuchten. Einem derartigen Reformanlauf durch die Konzipierung einer › Stadtschule ‹ oder auch › Bürgerschule ‹ 4 mit dem Wunsch der Einbeziehung künftiger Handwerker, Künstler und Kaufleute in die Schülerschaft widmet sich der hier vorliegende Beitrag. Am Beispiel der Umgestaltung des - ursprünglich exklusiv auf das universitäre Studium vorbereitenden - evangelischen Augsburger Gymnasiums bei St. Anna von den 1760ern bis in die 1790er Jahre soll hier der Umbau eines reichsstädtischen Gymnasiums zu einer 3 Laut Rudolf W. Keck und Thomas Töpfer trug Christoph Semlers 1704 in Halle/ Saale begründete vorbereitende Handwerkerschule erstmals den Namen einer › Realschule ‹; vgl. R UDOLF W. K ECK , Das Selbstverständnis der Realschule im historischen Wandel, in: J ÜRGEN R EKUS (Hg.), Die Realschule. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie, Weinheim- München 1999, S. 15 - 32, hier 16; T HOMAS T ÖPFER , Art. Realschule, in: F RIEDRICH J AEGER u. a. (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit online, 2019, http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_ edn_COM_333974 (aufgerufen am 28.2.2023); vgl. zur Entwicklung auf dem Gebiet des heutigen Bayern, frühere Formen wie Handwerkerschulen des 16. Jahrhunderts oder Mädchenbildungsinstitute einschließend, den Überblick bei H UBERT B UCHINGER , Ansätze zu einer »Realschule«, in: M AX L IEDTKE (Hg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens, Bd. 1: Geschichte der Schule in Bayern. Von den Anfängen bis 1800, Bad Heilbrunn 1991, S. 687 - 700; ebenso mit Bezug auf Thüringen L. F RIEDRICH , Anbahnung (Anm. 2). 4 Die › Bürgerschule ‹ als Ort einer › mittleren ‹ Schulbildung war in der schulischen Praxis nicht klar von › Realschulen ‹ oder im Curriculum reformierten › Lateinschulen ‹ zu unterscheiden. Genauso wie die › Stadtschule ‹ verweist sie gleichwohl in der Tendenz auf den eher städtischgewerblichen Kontext. Im Hinblick auf das Augsburger Reformprojekt waren sowohl der Begriff der Bürgerschule wie derjenige der Stadtschule in Gebrauch, siehe dazu weiter unten. Vgl. zur Bürgerschule im Überblick J ENS B RUNING , Art. Bürgerschule, in: F RIEDRICH J AEGER u. a. (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit online, 2019, http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_SIM_250458 (aufgerufen am 28.2.2023). - Hilfreich bei der begrifflichen Eingrenzung durch den Verweis auf spätere › Realgymnasien ‹ mit einem fortwährenden Anspruch auf höhere Bildung, wenn auch mit stärkerer Betonung von Befunden für das 19. Jahrhundert, ist der Beitrag von F RANK -M ICHAEL K UHLEMANN , Die höheren Bürgerschulen. Vergleichende Aspekte des »mittleren« Schulwesens im Rheinland, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 59 (1995), S. 123 - 151, hier bes. 125 - 129. - Ein vergleichbares Projekt zur Reformierung eines reichsstädtischen Gymnasiums wurde in etwa zur selben Zeit im Schwäbischen Reichskreis auch in Lindau verfolgt; vgl. hierzu kurz L. F RIEDRICH , Anbahnung (Anm. 2), S. 37; F ERDINAND E CKERT , Geschichte der Lateinschule Lindau. FS zum Gedächtnis der Gründung der Lateinschule Lindau vor 400 Jahren 1528 - 1928, Lindau 1928, bes. S. 26 - 30. <?page no="107"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 107 Bildungsstätte mit dem Anspruch einer breiten, auch gewerblichen Basisausbildung näher beleuchtet werden. Sowohl die Erwartungen und Hoffnungen, die von den Akteuren in die Reformen gesetzt wurden, als auch die Schwierigkeiten einer Umbildung des Schulkonzepts bei laufendem Betrieb sind hier näher in den Blick zu nehmen. Das umfängliche überlieferte Quellenmaterial, aus dem auch schon Reinhard Nießeler, Thomas Felsenstein und Oliver Hochadel in früheren Beiträgen zur Augsburger Schulgeschichte und zu den Reformen des Gymnasiums bei St. Anna schöpften, 5 kann auch in dem vorliegenden Beitrag nur ausschnitthaft einbezogen werden; eine intensivere Aufarbeitung der vielfältigen Reformimpulse aus Kreisen der städtischen Elite wie auch der Lehrerschaft wäre ebenso lohnenswie wünschenswert. 1. Die Konturierung des Reformbedarfs in den 1760er Jahren Das Gymnasium bei St. Anna, 1531 begründet, war eine von zwei Bildungseinrichtungen der Stadt, die auf das universitäre Studium vorbereiteten. Im paritätischen Augsburg war es die höhere Bildungsstätte für den protestantischen, männlichen, akademischen Nachwuchs, während die Vorbereitung katholischer Jungen auf die Universität durch das Jesuitengymnasium St. Salvator geleistet wurde (1582 in der Stadt etabliert). 6 Elementarbildung war Sache der › deutschen Schulen ‹ Augsburgs, wiederum konfessionell separiert, zu denen gleichfalls Mädchen Zugang hatten und die sich ganz auf religiöse Unterweisung, Lesen und Schreiben konzentrierten. Nicht zu vergessen, wenn auch für Augsburg weitgehend unerforscht, sind die sogenannten Winkelschulen, die als eine Art Kleinst-Bildungsunternehmen von privaten Anbietern gerade für fachspezifischen Unterricht künftiger Gewerbetreibender ohne Ratskontrolle agierten, sowie die Privatlehrerschaft, die von der schmalen wohlhabenden Schicht des Augsburger Bürgertums engagiert wurde. Winkelschulen wie Privatlehrer können hier nur am Rande - aus der Perspektive der Augsburger Schulreformer - thematisiert werden. Überdies kann auf die Geschichte der deutschen Schulen, selbst auf die zumal im 18. Jahrhundert angesichts des zeitweisen Verbots des Jesuitenordens wechselvolle Geschichte St. Salvators, hier nicht eingegangen 5 Vgl. M ARTIN N IESSELER , Augsburger Schulen im Wandel der Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des Augsburger Schulwesens, Augsburg 1984; T HOMAS F ELSENSTEIN , Humanismus und/ oder Realismus? , in: K ARL A UGUST K EIL (Hg.), Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg. 475 Jahre von 1531 bis 2006, Augsburg 2006, S. 73 - 113; O LIVER H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung, Göttingen 1999, S. 86 - 140. 6 Zur Geschichte des Gymnasiums bei St. Anna vgl. K. A. K EIL (Hg.), Das Gymnasium bei St. Anna (Anm. 5). Einen guten Überblick über die Entwicklung St. Salvators bietet: W OLF - RAM B AER (Hg.), Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg 1582, München 1982. <?page no="108"?> R EGINA D AUS ER 108 werden; Initiativen zur Integration einer schulischen Handwerkerausbildung sind in dieser Zeit nur für das Gymnasium bei St. Anna zu vermelden - ungeachtet der Tatsache, dass die Bevölkerungsmehrheit Augsburgs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine katholische war. 7 Die Komplexität der Augsburger Gymnasialreform hat der wohl bekannteste Vertreter der reichsstädtischen Administration in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Paul von Stetten d. J., in seiner Selbstbiographie pointiert umrissen. Vom Geheimen Rat wurde Stetten ebenso wie Johann Christoph von Rauner 1769 zum Visitator des Gymnasiums ernannt, dem Scholarchat als aufsichtführender Schulbehörde zuarbeitend. Insbesondere Stetten war mit Fragen der Augsburger Schulpolitik und Schulreform bereits vertraut, denn schon 1756 hatte er bei einer Begehung der deutschen Schulen in Augsburg mitgewirkt, die 1773 in eine erneuerte Schulordnung für den Elementarunterricht in Augsburg mündete. Stetten stand rund zehn Jahre später zudem maßgeblich hinter dem Projekt der Neuorganisation der 1710 in städtische Regie übernommenen Kunstakademie im Jahr 1779, die enorme Bedeutung für die wirtschaftliche wie auch kulturelle Außenwirkung der Reichsstadt hatte. 8 Das anzugehende Reformprojekt › Gymnasium bei St. Anna ‹ konturierte Stetten mit folgenden Worten: Unsere Haupt-Absicht war von Anfang an, den Unterricht, der sich bißher nicht viel weiter als auf Religion und Sprachen erstreckte, gemeinnüziger zu machen, so daß nicht nur der künftige Gelehrte, sondern auch der Kaufmann, Künstler und Handwerksmann mehrern Nuzen daraus sollte ziehen können, und folglich zu Erlangung nüzlicher Kentniße einen Anfang bald in den untern Claßen zu machen. Allein zu Erreichung derselben fehlte es allenthalben: 1. Fehlten uns geschickte, willige und hinreichend besoldete Lehrer. 2. schickliche Lehr-Bücher. 7 Grundlegende Informationen zum Augsburger Schulwesen vermittelt nach wie vor in erster Linie M. N IESSELER , Augsburger Schulen (Anm. 5). Zur Bevölkerungsentwicklung und konfessionellen Verortung der Bevölkerung - die Entwicklung der katholischen Mehrheit ist insbesondere auf Zuzug aus den Augsburg umgebenden ländlichen Regionen zurückzuführen; vgl. E TIENNE F RANÇOIS , Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648 - 1806 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33), Sigmaringen 1991 (hier besonders der erste Teil, S. 33 - 72). 8 Vgl. hierzu den knappen biographischen Überblick in P AUL VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie. Die Lebensbeschreibung des Patriziers und Stadtpflegers der Reichsstadt Augsburg (1731 - 1808), Bd. 1: Die Aufzeichnungen zu den Jahren 1731 bis 1792, bearb. von B ARBARA R AJKAY / R UTH VON S TETTEN (Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch- Schwaben 5.1) S. XI - XIII; zur Kunstakademie besonders B RUNO B USHART , Die Augsburger Akademien, in: A NTON W. A. B OSCHLOO (Hg.), Academies of Art between Renaissance and Romanticism (Leids kunsthistorisch jaarboek 5/ 6), ’ s-Gravenhage 1989, S. 332 - 347. <?page no="109"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 109 3. Bücher für die Lehrer, um sich selbst erst in dem, was sie vortragen sollten fester zu sezen. 4. Instrumente, Modelle, Naturalien und endlich 5. die Hauptsache, Geld. 9 Die Nützlichkeit als eine vielzitierte Zielvorstellung aufklärerischen Wissens konnte Stetten gar nicht oft genug betonen - und insbesondere den gemeinen Nutzen, den ein elitäres, auf die Universität vorbereitendes Bildungsinstitut offenbar nicht mehr hinreichend belegen konnte. Wie Stetten in seiner Selbstbiographie ebenfalls anmerkte, waren Reformen des Fächerkanons und Lehrkonzepts bereits geraume Zeit in der Diskussion gewesen. 10 Schon in den 1730er Jahren hatten sich in der evangelischen Augsburger Oberschicht die Stimmen gemehrt, das Bildungskonzept des traditionsreichen, 1531 begründeten Anna-Gymnasiums sei nur noch bedingt zeitgemäß. Inspiriert durch neue Tendenzen der Praxisorientierung zumal in der pietistischen Pädagogik, die der patrizische Nachwuchs teilweise selbst, etwa in Halle, dem Zentralort pietistischer Pädagogik um August Hermann Francke, 11 kennengelernt hatte, wurde der Ruf nach der Einbindung von › Realien ‹ in den Lehrplan St. Annas immer lauter, denn in der Tat war, wie auch Stetten dies noch mehr als 30 Jahre später konstatierte, der Unterricht von der Lehre der alten Sprache und der religiösen Unterweisung dominiert. Stettens oben zitierte Feststellung markiert einen Zwischenstand in einem jahrzehntelangen, mühsamen Diskurs zwischen Reformbefürwortern aus der Stadtgesellschaft, die auch unter der jüngeren Lehrerschaft heranwuchsen, dem Scholarchat als der städtischen Aufsichtsbehörde über das Schulwesen und den Rektoren von St. Anna, die seit Anfang des 18. Jahrhunderts auf Lebenszeit bestellt waren. Thomas Felsenstein, der unsere Kenntnisse über die Schulgeschichte St. Annas über die Arbeit von Nießeler hinaus noch einmal entscheidend erweitert hat, spricht in diesem Zusammenhang von einem »langen und oft quälend langsamen Veränderungsprozess [ … ].« 12 Was muss man sich unter › Realien ‹ oder › Nützlichen Wissenschaften ‹ , wie Reformer den neuen Fächerkanon apostrophierten, vorstellen? Zu den Disziplinen, die in den Kanon des Anna-Gymnasiums erst neu aufgenommen oder sukzessive gestärkt werden sollten, zählten - für heutige Erwartungen an die Etablierung von › Allgemeinbildung ‹ höchst erstaunlich - neben Geschichte und Geographie ab den 1740er Jahren auch die Mathematik, überwiegend in Form eines Wahlbzw. Ergänzungs- 9 P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8). 10 P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8), S. 39. 11 Vgl. M ADLEN B REGENZER , Pietistische Pädagogik und Schulreformen im Augsburger Bildungswesen des 18. Jahrhunderts, in: R EINHARD S CHWARZ (Hg.), Samuel Urlsperger (1685 - 1772). Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkungen und Binnenwelt (Colloquia Augustana 4), S. 131 - 150; H OLGER Z AUNSTÖCK / T HOMAS M ÜLLER -B AHLKE / C LAUS V ELT - MANN (Hg.), Die Welt verändern. August Hermann Francke - ein Lebenswerk um 1700 (Kataloge der Franckesche Stiftungen zu Halle 29), Halle 2013. 12 T. F ELSENSTEIN , Humanismus (Anm. 5), S. 75. <?page no="110"?> R EGINA D AUS ER 110 angebots. Felsenstein wies mit Nachdruck darauf hin, wie schwierig es gewesen sei, diese Erweiterungen, die durchaus allseits als wünschenswert angesehen wurden, langfristig in die Tat umzusetzen. 13 Ein Beispiel für den Reformeifer in den Jahren vor der Schulreform von 1769 vermag das von Oliver Hochadel untersuchte Wirken des jungen Theologen Johann Christoph Thenn (1729 - 1783) zu geben, der in den 1750er Jahren mehrere Jahre auch als Lehrer, sogar als Gehilfe des damaligen Rektors, an St. Anna tätig war, bevor er als Diakon an St. Ulrich wechselte. Thenns Schwager war kein geringerer als Georg Friedrich Brander (1713 - 1783), der europaweit bekannte und geschätzte Augsburger Präzisionsmechaniker, den Oliver Hochadel als Kristallisationsfigur eines privaten Zirkels von wissenschaftlich-technisch Begeisterten identifizierte. 14 Thenn verschrieb sich insbesondere dem (nach damaliger disziplinärer Verortung) naturkundlichen Unterricht, namentlich der Physik, und setzte sich nicht allein für die Verankerung des naturkundlichen Unterrichts im Curriculum von St. Anna, sondern auch für die allgemeine Zugänglichkeit von Vorlesungen und Demonstrationen zur Physik ein - und scheiterte mehrfach mit seinen Eingaben an das Scholarchat, deren erste auf das Jahr 1756 datierte. 15 Das Evangelische Kirchenarchiv St. Anna bewahrt in den Scholarchatsakten Thenns Eingaben um die Verankerung des öffentlichen naturkundlichen Unterrichts ebenso wie die diesbezüglichen Kommentare des evangelischen Scholarchats. Die Lektüre vermittelt einen guten Eindruck von den beschriebenen Mühen des Reformprozesses: In seiner Nähere[n] Erläuterung einiger Umstände die öffentliche Vorlesungen der Experimental Physic betrefend, dem Scholarchat am 28. Februar 1765 vorgelegt, versuchte Thenn zum wiederholten Mal, Bedenken des Scholarchats zu zerstreuen, ohne genügende Vorbildung entstehe durch öffentliche Veranstaltungen zur Experimentalphysik kein Nuze, sondern das Publikum werde die experimenta ohn allen Verstand und Begrif ansehen und wider davon gehen, wie sie gekommen sind. 16 Das Scholarchat war weiterhin nicht zu überzeugen, auch nicht angesichts vergleichbarer Konzepte öffentlicher Vorlesungen in anderen Reichsstädten wie Nürnberg - für einen Unterricht, der über den eingegrenzten Schülerkreis von St. Anna hinausging, erklärte man sich für nicht zuständig. 17 13 Vgl. T. F ELSENSTEIN , Humanismus (Anm. 5), S. 83. 14 Vgl. I NGE K EIL , Augustanus Opticus. Johann Wiesel (1583 - 1662) und 200 Jahre optisches Handwerk in Augsburg (Colloquia Augustana 12), Berlin 2000, S. 191 - 195; O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 92. 15 O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 120. 16 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 5b, unpaginiert, zitiert auch bei O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 126. 17 Vgl. O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 127. <?page no="111"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 111 Neben Bedenken des Scholarchats wirkten nicht zuletzt die Reserviertheit mehrerer Rektoren, die nicht selten in hohem Alter und damit einer ganz anderen Bildungstradition entstammend quasi am offenen Herzen ihres laufenden Schulbetriebs operieren sollten, bremsend auf den Reformprozess, der gleichwohl Tendenzen entsprach, wie sie in weiten Teilen des Heiligen Römischen Reiches in Umsetzung kamen. Nicht zu gering veranschlagen sollte man freilich auch Faktoren, die noch Stetten anklingen ließ: ein zahlenmäßig höchst beschränktes Lehrerkollegium ohne Ausbildung in den geforderten neuen Disziplinen, dessen Besoldung zudem phasenweise durchaus zu wünschen übrig ließ. 18 2. Die neue › Stadtschule bei St. Anna ‹ Stettens und Rauners Visitation jedoch brachten 1769 eine Entwicklung ins Rollen, die nicht mehr aufzuhalten war, vor allem angesichts des Zuspruchs, den sie als Mitglieder der patrizischen Elite bei ihren Standesgenossen zu erlangen vermochten und mit dem sie Anschluss an Entwicklungen fanden, die zahlreiche Schulreformer im Reich bereits seit geraumer Zeit umtrieben und zumindest zum Teil bereits erfolgreich umsetzten: Anregungen stammten nicht zuletzt vom Berliner Realschulkonzept Johann Julius Heckers, dessen zentrale Reformschrift durch Branders Berliner Kontakte an Stetten kam. Hecker selbst war deutlich von Franckes pädagogischen Konzepten beeinflusst; Heckers Prinzip einer › Fach- oder Berufsschule ‹ wurde freilich nicht übernommen. 19 Die vier unteren der insgesamt sechs Klassen sollten nach dem Konzept einer › Bürgerschule ‹ der Ausbildung für praktische Berufe Rechnung tragen, die oberen Klassen nach wie vor auf den Besuch der Universität vorbereiten. Angeboten bzw. sukzessive ausgebaut werden sollten Naturgeschichte und Naturlehre, Mathematik und Physik, als Wahlunterricht auch Französisch und Italienisch. Ein Zeichenmeister wurde angestellt. Dass einer der späteren Rektoren, Daniel Beyschlag, in seiner Schulgeschichte St. Annas von 1805 bei diesen neuen bzw. ausgebauten 18 Die Problematik der Besoldung durch eine chronisch hoch verschuldete Stadtführung wird auch von Stetten immer wieder zum Thema gemacht; vgl. etwa P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8), S. 48 u. ö. 19 Erschlossen aus dem Briefwechsel Branders durch O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 128. - Heckers ökonomisch-mathematische Realschule wurde 1747 in Berlin begründet. Vgl. die knappe Bewertung bei K. F EES , Geschichte der Pädagogik (Anm. 1), S. 163; zur (Selbst-)Einschätzung des Heckerschen Wirkens vgl. auch F RIEDRICH -F RANZ M ENTZEL , Johann Julius Heckers Potsdamer Briefe an Gotthilf August Francke 1737/ 1738. Selbsteinschätzung pietistischer Wirksamkeit zehn Jahre nach August Hermann Franckes Tod, in: P ETER D REWEK (Hg.), Ambivalenzen der Pädagogik. Zur Bildungsgeschichte der Aufklärung und des 20. Jahrhunderts. Harald Scholtz zum 65. Geburtstag, Weinheim, 1995, S. 47 - 62. <?page no="112"?> R EGINA D AUS ER 112 Fächern von denjenigen sprach, die von Nebenlehrern unterrichtet wurden, deutet freilich an, dass eine feste Verankerung dieser Fächer damit noch nicht gegeben war. 20 Vom Konzept her reihte Augsburg sich damit unter zahlreichen vergleichbaren Projekten zur Aufnahme der Realien in weiterführende Bildungsinstitute ein, entsprach also in Ziel sowie institutionellem Ansatz ganz dem zeitgenössischen Trend. 21 Was in Augsburg damit also nicht realisiert wurde, war eine Realschule, die separat vom Gymnasium künftige Handwerker und Kaufleute auf ihre Tätigkeit vorbereiten sollte. Das neue Konzept einer › Stadtschule bei St. Anna ‹ mit seinem erneuerten Fächerkanon wurde begleitet von einer zeittypischen Ergänzung des Lehrkonzepts durch einen sensualistischen Zugang, 22 mit dem St. Anna eine reiche, stetig wachsende Sammlung von gegenständlichen Lehrmaterialien beschert wurde. Initiiert wurde diese Sammlung just von Stetten und Rauner durch den Aufruf zu einer Spendenaktion, die sich sehr rasch als sehr erfolgreich erwies; Hochadel spricht angesichts des Wachsens der Sammlung und ihrer stolzen Präsentation vor der Öffentlichkeit geradezu von der Entwicklung einer »Prestigefunktion« der Sammlung für die Schule. 23 Stetten kommentierte die erfolgreiche Sammlung zwar freudig, wusste aber nur zu gut um die noch ungelösten Aufgaben: Ich wußte sehr wohl, daß wir noch keine Lehrer hatten, welche diese Dinge [die Sammlungsgegenstände, R.D.] zu gebrauchen wußten, das schreckte mich aber nicht ab, und ich hofte auf eine beßere Zukunft. 24 Den Stand der Sammlung dokumentierte 1778 der damalige Rektor Hieronymus Mertens in einer kleinen Druckpublikation, die nach heutigen Maßstäben als eine Art schulischer Jahresbericht zu klassifizieren wäre: 25 Auf immerhin knapp zehn Seiten wurden die Sammlungsgegenstände aufgelistet, unter Anführung zahlreicher Apparaturen und Werkzeuge, die zur Unterrichtung künftiger Handwerker dienen konnten. So wurden z. B. angeführt: diverse Modelle mechanischer Apparaturen wie etwa Pump- und Schöpfwerke, aber auch sämtliches Handwerkszeug unterschiedlichster Professionen, ebenso Modelle der Apparaturen und Werkzeuge der Textilherstellung vom Webstuhl über die Haspel zum Spinnen bis hin zur mechanischen Rolle, die bei der Fabrikation von Kattun in den Augsburger Manufakturen zum Einsatz kam; für die Demonstrationen zum Baugewerbe waren Modelle von Dach- 20 Vgl. D ANIEL B EYSCHLAG , Kurze Geschichte des bey dem evangelischen Antheil in Augsburg in den neuern Zeiten verbesserten Schul- und Erziehungswesens […], Augsburg 1805, S. 8. 21 Vgl. auch die Beispiele bei H. B UCHINGER , Ansätze (Anm. 3). 22 Vgl. mit weiterer Literatur O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 123. 23 O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 129. 24 P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8), S. 47. 25 H IERONYMUS A NDREAS M ERTENS , Sechste und letzte Fortsetzung der Nachricht von der jetzigen Verfassung des Evangelischen Gymnasii zu Augspurg […], Augsburg 1778, S. 15- 24. <?page no="113"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 113 stühlen ebenso vorhanden wie solche von Dachziegeln; unter den Bildmaterialien der sog. Zeichnungsschule befanden sich Risse von Bauten und Bauteilen für künftige Baumeister, Zimmerer, Schreiner, auch Vorlagen für dekorative Schmuck-Elemente an Gebäudefassaden und Mobiliar; für spezialisierte Instrumentenmacherei kamen Anschauungsobjekte der Optik bis hin zu Instrumenten aus der Werkstatt Branders zum Zuge. Nach dem Verständnis der Zeit durfte in der Unterabteilung der physikalischen Sammlung auch eine Elektrisiermaschine nicht fehlen, mit der elektrische Ladung erzeugt werden konnte. 26 Wenn man auch zweifeln darf, ob die Verwendung des Modells eines traditionellen Webstuhls oder einer Haspel im Unterricht tatsächlich auf die Ausbildung künftiger (Hand-)Weber abzielte und ob eine solche schulische Demonstration wirklich einen Mehrwert gegenüber der traditionellen zünftischen Ausbildung im Meisterbetrieb hätte erzielen können - bei etlichen Sammlungsgegenständen springt die Verwendbarkeit für eine avancierte schulische Handwerker-Bildung durchaus ins Auge. So vermeldete Rektor Mertens auch selbstbewusst und werbend, wie sehr eine angemessene schulische Ausbildung dem künftigen Handwerker anstehe und wie nützlich die bei St. Anna gelehrten Fächer doch gerade vielen Handwerken seien, man denke allein an die Geometrie oder an die Zeichenkunst. 27 Wie mühsam sich dagegen die Rekrutierung geeigneter Lehrkräfte gestaltete, wird aus einer kleinen Schrift deutlich, die der spätere Rektor Daniel Beyschlag zu Ehren Pauls von Stetten - anlässlich dessen Goldener Hochzeit - verfasste. Sein feierlicher Ton suchte zwar die Erfolge herauszustreichen, doch wenn man die Chronologie näher betrachtet - und Stettens häufig recht deutliche Kommentare zum Stand der Schulreform in seiner Selbstbiographie - so wird doch offenbar, auf welch niedrigem Niveau man mit der Erweiterung des Curriculums an St. Anna gestartet war, und in nicht wenigen Fächern auch verharren sollte: Als außerordentlicher Lehrer für die Mathematik wurde 1768 ein Mann der Praxis, der Bauamts-Gegenschreiber, spätere Baumeister und Scholarch Johann Kaspar Mayr in Dienst genommen; sein Lehrdeputat betrug fünf Stunden wöchentlich für die drei oberen Klassen. Mit der Mathematik nicht zu verwechseln war der Unterricht im Rechnen; Stunden einer St. Anna traditionell angegliederten Schreib- und Rechenschule, die auch Beyschlag erwähnt, liefen außerhalb des humanistischen Curriculums. 28 1769 wurde der Unterricht auf sieben Stunden erweitert - die freilich Arithmetik und Geometrie, mathematisches Zeichnen, Physik und Mechanik, alles in Bezug auf das bürgerliche Leben, abdecken mussten. Hierfür waren ab 1772 drei Lehrkräfte mit entsprechend schmalem Stundendeputat 26 Zur Elektrisiermaschine und ihrer Eingliederung in die Sammlung vgl. O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 132. 27 H. M ERTENS , Sechste und letzte Fortsetzung (Anm. 25), S. 13f. 28 Vgl. D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. <?page no="114"?> R EGINA D AUS ER 114 zuständig. 29 Rücksichtnahmen auf eine etablierte Lehrkraft und deren bei vollzogener Reform geschmälertes Salär führten dazu, dass der Mathematikunterricht für die zweite Klasse erst Jahre später, 1777, eingeführt wurde - ein Zeichen für die Behutsamkeit, mit der die Reformer zu Werke zu gehen versuchten, aber ebenso für die starken Beharrungskräfte des Etablierten, auch in personeller Hinsicht. 30 1782 jedoch wurde der Unterricht in Physik, Mechanik, mathematischem Zeichnen eingestellt - Beyschlag führte dies auf den Befund zurück, dieses Angebot habe nur wenig Liebhaber gefunden. Immerhin konnten mathematisches Zeichnen und Technologie 1786/ 87 wieder eingerichtet werden, wenn auch mit niedrigem Stundendeputat. 31 Die Anstellung des Zeichenmeisters für das freie Handzeichnen ab 1770 war dagegen laut Beyschlag von Anfang an eine Erfolgsgeschichte. 32 Abgesehen davon, dass durch die Verpflichtung zusätzlichen Lehrpersonals an eine Erhöhung der Besoldung vorläufig nicht zu denken war, war auch das Klima unter der zusehends heterogener werdenden Lehrerschaft offenbar nicht das Beste. Stetten, 1774 ins Amt eines Scholarchen, ab 1792 dann des Stadtpflegers und damit obersten Amtsträgers aufgestiegen, war mit Sicherheit kein bequemer Akteur in Sachen Schulreform. Doch recht offensichtlich existierten im Kollegium nicht nur zu Beginn der Reform, sondern auch noch Jahre später massive Widerstände gegen die Neukonzeption des Gymnasiums. Mit dieser ging die Erwartung ihrer Initiatoren einherging, Lehrkräfte, bislang in erster Linie auf Religions- und Sprachenunterricht konzentriert, würden sich sukzessive im Eigenstudium Kenntnisse zu den gewünschten neuen Fachgebieten aneignen. Das Fachlehrerprinzip galt nur für die zusätzlichen außerordentlichen Lehrkräfte (anders als in manchen zeitgenössischen Realschulprojekten). 33 Stetten lässt in seiner Selbstbiographie wiederholt Auseinandersetzungen mit Rektor und Lehrkräften um die Umsetzung der Reformen aufscheinen, auch in nur gelegentlichen Anmerkungen wie etwa im Jahr 1776, anlässlich von Streit im Kollegium selbst: [ … ] so bin ich doch mit Verbeßerung des ganzen noch lange nicht zufrieden und finde, daß es leichter ist, unwißende Handwerksleuthe zur Pflicht zu bringen als stolze Schul-Gelehrte. 34 Auch für das Jahr 1787 noch merkte er den massiven Widerstand einzelner Lehrkräfte gegen die Realisierung des Konzepts der Bürgerschule an. 35 Ein 1794 vom Scholarchat in Auftrag gegebener neuer Lehrplan kam nicht zur 29 Vgl. D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 13. 30 Vgl. D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 11. 31 Vgl. D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 13. 32 Vgl. D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 13f. 33 Vgl. den Überblick bei H. B UCHINGER (Anm. 3). 34 P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8), S. 76. 35 Sowohl die Begriffe der Stadtschule wie der Bürgerschule waren in Gebrauch; Beyschlag etwa sprach in seiner Schulgeschichte konsequent von der Bürgerschule. <?page no="115"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 115 Umsetzung, was rückblickend mit einer langwierigen Erkrankung Rektor Mertens ’ wie auch mit den Kriegstroublen der Koalitionskriege begründet wurde. 36 Bezeichnend ist auch, wer sich bald nach Reformbeginn in der Rolle des Schulbuchautors wiederfand. Der Mangel an geeigneten Lehrbüchern, passend zum Reformkonzept, führte dazu, dass Stetten schließlich selbst zur Feder griff, zusammen mit Johann Christoph von Rauner und Hieronymus Andreas Mertens, damals noch Gehilfe des amtierenden Rektors. Stetten zufolge griffen er selbst und Rauner erst ein, als sich herausgestellt habe, dass Mertens der Aufgabe allein nicht gewachsen gewesen sei. 37 Der Leiter des St.-Anna-Kollegs, 38 Neuhofer, wurde laut Stetten ebenso zum Berater der Anlage des Werkes wie der junge Augsburger Theologe Graf und der Nördlinger Schulrektor Johann Friedrich Schöpperlin, der zu dieser Zeit ein › Magazin für Schule und Erziehung überhaupt ‹ herausgab. 39 Zieht man das neue Schulbuch heran, erschienen 1771 unter dem Titel › Vorbereitung zur Erlernung der nützlichsten Wissenschaften ‹ , verfasst für die mittleren Klassen 3 und 4, so mag man fragen, wo in diesem rund 400 Seiten starken Werk die Vorbereitung auf künftige Handwerkerkarrieren bleibt. Die Frage besteht weiter, wenn man den Begriff des Handwerks zeitgenössisch weit fasst und die Ausbildung von Ausnahmegestalten wie den › Mechanicus ‹ Brander in die Betrachtungen einbezieht. 40 Sicher, auch die Bildung der Seelenkräfte, die Schärfung des Verstandes und die Verfeinerung des Geschmacks 41 der künftigen Kaufleute und Handwerker galt es zu berücksichtigen, wie die Vorrede des Lehrbuches formulierte, zu erreichen durch eine breite Allgemeinbildung, wie wir sie heute benennen würden, und so hatte neben Geographie und Geschichte mit Landeskunde, Naturgeschichte und Naturlehre sowie Mathematik auch die schöne Literatur ihren Platz in diesem Lehrbuch. Allerdings stutzt man, wenn man bemerkt, dass erst im dritten und damit letzten Teil des Lehrbuchs die Mathematik und die Physik bedacht werden - mit knapp neun Seiten, die im Grunde nur die Untergebiete der jeweiligen Disziplin benennen, aber mitnichten ein inhaltliches Raster für den Unterricht abgeben. Die Ausführungen zur Poesie samt einer kleinen literarischen Gattungsgeschichte, die sich im nächsten Abschnitt anschließen, kommen im Vergleich dazu auf 48 Seiten. In Sachen Mathematik und Physik waren die außerordentlichen Lehrer vermutlich auf sich gestellt. Auch einen 36 Vgl. D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 12. 37 P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8), S. 44, 46. 38 Zum Anna-Kolleg vgl. I NGE K EIL , Art. Anna-Kolleg, in: Augsburger Stadtlexikon online, https: / / www.wissner.com/ stadtlexikon-augsburg/ artikel/ stadtlexikon/ anna-kolleg/ 3097 (aufgerufen am 3.3.2023). 39 Vgl. hierzu P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8), S. 46, Fußnote 2. 40 H IERONYMUS A NDREAS M ERTENS u. a., Vorbereitung zur Erlernung der nützlichsten Wissenschaften. Zum Gebrauche der mittlern Classen des Gymnasiums bey St. Anna in Augsburg, Augsburg 1773. 41 H. M ERTENS u. a., Vorbereitung (Anm. 40), S. Vf. <?page no="116"?> R EGINA D AUS ER 116 Hinweis auf den Einsatz der bereits bestehenden Sammlung von Lehrmaterialien sucht man vergebens. Weshalb ein jahrelanger Verfechter des naturkundlichen und insbesondere experimentellen Unterrichts wie Thenn sich nicht unter den Autoren befand, ist bislang nicht auszumachen. Aus ihrer eigenen disziplinären Verortung brachten weder Stetten, Rauner noch Mertens fundierte fachbezogene Kenntnisse der Mathematik oder Physik mit. Womöglich ist die am Ende des Schulbuchs stehende Anleitung zu einem kleinen Büchervorrathe zum weitern Nachlesen 42 - eine Anmerkung Stettens deutet darauf hin 43 - auch mehr als ein Hinweis an die künftig mit dem Buch arbeitenden Lehrkräfte zur Erweiterung des Curriculums zu verstehen, finden sich doch dort neben Werken zur Physik ökonomische bzw. kameralwissenschaftliche Publikationen vermerkt, deren Erkenntnisse freilich im Lehrbuchtext keinerlei Verwertung erfuhren. 44 Die Verwendung geeigneter Schulbücher auch für weitere Klassenstufen und Disziplinen blieb ein wichtiges Thema; nur sukzessive konnten ältere Lehrbücher gegen Materialien, zum erheblichen Teil wieder aus der Feder von Lehrern an St. Anna, ersetzt werden. 45 Zu einer weiteren Schulbuchproduktion Mertens ’ , dem › Augsburgischen Kinderfreund ‹ , wird unten noch kurz einiges anzumerken sein. Es dürfte deutlich geworden sein, dass der Veränderungsprozess des Gymnasiums bei St. Anna, wie schon Felsenstein betonte, ausgesprochen mühsam vorankam, mit zahlreichen Kompromissen, Rücksichtnahmen, Behelfslösungen, schwankendem Angebot. Nicht nur Stetten als führender Kopf der Reform - Johann Christoph von Rauner war 1773 verstorben - gab zumindest in seiner Selbstbiographie dem Bewusstsein des Mangels und der Unzufriedenheit Ausdruck. Dies taten noch andere, und von neuem wuchs der Reformdruck. 42 H. M ERTENS u. a., Vorbereitung (Anm. 40). 43 Vgl. P. VON S TETTEN , Selbstbiographie (Anm. 8), S. 46. 44 Angeführt werden beispielsweise Werke von Justi, Zincke und Ludovici: J OHANN H EIN - RICH G OTTLOB VON J USTI , Staatswirthschaft, oder, Systematische Abhandlung aller Oeconomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfodert werden, Leipzig 1755; G EORG H EINRICH Z INCKE , Anfangsgründe der Cameralwissenschaft. Worinne dessen Grundriß weiter ausgeführet und verbessert wird, Leipzig 1755; C ARL G ÜN - THER L UDOVICI , Eröffnete Akademie der Kaufleute, oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon […], (5 Bde.), Leipzig 1752 - 1756. - Überlegungen zu einer eigenen Handlungsschule für den Kaufmannsstand wurden offenbar erst spät, in den 1790er Jahren und damit mitten in den Koalitionskriegen gegen Frankreich, ventiliert; sie kamen freilich nicht zur Ausführung. Vgl. hierzu D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 12f. 45 Eine Auflistung findet sich bei D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 9f. <?page no="117"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 117 3. Bestandsaufnahme und ein weiterer Reformanlauf: Das Gymnasium bei St. Anna im Jahr 1799 In den 1790ern war es dann schließlich so weit, dass eine neuerliche Reform des Augsburger Anna-Gymnasiums, wiederum unter Stettens Regie, für unumgänglich gehalten wurde - wieder war ein massiver Schülerschwund der Anlass. 46 Der Stand des Stadtschul-Konzepts wurde rund eine Generation nach seiner Einführung gründlich evaluiert. Ausführlich wurden auch die Lehrenden selbst befragt. Deren schriftliche Stellungnahmen wurden in einer Zusammenfassung festgehalten, die im Evangelisch-Lutherischen Kirchenarchiv bei St. Anna überliefert ist. 47 Das Kondensat dieser Rückmeldungen des Kollegiums stellt der Abschlussbericht der Visitation dar. Der Auswertung des Abschlussberichts sei eine Anmerkung zu den Lehrkräften vorangestellt: Jeweils eine Lehrkraft war für eine Jahrgangsstufe oder › Klasse ‹ zuständig, in den Klassen 1 und 2 noch durch eine Art Hilfslehrer unterstützt, was angesichts der großen Zahl der Schüler gerade in den unteren Klassen, wir sprechen zeitweilig von mehr als 100, unumgänglich war. Jeder dieser Lehrer mitsamt seinem Assistenten war nach wie vor für nahezu alle Fächer zuständig, die in dieser Jahrgangsstufe unterrichtet wurden, sieht man vom oben erwähnten Spezialunterricht ab, wie ihn z. B. seit 1770 der Zeichenmeister erteilte. Übrigens ist in diesem Bericht nie von der › Stadtschule ‹ die Rede, sondern konstant allein vom › Gymnasium ‹ - für den Tenor des Abschlussberichts ist diese Bezeichnung durchaus sprechend und womöglich mit Bedacht gewählt worden. Nach wie vor hatte sich also das teure und in der Rekrutierung aufwändige Fachlehrerprinzip nicht durchgesetzt. Wenn auch aus diesem Bericht zu großen Teilen die Perspektive von Lehrkräften spricht, die nicht daran interessiert sein konnten, Kritik an der eigenen Lehrtätigkeit auf sich zu ziehen, so erhalten wir doch viele wertvolle Hinweise auf die Praxis der › Stadtschule ‹ , die sich laut Stetten ursprünglich am Nutzen aller Bürger messen lassen wollte. Wir finden, nach Klassen gegliedert, wertvolle Informationen zur Gewichtung der dort jeweils unterrichteten Fächer, und gerade für die beiden ersten Klassen ist die Schwerpunktsetzung recht bezeichnend - man fühlt sich wieder an Stettens Diktum zur disziplinären Verortung des Unterrichts im Jahr 1769 erinnert: Der lateinischen Sprache, als dem zweyten hauptgegenstand des Unterrichts wurden jede Woche in der ersten Abtheilung fünf, in der zweyten aber nur zwey Stunden gewidmet [ … ] überhaupt mit dem schlechten fortgang des Lateins in ihrer Classe scheinen beyde Lehrer nicht wohl zufrieden zu seyn [ … ]. 48 46 Vgl. T. F ELSENSTEIN , Humanismus (Anm. 5), S. 90. 47 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten der zur Revision des gesamten evangelischen Schul- und Erziehungswesens niedergesetzten Deputation, 1799, nicht paginiert. 48 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). <?page no="118"?> R EGINA D AUS ER 118 Nur der erste Hauptgegenstand, die Religion, nahm also noch mehr Raum ein als das Lateinische, das in beiden Abtheilungen, also den Gruppen des verantwortlichen Lehrers und seines Gehilfen, mit - aus Sicht der Pädagogen - mäßigem Erfolg gelehrt wurde. Andere Fächer wurden mit dem speziellen Lesebuch aus der Feder Rektor Mertens ’ unterrichtet, dem › Augsburgischen Kinderfreund ‹ , deklariert als Gedächtniß und Lesebuch für Knaben und Mädchen, erstmals erschienen 1779. 49 Ganz offensichtlich suchte Mertens schon in der Titelgebung demonstrativ den Anschluss an einen der bekanntesten Schulreformer seiner Zeit, Friedrich Eberhard von Rochow (1734 - 1805), der mit seinem › Kinderfreund ‹ 1776 ein häufig (auch im Titel) nachgeahmtes Lesebuch publiziert hatte und der mit zahlreichen weiteren berühmten Bildungsreformern wie Johann Bernhard Basedow (1724 - 1790) oder Christian Gotthilf Salzmann (1744 - 1811) in Kontakt stand. 50 Schlägt man im › Kinderfreund ‹ Mertens ’ nach, so findet man dort neben Redensarten und Merkversen zum Memorieren Lehrinhalte aus folgenden Disziplinen: menschliche Anatomie und Gesundheitslehre, kurze Ausführungen zu Pflanzen- und Tierreich, Sittenlehre, Erd- und Landeskunde, Geschichte und Bedeutung Augsburgs. Im Wesentlichen vergleichbar war der Stoff der zweiten Klasse. Als Inhalte des Wissenschaftlichen Unterrichts in der zweiten Klasse werden im Bericht genannt: die menschliche Gesellschaften und Bedürfniße, Naturgeschichte mit Beyziehung des Naturalien- Cabinets, einiges aus der Naturlehre, Geographie von Europa überhaupt, und Deutschland insonderheit, auch Augsburgische Geschichte. 51 Man vermisst die Mathematik, deren Unterricht laut Beyschlag 1777 für die zweite Klasse eingeführt worden war, was sich aber ganz offenbar nicht zur dauerhaften Einrichtung entwickelt hatte. Bezeichnenderweise wollten 1799 die Lehrkräfte der ersten wie der zweiten Klasse in ihren Stellungnahmen unbedingt am Lateinunterricht dieser Jahrgangsstufen festhalten - wohl wissend, dass die Stimmung in erheblichen Teilen der Schülerschaft offenbar eine andere war. Denn unter den allgemeinen Kritikpunkten, unabhängig von Jahrgangsstufen, wurde explizit in den Bericht aufgenommen: [ … ] die wenige Neigung vieler Schüler zur lateinischen Sprache, und die nun doch einmal durch die bisherige Ordnung bestehende Nothwendigkeit, die lateinische Sprache als einen Gegenstand des allgemeinen Unterrichts zu behandlen. 52 49 H IERONYMUS A NDREAS M ERTENS , Der Augsburgische Kinderfreund, oder Gedächtniß und Lesebuch für Knaben und Mädchen, Augsburg 1779. 50 Rochows Schulkonzepte insbesondere für den ländlichen Raum sind eingehend untersucht worden; vgl. etwa H ANNO S CHMITT (Hg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow 1734 - 1805 im Aufbruch Preußens, Berlin 2001. 51 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). 52 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). <?page no="119"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 119 Auf der Grundlage dieser Beobachtungen zur Schulpraxis von 1799 wurde folgende Überlegung unter die Empfehlungen zur Behebung von Mängeln der gegenwärtigen Schulpraxis aufgenommen: [ … ] eine andere Einrichtung mit dem so vielen beschwerlichen und so, wie diese es lernen, ihnen gröstentheils unnützen Latein; vermöge deren diese Sprache nicht mehr allgemeine Lektion in den untern Classen wäre, oder es, um der ersten grammaticalischen Begriffe und anderer Rücksichten willen, in der ersten und zweyten Classe nur unter gewisen Restrictionen bliebe, in der dritten und vierten Classe aber nur mit denen getrieben würde, die es forttreiben wollten und müssten. 53 Wir sehen, mit welch großem Gewicht sich der Lateinunterricht durch die ersten Klassen zog und welche Schlussfolgerungen 1799 hieraus gezogen wurden. Dass bei Schulreformen mit dem Ziel der Integration von Realien in den gymnasialen Unterricht am Latein festgehalten wurde, war durchaus nicht selten. Die in Augsburg gepflegte Dominanz des Lateinischen zumal in den unteren Klassen - Griechisch war zum Wahlunterricht herabgestuft worden - erscheint jedoch zumindest ungewöhnlich. War es nicht auch die Grundüberlegung von 1769 gewesen, die unteren Klassen der Stadtschule der Vorbereitung auf ein breites Berufsspektrum zu widmen? Die Abgrenzung zum traditionellen humanistischen Gymnasium war offenbar auch nach einer teilweisen Ergänzung des Lehrerkollegiums nicht konsequent durchgeführt worden. Wir dürfen diesen Befund wohl als ein Zeichen dafür werten, wie behutsam am traditionellen Konzept der Gelehrtenschule Neuerungen vorgenommen worden waren - oder, etwas pointierter ausgedrückt: Die Beharrungskräfte der Tradition und ihrer Vertreter waren offensichtlich nach wie vor beträchtlich. Von daher verwundert auch kaum, dass sich Winkelschulen und Privatlehrer offenbar immer noch ein nicht zu vernachlässigendes Publikum zu sichern vermochten - was dem Scholarchat, um Durchsetzung der Bildungshoheit bemüht, selbstredend nicht gefallen haben dürfte, was im Bericht wohl zum recht despektierlichen Urteil über die unliebsame › Konkurrenz ‹ beitrug: Besonders sey auch die Bergmairische Winkelschule sowohl dem Gymnasio als den deutschen Schulen sehr nachteilig, so wie auch noch andere Hauslehrer durch Windbeuteleyen sich auf Kosten der öffentlichen Schulen geltend zu machen bemühet wären. 54 Bezeichnenderweise war es dem Visitationsbericht zufolge der Lehrer der dritten Klasse, der Überlegungen anstellte, nur noch einen Teil der Schüler dieser Jahrgangsstufe im Lateinischen zu unterrichten, wie es, leicht abgewandelt, der Visitationsbericht letzten Endes suggerierte. Genau dieser Pädagoge aber stand bei seinen Kollegen angesichts seiner Lehrpraxis in einem denkbar schlechten Ansehen, so dass im Bericht gar die Empfehlung ausgesprochen wurde, nach gründlicher Überprüfung 53 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). 54 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). <?page no="120"?> R EGINA D AUS ER 120 eine Entfernung aus dem Schuldienst bei St. Anna zu erwägen. Seinem Unterrichtsstil wurde gar zur Last gelegt, dass offenbar etliche Schüler das Gymnasium nach der dritten Klasse verließen. 55 Nach wie vor scheinen die Friktionen innerhalb des Kollegiums beträchtlich gewesen zu sein. Sogar durch die vorsichtigen Äußerungen in Beyschlags Schulgeschichte zur Problematik der Durchsetzung regelmäßiger Konferenzen des Kollegiums schimmerte der Dissens. 56 Der Bericht von 1799 konstatierte klar, dass solche Konferenzen nicht stattfänden. Immerhin: die dritte Klasse brachte - erstmals erwähnt! - die Lehre der bürgerlichen Rechenkunst zur Sprache, freilich als eine Disziplin unter vielen des Wissenschaftlichen Unterrichts mit einem entsprechend schmalen Stundendeputat. Just der Lehrer der dritten Klasse sprach sich interessanterweise auch für mehr Wochenstunden aus, die er für die deutsche Sprachlehre reserviert wissen wollte, denn mit dieser liege es bei seinen Schülern im Argen. 57 Für die fünften und sechsten Klassen wurde, wenig überraschend, die Bedeutung des Lateinischen auf dem Weg zur Universität selbstredend weiterhin hervorgehoben, auch wenn der Wissenschaftliche Unterricht, ergänzt mit diversen Wahl-, nicht Pflichtfächern, aufrechterhalten wurde. Bemerkenswert ist aber der Kommentar des (nicht explizit erwähnten) Verfassers des Abschlussberichts, der in den 1760er und 1770er Jahren, wie er angab, selbst Schüler bei St. Anna gewesen war: [ … ] in der 6ten [Klasse] war der wissenschaftliche und Sprachunterricht unläugbar besser, als er in den letzten Jahren geworden ist. 58 Diese persönliche Einschätzung passt zu den oben erwähnten Kürzungen des Mathematik-Unterrichts, die Beyschlag in seiner kleinen Schulgeschichte notierte. Der Bericht empfahl dringend, das Angebot in den philosophischen, mathematischen und physischen Wissenschaften vor allem in den letzten Klassen 5 und 6, die bezeichnenderweise besonders auf die Universität vorbereiten sollten, auszuweiten. 59 Auch die Schlussworte des Abschlussberichts sind sehr beachtenswert, wird hier doch die Hoffnung geäußert, dass unter fähiger Leitung - Rektor Mertens war kurz zuvor verstorben und der Rektorsposten noch vakant - unser Gymnasium nach und nach das wurde, was es für unsere Stadt werden kann und soll. 60 Freilich mussten sich die Augsburger nicht mehr allzu lange gedulden. Der nächste Reformzyklus sollte sich dann 1801/ 02 mit dem Engagement Daniel Beyschlags als dem neuen Rektor verbinden, der bereits in Nördlingen mit einer Schulreform hervorgetreten war und die Aufsicht über das gesamte Schulwesen erhielt. Nach Jahrzehnten der eher unentschlossenen Koexistenz von Real- und Gelehrtenausbildung im Stadtschulkonzept 55 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). 56 Vgl. D. B EYSCHLAG , Kurze Geschichte (Anm. 20), S. 18. 57 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). 58 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). 59 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). 60 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 44: Relationen und Gutachten (Anm. 47). <?page no="121"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 121 vollzog nun Beyschlag eine klarere Absetzung der unteren Klassen mit breitem, auch den Realien verpflichteten Konzept von den oberen, auf die Universität vorbereitenden Klassen. Latein wurde nun in der mittleren Stufe der Klassen drei und vier zum Wahlfach für diejenigen, die akademische Weihen anstrebten. 61 4. Fazit Nach der Logik heutiger bildungspolitischer Erhebungen, zumal in einem föderal organisierten Bildungssystem, müsste nun fast ein Vergleich, wenn nicht gar ein › Ranking ‹ folgen: Wurde nun in Augsburg - bezogen auf Schulreformen im Heiligen Römischen Reich - der durchaus zeittypische Versuch, das Gymnasium für die künftigen Vertreter gewerblicher Berufe zu öffnen und diesen ein solides Fundament für die Ausübung ihrer künftigen Profession zu geben, besonders › gut ‹‚ › mittelmäßig ‹ oder › schlecht ‹ realisiert? Angesichts der vielen Varianten, noch mehr angesichts der sehr unterschiedlichen Kontexte und Vorbedingungen, unter denen die jeweiligen Schulprojekte umgesetzt werden mussten, wäre ein solcher Vergleich von vorneherein ausgesprochen problematisch. Daher folgen hier in erster Linie abschließende Überlegungen, die zwar eine Einordnung der Augsburger Bemühungen um eine Reform des evangelischen Anna-Gymnasiums in die zeitgenössische Bildungsbewegung ermöglichen sollen, ein › Ranking ‹ aber dezidiert nicht vornehmen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Zielsetzung, den Handwerkern, Künstlern und Kaufleuten Augsburgs durch eine Berücksichtigung professionsspezifischer Bedürfnisse im bestehenden Augsburger Schulsystem eine verbesserte Grundlage der Ausübung ihrer Berufe zu bieten, absolut den Tendenzen der Zeit entsprach, und dass ihre Befürworter und Akteure, die zeittypisch der politischen wie Bildungs- Elite der Stadt entstammten, den aktuellen Diskurs um Bildungsreformen aufmerksam mitverfolgten. Auch im Hinblick auf die Aktivitäten im Bereich der Bildungsreform sind also klischeebeladene Bilder von › erstarrten ‹ reichsstädtischen Strukturen in der lange Zeit überlieferten Einseitigkeit nicht zu bestätigen. 62 Die Überlegung, das Gymnasium bei St. Anna zum Ort dieser Reform zu machen, anstatt eine eigene Realschule oder noch spezifischere Formen wie eine Handelsschule neu zu etablieren, war ebenfalls eine Entscheidung, wie sie von etlichen Herrschaftsträgern im 61 Vgl. hierzu T. F ELSENSTEIN , Humanismus (Anm. 5), S. 87f. 62 Vgl. zu den historiographischen Stereotypen über Augsburg im 18. Jahrhundert: B ARBARA R AJKAY , Totentanz oder Maskenbälle? Anmerkungen zur Geschichte Augsburgs im 18. Jahrhundert, in: D IETMAR S CHIERSNER u. a. (Hg.): Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 85 - 109. <?page no="122"?> R EGINA D AUS ER 122 Heiligen Römischen Reich auf der Basis unterschiedlicher Reformkonzepte getroffen wurde. Gleichwohl ist festzuhalten, dass das ursprüngliche Reformziel in Augsburg wohl nur recht begrenzt und mutmaßlich nur für eine kleine Gruppe von Schülern erfolgversprechend realisiert werden konnte - eben für jene, die von verbesserten mathematischen Kenntnissen, einer neusprachlichen Ausbildung im Französischen und Italienischen, von Grundkenntnissen der Mathematik, der Physik und der Zeichenkunst ebenso zu profitieren vermochten wie - idealerweise - zumindest von der Kenntnis der Anfangsgründe des Lateinischen. Dass dies für eine größere Gruppe von Bürgerssöhnen zutraf, deren Eltern handwerklich-gewerblich orientierten Unterhaltserwerb für ihren Nachwuchs vorsahen, ist angesichts der berichteten überschaubaren Schülerzahlen und dem berichteten Exodus von Schülern nach der dritten Klasse wenig wahrscheinlich. Nicht zu vernachlässigen ist - ein Forschungsdesiderat für Augsburg - der fachspezifische Unterricht durch private Lehrer bzw. Winkelschulen; eine dieser Schulen hatte tatsächlich als › Konkurrenzunternehmen ‹ im Abschlussbericht der Visitation von 1799 Erwähnung gefunden. Dies lässt auf ein durchaus nachfrageorientiertes Curriculum und damit auf deutliche Unzufriedenheit mit dem städtischen Angebot schließen lässt. Oliver Hochadel lässt denn auch keinen Zweifel daran, dass er die Augsburger Gymnasialreform im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts für gescheitert hält. 63 Betrachtet man freilich die zahlreichen in der Forschungsliteratur aufgearbeiteten schulreformerischen Projekte des 18. Jahrhunderts, so finden sich etliche ambitionierte Projekte durchaus prominenter Reformer, denen keine lange Dauer beschieden war - sogar unter den Realschulen, die keine Probleme der Integration der Realien in einen gymnasialen Lehrplan kannten. 64 Hatten also Stetten und Rauner, die das Stadtbzw. Bürgerschulkonzept maßgeblich angestoßen hatten, einen Misserfolg zu verbuchen, wie so viele andere? Wenn der Maßstab war, möglichst viele künftige Handwerker und Kaufleute möglichst effektiv auf die Ausübung ihrer Profession vorzubereiten, dann wohl - ja. Dass übrigens Stettens Selbstbiographie für das Jahr 1799 keinen Kommentar mehr zur Schulreform überliefert, mag mehr den unruhigen Kriegszeiten und mannigfaltigen Problemen der Stadtpolitik in dieser Zeit geschuldet sein als einem Desinteresse oder gar der Resignation; die Selbstbiographie hatte sich in dieser Zeit schon mehr zu einer Art stichwortartig geführtem Notizbuch der wichtigsten stadtpolitischen Ereignisse gewandelt. 65 63 Vgl. O. H OCHADEL , Öffentliche Wissenschaft (Anm. 5), S. 131. 64 Vgl. dazu die Beispiele bei L. F RIEDRICH , Anbahnung (Anm. 2). 65 Vgl. P AUL VON S TETTEN , Selbstbiographie. Die Lebensbeschreibung des Patriziers und Stadtpflegers der Reichsstadt Augsburg (1731 - 1808), Bd. 2: Die kalendarischen Amtsaufzeichnungen 1791 bis 1804, bearb. von B ARBARA R AJKAY / A NGELA S CHLENKRICH (Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch-Schwaben 5.2), Augsburg 2015. <?page no="123"?> R EALIENKUND E FÜR KÜN FTIGE H ANDWERKER ? 123 Fragt man allerdings nach dem Gewinn für die gesamte Schülerschaft - auch für diejenigen, die nach ihrer Zeit an St. Anna ein universitäres Studium begannen, wie dies in der nach wie vor dominanten gymnasialen Struktur angelegt war - , so dürfte kaum zu übersehen sein, dass die Bürgerschule/ Stadtschule/ das Gymnasium bei St. Anna zwischen 1769 und 1799 Phasen kannte, in denen das traditionelle humanistische Konzept erfolgreich aufgebrochen und durch neue Disziplinen ergänzt wurde, die sich langfristig gerade im gymnasialen Unterricht durchsetzten. Die Faktoren, die eine sichere Verankerung der Neuerungen aus der Sicht der Zeitgenossen lange verhinderten, wurden benannt, und sie waren gleichfalls keine singulär Augsburger Erscheinungen: eine vergleichsweise kleine Schar engagierter Reformer, mangelnde Unterstützung, wenn nicht gar Obstruktion durch einen Teil der bereits etablierten Lehrerschaft, auf die offensichtlich große Rücksicht genommen wurde, mangelnde personelle Ressourcen für die Etablierung des Fachunterrichts neuer Disziplinen, mangelnde finanzielle Ausstattung zur Sicherung dieser Ressourcen. Zur Einschätzung der Rezeption der erfolgten Innovationen seitens der Schülerschaft bedürfte es der systematischen Erhebungen in geeigneten biographischen Quellen; die oben genannten positiven Wertungen des reformierten Unterrichts in den 1770er Jahren - ebenso wie der Unwille der Schülerschaft, den altsprachlichen Unterricht betreffend - mögen hier allenfalls erste Fingerzeige geben. Viele gute Absichten, massive Beharrungskräfte, in der Realisierung kein großer Wurf - kein ungewöhnlicher Befund für das 18. Jahrhundert also, aber auch keine prächtige Erfolgsbilanz. Immerhin hatte sich der Anspruch, aus verkrusteten Strukturen etwas Zukunftsfähiges entstehen zu lassen, über finanziell wie politisch enorm bedrängte Zeiten retten können - und Daniel Beyschlag hatte offensichtlich die Möglichkeiten und Kapazitäten, nach rund 30 Jahren die Etablierung des Konzepts › bürgerlicher ‹ Bildung, den Intentionen der Reformgruppe um 1769/ 70 immer noch verpflichtet, durch Lösung vom tradierten Gymnasialkonzept für Augsburg entscheidend voranzubringen. <?page no="125"?> 125 A NKE S CZESNY Das ländliche Volksschulwesen in Schwaben am Beispiel des Bezirksamtes Zusmarshausen (1802 - 1871) Mit der Integration Schwabens in das Königreich Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen in Stadt und Land einem grundlegenden Wandel unterzogen. 1 In dieser Entwicklung kam der Elementarbzw. Volksschule ein nicht unerhebliches Gewicht zu, sahen doch König Max I. Josef und Graf Maximilian von Montgelas 2 in der Bildung eine wesentliche und tragende Säule zur Herbeiführung von Veränderungen. Gerade Montgelas betonte, dass » vor allem […] den Elementarschulen in Stadt und Land die fort gesetzteste Aufmerksamkeit [geschenkt werden müsse]. Denn sie sind es eigentlich, welche die Fähigkeiten der interessantesten (wichtigsten) Klasse der Gesellschaft entwickeln und dem Nationalgeist ihr Siegel aufdrücken.« 3 Obgleich dieses von Graf Montgelas vehement formulierte Reformziel die Anfänge des sich verstaatlichenden Schulwesens zu Beginn begleitete, so sind doch dessen Erfolge oder Misserfolge bislang in der Geschichtsforschung zum Volksschulwesen im 19. Jahrhundert nur wenig einer Betrachtung unterzogen worden. »In der Regel [sind wir] vergleichsweise gut darüber informiert, welche Zielvorstellungen die staatlichen Autoritäten im Blick auf den Unterricht bestimmten, wie schulorganisatorische und prüfungsrelevante Fragen entschieden wurden, auch darüber, welche staats- und kulturpolitischen Motive auf die Entscheidungen bei der strukturellen Gestaltung des Unterrichtswesens einwirkten. Die Schulwirklichkeit ist demgegen- 1 Vgl. dazu C ARL A. H OFFMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert (Forum Suevicum 7), Konstanz 2007. 2 Zu Kurfürst Max IV. Josef, dem späteren König, vgl. G ERHARD I MMLER , Wittelsbacher (19./ 20. Jahrhundert), publiziert am 27.6.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, www. historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Wittelsbacher_(19./ 20._Jahrhundert) (aufgerufen am 27.11.2022), hier auch weiterführende Literatur. Zu Graf Maximilian von Montgelas E BERHARD W EIS , Montgelas - Zwischen Revolution und Reform 1759 - 1799, 2. Aufl. München 1988. 3 E BERHARD W EIS , Montgelas’ innenpolitisches Reformprogramm: Das Ansbacher Mémoi re für den Herzog vom 30.9.1796, in: ZBLG 33 (1970), S. 219 - 256, hier 237. <?page no="126"?> A NKE S CZES N Y 126 über ungleich schwieriger zu fassen, da die staatlichen Vorgaben und die verwendeten Lehrmittel zwar erkennen lassen, wie der Unterricht stattfinden sollte oder auch konnte, aber keine Gewähr dafür bieten, dass dem tatsächlich auch so war.« 4 Erschwerend in der Aufarbeitung der › Schulwirklichkeit ‹ im schwäbischen Raum ist dessen »territoriale Kleinräumigkeit«, 5 die einen Zugriff sowohl auf die Bildungspolitik staatlicherseits als auch die Umsetzung in den Schulorten 6 in eine Kärrnerarbeit münden lässt, wären doch Quellenbestände aus jeder ehemaligen Herrschaft und aus jedem Ort zu sichten und zu beackern. Das westlich von Augsburg gelegene Landgericht bzw. ab 1862 Bezirksamt Zusmarshausen (Abb. 1) soll in den nachfolgenden Ausführungen auf vier Fragen hin untersucht werden, um erste Erkenntnisse zum Elementarschulwesen zwischen 1802 und 1871 - dem Ende des Alten Reiches und der Gründung des Kaiserreichs - zu erzielen. Zum ersten ist die allgemeine administrativ-organisatorische Entwicklung des Schulwesens in Zusmarshausen in den Blick nehmen. Zweitens ist die Frage nach der Durchsetzung der Schulpflicht in einem ländlichen Raum von Relevanz, da der Schulbesuch das Fundament für eine allgemeine Bildung war. Daran knüpft der dritte Aspekt an, weil die Vermittlung der Bildungsinhalte wesentlich von der Lehrerschaft abhing. Auch ihr Status in und ihr Verhältnis zur Gemeinde ist zu eruieren, hatte ihre Akzeptanz doch wesentliche Rückwirkungen auf das Wohlwollen in der Gemeinde gegenüber der Schule insgesamt. Im letzten Kapitel ist kurz auf die Ausstattung der Schulen einzugehen, um dann mit den Unterrichtsinhalten bzw. den Lehrplänen vertraut zu machen. Dies lässt auf die Qualität des zu Lernenden schließen und darauf, ob Bildung auf dem Land der Erhaltung des Status quo diente oder nicht. Basis für diese vier Untersuchungsfelder sind Verordnungen, Visitationsprotokolle und Schulakten, die im Staatsarchiv Augsburg und im Marktgemeindearchiv Zusmarshausen liegen, wobei diese Quellenmaterialien so umfassend und überbordend sind, dass schon für das gewählte Bezirksamt Zusmarshausen nur Ausschnitte bzw. für manche Frage nur ein Ort angeführt werden kann. Der Heimatliteratur sind Hinweise allgemeiner Art, wie Schulgründungsdaten, Lehrerbiographien oder Gehaltsmodalitäten der Erzieher zu entnehmen. 4 M ONIKA F ENN / H ANS -M ICHAEL K ÖRNER , Das Schulwesen (1806 - 1918), in: M AX S PIND - LER (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte IV,2: Das Neue Bayern: Von 1800 bis zur Gegenwart, Innere Entwicklung und kulturelles Leben, München 2007, S. 395 - 435, hier 398. 5 H ANS -M ICHAEL K ÖRNER , Das höhere und niedere Schulwesen, in: M AX S PINDLER (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte III,2: Geschichte Schwabens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 3., neu bearb. Aufl. München 2001, S. 687 - 717, hier 687f. 6 Vgl. dazu die Einleitung von D IETMAR S CHIERSNER in diesem Band, der auf die Dialektik beispielsweise im Hinblick auf Schulpflicht hinweist. <?page no="127"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 127 Abb. 1: Das Bezirksamt Zusmarshausen 1865 (schwarz unterstrichen die hier behandelten Orte). 7 7 StA Augsburg, Karten- und Plansammlung, BA Zusmarshausen. <?page no="128"?> A NKE S CZES N Y 128 Überregional angelegte Untersuchungen beziehen sich meist auf Preußen oder (Alt-) Bayern, also Flächenstaaten, wo staatlich verordnete Anweisungen ungleich leichter zu implementieren waren als in dem durch seine Kleinkammerung geprägten Schwaben, dessen Struktur sich ja bis in das Archivwesen fortsetzt. Der Fokus auf große, geschlossene Staaten gilt auch für das grundsätzlich unentbehrliche › Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens ‹ von Max Liedtke, in dem Schwaben freilich nur eine marginale Rolle einnimmt, obgleich der Autor für eine regional angelegte Schulgeschichte plädiert. 8 Das ist nun auch schon 30 Jahre her, aber eine konsistente Schulgeschichte des Volksschulwesens in Schwaben im 19. Jahrhundert existiert immer noch nicht und ist als ein umfangreiches Forschungsdesiderat in dieser Region zu deklarieren. 1. Die Organisation des ländlichen Schulwesens Seit dem Entstehen von Deutsch- und Lateinschulen auf dem Land in der Frühen Neuzeit fußte das Schulwesen auf der dominierenden Bildungsrolle der Kirchen. 9 Schulen waren somit trotz beispielsweise schon im 17. Jahrhundert erlassener staatlicher Schulordnungen Konfessionsschulen; erst mit der Ära Montgelas und dessen aufklärerischem Reformprogramm 10 wurde das Schulwesen als eine staatliche Aufgabe im Königreich Bayern angesehen. Das gesamte Bildungswesen (Universitäten, Akademien, Bibliotheken, Schulen usw.) gehörte administrativ seit 1806 in das von Montgelas neu eingerichtete Innenministerium, das er selbst bis 1817 leitete. Die Forderung des Reformers nach mehr Bildung für die › interessanteste Klasse ‹ , wie Montgelas es nannte, evozierte freilich auch Gegenstimmen, die ein zu viel an Bildung als Auslöser revolutionärer Tendenzen in der Bevölkerung befürchteten. Dies räumte Montgelas mit dem Argument aus, dass die Unwissenheit der Bevölkerung 8 M AX L IEDTKE , Regionale Schulgeschichte und ihr überregionaler Zusammenhang, in: L ENZ K RISS -T ETTENBECK / M AX L IEDTKE (Hg.), Regionale Schulentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Vergleichende Studien zur Schulgeschichte, Jugendbewegung und Reformpädagogik im süddeutschen Sprachraum (Schriftenreihe zum Bayerischen Schulmuseum Ichenhausen 2), Bad Heilbrunn 1984, S. 9 - 15, hier 9. 9 Vgl. hierzu für den schwäbischen Raum A NGELA S CHLENKRICH , Elementarbildung im Zeitalter der Aufklärung? Das niedere Schulwesen in den Territorien des Stifts Ottobeuren und der Reichsstadt Memmingen, in: R OLF K IESSLING , Stadt und Land in der Geschichte Ostschwaben (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwaben 10), Augsburg 2005, S. 229 - 283; dort auch weitere Literatur. 10 M AX L IEDTKE , Gesamtdarstellung, in: D ERS . (Hg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens II: Geschichte der Schule in Bayern. Von 1800 - 1918, Bad Heilbrunn 1993, S. 11 - 133, hier 15. <?page no="129"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 129 zu Revolutionen führe und Reiche umstürze. 11 Um die anvisierten bildungspolitischen Ziele zu erreichen, mussten zweifellos das Schulwesen verstaatlicht, die Schulpflicht durchgesetzt und die Unterrichtsmethoden angepasst werden. Auch die Lehrinhalte sollten auf die Brauchbarkeit und die Nützlichkeit des zu Lernenden überprüft und vor allem sollte das Bildungswesen den Kirchen entzogen werden. 12 Einer der ersten Schritte war konsequenterweise die Auflösung des Geistlichen Rates am 6. Oktober 1802, der die Schulangelegenheiten seit der Reformationszeit beaufsichtigt und aus Klerikern und Laien bestanden hatte. Stattdessen wurde das › General-Schul-Direktorium ‹ eingerichtet, das dem Ministerium für geistliche Angelegenheiten zugeordnet war und dem die Aufsicht über sämtliche Schulangelegenheiten und Schulverordnungen oblag. Schon 1806 wurde das Bildungswesen dem Innenministerium subsumiert, unter dessen Regie 1808 die › Sektion für öffentliche Unterrichts- und Erziehungsanstalten ‹ gegründet wurde. Diese ging 1826 in den › Obersten Kirchen- und Schulrat ‹ über, der ab 1847 in einem › Ministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten ‹ mündete. 13 Die Oberaufsicht der Schulen lag bei der jeweiligen Kreisregierung und hier bei der Kammer des Innern, im Falle Zusmarshausens bei der Regierung von Schwaben-Neuburg. 14 Die Kreisregierung wiederum ernannte die Bezirksschulinspektoren, und zwar bis 1873 regelmäßig aus den Gemeindemitgliedern und den Pfarrern. Die Lokalschulinspektoren schließlich standen stets unter dem Vorsitz des Ortsgeistlichen. Letzteres war Ergebnis von Widerständen der Bevölkerung und der Kirche, die das ursprüngliche Ziel von Montgelas, das Schulwesen überkonfessionell auszurichten, verhinderten und durchsetzen konnten, dass ab 1815 der Schulsprengel durch den Pfarrsprengel und nicht durch Gemeindegrenzen bestimmt war, ein Faktor, der auf die nicht erreichte Trennung von Schule und Kirche verweist. 15 Auch die Reformbemühungen, die ländliche Schülerschaft auf Brauchbarkeit im Sinne einer Basis für den Nationalgeist auszubilden, verliefen spätestens unter Ludwig I. im Sande, der als Bildungsziel den Primat der religiös-monarchischen Erziehung auf die höchste Stufe 11 Nach M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 16. 12 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 17. 13 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 21. 14 Vgl. zur Behördenentwicklung seit 1802 J OACHIM J AHN , Augsburg Land (Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben 11), München 1984, S. 588 - 591; E MMA M AGES , Gemeindeverfassung (19./ 20. Jahrhundert), publiziert am 11.5.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, http: / / www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/ Gemeindeverfassung (19./ 20. Jahrhundert) (aufgerufen am 25.12.2022). 15 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 22. <?page no="130"?> A NKE S CZES N Y 130 hob. 16 Noch im Jahr 1869 wurde der Entwurf eines Schulgesetzes zur Entkonfessionalisierung der Schulen und zur Auflösung der klerikalen Oberaufsicht von der Mehrheit der Kammer der Reichsräte abgewiesen: Die staatliche Schulaufsicht war und blieb ein Tabuthema. 17 2. Schulpflicht Problematisch war einer der wichtigsten Punkte der Reformbemühungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts: die Schulpflicht. Festgeschrieben und vollends durchgesetzt wurde sie bekanntermaßen erst in der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919, wenn es auch schon seit dem 18. Jahrhundert verstärkt regionale Versuche gab, mittels Verordnungen Kinder zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr einer U n t e r r i c h t s p f l i c h t zu unterziehen. 18 Im Hochstift Augsburg beispielsweise, zu dem das ehemalige Pflegamt Zusmarshausen zählte, setzten solche Bemühungen im Jahr 1785 mit der Einführung der Normallehrweise ein, die von der Gemeinde und den Eltern begrüßt und auch finanziell unterstützt wurde, 19 doch wieweit diese Unterrichtspflicht vollzogen werden konnte, ist unklar und bedürfte einer eigenen Untersuchung. Mit dem Ende des Alten Reiches und mit der Integration Ostschwabens in den Bayerischen Staat jedenfalls wurde 1802 die Werktagsschulpflicht für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren und ab 1803 die Sonn- und Feiertagsschulpflicht für Zwölfbis 18-Jährige verordnet. 20 Schulpflicht auf dem Land bedeutete aber etwas anderes als in der Stadt. Während die städtischen Schüler das ganze Jahr über in die Schule gehen mussten und 16 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 30 - 33. Auf die grundsätzlichen Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Neuhumanisten kann hier nicht eingegangen werden; vgl. ebd., S. 17 - 26. 17 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 50f. 18 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 52. 19 L EONHARD B OTH / F RANZ H ELMSCHROTT , Zusmarshausen. Heimatbuch einer schwäbischen Marktgemeinde, Weißenhorn 1979, S. 148f.; zu hinterfragen ist hier auch, inwieweit das Schulgeld einer generellen Ausbreitung der Schulpflicht im Wege stand. 20 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 53f.; M ARKUS S CHIEGG , Flexible Schreiber in der Sprachgeschichte. Intraindividuelle Variation in Patientenbriefen (1850 - 1936), Heidelberg 2022, S. 34 - 37, der auch auf die Bedeutung der Schulpflicht für die Alphabetisierung der Bevölkerung eingeht, ein Aspekt, der in der vorliegenden Untersuchung nur am Rande zum Zuge kommt. Vgl. zum Problem, was Alphabetisierung bedeutet, S TEPHAN E LSPASS , Sprachgeschichte von unten. Untersuchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert, Tübingen 2005, S. 76 - 88. <?page no="131"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 131 meistenteils auch konnten - abhängig von den sozioökonomischen Voraussetzungen der Eltern 21 - wurde im ländlichen Raum der Unterricht zwischen Mai und bis zum Ende der Erntezeit im Sommer aufgrund der notwendigen Mithilfe der Kinder in der Landwirtschaft auf täglich vier Stunden reduziert. 22 Diese strukturelle Verkürzung der Schulpflicht schuf nicht nur ungünstigere Rahmenbedingungen für die Ausbildung der Kinder, sondern erschwert auch die Ermittlung der Zahlen, wie viele Lernende regelmäßig in den Dörfern den Unterricht besuchen konnten. 23 In seinem Tagebuch vermerkte der Volksschullehrer Ignaz Meyer beispielsweise im Juli, nachmittags wollte ich schule halten kamen aber nur 4 kinder; im November dagegen zürnt er, dass die kinder […] in der schule einen solchen lärm [machen,] daß ich es nicht mehr aushalten kann man versteht sein eigenes wort nicht mehr. 24 Ganz offensichtlich war die Schülerzahl in der Klasse abhängig von der jeweiligen Jahreszeit, denn aus den Tagebucheintragungen wird erkennbar, dass die Kinder auf dem Land im Sommer zur Feldarbeit herangezogen wurden und eher im Winter die Schule regelmäßig besuchen konnten. Nicht nur Ignaz Meyer konnte kaum abschätzen, wie viele Kinder zum Unterricht erschienen. Versucht man, die seit 1831 durch Verordnung gewonnenen Schülerzahlen in eine Statistik zu gießen, so ist eine solche mit mehreren Unwägbarkeiten verbunden. Grund ist, dass die auf Lokalebene auszufüllenden Erhebungsbögen von falsch verstandenen Fragen und Ungenauigkeiten geprägt sind. Bei der Ziffer der zwischen 1822 und 1871 - letzterer Zeitpunkt markiert eine Verbesserung der statistischen Abfragen - gewachsenen Schulzahlen von knapp 5.400 auf gut 7.000 ist ungesichert, ob es sich immer um die Schulen oder auch um die Zahl der Schulklassen handelt. 25 21 Vgl. dazu F RANK -M ICHAEL K UHLEMANN , Tradition und Innovation. Zum Wandel des niederen Bildungssektors in Preußen 1790 - 1918, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 1993/ 1, S. 41 - 67, hier 49 - 54. Kuhlemann differenziert die städtischen Volksschulen in niedere, mittlere und höhere Volksschultypen, die je nach Finanzkraft der Eltern den Kindern eine mehr oder minder verlässliche Elementarbildung vermittelten. 22 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 52 - 58. 23 M. S CHIEGG , Flexible Schreiber in der Sprachgeschichte (Anm. 20), S. 34; M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 69. 24 StadtA Aichach, Tagebuch für Ignaz Meyer, ohne Signatur, 8.7.1871, S. 59, u. 8.11.1871, S. 70. Zu dieser Zeit unterrichtete Ignaz Meyer in Schleching, Lkr. Traunstein. An dieser Stelle bedanke ich mich herzlichst bei Herrn Bezirksheimatpfleger Christoph Lang, der mir freundlicherweise das decodierte Manuskript des in Geheimschrift verfassten Tagebuches zur Verfügung stellte. 25 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 67f. <?page no="132"?> A NKE S CZES N Y 132 Grafik 1: Entwicklung der Zahl der Werktags- und Sonntagsschüler in Bayern, 1835 - 1871 Quelle: M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung, Abb. 2 (Tabelle), S. 68. Auch die im Diagramm vermeintlich genauen Zahlen der Werktags- und Feiertagsschüler und -schülerinnen sind uneindeutig, 26 weil in manchen Fällen nicht zwischen den beiden Unterrichtsarten getrennt wurde. 27 Infolgedessen kann eine Interpretation nur eine Tendenz nachzeichnen und keinerlei Anspruch auf absolute Genauigkeit erheben. Immerhin, in Bayern scheint der Umfang der Werktagsschüler zwischen 1835 und 1871 beständig zugenommen zu haben, wogegen die Zahl der die Sonntagsschule aufsuchenden Mädchen und Jungen nach einem Höhepunkt um 1852 erkennbar bis 1871 abnahm. Ursache dürfte hier der Ausbau der gewerblichen und landwirtschaftlichen Schulen ab den 1862er Jahren gewesen sein, in die die älteren Kinder abwanderten. 26 Vgl. zu Statistiken in vorstatistischen Zeiten A NKE S CZESNY , Gewerbestatistiken des 18. und 19. Jahrhunderts in Ostschwaben - Möglichkeiten ihrer Vergleichbarkeit und Grenzen ihrer Aussagekraft, in: H ELMUT F LACHENECKER / R OLF K IESSLING (Hg.), Wirtschaftslandschaften in Bayern. Studien zur Entstehung und Entwicklung ökonomischer Raumstrukturen vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, München 2010, S. 303 - 330. 27 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 67. 562.934 570.712 596.537 633.724 632.599 319.903 368.005 229.230 204.214 208.705 882.837 938.717 825.767 837.938 841.304 1835 1852 1862 1870 1871 Entwicklung der Zahl der Werktags- und Sonntagsschüler in Bayern, 1835 - 1871 Werktagsschüler Feiertagsschüler Gesamt <?page no="133"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 133 Wegen des verpflichtenden Schulunterrichts bedurfte es der Zunahme der Lehrkräfte, die tatsächlich in Bayern von 8.689 im Jahr 1835 auf 10.321 im Jahr 1871 stieg. 28 Bei steigender Schülerzahl änderte sich aber die Lehrer-Schüler-Relation nicht unbedingt, wie die Zahlen von Lehrpersonal und Werktagsschülern und -schülerinnen im Verhältnis zeigen: Zwischen 1835 und 1871 sank die Verhältnisziffer von 1 : 64,8 lediglich auf 1 : 61,3. 29 Davon aber ausgehend, dass das Lehrpersonal sowohl für den Werktagsals auch für den Sonn- und Feiertagsunterricht zuständig war, ergibt sich in Bayern in den Jahren zwischen 1835 und 1871 ein Lehrer-Schüler- Verhältnis zwischen 1 : 106 (1852) und 1 : 82 (1871), d. h. in diesem Segment trat eine Entspannung ein, die möglicherweise auf die oben schon genannte Einführung der Gewerbe- und Landwirtschaftsschulen zurückzuführen ist. Dass die Situation für Lehrende und Lernende dennoch prekär war, zeigen Diskussionen, dieses Verhältnis nicht über 1 : 90 steigen zu lassen. Fakt war jedoch, dass eine Gemeinde erst dann zur Einstellung eines Schulgehilfen verpflichtet war, wenn der Mittelwert der letzten fünf Jahre 100 Schüler überstieg. 30 Vor Ort, im Bezirksamt Zusmarshausen (s. o., Abb. 1), sehen die Relationen in ausgewählten, weil gut dokumentierten Dörfern anders aus. In Zusmarshausen mit Vallried, Kleinried, Lindgraben und Salenbach besuchten im Jahresschnitt zwischen 1821 und 1831 ca. 124 Werktagsschüler und 77 Sonntagsschüler die Schule, das sind mehr als 200 Schülerinnen und Schüler, die von einem Lehrer mit Schulgehilfen betreut wurden. 31 Diese hohe Schülerlast von 200 Lernenden auf einen Lehrenden mit Schulgehilfen war in Dinkelscherben mit dem Weiler Au weit geringer. Laut einer Schulstatistik von 1833 gingen 87 Schülerinnen und Schüler in die Werktagsschule und 57 in die Sonn- und Feiertagsschule, die von einem Haupt- und einem Nebenlehrer unterrichtet wurden, so dass sich ein Verhältnis von 1 : 70 ergab. 32 In Steinekirch wiederum besuchten im Jahr 1846 25 Knaben und 26 Mädchen die Werktagsschule und 19 Buben und 37 Mädchen die Sonn- und Feiertagsschule. Ein Lehrer hatte also 107 Lernende zu beschulen. 33 Ob nun in allen Schulen im Bezirksamt Zusmarshausen das Lehrer-Schüler-Verhältnis tendenziell über 1 : 100 lag, lässt sich von diesen drei Beispielen nicht ableiten. Dass aber grundsätzlich die Klassengrößen den Unterricht erschwert haben dürften, belegt ja auch die Aussage des 28 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 68. 29 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 68. 30 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 69. 31 L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 150. 32 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 233: Schulstatistik der Gemeinde Dinkelscherben 1833. 33 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Schul-Nachweise und Schulvisitations-Protokolle Steinekirch 1809 - 1918. <?page no="134"?> A NKE S CZES N Y 134 Ignaz Meyer, dass er wegen der hohen Schülerzahl sein eigenes Wort nicht mehr verstünde. Abb. 2: Oberlehrerin Berta Sait mit dem 1. und 2. Schuljahrgang, Schulrat Franz Xaver Lang mit dem 5. - 7. Jahrgang und Pfarrer Josef Krieg (1919). Im Visitationsprotokoll der Schule in Steinekirch, aus dem die oben angeführten Zahlen stammen, wurden 443 versäumte Schultage in der Werktagsschule und 68 in der Sonn- und Feiertagsschule notiert. Im Durchschnitt fehlte damit jeder der Lernenden knapp fünf Tage im Schuljahr. 34 Das scheint verschmerzbar, doch wird die gerade im dörflichen Bereich vorhandene Teilung des Unterrichts in Sommer- und Winterschule wegen der agrarischen Tätigkeiten - und auch wegen der oftmals hausindustriellen Mithilfe der Kinder im elterlichen Arbeitsbetrieb - in Rechnung gestellt, so dürfte die Zahl der tatsächlichen Schultage nicht so hoch wie im städtischen Bereich gewesen sein, selbst wenn hier keine belastbaren Zahlen für einen Vergleich vorliegen. Zwar ist dem durchgesehenen Quellenbestand nur ein Fall einer Dispensation eines Schulkindes zu entnehmen - es wurde mit Bewilligung der Distrikts- 34 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Schul-Nachweise und Schulvisitations-Protokolle Steinekirch 1809 - 1918. <?page no="135"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 135 Inspection […] zum Hüten verwendet 35 - , doch dürfte man angesichts der Sozialstruktur in und um Zusmarshausen nicht fehlgehen anzunehmen, dass die Kinder sowohl in der Landwirtschaft als auch in hausindustriellen Familien zur Arbeit herangezogen worden sind. Noch 1810 gingen bei einer Gesamtbevölkerung von 12.648 Einwohnern 36 im Landgericht Zusmarshausen 1.020 Personen einem Gewerbe nach, 37 das sind durchschnittlich 8 %. 38 Dieser nicht unerhebliche Handwerkeranteil und die Zahl der Landwirte im Bezirksamt Zusmarshausen lassen die Vermutung zu, dass die Kinder im Feld oder im Haus mitarbeiten mussten - ein nicht ungewöhnlicher Vorgang bis ins späte 19. Jahrhundert hinein. 39 Infolge dieser Mitarbeit war ein regelmäßiger Schulbesuch sicherlich eingeschränkt, was die Kinder auf dem Land im Vergleich zu den städtischen Volksschüler ins Hintertreffen geraten ließ. Ein grober Rückschluss auf den Alphabetisierungsgrad kann anhand der Prüfungen der Wehrpflichtigen ermittelt werden: 40 In Schwaben lag in den 1860er Jahren der Anteil dieser jungen Männer mit unzureichender Schulbildung bei etwa 5,3 %, in ganz Bayern bei ca. 7 %. 41 Im Physikatsbericht von Zusmarshausen aus dem Jahr 1861 - jenen Berichten, in denen die Landgerichtsärzte angewiesen waren, eine umfassende Darstellung von Land und Leuten nach einem vorgeschriebenen Schema zu verfassen 42 - heißt es: Behufs der geistigen Ausbildung steht das Schulwesen auf einer für Land und Bewohner genügenden Stufe. Die Feldarbeiten stumpfen sie [jedoch, A. S.] ab und die Mittel zur Fortbildung fehlen. So verschwinden die erworbenen Schulkenntnisse nach und nach. Zur Jugend vermerkt der Verfasser: Bei Betrachtung der Jugend trifft man im Ganzen wenig geistige Begabung verrathende 35 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Schul-Nachweise und Schulvisitations-Protokolle Steinekirch 1809 - 1918. 36 Bayerische Staatsbibliothek, CGM 6845/ 10, Lit. B: Volkszahl. 37 Bayerische Staatsbibliothek, CGM 6852/ 10, Lit. J: Künstler und Handwerker. 38 Die Handwerkerdichte in den Marktorten des Landgerichts lag bei 107 auf 1.000 Einwohner, auf dem Land bei 76 ‰; vgl. A NKE S CZESNY , Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 7), Tübingen 2002, Diagramm 1, S. 62. 39 Vgl. S ARAH -M ARIA S CHOBER , Ravensburger Kindheitsrealitäten im Kaiserreich. Eine Spurensuche, in: Ulm und Oberschwaben 58 (2013), S. 330 - 386. 40 M. S CHIEGG , Flexible Schreiber in der Sprachgeschichte (Anm. 20), S. 34, verweist in Anlehnung an weitere Literatur auf die Schwierigkeit, anhand von Schätzungen konkrete Zahlen zur Alphabetisierung zu nennen. 41 Zu Schwaben M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 61; zu Bayern T HOMAS N IPPERDEY , Deutsche Geschichte 1800 - 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 463. 42 Zu den Physikatsberichten allgemein vgl. den Band P ETER F ASSL / R OLF K IESSLING (Hg.), Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen (Veröff. SFG 10/ 2), Augsburg 2003. <?page no="136"?> A NKE S CZES N Y 136 Physiognomien, Dumme schon mehr […]. Sie lernen so viel, als sie müssen, wissen so viel, als sie kümmerlich brauchen und kennen höhere Bestrebungen nicht. Mit Schmerzen wartet der Bauer, bis seine Kinder aus der Schule entlassen werden, wo sie nach seiner Meinung viel Unnöthiges lernen und zu Hause nicht genügsam verwendet werden können; […] daher die Mittelmäßigkeit und Beschränktheit ihres Geistes und sozialen Horizonts. 43 Diese sehr harte Einschätzung des Schulwesens und der Jugendlichen im Bezirksamt Zusmarshausen dürfte sich kaum an den gegebenen Verhältnissen orientiert haben, sondern eher an den Maßgaben, die hätten erreicht werden sollen. Diese Maßgaben hingen im Wesentlichen von der Bildung der Lehrer und ihrem Engagement ab bzw. ihrer sozialen Stellung in der Gemeinde. 3. Die Situation der Lehrerschaft Bis 1802 mangelte es bezüglich der Elementarschulen an der Ausbildung und Bezahlung der Lehrer, der Besuch eines Lehrerseminars wurde erst 1809 bzw. verschärft 1836 gesetzliche Voraussetzung zur Übernahme in den Schuldienst. 44 Zwar hatte Fürstbischof Clemens Wenzeslaus schon 1774 in Dillingen eine Normalschule einrichten lassen, um das Bildungsniveau der Lehrer und damit der Landschulen zu verbessern. 45 Problematisch war jedoch die Durchsetzung der Ausbildungspflicht für die Lehrer, die erst im Königreich Bayern gesetzlich geregelt und implementiert werden konnte. Der erste an einer Normalschule ausgebildete Lehrer in Zusmarshausen war Bernard Wohlgeschaffen, der 1791 in Augsburg und 1795 in Dillingen geprüft worden war. Er trat 1803 die Lehrerstelle in Zusmarshausen an und hatte sie bis 1826 inne. 46 Wohlgeschaffen wurde noch nach einer Fassion von 1617 bezahlt, das bedeutet, er bezog sein Haupteinkommen mit 280 - 300 fl. aus dem Chorregenten- und Mesnerdienst; das Schulgeld betrug lediglich 40 fl. neben einem Einkommen 43 R UDOLF V OGEL , Der Physikatsbericht von 1861 für den Landgerichtsbezirk Zusmarshausen (Teil 1), in: Heimatverein für den Landkreis Augsburg e. V., Jahresbericht 1977, S. 126 - 141, hier 132. Auf die funktionale Analphabetisierung, d. h. das Verlernen der Schreibfähigkeit, verweist auch S T . E LSPASS , Sprachgeschichte von unten (Anm. 20), S. 105f. 44 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 77f. 45 Als Normalschule wurde im 18. und 19. Jahrhundert eine Volksschule bezeichnet, die als Mustereinrichtung zugleich der Lehrerbildung diente. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden im deutschsprachigen Raum die Normalschulen weitgehend von Lehrerseminaren abgelöst. Zu Dillingen vgl. G EORG F RITZ , Die Entwicklung des Volksschulwesens im Landkreis Augsburg (ein Rückblick in Beispielen), in: W ALTER P ÖTZL (Hg.), Bauern - Handwerker - Arbeiter. Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial- und Bildungsgeschichte (Der Landkreis Augsburg 4), Augsburg 2001, S. 328 - 355, hier 332. 46 L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 148. <?page no="137"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 137 aus seinem Bauerngut, das aber nicht zu hoch angesetzt werden darf. 47 Dieser nur geringe Lohn, die Verdienste eines rechtschaffenen Lehrers zu entgelten, 48 stieg erst mit einer weiteren Fassion von 1833 auf 300 fl., wobei die Nebentätigkeiten als Mesner und Chorregent mit einer zusätzlichen Summe von 386 fl. zu Buche schlugen. 49 Diese Gehaltssteigerung der Lehrerschaft scheint recht unspektakulär. Die Bezahlung durch die Gemeinde und nicht mehr durch die Eltern lockerte jedoch die personalen Beziehungen zwischen Eltern und Lehrer. Der Lehrer war nicht mehr › Angestellter der Eltern ‹ , sondern stand in einem vertraglichen Verhältnis zur Gemeinde resp. zu seinem Dienstherren. Auch der soziale Status des Dorflehrers wandelte sich, denn während in der lange bestehenden Fassion von 1617 noch der Mesner- und Chorregentendienst an erster Stelle genannt wurde, rückte in der Fassion von 1833 der Schuldienst an vorderste Position, er wurde wichtiger. 50 Zudem erlaubten die höheren Lehrergehälter eine relative Unabhängigkeit von den vormals zu erbringenden Zusatzleistungen wie Kirchenreinigung, Totenbestattung usw., 51 wenig angesehene Tätigkeiten, die nun wegfielen. Unabhängig vom Status oder der Bezahlung standen die Dorflehrer unter der sozialen Kontrolle der Gemeinde. Schon vor dem Ende des Alten Reiches waren › richtiges ‹ moralisches Verhalten, i. e. »Frömmigkeit, Unverdrossenheit, Fleiß, Treue, Geduld, Sparsamkeit, Bescheidenheit und väterliche Liebe«, 52 Grundbedingung für die Anstellung eines Lehrers. 53 Dies galt bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, erkennbar an den Beschwerden von Gemeinde und Eltern bei der Lokal- oder Distriktschulbehörde, wenn der Erzieher nicht dem Idealbild entsprach. Beispielsweise reichte die Gemeinde Steinekirch im März 1828 eine Beschwerde gegen den Lehrer Benno Schröfel bei der königlichen Kreisregierung ein. Er habe sich mit ganz unanstendigen Geberden geäußert und alle für dumm erklärt, doch habe damals der Distrikts-Inspektor in seinem Schreiben das Schlechte der Schule den Gemeindsgliedern auf- [er]legt. 54 Nun solle sich die Distriktschulinspektion in Zusmarshausen mit der 47 L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 149. 48 Zitiert nach L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 149. 49 L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 149 - 151. 50 C HRISTOPH S TURM , Das Elementar- und Volksschulwesen der Stadt Münster 1815 - 1908. Eine Fallstudie zu Modernisierung und Beharrung im niederen Schulwesen Preußens (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster NF 21), Münster 2003, S. 66f.; L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 145 - 147. 51 G. F RITZ , Die Entwicklung des Volksschulwesens (Anm. 45), S. 330f. 52 G. F RITZ , Die Entwicklung des Volksschulwesens (Anm. 45), S. 333. 53 Beispiele von Verstößen in L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 147, und in G. F RITZ , Die Entwicklung des Volksschulwesens (Anm. 45), S. 331. 54 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch, Schulwesen: Schreiben der Gemeinde Steinekirch an die Königliche Districts Schulinspection Zusmarshausen, undat. (vermutlich nach dem 17.3.1828). <?page no="138"?> A NKE S CZES N Y 138 wiederholten Klage befassen und Schröfel entweder zur Räson bringen oder ihn durch einen anderen Lehrer ersetzen lassen. Im März 1830 schaltete sich Landrichter Blasius Wintermayer 55 ein, denn abermals hatten einige Gemeindemitglieder vor Gericht den Unfleiß und die Unsittlichkeit des nur in Trunkenheit lebenden Schröfel beanstandet. Der Landrichter ersuchte die Distriktinspektion, dieses schleunigst zu untersuchen, auch, ob es wahr sei, daß nicht ein einziges Kind auch zu lesen imstande ist. 56 Der Ausgang dieses Konfliktfalles bleibt unklar, das Interesse der Gemeinde an einem funktionierenden Schulunterricht und am Wohlverhalten des Lehrers jedenfalls wird deutlich. Doch auch mit dem möglicherweise Benno Schröfel nachfolgenden Lehrer Michael Maisch war die Gemeinde Steinekirch unzufrieden und wollte ihn ersetzt wissen. Trotz der Holzzuteilungen an die Schule behielt Maisch das Brennholz wohl für sich, denn laut Klage der Gemeinde von 1844 würden die Kinder im Winter im fast nicht beheizten Schulzimmer unterrichtet - einige kleinere Schulkinder haben wegen Erfrierens in der Schule ihrem Schmerz durch Thränen Luft gemacht. 57 Andere Monita traten hinzu: Als im Beisein des Polizeidieners nach dem Schulholz gesucht wurde, habe Maisch den Vorsteher öffentlich einen Kalfaktor, einen Spitzbuben, Lumpen, Hurenmann, keinen Schlechtern gebe es nicht [… genannt und ihn] auf die Brust gestoßen. 58 Dieses Schriftstück hat bemerkenswerterweise der als Zeuge genannte, zwölfjährige Schüler Nerlinger mit Handzeichen unterschrieben, weil er seinen Namen noch nicht schreiben kann. 59 Offensichtlich wurden die Schüler nicht nur unter Benno Schröfel schlecht ausgebildet, sondern auch unter Maisch. Im Falle des Letzteren bat die ganze Gemeinde um Versetzung oder Entlassung von Maisch, da dieser bei der Gemeinde sowohl als bei der Schuljugend alle Achtung, alles Ansehen und alles Vertrauen verloren hat […] und zur 55 Blasius Wintermayer war von 1828 - 1831 Landrichter in Zusmarshausen, war jedoch dorthin vom Landgericht Rosenheim abgeschoben worden, weil ihm ein Mangel an beruflichen Fähigkeiten vorgeworfen wurde. In Zusmarshausen wurde er wegen seines »äußerst nachteiligen Wirken[s]« am 8.6.1831 vom Ministerium in den Ruhestand versetzt; W ALTER P ÖTZL , Das Landgericht Zusmarshausen, in: D ERS . (Hg.), Zusmarshausen. Markt, Pflegamt, Landgericht und Bezirksamt, Zusmarshausen 1992, S. 223 - 285, hier 280. 56 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch, Schulwesen: Schreiben Wintermayers vom 7.3.1830. 57 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch, Schulwesen: Brief der Lokalschulinspektion vom 10.12.1844. 58 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch, Schulwesen: Brief der Lokalschulinspektion vom 10.12.1844. 59 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch, Schulwesen: Brief der Lokalschulinspektion vom 10.12.1844. <?page no="139"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 139 Unmöglichkeit geworden sei. 60 Im Oktober 1845 wurde Maisch aus dem Schuldienst verabschiedet und stattdessen Ulrich Ortlieb aus Könghausen, Landgericht Mindelheim, zu einem Gehalt von knapp 245 fl. angestellt. Zu Ortlieb heißt es in einem Visitationsbericht, dass er vorzügliche Talente habe, sein Fleiß [… ] ebenfalls vorzüglich und sein Betragen vorzüglich lobenswerth sei. Deshalb sei der größere Theil der Eltern für den Unterricht wohlgesinnt. 61 Ein umfangreiches 13-seitiges Visitationsprotokoll vom 23. September 1876 gibt für alle 39 Schulen im Bezirksamt Zusmarshausen Aufschluss über verschiedene Prüfpunkte, u. a. auch über die Fähigkeiten und Aufgaben des Lehrpersonals. 62 Des Weiteren wurden die Schülerbildung, die Baulichkeit der Schulen sowie die notwendigen Anschaffungen bewertet und benannt. 63 Mehr Mühe im Unterricht und die Einhaltung von Lehrplänen, ordentlichere Hausaufgabenkorrekturen oder auch die verstärkte Förderung der schwächeren Kinder zählen zu den aus den Ergebnissen der Visitation abgeleiteten Forderungen an die Lehrerschaft ebenso wie die Anfertigung von Anschauungsmaterial und die gewissenhafte Führung der Zensurbücher. Die Beurteilung der Schülerbildung mit häufig sehr ausführlichen Bemerkungen spiegelt weniger die Begabung der Schulkinder als vielmehr die zentralen Punkte, auf die die Lehrer ihre Aufmerksamkeit richten sollten. Wenn fehlende Sprachfertigkeit oder Dialektsprechen, die Ausdrucksfähigkeit in ganzen Sätzen oder die Betonung beim Vorlesen angemahnt werden, dann sind diese Defizite dem Unterricht durch das Lehrpersonal, der nicht korrekt gehalten wurde, anzulasten, nicht den Kindern, die solches durch die Unterweisung seitens der Erzieher zu lernen hätten. Am Rande geht es aber auch um die Vermeidung des Einsagens oder eine saubere Heftführung, Punkte, die die Kinder direkt ansprechen. Neben diversen Anschaffungen für die Schulklassen stand schließlich noch die Qualität der Schulgebäude im Fokus des Visitators. Die Aufforderung zum Ausbau der sanitären Anlagen sowie die Instandsetzung von › ruinösen ‹ Schulhäusern, die teilweise von den Lehrern zu initiieren waren, runden das Visitationsprotokoll ab, das sich auf die Untersuchungen des Kreisschulinspektors vom Januar und August 1876 stützte und an die Regierung von Schwaben-Neuburg, Kammer des Innern, weitergeleitet worden war. Nach deren Durchsicht ging die Akte zurück an das Bezirksamt mit der Forderung, über den Vollzug der demselben in gegenwärtiger Entschließung ertheilten Aufträge Vollzugsanzeige zu erstatten. Allerdings werden einige Mängel in der nachfolgenden 60 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch, Schulwesen, Brief der Lokalschulinspektion und des Pfarramtes an das kgl. Landgericht und die k. Distriktsschulinspektion Zusmarshausen, ohne Datum (vermutlich Juli 1845). 61 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch, Schulwesen, 11.10.1845. 62 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Acta zur Schule, Dinkelscherben: Districtsu. Lokalschulinspektion 1807 - 1918. 63 Siehe Tabelle im Anhang. <?page no="140"?> A NKE S CZES N Y 140 Visitation von 1880 wieder genannt, 64 es ist also fraglich, ob und wie schnell die Beanstandungen behoben wurden. Werden all die Aufgaben der Lehrerschaft betrachtet, die mittel- und unmittelbar mit der Schule zusammenhingen, auch ihre bis weit ins 19. Jahrhundert dauernde Zusatztätigkeit als Mesner und Organist, und bedenkt man zudem die soziale Kontrolle durch Eltern, Gemeinde und Ortsgeistlichen, so unterstreicht dies nicht nur die Multifunktionalität des Berufs › Dorflehrer ‹ , sondern es wirft gleichfalls ein Licht auf die › Zwitterstellung ‹ des Lehrers im Dorf. Einerseits vollzog sich durch die Festschreibung einer seminaristischen Ausbildung die Professionalisierung und teilweise Theoretisierung des Lehrerberufes, wie es staatlicherseits angestrebt und umgesetzt wurde. 65 Gerade die Visitationsprotokolle bzw. die darin verfasste Kritik eröffnen den Blick darauf, wie der Unterricht hätte sein sollen. Andererseits war der Lehrer im Dorf immer noch direkt dem Ortsgeistlichen sowie der Gemeinde und den Eltern gegenüber verantwortlich, sein › Stand ‹ noch den traditionellen Strukturen verhaftet. Die sich daraus teilweise ergebenden Konflikte - ob sie nun berechtigt waren oder nicht, spielt hier keine Rolle - demonstrieren mithin, dass die konkrete Ausgestaltung des Berufs und des Status des Lehrers zunächst auf lokaler und nicht auf staatlicher Ebene stattfand. Die Vorgaben waren staatlicherseits zwar vorhanden, mussten aber vor Ort an die Gegebenheiten angepasst und modifiziert werden. 66 Erst mit dem 1918 verliehenen Beamtenstatus und der damit verbundenen Hinterbliebenenversorgung sowie der Trennung von Kirchen- und Schuldienst im Jahr 1920 wandelte sich der Beruf des Volksschullehrers in eine gehobenere und mit mehr Ansehen verknüpfte Stellung im Dorf. 67 64 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Acta zur Schule, Dinkelscherben: Districtsu. Lokalschulinspektion 1807 - 1918. 65 Vgl. zur Stellung des Lehrers im Dorf auch F.-M. K UHLEMANN , Tradition und Innovation (Anm. 21), S. 60 - 65; dass die Lehrer auch um ihren Status rangen und ihr Engagement materiell sowie immateriell entlohnt wissen wollten, zeigen - zumindest in Preußen - die Gründungen von Lehrervereinen, Lehrerkonferenzen oder einer Lehrerpresse; vgl. ebd., S. 64. Solche Zusammenschlüsse sind meines Wissens in Schwaben nicht untersucht. 66 C HR . S TURM , Das Elementar- und Volksschulwesen (Anm. 50), S. 75, spricht hier (nach G ERD F RIEDRICH , Das niedere Schulwesen, in: K ARL -E RNST J EISMANN / P ETER L UND - GREEN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte III: 1800 - 1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des deutschen Reiches, München 1987, S. 123 - 152, hier 130) vom »Gegensatz zwischen zentralistischem Führungsanspruch des Staates und seiner faktischen Führungsinkompetenz«. 67 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 96. <?page no="141"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 141 4. Schulgebäude, Lehrordnungen und Unterrichtsinhalte Wie in den Visitationsprotokollen schon angedeutet, musste die Lehrerschaft Sorge für die Schulgebäude tragen. 68 Der schon mehrfach genannte Bernhard Wohlgeschaffen hatte sich in Zusmarshausen um den Umbzw. Ausbau des Mesnerhauses, das bislang als Schul- und Wohnhaus fungierte, zu kümmern. Erst 1806 wurde an das Mesnerhaus ein Schulbau mit einem Lehrerzimmer angebaut, der 1826 durch Aufstockung ein weiteres Schulzimmer erhielt. Jedes Zimmer hatte eine Fläche von ca. 56 qm, 69 d. h. bei um die 100 Schüler dürfte der Raum recht beengt gewesen sein. Finanziert und unterhalten wurde das Schulhaus durch die Gemeinde, das weiterhin als Wohnhaus dienende Mesnerhaus von der Pfarrei. 70 Abb. 3: Das bis 1955 genutzte Schulgebäude in Zusmarshausen. 68 Vgl. auch den Beitrag von Erich Müller-Gaebele in diesem Band. 69 L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 149, sprechen von 612 Quadratschuh pro Zimmer, das ergibt umgerechnet ca. 56 m 2 ; vgl. die Maße und Gewichte ebd., S. 227. 70 L. B OTH / F. H ELMSCHROTT , Zusmarshausen (Anm. 18), S. 149. <?page no="142"?> A NKE S CZES N Y 142 Was in einem Schulzimmer vorhanden sein sollte, zeigt ein › Inventarverzeichnis der Landschule Steinekirch ‹ vom 1. Mai 1850. 71 In diesem Verzeichnis sind die Zahl der Schulbänke, die Tafel, der Lehrertisch, das Kruzifix und das Königs-/ Königinnenbild aufgelistet sowie die Vorhänge, die wegen des besseren Lichts ungebleicht leinern sein sollten. An Lehrmitteln sind fünf Landkarten - das Planiglobum, also die Darstellung der Erde auf einer ebenen Fläche, sowie Karten von Europa, Bayern, Deutschland und Palästina - genannt, danach folgen die Schulbücher, die den Schulkindern als Unterrichtsmaterial zu dienen hatten. Bücher Jahr Zustand Zwei Bücher der biblischen Geschichte, ein altes und neues Testament 1846 Schadhaft Diktatenbuch 1828 Brauchbar Biblische Fragen von Heindl 1845 Gut VorlagsTabellen zu schriftlichen Aufsätzen v. Geist 1840 Schadhaft Vorschriften zum Schönschreiben von Held 1846 Gut Grundriß der Chemie, I. Band 1847 Neu Detto, II. Band dasselbe 1848 Neu Schematismus der Schullehrer 1848 Neu Anleitung zum Futterbau v. Dr. R. Veit 1849 Neu Heft v. Palästina 1850 Neu Die bayerische Geschichte mit Bildern von Friendt 1854 Neu Die Wunder des Himmels Abb. 4: Auflistung der Schulbücher im Steinekirchener Klassenraum im Jahr 1850. 71 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153, Steinekirch: Inventarverzeichnis der Landschule Steinekirch, königlichen Landgerichts Zusmarshausen, aufgenommen den 1.5.1850. <?page no="143"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 143 Die als neu bezeichneten Chemiebücher wurden im Jahr 1820 sicherlich noch nicht benutzt, war doch zu dieser Zeit der Religions- und katechetische Unterricht noch der dominanteste Unterrichtsanteil, wie eine Lehrordnung und Stundenvertheilung für die Pfarrschule zu Steinekirch 72 illustriert. Tabelle 1: Stundenplan in Steinekirch Lehrordnung und Stundenvertheilung für die Pfarrschule zu Steinekirch zu wochentlich 30 Stunden (um 1820) Klasse Montag, 8 - 11 h Dienstag, 8 - 11 h Montag, 12 - 15 h Dienstag, 12 - 15 h Vorbereitungsklasse Buchstabenkenntniß u. Lautieren Schreiben der Anfangsbuchstaben Zahlenschreiben Buchstaben kenntniß u. Lautieren Religionsunterricht Schreiben der Anfangsbuchstaben Lautieren Zahlenschreiben Buchstabenschreiben Lautieren und Buchstabieren Buchstabenschreiben Zählen von 1 bis 100 vor- und rückwärts Klasse I Schreibübungen aus Vorlageblätter Leseunterricht Rechnen durch Vorlage von Rechnungsblättern Aufgabe aus dem Katechismus als Gedächtnisübung Lesen und Memorieren des Gelesenen Schreibübung auf der Tafel Schönschreibübungen Leseunterricht Geschriebenes durch Vorlageblätter Gedächtnisübung aus Vorlageblättern Rechtschreiblehre Erdbeschreibung Klasse II Schreiben aus Vorlageblättern aus der Naturlehre Rechnungsaufgaben Lesen biblischer Geschichte Rechnungs- und Schreibübung auf der Tafel Religionsunterricht überhaupt Fortgesetzt mit allen 2. Klassen Schönschreibübungen durch Vorlageblätter Geschriebenes lesen Kopfrechnen Sprach- und Rechtschreiblehre Geschriebenes lesen Erdbeschreibung 72 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Schul-Nachweise und Schulvisitationsprotokolle, Steinekirch 1809 - 1918. <?page no="144"?> A NKE S CZES N Y 144 Klasse Montag, 8 - 11 h Dienstag, 8 - 11 h Montag, 12 - 15 h Dienstag, 12 - 15 h Klasse III Schreiben von Vorlageblättern aus der natürlichen Geschichte Lesen biblischer Geschichte Rechnen durch Vorlageblätter Bearbeitung der biblischen Geschichte durch Fragen und Antworten Memorieren des Katechismus durch alle Klassen Stylübung und überhaupt Aufsatz Schönschreibübung Kopf- und Tafelrechnen Gedächtnisübung aus der Vaterlandsgeschichte Sprach- und Rechtschreiblehre Rechtschreiben auf Tafel Sommersemester: II. u. III. Klasse von 6 - 8h; I. und Vorbereitungsklasse von 9 - 10h Quelle: StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Schul-Nachweise und Schulvisitationsprotokolle, Steinekirch 1809 - 1918. Zwar müsste der allgemeine Lehrplan von 1811 auch in Steinekirch verbindlich gewesen sein - vorgesehen waren Religions- und Tugendlehre, Menschenlehre (anatomisch, seelisch und geschichtlich), Naturlehre (Geschichte, Geographie, Tier- und Pflanzenkunde), Kunst (Handwerks- und Kunstprodukte aus dem Tier-, Pflanzen- und Mineralreich), Sprache und Rechnen 73 - doch wurde in dieser kleinen Schule offenbar nur wenig umgesetzt. Da der Mittwoch- und Donnerstagunterricht wie der Montag und Dienstag gestaltet war, sind in der Tabelle lediglich die ersten zwei Wochentage verzeichnet. Zudem handelt es sich bei diesem Lehrplan um denjenigen für die Wintermonate mit 30 Unterrichtsstunden pro Woche. Die nur wenigen Schulstunden im Sommer dienten nicht nur größtenteils der Wiederholung des im Winter Gelernten, sondern sie verdeutlichen nochmals die Einbeziehung der Kinder in den landwirtschaftlichen Jahreslauf, wie er oben bereits besprochen wurde. In allen Klassen nehmen Rechnen, Schreiben, etwas Naturlehre und Erdbeschreibung von der Gesamtwochenzahl nicht einmal die Hälfte ein, der Löwenanteil entfällt auf den Religionsunterricht, den Katechismus- und biblischen Geschichtsunterricht. Freitag und Samstag sollten vorzüglich der Ausarbeitung des Katechismus und der Ablesung des Evangeliums und Erklärung desselben dienen. 74 Menschenlehre oder Tier- und Pflanzenkunde tauchen gar nicht auf. Immerhin, zur Abwechslung war am Samstag noch etwas zur Obstbaumzucht und zur Landwirtschaft zu vermitteln. Der Feiertags- und Sonntagsunterricht, 73 M. L IEDTKE , Gesamtdarstellung (Anm. 8), S. 71. 74 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Schul-Nachweise und Schulvisitationsprotokolle, Steinekirch 1809 - 1918. <?page no="145"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 145 der einstündig vor- und nachmittags stattfinden und abwechselnd von den Geschlechtern besucht werden sollte, orientierte sich an sämtlichen Gegenständen wie in der Werktagsschule vorgetragen, 75 d. h. es blieb mithin dem Lehrpersonal überlassen, welche Inhalte unterrichtet wurden. 76 Abb. 5: Die Schule in Steinekirch, undatiert. Ohne Zweifel gibt dieser Stundenplan nur einen punktuellen Überblick über den Schulalltag in einer einfachen Dorfschule, doch ist der Überhang an religiöser Unterweisung frappierend. Freilich ist auch in Rechnung zu stellen, dass der tatsächliche Unterrichtsgang vom Lehrer abhing, der Stundenplan also möglicherweise gar keine so große Bedeutung hatte. Wie flexibel die Lehrerschaft den Unterricht gestaltete, könnte möglicherweise durch eine vergleichende Auswertung aller Stundenpläne der Schulen und der Visitationsprotokolle im Bezirk Zusmarshausen ermittelt werden, doch hätte dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschritten. Mit aller Vorsicht und nur auf Steinekirch bezogen kann festgehalten werden, dass die Kinder dieser Elementarschule tatsächlich nur das Notwendigste mit auf den Weg bekamen, 75 StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Schul-Nachweise und Schulvisitationsprotokolle, Steinekirch 1809 - 1918 76 M. S CHIEGG , Flexible Schreiber in der Sprachgeschichte (Anm. 20), S. 36. <?page no="146"?> A NKE S CZES N Y 146 nämlich die Vermittlung der - wie Nipperdey es so treffend ausdrückt - »einfachen Kulturtechniken, von Religion und Gedächtnis, von gegebenen Wahrheiten, Ordnung und Einpassung in das Bestehende.« 77 5. Einordnung der Ergebnisse Ein Fazit für das ländliche Volksschulwesen in Schwaben von 1802 bis 1871 zu formulieren, liegt in weiter Ferne. Vielmehr ist mit Fragen und Desiderata aufzuwarten, weil diese Thematik im quellenreichen, aber bezüglich des Volksschulwesens forschungsarmen Raum noch kaum erschlossen ist oder sich in ein Konzept einpassen lässt. Problematisch ist zudem, dass viele die Volksschulen betreffenden bisherigen Forschungsergebnisse in mehr oder minder großen Flächenstaaten wie Preußen oder Altbayern ermittelt wurden, so aber nicht auf die spezifische Struktur Schwabens übertragen werden können oder zutreffen. Die ehemalige Vielgestaltigkeit in Schwaben ist im Hinblick auf die Elementarschulen, ihrer Bedeutung oder Wandelbarkeit ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt. Für das Bezirksamt Zusmarshausen ist festzuhalten, dass die Verwaltung mit Kreisregierung, Bezirksschul- und Lokalschulinspektionen sich recht früh und schnell durchgesetzt hat, wie die Schreiben und die Adressaten belegen. Dass freilich die Ortsgeistlichen weiterhin die Führungsrolle bei allen schulischen Vorgängen innehatten, dass sich hier also weder eine überkonfessionelle Schule noch der Staat als Träger des Schulwesens durchsetzen konnte, läuft in diesem Fall ganz parallel zu Untersuchungen in Preußen oder Altbayern. Bemerkenswert im Bezirk Zusmarshausen ist die Zahl der Schulen, die mit 39 Einrichtungen für jeden noch so kleinen Ort eine Schule ausweist. Unklar ist freilich noch, inwieweit diese Schulen neu errichtet wurden oder auf alte, bestehende rekurrieren, ja, ob es sich tatsächlich jedes Mal um eine Schule oder nur um eine Art Klassenzimmer handelte. Die Schulpflicht scheint in Zusmarshausen formal eingeführt worden zu sein. Sowohl die Schülerlisten als auch die eingetragenen Absenzen weisen darauf hin, dass die Lehrerschaft sich tendenziell bemühte, die Schulkinder an Werk- und Feiertagen zu unterrichten. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt, bedenkt man das landwirtschaftliche oder hausindustrielle Umfeld der Kinder, die möglicherweise zuhause als Arbeitskräfte gebraucht wurden und deshalb in der Schule fehlten. Welche Qualität die schulische Bildung hatte, lässt sich kaum ermitteln, doch dürfte sie unterhalb jener der Stadt gelegen haben, wo der Unterricht doch regelmäßiger über das ganze Jahr hinweg stattfand. Auffallend ist zudem - das illustrieren die Stundenpläne - wie stark die religiöse Unterweisung neben den einschlägigen 77 T H . N IPPERDEY , Deutsche Geschichte 1800 - 1866 (Anm. 41), S. 468. <?page no="147"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 147 Kulturtechniken war und wie wenig eine Vermittlung weiterer Wissensinhalte angestrebt wurde. Die Qualität der Bildung lag ferner am Ausbildungsstand und den Bemühungen der Lehrer. Zwar unterrichtete in Zusmarshausen mit dem Lehrer Bernhard Wohlgeschaffen schon früh ein Lehrer, der ein Lehrerseminar besucht hatte, doch lag es natürlich auch am Engagement des Einzelnen, ob die Kinder etwas lernten oder nicht, wie die Streitigkeiten um die Lehrer Schröfel oder Maisch zeigen. Den Lehrern oblag nicht nur der der Unterricht, sondern auch die Verbesserung und Instandhaltung der Schulräume und des Schulinventars. Im Verbund mit dem Ortsgeistlichen als Lokalschulinspektor mussten sie die Gemeinde zu Investitionen bewegen, was sicher nicht immer eine leichte Aufgabe war. Zum Vorteil der Lehrerschaft gereichte in Bezug auf ihre Versorgung das Dazwischentreten der Gemeinde zwischen Eltern und Lehrpersonal. Die Anonymisierung der personalen Kontakte zu den Eltern war ein Vorgang, der manchen Konflikt entschärfen half. Das Lehrpersonal hatte auf der anderen Seite eine tradierte Vorbildfunktion, die von Eltern und Gemeinde hinsichtlich Moral, Ethik usw. genau beobachtet wurde, was unter Umständen zur Folge hatte, dass die Erzieher bei Fehlverhalten angezeigt und durch die Lokal- und Bezirksschulinspektion entlassen werden konnten. Die Frage nach der Motivation der Lehrer, diesen Beruf überhaupt zu ergreifen, der weder sehr gut entlohnt war noch anfänglich ein höheres Ansehen verlieh, kann auf Basis der derzeit bekannten Quellen kaum beantwortet werden. Offen sind auch Fragen nach geschlechterspezifischen Aspekten, sei es Lehrerinnen oder Schülerinnen betreffend. Unklar sind die Wege von Schülerinnen und Schülern, die weiterführende Schulen und Einrichtungen besuchten. Zu klären wäre, ob hier die Eltern ihre Kinder weiterbringen wollten oder das Lehrpersonal besondere Talente fördern half. 78 Dies evoziert nochmals die Überlegung, inwieweit Bildung auf dem Land schichtenabhängig war und wie dies zu greifen wäre. Das sind nur die drängendsten Fragen einschließlich der schon gestellten, die einmal mehr zeigen, wie wenig über das ländliche Volksschulwesen nicht nur im Bezirksamt Zusmarshausen, sondern weit darüber hinaus bekannt ist. 79 78 Im 18. Jahrhundert ergriffen 87 Personen aus Zusmarshausen ein Studium; https: / / ober deutsche-personendatenbank.digitale-sammlungen.de/ Datenbank/ Hauptseite (aufgerufen am 6.1.2023). Dass die Gemeinde an der Ausbildung ihrer Schulkinder interessiert war, zeigt ein Fall aus Zusmarshausen, in dem ein junger und zum Unterricht tauglicher Seelsorger eingesetzt werden soll, da Dadurch wurde der Pfarrer nicht nur in seinen Verrichtungen unterstützt, sondern der Gemeinde wurde auch der Vortheil, daß dieser Geistliche auch einige Kinder, denen man eine etwas höhere Bildung verschaffen wollte u. oft zu verschafen gezwungen war, ohne hierauf besondere Kösten verwenden zu können, in Unterricht nemmen konnte; GemA Zusmarshausen, A VIII 024-1: Schriften der Gemeindebevollmächtigten, 1821 - 1824, Nr. 26, 17.6.1822. Ich danke Frau Angela Schlenkrich sehr herzlich für diesen Hinweis. 79 Vgl. hier auch die Einleitung von Dietmar Schiersner in diesem Band. <?page no="148"?> A NKE S CZES N Y 148 Angesichts dieser fragmentarischen Ergebnisse lässt sich resümieren, dass von oben verordnete Gesetze nur dann bedingt auf lokaler Ebene angenommen wurden, wenn sie der Kirche und den lokalen Gegebenheiten nicht in die Quere kamen. Konsens bestand in der Einrichtung der Schulen, der Schulpflicht und der besseren Ausbildung der Lehrer. Die Trennung von Staat und Kirche, eine erweiterte, über grundsätzliche Kulturtechniken und religiös-moralische Lehreinheiten hinausgehende Unterweisungen und eine Verdrängung der Pfarrer zugunsten pädagogisch ausgebildeter Lehrer erfolgten nicht. Ob damit gleichzeitig eine »konservative Gegenbewegung gegen ein Zuviel an Bildung« umgesetzt und »das Land zur Bastion für die Aufrechterhaltung der traditionalen Ordnung« wurde, 80 ist allerdings in dieser Eindeutigkeit zu bezweifeln. Sicher gab es während des 19. Jahrhunderts Rückschläge im Bildungsprozess auf dem Land, wenn die oftmals über längere Zeit angestellten Lehrer ihren Pflichten nicht nachkamen oder aber die Geistlichen massiv in die Unterrichtsinhalte eingriffen, wenn die Kinder aufgrund der landwirtschaftlichen oder hausindustriellen Mitarbeit an einem kontinuierlichen Schulbesuch gehindert wurden. Nachteilig waren zudem die großen Schulklassen und damit das an der Grenze liegende Lehrer-Schüler-Verhältnis, das die Verständigung zwischen Erzieher und Kindern nicht gerade erleichtert haben dürfte. Dennoch, es dürfte im Auge des Betrachters liegen, ob man die Entwicklung des Schulwesens in Zusmarshausen vor dem Hintergrund modernisierungstheoretischer Überlegungen als rückwärtsgewandt und traditionalistisch einschätzt oder ob man angesichts der Einrichtung der Schulen, der schrittweisen Verbesserung der Lehrmethoden sowie der Ausbildung der Lehrer und der Durchsetzung der Schulpflicht nicht auch von einer Anpassungsleistung der ländlichen Gemeinden an sich im 19. Jahrhundert verändernde Strukturen sprechen kann. Dass diese Leistungen mal mehr staatlich und mal mehr kommunal initiiert und bewältigt wurden, dürfte nicht zuletzt dem Wandel im langen 19. Jahrhundert geschuldet sein. 80 F.-M. K UHLEMANN , Tradition und Innovation (Anm. 21), S. 56. <?page no="149"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 149 Anhang Tabelle zur Schulinspektion im Bezirksamt Zusmarshausen, 1876: Hinweis: Es wurden lediglich Stichworte der in manchen Fällen sehr ausführlichen Beschreibungen und Kritikpunkte aufgenommen. Ort Kritik am Lehrer Verbesserung für die Schüler Schulgebäude Anschaffungen Agawang Nachlässigkeit Heruntergekommen Naturgesch. Tafel Altenmünster Mehr Mühe Sanitäre Anlagen Ortskarte Anried Sommersemester nachholen Schriftlichkeit, Rechnen Sprachfertigkeit Wandtafel: Fische und Amphibien Aretsried Aufsatz- und Rechtschreibübungen Dezimalrechnen Wandtafel: Säugetiere Baiershofen Schön- und Rechtschreiben Vorhänge aus ungebl. Leinen Orts- und Geographiekarten Biburg Vollständige Sätze Bezirksamtskarte Bonstetten Sprechen nicht hochdeutsch und nicht in vollständigen Sätzen. Lesen ohne Verstehen. Rechnen: Ziel nicht erreicht Verbesserung des Daches und der Mauer zum Abtritt. Breitenbrunn Lesestücke im Unterricht, nicht zuhause üben. Kinder nicht nur Zahlen und Titel memorieren lassen, sondern erklären Großu. Kleinschreibung. Sprechen in vollständigen Sätzen. Schriftlicher Ausdruck mangelhaft Dinkelscherben Untere Klassen besondere Nachhilfe: Vortrag/ Betonung; Rechnen Ettelried Sonntagsschule: Gesetzeskunde von Geiger <?page no="150"?> A NKE S CZES N Y 150 Ort Kritik am Lehrer Verbesserung für die Schüler Schulgebäude Anschaffungen Fischach/ christlich Betonung Fischach/ israelitisch Sorgfältigere Korrektur Größere Reinlichkeit in den Heften Fleinhausen, Grünenbaindt und Steinekirch Karte Schulort und Bezirksamt Gabelbach Anfertigung einer Schulortskunde mit entspr. Katasterblättern Laut und vernehmlich antworten Gabelbacher-greut Hefteinträge mit Datum versehen Häder Verbesserung der vernachlässigten Schule Das Einsagen abschaffen Verschiedene Karten; neue Schulbänke Horgau Lesen und Gedächtnisübungen besser beibringen Selbstständigeres Arbeiten Horgauergreut Förderung der schwächeren Kinder Adelsried, Kutzenhausen Guter Zustand in allem Neumünster Zensurbuch sorgfältiger führen Vollständige Sätze. Auch im Sommersemester üben Schulraum perlgrau tünchen, Schulgarten besser pflegen Oberschöneberg Mehr Fleiß, die zurückgebliebenen Kinder der Unterklasse zu befähigen. Sorgfältigere Korrektur <?page no="151"?> D A S LÄNDLICHE V OLKS S CH ULW E S EN IN S CH WA B EN 151 Ort Kritik am Lehrer Verbesserung für die Schüler Schulgebäude Anschaffungen Reutern Beim Lesen und Vortrag den singenden Tone unterlassen. Vollständige Sätze Sanitäre Anlagen einrichten Lehrbücher für 3. und 4. Klasse Ried Befriedigend Rechnen in der 1. Klasse verbessern. Für den Gesangsunterricht sind, da auch hier nicht für die Schule, sondern für das Leben gearbeitet werden muß, nicht Schulprüfungslieder und dergl. zu wählen, sondern eigentlich Volkslieder, die auch dann von Bedeutung bleiben, wenn die Schuljahre vorübergegangen sind Neue Bänke Rommelsried Vorbereitungs- und 1. Klasse besser fördern Leseverständnis. Tafelrechnen, das Einsagen vermeiden Wandtafeln: Vögel, Amphibien, Fische, wirbellose Tiere Streitheim Ganze Sätze, ausdrucksvolles Lesen, sicherer Rechnen Unterschöneberg Besserer Anschauungsunterricht Vollständige Sätze durch Erläuterung der Aufsatzthemata Wandtafeln: Amphibien, Fische, wirbellose Tiere Ustersbach Aufssatz, Rechtschreiben, Rechnen Welden Korrekturen Einzelne Wörter beim Lesen nicht wiederholen; Beachtung der Unterscheidungszeichen; Dezimalbrüche <?page no="152"?> A NKE S CZES N Y 152 Ort Kritik am Lehrer Verbesserung für die Schüler Schulgebäude Anschaffungen Willishausen Stufenmäßigen Lehrgang im Rechnen einhalten. Betreffende Aufgaben Verstehen auswählen Rechnen Neuer Globus mit messingenem Meridian Willmatshofen Förderung der schwächeren Kinder Feucht auf der südöstlichen Seite Wörleschwang Sorgfältigere Korrektur der Rechtschreibhefte und der Diktate Einsagen ist ernsthaft entgegenzutreten Wollbach Rechnen gründlich erklären Fragen in vollständigen Sätzen beantworten Wollishausen Auf Heftführung genauestens achten Dezimalbrüche Ortskarte Wollmetshausen Zensurbuch vervollständigen Zusmarshausen Dach beim Kamin beschädigt; Decke im unteren Schulabtritt herabgefallen; Platten an der östlichen Mauer überwachsen Quelle: StA Augsburg, BA Zusmarshausen 2153: Acta zur Schule, Dinkelscherben, Districtsu. Lokalschulinspektion 1807 - 1918. <?page no="153"?> 153 E RICH M ÜLLER -G AEBELE Das Schulhaus als Gegenstand bildungshistorischer Forschung. Beispiele aus Oberschwaben Die folgende Darstellung skizziert die Entwicklung des dörflichen Schulhauses vom Beginn des Königreichs Württemberg bis zur Gegenwart, vor allem mit Blick auf die zahlreichen Schulreformen und deren Auswirkungen auf den Schulhausbau. Es lässt sich zeigen, wie stark politische und gesellschaftliche Erwartungen sowie bildungspolitische Entscheidungen die Architektur der Schulgebäude und die Ausstattung der Schulräume beeinflussten. 1 Ersichtlich wird, wie tiefgreifend die Raumverhältnisse Unterricht und schulische Erziehung erleichterten oder auch erschwerten. Schulgeschichtlich ist es aufschlussreich, wenn die Zusammenhänge zwischen Raumverhältnissen und Unterrichtsgeschehen fokussiert werden. Dazu liegen zwar Forschungsarbeiten vor, 2 aber noch kaum wahrgenommen wird, dass Schulhausentwicklung im Reformprozess oft verbunden ist mit Schulabwicklung, also mit dem Schließen einer Schule. 1 Die folgenden Ausführungen gehen auf das Projekt ›Schulhausgeschichte im ländlichen Raum‹ der Arbeitsstelle Schulgeschichte der Pädagogischen Hochschule Weingarten zurück ; vgl. https: / / www.ph-weingarten.de/ einrichtungen/ schulgebaeude-im-laendlichen-raum-ihregeschichte-und-ihr-schicksal-im-kontext-der-schulreformen (aufgerufen am 2.8.2023). Ausgangspunkt war zunächst die von der baden-württembergischen Landesregierung geplante Strukturreform des allgemeinbildenden Schulwesens, in deren Folge viele Schulen geschlossen wurden. Die ›Forschungsstelle für Schulgeschichte‹ an der Pädagogischen Hochschule Weingarten setzte sich zum Ziel, diese leerstehenden Schulen systematisch zu erfassen. In jüngster Zeit setzen Prof. Dr. Claudia Bergmüller-Hauptmann, Leiteri n der ›Arbeitsstelle für Schulgeschichte‹, und Dr. Thomas Wiedenhorn das Projekt fort. 2 Einen Überblick bieten folgende Veröffentlichungen: J OACHIM K AHLERT / K AI N ITSCHE / K LAUS Z IERER (Hg.), Räume zum Lernen und Lehren. Perspektiven einer zeitgemäßen Schulraumgestaltung, Bad Heilbrunn 2013; U LRIKE S TADLER -A LTMANN (Hg.), Lernumgebungen. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Schulgebäude und Klassenzimmer, Opladen u. a. 2016; E DITH G LASER u. a. (Hg.), Räume für Bildung - Räume der Bildung. Beiträge zum 25. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Opladen u. a. 2018. <?page no="154"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 154 Vor dem Hintergrund der hier erfolgenden Analyse 3 zeigt die folgende Karte (Abb. 1), wo im heutigen Landkreis Ravensburg Landgemeinden mit Schulhäusern standen. Es waren insgesamt 102, die sich auf die Oberämter Isny, Leutkirch, Ravensburg, Saulgau, Waldsee, Wangen und Weingarten verteilten. Abb. 1: Schulhäuser von 1908 (grau), schwarz hervorgehoben sind diejenigen Schulhäuser, die heute noch als Schulgebäude genutzt werden. 1. Schulgebäude im ländlichen Raum in bildungshistorischer Sicht Wie gesagt, wurden im Zuge des Reformprozesses viele kleine Dorfschulen mit einer oder zwei Lehrkräften geschlossen. Den mit der Modernisierung des Bildungssystems verknüpften Zielen, Erwartungen und Ansprüchen waren sie nicht mehr gewachsen. Auch Ringgenweiler bei Horgenzell im Landkreis Ravensburg zählte dazu, der Ort musste 1973 seine Einklassenschule aufgeben. 3 Vgl. als Gesamtpublikation E RICH M ÜLLER -G AEBELE / C LAUDIA B ERGMÜLLER / T HOMAS W IEDENHORN , Schulgebäude im ländlichen Raum - ihre Geschichte und ihr Schicksal im Spiegel der Schulreformen, Ostfildern (in Vorb.). Der Text stellt eine überarbeitete Fassung des am 19.11.2022 bei der Tagung des ›Memminger Forum s für schwäbische Regionalgeschichte‹ gehaltenen Vortrags dar. <?page no="155"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 155 Viele Dörfer Oberschwabens verloren ihre Schule als kulturelles Zentrum, zurück blieben leerstehende Schulgebäude. Interessant ist es dennoch zu sehen, wenn sich die Schulorte durch Um- und Neubauten verändern und damit die Modernisierungsprozesse abbilden. Es bietet sich also die Gelegenheit, auf lokaler und regionaler Ebene Schulentwicklungsprozesse anschaulich, konkret und realitätsnah zu rekonstruieren. Damit schließt das Projekt an die aktuelle raumorientierte historische Bildungsforschung an, die in jüngster Zeit gesteigertes Interesse gefunden hat. Abb: 2: Schulhaus in Ringgenweiler, erbaut 1842, seit 1973 leerstehend (Aufnahme 1975). Die Materialität der Schulbildung rückt wieder stärker in das Blickfeld der Bildungsforschung, die sich anschickt, die beklagte »Raumvergessenheit« der Erziehungswissenschaften zu überwinden. 4 4 F ABIAN K ESSL , Erziehungswissenschaftliche Forschung zu Raum und Räumlichkeit. Eine Verortung des Thementeils »Raum und Räumlichkeit in der erziehungswissenschaftlichen Forschung«, in: Zeitschrift für Pädagogik 62 (2016), S. 5 - 19; M ARTIN N UGEL , Erziehungswissenschaftliche Diskurse über Räume in der Pädagogik. Eine kritische Analyse, Wiesbaden 2014. <?page no="156"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 156 Im Folgenden wird skizziert, wie sich der Schulbau nach der Gründung des Königreichs Württemberg (1806) entwickelt hat. Standen in den Jahrzehnten zuvor nur in größeren Orten Schulgebäude, begannen nach 1800 auch Dörfer, eigene Schulhäuser zu bauen. Zwischen 1836 und 1855 wurden nach einer Statistik rund 500 Schulgebäude geschaffen. 5 Aus der Bauphase 1820 bis 1860 sind bis heute in manchen Schulgemeinden Schulhäuser stehen geblieben. Die im 19., 20. und 21. Jahrhundert vorgenommenen Um- und Erweiterungsbauten spiegeln die Anstrengungen der Kommunen wider, mit ihren Bildungsstätten den sich fortwährend ändernden gesellschaftlichen Erwartungen und pädagogischen Anforderungen gerecht zu werden. Der Schwerpunkt meiner Darstellung liegt bei der Beschreibung der materialen Dimension der Schulentwicklung, vor allem der Architektur der Gebäude. Die Wandlung des Schulgeschehens lässt sich allerdings nur begrenzt an der Außenarchitektur ablesen, da die Schulhäuser oft viele Jahrzehnte nahezu unverändert blieben. Die Transformationen des Unterrichtsgeschehens sind vor allem durch den Wechsel der Raumausstattungen, insbesondere der Schulbänke entstanden. Allerdings kann darauf nur am Rande eingegangen werden, obwohl sie das Geschehen im Raum entscheidend beeinflussen: Durch Räume werden Ordnungssysteme geschaffen, die Verhaltensmöglichkeiten einschränken, etwa durch Traditionen, Regeln, Normen und Rituale. Für ländliche Schulgemeinden war es oft schwierig, den durch Reformen ausgelösten Ansprüchen gerecht zu werden. Nicht immer waren sie in der Lage, Gesetze und Verordnungen zum Schulbau einzuhalten. Es ist dennoch erstaunlich, dass auch kleine Schulorte immer wieder in die Errichtung von Schulen investierten. Oft blieben dann die älteren Gebäude stehen und es kam zu einem Nebeneinander im Nacheinander. Dadurch ist es möglich, die verschiedenen Epochen der Schulbaugeschichte an einem Ort zu erfassen. In den Blick kommen aber auch Orte, die ihre Schule aufgeben mussten. 2. Von der Schulstube zum Schulhaus In den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wies das Volksschulwesen im Königreich Württemberg gravierende Mängel auf. An vielen Orten fehlten Schulhäuser, unterrichtet wurde dennoch, entweder im ehemaligen Mesnerhaus, in der Wohnstube eines Lehrers oder auf einem Bauernhof. In Dokumenten ist von › Schule halten ‹ die Rede, was jedoch nicht heißt, dass eine eigene Schulstube oder gar ein Schulgebäude zur Verfügung stand. Um 1810 hatten in Württemberg von 5 E UGEN S CHMID , Geschichte des württembergischen evangelischen Volksschulwesens von 1806 - 1910, Stuttgart 1933, S. 349. <?page no="157"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 157 1.300 Elementarschulen 400 kein Schulhaus. Doch viele Gemeinden waren in den nachfolgenden Jahren bestrebt, in Ortszentren ein Schulgebäude zu erbauen. Für König Friedrich I. (Herzog 1797, Kurfürst 1803, König 1806 - 1816) und seinen Nachfolger Wilhelm I. (reg. 1816 - 1864) war es ein Anliegen, ein einheitliches Schulsystem einzurichten. Dies gelang vor allem mit einem Volksschulgesetz, das 1836 in Kraft trat. 6 Es bildete Jahrzehnte das Fundament der Schulentwicklung. Mit mannigfachen, aber nicht wesentlichen Änderungen hielt es sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Das Gesetz, das die Bezeichnung › Volksschule ‹ einführte, regte wohl die Gemeinden an, in den Schulhausbau zu investieren. Aber es zeigte sich auch, dass nicht wenige Schulhäuser erhebliche Mängel aufwiesen. So ergab eine Inspektion der Schulhäuser des Oberamtes Wangen 1835, dass sich von den 25 inspizierten Gebäuden neun in einem schlechten Zustand befanden, waren sie doch zu eng und zu dunkel. 7 Sehr kritisch äußerte sich ein Lexikon zur Erziehungs- und Unterrichtslehre 1842 zum Zustand der Schulstuben: Der Sinn für Reinlichkeit, Ordnung, Anmut, Wohlanständigkeit, die Lust am Schulleben, die heitere Geselligkeit und freudige Tätigkeit kann unmöglich gedeihen in den Jammerhöhlen, die man jetzt Schulstuben nennt, worin die Kinder eng zusammengepfercht in jeder freien Bewegung gehemmt, in kümmerlichem Lichte, das durch kleine trübe Öffnungen einfällt, von oben her durch die niedrige Decke gepresst, kaum frei zu atmen vermögen, und nur Stickluft einatmen […]. 8 3. Schulhausbau im Aufschwung In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkten die Gemeinden wiederum ihre Anstrengungen, ihr Schulhaus zu renovieren, zu erweitern oder durch einen Neubau zu ersetzen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichte die Zahl der Neubauten in Württemberg einen Höhepunkt. Das Königreich erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Einwohnerzahlen in Stadt und Land stiegen, damit auch die Zahl der Schulpflichtigen in den Landgemeinden. Die Gemeinden sahen sich nun in der Lage, in Bildung zu investieren und Schulgebäude zu finanzieren, die architektonisch anspruchsvoll, baulich repräsentativ und am Jugendstildekor orientiert das Ortsbild prägten. Nun wurde auf schmückende Gestaltungselemente, auf dekorative Treppenaufgänge und Eingangstüren Wert gelegt. 6 E UGEN U LMER , Das Gesetz über die Volksschulen vom 29. September 1836, 2. Aufl. Ravensburg 1867. 7 G ERD F RIEDERICH , Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert, Weinheim 1978, S. 51. 8 M ATHIAS C ORNELIUS M ÜNCH , Universal-Lexikon der Erziehungs- und Unterrichtslehre für ältere und jüngere christliche Volksschullehrer, 2. Bd., Augsburg 1842, S. 518. <?page no="158"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 158 Die stattlichen Schulgebäude in kleinen Gemeinden fanden indes nicht uneingeschränkt Zustimmung. Kritik meldeten Abgeordnete des württembergischen Landtages an, die vor dem Bau luxuriöser Schulhäuser warnten, denn dies würde die Gemeinden lange Zeit nur unnötig finanziell belasten. Doch in Oberschwaben ließen sich viele Kommunen nicht davon abhalten, repräsentative Schulhäuser in Ortszentren zu errichten, um damit zu dokumentieren, wie wichtig ihnen Schulbildung war. Der Bedarf an neuen und vor allem größeren Schulgebäuden war groß. Mehr und mehr zeigte sich aber auch, dass einheitliche Bestimmungen fehlten, um ein pädagogisch angemessenes, gesundheitlich förderliches und für die Gemeinde zweckmäßiges Bauen zu gewährleisten. Daher griff die Regierung normierend in das Schulbaugeschehen ein. Am 28. Dezember 1870 trat eine Verfügung in Kraft, die in 39 Paragrafen Vorschriften für die Einrichtung und den Bau von Schulhäusern enthielt. Bemerkenswert ist, dass Fachwerkbau nicht empfohlen wurde. 9 Dies erklärt wohl, weshalb in Oberschwaben solche Schulgebäude kaum anzutreffen sind. In der sehr ausführlichen, ins Detail gehenden Verfügung sind Vorschriften enthalten zur Lage der Gebäude, zur Konstruktion der Mauern und Wände, zur Heizung, Lüftung und Beleuchtung, zur Wasserversorgung, zum Blitzableiter, zu den sanitären Einrichtungen, zum Spielplatz und zu Turneinrichtungen. Form, Fläche, Höhe, Fußboden, Wände und Decken der Schulzimmer sind detailliert beschrieben. Es ist nicht verwunderlich, dass die Vielzahl an Vorgaben nicht immer eingehalten werden konnte. Beispielsweise erreichten nur wenige Schulzimmer die Höhe von 3,40 m als Mindestmaß, viele kamen nicht einmal auf drei Meter, was die verfügbare Raumluft mitunter verminderte. Überhaupt mussten die Schulbehörden immer wieder feststellen, dass Schulgemeinden Vorschriften nicht beachteten. 10 Die vielen Dörfer und Weiler prägten die Schullandschaft Oberschwabens. Oft wiesen die Schulorte selbst nur wenig Einwohner auf, da ein Großteil der Schüler und Schülerinnen in den Weilern auf den Höfen der Umgebung lebte. Berg (bei Ravensburg) versorgte 56 bis zu fünf Kilometer entfernte Filialen, was vielerlei Erschwernisse mit sich brachte, vor allem im Winter. Einen Spitzenplatz nahm Amtzell ein, denn das Einzugsgebiet umfasste nicht weniger als 105 Wohnorte mit 1.200 Bewohnern und Bewohnerinnen. Was ergab sich aus der stark zerteilten Schullandschaft? Zunächst bedeutete dies für die nicht am Schulort wohnenden Schulkinder (und das war stets die Mehrheit), dass sie Tag für Tag zu Fuß einen Schulweg von bis zu fünf Kilometern zurückzulegen hatten, insgesamt also zehn Kilometer. 9 Die gesetzlichen Bestimmungen über die Einrichtung von Schulhäusern in Württemberg, Stuttgart 1881, S. 31 - 54. 10 Konsistorial-Erlass an die gemeinschaftlichen Oberämter in Schulsachen betreffend die Ausführung der Schulhausbauten, in: E RNST S CHÜZ / K ARL H EPP , Das württembergische Volksschulgesetz vom 17.08.1909, 1. Bd., Stuttgart 1910, S. 22. <?page no="159"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 159 Schneereiche Winter waren vor allem für Kinder der ersten Schuljahre ein strapaziöses Unternehmen. Das Zusammenleben im Schulhaus vollzog sich nicht immer konfliktfrei. Vom Schulgebäude getrennte Lehrerwohnungen waren eine Ausnahme, in der Regel gehörten Schule und Dienstwohnung unter ein Dach. Häufig fanden die Unterrichtsräume im Erdgeschoss Platz, die Wohnung war einen Stock höher untergebracht. Was die Größe und Ausstattung anbelangt, so setzte eine Verfügung aus dem Jahre 1867 die Maßstäbe. 11 Im Prinzip stand der Lehrerfamilie eine Dreizimmerwohnung mit zusätzlich zwei unbeheizten Kammern zu. Das Wohnen im Schulhaus hatte Vorzüge, brachte aber auch mancherlei Nachteile, da Privat- und Schulleben kaum zu trennen waren. Abb. 3: Schul- und Rathaus in Hasenweiler, Baujahr 1900. Das Ratszimmer erhielt unten Platz, der Schulsaal oben. Kompliziert gestaltete sich das Zusammenleben in einem Gebäude, wenn auch noch die Gemeindeverwaltung darin unterzubringen war. Viele Gemeinden konnten sich 11 Verfügung des Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens betreffend die Dienstwohnungen der Schulmeister, in: M. C. M ÜNCH , Universal-Lexikon (Anm. 8), S. 55 - 59. <?page no="160"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 160 kein eigenes Rathaus leisten und brachten Ratsstube, Sitzungsraum, Ortsarchiv und manchmal sogar eine Arrestzelle im Schulhaus unter. Die Schulgebäude mussten räumlich so ausgestattet werden, dass die Unterrichtsräume bis zu 90 Schülerinnen und Schüler aufnehmen konnten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es noch weithin üblich, in Langbänken mit Tischen zu sitzen. Aber oft reichte dafür der Platz im Schulraum nicht aus, infolgedessen entstanden um 1840 kompakte Schreibpulte mit Sitzbank. Abb. 4: Schulklasse, ausgestattet mit viersitzigen Langbänken, um 1910. Da vielfach Vorschriften fehlten, blieb es den Gemeinden überlassen, wie sie das Sitzproblem lösten. Daraus ergaben sich schwerwiegende Probleme, denn den Behörden blieb es nicht verborgen, dass die selbstgezimmerten Sitzbänke den Lernenden gesundheitlich schadeten. Daher wurde 1868 eine Verfügung erlassen, die eine detaillierte Instruktion enthielt, wie Schulbänke (Subsellien genannt) herzustellen waren. Einleitend betont die Instruktion: Die unzweckmäßige Haltung des Körpers, welche die Kinder während des Unterrichts in der Schule, insbesondere beim Schreiben anzunehmen geneigt sind, gehört zu den wichtigsten Ursachen der erfahrungsgemäß überhandnehmenden Kurzsichtigkeit <?page no="161"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 161 und Körperverkrümmung. 12 Die Instruktion empfahl zweisitzige Schulbänke, wofür freilich mehr Platz im Schulzimmer erforderlich war. Daher blieben viele Schulen bis in das 20. Jahrhundert bei den gewohnten vier- oder sechssitzigen Bänken. In der Deuchelrieder Schule bei Wangen verschwanden die viersitzigen Bänke erst 1953 aus dem Klassenzimmer. Dieses Beispiel macht deutlich, dass eine große Diskrepanz zwischen amtlichen Verlautbarungen und der Schulrealität bestand. Viele Schulgemeinden sahen sich nicht in der Lage, behördliche Vorgaben zu beachten, selbst wenn gesundheitliche Gefährdungen drohten. 4. Schulhausbau in der Zeit der Weimarer Republik (1919 - 1933) Am 10. November 1918 verzichtete der württembergische König Wilhelm II. auf seinen Thron. Rasch vollzog sich der Übergang zur Demokratie, und bereits am 12. Januar 1919 fanden Wahlen zur Verfassungsgebenden Landesversammlung statt, zu der erstmals Frauen zugelassen waren. Am 18. August 1919 verabschiedete die Nationalversammlung in Weimar die › Verfassung des Deutschen Reiches ‹ mit wichtigen Schulartikeln. 13 Die gemeinsame Grundschule für alle wurde beschlossen (ohne Zahl der Schuljahre), das achte Schuljahr, das 1858 abgeschafft worden war, wurde wieder eingeführt. Eine von der pädagogischen Reformbewegung »Vom Kinde aus« inspirierte Schulpädagogik beeinflusste die Lehrpläne. 14 Eine produktive Weiterentwicklung des Bildungswesens war nicht möglich, denn eine starke Inflation ab 1923 und die Ende 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise ließen kaum noch Investitionen in den Schulbau zu. Es herrschte hohe Arbeitslosigkeit, die in Württemberg rund 1.300 Lehrkräfte erfasste. Im Landkreis Ravensburg stockte der Schulbau, nur wenige neue Schulgebäude konnten finanziert werden. Zu den Ausnahmen zählte, um ein Beispiel zu geben, die Schulgemeinde Zogenweiler. Sie liegt 11,5 Kilometer nordwestlich von Ravensburg, umgeben von 17 Höfen und Weilern. Zogenweiler hatte 1828 ein neues Schulhaus mit Lehrerwohnung in nächster Nähe zur Kirche erhalten. Um 1900 mehrten sich die Klagen über den miserablen Zustand des in die Jahre gekommenen Gebäudes. So heißt es 1908: Schulhaus 2-stockig, alt und gering, baldiger Neubau dringendes Bedürfnis 12 Verfügung des k. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens betreffend eine Instruktion für die Einrichtung der Subsellien in den Gelehrten-, Real- und Volksschulen, vom 29. März 1868, in: M. C. M ÜNCH , Universal-Lexikon (Anm. 8), S. 7. 13 Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Den Schülern und Schülerinnen zur Schulentlassung, Bildung und Schule. Art. 142 - 150, Berlin 1920. 14 Lehrpläne für die Volks- und Mittelschulen in Württemberg, Gesamtausgabe 1928, Stuttgart 1928. <?page no="162"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 162 und nicht zu umgehen. 15 Zwar ließ der Neubau auf sich warten, doch gelang es in wirtschaftlich schwieriger Zeit endlich, am Ortsrand ein neues, stattliches Schulgebäude zu erstellen und 1932 einzuweihen. Rund 40 Jahre unterrichteten darin Lehrkräfte, es war eine Einklassenschule. Aber 1973 war es damit vorbei: Im Zuge der Schulentwicklungsplanung des Landes wurde die Schule geschlossen. Die Zogenweiler Kinder wechselten nach Horgenzell an die dortige Grund- und Hauptschule. Bis 2021 diente das Schulgebäude als Kindergarten, der jedoch vorübergehend in das Nachbardorf Danketsweiler übersiedelte. Das seitdem leerstehende Schulhaus wird abgerissen, um einem Neubau für den Kindergarten Platz zu machen. 5. Schulgebäude im Nationalsozialismus Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann alsbald der Prozess der Zerstörung der Weimarer Demokratie. Am Jahresende hatte sich die nationalsozialistische Diktatur etabliert, der Reichstag war entmachtet, die Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt, alle Parteien außer der NSDAP wurden aufgelöst und verboten. Die Kulturhoheit der Einzelstaaten endete, ein Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung steuerte ab 1934/ 35 das gesamte deutsche Schulsystem. Zwischen 1937 und 1939 erschienen reichseinheitliche Richtlinien für den Unterricht an den allgemeinbildenden Schulen. Kinder und Jugendliche sollten so früh wie möglich mit der Ideologie des Nationalsozialismus vertraut gemacht werden. In den ersten Jahren der NS-Herrschaft gelang es, in einigen Schulgemeinden der Region neue, wahrscheinlich schon früher geplante Schulhäuser zu bauen. In der Nähe von Ravensburg sind dies drei Neubauten: Oberzell 1934, Fronhofen 1935 und Horgenzell 1935. Diese drei Gebäude stehen noch und werden unterschiedlich genutzt: Oberzell wird zur Zeit in ein Haus der Betreuung für die Schule mit Ganztagsbetrieb umgebaut, in Fronhofen ist die Grundschule mit einigen Klassen untergebracht, soll jedoch abgebrochen werden und in Horgenzell ist das Rathaus eingezogen. Einzugehen ist kurz auf das Schulhaus in Berg/ Ailingen, einem Ortsteil von Friedrichshafen. Im August 1938 fand die Einweihung einer - so heißt es - vorbildlich gestalteten Schule statt. Der Neubau, so die Presse, zählt zu den schönsten im Kreis und im Land. Die Einweihungsfeier diente vor allem dazu, die Vereinnahmung der Schule durch den Machtapparat der Partei zu demonstrieren. Dazu der Bürgermeister in seiner Ansprache: Die politische Einstellung des Schulleiters gebe die Gewähr, daß die Kinder 15 Realkatalog der katholischen Volksschulstellen Württembergs, hg. unter Mitwirkung der beiden katholischen Lehrervereine Württembergs, Horb am Neckar 1908, S. 611. <?page no="163"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 163 in Sinn und Idee des Führers erzogen werden. 16 Die Politisierung des Schulbaus zeigt sich auch daran, dass das Schulhaus einen Versammlungsraum für Parteiversammlungen sowie einen Luftschutzraum enthielt. Am 17. Januar 1940 endete jegliche Bautätigkeit im Bildungsbereich. Nach einem Erlass durften nur noch kriegswichtige Bauten begonnen werden. Schulgebäude zählten nicht dazu. Abb. 5: Volksschule Berg (Ailingen/ Friedrichshafen), Einweihungsfeier des neuen Schulhauses im Jahr 1938. Das Schulgebäude unterscheidet sich von den damals üblichen kasernenähnlichen, mehrstöckigen, massiven Bauten durch eine aufgelockerte Architektur in freier Lage. 16 Verbo. Seeblatt. Friedrichshafener Tagblatt; Amtsu. Anzeigeblatt aller Behörden für d. Stadt u. d. Kreis Friedrichshafen vom 22.8.1938, Bericht über die Schulhauseinweihung in Berg; M ARTINA G OERLICH / M ICHAEL R ULAND , Schulgebäude auf dem Land. Die Dorfschule von 1938 in Berg bei Friedrichshafen, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 42 (2013), S. 182f. <?page no="164"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 164 6. Zwischen Stagnation und Fortschritt (1945 - 1965) Die ersten Nachkriegsjahre waren zwar durch erhebliche Schwierigkeiten belastet, doch bestand auch die Chance eines Neubeginns. Zum Glück blieben viele Dorfschulgebäude unzerstört, und so konnte der Unterricht im Herbst 1945 wieder aufgenommen werden. Die in die Jahre gekommenen Schulgebäude überstanden zwar die Kriegsjahre, aber sie konnten zunächst weder renoviert noch im Inneren neu gestaltet werden. Dennoch genossen die Landschulen in den ersten Nachkriegsjahren hohes Ansehen. Die Landbevölkerung schätzte ihre Ortsschulen, sie war zufrieden mit dem, was sie zu leisten vermochten. Das veraltete Inventar störte nicht. So saßen die Schulkinder in den Bänken ihrer Väter und studierten die Schulwandbilder aus der Zeit um 1900. Wie im 19. Jahrhundert bestand das ländliche Schulwesen hauptsächlich aus Ein- und Zweiklassenschulen. Um 1960 zählte Südwürttemberg- Hohenzollern 1.055 Volksschulen, davon waren: - einklassig 387 - zweiklassig 340 - dreiklassig 133 - vierbis sechsklassig 103 - siebenbis achtklassig 92 Mehr und mehr gerieten die wenig gegliederten Dorfschulen in die Kritik von Gesellschaft und Politik. Ihre Leistungsfähigkeit wurde infrage gestellt, ihre Rückständigkeit, räumliche Beengtheit und dürftige Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln wurde beklagt. Die Bildungsforschung machte auf die fehlenden Bildungschancen für Landkinder aufmerksam, nicht zuletzt mit der Prägung des Bildes vom › katholischen Mädchen vom Lande ‹ . Das in seiner Substanz aus der Zeit um 1900 etablierte Volksschulsystem verlor in den 1960er Jahren an Akzeptanz, die sogenannte Zwergschule wurde als Relikt aus vormoderner Zeit belächelt. Bereits in den 1950er Jahren setzte in der Bundesrepublik die Schulreformdebatte ein. Der › Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen ‹ forderte in seinem Rahmenplan 1958 eine leistungsfähige Hauptschule mit neun Schuljahren. 17 Im Schulhausbau begann parallel dazu eine neue Ära, ausgelöst durch eine Reformbewegung, die sich vor allem in der Schweiz und in Schweden ausbreitete. Bereits um 1950 erreichten erste Reformideen Deutschland. Einflussreich war damals ein Kongress von Schulbauarchitekten in Stuttgart, auf dem Richtlinien für den Schulhausbau verabschiedet wurden, die bahnbrechend wirkten. 18 17 Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen. Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens, Stuttgart 1959. 18 Richtlinien für den Schulhausbau, in: Zeitschrift für lebendige Erziehung 2 (1950), S. 95f. <?page no="165"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 165 Daraus einige wichtige Forderungen: 1. Die Jugend soll in Verbindung mit der Natur aufwachsen. Neue Schulen sollen daher im Grünen liegen, abseits von Verkehr und störenden Anlagen. 2. Wo immer angängig, sollte man zu Flachbauten kommen. 3. Für Kinder der Grundstufe empfiehlt sich unter allen Umständen der eingeschossige Klassenbau. Nach Möglichkeit sind Plätze für den Unterricht im Freien vorzusehen. 4. Bewegliches Gestühl sichert die Erfüllung der vielseitigen pädagogischen Aufgaben und macht die Klasse zu einem Raum, in dem sich › frohes Leben ‹ entfalten könne. 5. Bei einer Höchstzahl von 40 Kindern pro Klasse muss das Schulzimmer eine Fläche von 60 m² haben. Auch im Landkreis Ravensburg setzte sich die Pavillonbauweise durch, zahlreiche Neubauten mit Flachdächern entstanden außerhalb der Ortszentren. Ihre wichtigsten Kennzeichen sind: 1. Die Schulen verlassen die Ortszentren und siedeln sich am Ortsrand an, umgeben von Natur, von Spiel und Sportplätzen. 2. Abkehr von der Stockwerkschule, bevorzugt werden Flachdachbauten mit höchstens zwei Stockwerken. 3. Die Schulen enthalten Turn- und Schwimmhallen, Fachräume, gestaltete Schulhöfe und Schulgärten. Insgesamt präsentierte sich in den 1960er Jahren die Schullandschaft im ländlichen Raum sehr vielfältig. In manchen Dörfern standen noch die Schulhäuser aus dem 19. Jahrhundert, in anderen Orten gesellte sich zum Altbau ein moderner Neubau mit Flachdach. Es sind sogar Schulgemeinden anzutreffen mit drei Schulgebäuden aus drei verschiedenen Epochen. Sie demonstrieren die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Sie spiegeln in ihrer Verschiedenheit auf sehr konkrete Weise die Transformationsprozesse im Schulhausbau im Zeitraum von rund 170 Jahren. Sie zeigen aber auch Kontinuitäten, z. B. dass sich das Lernen in annähernd gleich großen, normierten Klassenräumen als Organisationsprinzip bis zur Gegenwart gehalten hat. 7. Landschulen unter Reformdruck (1965 - 1980) Vor allem die Ein- und Zweiklassenschulen gerieten in den 1960er Jahren in die Kritik, die Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit wuchsen, die Suche nach Möglichkeiten, sie zu reformieren, setzte vehement ein. Gegner solcher Bestrebungen fürchteten einen › Großangriff ‹ auf die Dorfschule und warnten vor Kasernen für Schulkinder. Doch die Einführung der Hauptschule als selbstständige Schulart verursachte <?page no="166"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 166 einen Wandel der gesamten ländlichen Schullandschaft. 19 Durch Bekanntmachung des Kultusministeriums vom 10. März 1965 wurde sie als fünfjährige weiterführende Schulart offiziell etabliert. Zum neu eingeführten Bildungsangebot zählten Englisch, ein erweitertes Programm in Deutsch und Mathematik, innere Differenzierung mit Kern- und Kursunterricht und Arbeitsgemeinschaften. Damit hatten die kleinen Landschulen keine Überlebenschance, da für die Hauptschule Jahrgangsklassen und das Fachlehrersystem unverzichtbar waren. Für die Schulorganisation entstanden daraus tiefgreifende Änderungen, denn die Schülerinnen und Schüler wanderten vom fünften Schuljahr an in Nachbarschaftsschulen ab. Eine umfassende Bildungsreform mit detaillierten Schulentwicklungsplänen kam nach 1965 richtig in Fahrt und griff tief in das historisch gewachsene ländliche Schulsystem ein. Die zentralen Schulentwicklungsplanungen erfassten 1972/ 73 auch viele dörfliche Grundschulen, die geschlossen wurden. 20 Die Kinder fuhren mit dem Bus in eine der neu gegründeten Nachbarschaftsschulen oder in eine Stadtschule. Zurück blieben leerstehende, verlassene und ausgeräumte Schulgebäude im Ortskern. Auch das Blönrieder Schulhaus erlitt dieses Schicksal. Das ansehnliche Schulgebäude stammt aus dem Jahr 1912 und beherbergte eine typische einklassige Dorfschule. 1966 musste die Gemeinde ihre Hauptschülerinnen und -schüler nach Aulendorf schicken. Die Grundschulkinder aus dem Nachbarort Münchenreute wechselten nach Blönried. Doch als die Blönrieder Eltern beschlossen, ihre Kinder ebenfalls nach Aulendorf fahren zu lassen, endete zum 1. August 1972 der Schulbetrieb in Blönried. Im ehemaligen Schulhaus erhielt der Kindergarten eine Bleibe. Nach 1972/ 73 stieg die Zahl der leerstehenden Schulhäuser rasch an. Es folgte ein weiterer Schritt im Prozess der Schulentwicklung. Nunmehr legte die Schulentwicklungsplanung fest, viele der noch in den Dörfern verbliebenen Grundschulen aufzulösen und die Schulkinder in Nachbarschaftsschulen unterzubringen. Ziel des Schulentwicklungsplans III des Kultusministeriums war der Aufbau einer leistungsfähigen Grundschule mit mindestens vier Jahrgangsklassen. Dieses Ziel erreichten jedoch viele Dorfschulen nicht, also wurden sie geschlossen. In Baden-Württemberg traf es insgesamt 856 Grundschulen. 19 Im Gesetz zur Vereinheitlichung und Ordnung des Schulwesens vom 5.5.1964 wurde die Hauptschule als neue weiterführende Schulart eingeführt. Die Bekanntmachung vom 10.3.1965 erläutert den Bildungsauftrag, der über den der bisherigen Volksschuloberstufe hinausgeht. 20 Schulentwicklungsplan Baden-Württemberg. Verwirklichung des ersten Abschnitts, hg. v. Kultusministerium Baden-Württemberg, Villingen 1968; einen Überblick zur Schulentwicklung gibt E RICH M ÜLLER -G AEBELE , Zwischen gesellschaftlichen Herausforderungen und pädagogischen Ansprüchen - 50 Jahre Schulentwicklung in Baden-Württemberg, in: S TEFA - NIE S CHNEBEL (Hg.), Schulentwicklung im Spannungsfeld von Bildungssystem und Unterricht, Hohengehren 2005, S. 17 - 35. <?page no="167"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 167 8. Abschied von der Hauptschule (1985 - 2020) Nach 1975 neigte sich die große Bildungsreform des Landes ihrem Ende zu. In zehn Jahren entstand eine stark veränderte Schullandschaft, die alle Schularten des allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulwesens einbezog. In den nachfolgenden Jahrzehnten konzentrierte sich die Bildungspolitik vorrangig auf Fragen der inneren Schulreform, wobei die Revision der Bildungspläne im Vordergrund stand. Doch mehr und mehr rückte die schwierige Lage der Hauptschulen in den Mittelpunkt der Schulpolitik. Gemessen an den Übertrittsquoten zu den weiterführenden Schularten sank ihre Attraktivität unaufhaltsam. Beispielswiese erschienen in den 1980er Jahren immer häufiger Artikel in der Tagespresse mit Überschriften wie der folgenden in der Stuttgarter Zeitung vom 14. Mai 1984: »Die Hauptschule reicht vielen Eltern nicht aus«. 21 Immerhin wechselten im Schuljahr 1984/ 85 noch 40 Prozent der Viertklässler an eine Hauptschule. Doch die Quote sank von Jahr zu Jahr. Besuchten im Schuljahr 2010/ 11 noch 24 Prozent eine Werkreal-Hauptschule, so sank die Quote im Schuljahr 2013/ 14 auf 12 Prozent. Da auch die Schülerzahlen insgesamt abnahmen, gerieten die Werkreal-Hauptschulen in Existenznöte. Schließungen ließen sich nicht mehr vermeiden. Von den 66 Hauptschulen im Schulamtsbezirk Ravensburg im Jahr 2000 mussten 21 bis 2010/ 11 schließen. Bei den betroffenen Schulgemeinden war die Enttäuschung groß. Es grenzt an Tragik, denn sie hatten viel in ihre Schulgebäude investiert, um die Zukunft ihrer Schule zu sichern. Überall standen modernisierte oder gar neue Schulgebäude, bestens ausgestattet mit Fachräumen und qualifiziertem Lehrpersonal. Beispielsweise fiel es der Gemeinde Wolfegg sehr schwer, auf ihre Sekundarstufe zu verzichten. Im Herbst 1909 hatte man ein neues Schulgebäude im Ortszentrum einweihen können. Vier große Schulsäle fanden darin Platz und wurden mit neuestem Schulmobiliar ausgestattet. Das Schulgebäude zeichnete sich durch eine repräsentative Architektur aus und zählte damals zu den bemerkenswertesten Schulhäusern im ländlichen Raum Oberschwabens. Doch nach einigen Jahrzehnten reichte das einst großzügig geplante Schulhaus nicht mehr aus. Die Zahl der Schüler und Schülerinnen wuchs kontinuierlich, und seit 1965 benötigte die neu geschaffene Hauptschule mehr Platz. Für sie ließ die Gemeinde ein Hauptschulgebäude erstellen, das 1978 bezogen wurde. Die Grundschule blieb im ›Altbau‹ bis zum Schuljahr 2012/ 13. Nach 2010 geriet die Haupt schule jedoch in Schwierigkeiten, da die Zahl der Anmeldungen nicht mehr ausreichte, um den Schulbetrieb fortzusetzen. Daher beschloss der Wolfegger Gemeinderat am 21 Weitere Zeitungsartikel: Schwäbische Zeitung vom 3.4.2012: Keiner will mehr auf die Hauptschule; Stuttgarter Zeitung vom 16.4.2013: Hunderte Hauptschulen geraten unter Druck; Schwäbische Zeitung vom 24.6.2016: 150 Schulen im Land müssen schließen. <?page no="168"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 168 1. Februar 2012 das Ende der Hauptschule. Zum Schuljahresbeginn 2012/ 13 zogen nun die Grundschülerinnen und Grundschüler ins Hauptschulgebäude ein. Die Landesregierung gab sich große Mühe, die Attraktivität der Hauptschule zu stärken. So begann im Schuljahr 2010/ 11 eine neue Ära, da sie nun auch einen Realschulabschluss anbieten konnte. Doch schon davor hatte der enorme Rückgang der Schülerschaft die Existenz einer Reihe von Hauptschulen gefährdet. Der Schließungsprozess setzte sich fort und beschleunigte sich, als ab 2012 die verbindliche Grundschulempfehlung beim Übergang in weiterführende Schulen entfiel. Die Eltern konnten somit frei entscheiden, wohin sie ihre Kinder schicken wollten. Abb. 6: Eines der eindrucksvollsten Volksschulgebäude im ländlichen Raum steht seit 1909 in Wolfegg (Aufnahme 2014). Außerdem begann zum Schuljahr 2012/ 13 die Zukunft der Gemeinschaftsschule an zunächst 42 Standorten in Baden-Württemberg. Danach erhöhte sich ihre Zahl von Jahr zu Jahr bis auf gegenwärtig 333. Geplant waren rund 500 Gemeinschaftsschulen. 22 Die Werkreal-Hauptschulen gerieten dadurch noch stärker in Bedrängnis. In 22 Zur Einführung der Gemeinschaftsschule vgl. T HORSTEN B OHL / A LBRECHT W ACKER (Hg.), Die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung (WissGem), Münster-New York 2016. A LBRECHT W ACKER , 10 Jahre Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg - Rückblick. Standortbestimmung und Ausblick zum Geburtstag, in: Bildung und Wissenschaft 9 (2022), S. 15 - 20. <?page no="169"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 169 der Region Bodensee-Oberschwaben entschieden sich im Schuljahr 2014/ 15 nur noch 11,3 Prozent für eine Werkreal-Hauptschule, jedoch bereits 10,3 Prozent für eine Gemeinschaftsschule. Die Gemeinden, die gehofft hatten, ihre Sekundarstufe zu retten, traf der Verlust hart, nachdem sie sich politisch und finanziell für ihre weiterführende Schulart engagiert hatten. Doch die stark sinkenden Schulbesuchszahlen ließen sich nicht kompensieren. Etliche Schulgemeinden gaben jedoch nicht auf und entwickelten ihre Werkreal-Hauptschule zur Gemeinschaftsschule weiter. Am Beispiel der Gemeinschaftsschule Horgenzell lässt sich rekonstruieren, wie sich eine kleine Dorfschule in ein ländliches Schulzentrum verwandelt hat. 23 Die Gemeinde Horgenzell mit rund 5.700 Einwohnern liegt etwa zehn Kilometer von Ravensburg entfernt. Bis 1973 spielte sich das gesamte Schulleben in einem 1935 erbauten, kasernenähnlichen Schulhausbau ab. Von nun an entwickelte sich in Horgenzell ein Schulzentrum, infolgedessen die umliegenden Dörfer ihre Schulen schließen mussten. Vier Schulorte - Hasenweiler, Ringgenweiler, Wilhelmskirch und Zogenweiler - hatten sich damit abzufinden, dass ihre Schulhäuser leer standen. In Horgenzell jedoch füllte sich die Schule, die 1969 lediglich 82 Schüler und Schülerinnen besuchten. 1975 hingegen trafen sich bereits 515 Kinder und Jugendliche im Horgenzeller Schulzentrum mit Grund- und Hauptschule. Nun konnte sich ein vielseitiges Schulleben mit Ganztagesbetrieb entfalten. Dies war auch notwendig, denn zum Schuljahresbeginn 2013/ 14 entschied sich die Horgenzeller Bildungseinrichtung für die Umwandlung zur Gemeinschaftsschule. Mit dem Aufbau von Gemeinschaftsschulen reagierte die Landesregierung auf die Tatsache, dass das Interesse an der Werkreal-Hauptschule unaufhaltsam gesunken ist. Die Gemeinschaftsschule als Alternative bietet ein Lehr-/ Lernkonzept an, das die individuelle Förderung in den Mittelpunkt rückt und damit die Chance erhöhen möchte, erfolgreich einen qualifizierten Schulabschluss zu erreichen. Kinder und Jugendliche lernen nicht getrennt nach Schulart, sondern gemeinsam auf der Basis eines Bildungsplans für die Sekundarstufe I. In den Unterrichtsfächern können die Lernenden unterschiedliche Niveaustufen wählen, womit ein individuell zusammengestelltes Lernprogramm entsteht. Lehrer und Lehrerinnen - so die Intention - achten auf das Lerngeschehen, begleiten und beraten die Lernenden individuell. Das besondere pädagogische Verständnis der Gemeinschaftsschule, die als verpflichtende Ganztagesschule konzipiert ist, spiegelt sich vor allem auch in der Raumgestaltung. Das Klassenzimmer herkömmlicher Art bildet nicht mehr das Zentrum des Unterrichtsgeschehens. Es wird vor allem für die sogenannten Inputphasen (Informationen, Unterrichtsgespräche, Diskussionen, Fragerunden) genutzt. Lerninseln auf den Fluren nehmen Lernende auf, die in Kleingruppen arbeiten. Das Zentrum der Selbstlernprozesse bilden die Lernateliers, die räumlich abgetrennt mit 23 Schulverband Horgenzell (Hg.), Schule Horgenzell - gemeinsam unterwegs, o. O., o. J. <?page no="170"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 170 Einzelarbeitsplätzen versehen sind. Sie sind für mehrere Klassen eingerichtet und weisen ungefähr 50 Arbeitsplätze für zwei Klassen auf. 9. Resümee a) Schulhausgeschichte - eine bedeutsame Dimension der Bildungsgeschichte Schulhausgeschichte erschließt die materiale Seite der Schulentwicklung und eröffnet neue Sichtweisen, sie stellt damit eine bedeutende Dimension der Bildungsgeschichte dar. Raumtheoretisch zeigt sich, wie stark die Raumverhältnisse das Unterrichtsgeschehen und das Schulleben insgesamt beeinflussen. Erkennbar wird, wie stark das Klassenraumprinzip, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzte, Pädagogik und Didaktik des Schulunterrichts bestimmte. Der Unterrichtsraum, in seiner Größe und Ausstattung amtlich festgelegt, ist als Ordnungssystem organisiert, das Regeln, Normen und Rituale enthält. Aus Ordnungen resultieren Anordnungen. 24 Der Klassenraum als Sitzanstalt mit Bänken unterschiedlicher Bauart diente dazu, die Unterrichtszeit bewegungsarm zu verbringen, oft spiegelte die Sitzordnung die leistungsbezogene Rangordnung der Lerngruppen wider. Kam dann noch die Raumenge hinzu, die keine Distanz mehr zuließ, dann ist es verständlich, dass in der literarischen Schulkritik immer wieder der Käfigcharakter eines Schulzimmers angeprangert wurde. Dort, wo nahezu bewegungsloses Ausharren auf engstem Raum vorherrschte und geduldiges Warten auf Beteiligungsmöglichkeiten üblich war, stellte sich unweigerlich Langeweile ein. Wer sich langweilt, wird zeitempfindlich und sehnt das Ende des Unterrichts herbei. Der Raum spielt dabei eine bedeutende Rolle. Die zu kleinen Räume lassen das Gefühl des Eingesperrtseins entstehen, es gibt kein Entrinnen, die zu schlechte Raumluft erschwert das Atmen. Der Bericht einer ärztlichen Kommission über die Schulverhältnisse in Deuchelried bei Wangen aus dem Jahr 1886 schildert eindrucksvoll die gesundheitsgefährdende Raumsituation in der Volksschule: Das Schulhaus befindet sich in einem sehr schlechten Zustand. Das Schulzimmer ist für die Anzahl von 95 Kindern viel zu klein, auf 1 Kind kommen 2 cbm Luftraum, die Bänke sind überfüllt, teilweise müssen die Kleinen stehen, wenn die Großen schreiben. 25 24 A RMIN N ASSEHI , Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2021, S. 36. Die Notwendigkeit, Verhaltensmöglichkeiten zu begrenzen, bezeichnet Nassehi als ein › soziologisches Grundgesetz ‹ . 25 J OSEF T HIERER , Chronik der Volksschule Deuchelried, Deuchelried 1982 (Privatdruck), S. 97f. <?page no="171"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 171 b) Schulbau, eine Herausforderung für ländliche Schulgemeinden Die raumbezogene historische Schulforschung zeigt, wie schwierig es in ländlichen Regionen war, Schulhäuser zu bauen, die den pädagogischen Anforderungen und den amtlichen Bauvorschriften entsprachen. Über viele Jahrzehnte hinweg wurde geklagt, wie vernachlässigt, sanierungsbedürftig, ja baufällig die Schulhäuser samt Dienstwohnungen der Lehrer oft waren. Dazu einige beispielhafte Notizen über den Zustand von Schulbauten im Jahr 1861 in der Region: Eggenried: Schulhaus ist unbewohnbar, dem Einsturz nahe; Eberhardzell: Ein altes Bauernhaus; Hasenweiler: So schlecht, dass es im Winter unbewohnbar war. 26 Die Beispiele machen darauf aufmerksam, dass Schulgemeinden - manchmal waren es kleine Dörfer mit nur wenigen Einwohnern und einem großen Einzugsgebiet - mit dem Bau und Unterhalt ihrer Schulgebäude finanziell oft überfordert waren. Die Staatszuschüsse hielten sich in engen Grenzen, infolgedessen notwendige Reparaturen oder Erweiterungen immer wieder hinausgeschoben wurden. Verwunderlich ist es also nicht, wenn die Klagen über zu kleine, zu dunkle und zu feuchte Unterrichtsräume kein Ende nahmen. c) Wohnen im Schulhaus, ein Beitrag zur Berufsgeschichte Es ist verständlich, dass die Misere des Schulhausbaus auch die Lehrer traf, die oft vergeblich als Bittsteller auftreten mussten. Der baulich schlechte Zustand des Schulhauses erstreckte sich auch auf die Dienstwohnung, durch die deren herausgehobene Stellung im Dorf zur Geltung kommen sollte. Um Verbesserungen zu erreichen, mussten sie oft zäh verhandeln. Beim Bau der Schulhäuser spielte die Nähe zur Kirche eine wichtige Rolle, denn die Lehrer waren im 19. Jahrhundert noch nicht unabhängig von der Kirche. Die räumliche Nähe zur Kirche war unverzichtbar, damit die Lehrer in der Lage waren, ihre vielfältigen Verpflichtungen im Dienst der Kirche wahrnehmen zu können. d) Lehrerinnen, nicht immer willkommen Die Sozialgeschichte des Lehrerinnenberufs ist mit der Schulhausgeschichte eng verknüpft. Seit 1858 durften in Württemberg Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen unterrichten, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. Die Leitung einer Dorfschule kam für sie nicht in Frage, da sie keine Dauerstellen erhielten und nicht in höheren Schulklassen unterrichten durften. Nicht in jeder Schulgemeinde waren sie willkommen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts öffneten sich die Schultüren der 26 Über den baulichen Zustand von Schulhäusern. in: Schulnachrichten Nr. 49 vom 2.12.1861, S. 315 - 320. <?page no="172"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 172 Dorfschulen auch für weibliches Lehrpersonal, das in der Regel Unterklassen übernahmen; Dienstwohnungen standen ihm nicht zu. 27 e) Schulhausgeschichte - Schulkindheit Schulhausgeschichte ist Kindheitsgeschichte, denn es ist realitätsnah darstellbar, was es bedeutet, Schulkind auf dem Land zu sein. Die Schulräume genügten oft nicht den amtlich vorgesehenen Mindestanforderungen der Schulhygiene. Vor allem waren die Unterrichtsräume oft zu niedrig, die für die großen Klassen notwendigen Luftmengen fehlten, der Luftaustausch gelang nicht. Die Gesundheitspflege zu kontrollieren gehörte zu den Dienstaufgaben der Amtsärzte, die nicht immer verhindern konnten, dass die Raumverhältnisse gesundheitliche Schäden verursachten. Am 24. Januar 1923 schrieb die Schule in Unterankenreute an das Bezirksschulamt: Die Schülerzahl beträgt 83 Kinder. Im Raum können nur 15 Bänke mit 60 Sitzplätzen untergebracht werden. 28 f) Schulgebäude - wertvolle historische Baudenkmale? Dorfschulhäuser zeichnen sich nur selten durch eine imponierende Architektur aus. Aber auch dieser Tatbestand hat Aussagekraft, denn Schulgebäude, oft noch aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammend, fügten sich unauffällig in das Ortsbild ein. Erst später, um 1900, legten die Schulgemeinden größeren Wert auf repräsentative Gebäude, angenähert an den damals aktuellen zeitgenössischen Jugendstil. Aber auch die eher einfach gehaltenen Schulhäuser sind als Kulturdenkmale zu würdigen. Gerade in ihrer Schlichtheit bleiben sie aussagekräftige materielle Zeugnisse der historischen Schulentwicklung. g) Fortschritt hat seinen Preis: Schulentwicklung - Schulabwicklung Schulhausgeschichte ist immer auch mit Verlusterfahrungen, mit Abschiednehmen und Trauer verbunden. Bis in die Gegenwart hinein mussten viele Schulgemeinden um ihre Schule kämpfen, nicht immer erfolgreich. Aktuell sind vor allem kleine Grundschulen, Werkreal-Hauptschulen, sogar Gemeinschaftsschulen gefährdet. Im Schulentwicklungsprozess spielen Mindestgrößen eine große Rolle, etwa wenn die Umwandlung in eine Ganztagesschule ansteht. Schulentwicklung ist ein dynamisches Geschehen und korrespondiert stets mit Schulabwicklung. Dieser Prozess ist bisher in der Schulgeschichtsforschung wenig zur Sprache gekommen. Das Schicksal der kleinen Landschule macht bewusst: Schulen sind nicht nur Lernanstalten, 27 Ausführliche Darstellungen der Diskussionen zur Lehrerinnenfrage in den beiden Kammern des württembergischen Landtags, in: Die Volksschule 59 (1899), S. 852 - 872. 28 Archiv der Grundschule Unterankenreute, Protokoll des Ortsschulrats Unterankenreute 1921 - 1951: Schreiben des Bezirksschulamts vom 24.1.1923. <?page no="173"?> D A S S CHULHA US AL S G EGEN S TA ND BILDUNG S HIS T ORIS CH ER F OR S CH UNG 173 sondern auch Erlebnis-, Erfahrungs- und Sozialräume. So ist es verständlich, dass eine Schulschließung als schwerwiegender Verlust an Lebensqualität erfahren wird. Viele Dörfer erlebten nicht nur die Abwicklung ihrer Schule, sie mussten sich zudem damit abfinden, dass Pfarrhäuser verwaisten, Gasthäuser und Dorfläden aufgaben und Bankfilialen schlossen, die kommunale Selbstverwaltung am Ort endete. Einrichtungen, die das Dorfleben einst prägten, fehlen nun. h) Kommt eine neue Schließungswelle? Das aktuelle Beispiel der Ravensburger Ortschaft Taldorf zeigt, dass in den nächsten Jahren wieder mit Schulschließungen zu rechnen ist. Es wird vor allem kleinere Grundschulen mit weniger als 100 Schülerinnen und Schülern treffen, da es schwierig wird, sie in Ganztagesschulen umzuwandeln, die gesetzlich vorgegeben sind. Somit ist zu befürchten, dass Schulentwicklung wieder von Schulabwicklungen begleitet wird. Die Diskussion über Schließungen ist bereits wieder im Gange, Schulgeschichte wiederholt sich. Abb. 7: In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ergänzte in Taldorf ein Pavillon mit zwei Klassenzimmern das Raumangebot. Spätestens vom Schuljahr 2023/ 24 an schließen sich die Schultüren der Taldorfer Grundschule für immer. 29 Damit endet eine rund 200-jährige Schultradition. Zurück 29 Im Dezember 2021 fiel die Entscheidung im Ravensburger Gemeinderat: Der Grundschulstandort Taldorf wird aufgelöst. <?page no="174"?> E RICH M ÜL LER -G AE B EL E 174 bleiben drei Schulgebäude, das älteste stammt aus dem Jahr 1820, ein zweites kam um 1900 dazu, später ergänzt durch einen Pavillon mit zwei Klassenräumen. Der Blick in die Schulhausgeschichte des ländlichen Raumes macht deutlich, wie unterschiedlich das historische Geschehen einzuschätzen ist. Auf der einen Seite ist erkennbar, wie viel die Schulgemeinden in ihre Schulgebäude investierten, welche Anstrengungen sie unternahmen, um mitzuhalten, wenn der Druck zu modernisieren zum Handeln zwang. Andererseits ist es geradezu bedrückend wahrzunehmen, dass es in vielen Gemeinden nicht gelang, die räumlichen Schulverhältnisse wirksam zu verbessern. Nicht immer ließen sich die lokalen Gremien davon überzeugen, dass es sich lohnt, für eine Schule zu sorgen, in der sich Lernende und Lehrende wohlfühlen und Lernen Freude macht. Die amtlichen Vorgaben zum Schulbau, zur Raumausstattung und zur Gesundheitspflege konnten allzu oft nicht umgesetzt werden. Eine Wirklichkeitsanalyse kann daher erhellen, unter welch schwierigen Bedingungen Schulbildung auf dem Land oft erworben werden musste. Mit Blick auf die gegenwärtige Schullandschaft Baden-Württembergs mit rund 7.500 Schulgebäuden und 4.200 allgemeinbildenden Schulen ist zu folgern, dass die Raumdimension besondere Beobachtung verdient. Die Schulhausgeschichte dokumentiert eindrucksvoll, dass sich Versäumnisse im Schulhausbau außerordentlich fortschrittshemmend auswirken. Die staatliche Förderbank ›Kreditanstalt für Wie deraufbau‹ hat ermittelt, dass an deutschen Schulen ein riesiger Investitionsbedarf besteht. Bundesweit hätten allein 2021 45,6 Milliarden Euro für Schulgebäude ausgegeben werden müssen. 30 Doch vielen Kommunen reichen die Investitionsmittel nicht aus, notwendige Investitionen unterbleiben oder werden reduziert. Der Blick in die Schulhausgeschichte bestätigt, dass für viele Gemeinden Bau und Unterhalt der Schulgebäude finanziell eine kaum tragbare Last darstellen. Gegenwärtig steht das Schulsystem vor Herausforderungen, die nur zu bewältigen sind, wenn die Raumgestaltung weiterentwickelt wird, wie dies etwa in Gemeinschaftsschulen geschieht. Schulen erfahren zur Zeit einen dynamischen Prozess in Richtung Digitalisierung der Lernprozesse, Forcierung des Ganztagesbetriebs, Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts, Ausbau inklusiver Lerngruppen. An Bedeutung gewonnen hat in Zeiten der Corona-Pandemie die Schule als Ort der Persönlichkeitsentwicklung, der Begegnung junger Menschen mit ganz unterschiedlichen biografischen Erfahrungen. Ob sie sich in ihrer Schule wohlfühlen, hängt nicht zuletzt von der Raumgestaltung ab, an der auch die Schüler und Schülerinnen beteiligt sein sollten. 30 Stuttgarter Zeitung vom 15.9.2022: Milliardenlücken bei Schulsanierungen. <?page no="175"?> 175 G ERHARD H ETZER Mundart und Hochsprache in Volksschulen des 19. Jahrhunderts. Spannungsbögen und Ausgleichsversuche Wenn man in Bayern den Begriff der › Mundart ‹ mit der Zeitangabe › 19. Jahrhundert ‹ zusammenbringt, dann führt ein direkter Weg zu Johann Andreas Schmeller, dem polyglotten Sprachforscher und Bearbeiter des Bayerischen Wörterbuches. Er hatte für die Beziehung der Mundarten zur Schriftsprache einen bilderkräftigen Vergleich gefunden, nämlich den der reiche[n] Erzgrube neben einem Vorrathe schon gewonnenen und gereinigten Metalles, wie der noch ungelichtete Theil eines tausendjährigen Waldes neben einer Parthie desselben, die zum Nutzgehölz durchforstet, zum Lusthain geregelt ist. 1 Schmeller (1785 - 1852) hatte Bezüge zur Erziehungswissenschaft seiner Zeit, und zwar schon in jungen Jahren. Als Verfasser einer noch nicht veröffentlichten pädagogischen Schrift sprach er 1804 bei dem berühmten Johann Heinrich Pestalozzi im Kanton Bern vor. Dieser hatte kurz zuvor sein › Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter, ihre Kinder bemerken und reden zu lehren ‹ veröffentlicht. Pestalozzi wusste mit Schmeller freilich nicht viel anzufangen. Bei einem anschließenden Aufenthalt in Spanien, auch als Lehrender an einer Unterrichtsanstalt, die der Pestalozzischen Reformpädagogik verpflichtet war, erfuhr Schmeller vom Projekt des Luzerner Pfarrers Franz Joseph Stalder zum Aufbau eines schweizerischen Wörterbuches. 2 1816 erschien in Berlin der › Versuch einer Sprachbildungs-Lehre für Deutsche ‹ des Schulrates Georg Wilhelm Bartoldy (1765 - 1815), Direktor am Stettiner Pädagogischen Seminar. Die Publikation war aus dem Nachlass des Autors erarbeitet worden und umfasste mit einer Abhandlung zur Silbenbildung eigentlich nur den ersten 1 J OH [ ANN ] A NDREAS S CHMELLER , Die Mundarten Bayerns, grammatisch dargestellt, […], München 1821, S. VIII. Zu Schmeller gibt es eine Fülle von Literatur, die in den letzten Jahrzehnten weiteren Zuwachs erhielt. Einen gewissen Überblick gewährt der Beitrag von A NTHONY R OWLEY in: NDB 23, Berlin 2007, S. 126 - 128. Tagebücher und Briefwechsel Schmellers sind ediert. Von der Ausgabe von 1872/ 77 des Bayerischen Wörterbuches gibt es inzwischen einen siebten Nachdruck. 2 H UBERT P ÖPPEL , Johann Andreas Schmeller: ein bayerischer Sprachwissenschaftler in Spanien (https: / / www.uni-r.de/ assets/ sprache-literatur-kultur/ romanistik/ spanienzentrum / Schmeller_Spanien.pdf). <?page no="176"?> G ERHA RD H ET ZER 176 von drei geplanten Hauptteilen. 3 Entstanden war der › Versuch ‹ mit dem Unterricht an zwei Schulen in Stettin, die für Kinder mit Schulgelderlass gedacht waren. Bartoldy war bereits während einer früheren Lehrtätigkeit an einem Berliner Gymnasium als Mitherausgeber eines monatlichen philosophisch-philanthropischen › Journals für Gemeingeist ‹ (ab Juli 1792) sowie als Übersetzer hervorgetreten. Er hatte die Übertragung des Textes der französischen Konstitutionsurkunden mit Betrachtungen über Staatszwecke und Menschenrechte verbunden und bei der Übersetzung von Francis Bacons › Novum Organon ‹ mit Salomon Maimon zusammengearbeitet. Auch mit Friedrich Schleiermacher pflog er Gedankenaustausch. Bei seiner › Sprachbildungs-Lehre ‹ hatte Bartoldy berücksichtigen wollen, dass in jeder deutschen Landschaft wenigstens unter den niedern Ständen neben der Schriftsprache Mundart geredet werde: Es wird jetzt fast allgemein anerkannt, daß auch diese sogenannten niedern Mundarten […] einer besondern Aufmerksamkeit werth sind und keinesweges, wenigstens nicht gewaltsam, verdrängt zu werden verdienen. So wie uns jede Individualität der Einzelnen heilig seyn soll, so auch diese Individualität der verschiedenen Volksstämme des gemeinsamen deutschen Vaterlandes, die sich am reinsten in der Mundart, welche sie reden, ausspricht. 4 Daraus ergab sich, dass Bartoldy größere Kapitel mit einer Gegenüberstellung von Hochdeutsch und der ihm vertrauten landschaftlichen Mundart abschloss, nämlich des pommerschen Dialekts. Er wollte so den für einen Erwerb von Sprache wichtigen Sprachvergleich schaffen und dies als Beispiel für andere Mundartgebiete wirken lassen. Bartoldys Arbeit erschien zu einer Zeit, in der wichtige Schritte bei Forschungen zur deutschen Sprache in deren geschichtlicher Entwicklung getan wurden. Die ersten Bände der Märchen- und Sagensammlungen der Gebrüder Grimm lagen vor, und Jacob Grimm war an einer Arbeit zur deutschen Grammatik in deren historischem Zusammenhang. Hier hatte er auf die Bildungssprache einzugehen, in der sich Literaten und Publizisten des 17. und 18. Jahrhunderts ausgedrückt hatten, aber auch auf deren landschaftliche Vorgänger und zeitlich parallellaufende Varianten. Gottfried Wilhelm Leibniz hatte in seinen um 1700 entstandenen, 1717 erstmals im Druck erschienenen › Unvorgreifflichen Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache ‹ neben Wörterbüchern der Haupt-Sprache und der Fachbegriffe auch die lexikalische Erfassung für alte und Land-Worte vorgeschlagen. Diese Gedanken brauchten allerdings Zeit, um sich durchzusetzen, da Frühaufklärung und Rationalismus eher die sprachlichen Normierungsprozesse begünstigten. Erst deren Gegenströmungen, die von den Werken Rousseaus beflügelt wurden, 3 Ausführliche Besprechung in den Ergänzungsblättern Nr. 25 vom März 1818 zur Allgemeinen Literatur-Zeitung, Halle (Saale). 4 Vorrede von Friedrich Heinrich Gotthilf Graßmann als Herausgeber zu G EORG W ILHELM B ARTOLDY , Versuch einer Sprachbildungs-Lehre für Deutsche. Erster Theil. Sylbenbildung oder Anleitung für Mütter und Kinderlehrer zum ersten Unterricht im Sprechen, im Lesen und im richtigen Gebrauch der Sprachzeichen, […], Berlin 1816, S. XI. <?page no="177"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 177 schufen mehr Bereitschaft, sich mit den Ausdrucksmitteln früherer Zeiten und von gesellschaftlich tiefer Gestellten auseinanderzusetzen. Der Autor des Artikels zur Teutsche[n] Sprache im berühmten Zedlerschen Universallexikon konnte zu den Dialecten nur wenig mehr beitragen, als schon rund hundert Jahre früher der Philologe, vor allem aber politische und konfessionelle Propagandist Scioppius (= Caspar Schoppe, 1576 - 1649) verlautbart hatte. 5 Um die gleiche Zeit - 1743 - erschien ein frühes landschaftliches Wörterbuch, das der Hamburger Mundart gewidmet war. In den folgenden Jahrzehnten gab es immer mehr › Idiotika ‹ , vor allem im niederdeutschen Sprachgebiet, aber auch im Schwäbischen. Der württembergische Pfarrer Friedrich Karl Fulda (1724 - 1788) veröffentlichte 1774 den › Grundriß ‹ eines württembergischen Wörterbuches, 1788 dann den › Versuch einer allgemeinen teutschen Idiotikensammlung ‹ . Als Sprachforscher war Fulda gleichzeitig um weitere gemeinsame Richtlinien für den hochdeutschen Sprachgebrauch bemüht. 6 1. Lehrplan und Lehrmittel im Königreich Bayern Der Lehrplan für die bayerischen Volksschulen vom Mai 1811, der sich vor allem mit dem Namen des Zentralschulrates und protestantischen Theologen Friedrich Immanuel Niethammer (1766 - 1848) verbindet, enthielt zwar Erläuterungen zum Lehrbereich Sprache, aber keine direkte Aussage, welche Sprache gelehrt werden solle. Dass es die hochdeutsche Sprache nach deren Ausprägung sein sollte, die sie seit dem 16. Jahrhundert erhalten hatte, war für die Bearbeiter offenbar selbstverständlich und daher nicht weiter zu thematisieren. In den Besondere[n] Vorschriften und Unterrichts-Vortheile[n] wurde festgestellt: So gesprächig die Kinder unter sich sind, so gehört doch eine ganz eigene Behandlungsweise dazu, um sie in der Schule zu rechter Zeit und richtig sprechen zu machen. Und die Lehrordnung hielt für den Leseunterricht in der zweiten Unterrichtsperiode fest, dass der Lehrer […] in diesen Uebungen ganz besonders auch auf die Richtigkeit der Aussprache und auf die Gewöhnung […] an deutliches Sprechen zu sehen habe. Späterhin muß auch schon auf Richtigkeit des Ausdruckes im Lesen gedrungen werden. 7 5 J OHANN H EINRICH Z EDLER (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. […], Bd. 43, Halle -Leipzig 1745, Sp. 143 - 169, hier 164f. Das Bayerische galt danach als eine[r] von den rauhesten und gröbsten teutschen Dialecten (Sp. 165). 6 M ARTIN B LÜMCKE , Johann Christoph von Schmid, in: H ERMANN B AUSINGER (Hg.), Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. Helmut Dölker zum 60. Geburtstag (Volksleben 5), Tübingen 1964, S. 11 - 33, hier 23 - 28. 7 Der Lehrplan mit der Instruktion der Lehrer und Lehrerinnen abgedruckt bei G[ EORG ] D ÖLLINGER , Fortgesetzte Sammlung der im Gebiet der inneren Staats-Verwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen, Bd. 9, München 1838, S. 1344 - 1397, Zitate 1369, 1376. <?page no="178"?> G ERHA RD H ET ZER 178 Der Lehrplan von 1811 war in den folgenden Jahrzehnten einer Reihe von Ergänzungen und Veränderungen unterworfen. In größeren bayerischen Städten wurden in Regie der Magistrate als Schulbehörden eigene Lehrpläne aufgestellt. 1862 begann in Schritten eine über 60 Jahre währende Phase der regionalen Lehrplangestaltung in Bayern, indem bei jeder Kreisregierung ein für die Volksschulen des jeweiligen Kreises (= Regierungsbezirks) geltender Lehrplan ausgearbeitet, in Kraft gesetzt und gegebenenfalls angepasst wurde. Ein Vorgänger des Niethammerschen Planes war bereits 1804 entstanden und 1806 komplett veröffentlicht worden. Er war das Ergebnis einer Kommissionsarbeit, an der im kurfürstlichen General-Schuldirektorium wesentlich Joseph Wismayr mitgearbeitet hatte, der zeitlich parallel auch einen Studienplan für Gymnasien und Lyzeen entwickelt hatte. 8 Wismayr (1767 - 1858), ein der Aufklärung zugetaner Kleriker, war Präfekt am Erziehungsinstitut Rupertinum in Salzburg gewesen und 1803 vom Grafen Montgelas nach München berufen worden. Als Schulrat übernahm er dann eine entsprechende Funktion im 1806 errichteten Ministerial-Departement des Innern. Ab 1811 war er in der dortigen Kirchen-Sektion tätig. Der Lehrplan von 1804 hatte unter seinen Hauptgruppen und den stufenweisen Unterrichtsgegenständen für die drei Klassen unter dem Bereich Sprache die Lernfelder Sprechen, Lesen, Schreiben, Sprachlehre und zusätzlich Rechtschreiben festgelegt. Beim Sprechen in der Ersten Klasse war unter anderem vermerkt: 1. Vor- und Nachsprechen einzelner Wörter und kleiner Redesätze. 2. Berichtigung der Aussprache, der Sprach- Töne und der Sprach-Laute […] , 9 eine Aufgabe des Lehrers, die bei steigenden Anforderungen auch in den folgenden Klassen wiederkehrte. Der Wismayrsche Lehrplan wurde seitens der Neuhumanisten als zu pragmatisch und zu weit entfernt von klassischen Bildungsidealen kritisiert, einer oberflächlichen Philanthropie verpflichtet und die Bildungsgänge vermengend. Etwas von der Distanz Wismayrs zum neuhumanistischen Gedankengut wird bereits in dessen › Grundsätzen der deutschen Sprache ‹ , erstmals erschienen 1796 in Salzburg, deutlich. Dort hatte er gefordert, dass der Deutsche [ … ] vor allen anderen Sprachen deutsch lernen solle. Und er hatte dieses Eintreten für den Primat der Muttersprache vor anderen lebenden und eben auch todten Sprachen mit dem Hinweis begleitet, dass es 8 Zur Entstehungsgeschichte der Lehrpläne von 1804 und 1811 ausführlich G[ EORG ] B ÖGL , Der Wandel der Volksbildungsidee in den Volksschullehrplänen Bayerns. Von der Braun’ schen Reform bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe der Berufswissenschaftlichen Hauptstelle des Bayerischen Lehrer-Vereins 1), München 1929, S. 22 - 154; zum gleichen Thema (S. 33 - 153) und im zeitlichen Anschluss: M ICHAEL S UCHAN , Die Entwicklung der Volksschuloberstufe in Bayern vom Braunschen Lehrplan bis zur Lexschen Lehrordnung, Diss. Regensburg 1972. 9 Lehrplan für die königl[ichen] Elementarschulen in Städten sowohl als auf dem Lande samt Instruktion, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1806, Sp. 9 - 16, 19 - 24, 25 - 32, 33 - 40, 41f., Zitat Sp.13. <?page no="179"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 179 traurig sei, daß diese Behauptung noch jetzt einer Schutzwehr von Beweisen und Gründen bedürfe. In einer anschließenden sprachgeschichtlichen Ausführung sah auch Wismayr das Hochdeutsche als Komposition der Mundarten der oberdeutschen und niederdeutschen Sprachgebiete - hier den Feststellungen von Friedrich Karl Fulda und dessen Göttinger Preisschrift von 1771 folgend. Allerdings wünschte sich Wismayr, dass der Reichtum der oberdeutschen Sprache an feinen Wendungen und mildernden Schattirungen der Begriffe, für den er Beispiele anführte, erhalten bleibe und nicht durch Purismen verloren gehe. 10 Seine › Grundsätze ‹ wurden zum Gebrauch an bayerischen Schulen übernommen und erlebten bis 1824 unter sich ändernden Titeln neun Auflagen. Joseph Wismayrs pädagogische Schriften, darunter seine › Kleine deutsche Sprachlehre zum Gebrauche in Schulen ‹ , erschienen im staatlich privilegierten zentralen Schulbücherverlag, der sich aus der Auflösungsmasse des Jesuitenordens ableitete. Die im Verzeichnis des Zentralschulbuchverlages aufgeführten Lesebücher und Buchgeschenke für die Schulpreise ließen sich nur allmählich durchsetzen, trotz der Verweise auf Vorschriften und auf den Lehrplan. 11 Die Bemühungen um eine Vereinheitlichung der in den bayerischen Volksschulen verwendeten Lehrbücher zogen sich dann durch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Oktober 1834 wurde auf königliches Signat hin eine vierköpfige Kommission zur Einführung gleichförmiger Schulbücher eingesetzt, allerdings weiterhin mit schleppendem Erfolg. 12 Hierbei spielten die Beschaffungskosten eine Rolle, ein hinhaltender Widerstand der privaten Buchhändler, aber auch regionale Präferenzen oder Traditionen aus vorbayerischer Zeit. So war das seit 1790 in etlichen Auflagen erschienene › Allgemeine Lesebuch für den Bürger und Landmann zum Gebrauch in Stadt- und Land-Schulen ‹ des Erlanger Theologie-Professors und Superintendenten Georg Friedrich Seiler (1733 - 1807) noch in den 1820er Jahren in vielen Schulen in Gebrauch, und zwar in Gebieten des ehemaligen Fürstentums Ansbach-Bayreuth oder an den protestantischen Schulen in der Stadt Augsburg. 13 Die Bewertung der Mundarten als Sprachvarianten mit eigener Kraft und eigenem Recht hatte noch keinen Weg in die vorgeschriebenen und verwendeten Lehrmittel gefunden. In den 1840er Jahren hielt ein bayerischer › Leitfaden zum Elementar- 10 J OSEPH W ISMAYR , Grundsätze der deutschen Sprache. Zum Gebrauche bey dem Schulsowohl als Selbstunterrichte, Erster Theil: Sprechlehre, Salzburg 1796, S. 3 - 5, 14f. 11 Einschlägige Weisungen in G[ EORG ] D ÖLLINGER , Repertorium der Staats-Verwaltung, Bd. IV: Unterricht und Bildung, München 1814, S. 112f.; D ERS ., Sammlung (Anm. 7), S. 1410 - 1414. In den Lehrplänen von 1804 und 1811 war die für den Sprachunterricht empfohlene Literatur aufgelistet. 12 BayHStA, MK 1666: Bericht des k. b. Staatsministeriums des Innern an den König vom 19.3.1843. 13 Hierzu die Feststellungen aus dem Jahre 1823 im Akt BayHStA, MK 1664. <?page no="180"?> G ERHA RD H ET ZER 180 Unterricht in der deutschen Sprachlehre für Volksschulen ‹ fest: Aus dem oberdeutschen und niederdeutschen Dialekt entstand die hochdeutsche Sprache, von den Fehlern der beiden Mundarten gereinigt. 14 Die vorzugsweise in Oberbayern verbreitete Sprachlehre des ergrauten Wasserburger Schulleiters Anton Heilingbrunner sah die Forderung, dass jeder Aufsatz sprachrichtig sein [müsse], unter anderem dadurch erfüllt, dass alle veralteten oder landschaftlichen Wörter vermieden werden. Z. B. ehender statt eher; benamsen statt benennen […]. 15 Um diese Zeit hatte bereits der größere Teil der Lehrkräfte ihre Ausbildung auf Lehrerbildungsanstalten durchlaufen. Beim ersten Leseunterricht hatte sich statt des Buchstabierens die Laut-Methode durchgesetzt. 2. Um die Mundart im Schulunterricht - die Debatte nimmt Fahrt auf Unter den pädagogischen Reformern in verschiedenen deutschen Bundesstaaten, die als Sachbuchautoren und Herausgeber von Zeitschriften aufgetreten sind und dabei für die Mundarten als Mittel des Spracherwerbs eintraten, sollen zunächst Karl Ferdinand Becker (1775 - 1849) in Offenbach, Franz Cornelius Honcamp (1805 - 1866) in Westfalen und Heinrich Burgwardt (1815 - 1889) in Schleswig-Holstein und Mecklenburg genannt werden. Der Sprachforscher und Schulgrammatiker Becker (Die Sprachlehre lehrt nicht eigentlich, wie man sprechen soll, sondern nur, wie man spricht) forderte bereits in den frühen 1830er Jahren, die Mundarten der Schüler und deren dadurch ausgedrücktes Sprachgefühl für die Hinführung zum Hochdeutschen nutzbar zu machen. Alsbald gab es ähnliche Stimmen im plattdeutschen Sprachgebiet in Schleswig-Holstein sowie im Rheinland und in Westfalen. Hier war es die Zusammenarbeit von Honcamp, der am katholischen Lehrerseminar in Büren Musik unterrichtete und zugleich Dramatiker und Verfasser eines Leitfadens für die Sprachbildung an Volksschulen war, mit dem Eupener Lehrer Theodor Hegener, aus der entsprechende Publikationen hervorgingen. 16 Der bekannte Erzieher und Sozialpolitiker Adolf Diesterweg (1790 - 1866) gab Honcamp eine publizistische Plattform, zunächst in den › Rheinischen Blättern 14 Zitiert nach der 6., neu umgearbeiteten Auflage, München 1847, S. 4. 15 A NTON H EILINGBRUNNER , Deutsche Sprachlehre nach der geistbildenden Methode. II. Abtheilung, für Schüler der III. Elementar-Klasse, 2. verb. Aufl. Regensburg-Landshut 1836, hier: Allgemeine Regeln zur Verfertigung schriftlicher Aufsätze, S. 35 - 38. 16 K ARL F ERDINAND B ECKER , Ueber die Methode des Unterrichtes in der deutschen Sprache, als Einleitung zu dem Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprachlehre, Frankfurt a. Main 1833, S. 21 - 23; T HEODOR H EGENER , Der Schreib- und Leseschüler in niederdeutschen Volksschulen, 2 Teile; Ueber den Unterricht in der Schriftsprache[ … ], beide in Arnsberg 1843 erschienen. <?page no="181"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 181 für Erziehung und Unterricht ‹ in Essen, dann im › Jahrbuch für Lehrer- und Schulfreunde ‹ in Berlin. Wie Diesterweg wurden Honcamp und Hegener im Zuge der politischen Restauration 1850/ 51 aus dem Schuldienst entlassen, als Verfasser eines Beitrages gegen den Ultramontanismus und die geistliche Schulaufsicht der eine, als revolutionärer Vereinsgründer und Redakteur in Eupen der andere. Diesterweg war ein Vermittler der Pestalozzischen Ideen mit breiter Wirkkraft. Der Lesebuchautor Heinrich Burgwardt, Lehrer in Altona, dann langjähriger Rektor der Bürger- und Volksschulen in Wismar, hatte Pestalozzi zum 20. Todesjahr ein Gedenkbuch gewidmet. Seine › Fibel für die niederdeutsche Jugend ‹ von 1855 lebte von den sprachlichen Spannungen in der Schulpraxis der norddeutschen Bundesstaaten, vom Auseinanderklaffen zwischen der bodenständigen Sprache der Schüler und einer Hochsprache, die einer allgemeinen Menschenbildung verpflichtet und daher rein kosmopolitischer Natur sei. Sein Eintreten dafür, die Volkssprache zur Grundlage für den Unterricht im Hochdeutschen zu machen und dabei die plattdeutsche Rechtschreibung einzusetzen, führte zu entsprechenden Reaktionen. Dies veranlasste Burgwardt zwei Jahre später zu einer kritischen Zusammenfassung der Positionen des üblichen Sprachunterrichts, denen die Morgenstimmen eines sachgerechten Spracherwerbs auf de[m] von der Natur gebotenen Weg gegenübergestellt wurden. Den Begriff Muttersprache nahm er für die von Millionen gesprochene, ererbte und weitergegebene niederdeutsche Sprache in Anspruch. Das in den Schulen bisher gelehrte Hochdeutsch sei dies aber nicht. 17 Burgwardt vertrat eine Art von sprachlichem Naturalismus, und er legte dar, dass sein Modell direkt im Schulalltag anwendbar und bereits erprobt sei, im Gegensatz zu anderen, vor und zeitlich parallel zu ihm geäußerten Entwürfen eines mundartbasierten Unterrichts. In der Zwischenzeit erschienen auch in Süddeutschland Gedichte und Theaterstücke in Mundart immer häufiger in Verlagsanzeigen und auf Programmzetteln. 1848 war Karl Simrocks › Kinderbuch ‹ mit hunderten von Kurztexten in einer Vielzahl verbreiteter deutscher Mundarten erstmals in Frankfurt am Main aufgelegt worden. Seit 1854 gab es die Zeitschrift › Die deutschen Mundarten ‹ , die mit › Dichtung, Forschung und Kritik ‹ Philologie und Literatur zusammenbringen wollte, erst als Monatsschrift, dann vierteljährlich, redigiert von Georg Karl Frommann (1814 - 1887), Archivar und Bibliothekar am Germanischen Museum in Nürnberg. Im September 1862 fand dann im Augsburger Rathaus die 21. deutsche Philologen-Versammlung statt. Bei den Vortragsthemen dominierte noch die antike Sprachenwelt. Als Begleitbroschüre und als Gruß an die angereisten Germanisten hatte allerdings der junge Sprachforscher und Volkskundler Anton Birlinger (1834 - 1891) eine 17 Morgenstimmen eines naturgemäßen und volksthümlichen Sprach- und Schulunterrichts in niederdeutschen Volksschulen, Leipzig 1857, Zitate IV, 100f. <?page no="182"?> G ERHA RD H ET ZER 182 Abhandlung über die Augsburger Mundart vorgelegt, die auf sein zwei Jahre später erschienenes Schwäbisch-Augsburgisches Wörterbuch hinführte. 18 Material für ein schwäbisches Wörterbuch hatte sich bereits im Nachlass von Ludwig Aurbacher (1784 - 1847) gefunden, der als Schriftsteller vor allem mit seinem 1827 erstmals erschienenen › Volksbüchlein ‹ und den darin enthaltenen › Abenteuern der sieben Schwaben ‹ bekannt geworden ist. Aurbacher, der aus Türkheim stammte, war Lehrer für Rhetorik und Poetik am königlichen Kadettenkorps in München, mit Schmeller wie mit Joseph Görres bekannt und der Verfasser einer Reihe von pädagogischen Schriften. In einer kurzen und kompakten Abhandlung aus dem Jahre 1838 wandte er sich gegen die Verächtlichmachung der Mundart im Schulunterricht. Der Lehrer habe vielmehr auf das Sprechen seiner Schüler einzugehen: Er lasse die Mundart in ihrem ererbten Rechte und Ansehen und benütze sie zum An- und Fortbau der hochdeutschen Sprache selbst. 19 Das Hochdeutsche sei die Norm, die es zu erreichen gelte. Darüber solle das Hausdeutsch nicht vergessen werden. Beides jeweils zu vergleichen sei ein Weg, den Sprachsinn zu bilden und über die Anregung, nach dem Warum zu fragen, zur eigenen Fortbildung und zur Mündigkeit hinzuleiten. Die Argumente für die weiteren Diskussionen waren also geliefert. Eine Zündung für deren Fortgang gab dann die 7. Allgemeine deutsche Lehrerversammlung in Hamburg vom Mai 1855. Sie hatte den Unterricht in der Muttersprache auf der Tagesordnung und wurde von rund 300 Teilnehmern, überwiegend aus norddeutschen Bundesstaaten samt den Hansestädten und Holstein, aber auch aus Thüringen besucht. Die braunschweigische Regierung hatte die Abhaltung der Versammlung untersagt, daher war man in den Logensaal am Valentinskamp in Hamburg ausgewichen. Etliche Teilnehmer ließen sich nicht registrieren, da das Königreich Preußen eine Teilnahme blockiert hatte. Tatsächlich stammte dieses Forum aus den Jahren 1848/ 49, und es waren vor allem Volksschullehrer und deren örtliche Vereine, die in den Nachwehen der › Bewegungsjahre ‹ trotz behördlicher Behinderungen die Verbindung aufrechterhalten hatten. Zu einer gesamtdeutschen Veranstaltung sollte die Versammlung erst ab 1867 werden. 18 Zu dieser Veröffentlichung Birlingers die zeitnahen Besprechungen in der Augsburger Postzeitung Nr. 230 vom 27.9.1862 und im Morgenblatt zur Bayerischen Zeitung Nr. 296 vom 11.11.1862. Über die Kritik am Wörterbuch selbst R UDOLF S CHENDA , Anton Birlinger, in: H. B AUSINGER , Volkskunde (Anm. 6), S. 138 - 158, hier 144f. 19 L UDWIG A URBACHER , Pädagogische Phantasien. Blätter für Erziehung und Unterricht zunächst in Volksschulen, München 1838, hier XII. Kapitel: Ueber den Dialekt, dessen Bedeutung und Benützung in Volksschulen, S. 136 - 143, Zitate 139f., 143. <?page no="183"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 183 Der Antrag eines Lehrers aus dem damals noch zur Krone Dänemark gehörigen Altona enthielt den Kernsatz: Der Dialekt der Schüler ist bei dem vorbereitenden Sprachunterrichte zu berücksichtigen. Er wurde mit 68 Gegenstimmen angenommen. 20 Diese Formulierung war bereits das Ergebnis eines Kompromisses. Burgwardt kritisierte die Behandlung der Frage als matt und farblos. 21 Es gab auch hier Beiträge mit Forderungen, auf die Mundart nicht nur Rücksicht zu nehmen, sondern sie förmlich dem Sprachunterricht zugrunde zu legen. Dazu brauche es besondere Lesebücher und besondere Sprachübungen. Der Unterricht werde damit volksthümlich und nachhaltiger. 22 Die Gegner hingegen sahen die Einheit der Bildungssprache, wie sie sich seit Luther entwickelt habe, gefährdet und eine Beliebigkeit einziehen, die den Zusammenhalt der Kulturnation auffasere. Um den Rang der Schriftsprache, der › Bücher- ‹ und › Verkehrs-Sprache ‹ , zu wahren, habe daher gerade der Lehrer voranzugehen. Daneben wurden organisatorische Bedenken vorgebracht - zu viel Aufwand bei zu wenig Zeit, eine Zeit, die vom vorgeschriebenen Lehrplan neben der Vielzahl der äußeren Probleme ohnehin aufgezehrt werde. Mit seiner landschaftlichen Herkunft müsse der Lehrer dann selbst im Sprechen seiner Schüler zu Hause sein, und dies bei der Vielfalt der Mundarten unter Umständen bis in einzelne Orte hinein. Das sei ebenso unmöglich wie eine flächendeckende Entwicklung von Lehrmitteln in Mundart. Auch bayerischen Lehrern war der öffentliche Besuch dieser Versammlung praktisch unmöglich. Im September 1849 hatte im Nürnberger Katharinensaal die zweite Zusammenkunft des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins stattgefunden. Im Juni 1850 war der Nürnberger Zentrallehrerverein unter der Anschuldigung aufgelöst worden, Zwecke zu verfolgen, die nach dem in Bayern seit kurzem geltenden Versammlungs- und Vereinsgesetz nicht statthaft seien, vor allem, was Beziehungen zu anderen Vereinen mit ähnlicher Zielsetzung betreffe. Das bayerische Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten hatte die Kreisregierungen 1854 angewiesen, darüber zu wachen, ob Lehrer wegen der Versammlung dem Unterricht fernblieben oder, falls ein förmliches Gesuch um Teilnahme gestellt werde, die Erlaubnis zu verweigern. Dies sollte auch für künftige Versammlungen gelten. Damit wurde auf die Praxis zu Zeiten des Innenministers Karl von Abel 20 Der Versammlungsbericht mit den entsprechenden Diskussionsbeiträgen in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung Nr. 32 vom 11.8.1855. 21 H. B URGWARDT , Morgenstimmen (Anm. 17), S. 198. 22 C[ HRISTIAN ] N OSTIZ , Ueber Berücksichtigung der Mundart beim Unterrichte in der Muttersprache; D ERS ., Berücksichtigung der Mundart beim Sprachunterrichte, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung Nr. 42 vom 20.10.1855 und Nr. 27 vom 5.7.1856. Der Autor war Lehrer in Würgendorf im Siegerland (preuß. Provinz Westfalen) und trat später als Verfasser von Rechenfibeln und mit der Zusammenstellung von Liederbüchern hervor. Gegenrede hierzu von G. P F . aus M., Die Berücksichtigung der Mundart im Sprachunterrichte, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung Nr. 9 vom 1.3.1856. <?page no="184"?> G ERHA RD H ET ZER 184 zurückgegriffen, der bereits 1846 den Besuch einer Versammlung von Lehrern an deutschen und Realschulen in Mainz aus dem linksrheinischen Bayern vereiteln wollte, ohne ein offenes Verbot auszusprechen. Jetzt führte der Kultusminister gegen einen Versammlungsbesuch aus Bayern nicht direkt politische Gründe an, sondern berufsständische Bedenken. 23 Es gab in Bayern aber korrespondierende Teilnehmer an den Vereinsdebatten. Hier ist vor allem Adolf Gutbier (1800 - 1875) zu nennen, in München Leiter einer privaten Handels- und Realschule mit Unterricht in den wichtigsten lebenden Sprachen. Die Schule erfreute sich seit ihren Anfängen 1847 guten Zuspruches. Seit 1853 bot Gutbier auch Ausbildungsgänge für Mädchen an. Er war ein erfahrener Schulmann und über Stationen als Leiter einer privaten Bürgerschule in Dresden und an schweizerischen Kantonsschulen nach Bayern gelangt. 24 Gutbier verfasste Lehrbücher, war aber auch bildungspolitisch aktiv und hatte Ende 1848 eine Schrift über die Erneuerung des öffentlichen Schulwesens in Bayern einschließlich der Schulaufsicht und des Lehrstoffes vorgelegt. In den 1860er Jahren verfolgte er Pläne zum Aufbau einer höheren Bürgerschule mit Schwerpunkten bei den Realien und den Wirtschaftsfächern sowie einer höheren Töchterschule. Dies ließ sich freilich nur in Ansätzen und zeitweise verwirklichen, zumal die Konkurrenz städtischer und privater Bildungseinrichtungen in München stärker wurde. 1868/ 69 bot er auch Kurse für Anwärterinnen für den Lehrberuf und für Kindergärtnerinnen an. Er war ein Verfechter des Fröbelschen Kindergartenprogramms und nahm in der Debatte um die Schulreformen des Kabinetts Hohenlohe- Schillingsfürst mit dem Entwurf eines Gesetzes über das Volksschulwesen Stellung. 25 In der Folge sah er sich Angriffen in der Presse ausgesetzt, da im Vorfeld der beiden Landtagswahlen von 1869 zwischen der Fortschrittspartei und den bayerischen Patrioten auch über die Schulpolitik erbittert gestritten wurde. Gutbiers Eintreten für die Mundart ergab sich aus Überlegungen, den gesammten Sprachunterricht […] in einen organischen Zusammenhang zu bringen, der schul- und sprachübergreifend wirken sollte. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen ist hier sein Lehrbuch der deutschen Sprache zu erwähnen, gedacht für den Unterricht an Volks- 23 Eine Beteiligung sei unerwünscht, nachdem diese Versammlungen sich mit der wissenschaftlichen Aufgabe [ … ] wenig oder nicht beschäftigen und die sociale Stellung [ … ] in einer Weise zum Gegenstande ihrer Berathungen machen, welche nur Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage erregt, ohne Mittel zur Abhilfe bezeichnen zu können; BayHStA, MInn 46082: K. b. Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten an k. b. Staatsministerium des Innern vom 23.2.1854. 24 Sein Lebenslauf bei: S ENTA B RAUN , Adolph Gutbier (1800 - 1875). Ein Sprachwissenschaftler im Handelsschulwesen, in: K LAUS F RIEDRICH P OTT (Hg.), Berufsbiographien von Handelsschullehrern des 19. Jahrhunderts oder Bausteine einer überfälligen Geschichte der kaufmännischen Vollzeitschulen des 19. Jahrhunderts, Detmold 2015, S. 73 - 92. 25 Gutbiers bildungspolitische Schriften: Andeutungen über die Schulreform in Baiern, München 1849, 71 S.; Die Reform der Volksschulen und der Entwurf eines Gesetzes über das Volksschulwesen im Königreich Bayern, München 1868, 47 S. <?page no="185"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 185 wie an weiterführenden Schulen. Es bereitete auf den Fremdsprachenunterricht vor und enthielt daneben Beispieltexte in ober-, mittel- und niederdeutschen Mundarten. Gutbier berief sich dabei auf eine erfolgreiche Anwendung dieser Methode in der Schweiz. 26 Wo er konzentriert über die Stellung der Mundart im Schulunterricht schrieb, da schlug er vor, mit der Mundart und mit Sprechübungen zu beginnen. Er verlangte Lesestücke in Mundart, bis hin zum Lesebuch. Den Übergang zum Hochdeutschen sah er erst mit Beginn des Schreibunterrichts. In diesem Prozess sollte ein Gefühl für die Unterschiede und für den Erwerb verschiedenerlei Sprachen entstehen, eben auch für nicht-deutsche. Dann könne die Mundart allmählich zurücktreten. 27 Über die Fach- und die Tagespresse war Gutbier ein Vermittler der Burgwardtschen Gedanken in Bayern, trotz einiger inhaltlicher Differenzen. Er gehörte zu den ersten Beiträgern für Frommanns › Deutsche Mundarten ‹ und trat zusammen mit dem altgedienten Nürnberger Schulmann Johann Konrad Grißhammer einem Beiträger in der › Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung ‹ entgegen, der 1853 Amtspersonen, Predigern und allen Gebildeten geraten hatte, beim Umgang mit Landleuten sprachlich korrigierend zu wirken, da so die plattdeutsche Sprache ausgerottet werden könne, ein bedeutendes Hinderniß in der Volksbildung. 28 Der › Bayerische Schulfreund ‹ , ein in München erscheinendes Wochenblatt für das Volksschulwesen, zugleich Organ der bayerischen Lehrer-Pensionsvereine, brachte im September 1861 als eine von zwölf Einsendungen für eine Preisbewerbung die Bemerkungen über die Zulassung oder Entfernung des Dialektes innerhalb der Schule. 29 Als Motto hatte der ungenannte Verfasser vorangestellt: Rede, wie dir der Schnabel gewachsen ist. Unter hundert abgegebenen Stimmen erhielt dieser Vorschlag, eine Brücke zwischen Schriftsprache und Mundart zu schlagen und Lehrmittel auch mit Texten im jeweiligen landschaftlichen Idiom zu schaffen, nur zwei Stimmen - der erfolgreichste Beitrag hingegen 26 und damit als Preisgeschenk zwei Goldkronen-Stücke. Dennoch lag das Thema auch in Bayern auf dem Tisch und wurde von einigen jüngeren Lehrern aufgegriffen - etwa von Josef Heigenmoser (1845 - 1921). Dieser war als Gehilfe an verschiedenen Volksschulen in Oberbayern tätig gewesen, bevor er 1869 als Hilfslehrer an die Präparandenschule in Rosenheim kam. Seit April 1872 26 Deutsches Sprachbuch als Grundlage des vergleichenden Sprach-Unterrichtes, enthaltend Lesestücke in hochdeutscher Sprache und in den deutschen Mundarten, nebst zahlreichen Uebungsaufgaben und einem Sprachkärtchen, Augsburg 1853, S. VIII. 27 Ich lese selbst mit meinen Oberbayern niederdeutsche Stücke, um sie [ … ] auf den englischen Sprachunterricht vorzubereiten [ … ], in: Der mundartliche Sprachunterricht in der Volksschule, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung Nr. 23 vom 7.6.1856; siehe auch Gutbiers Beitrag: Ideen über die Vergleichung der Mundart mit der Schriftsprache in der Volksschule, in: Die deutschen Mundarten. Monatsschrift für Dichtung, Forschung und Kritik, Heft 1, 1854, S. 24 - 33, hier 27, 30. 28 Zitiert bei H. B URGWARDT , Morgenstimmen (Anm. 17), S. 241 - 244. 29 Bayerischer Schulfreund Nr. 39 vom 25.9.1861. <?page no="186"?> G ERHA RD H ET ZER 186 unterrichtete er Geschichte und dann auch die deutsche Sprache am neu eröffneten Kreislehrerinnen-Seminar in München, der ersten weltlichen Bildungseinrichtung dieser Art in Bayern. Im Februar 1893 wurde er schließlich deren Leiter. In der oberbayerischen Schulverwaltung machte er ebenfalls seinen Weg: von der Prüfungskommission für die Lehramtsanwärter bis zum Mitglied des Kreisscholarchats. Dem Bayerischen Lehrerverein gehörte er bereits seit den 1860er Jahren an. Er blieb in der Verbandspolitik ebenso aktiv wie im Volksbildungsverein und ähnelte hier etlichen Vorkämpfern der Mundart, innerhalb wie außerhalb des deutschen Sprachraumes. Heigenmoser gilt als Urheber der Süddeutschen Lehrerbücherei, die bis in die 1970er Jahre als eigene Einrichtung des Lehrerverbandes in München betrieben wurde. Er verfasste Lehrbücher, einen Überblick zur Geschichte der Pädagogik mit Bezügen zur bayerischen Schulgeschichte sowie Beiträge über einzelne Pädagogen, wobei er jeweils den Einflüssen der Pestalozzischen Pädagogik nachging. 1871 veröffentlichte er in der › Bayerischen Lehrer-Zeitung ‹ als Leitartikel einen Aufsatz unter dem Titel Welche Hindernisse stellt der in Oberbayern herrschende Dialekt der Volksbildung im Allgemeinen und dem deutschen Sprachunterricht im Besonderen entgegen? Wie muß der Volksschullehrer denselben begegnen? Heigenmoser hatte seinem Text ein Zitat aus dem zweiten Band von Goethes › Dichtung und Wahrheit ‹ vorangestellt, nach dem der Dialekt das Element sei, in welchem die Seele ihren Athem schöpfe. Auch sein Fazit war, dass die Mundart nicht als Feind der schulischen Sprachbildung anzusehen sei, sondern von Nutzen sein könne, gerade im Rahmen anfänglicher Redeübungen. Sie sei ein Mittel der Hinführung zur Büchersprache. Freilich sei sie kein höheres Ziel, da ihr als Ausdruck des eingeschränkten Gesichtskreises des Landlebens ein entwickelter und verfeinerter Wortvorrat fehle. Da der Verfasser bei seiner Erläuterung der mundartlichen Einflüsse auf Rechtschreibung und Grammatik weiterhin mit Begriffen wie falsch oder unrichtig operierte, wurde er übrigens seitens der Redaktion über eine die Mundart stützende Anmerkung sanft korrigiert. Diese bilde eben Wörter und Sätze auf originale Weise und trenne nach den ihr inwohnenden Gesetzen. 30 3. Mundart und Schulunterricht - Spurensuche in der Praxis Es ist davon auszugehen, dass die Schlussfolgerungen Josef Heigenmosers aus der Begegnung mit der Mundart seiner Schüler der Auffassung einer Mehrheit der Lehr- 30 Bayerische Lehrer-Zeitung Nr. 48 vom 1.12.1871. Eine ähnliche Reaktion auf den Beitrag › Der deutsche Sprach-Unterricht in der Volksschule ‹ eines oberfränkischen Lehrers in der Bayerischen Lehrer-Zeitung Nr. 2 vom 13.1.1871. Die Redaktion setzte sich zu dieser Zeit aus drei Volksschullehrern aus Schwaben zusammen. Verantwortlicher Schriftleiter war ein Lehrer an der Knabenschule der Dompfarrei in Augsburg. <?page no="187"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 187 kräfte entsprachen, die sich zu didaktischen Fragen Gedanken machten. Dies bedeutete aber auch, dass die Verfechter einer selbständigen, nicht nur instrumentellen Stellung der Mundart im praktischen Sprachunterricht wenig zum Zuge kamen, wenn man von der Pflege von Volksliedern und einigen Gedichten absieht. Der Alltag war seitens der Schüler von der Gegenwart einer Sprache begleitet, die im Unterricht in der Regel hintangehalten, im günstigen Falle immerhin geduldet wurde. Wir werfen jetzt einige Schlaglichter in diesen Schulalltag selbst, wie sie sich aus Akten der staatlichen Schulaufsichtsbehörden ergeben können. Dies ist nur eine Vermessung in bestimmten Blickwinkeln. Aber die Unterlagen zeichnen den Rahmen dessen, was sich in den Schulzimmern abspielte. Es wurden einige Beispiele aus dem westlichen Bayerisch-Schwaben ausgewählt, da hier eine vergleichsweise dichte und auch archivisch nach Behördenprovenienz gut erschlossene Überlieferung vorliegt. In den Akten der Distriktschulinspektionen und Lokalschulinspektionen ging es um das Lehrpersonal, die Beschaffenheit der Schulgebäude, den Schulfond zur Bestreitung des finanziellen Aufwandes, die Regelmäßigkeit des Schulbesuches, schließlich um die Erkenntnisse der Inspektoren zum Ablauf des Unterrichts und zu dessen Methode oder zur Schuldisziplin. Grundlage der bis 1918 bestehenden geistlichen Schulaufsicht war die Zuständigkeit des Ortsgeistlichen sowie eines katholischen oder protestantischen Geistlichen als dessen Vorgesetzten in dem entsprechenden Distrikt. Der Distrikt seinerseits erhielt mit der gesetzlichen Neuregelung von 1852 den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts auf der zweiten kommunalen Ebene, er war somit ein Vorläufer des heutigen Landkreises. Visitationen waren laut der Instruktion für die Distriktschulinspektoren von 1808 mindestens einmal jährlich durchzuführen. 31 Die Distriktschulinspektoren und die Inspektoren der Schulen in den kreisunmittelbaren Städten, also in Schwaben etwa in Augsburg, Kempten, Memmingen, Kaufbeuren oder Lindau, hatten daneben einen zusammenfassenden Jahresbericht an die nächsthöhere Verwaltungsebene zu erstatten, für den es ein 1818 festgelegtes Schema gab. 32 Der für Schulen zuständige Referent bei der Kammer des Innern der Kreisregierung in Augsburg nahm dann zum Bericht des Distriktschulinspektors Stellung und reagierte mit Weisungen. Dieser Referent war ein juristisch gebildeter Verwaltungsmann, der auch andere Aufgaben hatte. Seit 1832 gab es allerdings auf der Ebene der bayerischen Kreisregierungen die Kreisscholarchate, Fachgremien vor allem mit beratenden Aufgaben, besetzt mit erfahrenen Gymnasialleitern und Distriktschulinspektoren. Die Kreisscholarchen, vier an der Zahl, waren ihrerseits in Visitationen eingebunden, die pro 31 Amts-Instruction für die Distrikts-Schul-Inspektoren vom 15.9.1808. Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1808, Sp. 2477 - 2481. 32 Die Vorlage für den Jahresbericht gemäß einer Entschließung der Kammer des Innern der Kreisregierung an die Distrikts- und Lokalschulinspektionen vom 26.6.1818, in: Intelligenzblatt für den Oberdonaukreis 1818, Sp. 515 - 522. <?page no="188"?> G ERHA RD H ET ZER 188 Jahr zumindest in zwei Schuldistrikten erfolgen sollten. 33 Die Reform der Schulbehörden auf Regierungsebene unter stärkerer Berücksichtigung der Lehrer in den › Realien ‹ und überhaupt der weltlichen Schulmänner, zumal aus den Volksschulen, erfolgte nach einigen Anläufen dann 1873 unter Staatsminister Johann von Lutz. Seitdem amtierten weltliche Kreisschulinspektoren. Der Landrat von Schwaben und Neuburg [Vorläufer des Bezirkstages] hatte bereits im Dezember 1872 die Aufstellung und Besoldung eines zusätzlichen fachmännisch gebildeten Kreisscholarchen beschlossen, dem für seine Inspektionen eigene Reisemittel zugewiesen waren. 34 Für die Schülerleistungen gab es einen Bewertungsbogen, der 1881 beträchtlich ausdifferenziert und um das Fach Sprechen erweitert wurde. Dahinter standen Bemühungen, den Bildungsstand der Entlass-Schüler allgemein zu erhöhen und den Zeitbedürfnissen anzupassen. Die Leseleistungen waren natürlich schon zuvor überprüft worden. Sehr häufig waren negative Bemerkungen über zu leises, zu schnelles oder mit unrichtigen Betonungen versehenes Lesen, manchmal auch über einen Vortrag in gestelztem oder singendem Tonfall. Es ist zu vermuten, dass sich hier neben der Nervosität der Prüfungssituation eben auch die Unsicherheit der Mundartsprecher offenbarte. Nur gelegentlich wurde der Dialekt direkt angesprochen, und wenn, dann als ein Mangel, den es auszugleichen gelte. Sprach ein Lehrer vor der Klasse Mundart, dann wurde er zurechtgewiesen, wie etwa in Osterberg im Bezirksamt Illertissen nach der Schulprüfung für 1873/ 74: Der Lehrer habe sich beim Unterricht […] der hochdeutschen Sprache zu bedienen und darauf zu dringen, daß die Schulkinder correkt in ganzen Sätzen laut und vernehmlich zu sprechen sich angewöhnen. 35 Im gleichen Jahr wurde für die Volksschule in Heimertingen, damals ebenfalls im Bereich des Bezirksamtes Illertissen, festgestellt: Die Gedächtnisübungen sind laut und vernehmlich vorzutragen. Ueberhaupt ist in dieser Schule strenger auf eine dem Hochdeutschen mehr sich nähernde Aussprache sowie darauf zu sehen, daß die Kinder in vollständigen Sätzen sprechen lernen. 36 33 Die entsprechende kgl. Verordnung vom 1.4.1832 sowie das Muster für die Feststellungen der Schulbesuche bei G. D ÖLLINGER , Sammlung (wie Anm. 7), S. 1055f., 1128 - 1134. 34 Zu Formation und Aufgaben der Kreisschulbehörden in dem einschlägigen Zeitraum E DUARD S TINGL , Dr. Joh[ann] Anton E nglmann’s Handbuch des Bayerischen Volks schulrechtes, 4. verb. u. verm. Aufl. München 1897, S. 106 - 113. Die Vorgänge zur Bestellung der Kreisscholarchen bzw. Kreisschulinspektoren bei der Regierung in Augsburg in: StA Augsburg, Regierung von Schwaben und Neuburg, Präsidium 1760. 35 StA Augsburg, Lokalschulinspektion Osterberg 3: Distriktschulinspektion Illertissen an Lokalschulinspektion Osterberg vom 14.9.1874, entsprechend dem Bescheid der Regierung von Schwaben und Neuburg, Kammer des Innern, zu den Prüfungsergebnissen. 36 StA Augsburg, Distriktschulinspektion Babenhausen 19: Regierung von Schwaben und Neuburg, Kammer des Innern, an die Distriktschulinspektion Babenhausen in Kirchhaslach vom 31.7.1874. <?page no="189"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 189 In Jedesheim kritisierten die Visitatoren, die ab 1878 in Vertretung eines nachsichtig gesonnenen Illertisser Distriktschulinspektors kamen, die Leistungen im Lesen, Rechtschreiben, bei den Gedächtnisübungen oder eben bei den Antworten der Schüler: Der Lehrer solle namentlich den häufigen durch den Dialekt herbeigeführten Fehlern entgegentreten. - Es fehle an klarer Aussprache, und häufig würden weiche statt der scharfen Laute verwendet ( › d ‹ statt › t ‹ , › b ‹ statt › p ‹ ). - Die Kinder lesen zu hastig, so daß es den Eindruck des Eingelernten macht. Beim Besuch von 1880, bei der auch die erste in Jedesheim eingesetzte Schulgehilfin geprüft wurde, hielt der Inspektor fest: Ausdrücke wie Die Horn von der Kuh sollten nicht hingenommen werden, und abschließend: In der Sprachlehre war das Lehrziel nicht erreicht. Der Visitator der Jahre 1888 und 1889 mahnte beharrlich, dass die Kinder strenger dazu anzuhalten seien, sprachlich richtige Antworten zu geben. 37 Zur Israelitischen Volksschule Altenstadt bemerkte der Distriktschulinspektor, hier der katholische Pfarrer von Kirchhaslach, bei seinen Besuchen in den Jahren 1881 und 1882: In Aufsatzarbeiten wurden, dem jüdischen Dialekt entsprechend, mehrfach falsche Casus beim Hauptwort angewendet. - Die Schüler gebrauchen das Geschlechtswort bei ihren schriftlichen Arbeiten oft unruhig u[nd] setzen vielfach das Hauptwort in falschen Endungen. Diesen aus dem israel[itischen] Dialekt stammenden Fehlern hat der Lehrer seine volle Aufmerksamkeit zu zuwenden. - Die Aufsatzarbeit der Mittelklasse ist fast gut, die der Oberklasse nur mittelmäßig; es ist darauf zu sehen, daß die Kinder dialektfreie Sätze u[nd] Redewendungen gebrauchen. Dieser Inspektor wusste nicht nur zu kritisieren. Bei einer Schulprüfung von 1874 war er in Altenstadt recht angetan gewesen, vom Lesen bei den Erstklässlern wie von den Kenntnissen in Religion und Schrift, freilich alles bei hebräischen Texten. Dabei erwähnte er besonders ein gewandtes Übersetzen in der zweiten und dritten Klasse. 38 Bei Visitationen in Bellenberg, unweit der Iller und der württembergischen Grenze gelegen, finden sich zwischen 1882 und 1902 folgende Hinweise: Der Aufsatz der Oberklasse streift im Ausdruck allzusehr den Dialekt. - Ein Teil der Kinder spricht nicht › lautrein ‹ , und auch hier gab es die wiederholte Kritik, dass nicht sprachlich richtig geantwortet werde. 39 37 StA Augsburg, Distriktschulinspektion Illertissen 33: Bemerkungen des Distriktschulinspektors bzw. von dessen Vertretern bei den Visitationen vom 14.5.1879, 8.4.1880, 6.5.1881, 13.11.1888, 3.4.1889 und 10.12.1889; StA Augsburg, Lokalschulinspektion Osterberg 3: Regierung von Schwaben und Neuburg, Kammer des Innern, an Distriktschulinspektion Illertissen vom 1.9.1877 über die Erkenntnisse des Kreisschulreferenten bei dessen eigener Visitationsreise (Abdruck). 38 StA Augsburg, Distriktschulinspektion Illertissen 21: Protokolle der Visitationen bzw. der Schulprüfungen an der Israelitischen Volksschule in Altenstadt vom 29.4.1874, 5.5.1881, 13.1.1882, 1.5.1882. 39 StA Augsburg, Distriktschulinspektion Illertissen 24: Bemerkungen des Distriktschulinspektors zu den Schulprüfungen in Bellenberg am 18.4.1882, 25.4.1890, 27.2.1902. <?page no="190"?> G ERHA RD H ET ZER 190 Hier äußerte sich die große Gruppe der Bewahrer der Hochsprache, die keine so genannten Provinzialismen im regulären Unterricht der Schule dulden wollte. Die Schule habe die Aufgabe, in die Sprache des Schülers einzugreifen und dieselbe unter die anerkannten Gesetze der […] Schriftsprache zu beugen. Und die Lehrkraft solle nicht, wie es ein Lehrer aus Mittelfranken 1875 formulierte, zum Kinde hinabsteigen, sondern er soll das Kind zu sich heranführen. 40 Es kamen also unterschiedliche pädagogische Grundauffassungen zum Ausdruck, es war nicht nur eine Angelegenheit von Hochsprache und Mundart. Die Vorstellung, dass die Kinder zunächst über ihre Mundart sprachliche Geläufigkeit und inhaltliche Gedankenschärfe gewönnen, trat allerdings auf Tagungen und in der Fachpresse immer deutlicher hervor. Auch in der Germanistik gab es hierzu namhafte Befürworter. Ausgeprägt normative Ansätze stießen auf Widerspruch, der öffentlich ausgetragen wurde. 41 Daneben entspannen sich nun Auseinandersetzungen zwischen den Pragmatikern des Erwerbs standardsprachlicher Fähigkeiten, die für die Elementarschüler und deren künftiges Berufsleben genügen sollten, wobei die Mundart als anfängliches Mittel diente, und den grundsätzlichen Bewahrern und Förderern der Mundart als geschichtlichem Erbe mit eigenem Wert. Der ersten Gruppe ist der Erlanger Germanist Rudolf von Raumer (1815 - 1876) zuzurechnen, der in der erweiterten Fassung seines › Unterrichts im Deutschen ‹ von 1851 stärker auf die Gegebenheiten in den Volksschulen und auf die Ausbildung in den Lehrerseminaren eingegangen war. In der folgenden Zeit widmete er sich den Regeln einer einheitlichen Rechtschreibung. Auch beim Sprachunterricht insgesamt wollte Raumer nicht vom Begriff des Richtigen abrücken, selbst wenn dieser von den Schulmeistern alter Prägung wund geritten worden sei. Er gab Ratschläge, wie Lehrer auf möglichst einfache Weise […] zur Schriftsprache hinüberleiten und dabei dem Volke die Einfachheit und Natürlichkeit bewahren könnten, die seinem Wesen entspricht. 42 Dass dabei dem Mundartgebrauch Eintrag geschehen könne oder einige Mundarten sogar ausstürben, sei bedauerlich, aber eben nicht zu ändern. Zehn Jahre später stellte der Lehrer an der Leipziger Thomasschule Rudolf Hildebrand (1824 - 1894), als Sprachforscher Mitarbeiter am Grimmschen Wörterbuch und nachmals universitärer Literaturhistoriker, den Kernsatz auf: Das Hochdeutsch, als das Ziel des Unterrichts, sollte nicht als etwas für sich gelehrt werden, wie ein anderes 40 K. S CH ., Welchen Schwierigkeiten begegnet der Sprach-Unterricht in den Volksschulen? (Von einem oberpfälzischen Lehrer), in: Bayerische Lehrer-Zeitung Nr. 15 vom 14.4.1876; [J OHANN ] G[ EORG ] S TROBEL , Ueber den Sprachunterricht in der Volksschule, in: Bayerische Lehrer-Zeitung Nr. 42 vom 22.10.1875. Strobel war Lehrer an der protestantischen Volksschule in Vorra (Bezirksamt Hersbruck). 41 Als Beispiel der von Ein[em] Freund der Schule und ihres wahren Fortschritts verfasste Beitrag: Einige Randglossen zu dem Aufsatze: › Zur Volksschule und dem Fortbildungsunterrichte ‹ im Maihefte der Zeitschrift des landwirtschaftlichen Vereins in Bayern, in: Bayerische Lehrer-Zeitung Nr. 36/ 37 vom 5./ 12.9.1867. 42 Der Unterricht im Deutschen, 3., verm. u. verb. Aufl. Stuttgart 1857, Zitate S. 91, 113. <?page no="191"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 191 Latein, sondern im engsten Anschluß an die in der Klasse vorfindliche Volkssprache. Auch er gab Ratschläge für die pädagogische Umsetzung, aber immer im Austausch mit der von den Schülern mitgebrachten Sprache. Diese hatte einen gleichberechtigten Stand, war der Unterbau für das Hochdeutsche und bot in ihrer Verschiedenheit den prächtigste[n] Bildungsstoff. Nicht das Schreiben, sondern das Sprechenlassen und das Sprechen in seiner stimmlichen Bewegtheit zeige die Sprache als Trägerin der Seele und alle[n] Interesses. 43 Hildebrand hatte Wege skizziert, wie eine dauerhafte Verbindung zwischen Mundart und Hochsprache gelingen könne. Wiederum zehn Jahre später, 1876, warb auf einer Versammlung des Bezirkslehrervereins in Nürnberg dessen Vorsitzender um die Pädagogen als Unterstützer der Mundartforschung, so wie sie seinerzeit Adolf Diesterweg als Naturforscher für den Anschauungsunterricht hatte gewinnen wollen. Der Redner, Lehrer an einer Knabenschule in der nordöstlichen Nürnberger Vorstadt Wöhrd, ebenfalls im Volksbildungswesen aktiv und daneben Literatur- und Brauchtumsforscher, schloss mit dem Ausruf: Jeder deutsche Lehrer ein Dialektforscher! 44 4. Mundart und Sprachpolitik Im Juni 1870 fand, nun bereits zum 19. Male, die Allgemeine Deutsche Lehrerversammlung statt. Die inzwischen rund 6.000 Teilnehmer kamen in Wien im neu eröffneten Gebäude des Musikvereins am Karlsplatz zusammen. Einer der Vorträge handelte Über das Verhältnis der Mundart zum Sprachunterrichte, gehalten von Karl Julius Schröer, einem bekannten Philologen, der am nahegelegenen k. k. Polytechnischen Institut Literaturgeschichte lehrte. Aus Preßburg stammend, hatte sich Schröer (1825 - 1900) mit der Sprache der deutschen Siedlungen in Ungarn beschäftigt. Sein Wörterbuch der Mundart, die in der oberdeutschen Sprachinsel der Gottschee im Herzogtum Krain in Gebrauch war, befand sich gerade in der Drucklegung. Vor den Lehrern trat Schröer für einen anschaulichen, lebendigen Sprachunterricht ein, der nicht auf die Werkzeuge von Belohnung und Bestrafung, sondern auf die Lust der Schüler am eigenen Erkennen setze. Daher dürfe dem Kinde im Unterricht der angeborene Redemuth […] nie und nimmer […] geraubt werden, was aber durch das Verbannen der 43 H[ EINRICH ] R[ UDOLF ] H ILDEBRAND , Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von etlichem ganz Anderen, das doch damit zusammenhängt, in: Pädagogische Vorträge und Abhandlungen in zwanglosen Heften, Bd. 1, III, Leipzig 1867, S. 69 - 148, hier 73 sowie 118f., 130. 44 A[ NDREAS ] S TENGEL , Die Mundartenforschung und der Lehrer, in: Bayerische Lehrer- Zeitung Nr. 24 vom 16.6.1876. <?page no="192"?> G ERHA RD H ET ZER 192 Mundart geschehen würde. Vielmehr sollten die wichtigsten Mundarten Teil des Lehrprogramms in den Lehrerbildungsanstalten werden. Dies sei besser, als dass in der dortigen Sprachlehre laufend Analysen der Syntax betrieben würden. 45 Schröers Forschungen zur Herkunft und zur Sprache der Gottscheer hatten die Ergebnisse einer Forschungsreise zur Grundlage, eines Ausfluges, den er 1867 unternommen hatte. Hier hatte er die Bahnen der Feldforschung Johann Andreas Schmellers eingeschlagen, der 1833 und 1844 die Spuren und Restbestände der baierischen Mundart in Welschtirol und in den lessinischen Alpen nördlich von Verona und Vicenza erwandert und ein Wörterbuch aufgebaut hatte, das erst nach dem Tode des Bearbeiters erschienen war. 46 Die › Cimbern ‹ in den Sieben und in den Dreizehn Gemeinden hatten seit den 1760er Jahren vermehrt das Interesse italienischer und deutscher Sprachforscher gefunden, inzwischen gab es hierzu eine stattliche Literatur. Seit Joseph von Hormayr in seiner › Geschichte der fürstlichen Grafschaft Tirol ‹ von 1806/ 08 Sprachproben aus den › Sette Communi ‹ mit mundartlichen Begriffen des Suganer- und des Gadertales verglichen hatte, waren auch die deutschen und ladinischen Sprachinseln in den Südtiroler Grenzgebieten in das Blickfeld gerückt, die von 1806 bis 1810 zum Königreich Bayern, von 1810 bis 1814 zum napoleonischen Königreich Italien und seitdem wieder zum Kaiserreich Österreich gehört hatten. Seit 1861 gab es ein neues, unter piemontesischer Führung vereintes Königreich Italien und eine verstärkte irredentistische Bewegung, von der die Idee der staatlichen Einheit aller Italienischsprachigen aus intellektuellen Zirkeln hinaus in die Politik getragen worden war. Im Sommer 1848 hatte bereits die Frankfurter Nationalversammlung über Anträge auf Abtrennung der Kreise Trient und Rovereto vom Deutschen Bund und auf Bildung eines eigenen Welschtiroler Landtages beraten. Die Abwendung von den Bindungen, wie sie mit der Zugehörigkeit zum Alten Reich und zur Grafschaft Tirol entstanden waren, hatte sich seitdem beschleunigt. 47 In den späten 1860er Jahren waren vielerorts in Europa Auseinandersetzungen um die Sprache in Verwaltung und vor Gericht im Gange, die an den Nahtstellen und Überlappungen der Nationalitäten auch zu zähen Kämpfen um die Sprache von Kirche und Schule wurden. Aus deutscher Sicht hatte dies in den vergangenen zwanzig 45 Zitiert nach dem mehrteiligen Versammlungsbericht zweier Lehrer aus Unterfranken bzw. der Pfalz in der Bayerischen Lehrer-Zeitung, hier in der Ausgabe Nr. 32 vom 12.8.1870. 46 Johann Andreas Schmeller’s Cimbrisches Wörterbuch, das ist Deutsches Idiotikon der VII. und XIII. Comuni in den Venetianischen Alpen, im Auftrage der kais[erlichen] Akademie der Wissenschaften hg. von J OSEPH B ERGMANN , Wien 1855. 47 Hierzu T HOMAS G ÖTZ , Città, Patria, Nazione. Geschichtskultur und liberales Milieu im Trentino 1840 - 1870, in: G IUSEPPE A LBERTONI (Red.) u. a., Nationalismus und Geschichtsschreibung. Nazionalismo e storiografia (Geschichte und Region/ Storia e regione 5), Wien- Bozen 1996, S. 93 - 143, hier v. a. 99 - 115. <?page no="193"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 193 Jahren vor allem das Herzogtum Schleswig betroffen. Brennpunkte lagen inzwischen im Königreich Ungarn, von Siebenbürgen bis nach Kroatien, im österreichischen Reichsteil der Donaumonarchie in Böhmen, Kärnten und Galizien, im Westen des Zarenreiches im Baltikum und in Kongress-Polen, in Preußen in der Provinz Posen oder auch im Königreich Belgien, wo die flämische Bewegung im Aufschwung war. Es gab Maßnahmen, staatliche Territorien auch sprachlich zu vereinheitlichen und dabei ältere Bildungssprachen zu verdrängen, und es gab das Aufbegehren von Nationalitäten mit neu gefasster oder wieder entdeckter Bildungssprache gegen die Überlagerung durch offizielle Staatssprachen. Der Anpassungsdruck auf die Mundartensprecher konnte in diesen Jahrzehnten der sozialen und räumlichen Dynamik von mehreren Seiten ausgehen. Im März 1867 veröffentlichten sechs Universitäts- und Gymnasiallehrer in Innsbruck einen Aufruf zur Unterstützung der deutschen Schulen in Lusern, im Fersental, im oberen Nonsberg und an der Sprachgrenze im Etschtal, der von etlichen Tageszeitungen und Literaturblättern in Süd- und Mitteldeutschland abgedruckt wurde. Es wurde ein Schutzverein auf den Weg gebracht, der die Restbestände eines im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit weitgestreckten und zusammenhängenden Sprachgebietes sichern wollte. Seit dem Vorjahr lag dieses zum Teil auf dem Gebiet des Königreiches Italien. Beobachter vor Ort hatten solchen Bemühungen bereits ein Zu spät bescheinigt. 48 Unter den Schriftstellern und Publizisten, die diese Frage offenhielten, hatte vermutlich Ludwig Steub (1812 - 1888), Anwalt und Notar in München, mit seinen Reiseschilderungen und mit Belletristik die breiteste Wirkung. In der Beilage der in Augsburg erscheinenden › Allgemeinen Zeitung ‹ veröffentlichte er zwischen 1844 und 1869 in mehreren Folgen Eindrücke zu › Die Sprachgränzen in Tirol ‹ , › Herbsttage in Tirol ‹ , › Das Deutschthum in Wälschland ‹ oder › Ein Gang nach Luserna ‹ , um jeweils das Absterben der Mundart und das Fortschreiten der italienischen Sprache im Alltag festzustellen. Im Hochstift Trient war seit dem 16. Jahrhundert in Anbindung an Pfarreien und klösterliche Einrichtungen ein weitmaschiges Netz an Schulen für den › Grammatikunterricht ‹ oder für erste Unterweisungen in Christenlehre, Lesen, Schreiben und Rechnen entstanden. In den so genannten welschen Confinen der Grafschaft Tirol um Rovereto und im Suganertal waren die Verhältnisse nicht anders. Das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts hatte dann für Grafschaft und Hochstift die sechsjährige Schulpflicht gemäß und in Gefolge der unter Maria Theresia 1774 erlassenen Regelungen gebracht. Nach der Rückkehr dieser Territorien zu Österreich waren die Elementarschulpflicht bekräftigt und die Bemühungen um einen Ausbau in der Fläche verstärkt worden. Dies ließ sich in zahlreichen Gemeinden nur Schritt für 48 F RIEDRICH VON A TTLMAYR , Die deutschen Kolonien im Gebirge zwischen Trient, Bassano und Verona, I. Abt., in: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, 3. Folge, 12. Heft, Innsbruck 1865, S. 90 - 127, hier 126. <?page no="194"?> G ERHA RD H ET ZER 194 Schritt durchsetzen. Die Schulwege waren oft weit und beschwerlich, und offenbar gab es allgemein Widerstände, Mädchen mit Knaben in einer gemeinsamen Schule zu unterrichten. Somit waren abgelegene Höfe und Weiler und die weibliche Bevölkerung im vorgerückten Alter in den folgenden Jahrzehnten die beharrlichsten Überlieferer der lokalen Mundart. Die Regulative hatten bis zum Jahre 1848 keine Aussagen zur Unterrichtssprache getroffen. Dies gab der Haltung der Geistlichen vor Ort und in den Dekanaten einen entscheidenden Einfluss. Schulen mit deutschen Klassen oder deutscher Unterrichtssprache gab es in den 1820er Jahren offiziell außer in Trient und Rovereto nur in einigen Gemeinden des oberen Nonsberges und am Ausgang des Fleims-Tales. 49 Die Pflege der deutschen Sprache in anderen Gemeinden mit entsprechender Mundart hatte sich vorher gemäß Herkommen auf eine Mindestunterweisung durch örtliche Geistliche beschränkt, sie wurde in dem neuen, reglementierten Unterricht aufgegeben. Im Umfeld der Bildungseinrichtungen in Rovereto und Trient war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Abneigung der neulateinischen Kulturpflege gegen die deutsche Sprache immer deutlicher geworden, mit ihrer › Unbestimmtheit ‹ in der Aussage und dem oft harten und dumpfen Klang in italienischen Ohren, 50 zumal es die Sprache der mehr oder weniger präsenten österreichischen Herrschaft war. Deutsche Mundarten konnten bei Priestern und Lehrern nicht mit Duldung rechnen, die von der Mission der italienischen Sprache überzeugt waren. Bei einigen Unterweisern gab es hierfür immerhin freundliches Interesse. Die Kritik, die Ludwig Steub und mit und nach ihm etliche Autoren an einer Haltung des Zusehens und Taktierens der kaiserlichen Behörden gegenüber dem Erlöschen der deutschen Sprachgruppen übten, hatte schon in den späten 1830er Jahren eingesetzt. Warum will denn die deutsche Regierung die Zahl der treuen deutschen Bevölkerung vermindern, um zweideutige Wälsche daraus zu machen? So hatte der Rezensent einer mit Verwaltungsunterlagen belegten Landesbeschreibung für Tirol und Vorarlberg gefragt, die der Innsbrucker Gubernialsekretär Johann Jakob Staffler (1783 - 1868) vorgelegt hatte. 51 Dieser hatte ebenso wie Beda Weber (1798 - 1858), ein Marienberger Benediktiner, Gymnasialprofessor in Meran und Verfasser eines nahezu zeitgleich erschienenen Reisehandbuches, auf den Schwund der deutschen Mundart 49 E NRICO L EONARDI , La scuola elementare trentina dal concilio di Trento all’annessione alla patria (Vicende - legislazione - statistiche) (Collana di monografie della società di studi storici per la Venezia Tridentina 13), Trento 1959, S. 224 - 226. 50 So einer der Gründer der Accademia degli Agiati in Rovereto, der Schriftsteller Giuseppe Valeriano Vannetti. P ATRIZIA C ORDIN , La lingua. Un secolare plurilinguismo, in: M ARCO B ELLABARBA / G IUSEPPE O LMI (Hg.), Storia del Trentino, Bd. IV: L’età moderna, Bologna 2003, S. 596 - 617, hier 601. 51 Literaturblatt Nr. 103 vom 11.10.1839 (Beilage zum Morgenblatt für gebildete Leser, Stuttgart). Die Besprechung stammte vermutlich von Wolfgang Menzel als dem verantwortlichen Redakteur der bei Cotta verlegten Zeitung. <?page no="195"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 195 vor allem im Suganertal hingewiesen und die Ursachen bei Kirche und Schule gesehen, 52 die ohne Bindung an die deutsche Hochsprache eben italienisch geprägt seien. Für die Mundarten, denen er über Land begegnet war, hatte Staffler manches ausdrucksstarke, auch kritische Wort. Er war ein Mann der Administrative, kein Sprachforscher. Gleichwohl nahm er die Formen und Zeichen althergebrachten Sprechens wahr. Die Sprache in diesen Hochtälern habe meistens ganz eigene Wortformen und [sei] mit vielen italienischen Wörtern, besonders mit italienisch gebildeten Ausgängen, vermengt. Sie kenne nur wenige grammatische Beugungen und Steigerungen. So erscheine sie sehr roh und ungebildet, klänge dabei seltsam und beim ersten Anhören wie ein fremder Dialekt. Dazu komme, dass immer sehr laut, fast schreiend, geredet werde. Und in Lafraun (Lavarone) bei Vielgereuth (Folgaria) sei es so, dass die Bewohner stets fragweise zu reden scheinen, indem sie die letzten Sylben in steigendem Tone sprechen. Es war das Gehör für Lokalsprachen auf Inseln, die in den nächsten Jahrzehnten immer kleiner wurden. 1808, in der Zeit der bayerischen Herrschaft, gaben unter 36 Bewerbern für Seelsorge-Pfründen, die vom Fürstbischof in Trient verliehen worden waren und deren Besetzung nun dem König von Bayern zustand, neun an, neben dem Lateinischen und Italienischen auch deutsche Sprachkenntnisse zu besitzen. Davon kamen drei aus dem ohnehin deutschsprachigen Teil der Diözese um Meran und Bozen, diese bewarben sich um eine Pfarrei im Passeier-Tal. Die sechs anderen stammten alle aus offiziell italienischsprachigen Gemeinden des mittleren und unteren Nonsberges. Diese hatten aber fast durchwegs an Bildungseinrichtungen in deutschsprachiger Umgebung studiert, nämlich in Innsbruck, Brixen, Salzburg oder Graz. 53 Die Geistlichen, die um diese Zeit im Brand- und Laimtal (Vallarsa, Terragnolo) tätig waren, zeigten keine Deutschkenntnisse an, sie hatten ihre Ausbildung in Trient oder Feltre genossen. Die archivischen Belege für eine deutschsprachige Besiedlung in diesen nahe an Rovereto gelegenen Tälern reichten in das 13. Jahrhundert zurück. Im Herbst 1844 wurden Schmeller vom Pfarrer von Terragnolo einige Personen aus den Contrade des Laimtales vorgestellt, die noch deutsch sprachen. An diesem Geistlichen hatte es offenbar nicht gelegen, wohl aber an dessen Vorgängern, von denen einer um 1800 die deutsche Christenlehre eingestellt hatte, während ein anderer in den 1820er Jahren selbst mit Verweigerung der Absolution gedroht haben soll, falls 52 J OHANN J AKOB S TAFFLER , Tirol und Vorarlberg, statistisch, mit geschichtlichen Bemerkungen, Teil 1, Innsbruck 1839, S. 118f. Zum Fersental sowie zu Rundschein (Rocegno) und anderen Orten des Suganertales: B EDA W EBER , Das Land Tirol. Mit einem Anhange: Vorarlberg. Ein Handbuch für Reisende, Bd. 2: Südtirol (Etsch-, Drau-, Brenta-, Sarkaregion), Innsbruck 1838, S. 519 - 540. Bei Weber auch Bemerkungen zur Mundart im Brand- und Laimtal (S. 591 - 593). 53 BayHStA, MInn 3820: Gubernium Innsbruck an das k. b. Staatsministerium des Innern vom 5.5.1808, mit tabellarischen Ausweisen der Bewerber. <?page no="196"?> G ERHA RD H ET ZER 196 nicht italienisch gebeichtet würde. 54 1862 gehörten Terragnolo und das noch näher an Rovereto gelegene Trambileno zu den Tiroler Gemeinden, die bei der k. k. Statthalterei in Innsbruck die Forderung auf Abtrennung vom Norden erneuerten und zugunsten eines eigenen Landtages in Trient petitionierten, der eine angemessene Vertretung ihrer regionalen Angelegenheiten gewährleiste. In den 1920er Jahren hatten dann im dortigen Sprachgebrauch von der angestammten Mundart offenbar nur einige Objektbezeichnungen überlebt. 55 Dem Wanderer Friedrich von Attlmayr, k. k. Verwaltungsbeamten in Rovereto, war 1865 im Laimtal eine Frau von annähernd 90 Jahren begegnet, die den Katechismus noch in der Sprache wiedergeben konnte, in der sie ihn gelernt hatte, und meinte: Dieses Reden sei ausgestorben, weil die geistlichen Herren lieber welsch predigten als deutsch, und meinten, dies sei auch besser für die Leute. 56 Um diese Zeit war rund 500 Kilometer nordwestlich vom Etschtal eine Initiative der französischen Unterrichtsverwaltung im Gange, in 245 Schulen des Departements Moselle mit bisher weitgehend deutschsprachigem Unterricht die französische Schulsprache durchzusetzen. Grundlage hierfür war ein von der Akademie in Metz entwickeltes Programm, das in drei Stufen die Schüler zu ausschließlich französischsprachigem Unterricht hinführen sollte. Mit Erreichen dieser Ebene sollten auch der Religionsunterricht mit dem › catechisme ‹ und den Schulgebeten nur noch auf Französisch erfolgen. Das Modell galt als erfolgreich, bereits bewährt im Nachbardepartement Meurthe, wo sich die Zahl der Schüler ohne Kenntnisse der › langue nationale ‹ binnen weniger Jahre rapide vermindert hatte - zumindest in den Berichten und Statistiken der Schulbehörden vor Ort. Den unmittelbaren Anlass für die Ausarbeitung des Programmes hatten Konflikte in einigen Gemeinden der Arrondissements Diedenhofen (Thionville) und Saargemünd (Sarreguemines) gegeben. 54 Schmeller hatte das Gerücht 1833 in Lafraun gehört, freilich nicht geglaubt. J[ OHANN ] A[ NDREAS ] S CHMELLER , Ueber die sogenannten Cimbern der VII und XIII Communen auf den Venedischen Alpen und ihre Sprache, in: Abhandlungen der Philosophisch-philologischen Classe der [ … ] Akademie der Wissenschaften, Bd. 2, 3. Abt., München 1838, S. 559 - 708, hier 591. Ludwig Steub benannte diesen Geistlichen in seiner Artikelsequenz › Herbsttage in Tirol. Gothen, Langobarden und Bajuvaren ‹ , Allgemeine Zeitung, Beilage, Nr. 7 vom 7.1.1867. 55 Z. B. bei Pflanzennamen. G IULIA M ASTRELLI A NZILOTTI , Due isole linguistiche di origine tedesca nel Roveretano: Vallarsa e Terragnolo, in: G[ IOVAN ] B[ ATTISTA ] P ELLEGRINI / S[ ERGIO ] B ONATO / A[ NGELA ] F ABRIS (Hg.), Le isole linguistiche di origine germanica nell ’ Italia settentrionale [ … ], Roana 1984, S. 71 - 78, hier 72. 56 F RIEDRICH VON A TTLMAYR , Die deutschen Kolonien im Gebirge zwischen Trient, Bassano und Verona, II. Abt., in: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, 3. Folge, 13. Heft, Innsbruck 1867, S. 5 - 62, hier 56f. <?page no="197"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 197 Die revolutionäre Schulpolitik von 1792 mit Französisch als einheitlicher Unterrichtssprache war unter Napoleon I. und nach 1814 im bourbonischen Königreich nicht konsequent fortgesetzt worden. Ab 1830 hatte das Juli-Königtum neue Einrichtungen einer staatlichen Bildungspolitik in den Departements geschaffen und Vorstöße für einen Vorrang des Französischen gegenüber den Regionalsprachen unternommen, auch im Elsass und in der › Lorraine allemande ‹ . Dies setzte sich im zweiten Kaiserreich grundsätzlich fort und war seit 1863 Teil einer weitgefächerten staatlichen Reformpolitik, die auch die Stärkung des weltlichen Lehrerstandes gegenüber der geistlichen Schulaufsicht und der Präsenz der Schulorden bezweckte. Napoleon III. und sein Bildungsminister äußerten sich in der Sprachenfrage ambivalent und verhielten sich vorsichtig, um die Opposition im Episkopat, im Seelsorgeklerus und in der katholischen Presse gegen verschiedene Aspekte der liberaleren Politik der kaiserlichen Regierung nicht noch mehr herauszufordern. Die Verfechter der Nationalsprache vor Ort, in den Akademien und Schulinspektionen trafen in den Departements des Nordostens auf ein dichtes Grundschulwesen unter der Aufsicht von katholischen, protestantischen und jüdischen Geistlichen, das von den dortigen Gemeinden relativ gut ausgestattet wurde und nach Alphabetisierungsgrad und sonstigen Sachkenntnissen weit über dem französischen Durchschnitt stand. 57 Allerdings waren es Schulen, in denen nach Herkommen die deutsche Unterrichtssprache dominierte, der Sprache, in der auch gepredigt und gebeichtet wurde. Freilich war es ein allmählich etwas altväterlich klingendes Deutsch, ebenso wenig modern wie die Lehrmittel. Seit Revolution und napoleonischer Herrschaft waren die Verbindungen der weiterführenden Bildung im Elsass und in Lothringen zum deutschen Sprachraum lockerer geworden, während Kultur und Sprache des französischen Nationalstaates mit seiner Hauptstadt ihre Anziehungskraft weiter entfalteten. Im täglichen Umgang herrschten die elsässischen Mundarten und im Mosel- und Meurthe-Departement, soweit die seit dem 17. Jahrhundert wenig veränderte Sprachgrenze reichte, das Rhein- und das Moselfränkische. Wirtschaftliche Dynamik, sozialer Aufstieg und die Verwaltung sprachen Französisch, die deutschen Mundarten hingegen die Dörfer, die sich selbst genug waren. Der Sog zum Aufschließen an eine international begehrte und nachgeahmte Nationalkultur und zu mehr an den Zeitlauf angepassten Haltungen zeigte sich in vielen Beispielen. 1856 empfahl Salomon Ullmann, Großrabbiner von Frankreich mit Sitz in Paris, im Unterelsass geboren und in Straßburg und Metz ausgebildet, den Übergang zur französischen Sprache für die synagogale Predigt. Dies ging mit Reformen der Gestaltung des jüdischen Gottesdienstes einher, samt dem Zulassen von Orgelspiel und 57 S TEPHEN L. H ARP , Learning to Be loyal. Primary Schooling as Nation Building in Alsace and Lorraine, 1850 - 1940, Dekalb 1998, S. 21 - 30. <?page no="198"?> G ERHA RD H ET ZER 198 Chormusik. 58 Es gab auch Widerstände gegen diesen Druck, bei Geistlichen aller Konfessionen, bei älteren Lehrkräften, zumal aus den Schulorden, oder in protestantischen Gymnasien, manchmal auch bei Gemeindeverwaltungen, selten hingegen in den mit regierungstreuen › Notabeln ‹ besetzten Vertretungskörpern auf Departement- und Arrondissement-Ebene. Die Forderung, in Vorschulen und Schulen mit der Sprache zu beginnen, die der Sprache in den Familien nahestand, hatte nicht nur die regionale Tradition für sich. Sie konnte gegebenenfalls auch mit Comenius und Pestalozzi argumentieren, den die Nationalversammlung in Paris 1792 zum Ehrenbürger Frankreichs erklärt hatte. Zähe Gegenspieler fanden sich vor allem unter den katholischen Geistlichen der Bistümer Straßburg, Metz und Nancy. Sie stammten aus Mundart sprechenden Kleinstädten und Dörfern, waren zahlreich und durch gemeinsame Bildungsstationen verbunden. Sie kamen aus einem geschlossenen Sprachraum und verteidigten nicht die Mundart von Inseln. Zum Teil hatten sie die Sympathie oder die Duldung ihrer Bischöfe, zum Teil agierten sie entlang des oberhirtlichen Unwillens. Das Kernstück der Verteidigung war der Religionsunterricht in deutscher Sprache, wenigstens bis zur Erstkommunion. 1858 erhoben über 50 Geistliche aus den Arrondissements Saarburg (Sarrebourg) und Château-Salins in der katholischen Tagespresse Einspruch gegen einen Beschluss des Saarburger Arrondissement-Rates, von der staatlichen Schulverwaltung die Einführung vollständig französischen Unterrichts zu erbitten und nur noch französisch sprechende Lehrer im Sinne der › méthode directe ‹ in die Schulen zu schicken. Der Protest mahnte, das Französische nach dem didaktischen Grundsatz, vom Bekannten zum Unbekannten fortzuschreiten ( d’aller du connu à l’inconnu ), zu erlernen. Er rechnete mit der öffentlichen Abwertung der deutschsprachigen Lothringer ab und forderte die gleichen Rechte ein, die anderen Regionalsprachen in Frankreich gewährt würden. 59 Im Juli 1844 hatte der Bischof von Metz das Ersuchen des französischen Ministers der Justiz und des Kultus zurückgewiesen, die Durchsetzung des Französischen gegen das Deutsche oder vielmehr gegen une sorte de patois germanique in Gottesdienst und Schule zu unterstützen. Er hatte auf dem muttersprachlichen Religionsunterricht beharrt. 60 Angesichts der offenen und heimlichen Konflikte, die das Lehrprogramm vom März 1865 ausgelöst hatte, stellte der Bischof seinem Klerus 1867 auf 58 S TEPHANIE S CHLESIER , Das religiöse Leben der jüdischen Gemeinden in Lothringen und der preußischen Rheinprovinz im 19. Jahrhundert, in: J EAN P AUL C AHN / H ARTMUT K AELBLE (Hg.), Religion und Laizität in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Religions et laïcité en France et en Allemagne aux 19e et 20e siècles, Stuttgart 2008, S. 78 - 92. 59 Zum › Mémoire ‹ vom Oktober 1858: G ERHARD H ETZER , Schulpolitik und Sprachenfrage in Lothringen am Vorabend des Krieges von 1870/ 71 - Widerhall und Interpretationen in der deutschen Öffentlichkeit, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 47 (2021), S. 139 - 174, hier 149f. 60 Vollständiger Text des Antwortschreibens in: [J EAN ] F[ RANÇOIS ] E[ RMAN ] , L’école normale de la Lorraine de 1821 à 1896, in: Revue ecclésiastique de Metz. Études de théologie, <?page no="199"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 199 einer Diözesansynode Mittel und Wege frei, um vor Ort den Religionsunterricht und die Vorbereitung zur Erstkommunion sicherzustellen. Im November 1868 fragte der Akademie-Inspektor in Metz bei den Lehrkräften in den deutschsprachigen Gemeinden nach den bisherigen Ergebnissen seines Programmes. Die Antworten auf diese Umfrage sind, obwohl nicht für alle Bereiche überliefert, eine interessante erziehungsgeschichtliche Quelle. 61 Es gab Lehrer, die sich behutsam dieser Aufgabe gestellt hatten, und solche, die als Bannerträger der französischen Zivilisation in den Winkeln der Nation hatten auftreten wollen, um der Jugend den alltäglichen Umgang in der gewünschten Sprache beizubringen, mit Lob, Geschenken, Ermahnungen oder Strafen. Einige Lehrer berichteten von der Gegenarbeit der Pfarrer in den Gemeinden. Etliche verlangten die endgültige Abschaffung des deutschen Religionsunterrichts, der den Lernerfolg beeinträchtige, zumal das Deutsch, das in den Dörfern gesprochen werde, sich zum Deutsch des Katechismus verhalte wie das romanische patois du pays messin zum Französischen. 62 Der Inspektor für die Grundschulen im Arrondissement Diedenhofen, in Versailles geboren, zürnte auch nach über zwanzig Jahren auf seinem Posten in teilweise moselfränkischem Sprachgebiet über das patois affreux in den Familien, eine Mundart, die sich zudem von Kanton zu Kanton [Verwaltungseinheit unterhalb des Arrondissements] unterscheide. 63 Er nahm damit die Wortwahl des Adressaten seiner Berichte auf, nämlich des Akademie-Inspektors in Metz, der im zeitlichen Umfeld seiner Umfrage im halboffiziellen › Moniteur de la Moselle ‹ unter verschlüsseltem Namen den gleichberechtigten Unterricht in zwei Sprachen [französisch und deutsch] abgelehnt hatte. Das Kind gleiche einem unbebauten Boden. Um diesen urbar zu machen und notwendige Kenntnisse einzupflanzen, sei es unumgänglich, das »abscheuliche deutsche Patois« auszuschneiden, das schlimmer sei als die Disteln und Dornen auf dem Felde. Es schade dem Begriffsvermögen und hindere, den de droit canonique, de liturgie, d ’ histoire diocésaine et générale, etc., 7 (1896), S. 468 - 486, 536 - 543, hier 479 - 486. 61 M ARTINA P ITZ , Une nation - une langue? Zur französischen Sprachpolitik in Ostlothringen vor 1870, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 48 (2000), S. 203 - 221, hier 216 - 218; G ÉRARD B ODÉ , Zum amtlichen und privaten Umgang mit der Sprachenpluralität im Moseldepartement (1800 - 1870). Bemerkungen aus der Sicht des Historikers, in: B ÄRBEL K UHN / M ARTINA P ITZ / A NDREAS S CHORR (Hg.), › Grenzen ‹ ohne Fächergrenzen. Interdisziplinäre Annäherungen (Annales Universitatis Saraviensis. Philosophische Fakultäten 26), St. Ingbert 2007, S. 37 - 55, hier 49 - 51. 62 Beispiele sind die Schreiben der Lehrer in Schöneck und Rech (beide im Arrondissement Saargemünd) an den Präfekten des Mosel-Departements vom 25.4.1869 (Zitat im Haupttext) und 14.4.1869: Ziel sei la mort de l ’ idiome allemand et la naissance du français dans nos contrées; AD 57, 2 T 280. 63 AD 57, 2 T 12: Rapport général sur les écoles de garçons de l ’ arrondissement de Thionville [für 1868] vom 8.5.1869. Ähnlich der Tenor in seinen Berichten für 1863 in diesem Akt. <?page no="200"?> G ERHA RD H ET ZER 200 Gang der französischen Sprache zu begreifen und deren Grammatik klar zu verstehen. 64 Im Übrigen erinnerte der Autor die deutschsprachigen Bewohner der Grenzregionen an ihre patriotischen Pflichten gegenüber Frankreich. Die außenpolitische Lage war brandig, eine militärische Auseinandersetzung mit dem angrenzenden Königreich Preußen lag in der Luft. Der Schulinspektor in Diedenhofen hatte im Mai 1869 vom schweigenden Widerstand einer ziemlichen Anzahl von Pfarrern gegen das Lehrprogramm berichtet. Es mögen ihn nicht alle Nachrichten über die Konflikte zwischen Pfarrern und Lehrern etwa im grenznahen Kanton Busendorf (Bouzonville) erreicht haben. Aber der Bericht des Lehrers in Tromborn ging direkt an ihn und wurde von ihm vertraulich an den Akademie-Inspektor weitergeleitet, als Beispiel für die Opposition im Klerus. Dieser wiederum ließ ähnliche Meldungen zur Vorlage an den Präfekten als dem Verwaltungschef im Departement sammeln. In Tromborn, wenige Kilometer von der Grenze zur preußischen Rheinprovinz unweit von Saarlouis entfernt, hatte der Pfarrer in der Sonntagspredigt erklärt, dass das Programm vom März 1865 von Männern gemacht sei, die nichts verstünden, die nicht um den Reichtum der schönen deutschen Sprache wüssten, die aus Kindern nur Maschinen machten, da sie diese daran hinderten, in der Muttersprache zu denken und nachzudenken, aber unfähig seien, diesen beizubringen, auf Französisch zu denken und sich auszudrücken. Die Forderung des Geistlichen, auch die deutsche Schrift zu üben, um weiterhin die Beziehungen zu den Preußen pflegen zu können, stieß dem Akademie- Inspektor besonders sauer auf. 65 Tatsächlich war im Moseldepartement seit April 1869 eine zweisprachige Petition an Kaiser Napoleon III. im Umlauf, bei der in Regie einiger Pfarrgeistlicher 27.000 Unterschriften von Familienvätern gesammelt wurden, in der um die Rücknahme des Lehrplanes vom März 1865 und um Wiederherstellung des deutschen Lese- und Schreibunterrichts gebeten wurde. Verfasser der nach Gedankenführung und Wortwahl hochstehenden Schrift war vermutlich ein aus dem deutschen Sprachgebiet stammender Metzer Domherr, Sekretär des Bischofs, der die Äußerungen des Akademie-Inspektors zum direkten Anlass nahm, um die staatliche Schulpolitik der vergangenen Jahre zu sezieren. 66 Die Petition hatte Erfolg: Der kaiserliche Conseil de 64 Auszug in französischer Sprache bei B ENNO H ARTMANN B ERSCHIN , Sprach- und Sprachenpolitik. Eine sprachgeschichtliche Fallstudie (1789 - 1940) am Beispiel des Grenzlandes Lothringen (Moselle) (Bonner Romanistische Arbeiten 93), Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 73. 65 AD 57, 2 T 280: Schreiben des Lehrers an der Knabenschule in Tromborn an den Inspecteur primaire in Diedenhofen vom 19.2.1869 (mit Weiterleitungsvermerk und der Randnotiz: Oui la Prusse [/ ], mais la France! ). 66 Text der Petition: B. B ERSCHIN , Sprach- und Sprachenpolitik (Anm. 64), S. 199 - 235. Aus französischer Sicht: H ENRY C ONTAMINE , Metz et la Moselle de 1814 à 1870. Étude de la vie <?page no="201"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 201 l ’ instruction publique in Paris und im Anschluss daran das Unterrichtsministerium erklärten Mitte Juli 1869 das Programm vom März 1865 für aufgehoben, zumal es nie eine ministerielle Genehmigung erhalten habe. Nicht die Akademie in Metz, sondern die entsprechende Einrichtung in Nancy wurde beauftragt, neue Vorschriften auszuarbeiten, während der Lehrplan auf den Stand von vor 1865 zurückgeführt wurde. Zur gleichen Zeit trennte sich der Kaiser von seinem Unterrichtsminister, dessen Reformpolitik auf erbitterten Widerstand der katholischen Partei und im Episkopat gestoßen war, wo Bastionen in der Bildungspolitik verteidigt wurden. 67 Das Kaiserreich war bei wachsenden sozialen Spannungen und außenpolitischen Fehlschlägen mehr denn je auf Erfolge bei Parlamentswahlen und Plebisziten angewiesen, und die Wahlgänge der vergangenen zwei Monate hatten die Opposition gestärkt. Das in Nancy neu ausgearbeitete Regelwerk sollte zwar nicht zum gleichberechtigten Unterricht des Deutschen führen und räumte diesem nur den Rang eines Verständigungsmittels ein, sah aber dessen Fortbestand im Lesen, Schreiben und vor allem im Religionsunterricht vor. Die Verfechter der homogénéité nationale, einer Politik, die doch von der Regierung in Paris beharrlich verfolgt werde, 68 hatten nun vor Ort den Triumph ihrer Gegner auszuhalten. Die neuen Vorschriften wurden im Februar 1870 genehmigt. Sie traten nicht mehr in Kraft, da im Juli 1870 der Krieg ausbrach. Der Begriff des › patois ‹ für die in Frankreich vertretenen Regionalsprachen, der den Verfechtern der › langue nationale ‹ im französischen Unterrichtswesen zum Kampfbegriff geworden war, tauchte seit 1870 auch in der deutschen Literatur und Publizistik häufiger auf. Er hatte hier ebenfalls eher negative Bedeutung und wurde von den deutschen Mundarten scharf unterschieden, wie dies schon der Verfasser der Lothringer Petition von 1869 getan hatte. Zur Kennzeichnung von entwurzelten und verwaschenen Varianten einer Hochsprache, wie sie schon in vielen Gegenden Frankreichs in Gebrauch seien, verwendete ihn etwa der niederdeutsche Schriftsteller Klaus Groth (1819 - 1899). In den Jahren unmittelbar nach der Reichsgründung zog Groth, in jungen Jahren selbst Lehrer in seiner Geburtsstadt in Dithmarschen, gegen die Tendenzen in Schule und Kirche zu Felde, das Plattdeutsche zu verdrängen, auch wenn er hier für die letzten Jahre einige Lichtblicke sah. Seit dem Erscheinen des › Quickborn ‹ , der Sammlung von Verserzählungen und Gedichten in Dithmarscher Mundart im Jahre 1852, war Groth zum Fackelträger des Niederdeutschen et de l ’ administration d ’ un département au XIXe siècle, Bd. II: La vie administrative, Nancy 1932, S. 235 - 237. 67 Die Sicht des betroffenen Ministers in: V ICTOR D URUY , Notes et souvenirs, Bd. 2: 1863 - 1869. La réforme de l’instruction publique, Clermont -Ferrand 2005, S. 95 - 196. 68 So laut Protokollentwurf der Präfekt des Departements Moselle im Conseil départemental d’instruction publique in Metz am 1.2.1865, als der Auftrag für das Lehrprogramm vom folgenden Monat erteilt wurde; AD 57, 2 T 280. <?page no="202"?> G ERHA RD H ET ZER 202 als einer modernen Kultursprache geworden, die einen Platz neben dem Hochdeutschen habe. Was er im Sprachalltag bei Handwerkern in norddeutschen Städten zu hören bekam, zeigte ihm, dass mit dem Verschwinden der herkömmlichen Mundarten bei den niedern Stände[n] ein halbassimilirte[s] Greuelhochdeutsch seinen Einzug halte. 69 5. Noch ein Blick auf Augsburg Auch hier ist unser Thema nicht nur Teil der Bildungsgeschichte unseres Raumes, sondern gehört zur politischen und Sozialgeschichte. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der voranschreitenden Normierung, der Einebnung des Ungleichmäßigen, und die entwickelten Nationalstaaten kannten als Richtschnur e i n e Hochsprache, die für sich die wachsende Kraft des Faktischen hatte. Die Befürworter einer dauernden Pflege der Mundart sprachen bereits aus der Erfahrung des Verlustes. Klaus Groth lebte im damals noch überschaubaren Kiel, in dem die rasante Entwicklung zur Großstadt erst zu erahnen war. Die Erosion der ländlichen Lebenswelten und die Veränderungen durch Industrie und eine Akkumulation städtischer Wohngebiete war freilich allenthalben erkennbar. 1895 veröffentlichte der Augsburger Stadtschulrat Ludwig Cölestin Bauer (1832 - 1910) die Schrift › Die schwäbische Mundart in der Schule ‹ , in die seine langjährigen Erfahrungen als Lehrer und als Schulvisitator einflossen. Bauer war seit 1872 erster weltlicher Leiter der Augsburger Lokalschulkommission und seit 1873 einer der Kreisscholarchen von Schwaben und Neuburg. Er war ein Vorkämpfer des nicht mehr nach Konfessionen getrennten Simultanschulwesens, pädagogisch den Reformen und politisch der Fortschrittspartei zugetan, auch als Jugendschriftsteller und Liederdichter bekannt. Gut 30 Jahre zuvor war Anton Birlinger denjenigen auf der Spur gewesen, von denen die Augsburger Mundart der Reichsstadtzeit am besten bewahrt worden war. Er hatte dieses Sprechen noch am ehesten bei den protestantischen Metzgern in der Jakobervorstadt gehört. Seit dieser Zeit war die Einwohnerzahl der Stadt Augsburg von knapp 50.000 auf über 80.000 gestiegen, und entlang der Wertach und im Westen und Südwesten der Altstadt waren neue Stadtviertel entstanden, in denen die über- 69 K LAUS G ROTH , Ueber Mundarten und mundartige Dichtung, Berlin 1873, S. 30. Es handelte sich um eine Sammlung von Betrachtungen, die in der Berliner Wochenzeitung › Die Gegenwart ‹ erschienen waren, darunter über Die Mundart und die Pädagogik. Schicksal des Niederdeutschen in der Fremde und daheim. Struggle for life (S. 39 - 50) und das Ende der Mundarten (S. 69 - 73). <?page no="203"?> M UNDA RT UND H OC HS PRA CH E IN V OLKS S CH UL EN DES 19. J AHRH U NDERTS 203 konfessionellen Volksschulen gebaut worden waren. Die Bevölkerung in den Wertachvorstädten war für die Organisation der Seelsorge ein mixtum compositum. 70 Die Zuzügler kamen allerdings zu rund Zweidritteln aus dem übrigen Schwaben, aus Oberbayern und Mittelfranken und zu einem Viertel aus dem übrigen Bayern und aus anderen deutschen Bundesstaaten, bevorzugt aus Württemberg. Mit der Sprache von deren Kindern und der ländlichen schwäbischen Gebiete setzte sich Bauer, selbst aus Unterfranken stammend, auseinander. Auch er war ein Verfechter der hochdeutschen Regel und wollte der Mundart in den Schulsälen eine Aufgabe für den Einstieg, nicht aber eine gleichlaufende Pflege zugestehen. Zwar sei sie der einzige Schlüssel zu den Ohren und Herzen der Schulanfänger. Wenn sie aber im Lernfortschritt nicht mehr gebraucht und dennoch geduldet werde, dann werde sie zum rostigen Riegel, der den Zugang zum richtigen Verständnisse und Gebrauche der Muttersprache [hier des Hochdeutschen] versperre. Er folgte damit Autoren, die in den letzten Jahrzehnten eine aus dialektalen Einflüssen sowie aus Zeitungsstil und Fremdwörtergebrauch eingerissene Sprachverderbnis im Hochdeutschen kritisiert hatten. 71 Bauer beschrieb die ihm untergekommenen mundartlichen Abweichungen in Schwaben, von den Unschärfen bei Vokalen und Umlauten über Verwerfungen bei Pluralbildungen und beim Geschlecht der Hauptwörter bis hin zu Lücken bei der Bildung von Vergangenheitsformen und beim Konjunktiv der Zeitwörter. Und er schärfte den Lehrern ein, im Sprachunterricht dem Schlendrian keinen Raum zu geben und, so in abschließenden Versen, Treu im Kleinen zu sein. 72 70 BayHStA, MK 23727: Generalvikar Franz Anton Henle an das k. b. Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten vom 24.11.1898 (Bitte um staatliche Unterstützung für einen weiteren Hilfspriester in der Expositur St. Joseph in Augsburg; Henle wurde später Bischof von Passau und von Regensburg). 71 Zum Beispiel G USTAV H AUFF / [K ARL ] G[ OTTLIEB ] K ELLER , Deutscher Antibarbarus. Beiträge zur Förderung des richtigen Gebrauchs der Muttersprache, 2. Aufl. Stuttgart 1886, Zitat S. 3. 72 L UDWIG B AUER , Die schwäbische Mundart in der Schule, Nürnberg 1895, Zitate S. 3, 11f. <?page no="205"?> 205 S TEFFEN K AISER Von Ackerbau- und Winterschulen. Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Schulwesens im Königreich Württemberg 1818 - 1914 Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora 1815 brachte Europa eine mehrjährige klimatische Abkühlung und 1816 das sogenannte Jahr ohne Sommer. Die Folgen waren Missernten, die zu Hungersnöten führten. 1 Das rohstoffarme, auf die Erträge seines Agrarsektors angewiesene Königreich Württemberg traf diese Hungersnot zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Die napoleonischen Kriege und Bündnisverpflichtungen hatten hohe finanzielle Belastungen für das Land gebracht. Die wirtschaftliche Lage war prekär. Als Reaktion auf die Versorgungsprobleme wurden im Königreich ebenso wie in anderen europäischen Staaten Reformprozesse angestoßen, die neben dem Staatsapparat auch den Agrarsektor betrafen. 2 Der gerade ein Jahr regierende württembergische König Wilhelm I. leitete den Reformprozess der Landwirtschaft mit vier programmatischen Beschlüssen ein: 1817 wurden die Leibeigenschaft aufgehoben sowie ein landwirtschaftlicher Verein nebst einer 1 Vgl. H EINRICH B EST , Interessenpolitik und nationale Integration 1848/ 49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 37), Göttingen 1980, S. 46; W OLFGANG B EHRINGER , Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, 2., durchges. Auflage München 2007, S. 217; E RNST B RUCKMÜLLER , Eine »grüne Revolution« (18. - 19. Jahrhundert), in: M ARKUS C ERMAN / I LJA S TEFFELBAUER / S VEN T ROST (Hg.), Agrarrevolutionen. Verhältnisse in der Landwirtschaft vom Neolithikum zur Globalisierung, Innsbruck u. a. 2008, S. 206 - 226, hier 219. Zum Vulkanausbruch von 1816 und seinen Folgen vgl. weiterführend I RENE P ILL , Tambora. Ein Vulkan verändert Südwestdeutschland, Ubstadt-Weiher u. a. 2017; S ENTA H ERKLE / Sabine H OLTZ / Gert K OLLMER - VON O HEIMB -L OUP (Hg.), 1816 - Das Jahr ohne Sommer. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung im deutschen Südwesten (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 223), Stuttgart 2019; G ILLEN D ’ A RCY W OOD , Vulkanwinter 1816. Die Welt im Schatten des Tambora, Darmstadt 2015. 2 Vgl. R AINER B ECK , Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003, S. 152; R EINER P RASS , Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650 - 1880), hg. von S TEFAN B RAKENSIEK mit einem Beitrag von J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Köln u. a. 2016, S. 7; S TEFFEN K AISER , Vom regionalen zum globalen Markt. Politische, gesellschaftliche und marktwirtschaftliche Wandlungen im württembergischen Agrarsektor 1848 - 1914 (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 230), Ostfildern 2022, S. 1. <?page no="206"?> S TE F FEN K AIS ER 206 übergeordneten Zentralstelle gegründet. Ein Jahr darauf fand das erste Cannstatter Volksfest als landwirtschaftliche Leistungsschau und Erntedankfest nach den Hungerjahren statt. Außerdem entstand mit der landwirtschaftlichen Unterrichts- und Versuchsanstalt in Hohenheim eine Ausbildungsstätte für Landwirte. 3 1. Von der Schule für Waisenkinder zur Ackerbauschule Für die Gründung der Unterrichts- und Versuchsanstalt in Hohenheim stand die vom Gedankengut Pestalozzis beeinflusste Schule von Philipp Emanuel von Fellenberg in Hofwyl bei Bern Pate. 4 Fellenbergs erklärtes Ziel war die Erziehung eines 3 Die Schule wurde ursprünglich in Denkendorf eröffnet. Da die Versuchsfelder dort jedoch zu klein waren, erfolgte bereits am 21.8.1818 der Umzug nach Hohenheim. Vgl. F RANK L ANG , Die Landwirtschaft ernährt das Volk. Mehr Nahrung für die wachsende Bevölkerung, in: Das Königreich Württemberg 1806 - 1918. Monarchie und Moderne, Ostfildern 2006, S. 285 - 300, hier 292; R AINER L OOSE , Die Centralstelle des Württembergischen landwirtschaftlichen Vereins. Die Erneuerung von Landwirtschaft und Gewerben unter König Wilhelm I. von Württemberg (1817 - 1848) (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 221), Stuttgart 2018, S. 12; A LFRED D EHLINGER , Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, Bd. I, Stuttgart 1951, S. 550; U LRICH F ELLMETH , Das »Jahr ohne Sommer« 1816 und die Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft Württembergs im 19. Jahrhundert, in: H ARALD H AGEMANN / G ERT K OLL - MER - VON O HEIMB -L OUP (Hg.), Universität Hohenheim 1818 - 2018. FS zum 200jährigen Jubiläum, Stuttgart 2018, S. 314 - 331, hier 314f. Zum Cannstatter Volksfest vgl. weiterführend H ANS O TTO S TROHEKER / Günther W ILLMANN , Cannstatter Volksfest. Das schwäbische Landesfest im Wandel der Zeiten, Stuttgart-Aalen 1978; W ULF W AGER , Cannstatter Volksfest. Vom Landwirtschaftsfest zum Mega-Event, Stuttgart 2018. Zur Gründung von Zentralstelle und landwirtschaftlichem Verein vgl. R. L OOSE , Centralstelle (Anm. 3), S. 8 - 46. Weiterführend zur Entwicklung Hohenheims als Akademie und Hochschule vgl. S. K AISER , Markt (Anm. 2), S. 56 - 106. 4 H ERBERT P RUNS , Staat und Agrarwirtschaft 1800 - 1865. Subjekte und Mittel der Agrarverfassung und Agrarverwaltung im Frühindustrialismus (Berichte über Landwirtschaft, Sonderheft NF 194), Bd. 1, Hamburg-Berlin 1978, S. 26. Als Gründervater der Agrarwissenschaften gilt Albrecht Daniel Thaer. Seine Mustergüter, zuerst in Celle, dann in Möglin waren wegweisend für die nord- und ostdeutschen Gutsbetriebe, jedoch nur bedingt umsetzbar für die kleinstrukturierten Agrarbetriebe in Südwestdeutschland. Vgl. dazu K URT R ENNER , Ursachen für die Gründung des landwirtschaftlichen Instituts Hohenheim vor 175 Jahren und sein Beitrag zur Entwicklung des landwirtschaftlichen Bildungswesens in Deutschland, in: Hohenheimer Themen II (1993), S. 45 - 71, hier 58; F RANK U EKÖTTER , Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft (Umwelt und Gesellschaft 1), Göttingen 2010, S. 43 - 46; W ALTER A CHILLES , Albrecht D. Thaer. Begründer der rationellen Landwirtschaft, in: K LAUS H ERMANN / H ARALD W INKEL (Hg.), Vom »belehrten« <?page no="207"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 207 › edlen Menschengeschlechts ‹ mit Hilfe der Landwirtschaft. In seiner › Armenschule für Knaben ‹ wurden Kinder unentgeltlich in allgemeinbildenden Disziplinen unterrichtet. Zudem arbeiteten sie parallel auf dem landwirtschaftlichen Betrieb. 5 Diese Verbindung von Theorie und Praxis sollte auch für die neue württembergische Lehranstalt gelten, wofür mit Johann Nepomuk Schwerz ein Schüler Fellenbergs als Direktor gewonnen werden konnte. 6 Da sich die Hohenheimer Anstalt an Söhne vermögender Väter richtete, initiierte Königin Katharina von Württemberg bereits kurz nach der Gründung die Einrichtung einer › Wohltätigkeitsanstalt ‹ . Ganz im Sinne Fellenbergs sollten hier zehn bis zwölf Waisenkinder - zeitgenössisch Zöglinge genannt - im Alter von zehn bis dreizehn Jahren eine landwirtschaftliche Ausbildung erhalten. Vom Innenministerium unterstützt, setzte Katharina gegen den Willen von Direktor Schwerz die Fachschule, angegliedert an die Hohenheimer Akademie, durch. Schwerz ’ Furcht vor einer Gefährdung seiner Schüler durch die fehlende Disziplin und Moral der Waisenkinder wurde von der Königin genauso beiseitegeschoben wie der Hinweis auf fehlende Lehrkräfte. Bis 1824 wurden die Schüler der Anstalt sowie die Waisenkinder zusammen unterrichtet, obwohl Schwerz den unterschiedlichen schulischen Hintergrund der Schüler kritisch hervorgehoben hatte. Dann bekam die Ackerbauschule eigene Lehrkräfte. Ihre praktischen Fähigkeiten erwarben die Waisenkinder auf dem Hohenheimer Gutsbetrieb. 7 Es zeigte sich früh, dass die ausgebildeten Waisenkinder trotz ihrer zehnjährigen Ausbildung nicht die notwendigen Qualifikationen für eine zukünftige Aufgabe als Bauern. Kommunikation und Information in der Landwirtschaft vom Bauernkalender bis zur EDV, St. Katharinen 1992, S. 36 - 45. 5 Vgl. 100 Jahre Landwirtschaftsschule in Baden. Dokumentation über Anfänge und Entwicklung der landwirtschaftlichen Fachschule, des Lehramtes und der Beratung, hg. vom Regierungspräsidium Freiburg, Freiburg i. Br. 1973, S. 7; H. P RUNS , Staat (Anm. 4), S. 26; K. R ENNER , Ursachen (Anm. 4), S. 51; F. U EKÖTTER , Wahrheit (Anm. 4), S. 45. 6 Schwerz wurde die prägende Kraft der Schulentwicklung in Süddeutschland und beeinflusste das landwirtschaftliche Schulsystem im grundherrschaftlich strukturierten Süddeutschland nachhaltig. Vgl. G ÜNTHER F RANZ , Die Geschichte der Universität, in: D ERS . (Hg.), Universität Hohenheim. Landwirtschaftliche Hochschule. 1818 - 1968, Stuttgart 1968, S. 11 - 160, hier 15; F. L ANG , Landwirtschaft (Anm. 3), S. 292; Regierungspräsidium Freiburg, Landwirtschaftsschule Baden 1973, S. 7; F. U EKÖTTER , Wahrheit (Anm. 4), S. 45, A. D EH - LINGER , Württembergs Staatswesen (Anm. 3), S. 551; 100 Jahre Landwirtschaftsschule (Anm. 5), S. 7; H ARALD W INKEL , Universität Hohenheim. Die letzten 25 Jahre, in: D ERS . (Hg.), Universität Hohenheim. FS zum 175jährigen Jubiläum, Stuttgart 1993, S. 67 - 306, hier 73 - 75; K. R ENNER , Ursachen (Anm. 4), S. 60. 7 Vgl. G OTTLIEB S TENGEL , Geschichte der Ackerbauschule. Handschriftliches Manuskript, UA Hohenheim, Best. 39/ 12: Akten zur Ackerbauschule, [1962/ 63]; K. R ENNER , Ursachen (Anm. 4), S. 66; A. D EHLINGER , Württembergs Staatswesen (Anm. 3), S. 490; F. L ANG , Landwirtschaft (Anm. 3), S. 292; R. L OOSE , Centralstelle (Anm. 3), S. 152. <?page no="208"?> S TE F FEN K AIS ER 208 Aufseher mitbrachten und zudem viele in andere Berufe wechselten. Der seit 1828 amtierende Hohenheimer Direktor Ludwig von Ellrichshausen strukturierte daher die Wohltätigkeitsanstalt um und legte damit die Grundlage für die Zukunftsfähigkeit der Schule. Ellrichshausen erhöhte die Zahl der Zöglinge auf 25 und legte die Ausbildung auf drei Jahre fest. Als Schüler sollten vermögende Bauern- und Handwerkersöhne zwischen 17 und 20 Jahre aufgenommen werden. Diese sollten ein Vermögen von mindestens 100 - 150 fl. besitzen, um das angesetzte Lehrgeld in Höhe von 100 fl. entrichten zu können. Außerdem mussten die angehenden Schüler körperlich stark und gesund sein und Vorkenntnisse in der Landwirtschaft mitbringen. Nur mehr ein bis zwei Waisenkinder sollten aufgenommen werden, um dem ursprünglichen Ziel der Schule noch rudimentär gerecht zu werden. Am 1. April 1829 begannen die ersten Schüler ihre Lehre in der neuen Ackerbauschule in Hohenheim. 8 Das neue Modell war erfolgreich. Die Hohenheimer Schule hatte bald mehr Bewerber als freie Plätze. Das führte zusammen mit der regionalen Fokussierung der Schule auf den mittleren Neckarraum bereits in den 1830er Jahren zu Forderungen von Seiten der landwirtschaftlichen Vereine nach der Einrichtung weiterer Ackerbauschulen. Aus seiner Jubiläumsstiftung ließ Wilhelm I. 1842 daher noch zwei Ackerbauschulen in Ellwangen und Ochsenhausen auf staatlichen Domänen einrichten. Aufgrund von Sparzwängen und nochmals aufgeschoben durch die revolutionären Unruhen 1848/ 49 wurde erst 1851 auf der Domäne Kirchberg eine Ackerbauschule errichtet. Alle vier Kreise hatten nun eine Ackerbauschule. Die drei neuen Schulen nahmen im Gegensatz zur Hohenheimer Schule nur jeweils zwölf Zöglinge auf. Die Schulvorstände waren zugleich Pächter der Staatsdomänen, die den Unterricht, unterstützt von angestellten Volksschullehrern und Gutsaufsehern, durchführten. Der Vorstand hatte durch die Gutswirtschaft den Schulbetrieb zu finanzieren. Daher verlangte die Domänenkammer nur einen ermäßigten Pachtzins, durch welchen die Aufwendungen, etwa für die Anstellung der Lehrer, erstattet werden sollten. 9 Alle vier Schulen waren vor allem Anziehungspunkt für Bauernsöhne 8 Ellrichshausen wollte zuerst vor allem ehemalige Soldaten unentgeltlich aufnehmen. Allerdings erwiesen sich die Soldaten nicht als ideale Zielgruppe, so dass ab 1841 nur noch Bauern- und Handwerksöhne aufgenommen wurden. Vgl. G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7); K. R ENNER , Ursachen (Anm. 4), S. 67; R. L OOSE , Centralstelle (Anm. 3), S. 154. 9 Alle Ackerbauschulen entstanden auf vormals klösterlichem Besitz, mit Ausnahme Hohenheims. Die Staatsdomänen in Ellwangen umfassten 117,18 ha, die in Ochsenhausen 132,28 ha, die in Kirchberg 192,72 ha. Vgl. G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7); Zentralstelle für die Landwirtschaft (Hg.), Die Landwirtschaft und die Landwirtschaftspflege in Württemberg. Denkschrift mit Ermächtigung der K. Ministerien des Inneren und des Kirchen- und Schulwesens, Stuttgart 1908, S. 63; H ILDEGARD H OFFMANN , Landwirtschaft und Industrie in Württemberg. Insbesondere im Industriegebiet der Schwäbischen Alb (Zum wirtschaftlichen Schicksal Europas, Teil 2: Arbeiten zur deutschen Problematik, Bd. 2), Berlin 1935, S. 25; A. D EHLINGER , Württembergs Staatswesen (Anm. 3), S. 218; F RIEDRICH F ACIUS , Staat und <?page no="209"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 209 aus der näheren Umgebung. Die geographische Lage war damit das wichtigste Auswahlkriterium für die Schulwahl. 10 2. Unterrichtsinhalte und Organisation Das Ziel der Ackerbauschulen, vornehmlich Söhne aus dem Bauernstand zu praktischen Landwirten auszubilden, 11 erforderte neben theoretischem Unterricht auch praktische Unterweisungen. Die Lehrinhalte wurden viele Jahre lang von den Vorständen festgelegt, einheitliche Lehrpläne erst um 1900 konzipiert und umgesetzt. 12 Aus den wenigen erhaltenen Lehrplänen lässt sich schließen, dass die Lehrinhalte der vier Ackerbauschulen sich nur geringfügig unterschieden. Die Schulen sollten ein breites Spektrum an landwirtschaftlichem Fachwissen und Kenntnisse in Hilfsfächern vermitteln, um es den zukünftigen Landwirten zu ermöglichen, ihre Betriebe nach den Anforderungen von Klima, Boden und Märkten zu führen. Neben dem Landwirtschaft in Württemberg 1780 - 1920, in: H EINZ H AUSHOFER / W ILLI A. B OELCKE (Hg.), Wege und Forschungen der Agrargeschichte. FS zum 65. Geburtstag von Günther Franz, Frankfurt/ Main 1967, S. 288 - 313, hier 298f.; H. P RUNS , Staat (Anm. 4), S. 190 - 192; R. L OOSE , Centralstelle (Anm. 3), S. 156 - 158; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508, Bl. 16: Gemeinderat und Bürgerausschuss Ochsenhausen an den König, 25.6.1842; ebd., Bl. 18: Ausschuss des landwirtschaftlichen Vereins im Oberamt Ellwangen an den König, 18.8.1842; ebd.: Legblatt des Innenministeriums, [1842]; ebd.: Kultministerium an den König, 10.1.1851. Auch andernorts in Deutschland gab es ab Mitte der 1840er Jahre vermehrt Gründungen von Ackerbauschulen. In Baden entschloss man sich 1846 zur Einführung einer Ackerbauschule in Hochburg. Vgl. 100 Jahre Landwirtschaftsschule (Anm. 5), S. 9; R. L OOSE , Centralstelle (Anm. 3), S. 158 - 159; A. D EHLINGER , Württembergs Staatswesen (Anm. 3), S. 190 - 192; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Innenminister an den König, 18.10.1847; Kult- und Finanzminister an den König, 15.1.1850; ebd.: Finanzministerium an den König, 18.5.1850. 10 Vgl. Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 64; UA Hohenheim, 39/ 2.3: Interner Schriftverkehr der Ackerbauschule Hohenheim, 1860 - 1918. Die Mehrzahl der Zöglinge in Hohenheim kam aus dem Neckar- und Schwarzwaldkreis. Da sich der Schwarzwaldkreis über Reutlingen bis nach Nürtingen zog und damit in vielen Teilen näher an Hohenheim als an Kirchberg lag, ist der hohe Anteil an Bewerbern aus dem Schwarzwaldkreis in Hohenheim mit der Ausdehnung des Kreises zu erklären. 11 Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 33. 12 Vgl. HStA Stuttgart, E 14, Bü 1616: Kultminister an den König, 12.8.1899; UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 32: Institutsdirektion Hohenheim an den Vorstand der dortigen Ackerbauschule, 23.10.1899; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Kultminister an den König, 7.5.1902; K ARL H OFMANN / D AVID H OLLERBACH , Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Schulwesens und der Ausbildung von 1818 bis heute in Württemberg und Hohenzollern. Die württembergischen Landwirtschaftsschulen in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart-Tübingen 1978, S. 28. <?page no="210"?> S TE F FEN K AIS ER 210 Fachwissen in den Bereichen Pflanzenbau und Tierzucht gehörten hier auch Hilfsfächer wie Mathematik, Betriebswirtschaft und deutsche Sprache dazu, um Flächenberechnungen, Buchführung und Schriftverkehr ebenfalls sicher zu beherrschen. 13 In der praktischen Ausbildung wurde die Gespann- und Handarbeit gelehrt. In den ersten Jahren wurde mit dem Ochsengespann gefahren, danach auch mit dem Pferdegespann. Die Handarbeiten bestanden aus der Anlage von Komposthäufen, dem Dungladen oder dem Herstellen der Kartoffelmieten, dem Säen verschiedenster Samen, Erntearbeiten sowie Rösten von Flachs und Hanf. Wiesenarbeiten wie die Entwässerung oder die Heuernte waren genauso Teil der praktischen Arbeit wie Arbeiten im Hopfengarten, das Dreschen und Putzen des Getreides oder der Umgang mit dem Vieh. Für die Arbeiten wurden die Schüler entlohnt, wobei sich ihr Verdienst an den Löhnen der Taglöhner orientierte. 14 Der Tagesablauf der Schüler unterschied sich im Sommerhalbjahr, das von April bis Oktober ging, vom Winterhalbjahr, das von November bis März reichte. 15 Der Zeitplan in Tabelle 1 war über lange Zeit hindurch gültig. Der theoretische Unterricht war im Winter umfangreicher als im Sommer, da der Arbeitsaufwand auf dem Gutsbetrieb geringer war. Während der Vegetationszeit war die Arbeit auf dem Gutsbetrieb zusätzlich zum Unterricht auf maximal zehn Stunden festgesetzt. Bei dringenden Arbeiten, wie zum Beispiel der Ernte, durfte die Arbeitszeit auch verlängert werden und der theoretische Unterricht für maximal vier Wochen entfallen. Im Winter waren fünf Stunden praktische Arbeit zusätzlich zum Unterricht angesetzt. Urlaub oder Ferien gab es nicht, konnten vom Vorstand allerdings bewilligt werden. Der Vorrang der praktischen Arbeit auf dem Gutsbetrieb brachte bei der theoretischen Ausbildung vor allem im Sommer Probleme. Gerade beim Abendunterricht oder in der Erntezeit war die Aufmerksamkeit der Schüler sehr schlecht, da sie durch die Arbeit auf dem Gutsbetrieb ermüdet waren. Das Unterrichtspensum wurde deshalb während dieser Zeiten reduziert. Die Schüler erhielten die Möglichkeit, sich selbst zu beschäftigen. 16 13 Vgl. J ÖRN S IEGLERSCHMIDT , Die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion 1880 - 1920 in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung Nordostwürttembergs, in: P ETER S CHIFFER (Hg.), Wasserrad und Dampfmaschine. Beiträge einer Arbeitstagung des Landesmuseums für Technik und Arbeit in Mannheim des Historischen Vereins für Württembergisch Franken und des Bildungshauses des Klosters Schöntal im Jahr 1997 (Forschungen aus Württembergisch-Franken 47), Stuttgart 2000, S. 39 - 52, hier 42f.; UA Hohenheim, 39/ 1 (2), Bl. 6, S. 16 - 17: Organische Bestimmungen für die Ackerbauschule in Hohenheim, [1865]. Zu den Stundenplänen siehe S. K AISER , Markt (Anm. 2), S. 320 - 324. 14 Vgl. G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7); UA Hohenheim, 39/ 1 (2), Bl. 6, S. 21 - 23: Organische Bestimmungen für die Ackerbauschule in Hohenheim, [1865]. 15 Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 33. 16 Vgl. K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 26f.; Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 66f. <?page no="211"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 211 Tabelle 1: Tagesplan der Ackerbauschulen im Sommer Tagesablauf im Winter 3.45 Uhr Aufstehen für Schüler, die Tiere füttern mussten 4.45 Uhr 4.45 Uhr Allgemeines Wecken 5.45 Uhr 5.00 - 5.45 Uhr Unterricht 6.00 - 6.45 Uhr 5.45 - 6.00 Uhr Frühstück 6.45 - 7.00 Uhr 6.00 - 11.30 Uhr praktische Arbeiten 7.00 - 11.30 Uhr 11.30 - 13.00 Uhr Mittagessen u. Pause 11.30 - 13.00 Uhr 13.00 - 18.00 Uhr praktische Arbeiten 13.00 - 17.00 Uhr 18.00 - 19.00 Uhr Abendessen 17.00 - 18.00 Uhr 19.00 - 20.00 Uhr Unterricht 18.00 - 20.00 Uhr Lernstunden und Ausgang bis 21.00 Uhr bzw. 22.00 Uhr Quelle: K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 27. Die Ackerbauschulen waren erfolgreich. Das lässt sich anhand der stetig steigenden Bewerberzahlen ablesen, die aufgrund der guten Quellenlage für die Ackerbauschule in Hohenheim für die 1840er und frühen 1850er Jahre sehr schön nachzuvollziehen sind. 17 Die Regularien zur Aufnahme wurden bereits in den Werbetexten, die in den auflagenstärksten württembergischen Zeitungen sowie im landwirtschaftlichen Wochenblatt abgedruckt wurden, aufgeführt. 18 Neben der unentgeltlichen Aufnahme der Zöglinge wurde auf das Mindestalter von 17 Jahren verwiesen, die Fähigkeit zu körperlicher Arbeit sowie Kenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen. Außerdem war die landwirtschaftliche Herkunft eines Bewerbers ein wichtiges Kriterium für seine Aufnahme, da die heimische Landwirtschaft durch umfassend ausgebildete Hofnachfolger, Gutsaufseher oder Oberknechte modernisiert werden sollte. 19 Jedoch stellte sich schnell heraus, dass in die Ackerbauschulen nicht nur 17 G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7). Die Bewerberzahlen zwischen 1841 und 1850 variierten in Hohenheim zwischen 22 und 42 Bewerbern. Vgl. dazu S. K AISER , Markt (Anm. 2), S. 84 - 88. 18 Aufnahme von Lehrlingen in die Ackerbauschule, in: Schwäbischer Merkur Nr. 156 vom 2.7.1850. Noch 1908 hatten sich die Voraussetzungen zur Aufnahme in die Ackerbauschule im Grundsatz nicht verändert. Vgl. dazu Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 66. 19 Wochenblatt für Land- und Forstwirthschaft, hg von der Königlich Württembergischen Zentralstelle für die Landwirtschaft, (1851), S. 50. <?page no="212"?> S TE F FEN K AIS ER 212 Söhne aus dem Bauernstand aufgenommen wurden. Besser gebildete Bewerber verdrängten oftmals die Bauernsöhne in den Aufnahmeverfahren. Grund für deren Interesse an einer Ausbildung in der Ackerbauschule war die Aussicht auf einen guten Posten als Gutspächter oder im Behördenapparat. Obwohl in der Aufnahmeprüfung nicht nur in der Schule erworbene Kenntnisse abgefragt wurden, sondern auch praktische, bei der Feldarbeit nötige Fähigkeiten geprüft wurden, scheint die Art dieser Prüfung die Bauernsöhne keinesfalls bevorzugt zu haben. Um diese Missstände zu beheben, ließ die Zentralstelle für die Landwirtschaft 1851 verschiedene Änderungen im Bewerbungsverfahren umsetzen. Bewerber mit landwirtschaftlicher Herkunft, die die Möglichkeit zur Übernahme eines eigenen Betriebes oder von Pachtflächen hatten, sollten auch mit schlechteren Prüfungsergebnissen bevorzugt werden. Gab es solche Kandidaten nicht oder zu wenige, sollten auch Bewerber, die nicht aus der Landwirtschaft stammten, bei guten Qualifikationen zugelassen werden. 20 Allerdings bezeugen die tabellarischen Zusammenstellungen der Bewerber der Hohenheimer Ackerbauschule zwischen 1841 und 1850, dass bereits vor 1851 die Kandidaten verstärkt nach ihrer landwirtschaftlichen Herkunft wie auch theoretischen und praktischen Fähigkeiten eingestuft wurden. 21 In einer Vorprüfung wurden die praktischen Kenntnisse, die körperliche Fitness sowie die theoretischen Leistungen überprüft. 22 Wichtig waren trotz allem die Vermögensverhältnisse. Zwar kostete die Schule seit der Einrichtung der Jubiläumsstiftung von 1842 kein Lehrgeld mehr, jedoch musste für Verpflegung und Unterbringung an jedem Monatsende bezahlt werden. Dies konnte über die verpflichtende Mitarbeit im Gutsbetrieb abgegolten werden, da die Schüler hierfür einen Taglöhnerlohn erhielten. Trotzdem war der Zentralstelle ein liquides Elternhaus wichtig, falls der erarbeitete Lohn der Schüler nicht ausreichte, um die anfallenden Kosten zu tragen. Ärmere Bewerber hatten zudem die Möglichkeit, aus dem Unterstützungsfonds der Jubiläumsstiftung einen Zuschuss für den Schulbesuch zu erhalten. 23 Allerdings bildete die staatliche Unterstützung die Ausnahme. Waren genügend Kandidaten vorhanden, wurden die Vermögenden vorgezogen. Diese Privilegierung war einer der größten Kritikpunkte an den Ackerbauschulen, der immer wieder von verschiedenen Seiten vorgebracht wurde. 24 20 HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Kultministerium an den König, 10.1.1851. 21 UA Hohenheim, 39/ 1 (2), Bl. 6: Organische Bestimmungen für die Ackerbauschule in Hohenheim, [1865]. 22 Diese umfasste schriftliche Aufgaben und praktische Übungen. Erstes war unterteilt in Schönschreiben, Rechtschreibung, Aufsatz schreiben und Rechnen von vier Aufgaben. Der praktische Teil umfasste Pflügen, Anschirren, Mähen und Dreschen; StA Ludwigsburg, E 171, Bü 369, Bl. 22: Institut Hohenheim an die Centralstelle, 6.9.1845. 23 UA Hohenheim, 39/ 4.1: Zentralstelle an die Institutsdirektion Hohenheim, 16.6.1854. 24 StA Ludwigsburg, E 171, Bü 369, Bl. 46: Tabellarische Übersicht der Bewerber für die Ackerbauschule Hohenheim, 2.8.1847. <?page no="213"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 213 3. Von Schulabbrechern und behördlichen Differenzen Ausbildung, Vergütung und Verpflegung waren zwar umfassend geregelt, trotzdem war die Zahl der Schulabbrecher von Beginn an hoch und bereitete den Behörden Sorgen und Probleme. 25 Es wurden familiäre oder berufliche Gründe genannt, die ein vorzeitiges Ausscheiden aus der Ackerbauschule notwendig machten. 26 Eine Rolle mag dabei auch gespielt haben, dass der Schulabschluss nicht zwingend erforderlich war, um einen landwirtschaftlichen Beruf zu ergreifen oder einen Hof zu übernehmen. Die hohe Fluktuation führte in Hohenheim dazu, dass ab 1849 elf Bewerber anstatt acht vorgeschlagen wurden, da die Erfahrung der vorigen Jahre gezeigt hatte, dass während des Jahres immer ein oder zwei Zöglinge abspringen würden. 27 Um die hohe Abbruchrate zu reduzieren, hatten Schüler der Ackerbauschule, die bereits in den ersten Monaten der Ausbildungszeit wieder austraten, bis 1864 für ihren Aufenthalt anteilig nach ihren anwesenden Tagen eine Gebühr zu entrichten. Wer vor Abschluss der dreijährigen Lehrzeit die Schule verließ, bekam für jedes absolvierte Schuljahr 80 fl. berechnet. 28 Ab 1864 wurde pauschal der Einzug einer Vierteljahresrate von 37 fl. 30 kr. erhoben (ein Lehrjahr kostete nun 150 fl.). Mit diesen Maßnahmen sollten die Schüler vom Ausbildungsabbruch abgehalten werden. Auch beim Wegzug ins württembergische Ausland mussten die Schulkosten zurückerstattet werden. Gelang dies nicht, waren die entstandenen Kosten gedeckt. 29 Bestätigt wird die hohe Abwanderung durch eine Abfrage der Tätigkeitsfelder der Ackerbauschüler nach ihrer Schulzeit, die 1853 und 1860 im Auftrag des Kultministeriums vorgenommen wurde. Knapp die Hälfte der Absolventen war in Württemberg in der Landwirtschaft tätig. Mit 9 % 1853 und 6 % 1860 war der Anteil von Ackerbauschülern, die außerhalb Württembergs Arbeit fanden, hoch. Die übrigen gut 40 % der Schüler hatten ein Auskommen außerhalb der Landwirtschaft gefunden. Trotz der aufgrund dieser Umfrage beschlossenen Rückzahlung der Ausbildungskosten analog zu den Vorgaben bei frühzeitigem Ausbildungsabbruch, änderte sich an der Gesamtsituation jedoch nichts. Die Fluktuation blieb bis zum Ersten Weltkrieg hoch. 30 25 UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 1: Zentralstelle an die Institutsdirektion Hohenheim, 20.11.1863. 26 Vgl. dazu verschiedene Schreiben der Jahre ab 1852 in: StA Ludwigsburg, E 171, Bü 369. 27 StA Ludwigsburg, E 171, Bü 369, Bl. 57: Institut Hohenheim an die Zentralstelle, 1.8.1849. 28 StA Ludwigsburg, E 171, Bü 369: Haus- und Schulordnung für die Lehrlinge der Ackerbauschule in Hohenheim. 29 UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 2: Zentralstelle an die Institutsdirektion Hohenheim, 11.2.1864. 30 Vgl. G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7); HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Kultministerium an den König, 17.11.1853; ebd.: Kultministerium an den König, 17.11.1853. <?page no="214"?> S TE F FEN K AIS ER 214 Die Erhebung von 1860 unterteilt die praktizierenden Landwirte zudem noch in drei weitere Kategorien: Gerade einmal die Hälfte der Schüler arbeitete auf eigenen oder väterlichen Gütern. Als Pächter oder auf Pachtgütern der Eltern tätig waren circa 13 % der im Inland beschäftigten Ackerbauschüler. Gut ein Drittel dieser Gruppe arbeitete als Verwalter, Angestellter oder Oberknecht. Diejenigen, die im württembergischen Ausland eine Stelle fanden, wirkten dort vor allem als Verwalter und Aufseher. Nur knapp 10 % dieser Gruppe waren Pächter eines Guts; eigene Gutsbesitzer oder Landwirte waren nur drei Schüler. 31 Die Erhebungen von 1853 und 1860 bestätigen damit, dass das ursprünglich intendierte Ziel der Ackerbauschulen, zukünftige Verwalter, Pächter oder Eigentümer größerer landwirtschaftlicher Güter auszubilden, erreicht wurde. Nicht eine breite Ausbildung der landwirtschaftlichen Bevölkerung war das Ziel der Ackerbauschulen, sondern die bessere Ausbildung der landwirtschaftlichen Elite, damit die Absolventen auf ihren Gütern vorbildhaft den benachbarten Landwirten Neuerungen der Agrarwissenschaften durch praktische Anschauung vor Augen führen konnten. Jedoch fanden viele Ackerbauschüler besser bezahlte Stellen außerhalb Württembergs oder schlugen eine Behördenlaufbahn ein. So funktionierten die Ackerbauschulen oft als Sprungbrett für eine Karriere in der Landwirtschaftsverwaltung. 32 Der hohe Anteil ausgewanderter Schüler verweist jedoch auf die gute Ausbildung, die den Ackerbauschulen zugeschrieben und auch im Ausland anerkannt wurde. In den Anfangsjahren der Schulen wurden die Kompetenzüberschneidungen staatlicher Stellen bei den Ackerbauschulen in Ellwangen, Kirchberg und Ochsenhausen deutlich. Bei der Neuvergabe der Vorstandsstellen führten die Mitspracherechte der einzelnen Behörden zu Problemen. In der Hauptsache unterstanden die Ackerbauschulen der Zentralstelle für die Landwirtschaft und damit letztendlich dem Innenministerium. Später kam jedoch das Ministerium des Kirchen- und Schulwesens als für Kultusfragen zuständige Oberbehörde hinzu. Da mit der Stelle des Schulvorstands in Ochsenhausen und Ellwangen die reduzierte Pacht der Domäne verbunden war, waren hier auch das Finanzministerium sowie die Domänenkammer involviert. In Kirchberg hatte man von diesem Vorgehen abgesehen. Hier bezahlte das Kultministerium das Gehalt des Vorstands aus seinem Etat. Zu Differenzen kam es, als in Ochsenhausen der Pächter und Vorstand sich über die Höhe der Pacht 31 G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7). 32 HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Finanzministerium an den König, 14.9.1850. Neben den Zöglingen waren auch für die Vorstände der Ackerbauschulen Aufstiegsmöglichkeiten in der Landwirtschaftsverwaltung möglich. Die späteren Hohenheimer Institutsdirektoren Heinrich Pabst, Gustav Walz und Hermann Werner begannen ihre Karrieren jeweils mit der Leitung einer Ackerbauschule, ebenso der Tübinger Professor für Land- und Forstwirtschaft Heinrich Weber. Vgl. HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Kultministerium an den König, 31.10.1853; ebd.: Kult- und Finanzminister an den König sowie Antwort, 4.12.1850. <?page no="215"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 215 beschwerte und als Vorstand der Ackerbauschule zurücktrat, nachdem kein Kompromiss mit der Domänenkammer gefunden werden konnte. 33 Das Finanzministerium regte daher an, vor der Neubesetzung der Vorstandsstelle die Zuständigkeiten für die drei Ackerbauschulen Ellwangen, Ochsenhausen und Kirchberg neu zu regeln, um zukünftig bei anstehenden Besetzungsverfahren weniger Stellen beteiligen zu müssen. Der Vorschlag sah eine Reformierung der Zuständigkeiten nach dem Vorbild der Hohenheimer Ackerbauschule vor. Dort waren Domäne und Schule der Zentralstelle für die Landwirtschaft unterstellt, als übergeordneter Behörde jedoch dem Ministerium des Kirchen- und Schulwesens. Die für die Verpachtung zuständige Domänenkammer sollte nach Auffassung des Finanzministeriums in Zukunft ihre Pachtsumme, so wie in Kirchberg bereits üblich, direkt aus dem Etat des Kultministeriums erhalten und damit ebenso wie das Innenministerium nicht mehr in die Vergabe der Vorstandsstellen involviert sein. Der Vorschlag des Finanzministeriums wurde 1853 umgesetzt. Damit war das Kultministerium ab diesem Zeitpunkt allein verantwortlich für das landwirtschaftliche Schulwesen und die Zentralstelle für die Landwirtschaft als Mittelbehörde diesem unterstellt. 34 Die Hohenheimer Ackerbauschule blieb auch nach 1853 von diesen Änderungen unberührt, war Teil der Akademie und hatte eigene organisatorische Regelungen, die sich von denen der anderen Ackerbauschulen unterschieden. 35 4. Winterschulen: Bildungseinrichtung für die kleinen Betriebe Die geringen Schülerzahlen der vier Ackerbauschulen und deren Ausrichtung auf vermögende Bauernsöhne ließ eine Lücke für die überwiegende Mehrheit der württembergischen Landwirte entstehen, deren Betriebe und Vermögensverhältnisse eine dreijährige Vollausbildung mehrheitlich nicht zuließen. Dabei handelte es sich vor allem um Betriebe zwischen einem und zehn Hektar Fläche, die in Württemberg immerhin 55 % ausmachten. Dieser großen Gruppe blieben lange Jahre nur die als Abendveranstaltungen durchgeführten Fortbildungskurse. Die Winterschulen als neuer Schultyp sollten diese Lücke nun schließen. 36 Deren Konzept sah vor, in zwei 33 HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Kult- und Finanzministerium an den König, 17.11.1853. 34 HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Kult- und Finanzministerium an den König, 17.11.1853. 35 Vgl. UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 38: Organische Bestimmungen der Ackerbauschule Hohenheim, [1896]; StA Ludwigsburg, E 171, Bü 369: Haus- und Schulordnung für die Lehrlinge der Ackerbauschule in Hohenheim. 36 Zu den Betriebsgrößen vgl. K ULL , Die Vertheilung des landwirtschaftlich benützten Grundbesitzes in Württemberg nach der Aufnahme vom 10. Januar 1873, in: WJB 1881, I, S. 1 - 237, hier 58f. Vgl. zu den Fortbildungskursen Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), <?page no="216"?> S TE F FEN K AIS ER 216 Winterhalbjahren ganztägig theoretisches Wissen zu vermitteln. Im ersten Jahr standen Grundlagen in allgemeiner Schulbildung und Naturwissenschaften auf dem Lehrplan, im zweiten Jahr die landwirtschaftlichen Fächer. Diese Unterrichtsform ermöglichte es den Schülern, in der arbeitsintensiven Sommerzeit auf den elterlichen Betrieben arbeiten zu können. 37 1835 hatte der Fellenberg-Schüler Wilhelm Albrecht nahe Wiesbaden die erste Winterschule gegründet, womit Hofwyl auch bei dieser Schulart Vorbild war. 38 Der spätere Hohenheimer Direktor Rau schrieb 1864 eine Denkschrift zur Einrichtung landwirtschaftlicher Winterschulen. Er sprach dieser Schulart den großen Vorteil zu, dass die Landwirtssöhne hier nur im Winter dem Hof fernblieben, und reagierte damit auf einen der meistgenannten Kritikpunkte an den Ackerbauschulen mit ihrer dreijährigen Vollausbildung. Während sowohl die Gründung der Akademie Hohenheim, als auch die der Ackerbauschulen das Ziel hatte, Multiplikatoren für die Weitergabe landwirtschaftlicher Neuerungen auszubilden, sprach Rau nun davon, dass die Winterschulen das Ziel der breiten Bildungsverbesserung auf dem Land erreichen könnten. 39 Diese Einschätzung veränderte den Blickwinkel der Schulpolitik, der sich langsam in Richtung einer flächendeckenden Berufsausbildung wandelte. 1865 richtete Baden eine landwirtschaftliche Winterschule ein. Deren Abschlussprüfung 1868/ 69 besuchte eine Abordnung der württembergischen Zentralstelle für die Landwirtschaft. Sie beurteilte den neuen Schultyp positiv, worauf die Zentralstelle beim Kultministerium die Erlaubnis zur Gründung einer Winterschule erbat und bereits 1869 erhielt. 40 Noch im selben Jahr wurde die erste württembergische Winterschule in Ravensburg gegründet. 41 Vorgesehen war, dass die Städte die Räumlichkeiten stellen, die Bezirksvereine oder betreffende Amtsorganisationen die Kosten decken und der württembergische Staat die Personalkosten tragen sollte. 42 Zur S. 101f., und die Bestände HStA Stuttgart, E 14, Bü 1505; UA Hohenheim, 39/ 20.3 (2); UA Hohenheim, 3*/ 84.02.02; UA Hohenheim, 3*/ 84.02.09. 37 Vgl. 100 Jahre Landwirtschaftsschule (Anm. 5), S. 11; F. U EKÖTTER , Wahrheit (Anm. 4), S. 102; G UNTER M AHLERWEIN , Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 3: Die Moderne (1880 - 2010), Köln u. a. 2016, S. 142; A LOIS S EIDL , Deutsche Agrargeschichte, 2. Aufl. Frankfurt/ Main 2014, S. 163; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 1: Kultministerium an das Innenministerium, 4.3.1875. 38 R UDOLF B ÜHLER , Die landwirtschaftlichen Wanderlehrer als Vermittler landwirtschaftlichen Wissens, in: K. H ERMANN / H. W INKEL (Hg.), Vom »belehrten« Bauern (Anm. 4), S. 53. 39 Regierungspräsidium Freiburg, Landwirtschaftsschule Baden 1973, S. 10f. 40 Vgl. 100 Jahre Landwirtschaftsschule (Anm. 5), S. 10; K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 38. 41 R. B ÜHLER , Wanderlehrer (Anm. 38), S. 54f. Sie entstand zunächst als Provisorium, das 1874 verstetigt wurde. Bis 1886 wurde pro Jahr ein Kurs abgehalten; K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 173. 42 HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 1: Kultministerium an das Innenministerium, 4.3.1875. <?page no="217"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 217 Sicherung des Schulbesuchs und zur Kostenverteilung hatten sich die Oberämter Leutkirch, Ravensburg, Riedlingen, Saulgau, Tettnang, Waldsee und Wangen zusammengeschlossen. Dieser Zusammenschluss deckte den gesamten südlichen Teil des württembergischen Oberschwabens ab. Mit 35 Schülern zwischen 15 und 25 Jahren wurde der Unterricht am 22. November aufgenommen. 43 Bei der ersten Abschlussprüfung in Ravensburg waren viele Vertreter württembergischer Bezirksvereine anwesend. Deren Eindruck muss positiv gewesen sein, da innerhalb kürzester Zeit bei der Zentralstelle für die Landwirtschaft neue Winterschulen beantragt wurden. So folgte 1870 die Winterschule in Reutlingen, für die sich die Oberämter Herrenberg, Münsingen, Nürtingen, Rottenburg, Reutlingen, Tübingen und Urach zusammenschlossen. Ebenso wie Ravensburg wurde diese Schule zu Beginn einklassig geführt. Sie nahm ihren Betrieb mit 20 Schülern auf. Bereits ein Jahr darauf folgte eine Schulgründung in Heilbronn, die als Schulbezirk die Oberämter Besigheim, Brackenheim, Heilbronn, Neckarsulm und Weinsberg umfasste. Im ersten Jahr folgten anstatt der erhofften 40 Schüler nur 21 den Werbeaufrufen. Die Winterschule in Hall folgte erst 1872, da die umliegenden Oberämter sich nicht hatten einigen können. Denn das Oberamt Ellwangen sah gänzlich andere landwirtschaftliche Voraussetzungen in seinem Bezirk als in Hall und wollte daher zunächst eine eigene Schule einrichten. Erst nachdem sich die Oberämter Crailsheim, Gerabronn und Mergentheim für die Schulgründung in Hall aussprachen, konnte die Winterschule 1872 mit 17 Schülern starten. 44 Die Anmeldung zu den Kursen erfolgte direkt bei den Schulleitern der Winterschulen. Die Schüler mussten 16 Jahre alt sein. Ihre Vorkenntnisse waren durch eine Vorprüfung zu bestätigen und die Schüler benötigten ein Schulzeugnis sowie eine Einwilligung des Erziehungsberechtigten zum Eintritt. Für Kost und Logis mussten die Zöglinge selbst aufkommen. Das Schulgeld von 20 bis 30 Mark pro Kurs übernahmen jedoch die landwirtschaftlichen Bezirksvereine oder Amtskörperschaften. 45 43 K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 40. 11 Schüler stammten aus dem Oberamt Ravensburg, 5 aus dem Oberamt Waldsee, aus den Oberämtern Leutkirch 2, Laupheim 1, Blaubeuren 1, Göppingen 1, Geislingen 2, Biberach 1, Riedlingen 3, Saulgau 3 und Tettnang 4. Damit nahmen auch Schüler aus Oberämtern, die sich finanziell nicht an der Schule beteiligten, am Unterricht teil; K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 173. 44 Vgl. K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 40 - 42; R. B ÜHLER , Wanderlehrer (Anm. 38), S. 54f.; M AX F LAD , Professor Dr. Julius von Leemann. 1839 - 1913. Ein Beitrag zur Geschichte des Genossenschaftswesens in Württemberg, Stuttgart 1989, S. 16. 45 Vgl. Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 90; Landkreis Heilbronn, Landwirtschaftsschule Heilbronn, Heilbronn 1982, S. 11; M. F LAD , Leemann (Anm. 44), S. 16. <?page no="218"?> S TE F FEN K AIS ER 218 Innerhalb von drei Jahren sind in allen vier Kreisen Winterschulen entstanden, die dann auch dem jeweiligen Kreis zugeordnet wurden. 46 Bereits 1869 hatten die Oberämter Ulm, Biberach, Ehingen, Laupheim, Blaubeuren, Geislingen und Heidenheim die Gründung einer Schule in Ulm beschlossen. Da ein dazu benötigtes Gut bei Böfingen jedoch bis 1872 verpachtet war, konnte diese Schule erst in diesem Jahr starten. Ein bestimmter Kreis wurde der Schule vorerst nicht zugeordnet. 47 Die für die Unterhaltung der Winterschulen zusammengeschlossenen Oberämter deckten den gesamten Donaukreis, jedoch nur die nördlichen Teile des Neckar- und Jagstkreises sowie den östlichen Teil des Schwarzwaldkreises ab. Im Donaukreis mit seinen größeren Betrieben fand die Professionalisierung der Landwirtschaft große Unterstützung. Das lässt sich auch an anderen Reformbestrebungen wie der Gründung von Genossenschaften oder der Durchführung von Flurbereinigungen erkennen, die im Donaukreis auf großes Interesse stießen und rasche Umsetzung fanden. Warum landwirtschaftliche Vereine und Betriebe im betriebsgrößenmäßig ähnlich strukturierten Jagstkreis bei den Schulgründungen wie auch in Fragen der Flurbereinigung deutlich weniger Engagement zeigten, bleibt Spekulation. Im Neckarkreis war aufgrund der Realteilung die Landwirtschaft oft nur Zuerwerb, das hauptsächliche Auskommen wurde im Handwerk oder in der wachsenden Industrie erzielt. Eine Ausbildung der Kinder im Winter war meist nicht möglich, da sie in Lohn und Brot standen. Für den nördlichen Teil des Schwarzwaldkreises wurde das Fehlen einer gut erreichbaren Winterschule jedoch früh kritisiert. Reutlingen lag für viele Interessenten aus dem Donau- und Neckarkreis deutlich näher als für solche aus dem Schwarzwaldkreis. 48 Die Zahl der Schüler an den Winterschulen nahm in den folgenden Jahren stark zu. Die meisten Schüler stammten aus kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betrieben. Dies unterstrich nach Auffassung der Zentralstelle für die Landwirtschaft das Bedürfnis nach solchen Schulen im mehrheitlich kleinparzellierten Württemberg. In den 1890er Jahren kam es zu weiteren Schulgründungen, wodurch auch die Lücken in der Erreichbarkeit der Schulen geschlossen wurden. 1896 wurde in Schwäbisch Gmünd eine weitere Schule im Jagstkreis gegründet, in Leonberg ein Jahr später. 1892 folgte eine Winterschule in Rottweil, mit der nun auch der nördliche Teil des Schwarzwaldkreises einen zentralen Schulstandort erhielt. 1913 wurde eine Schule 46 Vgl. R. B ÜHLER , Wanderlehrer (Anm. 38), S. 56; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1617: Kultminister an den König, 22.8.1891. 47 Vgl. K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 42; R. B ÜHLER , Wanderlehrer (Anm. 38), S. 54f. 48 S. K AISER , Markt (Anm. 2), S. 107f., 222. <?page no="219"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 219 in Riedlingen eröffnet. Weitere Gründungen waren zu diesem Zeitpunkt bereits vorgesehen, wurden jedoch durch den Kriegsausbruch 1914 nicht mehr realisiert. 49 Analog zu den Ackerbauschulen waren auch die Lehrpläne der Winterschulen nicht einheitlich, sondern wurden von den einzelnen Schulleitern festgelegt. Auch hier erfolgte erst um 1900 die Aufstellung eines gemeinsamen Unterrichtsplans für die Winterschulen. Der Lehrumfang ähnelte jedoch dem Pensum des theoretischen Teils an den Ackerbauschulen, womit eine Konkurrenz gegenüber den Ackerbauschulen angelegt war. 50 5. Die Schaffung der Stellen von Winterschul- und Wanderlehrern In der Anfangszeit der Winterschulen war die hohe Fluktuation der Landwirtschaftslehrer ein großes Problem. Da die Beschäftigung der Lehrer nur im Winterhalbjahr bestand, mussten diese für den Sommer nach anderen Arbeiten suchen, weil das Kursgehalt lediglich 600 fl. im Jahr 1875 betrug. Diese Unsicherheit sorgte für einen steten Wechsel bei den Lehrkräften, da diese kündigten, sobald sie eine ganzjährige Festanstellung fanden. 51 So verzeichnete die Reutlinger Winterschule zwischen 1871 und 1877 acht Vorstände, Schwäbisch Hall hatte im selben Zeitraum vier. Außerdem wechselten die Vorstände zwischen den einzelnen Winterschulen. In Ulm und Reutlingen gab es dagegen in diesem Zeitraum keine Ablösung. Ulm war an eine Domäne gebunden und in Reutlingen oblag die Leitung dem Gutspächter. 52 Die Problematik der großen Fluktuation war den zuständigen Stellen, und hier vor allem der Zentralstelle für die Landwirtschaft, bekannt, und so wurde bald nach der Gründung der Winterschulen nach einer Lösung gesucht. 53 Angestrebt wurde das in Baden bereits praktizierte System, die Vorstände im Sommer als Sachverständige und Wanderlehrer anzustellen. Nach längeren Verhandlungen zwischen dem Innen- und Kultministerium, bei denen es um die Frage der Bezahlung ging, konnte die ganzjährige Anstellung ab dem Jahr 1877 umgesetzt werden. Es entstanden vier 49 Vgl. Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 10), S. 88, 179; K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 44f., 128; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 9: Zentralstelle an das Innenministerium, 1.12.1876; ebd., Bl. 206: Kultministerium an das Innenministerium, 26.7.1892; ebd., Bl. 221: Kultministerium an das Innenministerium, 3.10.1893. 50 Vgl. K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 45; Landkreis Heilbronn, Landwirtschaftsschule (Anm. 45), S. 12; Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 92 - 96. 51 HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 1: Kultministerium an das Innenministerium, 4.3.1875. 52 Vgl. K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 141, 173 - 175; M. F LAD , Leemann (Anm. 44), S. 15; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 114: Kultministerium an das Innenministerium, 19.9.1887; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2066, Bl. 111: Zentralstelle an das Innenministerium, 12.5.1874. 53 M. F LAD , Leemann (Anm. 44), S. 15. <?page no="220"?> S TE F FEN K AIS ER 220 Stellen als Sachverständige und Wanderlehrer in Reutlingen, Ravensburg, Hall und Heilbronn. Lediglich die Winterschule in Ulm wurde ausgenommen. Der dortige Schulleiter hatte als Pächter eines Stiftungsgutes auch im Sommer sein Auskommen. 54 Die ganzjährige Festanstellung der Winterschullehrer als Sachverständige und Wanderlehrer brachte dann die erhoffte Beruhigung in das Personalkarussell der Winterschulen. 55 Die Verbindung der Berufe Wanderlehrer und Winterschullehrer bot sich durch die unterschiedlichen Arbeitszeiten an. Die Sachverständigen sollten nach den Vorstellungen der Zentralstelle den Kontakt mit den Bezirksvereinen halten und in Erfahrung bringen, welche Probleme in den einzelnen Regionen vorlagen, und Lösungen vorschlagen. 56 Neben einer allgemein beratenden Funktion waren die Wanderlehrer auch für die Unterstützung und Förderung der landwirtschaftlichen Vereine zuständig. Dies konnte in Form von Vorträgen geschehen. Außerdem sollten Genossenschaften in ihnen einen Ansprechpartner und Berater finden. In ihrer Position als Staatsbeamte fiel den Sachverständigen zusätzlich die Aufgabe zu, der Zentralstelle für die Landwirtschaft Monatsberichte sowie einen Jahresbericht über die Verhältnisse in ihrem Kreis und über ihre Tätigkeit zu verfassen. Als Sachverständige sollten sie zudem im landwirtschaftlichen Wochenblatt Artikel veröffentlichen. Daneben zählten zu ihren Aufgaben die Einrichtung von Ortsbibliotheken und die Beschäftigung mit aktuellen Themen wie die Beaufsichtigung der Reblausbekämpfung, die Durchführung von Exkursionen oder die Leitung von Flurbereinigungsverfahren. Schließlich fungierten sie als Schätzer für jegliche Schäden infolge von Naturereignissen, wobei an erster Stelle die Hagelschäden standen. Die große Aufgabenpalette der Sachverständigen und Wanderlehrer machte diese zu einem wichtigen Multiplikator landwirtschaftlicher Neuerungen - vorausgesetzt es gelang ihnen, Zugang zur landwirtschaftlichen Bevölkerung zu finden. 57 Letzteres scheint nicht ganz einfach gewesen zu sein. Neben der Motivation der Sachverständigen war dazu auch ein funktionierendes landwirtschaftliches Vereinswesen notwendig. 58 54 HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 1: Kultministerium an das Innenministerium, 4.3.1875. 55 Vgl. K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 115 - 117, 141 - 144, 173 - 175; M. F LAD , Leemann (Anm. 44), S. 24; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 126: Kultministerium an das Innenministerium, 30.1.1888; ebd., Bl. 114: Kultministerium an das Innenministerium, 19.9.1887; ebd., Bl. 16: Anbringen des Innen- und Kultministeriums an den König, August 1877. 56 Vgl. R. B ÜHLER , Wanderlehrer (Anm. 38), S. 46f.; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 156 - 159: Innenminister an den König, 12.10.1860. 57 Vgl. Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 112; R. B ÜHLER , Wanderlehrer (Anm. 38), S. 57; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 27: Instruction für die landwirthschaftlichen Wanderlehrer, 1877. 58 Vgl. HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 45: Zentralstelle an das Innenministerium, 28.3.1883; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 51: Erlass an die Zentralstelle, 20.6.1884. <?page no="221"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 221 6. Konkurrenz zwischen den Schulen Bei den Überlegungen zur Einführung der Winterschulen schwang immer wieder die Sorge mit, dass diese zur Konkurrenz für die Ackerbauschulen werden könnten. Da die Söhne durch die längere Militärzeit seit der Reichsgründung bereits drei Jahre von zu Hause fort waren, bedeutete eine Entscheidung für die Ausbildung an der Ackerbauschule weitere drei Jahre, in denen die Eltern auf ihre Söhne als wertvolle Arbeitskräfte verzichten mussten. Zumal gute Arbeitskräfte durch die zunehmende Rivalität der besser bezahlenden Industrie immer schwerer zu bekommen waren und immer teurer wurden. Seit 1849 wurde eine Reduzierung der Lehrzeit an den Ackerbauschulen von drei auf zwei Jahre daher immer wieder diskutiert. Solange jedoch die Bewerberzahlen an den Ackerbauschulen stabil blieben, sahen weder das Kultministerium noch die Zentralstelle für die Landwirtschaft einen Grund, etwas am bestehenden System zu ändern. Jedoch setzte sich bei der Zentralstelle für die Landwirtschaft seit der Gründung der Winterschulen die Meinung durch, besser frühestmöglich auf die Konkurrenzsituation zu reagieren und daher die Lehrzeit an den Ackerbauschulen auf zwei Jahre zu verringern. 59 Nach langen Verhandlungen zwischen Behörden, dem Landtag und den Schulvorständen der Ackerbauschulen wurde die Lehrzeit in Kirchberg ab 1872 zur Probe auf zwei Jahre gekürzt. Zentralstelle, Kultministerium und Schulvorstand war dabei bewusst, dass dies eine vermehrte Lehrtätigkeit mit sich brachte sowie eine Einschränkung der Arbeitsleistung der Schüler auf dem Gutsbetrieb. 60 Eine 1880 durchgeführte Untersuchung über die Leistungen der zweijährigen Ausbildung zeigte, dass die theoretischen Kenntnisse trotz weniger Lehrstunden dieselben, wenn nicht sogar bessere waren als an den dreijährig geführten Ackerbauschulen. Dies wurde nicht nur auf die guten Leistungen des Lehrkörpers zurückgeführt, sondern vor allem auf den Umstand, dass der gedrängte Unterricht größere Anstrengungen seitens der Schüler erforderte, um das Stoffpensum zu bewältigen. Deutliche Mängel beim zweijährigen Unterricht stellte die Zentralstelle hingegen bei der praktischen Arbeit fest, wobei diese vor allem bei der Gespannarbeit auftraten. Die Lehrzeitverkürzung führte in Kirchberg letztlich zu einer Erhöhung der Schülerzahlen. Die Bewerbungen überstiegen nun erstmals seit der Gründung die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze, während die Zahlen bei den anderen Ackerbauschulen rückläufig waren. Trotz dieser erkennbaren Vorteile wurde das Proviso- 59 Vgl. G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7); HStA Stuttgart, E 14, Bü 1616: Kultminister an den König, 12.8.1899; UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 21/ 2: Kultministerium an die Zentralstelle, 16.2.1871; ebd., Bl. 21/ 1: Zentralstelle an die Institutsdirektion Hohenheim, 17.2.1871. 60 Vgl. K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 28; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508, Bl. 21: Kultminister an den König, 30.6.1875. <?page no="222"?> S TE F FEN K AIS ER 222 rium in Kirchberg ab 1877 regelmäßig nur verlängert, während die anderen Ackerbauschulen nach dreijährigem System weiterbetrieben wurden. 61 Der Rückgang der Bewerberzahlen an den Ackerbauschulen setzte mit dem zunehmenden Arbeitskräftemangel auf dem Land ab den 1880er Jahren ein. Der Wegfall alter grundherrschaftlicher Aufenthalts- und Niederlassungsbeschränkungen führte auch in Württemberg zu einer zunehmenden Mobilität der Bevölkerung. Die fortschreitende Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schuf schließlich immer mehr Arbeitsplätze in städtischen Industriezentren. Viele besitzlose Landarbeiter wanderten daher in die Städte ab, wodurch es zu einem Arbeitskräftemangel auf dem Land kam. 62 Eine Lösung des Problems für die Ackerbauschulen schien die Lehrzeitverkürzung auf zwei Jahre zu bringen. Deutliche Schubkraft erhielt die Debatte, als sich anhand der Zahlen der bereits zweijährig unterrichtenden Kirchberger Schule zeigte, dass die dreijährige Ausbildung den Staat deutlich mehr kostete. Dies führte zusammen mit den guten Erfahrungen aus Kirchberg ab 1897 dazu, dass die Einführung der zweijährigen Lehrzeit an allen Ackerbauschulen wieder diskutiert wurde - nachdem das Kirchberger Provisorium bereits seit über 20 Jahren bestand. 63 Nach längeren Diskussionen zwischen Zentralstelle, Ministerien und landwirtschaftlichen Vereinen sowie Stellungnahmen der Vorstände der Ackerbauschulen wurde die Lehrzeit der drei Ackerbauschulen in Ellwangen, Ochsenhausen und Kirchberg ab 1899 auf zwei Jahre reduziert. Beschleunigt hatte die teils zögerliche bis ablehnende Haltung manchen Entscheidungsträgers der merkliche Rückgang der Bewerberzahlen an den dreijährig geführten Schulen. Auch Hohenheim, lange Zeit noch unantastbar in Bezug auf die Lehrzeit, stellte 1901 rückwirkend auf das vergangene Jahr auf die zweijährige Lehrzeit um, nachdem die Bewerberzahlen hier ebenfalls massiv eingebrochen waren. 64 61 Vgl. HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508, Bl. 35: Kultminister an den König, 27.2.1880; K. H OF - MANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 28; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508, Bl. 21: Kultminister an den König, 30.6.1875. 62 C HRISTOPH B ITTEL , Arbeitsverhältnisse und Sozialpolitik im Oberamtsbezirk Heidenheim im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte einer württembergischen Industrieregion, Bd. 1, Diss., Tübingen 1999, S. 29f. 63 HStA Stuttgart, E 14, Bü 1616: Kultminister an den König, 12.8.1899. 64 Vgl. G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7); K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 28; K. R ENNER , Ursachen (Anm. 4), S. 67; UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 32: Bericht des Vorstands Landerer in Ellwangen, 30.01.1897; ebd., Bl. 32: Bericht der Vorstands Schoffer in Kirchberg, 1.2.1897; ebd.: Bericht des Vorstands Köstlin in Ochsenhausen, 23.1.1897. Vgl. ebd.: Zentralstelle an die Mitglieder des Gesamtkollegiums, 5.2.1897; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1616: Kultminister an den König, 12.8.1899; UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 32: Zentralstelle an die Institutsdirektion Hohenheim, 19.10.1899; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1505: Kultministerium an den König, 6.8.1901; UA Hohenheim, 39/ 1 (3), Bl. 12: Kultministerium an die Institutsdirektion Hohenheim, 20.2.1900; ebd., Bl. 18: Kultmini- <?page no="223"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 223 Damit trugen alle vier Ackerbauschulen den neuen Verhältnissen Rechnung und konnten sich durch die Veränderungen der Lehrzeit weiterhin gegenüber den Winterschulen behaupten. Für die Bauernsöhne der größeren Betriebe blieb die Möglichkeit einer fachlich höhergestellten Ausbildung erhalten, und auch die Behörden profitierten von den gut ausgebildeten Fachkräften der Ackerbauschulen, die oftmals eine Behördenlaufbahn einschlugen. 7. Die Entwicklung der Schülerzahlen Zu der Anzahl der Schüler pro Jahr finden sich für die Ackerbauschulen nur wenige verwertbare Zahlen. Diese zeigen, dass die Schulen in Ellwangen, Ochsenhausen und Kirchberg je zwölf Schüler pro Jahr hatten, die Hohenheimer durchschnittlich 26. Neben brauchbaren Daten im Zeitraum von 1879 bis 1907 stellte das Ministerium des Kirchen- und Schulwesens 1853 zudem die Gesamtanzahl der Schüler in Hohenheim (ab 1840) sowie in Ellwangen und Ochsenhausen (jeweils ab 1843) zusammen. Außerdem sind aus dem Manuskript von Stengel für Hohenheim von 1818 bis 1861 die Gesamtschülerzahlen ersichtlich. Für die Schulen lässt sich daher eine annäherungsweise Berechnung der Gesamtschülerzahlen im Zeitraum von 1818 (Hohenheim), 1843 (Ellwangen und Ochsenhausen) sowie 1851 (Kirchberg) bis 1914 vornehmen. Hohenheim besuchten 1.714 Schüler, Ellwangen 721, Ochsenhausen 728 und Kirchberg 699. Insgesamt waren bis 1914 3.862 Schüler an den Ackerbauschulen. 65 Über die Schülerzahlen an den Winterschulen ist fast für den gesamten Untersuchungszeitraum kein belastbares Zahlenmaterial überliefert. Da die Zahlen bis 1900/ 01 immer für zehn Jahre zusammengefasst und erst danach pro Jahr aufgenommen wurden, lässt sich über die jährliche Entwicklung keine Aussage treffen. Es zeigt sich jedoch, dass spätestens ab dem Zeitraum 1889 bis 1898 die Schülerzahlen deutlich ansteigen. Dies bestätigt den zeitgenössisch wahrgenommenen Erfolg der Winterschulen. Des Weiteren wird ersichtlich, warum am Ende des 19. Jahrhunderts vier weitere Winterschulen gegründet wurden. Auch deren Schüsterium an die Institutsdirektion Hohenheim, 22.3.1900; ebd., Bl. 22, Kultministerium an die Institutsdirektion Hohenheim, 9.9.1901. 65 Vgl. S. K AISER , Markt (Anm. 2), S. 91, sowie Statistik des Unterrichts- und Erziehungswesens (1883), S. 13, 17f.; Statistik des Unterrichts- und Erziehungswesens (1884), S. 11; Statistik des Unterrichts- und Erziehungswesens (1885), S. 11, 16; Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 34; G. S TENGEL , Ackerbauschule (Anm. 7); HStA Stuttgart, E 14, Bü 1508: Kultministerium an den König, 17.11.1853; ebd.: Kultminister an den König, 13.11.1894; ebd.: Kultministerium an den König, 22.11.1895; ebd.: Kultministerium an den König, 24.11.1896. <?page no="224"?> S TE F FEN K AIS ER 224 lerzahlen nahmen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs konstant zu. In Ulm und Heilbronn wurden teilweise sogar Spitzenwerte von 76 bis 87 Schüler pro Winterhalbjahr erreicht. Es ist fraglich, ob eine solche Klassenstärke einen großen Lernerfolg brachte. Die Zahl von 9.445 ausgebildeten Schülern in fünf Jahrzehnten ist im Vergleich zu den 3.862 Schülern der Ackerbauschulen in circa 100 Jahren jedoch beachtlich. 66 Die Zunahme der Schülerzahl an den Winterschulen bestätigte bereits zeitgenössisch deren Notwendigkeit. Fort- und Ausbildungsmöglichkeiten wurden von vielen jungen Bauernsöhnen grundsätzlich angenommen. 67 Die zeitliche Beschränkung auf den Winter brachte diesem Schulsystem große Popularität ein, da der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft immer mehr zunahm. Die meisten Schüler der Winterschulen kehrten auf den elterlichen Betrieb zurück und brachten damit der württembergischen Landwirtschaft einen tatsächlichen Nutzen. Das traf auf die Absolventen der Ackerbauschulen nur teilweise zu. 68 Allerdings absolvierten die meisten Winterschüler nur den ersten Kurs, die wenigsten den sogenannten Oberkurs im zweiten Jahr. Da gerade in diesem schwerpunktmäßig auf die Landwirtschaft eingegangen wurde, fehlten dem Gros der Schüler fachspezifische Kenntnisse. Damit sollte der tatsächliche Erfolg der Ausbildung an den Winterschulen nicht zu positiv eingeschätzt werden. 69 8. Schlussbetrachtung 13.307 Schüler haben in rund 100 Jahren eine Ausbildung an einer Landwirtschaftsschule in Württemberg erhalten. Bei circa 300.000 landwirtschaftlichen Betrieben 70 in Württemberg und gewertet an diesem Zeitraum ist das eine geringe Anzahl. Nur gut 4 % der Betriebsleiter hatte eine Ausbildung, gegen Ende des Jahrhunderts 66 Vgl. Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 89; K. H OFMANN / D. H OLLERBACH , Entwicklung (Anm. 13), S. 44; HStA Stuttgart, E 14, Bü 1617: Kultminister an den König, 5.12.1901, 4.12.1908, 1.12.1909, 11.1.1912; ebd.: Kultministerium an den König, 2.12.1912; ebd.: Kultminister an den König, 20.12.1913; ebd.: Kultministerium an den König, 4.12.1914, 10.12.1915, 27.12.1916; ebd.: Kultminister an den König, 19.12.1917. Zu den Zahlen S. K AI - SER , Markt (Anm. 2), S. 116 - 118. 67 HStA Stuttgart, E 14, Bü 1617: Kultministerium an den König, 22.11.1895. 68 Vgl. 100 Jahre Landwirtschaftsschule (Anm. 5), S. 11; F. U EKÖTTER , Wahrheit (Anm. 4), S. 102; G. M AHLERWEIN , Grundzüge (Anm. 42), S. 142f.; Zentralstelle, Landwirtschaft (Anm. 9), S. 89; HStA Stuttgart, E 150, Bü 2067, Bl. 1: Kultministerium an das Innenministerium, 4.3.1875. 69 Diese Meinung vertritt auch F. U EKÖTTER , Wahrheit (Anm. 4), S. 100. 70 Das Württembergische Jahrbuch gibt für 1882 308.118 Betriebe in Württemberg an, für 1895 306.643; WJB 1897, III, S. 78. <?page no="225"?> V ON A C KER BAU - UND W INT ER S C HUL EN 225 dürfte die Zahl etwas höher gewesen sein. Geht man davon aus, dass die Söhne der Kleinstbetriebe bis ein Hektar Fläche keine Schule besuchten, so verbleiben noch 192.000 Betriebsleiter. Davon hätten dann gut 7 % eine Landwirtschaftsschule besucht. Auch hier lässt sich noch nicht von einer breiten Berufsausbildung sprechen. 71 Das landwirtschaftliche Schulwesen hatte es nicht erreicht, die riesige Anzahl von Betriebsleitern mitzunehmen. 72 In Württemberg waren jedoch Grundlagen geschaffen. Innerhalb eines Jahrhunderts hatte sich das landwirtschaftliche Schulwesen ausgeweitet und verändert. Die Ackerbauschulen boten eine umfassende Ausbildung, die auch für die Verwaltungslaufbahn befähigte und im In- und Ausland anerkannt wurde. Mit einer zweijährigen Ausbildung ab Beginn des 20. Jahrhunderts waren sie wieder attraktiv für Söhne größerer Betriebe. Die Winterschulen ermöglichten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Lehrangebot für Söhne kleinerer und mittlerer Betriebe. Durch diesen Schultyp gelang es, die Ausbildung in die Breite zu bringen, ein Ansinnen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch gar nicht angedacht war. Die Winterschulen schlossen damit die Lücke im Bildungssystem, die die Akademie in Hohenheim, die Ackerbauschulen sowie die abendlichen Fortbildungsschulen ließen, und weiteten den Kreis potentieller Schüler weiter aus. Eine fundierte landwirtschaftliche Fachbildung war nun für die allermeisten Bauernsöhne in Württemberg zeitlich sowie finanziell möglich. Das landwirtschaftliche Schulwesen hatte sich institutionalisiert, und aus diesen Schultypen entwickelte sich das landwirtschaftliche Berufsschulwesen des 20. Jahrhunderts. 73 71 Bezogen auf das Deutsche Reich schätzt Walter Achilles, dass maximal 10 % der landwirtschaftlichen Betriebsleiter eine fachspezifische schulische Ausbildung hatten. Die Ergebnisse aus Württemberg stützen diese Vermutung; vgl. W ALTER A CHILLES , Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung (Deutsche Agrargeschichte), Stuttgart 1993, S. 373. Die Betriebsgrößengruppen wurden 1873 aufgenommen. 36,01 % der landwirtschaftlichen Betriebe in Württemberg bewirtschafteten unter 1 Hektar Fläche; Zahlen nach K ULL , Vertheilung (Anm. 36), S. 58f. 72 F. U EKÖTTER , Wahrheit (Anm. 4), S. 104. 73 Das bestätigt die Annahme von Wilhelm Hudde, dass zwischen 1860 und 1920 »das Rahmengerüst eines landwirtschaftlichen und ländlich-hauswirtschaftlichen Bildungswesens entstand.« W ILHELM H UDDE , Die Ordnung des landwirtschaftlichen Schulwesens, in: D ERS ./ M ARTIN S CHMIEL (Hg.), Handbuch des landwirtschaftlichen Bildungswesens, München u. a. 1965, S. 137 - 161, hier 141. <?page no="227"?> II. Religion und Konfession <?page no="229"?> 229 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Universitätsbesuch und Seelsorge. Rekrutierung und Ausbildung von Priestern im frühneuzeitlichen Vorarlberg 1. Einleitung Peter Blickle hat das frühneuzeitliche Europa als einen »Kontinent der Pfarreien« bezeichnet. Allein für seine katholischen Teile gibt er deren Zahl mit rund 160.000 an. 1 Die Zahl der in ihnen tätigen Geistlichen betrug ein Vielfaches. Ihre Aufgaben und Funktionen beschränkten sich nicht allein auf die Seelsorge. Viele von ihnen übernahmen durchaus weltliche Aufgaben. Sie wirkten als Lehrer und in gewissen Kontexten auch als › verlängerter Arm ‹ der Landesherrschaft. Schon lange vor den Reformen Josephs II. agierten etliche von ihnen gleichsam als › Beamte im schwarzen Rock ‹ . Auch deswegen - nicht nur wegen der Verantwortung, die der Landesherr für das Seelenheil seiner Untertanen trug - musste der Ausbildung und Rekrutierung der Geistlichen eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen. Mit anderen Worten: Es lag im Interesse der Landesherrschaft, dass ausreichend gut ausgebildete Priester zur Verfügung standen. Die Möglichkeit des Landesherrn, Seelsorger zu rekrutieren, die seinen Vorstellungen entsprachen, unterschied sich allerdings deutlich von jener zur Auswahl von anderem Verwaltungspersonal, da die Bestellung und die Kontrolle der Priester nicht in seiner alleinigen Kompetenz lagen. Daher soll zunächst ein kurzer Blick auf die entsprechenden Rahmenbedingungen im frühneuzeitlichen Vorarlberg geworfen werden, um danach auf den Zustand der Priesterschaft und der Priesterausbildung zwischen Arlberg und Bodensee zu Beginn der Neuzeit einzugehen. Ein weiterer Abschnitt ist den Neuerungen in der Priesterausbildung, wie sie nach dem Konzil von Trient in Gang gesetzt wurden, und deren Wirkungen in Vorarlberg gewidmet. Zum Schluss soll noch kurz auf die Schullandschaft des Untersuchungsraums sowie auf die Bedeutung von Familientraditionen und regionalen Netzwerken für die Bildungskarrieren angehender Priester eingegangen werden. 1 P ETER B LICKLE , Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008, S. 90. <?page no="230"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 230 2. Rahmenbedingungen Das Gebiet des heutigen österreichischen Bundeslandes Vorarlberg stellt erst seit der Zuweisung zur Diözese Brixen im Jahr 1818 in kirchlicher Hinsicht eine Einheit dar. Während der Frühen Neuzeit verteilte es sich auf drei Diözesen: Der nördliche Teil bis etwa Altach gehörte zu Konstanz, der südliche zu Chur und ein kleines Gebiet im Nordosten, nämlich der Tannberg und das Kleinwalsertal östlich der Breitach, zu Augsburg. 2 In Raum Vorarlberg gab es zu Beginn des 16. Jahrhunderts 54 Orte mit eigenen Pfarreien. Von diesen gehörten 31 zur Diözese Chur, 21 zur Diözese Konstanz und zwei zur Diözese Augsburg. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erhöhte sich diese Zahl auf insgesamt 86. Die Anzahl der Pfarreien selbst lag etwas höher, da es insbesondere in den Städten mitunter mehrere gab. 3 Nachdem seit dem Spätmittelalter zahlreiche Frühmesspfründen und Kaplaneien gestiftet worden waren, können wir von der Existenz von gut 200 Pfründen in unserem Untersuchungszeitraum ausgehen. 4 Auch politisch stellte Vorarlberg in der Frühen Neuzeit keine Einheit dar. Mit Ausnahme der reichsunmittelbaren Territorien Hohenems, Lustenau und Blumenegg gehörten seit 1523 alle Teile des Landes dem Haus Österreich. Sie waren in die Vogteien Feldkirch, Bregenz, Bludenz-Sonnenberg und Neuburg gegliedert. 5 Unterhalb der landesherrlichen Ebene bestanden in den österreichischen Teilen Vorarlbergs seit Beginn des 17. Jahrhunderts 24 Gerichte, drei städtische und 21 bäuerliche. Sie bildeten die Vorarlberger Landstände. 6 2 Zusammenfassend: A LOIS N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg kompakt. 101 Fragen - 101 Antworten, Innsbruck 2017, S. 156 - 157; M ICHAEL F LIRI , Mission Vorarlberg. Geschichte des Christentums zwischen Bodensee und Arlberg, Innsbruck-Wien 2018, S. 135 - 154. 3 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2: Vorarlberg 1523 bis 1861. Auf dem Weg zum Land, Innsbruck 2015, S. 150 - 152; S IBYLLE M ERZ , Beiträge zur Vorarlberger Kirchengeschichte im Mittelalter, Dipl. Innsbruck (masch.) 2000, S. 169 - 177. 4 T HEODOR H AUSTEINER , Das kirchliche Patronatswesen in Vorarlberg, in: Montfort 9 (1957), S. 3 - 42, 230 - 252, sowie in: Montfort 10 (1958), S. 129 - 169. 5 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 3), S. 299f. 6 Zu den Vorarlberger Landständen vgl. A LOIS N IEDERSTÄTTER , Bürger und Bauern. - Die Vorarlberger Stände, in: P ETER B LICKLE (Hg.), Landschaften und Landstände in Oberschwaben. Bäuerliche und bürgerliche Repräsentation im Rahmen des frühen europäischen Parlamentarismus (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 5), Tübingen 2000, S. 119 - 131; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Die Anfänge der Vorarlberger Landstände. Zur Institutionalisierung konsensualer Herrschaftspraxis, in: Montfort 63/ 2 (2011), S. 21 - 29; U LRICH N ACHBAUR , Die Vorarlberger Landstände in ihrer Spätzeit. Aspekte der Verfassung, Verwaltung und Identität (Teil 1), in: Montfort 63/ 2 (2011), S. 31 - 67; D ERS ., Die Vorarlberger Landstände in ihrer Spätzeit. Aspekte der Verfassung, Verwaltung und Identität (Teil 2), in: Montfort 64/ 1 (2012), S. 5 - 43; A NTON B RUNNER , Die Vorarlberger Landstände von ihren Anfängen bis <?page no="231"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 231 Das Patronatsrecht war ganz unterschiedlich geregelt: Am häufigsten, in 53 Fällen, befand es sich in der Hand der Gemeinde oder in der eines der Klöster Mehrerau (30), Weingarten (10), St. Gallen (5), Einsiedeln (5), Valduna (2) und Kreuzlingen (1). Im Falle der Gemeinden handelte es sich dabei meistens um Frühmesspfründen oder Kaplaneien, nur selten dagegen um Pfarreien. Österreich verfügte als Landesherr in 18 Fällen über das Patronatsrecht, der Bürgermeister und der Rat einer der Städte in 17, einer der zuständigen Bischöfe ebenfalls in 17, der Dompropst in 13, die Reichsritter/ Reichsgrafen von Hohenems in sieben, der Ortspfarrer in fünf, der Stifter oder die Stifterfamilie in vier, eines der Domkapitel in zwei und Landammann, Rat und Gemeinde in einem Fall. Bei den restlichen Pfründen hatten mehrere Personen oder Institutionen das Patronatsrecht gemeinsam inne. 7 Wenn das Patronatsrecht Österreich zukam, muss berücksichtigt werden, dass die Vogteien häufig verpachtet wurden. So befanden sich etwa die Herrschaften Bregenz und Bludenz-Sonnenberg während der Reformationszeit praktisch ständig in den Händen der Hohenemser. 8 Auch für Vorarlberg lässt sich im ausgehenden Mittelalter ein deutlicher Anstieg der Volksfrömmigkeit beobachten. Dies äußerte sich u. a. in der Gründung neuer Pfarreien, vor allem aber in der Stiftung zusätzlicher Benefizien. Allein im 15. Jahrhundert wurden zehn neue Pfarreien errichtet. Dazu kam noch die Stiftung von acht Frühmesspfründen und über zwanzig Mess- oder Kaplaneipfründen. In der Mehrzahl der Fälle ging die Initiative für die Neuerrichtung von Pfarreien oder die Stiftung von Pfründen von den Gemeinden aus. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden fünf, im 17. Jahrhundert 18 und im 18. Jahrhundert neun neue Pfarreien errichtet. 9 Wenig überraschend, schienen reformatorische Ideen auch in Vorarlberg zunächst auf fruchtbaren Boden zu fallen. 10 Alle Versuche, die neue Lehre einzuführen, wurden jedoch von Seiten der Landesherrschaft rasch, energisch und erfolgreich unterdrückt. Dabei spielte insbesondere der bekannte Söldnerunternehmer Merk zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte des Vorarlbergs (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs und Liechtensteins 3), Innsbruck 1929. 7 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 4). 8 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 3), S. 299f. 9 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 2 (Anm. 3), S. 150 - 152, 185; S. M ERZ , Kirchengeschichte (Anm. 3), S. 169 - 177. 10 Beispielsweise: K ARL H EINZ B URMEISTER , Kulturgeschichte der Stadt Feldkirch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Geschichte der Stadt Feldkirch 2), Sigmaringen 1985, S. 174f.; D ERS ., Bludenz in der Zeit von 1420 bis 1550, in: M ANFRED T SCHAIKNER (Hg.), Geschichte der Stadt Bludenz. Von der Urzeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Bodensee-Bibliothek 39), Sigmaringen 1996, S. 101 - 160, hier 134 - 142; D ERS ., Der Reformator Markus Ammann aus Bludenz, in: Bludenzer Geschichtsblätter 54 (2000), S. 3 - 9. Zusammenfassend: M. F LIRI , Mission Vorarlberg (Anm. 2), S. 91 - 102. <?page no="232"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 232 Sittich I von Hohenems, der in den entscheidenden Jahren als österreichischer Vogt in den Herrschaften Bregenz, Bludenz und Sonnenberg amtierte, eine wichtige Rolle. 11 Es gab zwar noch jahrzehntelang in verschiedenen Teilen des Landes eine Art Kryptoprotestantismus, offene kirchliche Organisationsformen konnte dieser freilich keine aufbauen. 12 Die bekannten, der Reformation nahestehenden Geistlichen wurden aus den österreichischen Herrschaften vor dem Arlberg und ebenso aus den reichsunmittelbaren Territorien Vorarlbergs verbannt. Dies führte zum › Exodus ‹ von mindestens 30 Priestern. Etliche von ihnen wirkten in der Folge in der Eidgenossenschaft, im Elsass sowie im Süden und Südwesten des Alten Reiches bei der Einführung der Reformation mit. 13 Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von etwa 30.000 wog dieser personelle Aderlass schwer, zumal er in eine Zeit fiel, in der der Bedarf an kompetenten Seelsorgern besonders groß war. Er war mit dafür verantwortlich, dass es »[i]m Gefolge der Reformation« auch im Gebiet Vorarlbergs zu 11 Zu seiner Person vgl. L UDWIG W ELTI , Merk Sittich und Wolf Dietrich von Ems. Die Wegbereiter zum Aufstieg des Hauses Hohenems (Schriften zur Landeskunde Vorarlbergs 4), Dornbirn 1952; K AREL M ENHART , Anfänge der Reformation in Vorarlberg. Um die Rolle von Märk Sittich von Hohenems, in: Montfort 30 (1978), S. 79 - 87. 12 Zum Bregenzerwald: H ILDEGUND G ISMANN -F IEL , Das Täufertum in Vorarlberg (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs 4), Dornbirn 1982. Zu Bregenz: L UDWIG W ELTI , Graf Jakob Hannibal I. von Hohenems 1530 - 1587. Ein Leben im Dienste des katholischen Abendlandes, Innsbruck 1954, S. 176. 13 Dazu: K ARL H EINZ B URMEISTER , Thomas Gassner. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und des Humanismus in Lindau (Neujahrsblatt des Museumsvereins Lindau 21), Lindau 1971; D ERS ., Vorarlberger Reformatoren (Ausstellungskatalog des Vorarlberger Landesarchivs 1), Bregenz 1982; D ERS ., Kulturgeschichte (Anm. 10), S. 174f.; D ERS ., Reformation in Vorarlberg - eine Fehlanzeige? , in: W OLFGANG O LSCHBAUR / K ARL S CHWARZ (Hg.), Evangelisch in Vorarlberg. FS zum Gemeindejubiläum, Bregenz 1987, S. 11 - 15; D ERS ., Geschichte Vorarlbergs. Ein Überblick, 4. Aufl. Wien 1998, S. 107 - 112; D ERS ., Bludenz (Anm. 10), S. 134 - 142; D ERS ., Aspekte der Konfessionalisierung in der Bodenseeregion, in: P EER F RIESS / R OLF K IESSLING (Hg.), Konfessionalisierung und Region (Forum Suevicum 3), Konstanz 1999, S. 189 - 198; D ERS ., Bregenzer Reformatoren in Lindau: Sigismund Rötlin, Johannes Mock, Jakob Grötsch, Simon Stocker und Blasius Schmid, in: Montfort 54 (2002), S. 189 - 206; D ERS ., Die Reformation, in: Vorarlberg Chronik, 3. Aufl. Dornbirn 2005, S. 61 - 63; Alois N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg, in: Elmar L. K UHN (Hg.), Der Bauernkrieg in Oberschwaben (Oberschwaben - Ansichten und Aussichten 2), Tübingen 2000, S. 411 - 419; D ERS ., Evangelisch in Vorarlberg - evangelisch in Dornbirn. Zum Dornbirner 100-Jahr-Jubiläum (Verba volant. Onlinebeiträge des Vorarlberger Landesarchivs 38, 10.9.2008) (http: / / apps.vorarlberg.at/ vorarlberg/ vorarlberg/ bildung_schule/ bildung/ landes archiv/ weitere/ pub/ reihen/ verbavolant_online_/ verbavolant_downloads_.htm, aufgerufen am 7.8.2023); H. G ISMANN -F IEL , Täufertum (Anm. 12). <?page no="233"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 233 einem »bedrohliche[n] Priestermangel« kam. 14 Noch jahrzehntelang war die Besetzung freigewordener Pfründen mit kompetenten Seelsorgern mit Schwierigkeiten verbunden. In Rankweil dauerte es beispielsweise nach dem Tod von Pfarrer Jakob Pappus 1540 » fast zwei Jahre, bis die Regierung […] einen tauglichen Ersatz mann fand«. 15 Zudem bestand ein deutliches Missverhältnis zwischen den teilweise mit Priestern sogar überbelegten Städten und den nach Seelsorgern › darbenden ‹ Landgemeinden. 16 3. Priester und Priesterausbildung bis ca. 1600 An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit gab es bekanntlich »keine geregelte Priesterausbildung«. Zu bestimmten Zeiten fanden in den Diözesen Examina für die zur Weihe Vorgesehenen statt, bei denen »nur elementare Anforderungen gestellt« wurden. Etliche Priester, vor allem diejenigen, die in ländlichen Pfarreien tätig waren, hatten ihre Ausbildung »in einer Art Lehre bei einem befreundeten Pfarrer oder Kaplan« erhalten. Außerdem hatten wohl einige »städtische Lateinschulen oder Domschulen besucht«. 17 Weder der Besuch einer Lateinschule noch einer Universität wurden verlangt. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Fall eines Johann Matt, der 1519 zum Priester geweiht wurde. Er war ursprünglich Landsknecht gewesen und hatte 1499 am Schweizerkrieg teilgenommen. Danach hatte er den Mesnerdienst in Rankweil ausgeübt. Offenbar reichten die dabei gewonnenen 14 P ETER S CHMIDT , Die Priesterausbildung, in: E LMAR L. K UHN u. a. (Hg.), Die Bischöfe von Konstanz, Bd. 1: Geschichte, Friedrichshafen 1988, S. 135 - 142, 441, hier 135. 15 J OHANNES S CHÖCH , Die religiösen Neuerungen des 16. Jahrhunderts in Vorarlberg bis 1540, in: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 9 (1912), S. 21 - 37, 81 - 107, 177 - 194, 259 - 280, hier 32. 16 J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 15), S. 81, Zitat 81, Anm. 1. 17 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1: Vorarlberg im Mittelalter, Innsbruck 2014, S. 188 (Zitat). Dazu auch: J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 15), S. 31; P. S CHMIDT , Priesterausbildung (Anm. 14), S. 135. - Die Beschlüsse des dritten (1179) und vierten Laterankonzils (1215) sahen vor, dass an Kathedralen ein Magister mit einem Benefizium auszustatten sei, der Kleriker »in der Grammatik und anderem zu unterrichten habe«. An den Metropolitankirchen sollte überdies ein Theologe angesiedelt werden, »der die Priester und andere in der Heiligen Schrift lehre und vor allem in dem, was zur Seelsorge gehöre«. Es ist unklar, inwiefern diese Bestimmungen in den einzelnen Bistümern nördlich der Alpen umgesetzt wurden. J OHANN R AINER , Zur Ausbildung der Kärntner Priester vornehmlich im 17. und 18. Jahrhundert, in: Carinthia I 160 (1970), S. 858 - 875, hier 858. <?page no="234"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 234 Kenntnisse aus, um als geeignet für das Priesteramt zu gelten. 1519 und 1520 wurde er übrigens zweimal zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er Kinder gezeugt hatte. 18 Bis um 1600 lebte auch in Vorarlberg ein Großteil der Weltgeistlichen im Konkubinat. Das Straf- und Dispensbuch der Diözese Chur nennt für das Drusianische Kapitel, also den Vorarlberger Teil des Bistums, allein für den Zeitraum von 1500 bis 1524 nicht weniger als 31 Priester, die Kinder gezeugt hatten, manche von ihnen mehrere. 19 Das entspricht im Durchschnitt einem Fall pro Pfarrei. Offensichtlich war es hier für einen Priester noch im ausgehenden 15. Jahrhundert ohne weiteres möglich, sein Vermögen einem leiblichen Sohn zu vermachen. So wurde 1497 das Testament eines Frühmessers namens Heinrich, »worin dieser sein Vermögen seinem Sohn Bonifazius vermachte«, durch den Churer Generalvikar bestätigt. 20 Im Bereich der Diözese Konstanz lagen die Verhältnisse ganz ähnlich. 21 Vor dem Maiengericht zu Egg klagten beispielsweise 1558 die Magd des verstorbenen Egger Pfarrers Johann Winzürn, »Gertrud Beuchel mann, […], die gemeinsamen Kinder und zwei Schwiegersöhne« erfolgreich gegen die Pfarrgemeinde um »Herausgabe ausständiger Einnahmen, so genannte › Seelzinse ‹« . Das Verfahren zeigt, dass das Priesterkonkubinat noch »eine sowohl von der Bevölkerung wie vom Gericht 18 J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 15), S. 31; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Studien zur Sozialgeschichte des Pfarrklerus im 14. und 15. Jahrhundert, in: Montfort 46 (1994), S. 119 - 132, hier 127. Der 1519 zum Priester geweihte Johann Matt ist zu unterscheiden von einem gleichnamigen aus Feldkirch stammenden Mann, der 1502 als »stud. iur.« an der Universität Wien und zwischen 1508 und 1523 zunächst als Vikar in Thüringen, dann als Kaplan in Sonntag und schließlich am Kristberg im Montafon nachweisbar ist; O SKAR V ASELLA , Ergänzungen zu Ludewigs Verzeichnis der Vorarlberger Studenten, in: Montfort 3 (1948), S. 100 - 131, hier 117f., Nr. 137. 19 J. S CHÖCH , Neuerungen (Anm. 15), S. 32f.; A. N IEDERSTÄTTER , Pfarrklerus (Anm. 18), S. 126. Für weitere Beispiele: L. W ELTI , Graf Jakob Hannibal (Anm. 12), S. 177; M. F LIRI , Mission Vorarlberg (Anm. 2), S. 105f. 20 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 17), S. 188. 21 Vgl. L IINA L AKS , Das Priesterzölibat in der Diözese Konstanz im 16. und 17. Jahrhundert, Masterarbeit Konstanz 2010; J ÖRN S IEGLERSCHMIDT , Der niedere Klerus. Eine vergleichende Untersuchung am Beispiel des Landdekanats Engen, in: E LMAR L. K UHN u. a. (Hg.), Die Bischöfe von Konstanz, Bd. 1: Geschichte, Friedrichshafen 1988, S. 110 - 124, hier 116 - 118; A LOIS N IEDERSTÄTTER , »Legitime« und »illegitime« Geschlechterbeziehungen und ihre Folgen. Eine Spurensuche in den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Vorarlberger Quellen, in: Montfort 62 (2010), S. 215 - 231, hier 224 - 227. Zu den Verhältnissen in den zur Eidgenossenschaft gehörenden Teilen des Bistums Konstanz: A LBERT F ISCHER , Reformatio und Restitutio. Das Bistum Chur im Zeitalter der tridentinischen Glaubenserneuerung. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Priesterausbildung und Pastoralreform (1601 - 1661), Zürich 2000, S. 96 - 99. <?page no="235"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 235 respektierte Selbstverständlichkeit« gewesen ist. 22 Noch 1607 konnte in Hohenems der Landfähnrich und Wirt Jos Metzler in einem Beleidigungsverfahren u. a. seinen Vater, den Pfarrer von Schwarzenberg, Gallin Metzler, als Beistand beiziehen. 23 Eine konsequente Suspendierung der im Konkubinat lebenden Geistlichen hätte wohl »faktisch die Lahmlegung der Seelsorge« zur Folge gehabt, da nicht ausreichend geeignete Priester verfügbar waren. Überdies zeigte sich bei einer Visitation des eidgenössischen, zum Bistum Konstanz gehörenden Klerus im Jahr 1586, dass die im Konkubinat lebenden Priester damit rechnen konnten, dass die Gläubigen zum großen Teil hinter ihnen standen. Das Verhalten ihres Bischofs Merk Sittich (III), der selbst nicht zölibatär lebte, gab den Kritisierten ein gewichtiges Verteidigungsargument in die Hand. 24 Eine Konsequenz aus dem weit verbreiteten und geduldeten Priesterkonkubinat war, dass sich der Klerus zu Beginn der Neuzeit teilweise noch aus sich selbst ergänzen konnte. Wir kennen mehrere Fälle, in denen der Beruf des Priesters vom Vater auf den Sohn weitergegeben wurde. Rudolf Tugstainer, der Pfarrer von Röthis, stiftete beispielsweise 1497 eine Frühmesspfründe, knüpfte daran aber die Bedingung, dass diese »seinem Sohne, Hanns Tugstainer, falls er Priester würde«, verliehen werden sollte. 25 Um 1570 wurde der altersschwache Frastanzer Pfarrer Jakob Ziegler von seinem Sohn Peter in der St. Sulpitiuspfarre vertreten. Nach seinem Ableben bewarb sich Peter um die Nachfolge. Er wurde nicht nur von den Frastanzern, sondern auch vom österreichischen Vogt Hektor von Ramschwag, der ein positives Gutachten abfasste, dabei unterstützt. Die österreichische Regierung lehnte ihn aber »mit Berufung auf das entgegenstehende geistliche Recht« ab. 26 22 A LOIS N IEDERSTÄTTER , Egg im Feudalzeitalter, in: Egg im Bregenzerwald, Egg 2008, S. 73 - 107, hier 96. 23 L UDWIG W ELTI , Graf Kaspar von Hohenems 1573 - 1640. Ein adeliges Leben im Zwiespalte zwischen friedlichem Kulturideal und rauher Kriegswirklichkeit im Frühbarock, Innsbruck 1963, S. 515. 24 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 98f. 25 L UDWIG R APP , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 1: Dekanat Feldkirch. Erste Abtheilung, Brixen 1894, S. 568; G ERHARD P OD - HRADSKY , Geschichte der Pfarre St. Martin in Röthis, in: K ARL H EINZ B URMEISTER (Hg.), Röthis. Geschichte und Gegenwart, Röthis 1982, S. 101 - 128, hier 106. Ein Johann Truckstainer ist 1504 an der Universität Freiburg nachweisbar. Über seinen weiteren Lebenslauf ist derzeit nichts bekannt; H ERMANN M AYER (Bearb.), Die Matrikel der Universität Freiburg i. Br. von 1460 - 1656, Bd. 1: Einleitung und Text, Freiburg i. Br. 1907, hier Bd. 1/ 1, S. 158, 1504/ 59; A NTON L UDEWIG , Vorarlberger an in- und ausländischen Hochschulen vom Anfang des XIII. bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts, (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs und Liechtensteins. Kulturgeschichtliche Abteilung 1), Bern u. a. 1920, S. 65, Nr. 58. 26 L UDWIG W ELTI , Bludenz als österreichischer Vogteisitz 1418 - 1806. Eine regionale Verwaltungsgeschichte (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs 2), Zürich 1971, S. 95. <?page no="236"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 236 Seit dem 15. Jahrhundert nahm die Zahl der aus dem Gebiet Vorarlbergs stammenden Universitätsbesucher stark zu. Allein für die Stadt Feldkirch und ihre nähere Umgebung lassen sich für die Zeit zwischen 1415 und 1490 nicht weniger als 177 Studenten nachweisen. Bis Mitte des 16. Jahrhunderts stieg die Zahl noch weiter an. Von 1491 bis 1550 lassen sich etwa 300 Immatrikulationen belegen. 27 Auch aus den ländlichen Gegenden fand eine immer stärker anschwellende Zahl von jungen Männern den Weg an die Universitäten. Ein beeindruckendes Beispiel dafür bietet der Bregenzerwald. Allein aus Egg und Bezau waren es im Zeitraum vom 16. zum 18. Jahrhundert »mehr als hundert«. 28 Von diesen kehrten seit dem 15. Jahrhundert immer mehr nach Vorarlberg zurück, um in einer der hiesigen Pfarreien als Seelsorger zu wirken. Auf der Basis der von Anton Ludewig und Oskar Vasella erstellten Sammlungen 29 lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit ermitteln, dass bis 1500 in 23 Vorarlberger Gemeinden oder Siedlungen mit Kaplaneien Priester zu finden sind, die aus Vorarlberg stammten und für die der Besuch von mindestens einer Universität dokumentiert werden kann. 30 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren es bereits 38; 31 in der zweiten Jahrhunderthälfte fiel ihre Zahl wieder auf 27 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 17), S. 210; K. H. B URMEISTER , Kulturgeschichte (Anm. 10), S. 104f., 117, 163. 28 A LOIS N IEDERSTÄTTER , »Wäldar ka nüd jedar sin! « Eine Geschichte des Bregenzerwalds, Innsbruck 2020, S. 71. 29 A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25); O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 18). 30 Es sind dies: Au (1), Bezau (1), Bludenz (1), Bregenz (1), Bürs (1), Dornbirn (1), Feldkirch (10), Frastanz (3), Göfis (1), Götzis (3), Krumbach (1), Lauterach (1), Lingenau (1), Ludesch (1), Nenzing (1), Nüziders (2), Röthis (1), Satteins (1), Schnifis (1), Sonntag (1), Sulzberg (2), Thüringen (1) und Tosters (1); A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 15, Nr. 9; S. 17, Nr. 19; S. 24, Nr. 8; S. 33, Nr. 18 und 20; S. 37, Nr. 38 und 39; S. 39, Nr. 47; S. 40f., Nr. 55 und 60; S. 48, Nr. 18; S. 51f., Nr. 10, 11, 12 und 14; S. 53, Nr. 18; S. 54, Nr. 31; S. 59, Nr. 1; S. 60, Nr. 3, 5 und 10; S. 111, Nr. 107; S. 112, Nr. 19; S. 113, Nr. 21; O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 18), S. 102, Nr. 4; S. 103, Nr. 15; S. 104, Nr. 27; S. 105, Nr. 25, 34 und 39; S. 106, Nr. 54; S. 107, Nr. 55, 58 und 60; S. 108f., Nr. 66 und 70; S. 110f., Nr. 81 und 86; S. 112, Nr. 93 und 96; S. 113, Nr. 100 und 103; S. 115, Nr. 124; G. P ODHRADSKY , Geschichte (Anm. 25), S. 106. 31 Es sind dies: Altenstadt (3), Arbogast (1), Au (1), Bartholomäberg (1), Bezau (1), Bludenz (8), Bludesch (1), Brand (1), Braz (1), Bregenz (2), Bürs (5), Dalaas (3), Damüls (2), Egg (1), Feldkirch (29 oder 30, bei einer Präsentation ist nicht sicher, ob sie realisiert wurde), Frastanz (5), Fraxern (3), Göfis (5), Götzis (2), Klösterle (1), Kristberg (3), Laterns (1), Ludesch (2), Montafon (2), Nüziders (1), Raggal (2), Rankweil (8), Röthis (2), Satteins (2), Schlins (3), Schwarzenberg (1), Silbertal (1), Sonntag (5), St. Gallenkirch (2), Thüringen (3), Tisis (1), Tosters (6) und Vandans (1); A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 35, Nr. 25; S. 37, Nr. 35; S. 39, Nr. 46; S. 40f., Nr. 55, 57 und 61; S. 43, Nr. 70 und 76; S. 51f., Nr. 10; S. 54, Nr. 31 und 32; S. 55, Nr. 45 und 47, S. 56, Nr. 51 und 56; S. 57, Nr. 69; S. 61f., Nr. 18 und 28; S. 66f., Nr. 65, 68 und 78, S. 69, Nr. 100; S. 71, Nr. 116; S. 73, Nr. 133 und 139; S. 100, <?page no="237"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 237 19. 32 Die genannten Priester verteilten sich freilich sehr ungleich auf die einzelnen Teile Vorarlbergs. Die meisten von ihnen finden sich in Feldkirch und seiner unmittelbaren Umgebung. Dies ist wenig überraschend. Die Stadt war an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit ein Zentrum des Humanismus von überregionaler Bedeutung und verfügte über die mit Abstand beste Bildungsinfrastruktur im Bereich des heutigen Bundeslandes. 33 Sie stellte folglich auch den größten Teil der Vorarlberger Studenten an den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten. 34 Nr. 7; S. 101, Nr. 14; S. 115, Nr. 43; S. 116, Nr. 51, S. 120, Nr. 1; S. 123, Nr. 12; S. 124, Nr. 15; S. 125, Nr. 24 und 28; S. 127, Nr. 33, 35 und 40; O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 18), S. 105, Nr. 34, 40 und 44; S. 109, Nr. 39; S. 109, Nr. 72 und 75; S. 110, Nr. 83 und 84; S. 111, Nr. 87, 88 und 91; S. 112, Nr. 96; S. 113, Nr. 98, 99 und 103; S. 114, Nr. 8; S. 114f., Nr. 106, 107, 108, 110, 113, 115, 116, 118, 120, 121, 126 und 127; S. 116f., Nr. 128, 130, 131, 134 und 137; S. 118f., Nr. 139, 141, 145, 146, und 147; S. 120f., Nr. 151, 153, 154, 156, 157 und 158; S. 122, Nr. 160 und 162; S. 123f., Nr. 163, 164, 165, 166, 167, 168, 170, 175, 176 und 177; 124f., Nr. 175, 178, 179, 180 und 183, S. 126f., Nr. 188, 189, 190, 192, 194, 195 und 196; S. 128f., Nr. 198, 203 und Nr. 212; G. P ODHRADSKY , Geschichte (Anm. 25), S. 106f. 32 Es sind dies: Alberschwende (1), Andelsbuch (1), Bezau (1), Bludenz (1), Bregenz (3), Egg (1), Feldkirch (5 oder 8; bei drei Präsentationen ist es unsicher, ob sie realisiert wurden), Götzis (1), Höchst (2), Kristberg/ Montafon (1), Ludesch (1), Mittelberg (1), Rankweil (3), Satteins (2), Schlins (3), Schnifis (1), Schwarzenberg (1), Sulzberg (1) und Tosters (1); A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 43, Nr. 76, S. 72, Nr. 126 und 132, S. 74f., Nr. 153, 154, 158 und 166, S. 76f., Nr. 172 und 176, S. 78f., Nr. 193, 204, 206 und 209, S. 80, Nr. 215; S. 81f., Nr. 234, 236, 239 und 245; S. 85f., Nr. 269 und 278, S. 102, Nr. 27, S. 117, Nr. 72, S. 118, Nr. 84, S. 123, Nr. 10, S. 133, Nr. 4, S. 137f., Nr. 42 und 49, S. 141, Nr. 67 und 68; O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 18), S. 123, Nr. 166. 33 Vgl. K ARL H EINZ B URMEISTER , Feldkirch und der Humanismus zur Zeit von Georg Joachim Rheticus, in: Montfort 67/ 1 (2015), S. 13 - 27; D ERS ., Der Humanismus in Feldkirch, in: Rheticus 30 (2008), S. 13 - 18; D ERS ., Feldkircher Bibliotheken zur Zeit des Mittelalters und des Humanismus, in: K ARLHEINZ A LBRECHT (Hg.), Stadtbibliothek Feldkirch. Historische Ausstellung, Katalog zur Ausstellung, Feldkirch 1979, S. 15 - 21. 34 So stammten beispielsweise von den 29 Vorarlberger Studenten, die Burmeister an der Universität Padua nachweisen konnte, 15 aus Feldkirch, von den 21, die für das 16. bis 19. Jahrhundert an der Universität Straßburg bezeugt sind, acht, von den 13 an den Universitäten in Löwen, Orléans, Bourges und Montpellier fünf. Von den sieben Vorarlbergern, die zwischen 1329 und 1499 an der Universität Paris den Grad eines Baccalaureus oder Magisters der Artistischen Fakultät erwarben, stammten drei aus Feldkirch, die anderen vier aus Bregenz; K ARL H EINZ B URMEISTER , Vorarlberger Studenten in Padua vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Alemannia Studens 2 (1992), S. 5 - 11; D ERS ., Vorarlberger Studenten in Straßburg im 17. und 18. Jahrhundert, in: Alemannia Studens 1 (1991), S. 11 - 19; D ERS ., Studenten aus der Bodenseeregion an den Universitäten Löwen, Orléans, Bourges und Montpellier, in: Alemannia Studens 7 (1997), S. 29 - 44; D ERS ., » … der in fremden landen were uff der schuol«. Die Baccalaurei und Magistri in artibus der Universität Paris aus dem Bistum Konstanz und <?page no="238"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 238 Von den ländlichen Gebieten ist der Bregenzerwald besonders stark vertreten. Auch in diesem Zusammenhang kann, wie bereits oben angedeutet, auf eine relativ hohe Zahl von Studenten verwiesen werden. 35 Sehr schwach dagegen ist der nördliche, zur Diözese Konstanz gehörige Teil des Vorarlberger Alpenrheintals vertreten. Hier finden wir außer der Stadt Bregenz lediglich in Dornbirn, 36 Höchst 37 und Lauterdessen näherer Umgebung, 1329 bis 1499, in: Alemannia Studens 11 (2003), S. 23 - 90. Niederstätter konnte an der Universität Graz für den Zeitraum von 1586 bis 1662 56 Studenten nachweisen, deren Herkunft mit Feldkirch angegeben wurde; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Studenten aus Feldkirch und Umgebung an der Universität Graz (bis 1662), in: Montfort 37 (1985), S. 37 - 46. 35 Vgl. A. N IEDERSTÄTTER , »Wäldar ka nüd jedar sin! « (Anm. 28), S. 71f. 36 Johann Berlinger aus dem Bregenzerwald wurde 1490 als Pfarrer in Dornbirn investiert. Er ist 1481 in Heidelberg nachweisbar. Hier erwarb er am 12. Juli 1482 den Grad einer Baccalaureus artium viae modernae. 1492 erwirkte er vom Bischof die Erlaubnis, sein Studium in Heidelberg wieder aufzunehmen. Er erwarb schließlich das Bakkalaureat im Kirchenrecht. Er wurde außerdem Dekan der Artistenfakultät und 1501 schließlich Pfarrer von Bregenz. Heinrich Novel - möglicherweise handelte es sich bei ihm um Heinrich Bischof aus Novels, einen Feldkircher Bürger - , der von 1422 bis 1440 als Pfarrer in Dornbirn wirkte und sich vielleicht zeitweise durch einen Vikar vertreten ließ, ist 1389 an der Universität Wien bezeugt. Im 16. Jahrhundert ist mit mag[ister] Jeorius Sattler, der 1536 ad e[cclesiam] p[arochialem] in Torrenburen präsentiert wurde, ein weiterer Pfarrer bezeugt, der eine Universität besucht hat; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 40f., Nr. 55. G USTAV T OEPKE (Hg.), Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662. Erster Theil von 1386 bis 1553, Heidelberg 1886, S. 366; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Dornbirn im Mittelalter, in: W ERNER M ATT / H ANNO P LATZGUMMER (Hg.), Geschichte der Stadt Dornbirn, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Loskauf, Dornbirn 2002, S. 13 - 71, hier 62; D ERS ., Beiträge zur Dornbirner Kirchengeschichte im Mittelalter, in: Montfort 37 (1985), S. 303 - 315, hier 307; F RANZ H UNDSNURSCHER (Bearb.), Die Investiturprotokolle der Diözese Konstanz aus dem 16. Jahrhundert, Bd. 1: Aach - Kurzenbach (Veröff. der Kommission für Landeskunde im Baden- Württemberg A 48/ 1), Stuttgart 2008, S. 170. 37 Georg Hohenwarter, nach 1554 Pfarrer in Höchst, findet sich 1553 in den Matrikeln der Universität Freiburg, wo er 1554 den Grad eines Baccalaureus artium erwarb. Michael Köb, 1579 - 1599 Pfarrer in Höchst, ist ebenfalls 1574 in Freiburg nachweisbar. Über einen akademischen Abschluss ist nichts bekannt; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 79, Nr. 209 und 86, Nr. 278; H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 1, S. 394, 1552 - 1553/ 32 und Bd. 1/ 2, S. 541, 1573 - 1574/ 34. Außer den von Ludewig und Vasella Genannten, lässt sich vor 1600 noch ein weiterer Höchster Pfarrer belegen, der an einer Universität studiert hatte: Der aus Berneck stammende Johannes Kuster war von 1525 bis 1534 Pfarrer in Höchst. Er studierte 1490 in Leipzig und wurde dort 1492 zum Baccalaureus artium promoviert; K ARL H EINZ B URMEISTER / G ERDA L EIPOLD -S CHNEIDER , Höchster Geistliche der Neuzeit, in: G ERDA L EIPOLD -S CHNEIDER (Red.), Gemeinschaftsleben - Kirche und Schule in Höchst (Heimatbuch 3), Dornbirn 2001, S. 85 - 93, 96, hier 86. <?page no="239"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 239 ach 38 aus Vorarlberg stammende Priester, die sich mindestens an einer Universität nachweisen lassen. Die reichsunmittelbaren Territorien Hohenems und Lustenau fehlen dagegen völlig. Ein Grund dafür könnte in den unterschiedlichen Bildungstraditionen der Territorien liegen. Während für Dornbirn bereits im 15. und 16. Jahrhundert eine Reihe von Studenten nachgewiesen werden kann, 39 ist das bei Lustenau nicht der Fall. 40 Für Hohenems sind zwar ähnlich viele Studenten wie für Dornbirn bezeugt. Der Großteil davon fällt aber auf das adelige Milieu des Ortes. Einem guten halben Dutzend legitimer oder illegitimer Nachfahren der Reichsritter/ Reichsgrafen von Hohenems 41 stehen vor 1600 bislang lediglich drei Nicht- 38 Der Lauteracher Kaplan Caspar Grettler aus Bregenz ist 1483 in Tübingen zu finden. Er erwarb am 18.5.1486 hier den akademischen Grad eines Baccalaureus artium; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 111, Nr. 107; H EINRICH H ERMELINK (Hg.), Die Matrikel der Universität Tübingen, Bd. 1: Die Matrikeln von 1477 - 1600, Stuttgart 1906, S. 47, Nr. 62. 39 Bis 1600: 1419 Bernhardus de Dorrenbürren an der Universität Wien, 1470 Johann Mötz (Baccalaureus artium 1472) und 1473/ 74 Johannes Nell in Basel, 1495 Jakob Wehinger in Tübingen, 1505 Alexander Franz in Freiburg i. Br. (Baccalaureus artium 1506), 1511 Ulrich Fabri in Wien, 1511 Martin Schelling (Baccalaureus artium), 1518 Jakob Murer, 1557 Vinzenz Albrecht (Baccalaureus artium 1558, später Pfarrer in Satteins), 1559 Ulrich und Johann Thurnher (später Pfarrhelfer in Bregenz), Brüder, jeweils in Freiburg i. Br., 1581 Martin Faber (Schmid), 1585 Konrad Faber, 1587 Bartholomäus Metz, 1590 Johannes Zoller, 1594 Martin Zoller und Jakob Kain jeweils in Dillingen. Von den Genannten machte Ulrich Fabri eine beeindruckende akademische Karriere. Unter anderem wurde er viermal zum Rektor der Universität Wien und sechsmal zum Dekan der medizinischen Fakultät gewählt. 1533 wurde er auf den Lehrstuhl für theoretische Medizin berufen; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Die Dornbirner und das Studium, in: Dornbirner Schriften 4 (1988), S. 71 - 73; D ERS ., Zwei Dornbirner Gelehrte: Ulrich Fabri und Pater Apronian Hueber, in: Dornbirner Schriften 4 (1988), S. 73 - 78, hier 73 - 77. 40 Nach heutigem Wissensstand lassen sich für den Reichshof Lustenau vor 1600 lediglich drei Studenten nachweisen: 1486 Matthaeus Sybolt an der Universität Heidelberg, 1519 Johannes Kobolt und Konrad Hitz - »Hitz« ist vermutlich eine Verschreibung von »Fitz« - an der Universität Ingolstadt; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 44, Nr. 80 und 101, Nr. 15 und 16. Während es sich bei Fitz um einen in Lustenau gängigen Familiennamen handelt, sind die Namen Kobolt und Sybolt nicht bezeugt. Es muss daher in Betracht gezogen werden, dass es sich in diesen Fällen um Lustnau bei Tübingen handelt; F RANZ S TETTER / S IEGFRIED K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch, 3 Bde., Konstanz 2012. 41 Legitime Hohenemser: Ernst von Hohenems, nachgewiesen in Tübingen (1501); Friedrich von Hohenems, nachgewiesen in Freiburg i. Br. (1510); Georg Sigismund von Hohenems, nachgewiesen in Freiburg i. Br. (1510) und Tübingen (1514), später Domherr in Konstanz und Basel; Hans von Hohenems, nachgewiesen in Freiburg (1513); Johann Christoph von Hohenems, nachgewiesen in Dillingen (1579). - Illegitime Hohenemser: Jodok Emser, nachgewiesen in Erfurt (1469) und Basel (1476, 1478 Baccalaureus artium viae antiquae, 1479 - 1508 Pfarrer in Schnifis); Wilhelm Emser, nachgewiesen in Freiburg i. Br. (1499, 1500/ 1501 Baccalaureus artium); H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 1, <?page no="240"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 240 Adelige gegenüber. 42 In diesem Kontext scheint auch die Besetzungspolitik der jeweiligen Inhaber des Patronatsrechts eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Die Reichsritter/ Reichsgrafen von Hohenems, die u. a. in Dornbirn und Lustenau über Patronatsrechte verfügten, besetzten diese im Zentrum ihrer Interessen liegenden Pfarreien vorzugsweise mit »Geistliche[n] nichtadeliger Herkunft - in der Regel Einheimische[n]«. 43 Auf diese Weise scheinen sie versucht zu haben, sich die lokalen Eliten zu verpflichten. Österreich legte dagegen spätestens seit Beginn der Reformation größten Wert darauf, die Pfarreien, in denen es die Patronatsrechte besaß, mit gut ausgebildeten Priestern zu besetzen, über deren Treue zur Alten Kirche kein Zweifel bestand. Diese Politik verfolgte es besonders im Süden Vorarlbergs, der wegen der Nachbarschaft zum evangelischen Graubünden als besonders gefährdet galt. 44 Die große Anzahl von Studenten aus Feldkirch und Umgebung bot ihnen in diesem Zusammenhang entsprechende Möglichkeiten. Wir können also festhalten, dass bereits vor 1600 ein Gutteil der Priester, die in den Vorarlberger Pfarreien tätig wurden, Universitäten besucht hatten. Am stärksten war dies in Feldkirch der Fall, für das auch die Überlieferungslage besonders günstig ist. Hier konnte auf der Basis der Präsentationsurkunden gezeigt werden, »daß von den im Zeitraum 1500 -1530 bekannten […] verpfründeten 40 Geistlichen sicher 32 als Studenten der Universität nachweisbar sind«. Das entspricht ca. 80 Prozent und ist ein Zeugnis dafür, »daß Bildung und Wissen, so wie sie damals überhaupt vermittelt wurden, auch von einfachen Seelsorgegeistlichen in weitem Ausmaß erstrebt worden sind«. 45 S. 135, 1499/ 4, S. 194, 1510/ 53 und 54, S. 209, 1513/ 45; T HOMAS S PECHT (Bearb.), Die Matrikel der Universität Dillingen, Bd. 1: 1551 - 1645 (Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 2), Augsburg 1909 - 1911, S. 124, 1579/ 73*; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 48, Nr. 18, S. 64, Nr. 41, S. 68, Nr. 84 und 85, S. 69, Nr. 90, S. 114, Nr. 31, S. 115, Nr. 50, S. 137, Nr. 41; O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 18), S. 110, Nr. 81. 42 Wilhelm Archortrus (1503); Johannes Waibel (1530); Michael Gaßner (1550), jeweils nachgewiesen in Freiburg i. Br.; H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 1, S. 154, 1503/ 04/ 12, S. 278, 1530/ 8, S. 381, 1550/ 1; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 65, Nr. 50, S. 72, Nr. 124, S. 78, Nr. 189. 43 In anderen, von ihrem Herrschaftszentrum weiter entfernten Pfarreien wie Schnifis setzten sie dagegen wiederholt ihre illegitimen Sprösslinge ein; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Studien zur Sozialgeschichte der Vorarlberger Geistlichkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 61 (1992), S. 27 - 46, hier 35. 44 Beispiele bei: J OSEF R USS , Die Maßnahmen der landesfürstlichen Regierung und für Erhaltung und Neubelebung des katholischen Glaubens in Vorarlberg im 16. und 17. Jahrhundert, in: Alemannia. Zeitschrift für Geschichte Heimat- und Volkskunde Vorarlbergs 11 (1937), S. 26 - 32, 47 - 61, hier 29 - 32. 45 O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 18), S. 101. <?page no="241"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 241 Der Besuch einer Universität darf allerdings nicht zu dem Schluss verleiten, bei den Betreffenden eine umfassende Bildung vorauszusetzen. Die meisten oben Genannten absolvierten nur die Artistenfakultät, die eigentlich dafür vorgesehen war, die Studenten für weitere Studien vorzubereiten. Bei weitem nicht alle machten einen Abschluss. 46 Von jenen aus Vorarlberg stammenden Priestern, die nach den Angaben Ludewigs und Vasellas bis 1500 als Pfarrer oder Benefiziaten in Feldkirch aufscheinen, ist bei zweien nichts über einen akademischen Abschluss bekannt, drei erwarben den Grad eines Baccalaureus artium, drei weitere den eines Magisters oder Lizentiaten der Artistischen Fakultät und nur einer den eines Dr. decretorum. 47 Mitunter wurde »ein Studium erst begonnen, nachdem der junge Mann eine Pfründe erhalten hatte, er also aus diesen Einkünften seinen Unterhalt bestreiten konnte«. 48 Johann Berlinger aus dem Bregenzerwald, der 1490 als Pfarrer in Dornbirn investiert wurde, kehrte beispielsweise, wie bereits angedeutet, 1492 mit bischöflicher Erlaubnis an die Universität Heidelberg zurück, um seine Studien fortzusetzen, und ließ sich in seiner Pfarrei durch einen Vikar vertreten. 49 Es muss bereits den Zeitgenossen klar gewesen sein, dass der Besuch einer Universität keine Garantie für taugliche Seelsorger war. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die österreichische Besetzungspolitik aufschlussreich: Die Innsbrucker Regierung zog über die in Frage kommenden Kandidaten jeweils ausführliche Erkundigungen an. Von Vorteil war es dabei, wenn dieser auf eine erfolgreiche Tätigkeit in einem der Feldkircher Benefizien oder in einer der kleineren Pfarreien verweisen konnte. 1607 empfahl die Regierung dem Bischof von Chur beispielsweise Marx Stoß als Pfarrer von Frastanz und betonte, dass er sich bereits als Seelsorger in Nenzing bewährt und seine Treue zur Römischen Kirche dadurch unter Beweis gestellt habe, dass er zusammen mit seinem Amtskollegen aus Göfis eine Pilgerfahrt nach Jerusalem unternommen hatte. 50 46 A. N IEDERSTÄTTER , Pfarrklerus (Anm. 18), S. 127; A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 17), S. 189; P. S CHMIDT , Priesterausbildung (Anm. 14), S. 135. 47 A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 39, Nr. 47f.; S. 45, Nr. 12; S. 52, Nr. 11; S. 52, Nr. 14; S. 54, Nr. 31; S. 197, Nr. 3; O. V ASELLA , Ergänzungen (Anm. 18), S. 108f., Nr. 70; S. 112, Nr. 96; S. 113, Nr. 103; S. 108, Nr. 66; S. 110f., Nr. 86; S. 115, Nr. 124; S. 105, Nr. 35; S. 107, Nr. 58; K LAUS P LITZNER / G ABRIELE T SCHALLENER , Prosopographie der Vorarlberger Kleriker. Vom 13. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart, 2 Bde., Bregenz 2021, hier Bd. 1, S. 384, 601, 632; Bd. 2, S. 889, 1092, 1106, 1200. Beim Dr. decretorum handelt es sich um Ludwig Rad, einen Neffen des bekannten gleichnamigen Frühhumanisten; K ARL H EINZ B URMEISTER , Der Vorarlberger Frühhumanist Ludwig Rad, in: Innsbrucker Historische Studien 5 (1982), S. 7 - 26, hier 22. 48 A. N IEDERSTÄTTER , Pfarrklerus (Anm. 18), S. 127; D ERS ., Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 17), S. 189; P. S CHMIDT , Priesterausbildung (Anm. 14), S. 135. 49 A. N IEDERSTÄTTER , Beiträge (Anm. 36), S. 308. 50 J. R USS , Maßnahmen (Anm. 44), S. 32. Weitere Beispiele: Ebd., S. 30 - 32. <?page no="242"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 242 Auch wenn nach 1500 unter den in Vorarlberg wirkenden Priestern der Anteil jener, die eine Universität besucht hatten, noch eine Zeit lang zunahm, 51 erhöhte sich die Zufriedenheit der Gläubigen mit ihren Seelsorgern vorerst nicht unbedingt. Für das gesamte Reformationsjahrhundert haben sich teilweise drastische Schilderungen von gewalttätigen und moralisch unzulänglichen Geistlichen erhalten. Petrus Petronius, 1546 - 1549 Pfarrer in Feldkirch, kann als »ein lebendiges Beispiel für das Herrentum der Geistlichkeit« und deren » verwilderte[…] Sitten « gelten. 52 Er war ausgesprochen rauflustig und trat stets bewaffnet sowie in Begleitung von zwei ebenfalls bewaffneten Hilfspriestern auf. Immer wieder geriet er mit seinen Pfarrangehörigen in verbale und körperliche Auseinandersetzungen. Dabei scheute er auch vor der Beleidigung anderer Geistlicher nicht zurück. Schließlich wurde er selbst zum Opfer einer von ihm und seinen Gesellen provozierten Schlägerei. Nachdem er zusammen mit diesen zwei Feldkircher Bürger getötet hatte, schlugen ihn andere mit Stangen und Speeren nieder, so dass er noch am gleichen Tag seinen Verletzungen erlag. 53 In Lustenau beschwerte sich die Pfarrgemeinde 1606 bei Graf Kaspar von Hohenems als Patronatsherrn über ihren Pfarrer Martin Pfleghar, dem neben Alkoholsucht, Gewalttätigkeit und sexuellen Übergriffen vor allem die Vernachlässigung seiner Pflichten als Seelsorger vorgeworfen wurde. Sie erreichte damit seine Abberufung. 54 Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Bemerkenswert ist, dass im Laufe der Zeit Klagen der Pfarrgemeinden über mangelnde liturgische Kenntnisse der kritisierten Geistlichen zunehmend in den Vordergrund traten. 55 51 Eine stichprobenartige Auswertung der von Klaus Plitzner und Gabriele Tschallener erstellten Prosopographie der Vorarlberger Kleriker führt zur vorsichtigen Schätzung, dass etwa zwei Drittel der namentlich bekannten Priester, die im 16. Jahrhundert zwischen Arlberg und Bodensee wirkten, zumindest an einer Universität immatrikuliert waren; K. P LITZ - NER / G. T SCHALLENER , Prosopographie (Anm. 47). Ausgewertet wurden die Buchstaben A bis G; ebd., Bd. 1, S. 1 - 502. Das entspricht etwa 30 Prozent des gesamten Datenbestandes. 52 K. H. B URMEISTER , Kulturgeschichte (Anm. 10), S. 144. 53 K. H. B URMEISTER , Kulturgeschichte (Anm. 10), S. 144; H ERMANN S ANDER , Kleine Beiträge zur Geschichte der Stadt und Herrschaft Feldkirch, besonders im 15. und 16. Jahrhundert, in: 43. Jahres-Bericht des Vorarlberger Museums-Vereins für das Jahr 1905, Bregenz 1906, S. 17 - 45, hier 40 - 45; J. R USS , Maßnahmen (Anm. 44), S. 50f. 54 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , In einem von › Häretikern ‹ umgebenen Land. Aspekte der katholischen Konfessionalisierung in der Reichsgrafschaft Hohenems und im Reichshof Lustenau im 17. Jahrhundert, in: D IETMAR S CHIERSNER u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 221 - 255, hier 238 - 240. 55 Für weitere Beispiele: J. R USS , Maßnahmen (Anm. 44), S. 48 - 50; L. W ELTI , Graf Kaspar (Anm. 23), S. 498 - 500; D ERS ., Graf Jakob Hannibal (Anm. 12), S. 175 - 178; W. S CHEFF - KNECHT , Konfessionalisierung (Anm. 54), S. 240 - 244; M. F LIRI , Mission Vorarlberg (Anm. 2), S. 105f. <?page no="243"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 243 4. Verbesserungen Seit dem späten 16. Jahrhundert lassen sich erhebliche Anstrengungen zur Versorgung des Landes mit gut ausgebildeten Priestern beobachten. Die Visitationen jener Zeit hatten deutlich gezeigt, dass in der Verbesserung der Bildung zukünftiger Kleriker der Schlüssel für die Durchsetzung der tridentinischen Reformmaßnahmen lag. 56 Die Reichsgrafen von Hohenems, die damals wichtige geistliche und weltliche Machtpositionen kontrollierten, gaben dazu bedeutende Impulse. Graf Jakob Hannibal (I.) konnte 1571 von seinem Schwager, dem Mailänder Erzbischof Kardinal Karl Borromäus, erwirken, dass drei Plätze am Mailänder Priesterseminar für Priesterkandidaten aus Hohenems und Umgebung reserviert wurden. Sein Bruder Merk Sittich (III.), Kurienkardinal in Rom und Fürstbischof von Konstanz, sicherte wenige Jahre später, 1582, Studienplätze für 24 Zöglinge aus Stadt und Diözese Konstanz am Collegium Helveticum in Mailand, 57 das von Karl Borromäus 1576 gegründet worden war, indem er durch eine großzügige Schenkung wesentlich zur Verbreiterung der wirtschaftlichen Basis beigetragen hatte. Anfangs waren davon zwei bzw. vier Plätze für Kandidaten aus Bregenz und Hohenems reserviert. Die Letztgenannten waren verpflichtet, nach ihrer Ausbildung als Geistliche im Bistum Konstanz zu wirken. Die Auswahl der Kandidaten überließ er seinem Bruder Jakob Hannibal (I.). Durch die Stiftung eines Kapitals von 12.000 fl. legte Merk Sittich (III.) überdies die Basis für eine spätere Ansiedelung der Jesuiten in Konstanz und die Errichtung eines Kollegs sowie eines Gymnasiums bei St. Konrad. Außerdem gelang es ihm 1588, der Stadt Feldkirch, die zwar nicht in der Diözese Konstanz, aber im Herrschaftsbereich seines Bruders lag, der die Feldkircher Vogtei innehatte, für alle Zukunft zwei Freiplätze am Collegium Germanicum in Rom zu erwirken, über das ihm das Protektorat von den Päpsten Gregor XIII., Sixtus V. und Klemens VIII. übertragen worden war. 58 56 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 99; P AUL B ERTHOLD R UPP , Entwicklung, Bedeutung und Einfluß von Geistlichen an der Universität Dillingen, in: R OLF K IESSLING / R UDOLF P OPPA (Hg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. FS zum 450jährigen Gründungsjubiläum (Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau C 1999), Dillingen/ Donau 1999, S. 291 - 323, hier 291. 57 Das Präsentationsrecht für 24 Zöglinge galt nur zu Lebzeiten des Kardinals Merk Sittich (III.). Seine beiden unmittelbaren Nachfolger durften lediglich 14 Zöglinge vorschlagen. Danach erlosch das Recht; L UDWIG W ELTI , Vorarlberger am Collegium Helveticum in Mailand. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation in Vorarlberg, in: Montfort 3 (1948), S. 278 - 292, hier 283. 58 L. W ELTI , Graf Jakob Hannibal (Anm. 12), S. 344f.; D ERS ., Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 283 - 285; A NTON L UDEWIG , Zwei päpstliche Breven des 16. Jahrhunderts für die Stadt Feldkirch. Die Feldkircher Germaniker in Rom, in: Alemannia 5 (1931), S. 157 - <?page no="244"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 244 Dabei handelte es sich um eine »ganz außergewöhnliche Vergünstigung« und ein »einzigartige[s] Vorrecht, das von keiner anderen Seite bekannt ist«. 59 Um ins Collegium Helveticum aufgenommen zu werden, musste man von ehelicher Geburt sein, einen untadelhaften Ruf genießen, mindestens 16 Jahre alt sein, die Eignung für ein Philosophie- und Theologiestudium nachweisen, und man durfte keinen Sprachfehler haben. 60 Tatsächlich scheint es zunächst nicht einfach gewesen zu sein, Kandidaten aus dem unmittelbaren Herrschaftsbereich der Hohenemser zu präsentieren, die die geforderten Aufnahmebedingungen erfüllten. So schrieb Jakob Hannibal I. von Hohenems 1582 an seinen Schwager Karl Borromäus, es hätten sich bis jetzt in der Grafschaft von Hohenems noch keine Knaben gefunden, die sich für ein Studium in Mailand eignen würden. Deswegen schlug er 4 andere von dem benachbarten Bregenz vor. 61 Auch später kam es immer wieder zu Schwierigkeiten. 1599 wurden zwei von Graf Kaspar vorgeschlagene Kandidaten in Mailand zunächst abgelehnt: Andreas Diem aus Dornbirn und Ferdinand von Herliberg, ein Sohn des ehemaligen Bregenzer Vogteiamtsverwalters und hohenemsischen Obervogts. In beiden Fällen wurden in Mailand offenbar Zweifel an ihrer Herkunft laut. Graf Kaspar musste daher jeweils eine Bestätigung nachreichen, dass es sich um Hohenemser Untertanen handelte. Bei Andreas Diem wurde überdies infrage gestellt, ob er über die notwendige Vorbildung verfüge. Er wurde schließlich lediglich zur Grammatikklasse zugelassen, damit er seine Sprachkenntnisse verbesserte. 62 Schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts scheint die Aussicht auf einen Platz am Collegium Helveticum in den Gemeinden so attraktiv gewesen zu sein, dass sich die dörflichen Eliten mit Empfehlungsschreiben beim Grafen für potentielle Kandidaten stark machten. 1596 empfahlen Konrad Fröwis und Thomas Reich, zwei Bregenzer Bürger, ihr Vogtkind Adam Kolp für einen der Mailänder Freiplätze. Der Kandidat selbst legte ein Bewerbungsschreiben in lateinischer Sprache bei, wohl um damit unter Beweis zu stellen, dass er über ausreichende Sprachkenntnisse verfüge, um dem Unterricht in Mailand folgen zu können. 63 Jos Hollenstein aus Lustenau wurde 1602 durch ein Empfehlungsschreiben der (Alt-)Ammänner Mang Hagen und Georg Fitz an Graf Kaspar für einen Platz am Collegium Helveticum protegiert. Er besuchte zu dieser Zeit das Bregenzer Gymnasium. Sein Alter und Bildungsstand 194; S IMONETTA S CHERLING , Markus Sittikus III. (1533 - 1595). Vom deutschen Landsknecht zum römischen Kardinal (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs NF 4), Konstanz 2000, S. 124f.; A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 508. 59 A LFRED A. S TRNAD , Markus Sittich und Andreas von Österreich, in: E LMAR L. K UHN u. a. (Hg.), Die Bischöfe von Konstanz, Bd. 1: Geschichte, Friedrichshafen 1988, S. 396 - 403, 458 - 460, hier 398. 60 A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 508. 61 Zitiert nach: L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 284f. 62 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 286f. 63 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 286. <?page no="245"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 245 wurden aber für einen Freiplatz in Mailand als noch nicht ausreichend erachtet. Daher entschied Graf Kaspar, dass Hollenstein noch zwei Jahre lang studieren solle, bis er 18 Jahre alt sei, und sicherte ihm danach einen Platz zu. 64 Nicht selten stammten die präsentierten Kandidaten aus dem engeren Umfeld der Grafen von Hohenems. Johannes Ellensohn aus Bauren, den wir 1606 in Mailand finden, war einer ihrer Leibeigenen. Bevor er nach Mailand ging, entließ ihn Graf Kaspar ohne Gebühr aus der Leibeigenschaft unter der Bedingung, nach Abschluss seines Studiums als Priester auf eine Pfründe zu kommen, für die der Graf das Patronatsrecht besaß. 65 Auch bei den aus dem Reichshof Lustenau stammenden Georg Lechler, der 1614 nach Mailand ging, und Matthias Hämmerle, den wir gegen Ende der 1630er-Jahre dort als Theologiestudenten finden, handelte es sich um hohenemsische Leibeigene. 66 Hämmerle kam allerdings nicht mehr in den Genuss eines Freiplatzes. Graf Kaspar gab ihm jedoch die Möglichkeit, als Hauslehrer für seine Söhne die für das Studium notwendigen finanziellen Mittel zu verdienen. 67 Im Collegium Germanicum studierten in den beiden Jahrhunderten nach 1582 etwa fünfzig junge Männer aus Feldkirch und Umgebung. 68 Bei der Auswahl der Alumnen zeichnete sich eine ähnliche Entwicklung ab wie beim Helveticum. Auch in diesem Fall stammten die Ausgewählten nicht ausschließlich aus der Stadt oder ihrer unmittelbaren Umgebung, wie es eigentlich vorgesehen gewesen wäre. Mehrfach wurden die Freiplätze an junge Männer aus dem Bereich der Nachbardiözese Konstanz vergeben. 69 Dies war deshalb möglich, weil sich ihre Eltern eigens in das 64 Es ist nicht klar, ob Hollenstein jemals als Student nach Mailand gegangen ist; L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290. 65 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290; L UDWIG R APP , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 4: Anhang zum Dekanat Bregenz. Dekanat Dornbirn. Dekanat Bregenzerwald. Erste Abtheilung, Brixen 1902, S. 355. 66 Beide Elternteile Georg Lechlers, sein Vater Hans und seine Mutter Barbara Fussenegger, waren Leibeigene der Grafen von Hohenems. Bei Matthias Hämmerle ergibt sich die Leibeigenschaft daraus, dass seine Mutter, Barbara Hagen, leibeigen war. In Lustenau wurde die Leibeigenschaft in weiblicher Linie weitergegeben; F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch (Anm. 40), hier Bd. 2, S. 319, ha8, und Bd. 3, S. 161, le8. 67 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 291. 68 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 157 - 194. 69 Beispiele: Die Brüder Karl und Georg Bayer aus Rorschach, die 1724 bis 1728 bzw. 1733 bis 1739 am Germanicum nachweisbar sind; (Franz) Philibert (von) Buech aus Götzis, er wird in den Matrikeln des Germanicum der Diözese Konstanz zugerechnet; Franz Capitl (Franciscus Michael Capitel) wird in den Matrikeln des Germanicum als aus der Diözese Konstanz bezeichnet; Ludewig gibt dagegen lediglich Feldkirch als Herkunftsort an; die Brüder Josef Anton und Josef Christof Ludwig Grenzing, für die in den Matrikeln des Germanicum lediglich Diözese Konstanz als Herkunftsort angegeben wird; beide waren von ihren Lehrern am Jesuitengymnasium Augsburg für Rom empfohlen worden; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 186 - 189; P ETER S CHMIDT , Das Collegium Germanicum in Rom und <?page no="246"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 246 Feldkircher Bürgerrecht eingekauft hatten. Der Grund für diesen durchaus › kreativen ‹ Umgang mit der Stiftung lässt sich derzeit nicht mit Sicherheit nennen. Dass es in Feldkirch selbst zu wenige Kandidaten gegeben hätte, scheint angesichts der langen Schul- und Bildungstradition der Stadt eher unwahrscheinlich zu sein. Möglicherweise sah der Rat hierin einfach eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Seit etwa 1600 kehrten regelmäßig in Mailand und Rom ausgebildete Priester nach Vorarlberg zurück. Von den 15 Alumnen aus Vorarlberg, die in Mailand studiert hatten, wirkten nachweislich neun als Seelsorger wenigstens vorübergehend im Land: Kaspar Schmidt - er hatte nicht das Collegium Helveticum, sondern das Mailänder Priesterseminar absolviert - von 1589 bis 1596 als Stadtpfarrer von Bregenz, wo er zu den Stiftern des St.-Anna-Klosters gehörte; 70 Moritz Fischer aus Bregenz ab 1594 als Frühmesser in Rankweil; 71 Adam Kolp aus Bregenz 1607 »als Kaplan des Dreikönigs-Beneficiums in Bregenz«; 72 Franz Thurnher - nach seiner Zeit als Pfarrer in Arbon - als Pfarrer (1636 - 1657) 73 und schließlich als Kaplan in Bregenz (ab 1659); 74 Johannes Ellensohn von 1607 bis 1661 als Pfarrhelfer in Ems; 75 Hans Reuscher zunächst als Pfarrer in Ems und danach von 1612 bis 1617 in Lustenau; 76 der aus dem Reichshof Lustenau stammende Georg Lechler zunächst als Pfarrer in seiner Heimatgemeinde, danach von 1616 bis 1628 in Ems; 77 Georg Hämmerle aus Lustenau zuerst als Hofkaplan in Ems und danach bis 1674 als Pfarrer von Lustenau 78 sowie Franziskus Sandholzer von Zunderberg 1639 bis 1648 als Pfarrer von St. Martin in Röthis. 79 In den zum Bistum Chur gehörenden Landesteilen lassen sich die Germaniker. Zur Funktion eines römischen Ausländerseminars (1552 - 1914) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 56), Tübingen 1984, S. 222, 228f., 250. 70 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57). S. 281. 71 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 285, Anm. 16; L. R APP , Beschreibung, Bd. 1 (Anm. 24), S. 771. 72 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 286; dazu: L UDWIG R APP , Topographischhistorische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 2: Dekanat Feldkirch und Dekanat Bregenz, Brixen 1896, S. 423. 73 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 288; dazu: L. R APP , Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 72); S. 306. 74 K. P LITZNER / G. T SCHALLENER , Prosopographie (Anm. 47), Bd. 2, S. 1420. 75 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290. 76 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290. 77 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290f.; D ERS ., Pfarrkirche St. Peter und Paul, in: G EBHARD B ALDAUF / H UGO S CHNELL / L UDWIG W ELTI , Die Kirchen von Lustenau/ Vorarlberg, München 1939, S. 2 - 15, hier 8; L. R APP , Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 65), S. 408. 78 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 292. 79 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 660. <?page no="247"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 247 noch weitere Helvetiker, die nicht aus Vorarlberg stammten, als Pfarrseelsorger nachweisen. 80 Von den rund fünfzig Alumnen aus Feldkirch, die am Collegium Germanicum studiert haben, wirkten bis Ende des 18. Jahrhunderts etwa zwanzig wenigstens vorübergehend in verschiedenen Vorarlberger Pfarreien als Seelsorger. Sechs von ihnen erhielten die Feldkircher Stadtpfarrei St. Nikolaus, so dass diese von Ende des 16. Jahrhunderts bis 1756 rund 90 Jahre lang in den Händen von Germanikern lag. 81 Ein weiterer wirkte 20 Jahre lang, von 1670 bis 1690, als Stadtpfarrer in Bregenz. 82 Von den ländlichen Pfarreien kamen zehn in den Genuss eines in Rom ausgebildeten Pfarrers aus Vorarlberg, nämlich Altenstadt, 83 Bürs, 84 Göfis, 85 Klostertal, 86 Laterns, 87 Rankweil, 88 Röthis, 89 Schlins, 90 Schnifis 91 und Tosters. 92 Auch auf den verschiedenen Pfründen in der Stadt Feldkirch finden wir Germaniker. 93 80 Bernhard Cadusch (1575 - 1639) aus Obervaz, Pfarrer von St. Luzius in Göfis (1605 - 1639); Johann Flugi (1550 - 1627) aus La Punt - Chamuesch/ Engadin, Pfarrer von St. Nikolaus in Feldkirch (1585 - 1597); Joseph Mohr aus Mals (1577 - 1635), Pfarrer von St. Nikolaus in Feldkirch (1605 - 1607); A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 630, 632, 644. 81 Christian Capitl (1597/ 98 - 1601), Johannes Zoller (1604 - 1605), Leonhard Buzenreiner (1607 - 1652), Peter Sonderegger (1692 - 1698), Franz Anton Peller (1693 - 1724) und Franz Josef Sigmund von Harder (1724 - 1756); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 191; A. F I - SCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 630, 639f. und 648. 82 Johann Donat Rignolt von Proßwalden (1670 - 1690); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 193. 83 Josef Nikolaus von Peller (1751 - 1766); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 192. 84 Johann Jakob Pfefferkorn (1668 - 1695); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 192. 85 Peter Sonderegger (1675 - 1692); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 193. 86 Josef Tiefenthaler bis 1780; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 193. 87 Johann Jakob Pfefferkorn (1680 - 1688); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 183f. 88 Andreas Schenk, Pfarrer zu St. Peter (bis 1671); Bartholomäus Strahl (1643), Benefiziat in Sta. Maria in Rankweil; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 193; A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 662. 89 Franz Josef Kapeller (1707 - 1735); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 193. 90 Johann Jakob Pfefferkorn (1695); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 183. 91 Johann Baptist Leone (1783 - 1840); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 192. 92 Christian Capitl (1588/ 1593 - 1599), Franz Anton Peller (1701 - 1711) und Franz Xaver Karl von Peller, Edler von Schoppershof (1718? ); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 177, 185, 187; A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 630. 93 Christian Capitl (1593 - 1599), Franz Anton Peller (1701) und Franz Xaver Karl Peller (1718? ) Inhaber der Herrenpfründe; Andreas Schenk, Inhaber des Mutter-Gottes-Benefiziums (ab 1671); Fidelis Germanus von Tatt, Inhaber der St. Leonhards-Pfründe (1725 - 1730) und der Unser-Lieben-Frau-Pfründe in der Vorstadt (1730 - 1733); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 192; A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 630. <?page no="248"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 248 Die meisten der Genannten taten sich in ihren Pfarreien dadurch hervor, dass sie sich im Sinne der tridentinischen Reformen engagierten. So führten beispielsweise der Helvetiker Franziskus Sandholzer als Pfarrer in Röthis 94 und der Germaniker Leonhard Buzenreiner als Stadtpfarrer in Feldkirch in ihren Gemeinden die Matrikelführung ein. Letzterer war überdies entscheidend an der Gründung der Rosenkranzbruderschaft (1625) und des Jesuitengymnasiums (1649) beteiligt. Außerdem wirkte er an der Seligsprechung des Fidelis von Sigmaringen (1644) mit. 95 Zu berücksichtigen ist weiter, dass Einzelne darüber hinaus als Visitatoren des Bischofs von Chur eingesetzt wurden und auf diese Weise Einfluss auf die Umsetzung der tridentinischen Reformen im jeweiligen Visitationsbereich nehmen konnten. 96 Von den bis heute bekannt gewordenen Vorarlberger Helvetikern trat also gut die Hälfte wenigsten eine Zeit lang als Seelsorger in Pfarreien zwischen dem Arlberg und dem Bodensee auf. Bei den Germanikern war es ein gutes Drittel. Dabei ergänzten sich die beiden Ausbildungsstätten komplementär. Während die Helvetiker zu einem Gutteil aus ländlichen Gemeinden, teilweise sogar aus ärmeren Bevölkerungsschichten stammten, handelte es sich bei den Germanikern fast ausschließlich um Patriziersöhne. 97 Die in Mailand Ausgebildeten wurden alle bis auf einen in einer zur Diözese Konstanz gehörenden Pfarrei tätig und nur einer im Bereich der Diözese Chur. Bei den in Rom Ausgebildeten war es umgekehrt. Der Prozentsatz der im Land tätig Gewordenen mag auf den ersten Blick niedrig erscheinen, ging es doch darum, diese Region mit Seelsorgern zu versorgen. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass sowohl das Collegium Helveticum als auch das Collegium Germanicum in einem ganz spezifischen Sinn eine elitäre Ausrichtung hatten. Das Helveticum stellte den Anspruch, Absolventen hervorzubringen, die »später als versierte Theologen wie eifrige Seelsorger in der Heimat im Dienste der Kirche segensreich wirken« sollten. 98 Aus diesem Grund wurden seit 1583 aus Gebieten, in denen »Jesuiten Schulzentren führten«, nur noch Kandidaten aufgenommen, die sowohl die Grammatikals auch die Humanioraklassen mit Erfolg besucht hatten. Wenn keine jesuitische Bildungseinrichtung in der Nähe erreichbar war, genügte die Absolvierung der Grammatikklasse, wenn der Kandidat die Studierfähigkeit aufwies. 99 94 G. P ODHRADSKY , Geschichte (Anm. 25), S. 108. 95 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 178f. 96 Beispielsweise: 1595 Christian Capitel im Walgau und Vintschgau sowie 1626 Johannes Zoller im Misox; A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 630, 648. 97 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58). Allgemein zur sozialen Herkunft der Germaniker: P. S CHMIDT , Collegium Germanicum (Anm. 69), S. 78 - 89. 98 A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 514. 99 A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 514. <?page no="249"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 249 Im Collegium Germanicum dominierten bis etwa 1590 die Zöglinge mit bürgerlicher Herkunft. Dies änderte sich aber in der Folgezeit deutlich. Im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts stieg der Adelsanteil im Vergleich zum vorausgehenden Jahrzehnt von 8,9 auf 41,6 Prozent. Dieser Trend setzte sich danach im großen und ganzen fort, wobei der Höhepunkt zwischen 1720 und 1740 mit mehr als 70 Prozent Alumnen aus dem Adel erreicht wurde. Gleichzeitig verschwanden die Bürgerlichen aus dem Collegium Germanicum - wenn man die Zöglinge mit patrizischer Herkunft abzieht - fast völlig. 100 Somit lässt sich festhalten, »daß zunächst potentielle Anwärter für den niederen Klerus rekrutiert wurden, daß aber diese Funktion ab dem Ende des 16. Jahrhunderts abgelöst wurde, indem sich die Rekrutierung zunehmend auf Schichten verlagerte, die den höheren Klerus stellten«. 101 Von den Vorarlberger Absolventen der beiden Seminare finden wir folgerichtig etliche in höheren geistlichen Positionen wieder, u. a. einen Weihbischof, 102 drei Generalvikare 103 sowie zahlreiche Mitglieder von Domkapiteln. 104 Überdies traten drei von ihnen in den Jesuiten- oder Benediktinerorden ein. 105 Mit den elitären Ansprüchen der beiden Ausbildungsstätten hängt es wohl auch zusammen, dass die uns bekannten Alumnen aus Vorarlberg in vielen Fällen vorher und/ oder nachher eine oder sogar mehrere andere Universitäten besuchten. Von den Helvetikern finden wir beispielsweise 1576 den drei Jahre später von Jakob Hannibal von Hohenems als Kandidat für das Collegium Helveticum vorgeschlagen Jakob Mirgel aus Lindau 106 und 1607 den Lustenauer Georg Lechler in Dillingen. 100 P. S CHMIDT , Collegium Germanicum (Anm. 69), S. 78 - 89. In den Matrikeln wird unterschieden zwischen »nobilis«, aufgeschlüsselt in »comes«, »liber baro« und »eques«, »ignobilis«, aufgeschlüsselt in »honestes«, »cives« und »plebei«, sowie »patritii« unterschieden. 101 P. S CHMIDT , Collegium Germanicum (Anm. 69), S. 88. 102 Jakob Mergel, Weihbischof von Konstanz (1598 - 1629); L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 283. 103 Leonhard Buzenreiner und Johannes Zoller, Generalvikare des Bischofs von Chur, und Josef Anton von Grenzing, Generalvikar des Bischofs von Eichstädt; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 178, 187; A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 648. 104 Beispielsweise in Augsburg: Ulrich Zürcher; in Chur: Christian Capitl (1595 - 1623), Johannes Capitel (1600 - ? ), Johannes Zoller (1602 - 1628), Leonhard Buzenreiner (1606 - 1652), Johannes Andreas Capitel (16011 - 1612), Leonhard Creder (? - 1625), Sigismund Frei (1614 - ? ), Moriz Fröwis (? - 1626), Michael Hummelberg (1625 - 1655), Franziskus Sandholzer von Zunderberg (1636 - 1648), Bartholomäus Strahl (1637 - 1660); in Trient: Ernst Rudolf Severin von Halden-Tratzberg; vgl. A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 629f., 639 - 643, 648f., 653, 660, 662; P ETER H ERSCHE , Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, Bd. 1: Einleitung und Namenslisten, Bern 1984, S. 68, 87, 178. 105 Jesuiten: Johannes Andreas Capitel und Leonhard Creder; Benediktiner: Paul Sauter (Benediktinerstift Kremsmünster); A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 180f. 106 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 282f.; T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 105, Nr. 66. <?page no="250"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 250 Letzterer wurde am 3. August dieses Jahres ad synt. zugelassen. 107 Von den Germanikern sind vor ihrem Wechsel nach Rom folgende Alumnen in Dillingen bezeugt: Wolfgang Küt (Kith) (1576, 1579 Promotion zum Baccalaureus der Philosophie und Magisters der Philosophie); 108 Johannes (Andreas) Capitl (1591); 109 Andreas Rainold (1595 - 1597/ 98); 110 Leonhard Buzenreiner (1596 - 1600), 111 Johannes Baptist von Altmannshausen 1604 (Grammatiklasse); 112 Leonhard Creder (1609, 1612 Promotion zum Magister der Philosophie); 113 Michael Humelberg zu Sulzhofen (1610, Logikklasse); 114 Franziskus Sandholzer (1623); 115 Franz Anton Peller (1695, Baccalaureat der Philosophie); 116 Josef Ignaz Edler von Michielis (1730 wahrscheinlich); 117 Josef Tiefenthaler (1742 - 1744, Absolvierung der Philosophie); 118 Petrus Martin Josef Leone (1760) 119 und Johann Baptist Leone (1770/ 71 »als logicus«). 120 In geringerem Maße besuchten die Germaniker auch die Universität Freiburg im Breisgau, bevor sie nach Rom wechselten. Ludewig nennt u. a. Philibert von Buech, der 1632 hier der Logikklasse angehört haben soll, 121 der sich in den dortigen Matrikeln aber 107 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 334, 1607/ 77; L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290f. 108 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 107, 1576/ 119, 108, 1576/ 132; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 177. 109 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 193, 1591/ 27; A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 497. 110 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 223, 1595/ 130; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 178; A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 501. 111 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 227, 1596/ 2; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 178; A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 496. 112 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 179; T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 301, 1604/ 3. 113 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 369, 1609/ 218; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 180. 114 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 383, 1610/ 213; A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 499. 115 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 560, 1623/ 5; A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 501. 116 T HOMAS S PECHT (Bearb.), Die Matrikel der Universität Dillingen, Bd. 2: 1646 - 1695 (Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 3), Augsburg 1912, S. 1031, 1695/ 24; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 185. 117 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 189; P. S CHMIDT , Collegium Germanicum (Anm. 69), S. 276. 118 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 190. 119 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 190. 120 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 191. 121 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 182. <?page no="251"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 251 nicht nachweisen lässt. Sicher ist dies dagegen bei Wolfgang Küt (1575), 122 Johann Ludwig Imgraben (1585), 123 Johann Donat Rignolt von Proßwalden (1649 als logices studiosus) 124 und Johann Friedrich Schalck (1650 Student der Theologie). 125 Franz Brock Edler von Weißenberg aus Feldkirch besuchte vor seinem Studium in Rom die Universität Graz, wo er 1640 die Physik, also das zweite Studienjahr der Philosophie und des Lyzeums absolvierte. 126 In der Mehrzahl der genannten Fälle dürfte der Besuch einer Universität der Vorbereitung für das Studium in Mailand oder Rom gedient haben. Beim Collegium Germanicum könnte noch ein weiterer Grund hinzukommen: Der Studienaufenthalt in der Ewigen Stadt dauerte im Idealfall sieben Jahre - drei Jahre für das Studium der Philosophie und vier für das der Theologie. Die lange Studiendauer führte nach Ludewig zwangsläufig dazu, dass sich die Wartezeiten für die Bewerber erhöhten. Etliche von ihnen überbrückten diese dadurch, dass sie das Philosophiestudium oder wenigstens Teile davon währenddessen an einer Universität im Reich, meistens in Dillingen, absolvierten. 127 Vielfach endete die Studienlaufbahn der oben Genannten nicht in Mailand oder Rom. An die Jahre am Helveticum oder am Germanicum fügten zahlreiche Alumnen ein weiteres Studium an einer anderen Universität an. Der Bregenzer Magnus Schmid wechselte nach seiner Zeit in Mailand an die Universität Dillingen, wo er 1588 zum Magister der Philosophie und später zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Er sollte später Dekan und Rektor des neuen Münsters in Würzburg werden. 128 Auch Moritz Fischer aus Bregenz schrieb sich nach einem Studium am Collegium Helveticum am 2. Oktober 1589 als »päpstlicher Alumne in Dillingen« 122 H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 2, S. 547, 1575/ 43; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 177. 123 H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 2, S. 616, 1585/ 65; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 178. 124 H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 2, S. 914, Nr. 56; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 182; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 97 und 385. 125 H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 2, S. 917, Nr. 70; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 181 - 182. 126 A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 470f.; J OHANN A NDRITSCH (Hg.), Die Matrikeln der Universität Graz, Bd. 2: 1630 - 1662 (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 6/ 2), Graz 1980, S. 44, M 1640/ 235. 127 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 191. 128 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 179, 1588/ 173; L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 285; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 140, Nr. 60; K. P LITZNER / G. T SCHALLENER , Prosopographie (Anm. 47), Bd. 2, S. 1244. <?page no="252"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 252 ein. 129 Ignaz Josef Metzler, der das Collegium Germanicum von 1707 bis 1709 besuchte, dann aber vermutlich aus Gesundheitsgründen seinen Aufenthalt in Rom hatte abbrechen müssen, setzte sein Studium ebenfalls in Dillingen fort, wo wir ihn 1709/ 10 »als theologus primi anni« finden. 130 Dem elitären Charakter des Collegium Germanicum entsprach es auch, dass etliche seiner Vorarlberger Absolventen ihr Studium an einer der alten italienischen Universitäten fortsetzten: in Padua, 131 Perugia 132 oder Siena. 133 Für die Zeit nach 1600 lassen sich bislang keine tragfähigen Aussagen über den Anteil der Universitätsbesucher unter den Vorarlberger Priestern nennen. 134 Wir dürfen aber wohl davon ausgehen, dass er kaum anstieg, möglicherweise sogar stagnierte oder leicht rückläufig war. Darauf kann man mit aller gebotenen Vorsicht aus den Ergebnissen, die Albert Fischer für das Bistum Chur erarbeitet hat, schließen. 135 Auch die stichprobenartige Auswertung einzelner Vorarlberger Pfarreien legt diesen Schluss nahe: Für Höchst sind für die Zeit von Ende des 15. bis Ende des 18. Jahrhunderts 33 Priester bekannt. Von den elf, deren Wirken ins ausgehende 15. und ins 16. Jahrhundert fallen, konnten fünf an einer Universität nachgewiesen werden, von den 13 des 17. Jahrhunderts vier und von den zehn des 18. Jahrhunderts acht. 136 Von den 24 Pfarrherren und Pfarrern, die vor 1800 für Egg bezeugt sind, lassen sich 129 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 285 (Zitat); T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 183, 1589/ 97; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 140, Nr. 64. 130 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 186. 131 Johannes Andreas Capitl (1600 inskribiert); A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 497. Capitl fehlt bei: K. H. B URMEISTER , Vorarlberger Studenten in Padua (Anm. 34). 132 Johannes Capitl (1600 inskribiert, Dr. theol.), Andreas Reinold (1605), Leonhard Buzenreiner (1606 inskribiert, Dr. theol.), Leonhard Creder (1616); Michael Hummelberg (1617), Ulrich Zürcher (1626), Paul Sauter (1628), Bartholomäus Strahl (1633 - 1641, Dr. theol. und Dr. phil.); A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 472, Anm. 271, 496f., 499, 501. 133 Johannes Andreas Capitl (1607); Leonhard Creder (1612); Johann Donat Rignolt (Reinoldt) von Proßwalden (1652); A. F ISCHER , Reformatio et Restitutio (Anm. 21), S. 472, 497. 134 Die Prosopographie von Plitzner und Tschallener eignet sich für diesen Zeitraum nicht zu einer stichprobenartigen Auswertung, da diese keine eigenständige Untersuchung der Universitätsmatrikeln vorgenommen haben. Sie geben den Besuch einer höheren Bildungsanstalt nur dann an, wenn dies in der Diözesanbeschreibung von Rapp und Ulmer angeführt wird oder wenn der entsprechende Priester im Standardwerk von Ludewig über die Vorarlberger an in- und ausländischen Hochschulen - dies ist ihre Hauptquelle - genannt wird. Ludewig behandelt nur die Zeit bis Mitte des 17. Jahrhunderts. Außerdem berücksichtigt er einige Universitäten, die von Vorarlbergern frequentiert wurden, nicht für den gesamten Zeitraum, beispielsweise Wien nur bis 1420, Ingolstadt nur bis 1551 oder Salzburg nur bis 1642; vgl. A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25). 135 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 415 - 525. 136 K. H. B URMEISTER / G. L EIPOLD -S CHNEIDER , Höchster Geistliche (Anm. 37), S. 85 - 88. <?page no="253"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 253 elf an einer Universität nachweisen, von den sieben, deren Amtsantritt ins 15. Jahrhundert fällt, einer, von den fünf des 16. Jahrhunderts vier, von den sechs des 17. Jahrhunderts fünf und von den vier des 18. Jahrhunderts einer. 137 Von den 35 Pfarrherren und Pfarrern, die sich bis 1800 für Lustenau nachweisen lassen, ist für neun ein Universitätsbesuch bekannt. Der Schwerpunkt liegt mit sechs im 17. Jahrhundert. 138 Die Stagnation oder Rückläufigkeit spätestens seit dem 18. Jahrhundert dürfte mit den neuen Bildungsstätten jener Zeit zu tun haben. In Konstanz wurde bereits 1604 das seit rund einem Jahrzehnt bestehende Jesuitengymnasium zu einem Kolleg ausgebaut. Hier wurde von Anfang an auch die praktische Moraltheologie unterrichtet, so dass es sich zum »Rückgrat der Klerusausbildung im Bistum« entwickelte. 139 Von besonderer Bedeutung für Vorarlberg war, dass das 1649 in Feldkirch gegründete Jesuitengymnasium 1653 in ein Lyzeum umgewandelt und 1680 schließlich zu einem Kolleg erhoben wurde. 140 Das von Anton Ludewig vorgelegte Gesamtverzeichnis nennt in Summe 1.635 Schüler. Rund ein Viertel von ihnen schlug die Priesterlaufbahn ein. 141 Unter ihnen finden wir beispielsweise zwei Lustenauer Pfarrer: Christian Ludescher aus Götzis, der von 1674 bis 1680 im Reichshof wirkte, und Adam Kranz, der hier von 1680 bis 1689 und danach bis 1708 im benachbarten Höchst Pfarrer war. 142 Auch der Egger Pfarrer Peter Sonderegger aus Rankweil findet sich wohl unter den Studenten des Feldkircher Lyzeums 137 A. N IEDERSTÄTTER , Egg (Anm. 22), S. 94 - 97, 102f. Für zwei bei Niederstätter angegebene Pfarrer des 16. Jahrhunderts, Johann Winzürn und Johann Bedum, kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Universitätsbesuch angenommen werden: Einen Johannes Winzürn finden wir 1557 an der Universität Freiburg i. Br. Ludewig verweist in diesem Zusammenhang auf einen Pfarrer von Götzis (1577 - 1583) mit diesem Namen. Johann Bedum ist 1532 an derselben Universität nachweisbar; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 72, Nr. 126 und 81, Nr. 234; H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 1, S. 283, Nr. 1532 - 1533/ 1 und 421, Nr. 1556 - 1557/ 38. 138 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Pfarre und Pfarrgemeinde des Reichshofs Lustenau im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Neujahrsblätter des Historischen Archivs der Marktgemeinde Lustenau 11/ 12 (2021/ 22), S. 54 - 103, hier 60 - 71. 139 P. S CHMIDT , Priesterausbildung (Anm. 14), S. 137. 140 K. H. B URMEISTER , Kulturgeschichte (Anm. 10), S. 199 - 203; G ERHARD W ANNER , Die Entwicklung kultureller Einrichtungen, in: K ARL I LG (Hg.), Landes- und Volkskunde, Geschichte, Wirtschaft und Kunst Vorarlbergs, Bd. 2: Geschichte und Wirtschaft, Innsbruck-München 1968, S. 491 - 539, hier 497 - 499. 141 A NTON L UDEWIG , Die am Feldkircher Lyzeum im XVII. und XVIII. Jahrhundert studierende Jugend (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs und Liechtensteins 7), Innsbruck 1932. 142 A. L UDEWIG , Feldkircher Lyzeum (Anm. 141), S. 65, Nr. 832 und 60, Nr. 762. Dazu: W. S CHEFFKNECHT , Pfarre und Pfarrgemeinde (Anm. 138), S. 69; K. H. B URMEISTER / G. L EIPOLD -S CHNEIDER , Höchster Geistliche (Anm. 37), S. 88. <?page no="254"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 254 (1701). 143 Seit dem 17. Jahrhundert wuchs das Bildungsangebot für angehende Seelsorger in der näheren Umgebung Vorarlbergs noch weiter durch die Gründung von Jesuitengymnasien, durch die Öffnung bestehender Klosterschulen der Benediktiner, der Prämonstratenser und Augustinerchorherren sowie der durch die Franziskaner, Benediktiner und Dominikaner betriebenen höheren Schulen in den Städten. Etliche dieser Gymnasien wurden schließlich »mit philosophischen und theologischen Kursen zu sogenannten Lyzeen ausgebaut«, so dass sich »eine neue Ebene von Mittelschulen zwischen der humanistischen Elementarbildung und der Universität« etablieren konnte, welche »die Hauptlast der Ausbildung des Seelsorgeklerus« trugen. 144 Die meisten davon waren für Vorarlberger Studenten erreichbar. Wie stark sie allerdings frequentiert wurden, lässt sich derzeit nicht sagen, da einschlägige Forschungen fehlen. Unter den nach wie vor von angehenden Seelsorgern aus dem Bereich des heutigen österreichischen Bundeslandes besuchten Universitäten dominieren, wie schon angedeutet, Dillingen, Ingolstadt und Freiburg. Fischer nennt die beiden erstgenannten »[d]as eigentliche Bildungszentrum« und die »Drehscheibe katholisch-jesuitischer Konfessionsbildung schlechthin« in Oberdeutschland. 145 Für die heute zum Bundesland Vorarlberg gehörenden Teile der Diözesen Konstanz und Chur konnte Paul Berthold Rupp insgesamt 183 Priester ermitteln, die in Dillingen studiert hatten und danach in den genannten Gebieten wirkten. 146 Diese Universität war auch für Alumnen aus jenen Teilen Vorarlbergs, die zur Diözese Chur gehörten, zwischen 1570 und 1660 der wichtigste Studienort. Im besagten Zeitraum besuchten 49 Studenten aus den zu Chur gehörigen Teilen Vorarlbergs die Universität Dillingen, 147 das Jesuitenkolleg Luzern dagegen nur sechs 148 und das Helveticum in Mailand nur noch einer. 149 Aber auch die vorderösterreichische Universität Freiburg im Breisgau galt für »die Vorarlberger Priesteramtskandidaten ungebrochen als beliebter Studienort«. 150 143 A. L UDEWIG , Feldkircher Lyzeum (Anm. 141), S. 101, Nr. 1332; A. N IEDERSTÄTTER , Egg (Anm. 22), S. 96. 144 P. S CHMIDT , Priesterausbildung (Anm. 14), S. 138. 145 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 466. 146 P. B. R UPP , Entwicklung (Anm. 56), S. 319. 147 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 496 - 503. 148 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 480 - 484. 149 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 518. 150 A. F ISCHER , Reformatio und Restitutio (Anm. 21), S. 466. In Freiburg studierten nach 1600 beispielsweise: 1649 Johann Donat Rignolt (Reinoldt) von Proßwalden aus Feldkirch, später Pfarrer von Bregenz; 1662 Jodok Koler aus Egg, später Pfarrer in Ellenbogen; 1692/ 93 Andreas Feurstein aus dem Bregenzerwald, später Pfarrer in Kießlegg; 1695/ 96 Georg Hämmerle aus Lustenau, später Pfarrer in Lustenau; 1748/ 49 Johann Nepomuk Cronast aus Hohenems, später Pfarrer in Lustenau; 1757/ 58 Franz Josef Nepomuk Gugger von Staudach aus Hohenems, später Vikar in Dornbirn (um 1762), Vikar und Hilfspriester <?page no="255"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 255 5. Schullandschaft Voraussetzung, um ein Studium an einer der genannten Institutionen aufnehmen zu können, war eine entsprechende Vorbildung. Daher müssen wir einen kurzen Blick auf die Vorarlberger Schullandschaft und ihre Einbettung in überregionale Bildungslandschaften werfen. Bereits im Spätmittelalter existierten in verschiedenen Gemeinden Vorarlbergs dörfliche Schulen, beispielsweise in Nüziders und Dornbirn. 151 Aufgrund der Quellenlage muss allerdings offenbleiben, ob diese Schulen tatsächlich schon über einen längeren Zeitraum existiert haben. Eine nennenswerte »quantitative Ausbauphase« 152 fällt ins Jahrhundert nach der Reformation. Wichtige Impulse setzte die Konstanzer Diözesansynode von 1567, indem sie die Einrichtung von Schulen in allen Pfarreien vorschrieb. 153 In der Folge kam es zu zahlreichen Neugründungen sowie zu einer Neuausrichtung von schon bestehenden Elementarschulen. Dabei in Klaus (vor 1764), Pfarrer in Nenzing (1764 - 1766), Altenstadt (1766 - 1773) und Röthis (1773 - 1796 od. 1803); 1801 - 1802 Anton Metzler aus Andelsbuch, später u. a. Kurat Großdorf (1802 - 1804) und Langenegg (1804 - 1810); A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 97, Nr. 386; H. M AYER (Bearb.), Matrikel Freiburg (Anm. 25), Bd. 1/ 2, S. 914, Nr. 56; F RIEDRICH S CHAUB (Bearb.), Die Matrikel der Universität Freiburg i. Br. von 1656 bis 1806, Bd. 1: Text und Anmerkungen, Freiburg i. Br. 1955, S. 47, 1662/ 12, 189, 1692 - 1693/ 43, 599, 1748 - 1749/ 91, 680, 1757 - 1758/ 71 und 1038, 1801 - 1802/ 94; K. P LITZNER / G. T SCHALLENER , Prosopographie (Anm. 47), Bd. 1, S. 184, 493, 732; Bd. 2, S. 909; A NDRE - AS U LMER , Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 5: Dekanat Bregenzerwald. Fortsetzung und Schluß, Dornbirn 1924, S. 83, 227. 151 P ETER B USSJÄGER , Gemeindebuch Nüziders, Nüziders 1994, S. 251; A. N IEDERSTÄTTER , Dornbirn (Anm. 36), S. 65. 152 E RNST H INRICHS / N ORBERT W INNIGE , Schulwesen, Alphabetisierung und Konfession in der Frühen Neuzeit: Thesen und empirische Befunde, in: H EINZ S CHILLING / M ARIE - A NTOINETTE G ROSS (Hg.), Im Spannungsfeld von Staat und Kirche. »Minderheiten« und »Erziehung« im deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich 16. - 18. Jahrhundert (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 31), Berlin 2003, S. 215 - 231, hier 216. Die Feststellung Hermann Ehmers, dass sich »[d]er Ursprung des ländlichen Schulwesens« irgendwie auf die Reformation zurückführen lasse - und zwar sowohl in den evangelischen als auch in den katholischen Territorien - , trifft somit auch auf Vorarlberg zu; H ERMANN E HMER , Ländliches Schulwesen in Südwestdeutschland während der frühen Neuzeit, in: U LRICH A NDERMANN / K URT A NDERMANN (Hg.), Regionale Aspekte des frühen Schulwesens (Kraichtaler Kolloquien 2), Tübingen 2000, S. 75 - 106, hier 77. 153 M AX B AUMANN , Menschen und Alltag, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 4: Frühe Neuzeit: Bevölkerung, Kultur, St. Gallen 2003, S. 9 - 106, und Bd. 9: Register und Dokumentation, St. Gallen 2003, S. 48 - 51, hier Bd. 4, 67. Zur Synode: K ONSTANTIN M AIER , Die Konstanzer Diözesansynoden im Mittelalter und in der Neuzeit, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 6 (1986), S. 53 - 70, hier 63 - 67. <?page no="256"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 256 erwiesen sich die Ortsgeistlichen als wichtige Förderer des Schulwesens, wie beispielsweise für das Dekanat Bregenzerwald gezeigt werden konnte. Sie wirkten teilweise selbst als Lehrer in ihren Pfarreien, regten die Gründung von Schulen an oder förderten diese durch Stiftungen. 154 Nach dem Dreißigjährigen Krieg entstanden weitere ländliche Schulen, so dass es spätestens um 1750 berechtigt zu sein scheint, auch für Vorarlberg von einer intensiven schulischen Durchdringung des Landes zu sprechen. 155 In den religiös geprägten Elementarschulen fand mitunter bereits eine Vorauswahl potentieller Priesterkandidaten statt. So war beispielsweise der Hohenemser Frühmesser verpflichtet, begabte Schüler auszuwählen und ihnen Anfangskenntnisse in Latein beizubringen. Die Ausgewählten lebten im Pfarrhof, erhielten Chorhemden und wirkten als › Sängerknaben ‹ bei den Gottesdiensten mit. 156 Als (spätes) Beispiel mag in diesem Zusammenhang der Werdegang des 1780 in Andelsbuch als Sohn eines Bauern geborenen Anton Metzler dienen, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine beeindruckende geistliche Karriere durchlief, die ihm schließlich das Amt des Augsburger Generalvikars einbrachte. Im Alter von elf Jahren nahm sich der örtliche Pfarrer seiner an und bereitete ihn auf das Studium im Gymnasium Feldkirch vor. Später besuchte er die Universität Innsbruck, das kaiserliche Lyzeum in Linz, die Universität Freiburg im Breisgau und das Priesterseminar in Meersburg. 157 Weniger gut war die Ausstattung des Landes mit Lateinschulen oder Gymnasien. Über die heutigen Landegrenzen hinaus war einzig die Feldkircher Lateinschule bekannt und geschätzt. Sie erlebte ihren Höhepunkt zu Beginn der Neuzeit, als wenigstens vorübergehend bekannte Gelehrte wie beispielsweise Hieronymus Münzer, später Stadtarzt von Nürnberg, als Schulmeister an ihr wirkten. Der bereits angesprochene › Exodus ‹ von Gebildeten im Zuge der Reformation musste auch dieser Schule zusetzen. Sie konnte ihr Niveau aber wenigstens einigermaßen halten. Als 1649 in der Stadt ein Jesuitengymnasium gegründet wurde, wandelte sich die Lateinschule, die nun der Aufsicht der Jesuiten unterstellt wurde, zu einer Art »Vorbereitungsanstalt«. 158 Daneben gab es seit 1584 eine Lateinschule in Bregenz, die »aus der von den Montfortern gestifteten Siechenpfründe bei der Pfarrkirche« errichtet wurde. Ihre Ausstattung war äußerst dürftig. 1629 erfolgte mit Bewilligung des Konstanzer 154 A. U LMER , Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 150), S. 177 - 186; G. W ANNER , Entwicklung (Anm. 140), S. 492f.; A. N IEDERSTÄTTER , Egg (Anm. 22), S. 102. 155 H. E HMER , Ländliches Schulwesen (Anm. 152), S. 81. 156 G. W ANNER , Entwicklung (Anm. 140), S. 493; J OSEF G ISINGER , Das Schulwesen: Entstehung und Gegenwart, in: Hohenems, Bd. 2: Kultur, Hohenems 1978, S. 407 - 435, hier 407. 157 A. U LMER , Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 150), S. 320. 158 K. H. B URMEISTER , Kulturgeschichte (Anm. 10), S. 199 - 203 (Zitat S. 201); G. W ANNER , Entwicklung (Anm. 140), S. 497 - 499. <?page no="257"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 257 Generalvikars »eine Aufbesserung des spärlichen Einkommens aus den Überschüssen einiger Bregenzer Beneficien.« 159 Wie groß ihr Einzugsbereich gewesen ist, lässt sich derzeit nicht seriös abschätzen. Wir besitzen dazu lediglich einzelne verstreute Nachrichten. Das untere Rheintal dürfte aber dazu gehört haben. Die Schule wurde auch aus den reichsunmittelbaren Territorien beschickt. So finden wir hier 1602 den aus dem Reichshof Lustenau stammenden 16-jährigen Jos Hollenstein. 160 In Hohenems stiftete Graf Kaspar1612 eine Lateinschule, die einige Jahre floriert haben soll, aber tatsächlich wohl keinen langen Bestand hatte. 161 In Bludenz existierte seit Mitte des 16. Jahrhunderts eine Art Hybridschule, bei der es sich im Grunde um eine Deutsche Schule handelte, in der aber auch etwas Latein und Singen unterrichtet wurden. 162 Die Qualität dieser Schulen ist umstritten. Wiederholt wurden aber Kandidaten, die von den Grafen von Hohenems für einen Platz am Collegium Helveticum vorgeschlagen wurden, abgewiesen oder zurückgestellt, weil ihre Kenntnisse nicht ausreichend waren. 163 Es verwundert daher nicht, dass Studierwillige aus Vorarlberg auf Lateinschulen oder Gymnasien außerhalb des heutigen Bundeslandes geschickt wurden. Vor allem Konstanz scheint besucht worden zu sein. Genaue Zahlen lassen sich aufgrund der derzeitigen Forschungslage nicht nennen. Einzelbeobachtungen weisen aber in diese Richtung. Die für das ausgehende 16. und frühe 17. Jahrhundert bezeugten Fälle verweisen in das Milieu des städtischen Patriziats. So hatten beispielsweise mehrere der Vorarlberger Germaniker das Konstanzer Gymnasium besucht. 164 Auch am Jesuitengymnasium Augsburg konnten für die drei Jahrzehnte zwischen 1583 und 1613 elf Schüler aus Vorarlberg nachgewiesen werden. 165 159 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290, Anm. 4. Dazu auch: L. R APP , Beschreibung, Bd. 2 (Anm. 72), S. 493, 508; B ENEDIKT B ILGERI , Bregenz. Eine siedlungsgeschichtliche Untersuchung (Schriften zur Vorarlberger Landeskunde 1), Dornbirn 1948, S. 27, Anm. 51. 160 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290. 161 J. G ISINGER , Schulwesen (Anm. 156), S. 407. 162 M ANFRED T SCHAIKNER , Bludenz im Barockzeitalter (1550 - 1730), in: D ERS . (Hg.), Geschichte der Stadt Bludenz (Anm. 10), S. 161 - 280, hier 235 - 241. 163 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 287, 290. Dazu auch weiter oben. 164 Beispielsweise: Georg Schieß, Johannes Capitl und Andreas Capitl; A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 178f.; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 301. 165 Aus Bregenz Blasius Boss (1584), Simon Braun (1591), Matthäus Elgas (1613), Christian Hermann (eventuell aus Lauterach) (1589), Georg Kreuz (vor 1583) und Franz Andreas von Raitnau (1613); aus Feldkirch: Johann Frei (1613), Blasius Gassner (1584), Johann Jakob Grenzing (1597) und Johann Schmeling (1596); aus Schwarzenberg: Gallus Stülzer (1613); P AUL B ERTHOLD R UPP , Die Schüler des Augsburger Jesuitengymnasiums 1582 - 1614 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 20), Augsburg 1994, S. 35, 27, 56, 70f., 82, 88, 96, 107, 151, 167, 187. Josef Anton von Grenzing und sein jüngerer Bruder Johann <?page no="258"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 258 6. Familientraditionen und regionale Netzwerke Im Zuge der auch für Vorarlberg zu beobachtenden »› Verbürgerlichung ‹ des Pfarrklerus« im Spätmittelalter bildete sich in etlichen bürgerlichen und - etwas später - bäuerlichen Familien die Tradition aus, dass (mindestens) einer der Söhne den geistlichen Stand nahm. Ein frühes Beispiel bietet die Landammannfamilie Fröwis aus Egg im Bregenzerwald: Bereits 1414 finden wir mit Jodok und Kaspar von Fröwis zwei ihrer Vertreter an der Universität Heidelberg. 166 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wirkten Angehörige dieser Familie als Priester im Bregenzerwald: Heinrich von Fröwis, ein Sohn des Landammanns, wurde zunächst Vikar und dann 1452 Pfarrherr in Egg. Er ist in dieser Position für mindestens vier Jahrzehnte bezeugt. 1492 nominierte er einen jüngeren Georg Fröwis auf die Egger Filialkirche in Riefensberg und einen Wilhelm Fröwis als Frühmesser von Egg. 167 Ein weiteres frühes Beispiel bietet die Feldkircher Familie Pappus, von der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts » drei Angehörige […] hintereinander den Pfarre r am Liebfrauenberg« stellten. 168 Ähnliches können wir vielerorts auch für das 16. bis 18. Jahrhundert beobachten. In Hohenems finden wir einen Hans Ellensohn von 1607 bis 1661 als Pfarrhelfer 169 und einen Jakob Ellensohn 1635 als Frühmesser. 170 Für Dornbirn ist im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts die Tätigkeit von drei aus dem Bregenzerwald stammenden Geistlichen mit dem Familiennamen Greber belegt: Jakob Greber um 1660 als Frühmesser und von 1674 bis 1690 als Pfarrer, Wolfgang Greber, der später als Pfarrer in Bezau wirkte (1683 - 1720), 1682/ 83 und Johann Greber, der nachmalige Pfarrer von Alberschwende (1699 - 1709), um 1690 jeweils als Frühmesser. 171 Christoph Ludwig Grenzing wurden von ihren Lehrern am Augsburger Jesuitengymnasium dem Feldkircher Stadtrat zur Aufnahme ins Collegium Germanicum empfohlen; vgl. A. L UDE - WIG , Breven (Anm. 58), S. 187. Bei Rupp wird Johann Christoph Ludwig Grenzing nicht genannt. 166 Kaspar von Fröwis war später Domherr in Konstanz; A. N IEDERSTÄTTER , »Wäldar ka nüd jedar sin! « (Anm. 28), S. 71; A. L UDEWIG , Vorarlberger (Anm. 25), S. 30, Nr. 1, 2. 167 A. N IEDERSTÄTTER , Egg (Anm. 22), S. 96f. 168 A. N IEDERSTÄTTER , Geschichte Vorarlbergs, Bd. 1 (Anm. 17), S. 187. 169 L. R APP , Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 65), S. 355. 170 VLA, Urkunden 8867. 171 Jakob Greber stammte aus Mellau. Er ist ab 1656 an der Universität Dillingen nachzuweisen, wo er 1657 den Grad eines Baccalaureus der Philosophie und 1659 den eines Magisters der Philosophie erwarb. In den Dillinger Matrikeln wird er als Sohn des Mellauer Bauern Johann Greber bezeichnet; vgl. T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 774, 1656/ 104; A. U LMER , Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 150), S. 183. Johann Greber wird von Ludwig Rapp einmal als Bruder des Pfarrers Jakob Greber, ein anderes Mal als dessen Vetter bezeichnet; vgl. L. R APP , Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 65), S. 74f., 99f.; D ERS ., Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg, Bd. 3: Dekanat <?page no="259"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 259 In etlichen Familien lassen sich innerhalb einer Generation gleich mehrere Geistliche nachweisen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet die Familie des Feldkircher Ratsmitglieds und Stadtammanns Johann Zacharias Preller 172 und der Maria Anna Metzler von Andelberg. Im 18. Jahrhundert strebten gleich drei ihrer fünf Söhne eine geistliche Laufbahn an: Franz Anton, ausgebildet in Dillingen und Rom, wurde Pfarrer von Tosters und erlangte die Herrenpfründe in seiner Heimatstadt sowie ein Kanonikat in Chur; Johann Fidelis trat mit dem Klosternamen Ulrich in das Prämonstratenserstift Roggenburg in Schwaben ein und wurde 1733 Administrator des Klosters Churwalden in Graubünden; und Franz Xaver erlangte ebenfalls einen Freiplatz am Collegium Germanicum in Rom. 173 Überdies studierte ein Neffe der Genannten, Josef Nikolaus von Preller, wie zwei seiner geistlichen Onkel in Rom. Wir finden ihn nach dem Abschluss seiner Studien als Pfarrverweser in Altenstadt und als Pfarrer in Schaan. Außerdem wurde er Dekan des Drusianischen Landkapitels und erhielt ein Kanonikat in Chur. 174 Von den Söhnen des Feldkircher Spitalpflegers und Stadtammanns Peter Josef Leone 175 und der Maria Ursula Matt schlugen in den 1760erbzw. 1770er-Jahren zwei die geistliche Laufbahn ein: Petrus Martin Josef Leone (* 1748) und Johann Bregenz. Zweite Abtheilung, Brixen 1898, S. 597. In welchem Verwandtschaftsgrad Wolfgang Greber zu den beiden Genannten stand, lässt sich derzeit nicht genau klären. Er wurde von Hans Matschek als Sohn des Georg Greber (ca. 1615 - 1696) und der Sabina Meusburger (* ca. 1617 - 1691) identifiziert. Demnach wurde er am 10.7.1652 in Bezau geboren. Er starb am 19.3.1720 als Pfarrer in seiner Heimatgemeinde. Wolfgang Greber hatte nach dem Besuch des Lyzeums in Feldkirch die Universität Dillingen besucht und dort 1676 den Grad eines Baccalaureus der Philosophie und 1678 den eines Magisters der Philosophie erlangt; vgl. T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 914, 1676/ 85; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Universitätsdiplome im Vorarlberger Landesarchiv, in: Montfort 33 (1981), S. 232 - 237, hier 233; H ANS M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau 1604 - 1912 (Quellen zur Geschichte Vorarlbergs 15), Regensburg 2013, S. 267, Nr. 883. Zum Gesamten vgl. auch: M ANFRED T SCHAIKNER , Dornbirn in der frühen Neuzeit (1550 - 1771), in: W. M ATT / H. P LATZGUMMER (Hg.), Geschichte der Stadt Dornbirn (Anm. 36), S. 73 - 251, hier 158. 172 Johann Zacharias von Preller war ein Sohn des Ratsherrn Johann Anton von Preller. Er kam 1685 in den Rat der Stadt Feldkirch und bekleidete das Amt des Stadtammanns in den Jahren 1688, 1690/ 91, 1692, 1693, 1694 und 1695; vgl. C HRISTOPH V ALLASTER , Von Hans Stöckli bis Dr. Heinz Bilz. Stichworte zur Geschichte der Feldkircher Stadtammänner und Bürgermeister, in: Montfort 30 (1978), S. 20 - 35, hier 25f. 173 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 185; P. S CHMIDT , Collegium Germanicum (Anm. 69), S. 283. 174 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 189; P. S CHMIDT , Collegium Germanicum (Anm. 69), S. 283. 175 Josef Peter Leone kam 1748 in den Rat der Stadt Feldkirch und wurde 1768 Stadtammann; vgl. C H . V ALLASTER , Stadtammänner und Bürgermeister (Anm. 172), S. 27. <?page no="260"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 260 Baptist Leone (* 1753). Beide studierten zunächst in Dillingen und danach am Collegium Germanicum in Rom, beide wurden zum Doktor der Theologie promoviert und beide wirkten als Weltpriester im Bereich der Diözese Chur, Petrus Martin Josef als Pfarrer in Madesimo/ Italien und Johann Baptist als Pfarrer von Schnifis. 176 Ähnliches kann auch im bäuerlichen Milieu beobachtet werden. So wurden beispielsweise zwei der vier Kinder des Franz Greber (1642 - 1642) und der Anna Erhart (ca. 1630 - ? ) aus Bezau - zugleich deren einzige Söhne - Priester: Jodok (1668 - 1696) und Josef (1670 - 1733). 177 Jodok Greber war von 1694 bis 1696 Pfarrer in Schoppernau, 178 Josef Greber von 1696 bis 1702 Pfarrer in Bizau und von 1702 bis 1733 in Au. 179 Aus der Familie des Gabriel Greußing und der Barbara Vogt aus Bezau 180 fanden drei Söhne den Weg an die Universität: Kaspar (* 28.12.1636) ist 1656 als log[icus] in Dillingen zu finden. Hier wurde er im Dezember 1657 zum Baccalaureus und im Juli 1659 zum Magister der Philosophie promoviert. 181 1660 finden wir ihn an der Universität Graz, 182 wo er noch im selben Jahr verstarb. 183 Auch Jodok (* 26.2.1641) studierte zunächst in Dillingen. Dort ist er 1659 als log[icus] nachweisbar, wurde im Dezember 1660 zum Baccalaureus und im Juli 1662 zum Magister der Philosophie promoviert, 184 und war ab 1665/ 66 in Graz. 185 Christoph wird als Student bezeichnet, allerdings ist bislang über seine schulische Laufbahn nichts Näheres bekannt. 186 Von den Genannten wurde nur Jodok Priester. Bereits 1665 scheint er 176 A. L UDEWIG , Breven (Anm. 58), S. 190f.; P. S CHMIDT , Collegium Germanicum (Anm. 69), S. 269. 177 H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 260, Nr. 889. 178 A. U LMER , Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 150), S. 806. 179 A. U LMER , Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 150), S. 609, 704. 180 Das Ehepaar hatte fünf Söhne. Nach dem Tode seiner Frau Barbara Vogt ( † 29.11.1650) heiratete Gabriel Greußing am 10.2.1651 Maria Feuerstein. Zusammen mit ihr hatte er drei Töchter und einen Sohn; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 293f., Nr. 980. 181 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 773, 1656/ 96. 182 J. A NDRITSCH (Bearb.), Matrikeln Graz, Bd. 2 (Anm. 126), S. 214, P 2420. 183 Er starb am 26.9.1660; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 293, Nr. 980. Der Eintrag im Bezauer Sterbebuch lautet: Ao. 1660 den 26 Herbstmonat: Caspar Greußing student zu Gräz mit den heilligen sacramanten ordelich versechen, ist gestorben und vergraben worden, hernach aber alhie ime geleuthet, und nachgethon worden; PfarrA Bezau, Trauungs- und Sterbebuch 1604 - 1683, S. 162. 184 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 792, 1659/ 77. 185 J OHANN A NDRITSCH (Bearb.), Die Matrikeln der Universität Graz, Bd. 3: 1663 - 1710 (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 6/ 3), Graz 1987, S. 214, P 234 und 220, P 378. 186 H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 293, Nr. 980. <?page no="261"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 261 als Kooperator in Au im Bregenzerwald auf. 187 Sein älterer Bruder Kaspar starb, wie gezeigt, noch vor Beendigung seines Studiums. In einigen Fällen wurden diese Priesterdynastien zu Pfarrerdynastien. So befand sich das Amt des Lustenauer Pfarrers im Jahrhundert von 1647 bis 1746 insgesamt 85 Jahre lang in den Händen der Familie Hämmerle: Georg Hämmerle (1618 - 1674) amtierte von 1647 bis 1674, sein Neffe Matthias Hämmerle (1654 - 1721) von 1689 bis 1721 und dessen Neffe Georg Hämmerle der Jüngere (1672 - 1746) von 1721 bis 1746. 188 Man ist versucht, von einer › Amtsvererbung ‹ von Onkel auf Neffen zu sprechen. Die Voraussetzung dafür, dass das Amt auf diese Weise innerhalb einer Familie weitergegeben werden konnte, war allerdings, dass der Patronatsherr mitspielte. Im gegebenen Fall war das der jeweilige Reichsgraf von Hohenems. Bei der Familie Hämmerle können wir zumindest ein Nahverhältnis zum Grafenhaus beobachten. So waren sowohl Georg Hämmerle als auch sein Neffe Matthias Hofkaplan in Hohenems gewesen, ehe sie auf die Pfarrerstelle in Lustenau berufen wurden - Georg von etwa 1644 bis 1647, Matthias von 1679 bis 1689. 189 Bei Georg (I) und Matthias Hämmerle bestand auch insofern eine enge Beziehung zum Grafenhaus, als beide gräfliche Leibeigene waren. 190 Georg (I) wurde von der gräflichen Familie nachweislich bereits im Rahmen seiner Ausbildung gefördert. Durch die Fürsprache von Reichsgraf Kaspar erhielt er 1639 einen Platz am Collegium Helveticum in Mailand. Außerdem fungierte er, wie beschrieben, als Privatlehrer der Grafensöhne. 191 In anderen Fällen scheiterte die Weitergabe des Pfarreramtes am Patronatsherrn. So versuchte in Dornbirn der schon erwähnte Pfarrer Jakob Greber 1690 vergeblich, seine Pfründe an einen Verwandten, Johann Greber, weiterzugeben. 192 Indem er »in die Hand des Papstes Alexander VIII. resignierte«, versuchte er, das Patronatsrecht des Grafen von Hohenems zu umgehen. Obwohl der Papst die Pfründe zunächst 187 A. U LMER , Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 150), S. 744; K. P LITZNER / G. T SCHALLENER , Prosopographie (Anm. 47), Bd. 1, S. 477. 188 L. R APP , Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 65), S. 409f. Dazu auch: W. S CHEFFKNECHT , Pfarre und Pfarrgemeinde (Anm. 138), S. 68f. 189 L. W ELTI , Pfarrkirche St. Peter und Paul (Anm. 77), S. 11; G ERT A MMANN / H UGO L OACKER , Die Kirchen und Kapellen von Hohenems (Schnell - Kunstführer 641), 3. Aufl. Regensburg 2009, S. 19. 190 Das ergibt sich daraus, dass ihre Mütter Babara Hagen bzw. Magdalena Bösch leibeigen gewesen sind; F. S TETTER / S. K ÖNIG , Lustenauer Familienbuch (Anm. 40), hier Bd. 2, S. 319, ha8 und 51, bo9. 191 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290 - 292; W. S CHEFFKNECHT , Konfessionalisierung (Anm. 54), S. 231, Anm. 62. 192 M. T SCHAIKNER , Dornbirn (Anm. 171), S. 156. Ausführlich zu diesem Vorgang: L. R APP , Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 65), S. 74 - 77. Zur Herkunft des Pfarrers Jakob Greber: A. U LMER , Beschreibung, Bd. 5 (Anm. 150), S. 183. Zum Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Priestern vgl. weiter oben. <?page no="262"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 262 an Johann Greber verliehen hatte, scheiterte diese Strategie letztlich am Widerstand des Grafen. 193 Die Familientraditionen führten zwangsläufig zu einer Akkumulation von Bildung und Wissen. Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden: 1619 stiftete der etwa 20-jährige Kapuzinerpater Martin Rusch aus Dornbirn seiner Heimatpfarrei gegen einen ewigen Jahrtag eine 225 Bücher umfassende Bibliothek. Rusch kann 1615 an der Universität Dillingen nachgewiesen werden. 1618 trat er in den Kapuzinerorden ein, legte ein Jahr darauf die Ordensgelübde ab und nahm den Ordensnamen Clemens an. Dies bildete wohl den Anlass für diese Stiftung. 194 Mit einiger Wahrscheinlichkeit war Martin Rusch ein Sohn des um 1560/ 70 in Dornbirn geborenen Georg Rusch und der ebenfalls aus Dornbirn stammenden Margaretha Schmid. Wie sein Dillinger Matrikeleintrag belegt, hatte bereits sein Vater ein Universitätsstudium absolviert und den akademischen Grad eines Magisters der Philosophie erlangt, war danach aber in seine Heimatgemeinde zurückgekehrt, um dort fortan als Bauer zu leben. 195 Bei Margaretha Schmid dürfte es sich um eine Schwester des Martin und des Konrad Schmid handeln, die beide ebenfalls studiert hatten und sich latinisiert Faber nannten. Martin Faber trat nach dem Studium in Dillingen 196 1588 in den Jesuitenorden ein und wurde 1597 zum Priester geweiht. Bald danach verließ er den Orden wieder. 1616 wurde er Pfarrer von Dornbirn. Er bekleidete dieses Amt auch noch 1619, als Martin Rusch seine Stiftung aufsetzte. Konrad Faber war 1586 in Dillingen inskribiert, wo er 1591 eine theologische Dissertation einreichte. 197 Später wurde er Pfarrer von Altdorf bei Weingarten. 198 Martin Rusch war also über beide Elternteile in »ein gelehrtes Umfeld« 199 eingebunden. Dies dürfte ihm nicht nur den Weg nach Dillingen geebnet haben, sondern 193 T H . H AUSTEINER , Patronatswesen (Anm. 4), S. 239. 194 F RANZ A LBRICH , Die Stiftung des Pater Martin Rusch von 1619. Eine Bücherei aus der Zeit der Glaubensspaltung, in: Montfort 39 (1987), S. 194 - 205, hier 200. 195 Der Matrikeleintrag lautet: Martinus Ruosch Dornbürensis prope Lindouium fil. agricolae ibidem Georgii Ruosch, phil. Magistri, adm. ad synt. maior (30. Nov.); T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 457, 1615/ 191. 196 Der Matrikeleintrag lautet: [1572] Martinus Faber Bregantinus (9. Juni); T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 81, 1572/ 56. 197 Der Matrikeleintrag lautet: [1586] Conradus Faber Dornbürensis (28. Febr.). Konrad Faber wurde in Dillingen am 7.4.1587 zum Baccalaureus der Philosophie, am 27.6.1588 als päpstlicher Alumne zum Magister der Philosophie, am 20.3.1591 zum theologiae Baccalaureus biblicus und am 28.5.1591 zum theologiae Baccalaureus formatus promoviert; T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 162, 1586/ 18. 198 F. A LBRICH , Stiftung (Anm. 194); D ERS ., Die Stiftung des P. Clemens (Martin) Rusch von 1619, in: Dornbirner Schriften 4 (1988), S. 78 - 81. 199 F. A LBRICH , Stiftung (Anm. 194), S. 195. <?page no="263"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 263 auch erklären, weshalb er bereits in jungen Jahren über eine so stattliche Büchersammlung verfügte. Aufgrund der Besitzvermerke in den 41 erhaltenen Bänden, die in Summe 55 Buchtitel enthalten, können sechs dem Konrad Faber als Vorbesitzer zugewiesen werden. 200 Wir dürfen wohl annehmen, dass weitere Bücher »aus dem Besitze seines Vaters, des Bauern und Magister der Philosophie, stammen«. 201 Auch andere Vorarlberger Priester verfügten in der Frühen Neuzeit über durchaus beachtliche Büchersammlungen, die über mehrere Benutzergenerationen gewachsen waren. Der bereits erwähnte Bezauer Pfarrer Wolfgang Greber besaß an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert eine Privatbibliothek, von der heute über hundert Bände bekannt sind. In fast allen von ihnen finden sich Besitzvermerke, so dass festgestellt werden kann, dass Greber bei keinem der Bücher Erstbesitzer war. Etliche von ihnen hatten sich vorher im Besitz des Sulzberger Pfarrers Jacob Dietrich befunden. 202 Die Familien- und Verwandtschaftsverbände dürften auch in anderen Kontexten eine entscheidende Rolle gespielt haben. So können wir annehmen, dass die Entscheidung, ob ein Familienmitglied ein Studium aufnehmen durfte, in einer Art Familienkonferenz gefallen ist, 203 und dass Familienmitglieder, die im Studium standen oder schon ein Studium absolviert hatten, sich der künftigen Studenten aus ihrer Verwandtschaft annahmen und sie förderten. 204 200 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Die Bibliothek des P. Martin Rusch aus Dornbirn. Katalog und Beschreibung der erhaltenen Bestände, in: Alemannia Studens. Mitteilungen des Vereins für Vorarlberger Bildungs- und Studentengeschichte 2 (1992), S. 65 - 91, hier 75 und 83 - 86, Nr. 23, 24, 34, 35, 45 und 46. 201 F. A LBRICH , Stiftung (Anm. 194), S. 195. 202 N ORBERT S CHNETZER , Wolfgang Greber, in: https: / / vlb.vorarlberg.at/ was-haben-wir/ sondersammlungen/ privatbibliotheken/ wolfgang-greber (aufgerufen am 16.7.2023). 203 Dies zeigt beispielsweise das Beispiel der Familie Hollenstein aus Lustenau, die im 18. Jahrhundert mehrere Priester und Akademiker stellte. Die Entscheidung darüber, ob ein Familienmitglied für ein Studium vorbereitet werden sollte, fiel offenbar jeweils in einer Art Familienrat. So berichtet Johann Viktor Hollenstein I in der Familienchronik, dass er mit verwilligung der Eltern und geschwistrigen seine Studien 1738 in Feldkirch bei den Jesuiten begann. Im Falle seines Bruders Franz Anton, eines späteren Jesuiten und Rhetorikprofessors, mussten ebenfalls sein Vater und seine Geschwister zustimmen, damit er sich für das Studium vorbereiten durfte; Historisches Archiv Lustenau, Hollensteinische Familienannalen I A, S. 24, 32. 204 Auch dafür bietet die Geschichte der Lustenauer Familie Hollenstein Beispiele: Johann Viktor Hollenstein I nahm bereits als Student in Dillingen 1746 seinen jüngeren Bruder Franz Anton bei sich auf und instruiert[e] ihn. 1764 holte er als Pfarrer von Hausen am Andelsbach seinen gleichnamigen, erst acht Jahre alten Neffen in seinen Haushalt und brachte ihm in den folgenden drei Jahren das Schreiben und Lesen bei. Danach fand dieser, Johann Viktor Hollenstein II, 1767 zusammen mit seinem Cousin Joachim Schneider aus Höchst bei einem anderen Onkel, dem Jesuiten Franz Anton Hollenstein, in Rottweil Aufnahme. Unter seiner <?page no="264"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 264 Offensichtlich wirkten die Familien- und Verwandtschaftsverbände auch als Katalysatoren für die Weitergabe von Informationen über Studienmöglichkeiten, Stipendien usw. Hier scheinen sich insofern Traditionen ausgebildet zu haben, als wir immer wieder Studenten, die miteinander verwandt oder verschwägert waren, an denselben Universitäten finden. So lassen sich beispielsweise in Dillingen zwischen 1572 und 1686 acht mit dem Familiennamen Metzler nachweisen, die alle aus Schwarzenberg im Bregenzerwald stammten: Georg (I, 1572), 205 Johannes (1572), 206 Sigmund (1607), 207 Gregor (1608 - 1612), 208 Jakob (1653), 209 Kaspar (1654 - 1657), 210 Georg (II, 1661 - 1666) 211 und Thomas (1683 - 1686). 212 Aus Bezau finden wir hier zwischen 1616 und 1662 sechs Studenten mit dem Familiennamen Feuerstein: Georg (1616 - 1619), 213 Kaspar (I, 1646), 214 Andreas (1653), 215 Kaspar (II, 1653), 216 Aufsicht begannen die beiden hier die principia zu studieren. Johann Viktor Hollenstein II wurde 1779 nach dem Schulbesuch bzw. Studium in Rottweil, Konstanz, Feldkirch, wo er mit vielen Praemien die unteren Schulen absolvierte, sowie als päpstlicher Alumnus in Dillingen, wo er den Grad eines Lizentiaten der Theologie erwarb, und im Priesterseminar zu Meersburg, wo er einen sechswöchigen Kurs absolvierte, zum Priester geweiht. Joachim Schneider brach dagegen sein Studium an und absolvierte eine Wundarztlehre; Historisches Archiv Lustenau, Hollensteinische Familienannalen I A, S. 32, 110, 144. 205 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 84, 1572/ 128. 206 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 82, 1572/ 64. 207 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 341, 1607/ 200. 208 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 351, 1608/ 136. 209 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 751, 1653/ 67. 210 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 756, 1654/ 20. 211 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 804, 1661/ 11. 212 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 963, 1683/ 81. 213 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 1 (Anm. 41), S. 468, 1616/ 130. Es dürfte sich um den ca. 1590 geborenen Sohn des Jakob Feuerstein (* ca. 1560) und der Gertrude Staiger (* ca. 1560) handeln. Er wurde Priester und starb 1657 in Zams; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 177, Nr. 573. 214 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 723, 1646/ 6. Es handelt sich um den 4.3.1628 geborenen ältesten Sohn des Johann Feuerstein. Er wurde Pfarrer von Bizau und starb am 15.3.1699; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 182, Nr. 593. 215 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 752, 1653/ 77 und 754, 1653/ 117. Es handelt sich um einen am 21.11.1632 geborenen Sohn des Johann Feuerstein (ca. 1600 - 1676) und der Anna Greber (ca. 1595 - 1649). Er war nach Matschek Jesuit und »ein berühmter Theologe, der als Professor und Dekan in Innsbruck, Freiburg und Luzern wirkte«. Er starb am 16.7.1685; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 183, Nr. 594. 216 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 752, 1653/ 78. Er kann nicht sicher identifiziert werden. In Frage kommen: (1.) Ein möglicher jüngerer Bruder Andreas Feuerstein namens Kaspar (10.3.1639 Bezau - 1714 Konstanz). Nach Matschek scheint dieser 1662 zusammen mit Andreas im Steuerbuch auf. Er wird dabei wie dieser als <?page no="265"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 265 Matthias (1653 - 1655) 217 und Jakob (1662). 218 Für zwei der Genannten lässt sich eine nähere Verwandtschaft nachweisen: Kaspar (I) und Jakob stammten aus der Landschreiberdynastie Feuerstein. Sie waren Enkel, Urenkel und Ururenkel dreier gleichnamiger Landschreiber Kaspar Feuerstein. 219 Offensichtlich spielten Nachbarschaftsverbände und regionale Beziehungen auch eine wichtige Rolle, wenn es darum ging, die Übersiedelung an den Studienort zu realisieren. Es fällt jedenfalls auf, dass sich wiederholt kleine Gruppen von Studenten aus dem Bregenzerwald gleichzeitig in Dillingen immatrikulierten: Am 13. Oktober 1654 waren dies beispielsweise Johann Kohler aus Egg, Johann Sieber und Kaspar Metzler aus Schwarzenberg sowie Johannes Zengerlin aus Schnepfau; 220 am 16. Oktober 1662 Johannes Schwarz und Peter Lang aus Hittisau, Johannes Felder und Jakob Metzler aus Egg, Jakob Feuerstein aus Bezau sowie der aus dem Nachbargericht Sulzberg stammende Georg Vogel. 221 Nach Ludewig betrug das Durchschnittsalter der Vorarlberger Studenten bei der Inskription 15 bis 16 Jahre. 222 Die Jesuit bezeichnet. Ob es sich bei den beiden wirklich um Brüder handelt, ist nach Ansicht Matscheks »nicht ganz gewiss«. (2.) Ein am 16.1.1634 geborener Sohn des Peter Feuerstein (* ca. 1595) und der Dorothea Ratz (ca. 1600 - 1636). Über ihn sind keine weiteren genealogischen Daten bekannt. (3.) Der Gerichtsbeisitzer Kaspar Feuerstein (ca. 1635 - 1696). Ihm wurden zwischen 1661 und 1682 elf Kinder geboren, sieben mit Barbara Zengerle (ca. 1640 - 1699) und vier, die entweder aus einer nicht bekannten ersten Ehe stammten oder außerehelich geboren wurden. Weder von ihm noch von seiner Frau lassen sich genealogische Verbindungen zu einer älteren Generation herstellen; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 181, Nr. 590, 183, Nr. 594 und 190, Nr. 611. 217 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 752, 1653/ 76. Wohl der am 27.2.1634 geborene Sohn des Wendelin Feuerstein (ca. 1595 -† 1638) und der Margaretha Felder (* 1607). Er heiratete 1662 Christina Feuerstein (* 1637) und hatte mir ihr acht zwischen 1664 und 1680 geborene Kinder; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 182, Nr. 591 und 189, Nr. 608. 218 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 812, 1662/ 28. Ein am 9.12.1643 geborener Sohn des Landschreibers Jakob Feuerstein (ca. 1595 - 1668) und der Anna Wilburger (ca. 1595 - 1673) und damit ein Bruder der Christina Feuerstein (* 1637), die mit Matthias Feuerstein verheiratet war; H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 182, Nr. 592. 219 Enkel des Kaspar Feuerstein (ca. 1560 - 1626), Urenkel des Kaspar Feuerstein (ca. 1530 - vor 1604) und Ururenkel des Kaspar Feuerstein (* ca. 1595). H. M ATSCHEK , Sippenbuch von Bezau (Anm. 171), S. 175, Nr. 562 und 565 sowie 177, Nr. 571. 220 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 755f., 1654/ 18, 1654/ 19, 1654/ 20, 1654/ 21. 221 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 811f., 1662/ 23, 1662/ 24, 1662/ 25, 1662/ 26, 1662/ 27, 1662/ 28. 222 A. L UDEWIG , Vorarlberg (Anm. 25), S. 7; A. N IEDERSTÄTTER , Universitätsdiplome (Anm. 171), S. 233. <?page no="266"?> W OL FGANG S CH EF FKN EC HT 266 Genannten lagen deutlich darüber: Bei den vier Studenten aus dem Bregenzerwald, die sich im Oktober 1654 am selben Tag in Dillingen immatrikulierten, wird es mit 17 bis 20 Jahren angegeben. 223 Die sechs, die sich 1662 gleichzeitig einschrieben, waren nach Angaben der Dillinger Matrikel mit einer Ausnahme jeweils 20 Jahre alt; lediglich einer, Jakob Feuerstein aus Bezau, soll 18 Jahre alt gewesen sein. 224 Die Studienverläufe der gemeinsam Immatrikulierten weisen ebenfalls auffällige Parallelen auf. Von den vier Bregenzerwäldern, die sich im Oktober 1654 gleichzeitig in Dillingen einschrieben, erwarben drei jeweils am selben Tag identische akademische Grade: Johann Kohler, Johann Sieber und Kaspar Metzler wurden am 9. Dezember 1655 zu Baccalaurei der Philosophie und am 19. Juli 1657 zu Magistri der Philosophie promoviert. Der Studienverlauf des Johannes Zengerlin weist dagegen eine Verzögerung auf: Er erwarb den Grad eines Baccalaureus der Philosophie am 4. Dezember 1658 und den eines Magisters der Philosophie am 28. Juli 1660. 225 Bei den sechs im Oktober 1662 Immatrikulierten liegen die Verhältnisse ganz ähnlich. Georg Vogel, Johannes Schwarz, Johannes Felder und Jakob Metzler erwarben am 13. Dezember 1663 jeweils den Grad eines Baccalaureus der Philosophie und am 23. Juli 1665 den eines Magisters der Philosophie. 226 Peter Lang wechselte nach einem Jahr als › logicus ‹ in Dillingen dagegen an die Universität Freiburg im Breisgau. Hier wurde er am 14. Dezember 1663 zum Baccalaureus der Philosophie und am 21. Juli 1665 zum Magister promoviert. 1663/ 64 absolvierte er hier den Kurs der Moraltheologie. 227 Bei Jakob Feuerstein ist über den Studienverlauf derzeit nichts bekannt. 7. Fazit Die Bemühungen um eine Verbesserung der Priesterausbildung zeitigten seit etwa 1600 durchaus Erfolge. Die Landesherrschaft - namentlich die Reichsgrafen von Hohenems - , aber auch die Stadt Feldkirch verstanden es, auf unterschiedlichen Wegen Einfluss zu nehmen. Zum einen lag es in den Händen der Reichsgrafen und 223 Johann Kohler aus Egg (20 Jahre), Johann Sieber, Schwarzenberg (19 Jahre), Kaspar Metzler, Schwarzenberg (17 Jahre), Johannes Zengerlin, Schnepfau (18 Jahre); T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 755f., 1654/ 18, 1654/ 19, 1654/ 20, 1654/ 21. 224 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 811f., 1662/ 23, 1662/ 24, 1662/ 25, 1662/ 26, 1662/ 27, 1662/ 28. 225 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 755f., 1654/ 18, 1654/ 19, 1654/ 20, 1654/ 21. 226 T H . S PECHT (Bearb.), Matrikel Dillingen, Bd. 2 (Anm. 116), S. 811f., 1662/ 23, 1662/ 24, 1662/ 25, 1662/ 26, 1662/ 27, 1662/ 28. 227 F. S CHAUB (Bearb.), Matrikel Freiburg, Bd. 1 (Anm. 150), S. 55, 1663/ 31. <?page no="267"?> U NIVER S ITÄ TS B ES U CH UND S E EL S OR GE 267 des Rates der Stadt Feldkirch über ihr Nominierungsrecht, geeignete Priesterkandidaten zu fördern. Zum anderen verfügten beide in einer Reihe von Pfarren und anderen Benefizien über das Patronatsrecht. So war es möglich, einen jungen Priester zunächst auf eine weniger bedeutende Pfründe zu setzen und ihn, wenn er sich bewährt hatte, später auf eine bedeutendere zu promovieren. Am Beispiel der beinahe gleichaltrigen Georg Hämmerle aus Lustenau und Johannes Ellensohn aus Ems wird das deutlich. Beide konnten ihre Ausbildung zum Priester dank der Förderung durch die Reichsgrafen von Hohenems am Collegium Helveticum abschließen. Georg Hämmerle fand eine erste Anstellung als Hofkaplan in Hohenems. Nach drei Jahren in Hohenems wurde er auf die Pfarrerstelle in Lustenau promoviert. 228 Johannes Ellensohn fand eine erste Anstellung als Pfarrhelfer in Hohenems. Mit einer Predigt erregte er das Missfallen des Grafenhauses. Eine Beförderung fand nicht mehr statt. Ellensohn blieb über 50 Jahre Pfarrhelfer. 229 Die Entscheidung darüber, ob ein Studium aufgenommen werden und an welcher Bildungsinstitution dies geschehen sollte, wurde nicht nur durch landesherrliche oder kommunale Förderungsmaßnahmen beeinflusst. Mindestens so bedeutend waren in dieser Hinsicht familiäre oder regionale Netzwerke, die Informationen über Studienmöglichkeiten und andere Formen der Unterstützung bereitstellten. 228 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 291f.; L. W ELTI , Pfarrkirche St. Peter und Paul (Anm. 77), S. 11; L. R APP , Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 65), S. 406 - 409. 229 L. W ELTI , Collegium Helveticum (Anm. 57), S. 290; L. R APP , Beschreibung, Bd. 4 (Anm. 65), S. 355. <?page no="269"?> 269 D IETMAR S CHIERSNER Humanismus und Konfessionalisierung. Die Lateinschulstiftung und Schulordnung Anton Fuggers in Babenhausen (1554) Einführung - Edition - Übersetzung 1. Bildungswesen, Reformation und Konfessionalisierung Bildungswesen, Reformation und Konfessionalisierung hängen aufs engste zusammen. Die Einrichtung konfessionell geprägter Schulen und Hochschulen wurde seit der Reformation allenthalben als Voraussetzung erkannt, um dogmatisch einwandfrei unterwiesene Untertanen heranzuziehen, die speziell als Geistliche ihrer jeweiligen Kirchentümer oder in der Verwaltung von Reichsstädten und Territorien Aufgaben übernahmen. Mit der konfessionellen Funktionalisierung von Bildungsinhalten und Ausbildungswegen ging die Territorialisierung der Bildungsinstitutionen einher: zum einen im Sinne eines horizontalen und vertikalen Ausbaus in größeren Herrschaftsgebieten, zum anderen weil die einzelnen Schulen und Hochschulen nunmehr konsequent der Kontrolle des frühmodernen Staates unterworfen werden sollten. Trotz erheblicher inhaltlicher Überschneidungen auf der Grundlage der humanistischen Überlieferung entwickelten sich so nach und nach konfessionell verschiedene Bildungskulturen. 1 Schließlich, am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, war das Bildungswesen in Deutschland, verglichen mit dem vorreformatorischen Zustand, gekennzeichnet durch quantitative Ausweitung, qualitative Verbesserung, aber auch durch strukturelle Veränderung. 2 Was hier verkürzt und vereinfacht beschrieben wurde, geschah in Wahrheit über viele Brüche und Stationen hinweg. Instruktives Beispiel für die strukturellen Friktionen und Veränderungen, die sich aus den Folgen der Reformation ergaben, ist in besonderer Weise die Situation in Ostschwaben mit dessen nahezu dichotomer Aufteilung zwischen evangelischen Städten und katholischem Land. Im 15. Jahrhundert waren auch auf dem flachen Land, in den kleinen Städten und Marktorten, immer 1 Vgl. neuerdings S ABINE H OLTZ , Bildungslandschaften um 1600 in Schwaben. Konfessionelle Bildungskonzepte im Vergleich, in: W OLFGANG M ÄHRLE (Hg.), Spätrenaissance in Schwaben. Wissen - Literatur - Kunst, Stuttgart 2019, S. 251 - 270, bes. 268 - 270. 2 Vgl. N OTKER H AMMERSTEIN , Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 64), München 2003, bes. S. 52 - 54 (»Rückblick«). <?page no="270"?> D IETMA R S CHIER S N ER 270 mehr Schulen entstanden. Die Karte zur spätmittelalterlichen Schullandschaft (Abb. 1) gibt davon einen Eindruck. Zumeist handelte es sich um sog. › vermengte Schulen ‹ , bei denen die Deutsche Schule durch Anfangsunterricht im Lateinischen ergänzt wurde. Der Vorgang wurde in der Forschung auch als Symptom einer › behavioural urbanization ‹ , als »Diffusionsprozeß städtischer Lebens- und Verhaltensweisen« auf das Land beschrieben. 3 Eine Führungsposition behielten dabei die Dom- und Pfarrschulen in den großen Städten, deren Besuch zugleich in besonderer Weise zum Universitätsstudium befähigte. Der Übergang der meisten Reichsstädte Schwabens zur Reformation bedeutete daher nicht nur die Übernahme der kirchlich getragenen Schulen unter kommunale Regie und zudem den Aufbau vom Rat kontrollierter Gymnasien nach Straßburger Modell - so in Augsburg 1539 mit der Gründung eines Gymnasium illustre bei St. Anna. 4 Das konfessionelle Auseinandertreten von Stadt und Land führte für die katholischen Gebiete auch zu einem empfindlichen Verlust höherer Bildungsmöglichkeiten. Zwar gab es z. B. mit Ingolstadt oder Freiburg in der Region noch Universitäten, die bezogen werden konnten, aber nicht nur die Gründungen protestantischer Universitäten stellte deren Zahl in den Schatten, es fehlte v. a. an den vorbereitenden Studienmöglichkeiten. Als städtische Bildungsstandorte hatten hier nur Dillingen, Füssen, Günzburg, Burgau, Mindelheim, Immenstadt und Weißenhorn weiterhin Bestand. Nach einer im 15. Jahrhundert steil zunehmenden 3 R OLF K IESSLING , Ansatzpunkte und Entwicklungstendenzen in den spätmittelalterlichen Schullandschaften Schwabens, in: H ELMUT F LACHENECKER / R OLF K IESSLING (Hg.), Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Untersuchungen zur Ausbreitung und Typologie des Bildungswesens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (ZBLG Beiheft B 26), München 2005, S. 247 - 279, hier 248. 4 Zum protestantischen Schulwesen und insbesondere zur Vorbildfunktion Straßburgs S. H OLTZ , Bildungslandschaften um 1600 (Anm. 1), S. 252 - 260. Speziell zu St. Anna R OLF K IESSLING , Humanistische Gelehrtenwelt oder politisches Instrument? Das Gymnasium St. Anna und die Bildungslandschaft Schwaben im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: K ARL -A UGUST K EIL (Hg.), Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg. 475 Jahre von 1531 bis 2006, Augsburg 2006, S. 11 - 28; K ARL K ÖBERLIN , Geschichte des Hum[anistischen] Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531 - 1931. Zur Vierhundertjahrfeier der Anstalt, Augsburg 1931. - Vgl. auch die Beiträge von M ARTIN B RECHT , Einflüsse der Reformation auf das Schulwesen (S. 63 - 73), H ERMANN E HMER , Ländliches Schulwesen in Südwestdeutschland während der frühen Neuzeit (S. 75 - 106), und T HOMAS S CHULZ , Zur Rolle und Bedeutung der Lateinschulen im frühneuzeitlichen Bildungswesen. Das Beispiel Württemberg (S. 107 - 135), in: U LRICH A NDERMANN / K URT A NDERMANN , Regionale Aspekte des frühen Schulwesens (Kraichtaler Kolloquien 2), Tübingen 2000. <?page no="271"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 271 Abb. 1: Die spätmittelalterliche Schullandschaft in Ostschwaben. <?page no="272"?> D IETMA R S CHIER S N ER 272 Studienfrequenz von jungen Männern auch aus Mittel- und Kleinstädten, 5 brachen deshalb seit der Reformation die Immatrikulationszahlen der Katholiken vom Land offenbar ein. 6 2. Leistungen der Fugger ’ schen Bildungspolitik Rolf Kießling hat die Strukturveränderungen, deren Folge ein › katholisches Bildungsdefizit ‹ im 16. Jahrhundert war, eindringlich beschrieben, und er hat vor diesem Hintergrund auch die Ausnahmeposition und Vorreiterrolle der Fugger für den Aufbau katholischer Schulen in Schwaben benannt. In zwei einschlägigen Aufsätzen würdigte er deren Leistung: zum einen im Hinblick auf die konfessionelle Neustrukturierung einer flächigen Schullandschaft › Ostschwaben ‹ , zum anderen aus Sicht der sich entwickelnden Universität Dillingen, der das katholische Partikular- und Gymnasialschulwesen in der Region hierarchisch zugeordnet wurde. 7 Den regionalhistorischen kann eine akteurszentrierte Perspektive ergänzend zur Seite gestellt werden. 8 Mit der Gründung der Dillinger Hochschule 1549 (Abb. 2), ihrer Erhebung zur Universität 1551 und der Übernahme durch den Jesuitenorden 1563 setzte die Neuordnung des katholischen Bildungswesens zunächst von der Spitze her ein. 9 5 R OLF K IESSLING , Gymnasien und Lateinschulen - Bemerkungen zur Bildungslandschaft Ostschwaben im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: D ERS . (Hg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. FS zum 450jährigen Gründungsjubiläum, Dillingen 1999, S. 243 - 270, hier 245. 6 H ARALD D ICKERHOF , Die katholische Gelehrtenschule des konfessionellen Zeitalters im Heiligen Römischen Reich, in: W OLFGANG R EINHARD / H EINZ S CHILLING (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 198), Gütersloh 1995, S. 348 - 370, hier 370. 7 R OLF K IESSLING (Hg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum, Dillingen 1999; D ERS ., Ansatzpunkte und Entwicklungstendenzen in den spätmittelalterlichen Schullandschaften Schwabens, in: H. F LACHENECKER / R. K IESSLING (Hg.), Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben (Anm. 3), S. 247 - 279. 8 D IETMAR S CHIERSNER , Frömmigkeit - Familienräson - Große Politik. Die › Konfessionalität ‹ der Fugger als Forschungsproblem, in: D ERS . (Hg.), Familiensache Kirche? Die Fugger und die Konfessionalisierung (Materialien zur Geschichte der Fugger 8). Augsburg 2016, S. 7 - 19. 9 Grundlegend R. K IESSLING (Hg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger (Anm. 7), sowie immer noch unverzichtbar T HOMAS S PECHT , Geschichte der ehemaligen Universität Dillingen (1549 - 1804), Freiburg i. Br. 1902. <?page no="273"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 273 Abb. 2: Das Dillinger Jesuitenkolleg nach einer Zeichnung von 1723 (? ). Zugleich war die hier geschaffene Form einer › katholischen Akademie ‹ ein höchst innovatives Modell, das dem Typus der protestantischen › Landesuniversität ‹ entgegengestellt wurde. Götz Freiherr von Pölnitz nimmt dabei an, dass speziell Anton Fugger (1493 - 1560) Kardinal Otto (1514 - 1573) zur Unterstützung des Projekts »erhebliche Gelder« zukommen ließ. 10 Unzweifelhaft sind die engen persönlichen Kontakte der Fugger zu den Vätern der Gesellschaft Jesu, denen aus den eigenen 10 G ÖTZ VON P ÖLNITZ , Die Fugger, 4. Aufl. Tübingen 1981, S. 231. - Zu Bischof Otto nach wie vor grundlegend F RIEDRICH Z OEPFL , Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe, Bd. 2: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert, München-Augsburg 1969, S. 173 - 463. Vgl. neuerdings insbesondere zum Verhältnis Ottos zu den Jesuiten V ERONIKA L UKAS / J ULIUS O SWALD SJ/ C LAUDIA W IENER (Hg.), Otto Truchsess von Waldburg (1514 - 1573) (Jesuitica 21), Regensburg 2016. <?page no="274"?> D IETMA R S CHIER S N ER 274 konfessionellen Reihen Widerstand insbesondere des Augsburger Domkapitels entgegenschlug. 1564 beklagte sich deswegen Marx Fugger zusammen mit anderen beim Bischof über die Domherren. 11 In derselben Zeit verstärkten die Fugger ihre Bemühungen, in Augsburg selbst eine von Jesuiten betriebene Schule einzurichten: 12 Die unter deren Mithilfe konvertierte Gemahlin Georg Fuggers, Ursula, schenkte den Jesuiten Schmuck im Wert von 4.000 fl., 13 Hieronymus Fugger plante für 10.000 fl. den Erwerb des Schönefelder Hofes, aber erst die Stiftung eines eigenen Geländes innerhalb der Stadt aus dem Nachlass des kinderlosen Christoph Fugger brachte 1580 den Durchbruch, wobei der miterbende Calvinist Ulrich Fugger (1526 - 1584) bei der Übertragung von 30.000 fl. Kapital von den anderen Erben überstimmt wurde. 14 Dass am 1. Februar 1581 Octavian Secundus Fugger den Grundstein für das Kolleg St. Salvator (Abb. 3) legte und die größte Glocke für die Kirche stiftete, ist gewissermaßen symbolischer Ausdruck des intensiven und ausschlaggebenden Engagements der Familie für die rasch aufstrebende Schule: Schon um die Jahrhundertwende zählte sie 500 bis 600 Schüler. Wenn die weitaus meisten von ihnen dabei gar nicht aus der Reichsstadt selbst kamen, zeigt dies, wie sehr das Gymnasium Funktionen innerhalb eines flächigen, vergleichsweise › territorial ‹ organisierten Schulsystems übernehmen konnte und eine Lücke hin zur Universität schloss. Das zielgerichtete Vorgehen der Fugger setzt deren Einsicht in die Defizite des katholischen Schulwesens bzw. in seine gestörte Systematik voraus. Denn am › unteren ‹ Ende, auf der Ebene der Lateinschulen, lässt sich entsprechendes Engagement beobachten: 15 In Mindelheim, das sich zwischen 1589/ 90 und 1617/ 18 im (teilweisen) Besitz der Fugger befand, 16 veranlasste Christoph Fugger (1566 - 1615) im Jahr 1600, die Lateinschule solle sich am Stoff und der Lehrweise in Dillingen orientieren, 11 F. Z OEPFL , Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe (Anm. 10), S. 319f. 12 Zum Folgenden W OLFRAM B AER , Die Gründung des Jesuitenkollegs St. Salvator, in: D ERS ./ H ANS J OACHIM H ECKER (Hg.), Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg 1582, München 1982, S. 17 - 22; vgl. N ORBERT L IEB , Octavian Secundus Fugger (1549 - 1600) und die Kunst (Studien zur Fuggergeschichte 27), Tübingen 1980, S. 30f.; P AUL B ERTHOLD R UPP , Die Schüler des Augsburger Jesuitengymnasiums 1582 - 1614 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 20), Augsburg 1994, S. 3 - 10. 13 Vgl. M ARTHA S CHAD , Die Frauen des Hauses Fugger von der Lilie (15. - 17. Jahrhundert). Augsburg - Ortenburg - Trient (Studien zur Fuggergeschichte 31), Tübingen 1989, S. 32 - 39. 14 G EORG S IMNACHER , Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Bd. 1: Darstellung (Studien zur Fuggergeschichte 16), Weißenhorn 1994, S. 168f. 15 Zum Folgenden zusammenfassend R. K IESSLING , Ansatzpunkte und Entwicklungstendenzen (Anm. 3), S. 272f. 16 F RIEDRICH Z OEPFL , Geschichte der Stadt Mindelheim in Schwaben, München 1948, S. 58 - 60. <?page no="275"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 275 um den Schülern den Übergang an die dortige Universität »ohne Schaden und Verwirrung« zu ermöglichen. 17 1612/ 13 bezog die Schule ein neu errichtetes Gebäude. 18 Abb. 3: Das Augsburger Jesuitenkolleg St. Salvator nach einer Zeichnung von 1723 (? ). 17 F. Z OEPFL , Geschichte der Stadt Mindelheim (Anm. 16), S. 244. - Mit Kaspar Merklin und Johann Fuchetzer sind auch zwei Mindelheimer Studienstipendiaten Christoph Fuggers in Dillingen namentlich bekannt: F RANZ K ARG , Die zum Studiern taugenlich, gutter Ingenia seyn … Die Universität Dillingen und die Lateinschule Babenhausen, in: R. K IESSLING (Hg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolge (Anm. 7) S. 347 - 360, hier 360. 18 F. Z OEPFL , Geschichte der Stadt Mindelheim (Anm. 16), S. 247. <?page no="276"?> D IETMA R S CHIER S N ER 276 Für die Lateinschulmeister, die ihrerseits die Dillinger Universität besucht hatten, erließ Christoph Fugger zur selben Zeit eine betont konfessionelle »Dienstanweisung«. 19 Indes scheiterten Versuche in den Jahren 1589 und um 1612, die Jesuiten in der Stadt anzusiedeln. Erst unter der nachfolgenden bayerischen Herrschaft ließen sie sich in Mindelheim nieder und betrieben hier seit 1621 ein Gymnasium. 20 Auch für Weißenhorn, das bereits seit langem eine eigene, wenn auch nur einklassige Lateinschule besessen hatte, ist besonderes Augenmerk der Fugger auf die Schule gesichert: 1590 verfügte Philipp Eduard Fugger (1546 - 1618) einen Neubau. 21 In Kirchheim ließ Anton Fugger, der die Herrschaft 1551 erworben hatte, ab 1556 zunächst die Deutsche Schule neu erbauen; 22 Marx Fugger (1564 - 1614) betraute den Konvent der hier 1601 von ihm gestifteten Dominikanerniederlassung schließlich mit dem Unterricht an der neu gegründeten Lateinschule. 23 Sind bereits die geschilderten Initiativen, verglichen mit den übrigen katholischen Territorien Ostschwabens, für das 16. Jahrhundert als »singulär« und »zielstrebig« zu beurteilen, 24 so gilt das erst recht für die außerordentlich frühen Aktivitäten Anton Fuggers in Babenhausen, der die Herrschaft 1538 erworben hatte. 25 Für den »kleinstädtische[n] Zuschnitt« des Marktortes während des Spätmittelalters spricht unter 19 F. Z OEPFL , Geschichte der Stadt Mindelheim (Anm. 16), S. 245. Vgl. StA Augsburg, MN II B 3 [Statutenbuch um 1612]: Laurentius Lechler aus Füssen wird verpflichtet, die Schüler zue der eehr vnnd forcht Gottes zu erziehen, damit khunfftiger zeit der gemaine nucz durch sie bestellt vnd biderleüth auß inen gezogen werden mögen (Bestallung des lateinischen Schulmeisters, fol. 145r). 20 F RIEDRICH Z OEPFL , Geschichte des ehemaligen Mindelheimer Jesuitenkollegs [Dillingen 1921]. Sonderabdruck aus: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 6 (1929), S. 5 - 9. 21 J OSEPH H OLL , Geschichte der Stadt Weißenhorn, Weißenhorn 1983 (ND der Ausgabe Kempten 1904), S. 223; H ANS B URKHART , Geschichte der Stadt Weißenhorn und ihrer Stadtteile, Weißenhorn 1988, S. 179 - 185. 22 R. K IESSLING , Ansatzpunkte und Entwicklungstendenzen (Anm. 3), S. 255. - In der 1559 erlassenen Kirchheimer Schulordnung wird das herrschaftliche Bildungs- und Erziehungsengagement in exemplarischer Weise religiös begründet. Aus Mk 9,42 bzw. Lk 17,1 folgert Anton Fugger: Dieweil dann wir den ernst des Allmechtigen allso hierüber verstannden vnnd mercken, allso das, wa wir die jugennt nit inn forcht vnnd zur eer Gottes, auch der eerberkait, guter zucht, tugent vnd christenlichem wanndel vnd leben aufferziehen, sonnder ain solches an inen versaumen vnnd sye inn irem freyen willen, willd, ane alle zucht, aufwachsen lassen, Gott der Allmechtig vnns gewißlich darumben mit hoher straff vnnd plagen, hie zeitlich haimsuchen, neben dem, das wir auch dort, wann es zu dem ewigen kommen soll, ain schwere rechtuertigung ersteen müessen (FA 28.3.14a). 23 Die Schule scheint während des Dreißigjährigen Krieges eingegangen zu sein; F RIEDRICH Z OEPFL , Das Bistum Augsburg historisch und statistisch beschrieben, Bd. 9: Das Landkapitel Kirchheim, Augsburg 1934 - 1939, S. 85 und Anm. 65. 24 Vgl. R. K IESSLING , Gymnasien und Lateinschulen (Anm. 5), S. 263f. 25 Zum Stand der Ortsgeschichte (mit Literatur) vgl. demnächst D IETMAR S CHIERSNER , Art. Babenhausen (Schwaben), in: H ARM VON S EGGERN (Hg.), Residenzstädte im Alten Reich <?page no="277"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 277 anderem die hohe Studienfrequenz der Einwohner, die für die Zeit zwischen 1436 bis zur Mitte der 1520er Jahre auf knapp 50 Studenten an verschiedenen Universitäten beziffert wurde. 26 Es ist daher auch als Bestandteil einer im weiteren Umland Memmingens nunmehr konfessionell getönten Urbanisierungsbzw. Zentralisierungspolitik zu werten, wenn Anton Fugger 1554 eine vierklassige Lateinschule im Ort neu gründet und dabei zugleich eine Stiftung für fünf begabte Knaben errichtet, deren Förderung sich auch auf einen späteren Universitätsbesuch erstreckt. Parallel sollten jährlich drei bedürftige heiratswillige Mädchen durch eine Aussteuerstiftung unterstützt werden. 27 Eine Deutsche Schule existierte am Ort bereits, eine eigene Mädchenabteilung ist durch ein Inventar spätestens ab 1574 nachweisbar. 28 3. Die Babenhauser Schulstiftung von 1554 Die am 14. Dezember 1554 in Augsburg von Anton Fugger unterzeichnete Stiftungsurkunde fasst eigentlich drei Stiftungen zusammen: eine ewige Jahrtagsstiftung in Babenhausen für Anton Fugger und seine Familie, eine Schul- und Studienstipendienstiftung - mit ihr hat sich Franz Karg in einem Aufsatz eingehender beschäftigt 29 - sowie die genannte Aussteuerstiftung. Für die Erfüllung aller Stiftungszwecke standen die Zinsen aus einem Anlagevermögen von 8.600 fl. zur Verfügung. 30 Die nach einer Präambel mit religiösen Formeln der Dankbarkeit zunächst beschriebene Jahrtagsstiftung formuliert die Verpflichtung, alle Quatember einen Gedenktag für den Stifter, seine Vorfahren, die Familie und die Nachkommen in der Herrschaft feierlich zu begehen. Das gesamte Stiftungsunternehmen erhielt damit ein kirchlichmemoriales Vorzeichen. (1300 - 1800). Ein Handbuch, Abt. I: Analytisches Verzeichnis der Residenzstädte, Teil 3: Südwesten (Residenzenforschung, NF: Stadt und Hof. Handbuch, I, 3), Ostfildern 2023. 26 R. K IESSLING , Ansatzpunkte und Entwicklungstendenzen (Anm. 3), S. 270. 27 Nur kurz erwähnt von G ÖTZ VON P ÖLNITZ , Anton Fugger, Bd. 3, Teil I (Studien zur Fuggergeschichte 22), Tübingen 1971, S. 543; ausführlicher mit Bezug auf Antons Sohn Jacob D IANA E GERMANN -K REBS , Konfessionalisierung in der Praxis. Das Beispiel Jacob Fugger-Babenhausen (1542 - 1598), in: D. S CHIERSNER (Hg.), Familiensache Kirche? (Anm. 8), Augsburg 2016, S. 41 - 55, bes. 50 - 52. 28 FA 87.3. 29 F. K ARG , Die zum Studiern taugenlich, gutter Ingenia seyn … (Anm. 17), S. 347 - 360. 30 5.000 fl. waren bei der Reichsstadt Isny, 3.000 fl. bei der Reichsstadt Kaufbeuren und 600 fl. bei der Firma von Wolfgang Paler und Konrad Herbst verzinslich angelegt worden; Ed. Stiftungsurkunde, Z. 215 - 227. Vgl. K ATHARINA S IEH -B URENS , Art. Paler (Paller), Kaufmannsfamilie, in: https: / / www.wissner.com/ stadtlexikon-augsburg/ artikel/ stadtlexikon/ paler/ 4955 (aufgerufen am 24.7.2023). <?page no="278"?> D IETMA R S CHIER S N ER 278 Auch die im Anschluss behandelte Stipendienstiftung ist als ewige Stiftung konzipiert. Fünf aus Fugger-Herrschaften, vor allem aber aus der Herrschaft Babenhausen stammende Knaben sollen durch sie underhallten werden, indem ihnen Kost und Logis in der im Stiftungsbrief eigens bestimmten Wohnung des Schulmeisters von dessen eeweib oder einer allten betagten fromen frawen gewährt wird (Z. 132). 31 Tatsächlich existierten Lateinschule und Förderung damals bereits: Schon zum Zeitpunkt der Stiftungserrichtung befanden sich fünf Alumnen in der Obhut des Lateinschulmeisters (Z. 60f.); als erster in diesem Amt war am 31. Juli 1552 Johannes Albrecht, burger zue Augspurg, für ein Jahr verpflichtet worden, auf den 1. Oktober 1554 datiert die Verschreibung des Schulmeisters Erhard Oerler von Geisenhausen. 32 Im Gegenzug verpflichten sich die Stiftknaben ebenso wie die später behandelten Studienstipendiaten, gegebenenfalls nach ihrer Ausbildung auf Lebenszeit als Geistliche oder in weltlichen Funktionen in den Dienst der Fugger zu treten. Neben Fleiß in den schulischen Belangen und Gehorsam gegenüber den ihnen Vorgesetzten zählen liturgische Verpflichtungen - in der kirchen deß morgens unnd abents mit singen [zu] helffen (Z. 137) - zu den täglichen Aufgaben der Stiftknaben. Bedingung für die Förderung ab einem Alter von acht oder neun Jahren sind aussichtsreiche intellektuelle Voraussetzungen (zum studiern taugenlich, guetter ingenia, Z. 67) sowie die gute familiäre Herkunft und die eheliche, ggf. legitimierte Geburt. Konfessionsspezifische Vorbehalte werden - sieht man von der doch allgemeinen Forderung nach einem frommen Lebenswandel der Eltern (vgl. Z. 64) ab - weder an dieser Stelle noch in der von jedem Knaben (bzw. dessen Vater oder Vormund) zu unterzeichnenden Verschreibung formuliert. 33 Dennoch besteht an der katholischen Prägung des Unternehmens kein Zweifel, weil dessen › Personal ‹ - Schulmeister, Kantor wie auch Stiftungsexekutoren (ein hypodidascalus, Unterlehrer, wird nur in der Schulordnung erwähnt) - ausdrücklich unserer allten, catholischen religion (Z. 131, vgl. Z. 166f., 356) zu sein hat, aber auch weil den Stipendiaten für ein Studium an der Universität konfessionelle Vorgaben gemacht werden: Bei entsprechend nachgewiesener Eignung genießen ainer oder zwen aus dem Kreis der Stiftknaben (Z. 99) ein Folgestipendium von jährlich 45 oder 50 fl. bzw. - nach einer Zustiftung durch Antons Söhne von 1574 - 60 fl. für das Studium in Ingolstadt, Freiburg, Löwen, Dillingen oder an einer anderen Hochschule, da man des allten wahren catholischen glaubens ist (Z. 109). 31 In die Ausstattung des Schulhauses gewährt ein Inventar von 1574 Einblick (FA 87.3). Vgl. Ed. Institutio scholastica, Z. 284. 32 FA 87.3. - Die › Oberdeutsche Personendatenbank ‹ von P AUL B. R UPP verzeichnet einen aus dem niederbayerischen Geisenhausen stammenden Erhard Oerler, der 1549 die Artes in Ingolstadt studiert (offenkundig falsch übertragen ist 1549 als dessen Geburtsdatum): https: / / oberdeutsche-personendatenbank.digitale-sammlungen.de/ Datenbank/ Oerler,_Erhard (aufgerufen am 1.3.2023). 33 Von Anton Fugger unterzeichnete Blanko-Revers-Formulare sind in FA 5.3.1 überliefert. <?page no="279"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 279 Der Bezug einer Hohen Schule sollte nach einer Schulzeit von sechs, siben, acht oder mehr jaren (Z. 99) möglich sein - die vier in der Babenhauser Lateinschule vorgesehenen Klassen sind also nicht mit Jahrgangsstufen zu verwechseln. 34 Bei einem Schuleintrittsalter von acht oder neun jarn, nit darüber noch darunder (Z. 66f.) waren die Studienanfänger zwischen 14 und 18 Jahre alt oder noch etwas darüber. Häufiger vorgekommen ist auch der Übertritt von der Babenhauser Trivialschule an das Gymnasium von St. Salvator in Augsburg; in den Matrikeln des 1582 gegründeten Jesuitengymnasiums sind Babenhauser Schüler in bemerkenswerter Anzahl nachzuweisen. 35 Dies wie auch die für die Universität Dillingen erhobenen Babenhauser Inskriptionen 36 belegt eindrucksvoll die Effizienz der Fugger’schen Bildungsbemü hungen. Das Anliegen von Lateinschulgründung und Stipendienstiftung ist deutlich geworden: Typisch fromme und memoriale Funktionen einer Stiftung verbinden sich mit dem Bestreben, die Zentralität der eigenen Residenz aufzuwerten - durch festliche Gestaltung von Jahrtagen, die tägliche ästhetische Hebung der Gottesdienste in der Pfarrkirche und nicht zuletzt durch die Einrichtung einer neuen lateinischen Schule jenseits des Elementarbereichs mit eigenem Personal. Schließlich spielt für die Stipendienstiftung die »Nachwuchsrekrutierung« 37 von künftigem kirchlichen und Verwaltungspersonal für die Herrschaft eine entscheidende Rolle. Nicht zuletzt dadurch wird deutlich, wie sehr die Etablierung eines katholischen Bildungs-S y s t e m s in einem Zuge bis zur Universität im unmittelbaren Interesse Anton Fuggers und seiner Nachkommen lag - ganz ungeachtet der allgemein positiven Wirkungen auf den katholischen Bildungsstand. Die Babenhauser Schul- und Stipendienstiftung harrt einer umfassenden Aufarbeitung. Weitere Quellenbestände müssen ausgewertet werden, um eine genauere Vorstellung von den konkreten Abläufen, dem Schul- und Studienalltag, den 34 Vgl. Ed. Institutio scholastica, Z. 112. - Das mehr oder minder flexible Vorrücken bei Erreichen des Klassenzieles war allgemein üblich. 35 Die für den Zeitraum von 1582 - 1614 vorliegenden Studienverzeichnisse sind zwar mit Lücken behaftet, deren einigermaßen durchschnittliche Verteilung jedoch vorausgesetzt, erscheint die Zahl der Babenhauser Studenten mit 27 als hoch. Zum Vergleich: Aus dem bedeutenderen und bevölkerungsreicheren Günzburg sind im selben Zeitraum nur 20 Immatrikulationen verzeichnet; P. B. R UPP , Die Schüler des Augsburger Jesuitengymnasiums (Anm. 12), S. 209, 214. 36 F. K ARG , Die zum Studiern taugenlich, gutter Ingenia seyn … (Anm. 17), S. 347 - 360, S. 359 listet für den Zeitraum zwischen 1586 und 1631 insgesamt 19 Babenhauser auf. 37 F. K ARG , Die zum Studiern taugenlich, gutter Ingenia seyn … (Anm. 17), S. 350. <?page no="280"?> D IETMA R S CHIER S N ER 280 Lebensläufen von Lehrpersonal und Stipendiaten und dem weiteren Schicksal der Stiftung zu erhalten. 38 4. Die Lateinschulordnung Von einzigartiger Bedeutung ist die im inhaltlichen wie zeitlichen Zusammenhang mit der Stiftung entstandene lateinische Schulordnung, die bislang noch nirgends im Detail ausgewertet wurde. Wegen ihrer für den katholischen, zumal ländlichen Kontext exzeptionell frühen Entstehung, ihres inhaltlichen Ranges, aber auch ihres sprachlich-stilistischen Anspruchs wird sie hier nicht nur kommentiert ediert, sondern auch übersetzt, damit der Text ebenso wie das in ihm aufscheinende persönliche Engagement Anton Fuggers in größerer Unmittelbarkeit erfahrbar wird. Götz Freiherr von Pölnitz erkennt in der von ihm kurz erwähnten Schulordnung mit ihren » zugleich humanistischen wie altkirchlichen Dispositionen […] ein sichtbares und gewolltes Bekenntnis seiner [d. i. Anton Fuggers] Gesinnung«. 39 Sein Urteil bestätigt sich nach eingehender Analyse, beruht doch die Ordnung auf einer im wesentlichen humanistischen Textvorlage von allerdings sehr wahrscheinlich protestantischer Provenienz, die jedoch von Anton Fugger im katholisch-konfessionellen Sinne funktionalisiert wurde. Von der Institutio scholastica behauptet ein Vermerk vermutlich jüngerer Hand auf der Außenseite des Archivale, sie sei ab excelsissimo domino comite Antonio Fugger inventa et in lucem edita pro norma vivendi (Z. 1f.). Tatsächlich sind die Schulordnung sowie zwei für sie verfasste Tischgebete von Anton Fugger eigenhändig unterschrieben worden. Auch die Stiftungsurkunde bezieht sich an zwei Stellen ausdrücklich auf den Text der Institutio und deren Unterzeichnung mit aigner hanndt. 40 Ebenso wie jene ist die Schulordnung durchgängig in der 1. Person Singular abgefasst und nimmt ihrerseits an mehreren Stellen direkt Bezug auf Bestimmungen der Urkunde. An einer Stelle, in der Präambel, ist ausdrücklich von der Schulgründung in municipio meo Babenhausen die Rede (Z. 11). Auf die besonderen Bedingtheiten ihrer ländlichen Situierung wird mehrfach im Text abgehoben (Z. 18 - 21, 331 - 333), eingangs geradezu mit erkennbarer Leidenschaft für die › ländliche Bildungsreserve ‹ , auch wenn solche Anspielungen wohl eher dem Bereich des Topos zuzuordnen sind. 38 Die Überlieferung in FA 87.3 (Laufzeit: 1552 - 1727) und FA 5.3.1 (1555 - 1799) sowie in den für die jährlichen Abrechnungen der Universitätsstipendiaten einschlägigen Stiftungsrechnungen bietet dafür eine unverzichtbare Grundlage. - Eine breite Datenbasis als Ausgangspunkt für prosopographische Recherchen stellt neuerdings die › Oberdeutsche Personendatenbank ‹ von P AUL B. R UPP zur Verfügung: https: / / int.oberdeutsche-personen datenbank.digitale-sammlungen.de/ Datenbank/ Ort: Babenhausen. 39 G. VON P ÖLNITZ , Anton Fugger, Bd. 3, Teil I (Anm. 27), S. 543. 40 Ed. Stiftungsurkunde, Z. 35. <?page no="281"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 281 Trotz des Archivvermerks, der ihn als › inventor ‹ ausgibt, ist allerdings nicht davon auszugehen, dass Anton Fugger die Babenhauser Schulordnung selbst entworfen und verfasst hätte, nicht so sehr deshalb, weil der Text reich ist an gelehrten Anspielungen und das auf zwölf Seiten gebotene Humanistenlatein möglicherweise allzu elegant für Antons sprachliche Fähigkeiten gewesen wäre. 41 Vielmehr deuten die detaillierten Ausführungen zu Klassenorganisation und Lehrstoff der Schule sowie zur Methodik seiner Vermittlung auf einen praktisch erfahrenen Philologen und Didaktiker. Ob aber Anton Fugger überhaupt die Schulordnung exklusiv für seine Zwecke verfassen ließ oder doch eher auf eine Vorlage zurückgriff oder zurückgreifen ließ, und falls ja, auf welche, wer sie adaptierte oder im Hinblick auf die gegebenen Verhältnisse redigierte, um ein Konzept oder Arbeitsexemplar für die Endfassung vorzubereiten 42 - all dies ist bislang nicht bekannt. Über die Ausbildung von Anton selbst weiß man nur wenig, Orte sind überliefert, an denen er vermutlich Unterricht erhielt, und darüber hinaus lediglich der Name Othmar Nachtigalls (gen. Luscinus; 1478/ 80 - 1537) als dessen »Lehrer«, wie Paul Lehmann schreibt. 43 Auch die Spur über die Präzeptoren, die Anton für seine Söhne aussuchte, führte bislang nicht weiter, denn keiner dieser erstrangigen Gelehrten hat, zumal vor 1554, ein didaktisches Werk veröffentlicht. 44 Das schließt freilich nicht aus, dass einer von ihnen Anton eine entsprechende Vorlage für Babenhausen vermittelte. Eine der bis 41 Vgl. das Urteil von P AUL L EHMANN , Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken, 1. Teil (Studien zur Fuggergeschichte 12), Tübingen 1956, S. 17: »An gründlicher Geistesbildung, Kunstsinn, bibliophilen Neigungen und gelehrten Interessen hat es ihm freilich keineswegs gefehlt, auch nicht an mannigfachen und eifrig benutzten Gelegenheiten, Bücher zu erwerben.« 42 Zur Genese der Reinschrift vgl. Ed. Institutio scholastica, Anm. 1. 43 P. L EHMANN , Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken (Anm. 41), S. 19. Vgl. M ECHTHILD A LBUS / C HRISTOPH S CHWINGENSTEIN , Art. Luscinus, Othmar, in: NDB 15 (1987), S. 531f. 44 Als Lehrer fungierten: der aus Luzern stammende reformatorisch gesinnte Ludovicus Carinus (Kiel) (1496 - 1569); zu ihm P. L EHMANN , Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken (Anm. 41), S. 24f.; W ILLY B RÄNDLY , Der Humanist Ludwig Carinus »Kiel« von Luzern, in: Innerschweizerisches Jahrbuch für Heimatkunde 19/ 20 (1959/ 1960), S. 45 - 100; G. VON P ÖLNITZ , Anton Fugger, Bd. 3, Teil I (Anm. 27), S. 178; G REGOR E GLOFF , Art. Carinus, Ludwig, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.7.2003, Online: https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 014164/ 2003-07-29/ , der 1543 engagierte Dr. Johann Tonner, nachmals Reichshofrat in Prag, zu ihm G ÖTZ VON P ÖLNITZ , Anton Fugger, Bd. 2, Teil I (Studien zur Fuggergeschichte 17), Tübingen 1963, S. 560 Anm. 100, und P. L EHMANN , Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken (Anm. 41), S. 257, 263, oder - neben »anderen Personen« auch Dr. Laurentius Syfanus, später Professor in Ingolstadt, zu ihm P. L EHMANN , Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken (Anm. 41), S. 263 (Zitat); H EINZ S CHMITT , Art. Sifanus, Laurentius Hubert, in: BBKL 24 (2005), Sp. 1366 - 1376. <?page no="282"?> D IETMA R S CHIER S N ER 282 dato bekannten - freilich evangelischen und zumeist deutschsprachigen - Schulordnungen lässt sich indes ebensowenig als unmittelbare Vorlage für die Institutio identifizieren. Viele kommen schon allein aus chronologischen Gründen nicht in Frage. 45 Für die Option einer im Auftrag Anton Fuggers bearbeiteten protestantischen, mindestens aber konfessionell unvoreingenommenen Vorlage sprechen, abgesehen von wenigen formalen Indizien, 46 tatsächlich einige Stellen in der Institutio mit Nähe zum evangelischen Bekenntnis. Bemerkenswert ist, dass diese - trotz insgesamt sehr aufmerksamer redaktioneller Eingriffe im Arbeitsexemplar - 47 vorbehaltlos übernommen wurden: Dies gilt für die Verbindlichkeit der Grammatik Philipp Melanchthons für den Unterricht in der 2. Klasse, 48 für die Empfehlung eines aus protestantischer Feder stammenden lateinischen Liedes, dessen deutsche Übersetzung zu einem evangelischen › Gassenhauer ‹ werden sollte, 49 und es gilt wohl auch für Passagen, in denen der in der vorreformatorischen Kirche sehr beliebte spätantike Dichter Prudentius sowie die Verfasser von ins gregorianische liturgische Repertoire übernommenen Sequenzen, jener wegen seiner literarischen Qualität, diese wegen ihres 45 Vgl. R EINHOLD V ORMBAUM (Hg.), Evangelische Schulordnungen, Bd. 1: Die evangelischen Schulordnungen des sechzehnten Jahrhunderts, Gütersloh 1860; J OHANNES M ÜLLER (Hg.), Vor- und frühreformatorische Schulordnungen und Schulverträge in deutscher und niederländischer Sprache, Bd. 2: Schulordnungen etc. aus den Jahren 1505 - 1523 nebst Nachträgen vom Jahre 1319 (Sammlung selten gewordener pädagogischer Schriften früherer Zeiten 13), Zschopau 1886; E MIL S EHLING (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 12: Bayern, Teil 2: Schwaben: Reichsstädte Augsburg, Dinkelsbühl, Donauwörth, Kaufbeuren, Kempten, Lindau, Memmingen, Nördlingen, Grafschaft Oettingen-Oettingen, Tübingen 1963; H UBERT H ETTWER , Herkunft und Zusammenhang der Schulordnungen. Eine vergleichende Studie, Mainz 1965; S ABINE A REND / G ERALD D ÖR - NER , Ordnungen für die Kirche - Wirkungen auf die Welt. Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Tübingen 2015; S ABINE A REND (Bearb.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 16, Tübingen 2004; D IES . (Bearb.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 17/ 1, Tübingen 2017. 46 Der Aufmerksamkeit eines Verfassers oder Redaktors ist entgangen, dass in der Aufzählung von sieben Septennien der sechste Zeitraum fehlt (Ed. Institutio scholastica, Anm. 19). Außerdem ist die im Arbeitsexemplar von Hand H eingefügte Passage Ed. Institutio scholastica, Z. 340 - 342, weder mit dem vorangehenden noch nachfolgenden Text inhaltlich verbunden. 47 Vgl. Ed. Institutio scholastica Anm. 1. Hand H führte die Korrekturanordnung von Hand J aus (vgl. ebd., Anm. 52), nahm auch eine sprachlich-stilistische Selbstkorrektur vor (ebd., Anm. 56) und sah offenbar auch die Reinschrift nochmals durch (vgl. ebd., Anm. 87). 48 P HILIPP M ELANCHTHON , Elementa Latinae grammatices, Nürnberg: Petreius 1526, bzw. D ERS ., Grammatica Latina, Nürnberg: Petreius 1527. - Eine Einschränkung erfolgt in einer redaktionellen Bemerkung im Arbeitsexemplar (AE) lediglich hinsichtlich der Wahl der Auflage dieses Werkes (vgl. Ed. Institutio scholastica, Z. 163f. und Anm. 33). 49 Ed. Institutio scholastica, Z. 212 - 217 und Anm. 45. <?page no="283"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 283 Ranges als - angebliche - Kirchenväter, als Unterrichtsautoren legitimiert werden. 50 Vor allem letzteres erscheint am ehesten als Strategie angesichts evangelischer Vorbehalte plausibel. Konfessionell › indifferent ‹ , aber natürlich Teil einer religiös ausgerichteten Erziehung, ist das in der Institutio verordnete gemeinsame Sprechen oder Singen von gewissermaßen ökumenischen Gebeten (Veni sancte spiritus, Paternoster, Credo, Psalm 112 und 129) während der Unterrichtszeit, der tägliche Gottesdienstbesuch und der Katechismusunterricht vor Fest- und Sonntagen. An diesem Punkt zeigen sich schließlich katholische Propria, die als Ergebnis von Einfügungen und Erweiterungen infolge der Adaption der Vorlage erklärbar sind. So wurde für die Christenlehre der Katechismus des Mainzer Weihbischofs (1538 - 1550) Michael Helding (1506 - 1561), gen. Sidonius, zugrunde gelegt. Er hatte erstmals 1549 eine lateinische Glaubenslehre publiziert, die in der Folgezeit 14 Auflagen bzw. Übersetzungen erlebte. 51 Für einen über- oder sogar noch vorkonfessionellen Tenor der Institutio würde zwar passen, dass Helding als »besonnener Gegner der Reformation und maßvoller Apologet seiner Kirche« gilt. 52 Dem wiederum stehen aber Formulierungen entgegen, in denen Anton Fugger deren Vermittlern die - freilich katholische - Rechtgläubigkeit des Katechismusunterrichtes mit einer kaum zu überbietenden Deutlichkeit einschärft. 53 Bedenkt man nun, wie wichtig dem Stifter ausweislich der Stiftungsurkunde das katholische Bekenntnis des mit der Schule befassten Personals und die konfessionell bestimmte Auswahl von Studienorten war, muss man bei aller überkonfessionellen Offenheit in der Institutio das Beispiel einer dezidiert katholischen Schulordnung erkennen. 50 Ed. Institutio scholastica, Z. 301f. und Anm. 83f. 51 Brevis Institvtio Ad Christianam Pietatem, secundum Doctrinam Catholicam. Continens Explicationem Symboli Apostolici. Orationis Dominicae. Salutationis Angelicae. Decem praeceptorum. Septem sacramentorum ad Vsvm Pverorvm Nobilium … conscripta Per R. D. Michaëlem Episcopum Sidoniensem, Suffraganeum Moguntinensem [i. e. Michael Helding], Moguntiae: Schoeffer 1549. - Vgl. P ETER F LECK , »Alle dem christlichen Volke zum Heil notwendige Sachen«. Einblicke in drei Jahrhunderte Mainzer Katechismusgeschichte vor 1800, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 39 (2020), S. 81 - 107, bes. 86f., 102f. - Dass Helding im selben Jahr 1549 Bischof von Merseburg (1549 - 1561) wurde, musste in der Studienordnung nicht unbedingt erwähnt werden, sofern hier nur auf die Verfasserangaben des Katechismus selbst Bezug genommen wurde. 52 F RIEDRICH W ILHELM B AUTZ , Art. Helding, Michael, in: BBKL 2 (1990), Sp. 696 - 698, hier 697. Vgl. A NTON P H . B RÜCK , Art. Helding, Michael, in: NDB 8 (1969), S. 466 - 467; H ERI - BERT S MOLINSKY , Michael Helding (1506 - 1561), in: E RWIN I SERLOH (Hg.), Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 2 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 45), Münster 1985, S. 124 - 136. 53 Ed. Institutio scholastica, Z. 303 - 306. <?page no="284"?> D IETMA R S CHIER S N ER 284 5. Ergebnisse Wenn es aber zutrifft, was die Forschung bislang über die Entstehung konfessioneller Schulordnungen weiß, dann zählt die Babenhauser Ordnung zu den frühesten Zeugnissen solcher Texte von katholischer Provenienz. So hat Thomas Töpfer das Entstehen von Schulordnungen »in katholischen Reichsterritorien im Zeichen der katholischen Reform« mit »deutlicher Verzögerung« gegenüber den protestantischen erst »um 1600« angenommen 54 - ein knappes halbes Jahrhundert später! Man wird angesichts dieses Befundes nicht allein über Datierungskonventionen nochmals sprechen müssen, sondern auch generell die Genese von Schulordnungen vor dem Hintergrund ihrer vorreformatorischen humanistischen Substanz und ihrer konfessionellen Überformung und Zwecksetzung neu beschreiben müssen. Für die bildungs- und schulgeschichtliche Forschung wurde wiederholt auf ein generelles »Forschungsdefizit« für das 16. und 17. Jahrhundert hingewiesen: Abgesehen vom universitären Bildungswesen weiß man immer noch recht wenig z. B. über Lehrangebote, Schulbücher, Lehr- und Lernprogramme und -methoden, Klassenkurse und Unterrichtsstil. 55 Auch die alltägliche Praxis an der Lateinschule Anton Fuggers lässt Fragen offen. Die frühe Datierung der Schulordnung unterstreicht noch einmal die Vorreiterrolle der Fugger, hier speziell Anton Fuggers für das katholische Bildungswesen in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Eine genauere Untersuchung des Textes macht dabei deutlich, dass der Schulgründer und Stipendienstifter Unterricht und Schulwesen mit konzeptioneller Sorgfalt den gegebenen Verhältnissen anpasste oder anpassen ließ und ambitionierte, prinzipiell vor- oder überkonfessionelle Bildungsziele setzte, freilich ohne dass deren konfessionelle Zweckbindung zweifelhaft gewesen wäre. Dabei war die Babenhauser Schulstiftung keine lokal isolierte Initiative, sondern sie war eingebettet und angeschlossen an ein Konzept durchgängiger, bis zum universitären Abschluss führender Bildungsförderung. 56 Denn nicht nur in Babenhausen haben die Fugger die Institutionalisierung 54 T HOMAS T ÖPFER , Christliche Schule und Gemeiner Nutzen. Schulordnungen zwischen Normierung, Bildungsnachfrage und Schulwirklichkeit im 16. und 17. Jahrhundert, in: I RENE D INGEL / A RMIN K OHLE (Hg.), Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen in der Reformationszeit (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 25), Leipzig 2014, S. 169 - 188, hier 174. 55 A NTON S CHINDLING , Schulen und Universitäten im 16. und 17. Jahrhundert. Zehn Thesen zu Bildungsexpansion, Laienbildung und Konfessionalisierung nach der Reformation, in: W ALTER B RANDMÜLLER / H ERBERT I MMENKÖTTER / E RWIN I SERLOH (Hg.), Ecclesia militans. Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte (FS Remigius Bäumer), 2 Bde., Paderborn u. a. 1988, S. 561 - 570, hier 566. 56 Vgl. H ELMUT F LACHENECKER / R OLF K IESSLING , Städtelandschaften - Schullandschaften. Eine Einführung, in: D IES . (Hg.), Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben (Anm. 3), S. 1 - 14, hier 14. <?page no="285"?> H UMANIS M US UND K ONF ES S IONA LIS IER UNG 285 von Bildung und Bildungsförderung als Beitrag zur Stärkung der katholischen Positionen in Schwaben und darüber hinaus begriffen und ihr Engagement systematisch betrieben, um auf allen Ebenen - von der Lateinschule über das Kolleg bis an die Universität - eine Verbesserung der katholischen Bildungssituation zu erreichen. <?page no="287"?> 287 Stiftungsurkunde Edition 1 [Hand A] Herrn Anthoni Fuggers stifftung zu Babenhausen [/ 1] [Präambel] In namen der hayligen untailbarn drivaltigkeit. Ich, Anthoni Fugger, weyllundt Iorigen Fuggers 2 seligen verlassner eeleiblicher sone, herr zu Kirchberg und Weissenhorn, romischer kaiserlicher unnd 5 kunigelicher mayestatten etc. rathe, bekhenn offenntlich mit disem brieff, libellsweiß geschriben, unnd thuo kunth allermenigelich, die in ansehen, lesen oder hören: Nachdem der mentsch nackhenndt unnd bloß auß seiner muetter leib geporn, auch alls er gestorben, widerumb bloß in die erden gelegt unnd vergraben, was er doch in zeitt seins lebens guetts gethon oder durch die lieb im rechten glauben mit seinem zeittlichen guett gestifftet hat, vonn Gott sonders zweiffels unbelondt nicht sein würdet, 10 unnd ich die gutthait, auch glickliche zuestandt unnd anfell, so mir bisher Gott, mein schöpffer unnd seligmacher, in meinen hendeln mit zeittlichen guettern unnd narung aus gottlichen gnaden bewisen unnd beschert hatt, erwegen, unnd ich deren nit ain ewiger besitzer, sonnder nur 3 ain schaffner bin, das ich demnach bey leibs guetter gesundtheit dem allmechtigen Gott zue lob, ehren unnd glori mit zeittlichem guettem rath, wolbedachtem synn unnd mueth die nachvolgendt ordnung 15 unnd imerwerende, unabgengige stifftung inn meinem sitz unnd guett Babenhausen fürgenomen, gestifft, fundiert unnd verordnet hab. Thuo das auch alles iezo wissentlich unnd wolbedechttlich auß vollkhomner macht, die ich auff disen tag zue meinen guettenn hab, inn crafft dits libells, also unnd dergestallt: [Jahrtag] 20 Das nun hinfiro alle iar iärlich unnd yedes iars allein unnd besonder vier iartäg zue denen vier quattembern im iar allwegen inn der pharrkirchen zue Babenhausen unnd mit erster cattember auff 1 FA 87.1. - Die Einrichtung des Textes orientiert sich an den einschlägigen Empfehlungen. In Übereinstimmung mit den für die Aufsätze des Tagungsbandes geltenden Richtlinien ist der edierte Quellentext kursiv gesetzt. Die Paginierung ist nicht zeitgenössisch, sondern archivalisch ergänzt. Vgl. Arbeitskreis › Editionsprobleme der Frühen Neuzeit ‹ (Hg.), Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1981, S. 85 - 96; J OHANNES S CHULTZE , Richtlinien für die äußere Textgestaltung bei Herausgabe von Quellen zur neueren deutschen Geschichte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 102 (1966), S. 1 - 10; W ALTER H EINEMEYER (Hg.), Richtlinien für die Edition landesgeschichtlicher Quellen, 2. Aufl. Marburg u. a. 2000, bes. S. 27 - 39. 2 Georg (Jörg) Fugger (1453 - 1506), Vater Antons. 3 nun <?page no="288"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 288 reminiscere negst khomenden tausentfünffhundertfunfundfunfzigisten iar anzufahen, allain mit den priestern in obbemeltem siz unnd guett Babenhausen unnd in derselben verwalltung gesässen unnd darein gehörig seind, mit singen, lesen, meßhallten unnd verkhünden andechtigelich vollgender ge- 25 stallt gehallten. Nemblich, das ain vigili dess morgens frue gesungen, darnach auff der canntzl das gemain volck unnd zuhörer zue erkanntnus irer sünden, auch wahrem, rechtem cristlichem glauben in gott, dem herrn, unnd umb dancksagung gottes unnd deß stiffters guethaiten erinnert, auch zue dem gepet, das Gott, der vatter, durch Christum Ihesum, seinen geliebten son, dem stiffter mit sambt seinen vorfarn, 30 weib, kindern unnd nachkhomen, auch allen christgleubigen seelen die ewig ruo aus seiner göttlichen genad unnd barmbhertzigkeit verleihen wöll, vermant. Demnach die seelmeß gesungen, auch gelesen worden, unnd soll bey dem grabstain der priester, so das ampt gesungen, das placebo oder deprofundiß sampt drey collecten lesen (darbei die andern priester entgegen auch steen söllen), welliche collecten auff ainem zettel geschriben und ich, Anthoni Fugger, mit aigner hanndt underschriben, bey disem 35 meinem stifftbrieff ligt, 4 unnd allsdann yedem priester auf den tag sollicher begengkhnus unnd gedächtnus für das mal acht kreutzer und zwölff pfenning zu [/ 2] presentz unnd aim yeden schulmaister unnd cantor daselbst zue Babenhausen auch sovil als aim priester, aber dem meßner sechs kreitzer unnd dem pfleger acht kreitzer gegeben sollen werden. Gleichsfalls zue almuosen der dürfftigen unnd haußarmen leuthen soll ain yeder pfleger selber oder durch seinen verordenten [! ] (doch das 40 er gwiß weiß, das sollichs aigendtlich verriecht werde) an bemelten vier iartägen hierumb zue hauß zue tragen und yedem auß sollichen armen sechs kreitzer, sovil das sich yede quattember vierthalben guldin oder vier guldin unnd nit darüber betreff, zu geben unnd die darbey Gott, dem herrn, andechtigelich für den stiffter, seine erben, vorfarn unnd nachkomen, auch all christgleubig seelen bitten wellen, zu ermanen, im beuelh haben. 45 Es sollen auch fürohin ewigelich alle tag bey allem gehalltnem gotzdiennst inn und ausserhalb benannter vier iartägen vier ansehlich, doch an ernannten vier iartägen newe wechsne kerzen bey der herrschafft grebnus geprennt unnd mit siben guldin iärlich, die darauff geordnet, erhallten werden. Dergleichen soll zue allen iartägen auf dem alltar zwo maß wein unnd ain halb pfundt schmalz, auch für sechs pfenning weißprot durch ainen yeden pfleger oder seine[n] 5 bevelshaber gelegt werden. 50 Auff das aber an obernannten vier iartägen zue berürtem gotzdiennst die priester, burger unnd nachpaurn on ainich entschuldigung khomen unnd darzue sich versamblen mügen, soll allwegen, so offt ain iartag gehallten, derselb den sonntag darvor an der canntzl verkhündt werden. Es soll auch gedachtem phleger zue Babenhausen, das obgesazte stifftung unnd gozdiennst zierlich gehallten und verricht, vonn mein nachgesezten executorn zue yeder zeitt ernstlich aufferlegt und 55 beuolhen oder umb sein saumbsal unnd verhandlung gepürlich gestrafft werden. 4 Fehlt. 5 seinem <?page no="289"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 289 [Schul- und Studienstipendien] Verrer hab ich fürgenomen, geordnet unnd gestifft, stifft und ordne auch hiemit wissentlich unnd in crafft dits brieffs, das fürohin in ewig zeitt fünff knaben zum studiern nachgemelter massen angenomen unnd zue Babenhausen underhallten söllen werden, wie dann schon diser zeitt fünff knaben 60 da sein, die sollen also zum anfang da bleiben unnd dieselben auß mein unnd nach meinem absterben meiner söne manlich namen und stammen der Fugger herrschafften unnd guettern, underthanen, fürnemblich aber auß der herrschafft Babenhausen, waverr anderst taugliche knaben zum studiern darinn mögen bekhomen, angenomen werden. Die sollen frommer, erber unnd redlicher leuth kind, ehlich geborn, nit pfaffenkinder oder passtart, oder das mit inen von bäpstlich hailigkeit oder kayser- 65 lichen mayestatt dispensiert unnd eelich gemacht worden, ires allters vonn acht oder neun iarn, nit darüber noch darunder, unnd sollich knaben sein, die zum studiern taugenlich, guetter ingenia seien, bey welchen verhoffennlich, das der cossten, auff sie gewandt, wol angelegt und sie fleissig studiern werden. Es sollen auch dieselben knaben all unnd yeder besonder ain halb oder ganntz iar, ee ainer für 70 bleiblich bestettigt wirt, inn der darzue verordenten schuel zue Babenhausen probiert, irs thuen unnd wesens notturfftigelich erkhondigt und [/ 3] durch ain gelertten mann, den ich fürohin oder durch mein nachkomendt vollzieher diser stifftung darzue verordnen, examiniert unnd, so sy im studio fürzufarn tauglich erkennt unnd befunden werden, soll sich ain yeder sampt sein älltern, vorminder, phleger oder andern seinen freunden oder verwanndten, so sy die haben, gegen mir und meinen 75 vollziehern oder executorn diser stifftung verschreiben, nemblich das sy bey dem studiern bleiben und darinn alles vleiß fürfarn. Die älltern, vormünder, phleger unnd verwandte sy auch dabey bleiben lassen wöllen, alles vermög unnd inhallt ainer verschreibung copien, so bey disem stifftbrieff behallten würdet, unnd, da sich ainer derselben knaben, es wer in der schuel zue Babenhausen oder auff ainer universitet, dahin sy durch mich oder mein nachkoment vollzieher unnd executorn, wie nachvolgt, 80 verordent werden, ungotsförchtig, im studiern onfleissig oder sich sonnst unerber unnd nit, wie sich gepürt, hallten wurde, das ich und mein nachkomendt executorn diser stifftung yederzeitt macht unnd fueg haben, sy auß der schuel zeschaffen oder das stipendium auff der universitet, dahin er geschickt, abzestellen unnd weitter nit zu underhallten. Darwider mit wortten oder wercken ze reden oder handlen, sy, die knaben selbs, ire älltern, phleger, freundt unnd verwandten nit fueg noch macht 85 haben sollen noch mögen. Unnd wann es sich hinfüro begipt, das die knaben inn diser meiner gestifften schuel unnd hernach uff der universitet, dahin sie geschickt worden, ire studia compliert unnd die ihar, so inen dieselben zu erfüllen, in diser meiner stifftsordnung ernennt, erstanden, den gradum doctoratus oder ainen andern erlangt unnd sich aber zutragen wurde, dz ich, mein erben unnd nachkomen dieselben zu geprauchen hetten, das sy unns, es sey in gaistliche[m] 6 oder wellt- 90 lichem stanndt unnd sachen, vor allermenigelich uns gepürliche belonung unnd underhalltung, aines yeden stannd und wesen gemees, ir leben lanng dienen söllen. Es were dann, das ich, mein erben und nachkomen irer nit bedürfftig sein wurden oder zu geprauchen hetten, sollen sy andern leuthen, unns annemblich, dienen mügen unnd dishalb durch mich oder meine nachkomendt vollzieher diser 6 gaistlichen <?page no="290"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 290 meiner stifftung freygelassen unnd desse[n] 7 ain urkhundt gegeben werden, doch mit diser beschaiden- 95 hait, das sy wider mich, mein erben unnd nachkomen ir leben lanng inn dhainerlay weiß thuen, handlen, rathen noch helffen, sonder umb die empfangene guthait allzeitt dannckbar sein wellen unnd söllen. Wann dann ainer oder zwen aus gemellten knaben, es sey inn sechs, siben, acht oder mehr iaren, nachdem er angenomen, bestettigt unnd, wie obgemellt, verschriben ist, inn gemellter stifftschuel zue 100 Babenhausen so wol gelernt, sich im studiern umb sovil gebössert unnd proficiert hatt, das i[n]e 8 der verordnet schuelmaister unnd canntor alda ad maiora studia taugenlich erkhennt, söllen gemellte schulmaister unnd cantor baid ainhelligelich dieselben knaben mir oder meinen nachkomenden vollziehern unnd executorn diser stifftung benennen und mit guettem [/ 4] bericht irer lernung und aigenschafft wharhafft bey iren pflichten und gwißen anzaigen, darinn nicht pergen noch verhallten. 105 Die alsdann durch mich oder mein nachkoment executorn erforderet, durch ain gelertten mann examiniert unnd fortter mit gepürender fürderung an den rector oder ander bekannten ainer universitet, es sey geen Ingolstatt, Freyburg, Löuen, Dillingen oder ander hohen schuel, da man dess allten, wahren catholischen glaubens ist, gesanndt, unnd yedem iärlich fünff oder sechs iar lang, bis sy doctores werden oder ainen andern gradum erlangen mögen, zue underhalltung funfundviertzig 110 guldin reinisch in mintz unnd, wo er damit nit außkomen möcht, noch fünff gulden dartzue, thuett fünffzig guldin, den gulden zue funffzehen pazen oder sechtzig kreitzer gerait, zu gepürenden frissten unnd terminen one desselben costen unnd entgellt, verordnet, geraicht unnd gegeben unnd die schuel zue Babenhausen an deren statt, so also weggeschickt werden, widerumb mit andern tauglichen knaben, die der aigenschafft unnd ingenia, wie oberzellt seien, ersezt. Unnd also allweg fünff knaben 115 daselbs zum studiern erhalten werden. Es soll auch ain yeder der obgemelten knaben, so, wie vorsteet, auff ain universitet zu studiern geschickt wirdt, seiner außgab ordenlich rechnung thuen, mir oder meinen nachkomenden vollziehern unnd executorn diser meiner stifftung zue yeder iarszeitten, welche iarzeitt sich soll anfahen den tag, wann er auffzeucht ungevarlich, zueschicken sampt ainer urkhund under dess rectors secret, wie er 120 sich dasselbig iar gehallten. Unnd zue mehrer unnd bösser erkhundigung der sach soll unnd mag durch mich oder meine nachkoment executoren ain unpartheyscher gelertter mann yederzeitt verordnet werden, durch den dieselben studianten auff den universitetten alle iar examiniert, damit gesehen müg werden, ob das gellt wol angelegt unnd nott, weitter auff dieselben was ze wenden, sey oder nicht. 125 [Schulgebäude, Schulmeister, Kantor] Damit dann solchs alles desto ordenlicher, auch bas versehen unnd außgericht werde, so hab ich zue ainem anfanng diser schuelstifftung darzu verordnet ain hauß zue Babenhausen, daran ain bamgartt hinder dem pfarrhoff gelegen. Stosst oben an Veiten Gneißlins verlassne wittib hauß und unden gegen der Gintz an Caspar Zeißlers hauß. Ist gar vonn newem erpawen. Darinn soll ain 130 gelertter, frommer, geschickter, unserer allten, catholischen religion, gotsfürchtiger schuelmaister mit 7 desse 8 ime <?page no="291"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 291 seinem eeweib oder, im fall er nit verheyrat were, mit ainer allten, betagten fromen frawen sein wonung unnd die fünff knaben bey ime in seiner cosst, zucht, leer unnd underhalltung also haben, wie dann ir schuelordnung, welche bey disem stifftbrieff ligt unnd ich mit aigner hanndt underschriben, mitpringt unnd nach lenges darinn angeordnet unnd außgefüert ist. Dann vor allen dingen 135 soll er die knaben zue der forcht und ehre [/ 5] gottes ziehen, auch das sy in der kirchen deß morgens unnd abents mit singen helffen unnd, ehe man sie uff die hohen schuel verschickt, guette grammatici, dialectici und latini seien, sonnsten in essen unnd trincken der notturfft nach speisen unnd hallten, das solliche iungen auch alle malzeitt, alls morgen und abents, vor unnd nach dem essen, vor dem tisch mit uffgehebten handen das Benedicite, nach essens das Gratias peten, mit ainer clain oder 140 kurtzen dancksagung für den stiffter und seine nachkomen, nach dem Gratias, so man gessen, pitten lautt der verzaichnus, mit meiner hanndt underschriben. 9 Dagegen ime von ir yedem dess iars achtzehen guldin reinisch in mintz unnd vonn wegen deß cantors sechs guldin derselben werung, alls yede cattember anderthalben guldin mintz, in die cosst geben soll werden. Dagegen soll der schulmaister mir unnd nach meinem abgang meinen verordneten und nachgemelten 145 executorn ain sondere verschreibung geben, darinn dann dem schulmaister zue seiner iärlichen besoldung unnd ain iedes iar besonder, nemblich viertzig guldin, alls iede quattember zehen guldin reinisch, funffzehen patzen oder sechzig kreutzer für den guldin, gerait unnd auß der herrschafft zehendtstadl zue Babenhausen zway tagwerck rugge und sovil haberstro, beholtzung, ain fuoder hew unnd dann darzue von dem hailigen zu Babenhausen zehen guldin obbemelter werung, acht 150 mallter roggen, zway mallter habern unnd ain mallter keren, alles Meminger meß, sampt in iedes veld ain iauchart ackers, und das er ain fuoder hew fahen mag, so vorhin einem schuelmaister zugehördt hat, und anders mehr, so die notturfft unnd pilligkeit ervorderen wirdt, gestimbt, bezallt und entricht werden. Diewil auch sonnst ain cantor der gemainen schuel zue guettem von deß hailigen einkomen iärlich 155 erhallten würdet, damit dann derselb diser stifftung auch genieß, soll im iärlich von derselben einkhomen sechs guldin reinisch in mintz, nemblich alle quottember zeitt anderthalben guldin, zue bueß volgen unnd überanntwurt werden. Dagegen er aber verpunden sein, disen stifftknaben nach bevelh deß schulmaisters mit bösstem fleiss in repetierung ire[r] 10 lectionen und wie im das vom schuelmaister bevolhen wirdet, vor zu sein, 11 sonderlich aber die bemellte stifftknaben teglich in unnd 160 vonn der kirchen fuern, sein guett auffsehen auf sie haben, das sie ordenlich unnd züchtig zue unnd vonn der kirchen gangen. Deßgleichen in der kirchen mit singen und anderm, so inen die ordnung ufflegt, embsig unnd geflissen seien. Und damit solchs dessto stetter gehallten werde, soll gegenwürtiger canttor dem iezigen phleger zue Babenhausen obstendem also nachzuekhomen an aidsstatt angeloben unnd hinfüro dhain canttor uffgenomen werden, er habe dann zuvor dergleichen gelibt ainem 165 9 Vgl. Ed. Institutio scholastica, Anm. 24. 10 iren 11 Vgl. Ed. Institutio scholastica, Z. 283 - 289. <?page no="292"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 292 phleger, so damaln 12 verhanden sein würdet, gethan unnd volfüert. Wellicher canttor auch unser allten, catholischen religion sein soll. Unnd demnach ich, wie hievorn gemelt, zue diser meiner stifftung ain schuelbehausung vonn newem erpawen hab, wann dann dieselbe behaußung abprune (da Gott vor seie), so solle vonn diser meiner stifftung vonn dem [/ 6] vorrat, was über die ersten drey knaben uff der universitet zu verlegen und 170 erste drey iunckfrawen außzusteurn, bevorsteen würdet, der ain halb thail dess uncostens unnd der ander halb vonn den zwayen hailigen sanndt Enderiß 13 zue Babenhausen und unser lieben frawen zue Haßlach 14 (dieweil die stifftung denselben kürchen frünemblich auch zue guetten khombt) zu ainer andern schuolbehaußung zu erpawen genomen und von sollichem ain behaußung, inmassen die erst gewesen, erpawen werden. Was aber iarlich an sollichem schuolhauß zu bössern sein würdt, 175 das soll vom hailigen zue Babenhausen verlegt werden. Wover aber der schuolmaister, canntor oder mithelffer dasihenig, was inen dise mein stifftung unnd ordnung, auch obangeregte schuolordnung auferlegen, nit hallten noch geleben oder nachkomen wurden, so soll oder mag ich oder nach mir meine executoren oder der pfleger, doch auß irem beuelh, den schuolmaister unnd canter, sy baide oder iren ain, doch vermög deß termins, inn irem bestallungbrieff 180 verleibt, urlauben, auch den dienst gar aufsagen unnd andere mit obbemelte[r] 15 condition an ir statt auffunnd annemen. [Aussteuerstiftung] Weitter hab ich umb der ehr gottes unnd der reine, keusche gepörerin, der iunckfrawen Maria, willen unnd erkanntnus der hailigen drivaltigkeit gestifft, verordnet unnd verschafft, thuo das auch 185 hiemit inn crafft dits brieffs, das alle iar unnd aines yeden sondern iars und das kunfftig tausentfünnhundertfünfundfunfzigisten iars anzuefahen von meinen hievor unnd hernach genannten executorn drey erbere, wolerzogen, wol gepärdte, zu verheyraten beretige iunckfrawen, die vonn iren elltern noch bluetsfreunden nit hülff haben, außerleßen unnd ainer yeden zue ainem eelichen heyrat verholffen unnd gerathen, auch zu ainem heyratgutt zwenunddreyssig guldin reinisch, funfzehen 190 pazen oder sechtzig kreutzer für ieden guldin gerechnet, gegeben sollen werden, doch sollichermassen unnd also, dz dieselben iunckfrawen aus meiner herrschafft unnd under meinen underthanen, mir und meinen erben mannlichs stammens unnd namens zuegehörig unnd fürnemblich in der herrschafft Babenhausen (darzue auch eelich vonn vatter unnd muetter geporn und gar dhains priesters tochter oder das mit ir dispensiert, sy dardurch eelich vonn papst oder kaiserlich mayestatt gemacht worden) 195 seien unnd sich selbs vorhin nit versprochen noch verheyrat haben, sonder, wann ain solche tugentsam, ehrliebendt tochter verhanden, der ain eerlicher heyrat zuestatt, aber vonn wegen aines heyratsguets sich entschlahen möchte, so soll dieselb sollichs unnd gegen wem der heyrat ist durch iren vatter, muetter, phleger oder vormundt mir und nach meinem tödtlichen abganng meinen geordneten executores zuvor anzaigen, irs raths pflegen unnd nach derselben erkhundung, ob ime also, auch ob die es 200 12 In damaln (Kürzel-? )Strich durch l über -aln und darüber hinaus. 13 D. i. der Hl. Andreas (Patron der Pfarrkirche in Babenhausen). 14 D. i. Kirchhaslach. 15 obbemelten <?page no="293"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 293 notturfftig unnd am basten angelegt sey, beschaids unnd anntwurt erwartten. Wurde dann obberüert heyratgutt bewilligt, so söllen sy ainen yeden phleger daselbst zue Babenhausen auff die hochzeitt [/ 7] laden, der dann das obbemellt heyratguett mitpringen unnd gegen gepürlicher unnd gewonlicher quittung, auch caution unnd versicherung, damit der beheyrat das nit verthuen müg, sonder dem weib unnd kinden zue nutz unnd guettem khom unnd beleib, gaben soll. 205 Im fall aber hierinn ainicher betrug, gefar, haimblicher verstandt, durch oder vonn wem das were, beschehe unnd offenbart wurde, soll der von den executoren diser meiner stifftung, auff das berürte guettherzige stifftung nicht mißpraucht werde, ungestrafft nit bleiben. Unnd soll hierinnen muet unnd gab unnd alle gefär gar außgeschlossen sein. [Finanzierung] 210 Unnd damit berürte gotzdiennst auff denen vier iartägen mit allen, wie oberclert ist, gepürenden ceremonien, auch die schuelstifftung mit ordnung der leer, des hauses gepew, underhalltung unnd verschickung der knaben sambt allen, wie obsteet, andern sachen unnd auch das gaben bemelter unverheyraten iunckfrawen dester bas unnd stattlicher inn guetter unnd ewiger gewisser bestendigkeit underhallten, gehanndthapt unnd vollzogen werden, so hab ich erstlich bey dess reichs statt Ysna 215 fünfftausent guldin reinisch, funfzehen patzen oder sechtzig kreutzer für ieden guldin gerechnet, bar erlegt, darvon ain ersamer rath unnd gemain bemelter statt Ysna mir oder meinen erben unnd nachkomen iärlich unnd ain yedes iar besonder auff den ersten tag dess monats ianuarii hundert guldin unnd auff den dreyundzwaintzigisten tag apprilis ainhundertunndfunfftzig guldin, und dann ainem rath der reichstatt Kauffpeurn dreytausent guldin reinisch, zue funfftzehen patzen oder 220 sechtzig kreutzer für yeden guldin, erlegt, also bar, davon sollen sy zalen mir oder meinen executoren iärlich unnd ain iedes iar besonder auff den sechtzehenden tag dess monats octobris ainhundertfunfftzig gudin berürtter landts werung, alles ewigs gellts, gen Babenhausen ins schloss ainem phleger oder seinem verwalter daselbs gegen seiner quittung innhallt irer verschreibungen, unnd dem Wolffen Paler unnd Conradten Härpst sechshundert guldin sollen sy iärlich auff den funffzehenden novem- 225 bris mit fünff vom hundert verzinßen, das also vorgemellte mein stifftung vierhundert und dreissig guldin ewigs einkhomen haben söllen. Wann oder zue was zeitt aber die vonn Ysna unnd Kauffpeurn oder Paler unnd Härpst all drey oder aine auß disen dreien diß gellt unnd verzinßung abkhunden unnd nit lenger uff ermeltem zinß behalten wolten, so ist mein will unnd maynung, das meine nachkomendt executores ernannte haupt- 230 summa an ain ander sicher unnd gewiß orth, auch, wa es immer sein khan, bey ainer oder zwayen reichsstätten, unnd so offt, alls abkhindt wiert, wider, da es auff verzinßung zue fünff guldin vom hundert, des iars davon zu zalen, sicher sey, anlegen söllen unnd wöllen. Unnd sollen nach meinem tödtlichen abganng die khünfftigen zinßverschreibungen auff mein, [/ 8] Anthoni Fuggers, stifftung unnd derselben executoren, die damalen sein werden, unnd dero nachkomen gestöllt werden. 235 Unnd diss mein stifftung soll hinfüro inn ewig zeitt mein, Anthonien Fuggers, stifftung genennt, auch alle kauff-, zins- und annder hauptbrieve auff mich und nach meinem tödtlichen abgang auf meine executoren gestellt, auch obbemellte iärliche rennt, zinss oder güllt, so zue offternannter meiner stifftung geordnet unnd erkaufft, söllen unnd mügen ich unnd nach meinem todt offtgedachte meine <?page no="294"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 294 executoren auf bestimbte zinßtäge einnemen oder solchs ainem pfleger zue Babenhausen bevelhen, 240 dann ordenlich rayttung unnd anzaigung vonn ime nemen unnd nichtdestoweniger selber rechnung davon hallten, wie hernach weitter davon gemellt wirt, unnd zue underhalltung unnd hanndthabung offtgedachter meiner stifftung anlegen unnd geprauchen. [Überschüsse] Namblich, sobald sich vorbemelter überschuss, so iärlich also erspart unnd über die nottwenige, 245 hievor steende außgab überbleiben unnd sich vier bis in fünffhundert guldin in mintz hauffen unnd anlauffen wirdet, so söllen solliche an sichere orth umb iärliche verzinßung, alls iärlich fünff vom hundert angelegt werden. Unnd wann sich solcher überschuss bis inn tausent guldin haubtguett erstreckt unnd also auch angelegt unnd verzinsst werden, so söllen allsdann meine executorn, so zu diser meiner stifftung verordnet seind, noch ainen vonn vorbemelten stifftknaben, wann derselben 250 dartzue nach diser meiner ordnung, hievor erzelter massen, qualificiert wirdet, auff ain universitet verlegen, das also im selben fall ire drey unnd nit darüber uff die universitet verlegt und alda underhallten mögen werden unnd söllen. Was aber über sollichs weitter an dem iärlichen einkhomen überbleiben würdet und so offt derselb überschuss drey oder vierhundert guldin erraicht, sollen dieselben auch umb iärliche verzinßung, 255 obgehörtter massen, angelegt und, wann dieselb summa uff sibenhundert guldin hauptguett khombt, als dann noch ain ehrliche tochter inmassen, wie hieoben davon gemellt ist, vonn sollichem iärlichen zinss unnd also in allem iärlich vier erber iunckfrawen außgesteurt werden. Unnd was sich alsdann weitter unnd hinfüro über vorstendt überschuss an dem iärlichen einkhomen, inmassen hievor gemellt, befunden würdet, das soll iederzeitt, wann der überschuß oder ersparung 260 sich fünff oder vierhundert guldin oder noch minder anlauffen würdet, umb iärliche verzinßung im flecken Babenhausen oder anderstwo, da es richtig unnd sicher ist, wider angelegt unnd dieselb nutzung unnd was also bevor steen würdet, nach rath unnd guettbeduncken meiner verordneten executorn, sovil müglich diser stifftung gemeß und wol angelegt und außgeben werden. Aber fürnemblich ist mein will unnd mainung, das die schueler zue Babenhausen noch auff der universitet über 265 hievor gemellt anzal, wie hievornen ge- [/ 9] mellt, sonder das aussteuren der erbern iunckfrawen soll gemehrt werden. [Exekutoren] Dieweil aber dhain ordnung noch stifftung on vollzieher noch dero hanndhaber ewig noch lanngwirig bestendig sein khonden noch mügen, so sez unnd benenn ich zue vollziehung diser meiner ordnung 270 unnd stifftung mein eeliche liebe söne (dero iez vier in leben sein), nemblich Marxen, Hanns, Iheronimus unnd Iacoben Fugger geprueder unnd darzue herren Sebastian Christoff Rehlinger, der rechten doctor, meinenn 16 lieben schwager, unnd Carlen Peuttinger, meinen lieben vettern, zue geordneten executoren. Also, wann ich mit todt abganngen bin (dann, solanng mir Gott, der herr, das leben vergonnt, will ich selbs exequiern), das allsdann allwegen die zwen elltisten auß meinen 275 eeleiplichen sönen, alls iezunder sindt Marx unnd Hanns Fugger, wann aber ainer aus disen 16 meinenn ist aus meinem gebessert. <?page no="295"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 295 zwayen oder sy beede, das doch Gott auß gnaden lanng verhuetten wölle) auch mit todt abgiengen oder nit in Teutschlanndt noch in der nahendt weren, allsdann mein son Iheronimus oder Iacob Fugger, wann er sein vogtbare iaren erraichet, an desselben abgegangen oder abwesenden statt. Im fall aber meiner sön ainer oder dhainer, das dann bey Gott steet, inn leben were, das eltist auß 280 meinen eincklin mit meinem überblibnem unnd noch lebendem son oder zway meiner elltisten eincklin unnd ureingklin unnd also fortt inn meiner absteigenden lini mannlichs namens und stammens (alls nemblich der, so zue oder nit ferr vonn Babenhausen wonen würdet, damit er der sachen desster bas gesässen sey) für unnd für, so lanng der weret, sollich verwalltung diser meiner stifftung und ordnung mitsambt obernannten herren Sebastian Christoff Rehlinger und Carlen Peuttinger 285 zuegeordneten executoren. Unnd also die vier hanndthaben unnd vollziehen, auch sy mein hievor verordente und erkauffte iärliche zinss oder güllt unnd so noch erkaufft werden alle iar fleissig einpringen, emphahen unnd davon mein stifftung, wie obsteet, thättlich in ewige zeitt außrichten unnd underhallten söllen. Ob sich aber begebe, das auch bey Gott steet, das obernannte meine vier söne unnd alle derselben 290 eehlich leibserben unnd nachkhomen mannlichs namens unnd stammens meiner alls stiffters absteigender lini, wie obsteet, mit todt abgiengen unnd dhainer mehr in leben sein wurde, so soll allsdann die verwalltung sollicher meiner stifftung auff die zwen elltisten unnd negsten gesipten vom bluett manlich stammens von mein obernannten vieren sönen verlassnen töchtern, absteigender lini herkhomendt, doch inn oder nahend bey Augspurg unnd also nit weitt vonn Babenhausen hausendt, 295 fallen, unnd also auch für unnd für die verwalltung obberürtter massen mitsampt den zwayen zuerkuesten executoren haben, geprauchen unnd alles getrewlich und vleissig vollziehenn. [/ 10] Wa sich aber begebt, das dhain negst gesipt mannlichs stammens aus meiner son töchtern auch nit inn leben, sonder weder nie geporn oder abgestorben weren, so ist mein will unnd maynung, auch ordne unnd bevilh es iezo inn crafft diß stifftbriefs, das die handhabung unnd vollstreckhung diser 300 meiner stifftung unnd ordnung an die zwen elltisten cognaten mannlichs geschlechts vonn mein eelichen töchtern, dero iezo fünff lebendig sein, Catharina, herrn graven Iacoben von Monntfortt verheyrat, Regina, Susanna, Maria und Veronica, so noch sind unbeheyrat, fallen unnd, wie ob erclert ist, vollzogen werden. Befuegte es sich aber, das alle aus mir, meinen sünen und töchtern geporne manlichs namens und geschlechts (das doch Gott auß göttlicher barmbhertzigkeit lang ver- 305 huetten wölle) absturben unnd also mein nam unnd stamm nit allain in meiner absteigender, sonder auch seittenunnd collateral lini und siptschafft, vonn mir herrüerendt, ganntz und gar abgieng und das dhainer verhanden unnd in leben were, so ist mein begern, waverr sy sich dessen underfahen wollten, das diß mein stiffung unnd ordnung, inmassen wie ob verordent ist, vonn weylundt meines lieben bruders Raymundus seligen elltisten verlassnen sünen oder zwaien den elltisten auß derselben 310 erben und nachkomen in absteigender lini mannlichs namens unnd stammens oder, wie obsteet, in mangl derselben allwegen durch die zwen negsten vom pluet gesipten freunden für und für, wie sie das gegen Gott am iungsten gericht unnd auff erden gegen den menschen veranntwurten wöllen, mit trew unnd on gefar mit unnd neben den baiden zugeordneten executorn administriert unnd gehandthabt wurde, darzue allwegen die, so am negsten bey Babenhausen wonhafft, für ander (alls diser 315 sachen am basten gesässen) genomen werden söllen. <?page no="296"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 296 Doch söllen meine sün noch ire erben unnd nachkomen an absteigender lini mannlichs namens unnd stammens noch vom pluet die negst gesipten freund aus iren töchtern mannlichs geschlechts noch die cognaten mannlichs geschlechts auß mein töchtern noch wolgedachte meine liebe vettern oder ir baiderseits erben, doch mannlichs namens unnd geschlechts, obangezaigte verordent, gestifft oder hienach 320 zugeaignet rennt, zinss, güllt noch hauptgellt, darumb die ewigen zinss unnd güllt zue diser meiner stifftung, wie obvermellt ist, erkaufft sind oder noch fürohin erkaufft möchten werden, ausserhalb der obernannten dazumal in leben alls zugeordneten executorn wissen unnd bewilligung zu verkauffen, zu verendern, zu versezen, zu verpfenden, zu verkhomern dhainerlay weiß macht noch gewallt haben, sonder, so offt sich begeben wirdt, das ainich zinß oder güllt, zue diser meiner stifftung 325 gehörig, abgelöst oder sonnst doch allain unnd sonnst nit dann diser meiner stifftung zu [/ 11] guett, die notturfft erhaischen wurde, ainich rennt, zinss oder güllt zu verkauffen oder verwechslen, so solle dasselbig alwegen mit wissen unnd willen aller vierer meiner hievor benannter unnd verordneten executorn oder derselben nachkomen beschehen unnd also durch sy all vier samentlich die keuff unnd anders verfertigt, auch die kaufsuma und hauptguet nach irem bössten ansehen vermöglichs fleiß 330 diser meiner stifftung zu guett wider umb ewig zünss oder güllt angelegt unnd wol versichert werden, dergestallt, das von iezt erkaufften einkhomen nit allain nichts gemindert, sonder, da an der iärlichen nottwendigen außgab was überbleiben würdet, dasselb fleissig zuesamengehallten unnd, so offt solliche erüberigte summa bis in drey, vier oder fünffhundert guldin anlauffen, auch solliche an gelegne sichere orth angelegt unnd das einkhomen umb sovil gemehrt werde. 335 Doch so will ich die haubtbrieff, verschreibungen unnd alle urkhunden über dise mein ordnung unnd stifftung, auch derselben verordneten unnd erkaufften zinss, rennt unnd güllt, so lanng ich leb, bey mein handen behallten, unnd nach meinem todt sollen sy in obgemellter meiner executorn, auch derselben nachkomen, so diser meiner stifftung vollzieher sein werden, handen unnd gewallt für unnd für verwart ligen unnd beleiben. 340 Wann sich dann auch durch schickung dess allmechtigen zuetragen, das der obgenannten zwen mitverordneten executor ainer mit todt abgeen oder zue handthabung und vollziehung diser meiner stifftung nit vermöglich sein wurde, so söllen unnd mügen die anndern drey executores inn ainem oder zwayen negsten monaten darnach ainen andern erbern mann, so in Augspurg burger oder inwoner sey, an sein statt zue inen erkuesen. Gleichsfalls, wa gar dhainer meins namens noch 345 geschlechts inn dhainer bluetslini noch siptschafft mehr in leben sein wurde, so söllen unnd mögen meine zugeordneten executores, so zur selben zeitt sein werden, mit hülff dero zwayer damals regierenden burgermaister inn Augspurg noch zwen erber burger zue inen, auch in dem negsten oder zwayen monaten darnach, allsbald die regierung vaciert, erwehlen unnd alsdann dieselben vier, auch alle ir nachkomen, so zue der regierung khomen, hinfüro diser meiner stifftung executores haissen 350 unnd sein. Auch, so offt ainer aus denselben vieren mit todt abgienng oder auß eehafft ursachen untauglich erschin, söllen allwegen die drey, so in leben bleiben, ain andern erbarn, statthafften mann an der statt zu inen erwehlen, also das nachmaln inn ewig zeitt sollich mein stifftung unnd ordnung allwegen durch vier burgerliche biderman alls meine executores unnd comissari verwalltet unnd alles dasihenig, so ob unnd nach geschriben steet, vollzogen unnd gehandthabt werden solle, 355 doch das derselb oder dieselben all vier der allten wahrn catholischen religion seien. <?page no="297"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 297 Wann es sich nun [/ 12] über kurtz oder lanng zeitt begebe, aus was ursachen das beschehe, das mein gestiffter iartag mit den gesezten ceremonien gewalltig verhindert (da Gott vor sey) unnd nit gehallten werden khündt noch möchte, so ist mein will unnd mainung nit, das mein erben oder nachkomendt executoren gedachte zinss noch hauptgellt inn ir selbs aigen nutz unnd aigenthumb 360 wenden, sonder alle vier mein verordent executores söllen unnd mügen das gellt allsdann an andere gotzdiennst oder almuosen, doch in Babenha[u]sen 17 , irem christliche[n] 18 eifer nach, diser meiner stifftung am gemessesten, wie sie das am iungsten gericht verantwurtten wöllen, unnd wie auch mein sonders vertrawen zu inen ist, anlegen und geprauchen, trewlich unnd ungeverlich, aber mit der schuel, auch verheyraten der iunckhfrawen nichtzdestweniger forttghan. 365 Waverr aber aus menschlicher angeporner boßheit vonn wegen diser meiner stifftung unnd ordnung, auch umb offtgedachte zinß, rennt unnd güllt, ainicherlay irrthumb, spenn, hader unnd zannck sich begebe, so ist mein will unnd maynung, das dhain gaistlich oberkeit derwegen ainich verwalltung, gerichtszwanng noch gerechtigkeit darüber haben noch geprauchen söllen unnd mügen, sonder dieselben allwegen vor dem welltlichen ordenlichen richter gerechtfertigt, geörtert unnd außgetragen wer- 370 den, an menigelichs verhinderung oder einred in allweg. Und ob es vonnötten sein wurde, derhalben unnd umb diser meiner stifftung ietzt erkaufft oder khünfftig einkhomen, dero recht oder gerechtigkeit vor allen unnd iegelichen richtern unnd gerichten oder sonnst one recht unnd guettlich zu erscheinen, zu clagen, anunnd abforderung zue thun, auch mein unnd meiner stifftung recht unnd gerechtigkeit gegen menigelichem, wie sich das befuegte, zu 375 vertretten, zue defendiern, ainen ieden zimblichen ayd für geverd unnd andern, so das die notturfft ervordern unnd ufferlegen wurde, zue schweren, unnd sonnst alles unnd iegelichs zue thun, zu handlen und zue lassen, alls sich dess obernannten executorn ampts halber gepüren würdet, söllen unnd mügen mein mehrernennte vier executores unnd ire nachkomendt samentlich und sonderlich inn crafft diser hiemit gegebner procura unnd mandats furderlich thuen. Was sy auch hierinn mit 380 guetten trewen unnd sonder gefar thuen unnd handlen, das soll von mein nachkomenden executoren vösst unnd steet gehallten unnd gelaist werden. Yedoch wa in diser meiner stifftung unnd ordnung ainich besondere solennitet oder auctoritet unnd bewilligung ainicher obrigkeit darzue gepraucht unnd vonnötten sein sollte und derwegen iemandtz dareingreiffen unnd die cassiern wöllte, so ist mein will unnd mainung, das diese mein gegenwürtige stifftung non obstante qualicunque deroga- 385 torio 19 krefftig sein soll unnd gehanndthabt werde. [Liquidierung] Im fall das [/ 13] ainich obrigkeit derwegen, wie obsteet, hanndt anlegen unnd diese mein stifftung annuliern wollte, so söllen unnd mügen ich unnd nach meinem todt meine executorn obberürte zinss, rennt unnd güllt zue iren aigen handen nemen unnd, wie mein sonders vertrawen zue inen steet 390 unnd sie das am iungsten gericht veranntwurtten wöllen, zue dergleichen, wie oberclert ist, almuosen umb Gottes willen iärlichen außthailen. 17 Babenhaüsen 18 christlichem ist eingefügt. 19 D. i. › sofern keine wie auch immer geartete gesetzliche Beschränkung entgegensteht ‹ . <?page no="298"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 298 Es soll aber inn allweg ainer auß denen vier executorn, der von den andern darzu deputiert würdet, guette, richtige rechnung vonn seiner außgab hallten unnd dieselbige gegen gewonlicher quittung den andern dreyen mitexecutorn alle zway iar thuen unnd hinderlegen. 395 Dieweil aber ain ieder arbeitter seins lons würdig ist unnd damit ich dann nit undanckbar geacht, auch dise mein ordnung unnd stifftung desster fleissiger unnd stattlicher durch meine gemellte executores unnd ire nachkomen inn ewig zeitt außgericht unnd vollzogen werde, so sez, mach unnd orden ich hiemit inn crafft ditz brieffs unnd libells, das allsdann ain yeder besonder aus meinen obbemelten sönen nachkomend executorn meines namens unnd stammens unnd geschlechts alle iar 400 iärlich vier gulden reinisch, funffzehen batzen oder sechtzig kreutzer für ieden guldin gerechnet, vonn den obberürten iärlichen unnd ewigen rentten, zinss unnd güllten alls für ir belonung emphahen und damit irem nutz unnd gefallen nach handlen, thun unnd lassen söllen und mügen alls mit anderm irem aige[n] 20 guett, one menigelichs verhinderung. Darauff will ich den obgenannte meine liebe sön alls meine ernannte executoren und iren nach- 405 khomendt, auch die andere zwen, zue inen erküesst, dieselben mitsampt allen unnd yeden iren nachkomenden executorn hiemit fleissig gepetten unnd das vertrawen zue inen haben, das sy unnd alle nachkomendt executores fleissig zuesehen, daran und darob sein, damit dise mein stifftung, wie die durch mich fürgenomen unnd geordnet ist, würcklich vollzogen, auch dasihenig, so wie obsteet oder noch nacher gesezt und zuegeordnet wurde (dann ich mir in dem allem vorbehalten haben will, 410 dise mein ordnung unnd stifftung inn meinem leben zu endern, zu mindern oder zu mehren, wie mich guett ansehen würdet), ir ampt unnd mein stifftung betreffen ist, getrewlichen unnd alles fleiss exequiert unnd vesstigelich gehanndthabt werde. Desshalben ich offternannte herr Sebastian Christoff Rehlinger unnd Carl Peuttinger, hierinn zuegeordneten executores, auch ainem yedem besonder nachkomenden frembden unnd nit pluets- 415 verwandten executorn zu ainer verehrung alle iare unnd ain iedes [/ 14] iars besonder, hiemit inn crafft ditz brieffs auch vier guldin reinisch, oblauttender werung, die ime unnd andern nachkomenden executoren, dessgleichen ainem ieden phleger oder verwallter zue Babenhausen zwen guldin reinisch, obgemelter werung (dieweil sy gleichsfals ob diser meiner stifftung, das die mit vleiss verricht werde, hallten söllen, wie dann hievorn außtruckenlich vermelt würdet, doch das inen, solchs auch dergestallt 420 zu volnziehen, inn ir bestallung verleibt werde) nach meinem tödtlichen abganng durch meine obernennte executorn, auch derselben nachkomen iärlichen vonn obberürten ewigen rennt, zinns unnd güllten, allsdann in ewig zeitt geraicht unnd gegeben werden, unnd sy damit auch zue handlen, wie mit irem aigen guett macht unnd gewallt haben söllen, one menigelichs verhinderung und eintrag inn allweg, verordnet unnd bestimbt hab. 425 Unnd des alles zue wahrem unnd offem urkhundt so seindt diser brieff drey in gleicher lautt libellsweiß gemacht, daran ich, obbemelter Anthoni Fugger, alls stiffter und neben mir mein lieber sun Marx Fugger, alls der elltist under mein sönen unnd allein yetzo anhaims unnd mitexecutor ist, sein aigen innsigl offenntlich gehangen und darzu sich mit seinen aigen handen underschriben, unnd den ainen ich, genannter Anthoni Fugger, alls stiffter zuehanden genomen und nach meinem todt 430 20 aigem <?page no="299"?> S TI FT UNG S URK UNDE 1554. E DITION 299 mein elltiste zwen sön executores obgedachter ordnung nach zuhanden nemen und bewaren. Der ander soll den obgenannten Sebastian Christoff Rehlinger unnd Carl Peuttinger alls zuegeordneten executoren zu trewen hannden überantwurt unnd für und für in ewig zeitt vonn handt zue hanndt den zugeordneten nit pluetsverwandten executorn übergeben werden unnd bey inen inn guetter trewer verwarung bleiben. Der dritt soll zue Babenhausen in den kirchenkassten gelegt unnd versperrt 435 werden. Beschehen zue Augspurg am vierzehenden tag deß monats decembris nach Christi gepurt, alls man zallt funffzehenhundert unnd im vierundfunffzigisten iare. [Hand B] Ich, Antoni Fugger, bekenn mit diser meiner aigen hantschrift, das sollichs alles, wie vor stet, mein 440 will und mainung ist. [Hand C] Ich, Marx Fugger, 21 bezeug mit meiner aigen handtschrifft, das ich alles das, so in diser meines lieben herrn und vattern stifftung von mir vermeldt würdt, mit getrewem guetten vleiß volziechen unnd sollichem nachkomen will. 445 21 Marx Fugger (1529 - 1597), ältester der vier Söhne Antons. <?page no="301"?> 301 Institutio scholastica Edition 1 [Hand D] Institutio scholastica ab excelsissimo domino comite Antonio Fugger inventa et in lucem edita pro norma vivendi litt[era] D. ad n[ume]rum 16. [/ 1] 5 [Hand F] Cogitanti mihi saepenumero, quemadmodum de re literaria, erga quam a puero non male fui affectus, possem bene mereri, in mentem venit Plato, qui tum denique fore beatas respub[licas] putavit, si aut docti aut sapientes homines eas regere coepissent aut, qui regerent, omne suum studium in doctrina ac sapientia collocassent, propterea quod haec coniunctio potestatis et sapientiae saluti posset 10 esse civitatibus. 2 Qua sententia commotus animum ad scholam in municipio meo Babenhausen 3 1 Die Textgrundlage der Edition ist überliefert in FA 5.3.1. Ebd. findet sich eine weitere, ebenfalls von Anton Fugger mit eigener Hand (B) unterzeichnete Ausfertigung wiederum von Hand F sowie eine Kopie von anderer Hand ohne eigenhändige Unterschrift. Außerdem ist das insgesamt 16-seitige Konzept der vorliegenden Reinschrift u. d. T. Lateinische Ordnung der Schulen zue Babenhausen überliefert (im Folgenden: Arbeitsexemplar, AE). Die von einer Hand G geschriebene Textvorlage auf der rechten Seitenhälfte wird in AE an mehreren Stellen durch Hand H und (je einmal) durch Hand I und Hand J kommentiert bzw. mit Streichungen und Ergänzungen auf der linken Seitenhälfte korrigiert. Diese Stellen werden wegen ihrer besonderen Aussagekraft für die Genese der Institutio hier im Anmerkungsapparat dokumentiert. - Zur Einrichtung des Textes vgl. Ed. Stiftungsurkunde, Anm. 1. - Insbesondere gilt: Außer im textkritischen Apparat sind › v ‹ und › u ‹ nach dem Lautwert normalisiert, wird › i ‹ statt › j ‹ verwendet und sind Ligaturen zu › ae ‹ bzw. › oe ‹ aufgelöst. Können › ci- ‹ und › ti- ‹ nicht unterschieden werden, wird der klassischen Variante der Vorzug gegeben. Abkürzungen von Schreiberhand werden in eckigen Klammern auf gängige Weise in kursiver Schrift aufgelöst; recto sind in eckigen Klammern alle allein durch den Editor vorgenommenen Ergänzungen gesetzt. Die Interpunktion folgt modernen Gepflogenheiten. Der Kommentar enthält sprachliche und inhaltliche Bemerkungen. Nachweise für einzelne Übertragungen finden sich in den Anmerkungen zur Übersetzung. 2 Platon (428/ 427 - 348/ 347 v. Chr.), Politeia, V 473d. Vgl. R OBERT S PAEMANN , Die Philosophenkönige (Buch V 473b - VI 504a), in: O TFRIED H ÖFFE (Hg.), Platon, Politeia (Klassiker auslegen 7), 3., bearb. Aufl. Berlin 2011, S. 121 - 133. 3 Dem 1315 erstmals als Stadt bezeichneten Babenhausen bestätigte 1337 Kaiser Ludwig der Bayer das (Ulmer) Stadtrecht, das infolge eines Rottweiler Hofgerichtsurteils jedoch 1466 auf Dauer verlorenging. Vgl. demnächst D IETMAR S CHIERSNER , Art. Babenhausen (Schwaben), in: H ARM VON S EGGERN (Hg.), Residenzstädte im Alten Reich (1300 - 1800). Ein Handbuch. <?page no="302"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 302 instituendam adieci non alio sane consilio, quamvis pauci sunt, quos aequus amet Iuppiter, et non e quovis ligno fiat Mercurius, ex incolis tamen eius municipii existerent unus itemque alter, qui eo usque eruditionis meo (ut ita dicam) sale et pane pervenirent, ut ecclesiae et reipublicae olim prodesse meisque posteris, si res eorum ita ferret, usui esse possent, deinde ut nonnullos, quorum virtutibus 15 res angusta domi obstat, modica stipe ad virtutis et doctrinae amorem allicerem iidemque eo pacto emergerent. Neque me vel hilum terret, quod tantum pecuniae in ruricolas erogabo, vel quia veluti in silice abditus iacet ignis, sic sub sordido pallio latent saepe foelicia ingenia, tum quod isti parvo adiuti ad honestam aemulationem exuscitabuntur magis, quoniam laudabilius multo est nomen ac gloriam sua 20 sibi virtute parare quam maiorum opinione niti seque 4 aliena gloria venditare. Deinde sicut aves ad volandum, equi ad currendum gignuntur, sic hominibus propria est solertia. Itaque perpauci hebetes et indociles secundum naturam homines creantur. Innascitur enim singulis aliquis vigor animi et non desperata vis ingenii, quae cultura fit plerumque 5 melior. Ad extremum, si quis forte curiosulus abs me causam instituti huius flagitaret, ei responsum volo id [dare], quod Aristippus 6 patri 25 cuidam, qui eum sine fine sciscitabatur, quid filio suo conduceret, si literis adprime doctus foret, respondisse fertur: Et si nihil aliud, saltem in theatro non sedebit lapis super lapidem. 7 Qua autem potissimum ratione scholam constitutam esse exoptem, vos obsecro, qui eam tueri ac regere debetis, animum adtendite atque cognoscite. Nam initio sum dicturus de scholae inspectoribus seu procuratoribus, tum de moderatoribus, deinde de eo, quod in universum ad rem scholasticam pertinet. 30 Atque uti nihil inter mortales stabile nedum perpetuum est, quod non alicuius autoritate aut custodia innititur, ita veritus sum maximopere, ne mea haec ordinatio foret firma neque diuturna, si deforent, qui eam abs quavis iniuria vindicarent. Quocirca vobis, meis charis filiis et, qui ex vobis in infinitam usque sobolem nascentur, masculis haeredibus, curam eius unice commendo. Deinde, si lege naturae fieret, ut a filiis procreati masculi ad unum omnes morirentur, qui deinde ex filiabus 35 masculi erunt superstites, post hos denique vos, meos dilectos patrueles, quique ex vobis masculi supererunt, amanter rogatos volo, ut huius meae fundationis scholasticae custodiam velitis suscipere atque ita tueri, ne ulla in parte labefactetur, siquidem nulla re alia aeque mihi parentare poteritis, ac si [/ 2] huius meae voluntatis pertinaces fueritis custodes. Abt. I: Analytisches Verzeichnis der Residenzstädte, Teil 3: Südwesten (Residenzenforschung, NF: Stadt und Hof. Handbuch, I, 3). Ostfildern 2023. 4 seq[ue] ist eingefügt. 5 In AE ist von Hand H pl ę rumque eingefügt. 6 Aristippos (um 435 - 355 v. Chr.), griechischer Philosoph aus Kyrene in Nordafrika. 7 Vgl. das von Erasmus aufgezeichnete Sprichwort › Lapidi loqueris ‹ (Adagium 1.4.89), z. B. in: D ESIDERIUS E RASMUS , Germaniae decoris Adagiorum chiliades tres, ac centuriae fere totidem, Basel: Froben 1513, S. 53. <?page no="303"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 303 Et quoniam permagni refert, cuiusmodi sint praeceptores, adeo quod Philippus Macedo 8 diis agebat 40 gratias non tam, quod filius 9 sibi natus esset, quam quod ea aetate, qua viveret Aristoteles 10 , imo nutricum, uti mea fert opinio, est habendus delectus. Propterea, quod una cum praemanso cibo vitia saepenumero instillant, nostri literarii ludi moderator et hypodidasculus eruditione et bonitate insignes exquisite seligi debent. Sum enim in ea sententia, infantes bonis et doctis viris initio tradendos esse, a quibus prima literarum elementa virtutumque seminaria hauriant, quia ut lanarum 45 colores, quibus simplex candor mutatus est, elui nequeunt, et sapor, quo nova quaeque imbuimus, in longitudinem durat, ita natura tenacissimi sumus eorum, quae rudibus animis percipimus, adeo quod Leonides 11 Alexandri paedagogus quibusdam eum vitiis imbuit, quae maximum eum regem ab illa institucione puerili sunt prosecuta. Quanto magis convenit nos in extrema quasi senecta mundi vitiorumque omnium abundantia in tam corruptrici aetate tamque infinita hominum licentia 50 oculatiores esse, quibus nostram pubem erudiendam credamus. Maiore insuper labore dedocentur vitia, quae semel insederunt, quam recta docentur. Propter quod etiam Thimotheus 12 clarus in arte tibiarum maiores ab iis, quos alius antea instituisset, exigere solitus est mercedes, quam si rudes accepisset. Deinde sine omni dubitacione foret utile, si quoque anno semel de puerorum progressione per vosmet 55 aut alios iuxta idoneos viros periculum fieret. Ideo, si vobis perinde cordi erit atque mihi est haec res, confido in vestra intelligentia, vos id esse facturos. Tertio cavetote, vos haeredes, ne ab insequenti formula tam docendi quam discendi vel latum unguem discedatur. Verumtamen (ut sunt posteriores cogitationes plaerunque meliores) si quid vos vel utilius vel ad doctrinam puerorum accomodatius videritis, id a vobis substitui per me licebit. Alioquin 60 perparce id fieri velim, nam si unius legis violationem dissimulanter tuleritis, caeterarum omnium contemptus seu ludificatio ultro consequetur, non secus ac si intricati operis unum nodum enodaveritis. Vos autem ambo, qui pueris regendis praeficiemini, mementote vos esse veluti speculum in conspectu discipulorum, in quod quoque temporis puncto contemplantes discipuli aveant vobis esse quam 65 simillimi, vosque in eorum locum, a quibus liberi vobis traduntur, succedere existimatote. Eapropter nec habere vitia nec ferre debetis. Quare, uti Plato monet, rerumpubl[icarum] gubernatores a vini temulentia abstinere, ne custode custos indigeat; 13 nec sedent in pectore ebrii sana et quieta consilia. Ita cumprimis vos ludimoderatores hortor esse sobrios ac siccos atque memineritis Lacedaemoniorum, qui ebrium servum in filiorum aspectum adducebant, ut in ipso turpitudinem ebrietatis 70 8 König Philipp II. von Makedonien (um 382 - 336 v. Chr.). 9 D. i. Alexander d.Gr. (356 - 323 v. Chr.). 10 Aristoteles (384 - 322 v. Chr.), Philosoph, Lehrer Alexanders d. Gr. 11 Leonidas aus Epirus ( † nach 332 v. Chr.), Lehrer Alexanders d. Gr. 12 Timotheos von Milet (um 450 - um 360 v. Chr.), griechischer Dichter und Musiker. 13 Platon, Politeia, III 403e. Vgl. die weitgehend formulierungsgleiche Wiedergabe des Zitates bei F RANCESCO M ARIO G RAPALDI , De Partibus aedium, Lexicon utilissimum […], Basel: Walder 1533, S. 151 (= https: / / doi.org/ 10.11588/ diglit.26708# 0183): Monet Plato in tertio de re publica, a vini temulantia abstinere debere civitatum gubernatores, ne custode custos indigeat. <?page no="304"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 304 aspice- [/ 3] rent et odissent. 14 Flagitiosum certe foret vos in coetu ieiunorum puerorum sedere temulentos aut vina hesterna redolentes. Tum in reliqua vita ita sancte, ita continenter, ita innocenter vivere vos decet, ut apud omnes laudem sine invidia inveniatis vosque certatim imitari moresque vestros representare contendant et libenter velint omnes. Scitote namque parentum omniumque municipum oculos in vos fore fixos et, si in aliquo semel a vobis offensum erit, id duraturum diu 75 perque ora omnium repente divulgatum iri. Veniat vobis simul in mentem sententi[a] 15 Christi, qui, praestaret, inquit, de colle illius, per quem unus ex pusillis scandalisatur, molarem lapidem suspendi atque in profluentem aquam praecipitari. 16 Deinde laboris patientes vos oportet. Est enim trivialis paedagogia res admodum laboriosa taediique plena. Assiduos tamen potius esse volo quam immodicos. Etenim ultra citraque modum nequit consistere rectum. 80 Postremo faciles et simplices in docendo eritis, ita ut cito dicta percipiant animi dociles teneantque fideles, parati etiam necnon voluntarii in respondendo libenter interrogantibus, non difficiles nec morosi in percunctando vosque omnino ad captum puerorum accommodare debetis. Nam ut vascula oris angusti superfusam humoris copiam respuunt, sensim autem influentibus vel etiam instillatis complentur, sic animi puerorum, quantum excipere possint, videndum est. Quamobrem curae vobis 85 sit ingenia puerorum primum dignoscere et, quo quemque natura maxime ferat, iuditio discriminare, deinde cognitis ingeniis suam cuique doctrinam disciplinamque attemperate adplicare, si quidem nihil egregium efficitur invita et repugnante Minerva. Cuius documento vobis erunt Ephorus et Theopompus apud Isocratem 17 , quorum alter frenis, alter calcaribus opus habebat. Quod si haec accurate facere nihil pensi habueritis, pertimescendum est, ne ego sumptus frustra fecisse iudicer 90 vosque operam ac oleum perdidisse videamini. Cogitatote igitur vestram virtutem, vestram animi moderationem, vestram temperantiam, vestram siccitatem, vestram bonitatem, vestram denique scientiam non latere in tenebris neque abditam esse, sed in luce municipii, in oculis atque in auribus omnium positam esse debere. Et profecto dicam liberius, ut se habet res, multa vobis sermonis et vituperationis vitandae causa facienda non sunt, quod personam ab aliis longe differentem sustinetis. 95 Sequitur, ut de modo viaque docendi necnon de lectionibus disseram, quas etiam in dies dieique horas dispertiar, post illa de disciplina ac moribus puerorum formandis nonnulla praecipiam. Memoriae proditum est ab Aristotele priscos in educandis erudiendisque liberis aetatis vices de septem in septem annos custodiuisse. 18 Primum septennium ab iis dabatur educationi infantiae, ita 14 Vgl. Platon, Nomoi I 636e - 637b. 15 sententiae 16 Vgl. Mt 18,6; Mc 9,41; Lc 17,2. 17 Die Geschichtsschreiber Ephoros (4. Jh. v. Chr.) aus Kyme (Kleinasien) und Theopompos (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.) aus Chios waren Schüler des Redners und Rhetoriklehrers Isokrates (436 - 338 v. Chr.) aus Athen. 18 Die ausgehend von Aristoteles immer wieder aufgegriffene, stets idealtypisch vorgestellte Einteilung des menschlichen Lebens in Septennien oder Hebdomaden ist reich an Varianten und beschränkt sich meistens auf die ersten Septennien. Sieben (nicht gänzlich je sieben Jahre umfassende) Zeitabschnitte stellt dagegen Isidor von Sevilla (um 560 - 636) vor: W ALLACE M ARTIN L INDSAY (Hg.), Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive originum libri XX, <?page no="305"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 305 ut ea ad omnem deinde actionem foret habilior. In secundo septennio tradebatur pueris gramma- 100 [/ 4] tica et quae sunt eius gerneris. A XIIII [.] anno usque ad XXI. annum docebantur mathemata. Quartum septennium ponebant in physicis. In quinto septennio conferebant se ad scientiam de vita et moribus. Septimum 19 et ultimum septennium consumebant in metaphysica et in theologia. Laudarem equidem summopere, si per cuiusque fortunas et per fatalem necessitatem in brevi nostrae aetatis curriculo, ob quam Theophrastus 20 naturam non iniuria accusavit, singulis concederetur de 105 more priscorum studia sua continenti quasi filo pertexere, sed haud scio, cur natura nobis quasi reliquiis mundi et rem lautam inviderit et vitam exiguam morbisque variis obnoxiam dederit, adeo quod plaerique studia sua praecipitanter accelerant. Ideo oportet me quoque nunc necessitati parere atque primos septem puerorum annos non tam corporis robori quam mentis conformationi pro tempore attribuere. Deinde cum trivialis duntaxat schola 21 , quam fingimus, sit futura, nihil aliud 110 in ea praeter grammatic[a]m 22 docebitur. Et quoniam infantes aut paulo grandiores in scholam deducentur, in quatuor classes visum est eos distribuere, ne promiscue omnes doceantur. In quarta classe (ut ascensus veluti per scalarum gradus fiat) sedebunt alphabetarii. In tertia classe erunt Donatistae. In secunda classe locabuntur grammatici. In primam ac supremam classem ascendent autorum auditores et scriptores. 115 Redeo nunc ad quartam classem atque explicatius dicam, quos intelligam alphabetarios, ut puta eos, qui literarum formas aut characteres nesciunt. Hos ita volo doceri, ut non tam numerum et ordinem quam ductum et faciem literarum cognoscant, deinde ut consonantes a vocalibus discernant ipsasque eas in semivocalium numerum mutarumque partiantur, 23 quae etiam et quot sint dyphthongi ac liquidae et cur has appellationes sint sortitae, discant. Tertio ut sonos literarum 120 iuditio aurium discernant, quaedam enim literae suavius ac dulcius, quaedam expressius et quaedam obscurius sonant. Quarto ut ex l[ite]ris sillabas concinne nectant. Est enim quid in literis proprium, est etiam quid commune, ut litera cum litera mollius cohaerescat et veluti ultro coeat, idque eo usque fiet, donec Tomus 2 libros XI - XX continens, Oxford 1911, Buch XI, § 2, 1 - 8 (= https: / / penelope. uchicago.edu/ Thayer/ L/ Roman/ Texts/ Isidore/ 11*.html#2 [30.1.2023]). Vgl. allgemein zur Septennienkonzeption C HRISTIANE S CHRÜBBERS , Regimen und Homo Primitivus. Die Pädagogik des Ägidius Romanus, in: Augustiniana 33 (1983), S. 112 - 141, passim. 19 Das sechste Septennium fehlt in dieser Aufzählung (und ebenso in AE). 20 Theophrastos (um 370 - 287 v. Chr.) aus Lesbos. 21 Als › Trivialschulen ‹ gelten Lateinschulen, die sich auf die Vermittlung des Triviums (Logik, Grammatik, Rhetorik) beschränkten; vgl. N OTKER H AMMERSTEIN , Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 64), München 2003, S. 9. 22 gram[m]atica[m] 23 Vgl. Quintilian, Institutio oratoria I, 4, 6: […] consonantes a vocalibus discernere ipsasque eas in semivocalium numerum mutarumque partiri […]. M ARCUS F ABIUS Q UINTILIANUS , Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch und deutsch, hg. und übers. von Helmut Rahn, 5., unveränd. Aufl. Darmstadt 2011 (1975), S. 46f. <?page no="306"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 306 inoffensam literarum inter se coniunctionem adepti fuerint. Tunc ipsis syllabis verba complecti et his 125 sermonem absque festinatione connectere incipiant. Quinto ut conglutinata verba non putide, non exiliter, sed suaviter ac clare effari consuescant decenti quodam corporis gestu aptaque singulorum membrorum conformatione. Sexto syllabatim discant legere simul et memoriae mandent precationem dominicam, salutacionem angelicam, symbolum apostolicum, decem precepta, verba sacrosancti baptismi et caenae dominicae, 130 mensae con- [/ 5] consecrationem et mensa sublata gratiarum actionem, pias etiam precationes, quas ituri cubitum aut e lecto surgentes domi suae orent quotidie, 24 et si quid praeterea aliud in pervulgatis libellis alphabeticis contineretur, 25 ut est cantio Da pacem, Domine atque responsiones in templo. Septimo hos alphabetarios volo manu diurna versare libellum de rerum nomenclatura idque ideo, ut ab ipsis quasi incunabulis linguam erudiant ad elocutionem variarum dictionum, ad quam corri- 135 gendam diligenter attendet magister, et ut proprietati sermonis Latini impense studeant. Postremo 24 Ebenfalls in FA 5.3.1 sind zwei vor und nach dem Essen zu sprechende lateinische Gebete mit eigenhändiger Unterschrift Anton Fuggers überliefert: [Hand E] Verzaichnus, mit hern Anthonien Fuggers aigner hannd underschriben, was die funnff knaben taglich vor unnd nach dem essen neben dem Benedicite unnd Gratias fur ain dannckhsagung sprechen sollen. [/ ] [Hand F] Ante sumptum cibum Benedicite Deum. Oculi omnium in te sperant et tu das illis escam in tempore oportuno. Aperis tu manum tuam et imples omne animal benedictione tua. Gloria Patri etc. Kyrie, Chris[te], Kyrie, Pater noster, Ave Maria etc., versic[ulum]: Et ne nos inducas in tentacionem. Responsio: Sed libe[ra]. Oremus: Benedic nos, Domine, et hec dona, que de tua largitate sumus sumpturi per Christum Dominum nostrum. Mense caelestis participes fac nos, rex aeterne glorie, Amen. Deus charitas est; et qui manet in charitate, in Deo manet et Deus in eo. Et ipsa charitas nos benedicat et in vitam aeternam percucat. Amen. Post sumptum cibum De tali convivio benedicamus Domino. Responsio: Deo gratias. Versicu[lum]: Sit nomen Domini benedictum. Responsio: Ex hoc nunc et usque in seculum. Versiculum: Adiutorium nostrum in nomine Domini. Responsio: Qui fecit celum et terram. Deus, retributor ominium bonorum, retribuere dignare omnibus nobis bona facientibus propter nomen sanctum tuum vitam aeternam. Amen. Kyrie, Chris[te], Kyrie, Pater noster, Ave Maria etc. Et ne nos inducas in tentacionem. Responsio: Sed libera nos a malo. Benedicite. Dominus det vivis gratiam, defunctis et benefactoribus nostris requiem, Romano imperio victoriam et nobis peccatoribus post hanc vitam sempiternam nec non fundatori nostro, Domino Anthonio Fuggero, eiusque successoribus perpetuam foelicitatem. Amen. [Hand B] Anthoni Fugger m[anu propria] 25 Daneben in AE Bemerkung von Hand H, durchgestrichen: Si non extabunt libelli, debitur opera, ut scribantur. <?page no="307"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 307 attentabunt hi quoque duce magistro literarum formas scribendo imitari, informes namque characteres pingere alienum ab istiusmodi pueris esse debet. Haec omnia nemo tanquam parva fastidire aut pro nihilo putare debet. Apparebit eorum progredientibus studiis ingens utilitas. 140 Inde si qui legendi scribendique aliquam nacti erunt 26 facultatem, transibunt in tertiam classem atque nominabuntur Donatistae, quae nominatio commonefaciet 27 suae unumquemque operae ac studii. Nam his a capite ad calcem Donatus 28 est interpretandus diligenter, quem ubi intellexerint, memoriter discent eiusque memoria, ut subinde refricetur, a vobis magistris per interrogationes, quibus est scriptus Donatus, frequenter reposci atque non aliter ac Sisyphi saxum volvi ac revolvi 145 usque debet, 29 puerique ordine (nam hoc perpetuum erit in singulis classibus, ut suo ordine consideant pueri, quemadmodum sero aut cito in altiorem classem transeunt) 30 ac memoriter ad interrogata respondebunt. In hac classe docebuntur accidentia partium orationis, quae ad unguem verbo tenus ediscent. Tum discent declinationes nominum, pronominum et participiorum, post eas discent verborum 150 flexiones, quae duo non aliter ac digitos suos nota debent habere, quia absque iis, vobis adfirmo, ad intellectum sequentium pervenire non poterunt. Deinde apud Donati formulas non subsistent veluti ad Syrenum cantus 31 , sed adsuefaciendi erunt ad earum similitudinem quaelibet vocabula examinare et flectere usque eo, donec ratio flectendi nomina et verba ipsis perquam trita ac familiaris fuerit. 155 Tertio, ut in promptu sint varia vocabula, Catonem 32 volo his ipsis praelegi atque singulorum versuum dictiones ad eas, quas antea dixi, formulas exigi itaque explorari, ut videant, quaenam 26 nacti erunt ist aus nactierunt korrigiert. 27 In -faciet ist das › e ‹ eingefügt. 28 donatus. Aelius Donatus (4. Jh. n. Chr.), »lateinischer Grammatiker und Rhetor, Lehrer des Hieronymus. Sein Lehrbuch der Grammatik (die Ars minor in Frage und Antwort für Anfänger, die Ars maior für Fortgeschrittene) war jahrhundertelang in der Schule maßgebend.« W OLFGANG B UCHWALD / A RMIN H OHLWEG / O TTO P RINZ (Hg.), Tusculum-Lexikon griechischer und lateinischer Autoren des Altertums und des Mittelalters, 3., neu bearb. und erw. Aufl. München-Zürich 1982, S. 204. Verwendung im Unterricht soll die › Ars minor ‹ finden. Vgl. dazu A XEL S CHÖNBERGER , Die Ars minor des Aelius Donatus. Lateinischer Text und kommentierte deutsche Übersetzung einer antiken Elementargrammatik aus dem 4. Jahrhundert nach Christus (Bibliotheca Romanica et Latina 6), Frankfurt am Main 2008. 29 Vgl. M ICHAEL G RANT / J OHN H AZEL , Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, 2. Aufl. München 1983, S. 376f. 30 Es ist demnach an ein klassenweises, nicht etwa individuelles Vorrücken gedacht. 31 Vgl. M ICHAEL G RANT / J OHN H AZEL , Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, 2. Aufl. München 1983, S. 374 - 376. 32 Gemeint sind die › Disticha Catonis ‹ , eine seit dem 4. Jh. n. Chr. dem Marcus Porcius Cato (234 - 149 v. Chr.) zugeschriebene, im Mittelalter vielfach gelesene und übersetzte Spruchsammlung moralisch-pädagogischen Inhalts. Vgl. H ELMUT DE B OOR , Die deutsche Literatur <?page no="308"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 308 sit cuiusque germana origo necnon accidentia propria, nullaque dictio debet praeteriri, cuius ortum sive reliqua omnia eodem pertinentia pueri integre non perceperint. Postea versus Catonis, quoniam plaerique ad mores puerorum ac senum formandos conferunt, memoriae commendabunt, quos e 160 schola dimittendi lectore auscultante ordine recitabunt singuli. Si qui post ea exercitia iuditio magistrorum fuerint boni Donatistae, hi [/ 6] in secundam classem transferentur atque deinceps vocabuntur secundarii. Nam in hac classe grammatica tota Philippi Melanchthonis docebitur eiusque regulas omnes prius intellectas ad verbum ediscent pueri. 33 Sunt autem quatuor grammaticae partes, orthographia, etymologia, sintaxis et prosodia, cui consulto 165 assigno postremum locum, ne nostris scholaribus affectantibus viam ad rationem grammatice loquendi foret quaedam remo[t]a 34 , si in prosodia detinerentur, singulas tamen partes grammaticae ordine a magistris ita perspicue tradi velim, ut a discipulis facilime perciperentur, difficultate autem minime absterrerentur. Nam in ea si non iecerint firma fundamenta, quicquid superstruxerint, corruet. Quare, ut usum praeceptionum grammaticalium sibi faciant pueri, volo hisce classiariis 170 interpretari fabellas Aesopicas 35 , quae primum propter argumenti venustatem libenter intrabunt in animos puerorum, tum ad vitam puerorum erudiendam conducent maxime, deinde ad verborum suppellectilem parandam, quae scribentibus est necessaria, per[q]uam 36 sunt utiles. Item propter argumenti adfinitatem debent iisdem legi Bucolica Virgilii 37 , in quibus praeter humilitatem orationis multa est eruditio. Quare, si qui forte puerorum in prosodiae cognitione eo usque forent 175 progressi, ut aliquam carminis rationem intelligerent, eius exercendae ac veluti in re praesenti conspiciendae occasionem habebunt. Multum enim adiumenti adfert prosodia ad veram pronunciationem, in qua errare ac hallucinari plaerosque adultos videre est quotidie, preterea meditanti doctam scriptionem omnino est necessaria. E[ap]ropter 38 a vobis praetermitti minime debet, vel quod a pueris veluti aliud agentibus sine negotio addiscitur. 180 im späten Mittelalter. Erster Teil: 1250 - 1350, bearb. von J OHANNES J ANOTA (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3), 5., neubearb. Aufl. München 1997, S. 331 - 335. 33 Vgl. P HILIPP M ELANCHTHON , Elementa Latinae grammatices, Nürnberg: Petreius 1526, bzw. D ERS ., Grammatica Latina, Nürnberg: Petreius 1527. - Daneben in AE Bemerkung von Hand I, durchgestrichen: Intelligo primam illam grammaticam scriptam a Philippo et non illas posteriores a multis auctas. 34 remora 35 Aisopos (6. Jh. v. Chr.), Sklave phrygischer Herkunft. Unter seinem Namen firmieren seit der Antike Sammlungen von Fabeln, deren erzieherischer Wert bis in die Gegenwart geschätzt wird. Vgl. z. B. die früheste mehrsprachige Durckausgabe: A ESOPUS , Vita et fabulae, hg. und übers. von H EINRICH S TEINHÖWEL , Ulm: Zainer 1476. 36 per quam 37 Publius Vergilius Maro (70 - 19 v. Chr.) aus Andes bei Mantua. Die Bucolica (auch › Eclogae ‹ ) wurde im Mittelalter auch deswegen geschätzt, weil man in der 4. Ecloge eine Prophezeiung der Geburt Christi und eines neuen Zeitalters zu erkennen glaubte. 38 Ea propter <?page no="309"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 309 His etiam secundariis pueris acrius instandum est, ut memoriam, quae est thesaurus rerum omnium, sedulo exerceant. Nam ea veluti ager, si non colatur, sterilescit. Eius etiam exercendae parata est ratio in Catone et Virgilio. 39 In secunda classe, si quis puer ita profecerit, ut dignus existimetur, qui laboris sui praemium consequatur, autoribus ludimagistris in primam classem transcendet, ut studiorum incrementa 185 maiora percipiat. Et quibus locus in classe suprema fit, appellabuntur primarii, quod primas [! ] inter suos candidatos teneant. 40 His praelegi debent 41 Terentius, epistolae Ciceronis familiares, epistolae Horatii, 42 libellus Ciceronis de amicitia et senectute, Salustius, officia Ciceronis et liber primus sermonum Horatii, finita tamen una comaedia Terentii, interponi volo libellum de amicitia, quo absoluto reditio fiet ad aliam 190 comaediam Terentii qua rursus perlecta praelegetur dialogus de senectute, post quem alia ac nova comaedia Terentii sumetur in manus. Inter librum epistolarum Ciceronis finitum interponetur etiam liber epistolarum Horatii. 43 Sic etiam sub vesperam legetur Salustii coniuratio Catilinaria, post eam primus liber officiorum, quo [/ 7] perlecto Salustii bellum Iugurthinum, quo finito secundus liber officiorum, eo quoque finito liber primus sermonum Horatii, post eum tertius offitiorum. 195 Decurso eo spatio lectionum reditio fiet ad primos autores. Atque haec vicissitudo erit perpetua in hac schola, quoniam Horatius est valde sententiosus et multa docet pueros iam grandes factos. Deinde hi quotidie component quidpiam, ut stylum scribendo exerceant, argumento facili, copioso ac populari a ludimoderatore ipsis praescripto scriptaque eorum in septimana bis emendabuntur. Dixi, quo potui verborum compendio de ratione docendorum puerorum, dixi etiam de lectionibus, 200 quas cuique ordini de industria attribui. Dicam nunc, quid quoque die et quid horis singulis faciendum sit. Temporis enim debetis omnes esse parcissimi, quoniam velocissime labitur idemque nunquam recurrit. 39 Eius [ … ] exercendae (ebenso in AE) sprachlich unklar. 40 quod [ … ] teneant (ebenso in AE) sprachlich unklar. 41 Zu den gängigen Lektüren an den Lateinschulen der Zeit vgl. U LRICH S CHINDEL , Die »auctores ‹ im Unterricht deutscher Stadtschulen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: B ERND M OELLER / H ANS P ATZKE / K ARL S TACKMANN (Hg.), Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters, 1978 bis 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 137), Göttingen 1983, S. 430 - 452. - Speziell in der württembergischen Großen Kirchenordnung (1559) sind die Lektürevorgaben für den Unterricht an Lateinschulen vergleichbar; vgl. T HEODOR E ISENLOHR , Sammlung der württembergischen Schul-Geseze. 2: Zweite Abtheilung, enthaltend die Gesetze für die Mittel- und Fachschulen: Gesetze für die Mittel- und Fachschulen bis zum Jahr 1846, Tübingen 1847, S. 30. 42 In AE ist von Hand H epistulae Horatii eingefügt. 43 In AE ist von Hand H Inter librum epistolarum Ciceronis finitum interponentur etiam libri [! ] epistolarum Horatii eingefügt. <?page no="310"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 310 Ut igitur in orbem eat nostra haec institutio, a die lunae auspicato principium fieri potest atque eodem die terminari, et ut Deus opt[imus] max[imus] initiis necnon studiorum incrementis praesto 205 adesse velit (quod apud me non est dubium, quia promisit se adfore, ubi duo vel tres sint congregati in nomine suo 44 ), in puncto horae quintae matutinae, qua omnes pueri de more in ludum literarium convenire solent, rogandus erit Deus praecationibus ad hoc praecipue comparatis, puta: VENI SANCTE SP[IRIT]US ect. et PATER NOSTER . Cantabunt autem pueri omnes concordi voce flexisque genibus. Egredientes e schola alternis diebus canent CREDO IN DEUM aut hosce versus, 210 qui ad institutum non male quadrant: In tenebris nostrae et densa caligine mentis, Cum nihil est toto pectore consilii, Turbati erigimus, Deus, ad te lumina cordis, Nostra tuamque solius fides orat opem. 215 Tu rege consiliis actus, pater optime, nostros, Nostrum opus ut laudi serviat omne tuae. 45 Sub vesperum e schola dimittendi cantabunt omni die psalmum Davidicum 129, De profundis clamavi ad te, Domine, etc. vel, ad quod sum inclinatior, alternis vesperis psal[mum] 112, Laudate pueri Dominum etc. 46 220 Redeo eo, unde digressus sum. Post matutinum cantum hypodidasculus aderit in tertia 47 classe apud donatistas 48 , quibus aliquid e Donato interpretabitur aut prius audita ab ipsis reposcet, prout ratio ordinis postulare videbitur. 49 44 Vgl. Mt 18,20. 45 Das lateinische Gebet in Versform (vgl. P HILIPP W ACKERNAGEL , Das deutsche Kirchenlied von Martin Luther bis auf Nicolaus Herman und Ambrosius Blaurer, Stuttgart 1841, S. 37) stammt von Joachim Camerarius (1500 - 1574). Philipp Melanchthon nahm den Text seines Freundes in die Auflage der › Loci communes ‹ von 1543/ 1544 auf (P HILIPP M ELANCH - THON , Loci Theologici Recens Recogniti, Wittenberg: Seitz 1543 [1544], [S. 755]); vgl. M AR - TIN H. J UNG , Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators (Beiträge zur historischen Theologie 102). Tübingen 1998, S. 137f. und Anm. 554. Die Datierung des Gedichtes auf 1554 (http: / / kallimachos.uniwuerzburg.de/ camerarius/ index.php/ Camerarius,_Precatio_regis_Iosaphat,_1554) ist deshalb zu spät. Das Gebet bildete die Vorlage des siebenstrophigen protestantischen Liedes › Wenn wir in höchsten Nöten sein ‹ von Paul Eber (1511 - 1569). Der lateinische Text wurde aber möglicherweise bereits vor Entstehung der › Institutio scholastica ‹ 1554 vertont (vgl. das Prädikat canent). An welche Melodie hier gedacht sein könnte, bleibt offen. 46 Die Psalmen sind nach der Vulgata gezählt. In der Zählung der Luther-Bibel (wie auch der › Einheitsübersetzung ‹ ) handelt es sich um die Psalmen 130 bzw. 113. 47 In AE ist quarta gestrichen und von Hand H tertia übergeschrieben. 48 In AE ist von Hand H apud donatistas eingefügt. 49 In AE ist von Hand H quibus [ … ] videbitur mit Einfügungszeichen von unten hierher verschoben. <?page no="311"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 311 Hora vero sexta idem ibit in quartam classem 50 hortans alphabetarios ad praescripta studia. Ipse unum e multis ad se accerset, eundem caeteris auscultantibus iubebit literas nominatim eloqui, 225 deinde alium iubebit syllabatim quid legere. Quod si is forte erraverit, proximum rogabit ita, ut ordine plures lectitent atque una eademque opera doceantur, quoniam singulos audire per temporis angustiam non licebit. In cantoris tamen observatione erit situm, ut singulorum habeatur ratio, 51 vel, si per multitudinem puerorum licebit necnon per temporis angustiam, patior, ut omnes [/ 8] ordine recitantes audiat, quemadmodum hactenus fieri solitum est. 230 52 Ludi vero moderator post quintam matutinam in secunda classe interpretabitur grammaticam atque a secundariis particulam eius memoriter recitari faciet. In prima vero classe leget Terentium aut aliquid Ciceronis 53 hora sexta eamque lectionem repetet 54 itaque excutiet sigillatim, ut intellectam lectionem memoriae commendent. Quia non pugno, si per numerum et eruditionem puerorum licebit, quoque anno ut una comaedia publice agatur propter multiplicem puerorum utilitatem. 235 Post 55 eas primas lectiones tempus aderit, ut pariter omnes de more maiorum ingrediantur templum atque sacro intersint. 56 Atqui parvuli maleque vestiti in schola exceptis diebus festis contineri ac interim doceri ab altero e magistris possunt. Reversi e templo circiter horam octavam 57 in schola iterum suo quisque loco considebunt 58 atque hypodidasculus alphabetariis instabit, ut quisque pro suo progressu discat vel legere vel memoriter 240 dicere nunc dominicam precationem, nunc salutacionem angelicam et quicquid est aliarum lectionum superius nominatarum. Dimittendi ubi erunt e schola sub decimam, id alius descripto, alius clauso libello commemorabit. Idem 59 etiam in tertia classe sub horam nonam Donatistas exercebit declinationibus et coniugationibus atque commonstrabit ipsis rationem usitatam de casu alium casum et de tempore aliud tempus 245 formandi, ne psytacorum more absque usu praeceptorum addiscant nominum ac verborum vulgatas 50 In AE ist von Hand H Hora [ … ] claßem eingefügt. 51 In AE ist von Hand H vel [ … ] solitum est eingefügt. 52 In AE ist Hora [ … ] donatistas in Hora sexta idem ibit in tertiam classem ad donatistas, quibus aliquid e Donato interpretabitur aut prius audita ab ipsis reposcet, prout ratio ordinis postulare videbitur gestrichen und quibus [ … ] videbitur durch Einfügungszeichen nach oben verschoben. Danebenstehendes Cestionem huius horae transponendam censeo. Quoniam alphabetarij iam mane non conveniant [? ] von Hand J ist durchgestrichen. 53 In AE ist von Hand H aut aliquid Ciceronis eingefügt. 54 In AE ist von Hand H itaque […] utilitatem eingefügt und dabei et eruditionem ergänzt. 55 In AE ist von Hand H Post aus post gebessert. 56 In AE ist von Hand H Atqui […] possunt eingefügt. Dabei ist ac über gestrichenes possunt geschrieben und -que in interimque gestrichen. 57 In AE ist von Hand H circiter horam octavam eingefügt. 58 In AE ist von Hand H considebu[n]t aus considebit gebessert. 59 In AE ist von Hand H Idem aus Ide gebessert. <?page no="312"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 312 flexiones. 60 61 Eius ut habeant veluti in re presenti usum aliquem, eadem hora vel alternis diebus, ne lectionibus obruantur pueri, fabellam Aesopi suis tertiariis pueriliter interpretabitur atque, ut modo dicebam, ad Donati precepta examinabit. Eodem tempore antemeridiano ludimagister in secunda 62 et 63 prima classe interpretabitur 64 episto- 250 lam 65 Ciceronis vel Horatii 66 eamque lectionem a pueris repetet atque singulas grammaticae partes in ea repetitione diligenter excutiet. Post eas lectiones aderit hora decima, circiter quam e schola ad prandium 67 dimitti consueverunt pueri omnes. A prandio in puncto horae duodecimae omnes pueri rursus adesse debent et hypodidasculus exercebit alphabetarios pingendis characteribus, hora vero secunda rursus eosdem audiet legentes atque corriget 255 lectionem omnem pravam, hiulcam ac deformem seu labra distorquentem. Huic labori ad[i]ciet 68 interpretationem nomenclaturae rerum. Ex iis quatuor aut sex vocabula ediscent singuli, quae e schola ituri recitabunt extra librum. Sic mea sententia totus dies illis non fuerit otiosus. Idem ante horam primam pomeridianam tertiarios exercebit formandis declinationibus et coniugationibus ad 69 imitationem Donati. Hora vero tertia iisdem tertiariis interpretabitur duo duntaxat 260 distycha Catonis, quae commendabunt memoriae ita, ut domum ituri ante recitent singuli. Ut autem memoriae tenacius insideant, operae pretium facturus est praeceptor, si nomina verbaque singula 60 Die kritsche Bemerkung über eine Erziehung der Schüler zu › Papageien ‹ mutet wie die Vorwegnahme von Reformgedanken im Umfeld von Johann Amos Comenius (1592 - 1670) an; vgl. T HOMAS S CHULZ , Zur Rolle und Bedeutung der Lateinschulen im frühneuzeitlichen Bildungswesen. Das Beispiel Württemberg, in: U LRICH A NDERMANN / K URT A NDERMANN (Hg.), Regionale Aspekte des frühen Schulwesens (Kraichtaler Kolloquien2), Tübingen 2000, S. 107 - 135, hier 122. 61 In AE ist von Hand H Eius […] examinabit. eingefügt und dabei vor fabella[m] ein Wort gestrichen. 62 In AE ist classe fabellam Aesopi pueriliter interpretabitur, deinde relicto pueris spatio tacite repetendi discendique hora nona nach secunda gestrichen. 63 In AE ist von Hand H et aus in [? ] gebessert. 64 Diese Klassen also wurden jedenfalls im selben Raum unterrichtet. Infrage kommt für Unterrichtszwecke nach einem Inventar der schuol behaussung zu Babenhaussen von 1574 (FA 87.3) die schulstuben, darinnen die knaben seyn, mit 4 taflen, daran die schuoler sitzen, und 4 lang benckh darfür. (Im selben Raum gehören 2 schwarz gsangtaflen und 1 pultprett zur Ausstattung.) Ob das underschlagne […] stüblin mit 2 langen Tischen (taflen) und 4 langen Stühlen, die vorder[e] stuben gegen dem hof mit 2 tischtafel[n] und 3 Stühlen sowie einem Bücherkasten für den Kantor und/ oder die hünder[e] stuben mit 1 Tisch und 2 Stühlen ebenfalls Schüler aufnehmen sollte, ist unklar. 65 Nach Epistolam ist in AE vel quidpiam aliud gestrichen. 66 In AE ist von Hand H vel Horatij eingefügt. 67 In AE ist von Hand H ad prandium eingefügt. 68 adijciet 69 ad ist über der Zeile eingefügt. <?page no="313"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 313 examinet ad Donati quaestiunculas. Quicquid enim probe intellectum est, eius sumus plaerumque tenaciores. [/ 9] Ludi vero magister secundariis leget Bucolica Virgilii statim a prandio, dein spatio interiecto quan- 265 tum satis est relectioni 70 comendationique memoriae. Hora secunda eandem lectionem a pueris expostulabit atque nulla quidem vocula praetermissa exiget Virgilium ad regulas grammaticorum 71 atque, si qui erunt, qui ad artem versificatoriam idonei iudicabuntur, prosodiam in re praesenti quasi digito 72 monstrabit, ne eos capiat oblivio 73 ullius partis grammaticae. Primarii ab hora XII [.] component aliquid argumento ipsis a praeceptore praeformato, quod bis, 270 ut antea dixi, emendabitur, non tamen rigide, sat namque erit eos Latine et grammatice scribere, foecunditas denique potius alenda est in pueris quam ariditas, eo quod facile remedium est ubertatis, sterilia nullo labore vincuntur. In argumento autem dictando recordari debet praecepti Horatiani: Sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam Viribus et versate diu, quid ferre recusent, 275 Quid valeant humeri. 74 Volo igitur, ut scribendi materia sit abundantior, in qua locus sit et inventioni et elocutioni. Hora autem tertia interpretabitur Salustium aut pro tempore vel Ciceronis officia vel Horatium atque eam lectionem, quam brevem esse volo, exiget namque eam ad praecepta grammatices, quia 75 nihil tam requiro, quam hosce pueros fieri bonos grammaticos. Post id, quoniam sententiosi sunt 280 Salustius, Cicero et Horatius, si qua illustris sententia occurrerit, iubebit eam reponi in memoriam 76 , ne ea haebes fiat. His omnibus diligenter et utiliter perfectis pensum diurnum debebunt absolvisse pueri. Sed quoniam quinque habeo alumnos, qui in ludo literario una cum ludimoderatore domestici convictores sunt, non anteibunt hi dormitum, quam Pythagoraeorum more 77 ludimagister a singulis rationem diurnae 285 70 In AE ist von Hand H comendationique memoriae eingefügt. 71 In AE ist von Hand H atque […] monstrabit eingefügt. 72 Der Finger (gr. daktylos, lat. digitus) mit seinen unterschiedlich langen Gliedern dient traditionell der Veranschaulichung langer und kurzer Silben bzw. dem Memorieren von Versmaßen. Zu denken ist aber auch an die Möglichkeit, mit dem Schlag des Fingers und dessen Anheben unterschiedliche Silbenquantitäten akustisch zu markieren; vgl. S ANDRO B OLDRI - NI , Römische Metrik, in: F RITZ G RAF (Hg.), Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart- Leipzig 1997, Kap. IV, 6, S. 357 - 384, hier 358. 73 In AE ist von Hand H ullius partis eingefügt. 74 H ORAZ , Epistula ad Pisones (De Arte Poetica), V. 38 - 40. 75 In quia ist -a eingefügt. 76 In AE ist von Hand H ne […] fiat eingefügt. 77 Vgl. H ERWIG B LUM , Die antike Mnemotechnik (Spudasmata 15) Hildesheim u. a. 1969, S. 40f. - Die Bedeutung des Schlafes für das Memorieren hebt auch Quintilian, Institutio oratoria, XI, 2, 43, hervor. M ARCUS F ABIUS Q UINTILIANUS , Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch und deutsch, hg. und übers. von Helmut Rahn, 5., unveränd. Aufl. Darmstadt 2011 (1975), S. 604f. <?page no="314"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 314 operae efflagitaverit atque de studio et memoria eorum periclitatus fuerit. Ut eo pacto diurnum animi pabulum veluti recoquant, horum enim non modo facta, sed etiam dicta omnia praestanda illi sunt. Quia cum eo domestice et assidue sunt, admonebit etiam hos, ut quotidie orent Deum pro salute ac incolumitate eorum, a quibus benignitas haec in eos proficiscitur. Hunc ordinem lectionumque partitionem ambo vos omnibus diebus profestis observabitis neque 290 legem meam, quae sancta ac rata esse debet, temere violabitis. In vigiliis, hoc est pridie festorum dierum, in ipso etiam die sabbathi mane 78 hypodidasculus 79 cathecismum suffraganei Moguntinensis N. 80 docebit parvulos. Ludi vero moderator grandioribus et qui progrediente aetate fiunt capaces interpretabitur 81 Graecam grammaticam. 82 Post hanc utriusque doctrinam cantor, cuius hoc est proprium munus, doce- [/ 10] bit omnes 295 nemine excepto musicam tum planam, tum figuratam. A prandio quoniam lavare se solent pueri, nolo morem inveteratum infringere, nisi mox convenirent omnes ita, ut ante ingressum templi evangelium et epistola ipsis praelegi commode possent. Die ipsa dominica necnon in ipsis diebus festis a prandio rursus cantabunt omnes atque legetur cathecismus. Grandioribus vero ludimoderator interpretabitur hymnos et sequentias eius diei festi, 300 quoniam plaerique hymni sunt Prudentii 83 poetae non mali. Sequentiae etiam sunt scriptae ab orthodoxis patribus 84 . 78 Nach mane ist in AE erit eadem series lectionum, quae diebus profestis esse solet, a prandio autem gestrichen. 79 Nach hypodidascalus ist in AE cuius hoc est proprium munus, musicam docebit omnes, post eam gestrichen. 80 Brevis Institvtio Ad Christianam Pietatem, secundum Doctrinam Catholicam. Continens Explicationem Symboli Apostolici. Orationis Dominicae. Salutationis Angelicae. Decem praeceptorum. Septem sacramentorum ad Vsvm Pverorvm Nobilium […] conscripta Per R. D. Michaëlem Episcopum Sidoniensem, Suffraganeum Moguntinensem [i. e. M ICHAEL H ELDING ], Moguntiae: Schoeffer 1549. 81 Nach interpretabitur ist in AE evangelium et epistolam gestrichen und Graecam grammaticam eingefügt. 82 In AE ist von Hand H der Absatz Post […] possent eingefügt. Dabei ist nach nolo ein Wort gestrichen. 83 Der in Spanien geborene Aurelius Prudentius Clemens (348 - etwa 405) genoss im Mittelalter größte Wertschätzung und wurde vielfach nachgeahmt. Einige seiner Hymnen fanden Eingang in die Liturgie des Stundesgebetes. In der Neuzeit verlor er an Beliebtheit, indes gerade Erasmus noch ausdrücklich lobende Worte für ihn fand; M ICHAEL VON A LBRECHT , Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit, 2., verb. und erw. Aufl. München u. a. 1994, S. 1076 - 1086, bes. 1083 mit Anm. 1 (Literatur zum Fortwirken des Prudentius). 84 Die in der Festtagsliturgie nach dem Halleluja eingefügten Sequenzen entstehen seit dem 9. Jh. Bekanntester Autor der frühesten Periode ist Notker Balbulus (um 840 - 912) in St. Gallen. Texte von › Kirchenvätern ‹ , als deren letzter im Westen Isidor von Sevilla ( † 636) gilt, sind unter den Sequenzen durchaus nicht vertreten; F RANZ K ARL P RASSL , Art. Sequenz, <?page no="315"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 315 Atqui in universa hac doctrina sacra nolo quidpiam vel palam doceri vel in aures innocentum parvulorum insusurrari, quod ab antiqua catholica doctrina dissentiat. Et si quis hoc ausus fuerit, aut eo infa[m]iae 85 lapsus fuerit, ut secus ac praecipio fecerit, is sciat, quod id neque apud me, 305 quoad vixero, neque apud meos posteros, si mei erunt similes, impune sit laturus. Haec autem superiora sic a vobis magistris continenti ac serie quadam perpetua volo custodiri, ut dandam interdum pueris censeam esse remissionem. Tum quod nulla res est, quae continuum laborem possit perferre, veluti enim arcus nimium intensus rumpitur, sic ingenii vis alterna quiete recreatur. Tum quod studium discendi voluntate, quae cogi non potest, constat, positum etiam est 310 in animi inductione, etenim volenti nihil est difficile. Ideo quidam belli dux 86 aliud nil a militibus suis stipulari solebat quam voluntatem pugnandi. Promittebat namque sibi victoriam, si pugnare milites sibi constanter proposuissent. Ita vobis quoque opera danda est, ut ardorem discendi in pueris conservetis, utque sani permaneant. Ea propter per me licet, quaque hebdomada semel post prandium omnibus pueris ludendi licentia 315 detur. Atqui fit saepenumero, ut in lusibus aliquod probi aut improbi 87 ingenii lumen eluceat, deinde ut ludant interdum illiberalius quam deceat. Spectatores igitur vos ambos aut alterum ex vobis adesse volo, ut saltem periculum omne prohibeatur atque compositi redeant a lusu. De ingenii cultura videor mihi hactenus satis verborum fecisse et si autem studia abire solent in mores teste Ovidio: 320 Adde, quod ingenuas didicisse fideliter artes Emollit mores nec sinit esse feros. 88 Nefandum tamen foret dedecus, si in hisce pueris mores externaeque actiones, quae in oculos homi[num] incurrunt, a literarum studiis longe discreparent, parentes namque idiotae rerumque communium imperiti de vita externa puerorum doctrinam metiri consueverunt. Quamobrem ut 325 vestram existimationem apud imperitos homines tueamini atque adaugeatis, ad vos etiam cura morum proprie pertinet, ut enim equi ferocitate exultantes domitoribus tradi solent, ut his facilioribus mansuetioribusque uti possint heri, sic pueri effrenati sibique praefidentes in gyrum doctrinae duci de- [/ 11] bent, quae vel vitiosissimam naturam excolere potest. Nescio enim quo (malum [! ]) fato mores puerorum hodie tantum ad nimiam levitatem dissolutionemque incubuerint. In iis igitur 330 in: W ALTER K ASPER (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche 9, 3., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg i. Br. u. a. 2009, Sp. 476f.; A MBROSIUS K IENLE , Art. Sequenzen, in: J OSEPH H ER - GENRÖTHER / F RANZ K AULEN (Bearb.), Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Ency klopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften 11, 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1899, Sp. 159 - 169; H UBERTUS R. D ROBNER , Art. Kirchenväter, in: W ALTER K ASPER (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche 6, 3., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg i. Br. u. a. 2009, Sp. 70f. 85 infaniae 86 Alexander der Große? Vgl. C HRISTIAN M ANN , Militär und Kriegführung in der Antike (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike), München 2013, bes. S. 25f. 87 aut improbj ist von Hand H am Rand eingefügt. 88 Vgl. Ovid, Tristia ex Ponto, II, 9, V 47f. <?page no="316"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 316 formandi vos paulo attentiores acerbioresque esse censores oportet, quoniam agrestes pueri vobis plaerumque traduntur erudiendi, in quibus excolendis perpoliendisque duntaxat insudandum est vobis. In quos autem mores conveniat eos conformari in presentiarum nolo praecipere, ne vobis, qui doctrina optimarumque artium studiis estis me superiores, rerum etiam usu non inferiores, diffidere aut vitae leges ferre videar. Hoc unum suadeo, ut libellum Erasmi de civilitate morum 89 pueris legatis 335 horis succisivis atque ad eius normam, quantum res patitur, corrigatis vestros discipulos, quorum est maiores natu ac dignitate q[ua]dam praestantes viros revereri omnia denique corporis membra sic habere composita, ut nullum indecorum uspiam appareat nullaque pars vitae officio vacet. 90 Sic unum diem proprie ad disputacionem puerilem desumendum esse non censeo, quia pro vestro arbitratu ante potest hoc fieri, quam e schola laxantur pueri, et asinus veluti stimulus discendi illi 340 de collo suspendatur, qui qualibet in classe victus erit. Postremo in coetu tot puerorum omnino est necessaria quaedam disciplina. Rari quippe boni! 91 Caedere autem quosvis sine discrimine iniurium est. Sic in [gregem] 92 facilem esse ac proclivem upilionum est, contra ad puerorum insignia malefacta et dicta connivere est hominis nequam et qui [! ] eorum, quibus praeest, comodis utilitatique non cupit servire. Ideo eius mecum redeatis in memoriam, 345 quod apud Platonem est, qui reip[ublicae] gubernatori opus esse ait praemio et poena. Sunt enim, qui laudatione corriguntur et gloria excitantur, sunt rursus illiberales nonnulli, qui ad plagas etiam indurantur. Pro ingeniorum 93 igitur diversitate prudenter erit adplicanda disciplina scholastica vosque breviter eritis huiusmodi, qui foedere certo et premere et laxas sciant dare iussi habenas. Nolo enim vobis in aetatem infirmam et iniuriae obnoxiam nimium licere, pariter nolo vos ad vestrum 350 imperium etiam acerbitatem adiungere. Si quis frugi erit puer et qui sponte suum fecerit officium, ab eo manus omnino abstinere, munusculo potius in offitio retinere atque Horatium imitari debetis: Olim, inquit, dabant etiam crustula blandi Doctores, elementa velint ut discere prima. 94 In sceleratos vero et improbos volo vos animo minime iracundo animadvertere, ne paucorum 355 impunitate plures fiant deteriores. Nam sicut grex totus in agris Unius scabie cadit et porrigine porci, Uvaque conspecta livorem ducit ab uva. 95 89 D ESIDERIUS E RASMUS , De Civilitate Morum Puerilium, Basel: Froben 1530. 90 In AE ist von Hand H der Absatz Sic […] disputationem […] victus erit eingefügt. Dabei ist sed vor quia gestrichen und pueri nach laxantur eingefügt. 91 Vgl. Juvenal, Satire XIII, V 26. 92 plagas (in allen Überlieferungsträgern). Möglicherweise wurde das semantisch unpassende plagas von anderer Stelle (vgl. Z. 348) fehlerhaft übertragen. 93 In ingeniorum ist -rum gebessert. 94 Vgl. Horaz, Satire I, 24b - 26: quamquam ridentem dicere verum / quid vetat? ut pueris olim dant crustula blandi / doctores, elementa velint ut discere prima. 95 Vgl. Juvenal, Satire II (Anm. 91), V 79 - 81. <?page no="317"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . E DITION 317 Ita in scholastica turba pravum facinus solet veluti contagione serpere vicinosque inficere, nisi tem- 360 pestive obviam eatur. Scrutari igitur omnes omnium inclinationes atque excutere unumquemque pro vestra prudentia [/ 12] debetis, quo quisque propendeat, quidve horreat, multis enim simulationum involucris tegitur et quasi velis quibusdam obtenditur uniuscuiusque natura. Et si meritum quorundam postulaverit, par est ferula, non pugno eos ferire, etenim delicto poena debet esse aequalis. Patefacta ratione mei instituti videor mihi de 96 nostra triviali schola prolixe satis disseruisse, ita ut 365 nihil, quod ad trivialem scientiam pertinet, praeteritum a me existimem. Vos solummodo, eius scholae haereditarios tutores, iterum rogo et, si aequum est, etiam atque etiam oro, ut in tutelam eius ac defensionem totis viribus sic incumbatis, ut perdiu incolumis et ab omni avaro haeredipeta intacta possit stare. Deinde a vobis, qui modo estis et qui in vestrum locum olim succedent ludimagistris, omnem curam, 370 laborem et diligentiam stipulor atque simul edico et qua apud vos authoritate debeo valere serio mando ac veto, ne leges ludi nostri literarii inconsultis patronis et qui eas propugnare debent transgrediamini. Quod si facere ausi fueritis, scitote vos Deo poenas luituros et, ut primum hoc rescitum aut palam factum fuerit, vos e schola pro vestro merito ignominiose eiectum iri. Non enim vobis haec scholastica potestas mancipi est data, ut ea ad ocium aut vestrum quaestum abuti velitis, 375 sed fiduciarium est imperium, quod a vobis vel ex pacta lege vel ad nutum aliorum est deponendum. Sin voluntati meae morem gesseritis ordinationique superiori parueritis, vos vobis dignum facietis benignitatemque meam meorumque haeredum quotidie experiemini, absque eo, quod pueri erga vos perpetuo sunt grati futuri memoriaque vestrorum benefitiorum apud eos nunquam est intermoritura. 97 380 [Hand B] Antonius Fuggerus m[anu propria] 96 de ist mit Einfügungzeichen überschrieben. 97 Auf der folgenden Seite ist in AE von Hand H Vestrum hic facio iuditium, mag[nifi]ce d[omi]n[e] Antonj, scriptum, ne hoc debeat vestra subscriptione confirmari, quoniam mea sententia duo debent scribi, quorum alterum apud fundationem adservabitur aut fundationi ad verbum inseretur, alterum vero apud scholam erit et de manu in manum ludimagistrorum perambulabit, ne quid ignorationi voluntatis fundatoris valeant neque ausint praetexere. eingefügt. Dabei ist nach valeant von Hand H neque ausint eingefügt. (Übersetzung: › Ich überlasse das Geschriebene an dieser Stelle eurem Urteil, hochherziger Herr Anton, ob es mit eurer Unterschrift bestätigt werden soll. Denn meines Erachtens braucht es zwei Abschriften, deren eine bei der Stiftungsurkunde verwahrt oder ihr wortwörtlich inseriert werden soll, deren andere aber bei der Schule sein und unter den Lehrern von Hand zu Hand weitergereicht werden soll, damit sie nicht irgendetwas für ihr Unwissen zum Vorwand nehmen können und es nicht wagen. ‹ ) Vgl. offenbar in diesem Sinn die Überlieferung zweier unterschriebener Reinschriften in FA 5.3.1 (hier Anm. 1). <?page no="319"?> 319 Institutio Scholastica Übersetzung [Hand A] Schulordnung, vom höchst erhabenen Grafen Anton Fugger verfasst und veröffentlicht als Richtschnur für die Praxis Buchstabe D. zu Nummer 16. [/ 1] 5 [Hand B] [Prolog: Stiftungszwecke] Indem ich oft darüber nachdachte, wie ich mich um Sprache und Literatur, zu denen ich mich von klein auf sehr hingezogen fühlte, verdient machen könne, kam mir Platon in den Sinn, der die Auffassung vertrat, dann endlich würde es glückliche 10 Staaten geben, wenn Gelehrte oder Weise deren Regierung in die Hände genommen oder die Regierenden sich mit ihrem ganzen Eifer auf Gelehrsamkeit und Weisheit verlegt hätten, deswegen weil die Verbindung von Macht und Weisheit die Wohlfahrt der Gemeinwesen fördern könne. Beeindruckt von dieser Weisheit plante ich die Gründung einer Schule in meiner Stadt Babenhausen aus freilich keiner anderen 15 Einsicht heraus, [als dass,] obschon es wenige sind, die der gerechte Jupiter liebt, und Merkur nicht aus jedem Holz geschnitzt werden kann, doch unter den Einwohnern dieser Stadt der eine oder andere lebt, der durch mein - um mich so auszudrücken - › Salz und Brot ‹ der Bildung dahin gelange, dass er Kirche und Staat einmal nützen und meinen Nachkommen, wenn sie daran Interesse haben, von Nutzen sein 20 könne, damit ich schließlich einige, deren Armut zuhause ihren Begabungen entgegensteht, mit meinem bescheidenen Beitrag für die Liebe zur Tugend und Gelehrsamkeit gewinne und sie sich auf diese Weise emporarbeiten. Ich scheue mich auch nicht im geringsten, so viel Geld für Bauern auszugeben, denn wie im Feuerstein der Funke versteckt liegt, so schlummern auch in einer armseligen 25 Hülle oft glückliche Begabungen, und die mit Wenigem Unterstützten werden stärker zu ehrenvollem Wetteifer angeregt, weil es viel löblicher ist, sich Namen und Ruhm durch eigene Tatkraft zu erwerben, als sich, gestützt auf die Meinung Größerer, mit fremdem Ruhm anzupreisen. Ferner, so wie Vögel zum Fliegen und Pferde zum Laufen geboren werden, so ist dem Menschen schöpferischer Geist eigentüm- 30 lich. Darum werden nach dem Gesetz der Natur sehr wenige stumpfsinnige und ungelehrige Menschen geboren. In jedem einzelnen nämlich wächst irgendeine geistige Regsamkeit und eine hoffnungsvolle Verstandeskraft heran, die sich durch <?page no="320"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 320 Ausbildung meistens verstärkt. Schließlich, wenn beispielsweise ein etwas neugieriger Mensch von mir den Grund für diese Einrichtung zu wissen verlangt, will ich 35 ihm dies zur Antwort [geben], dass Aristipp einem Vater, der sich bei ihm ohne Unterlass erkundigte, inwiefern es seinem Sohn nutze, wenn er insbesondere sprachlich gelehrt würde, entgegnet haben soll: Wenn schon nichts anderes, so doch wenigstens, dass im Theater nicht ein Stein auf dem Stein sitzen werde. Aus welchem Grund ich die Schulgründung hauptsächlich will, darauf bitte ich euch, die ihr sie 40 beschützen und leiten sollt, eifrig aufzumerken. Denn zuerst will ich über die Inspektoren oder Prokuratoren der Schule sprechen, dann über die Lehrer und schließlich darüber, was im allgemeinen zu den Schulangelegenheiten gehört. [Schulaufsicht] Und wie nichts unter uns Sterblichen unveränderlich und ewig ist, was nicht auf der 45 Autorität oder dem Schutz irgendeines Menschen beruht, so ist die dauerhafte Geltung dieser meiner Ordnung meine größte Sorge, wenn es nämlich an denen fehlte, die sie vor jedweder Unbill beschützten. Deswegen vertraue ich vorzüglich euch, meinen lieben Söhnen und männlichen Erben, die aus euch bis zum letzten Nachkommen hervorgehen werden, die Sorge darum an. Sollte es ferner die Natur so 50 bestimmen, dass alle von meinen Söhnen hervorgebrachten männlichen Sprösslinge sterben, will ich alsdann aus den Töchtern der überlebenden männlichen Nachkommen, nach diesen schließlich euch, meine geliebten Vettern und welche männlichen Erben aus euch überleben werden, freundlich gebeten haben, dass ihr den Schutz dieser meiner Schulgründung übernehmen und so darauf achtgeben wollt, dass sie 55 in keiner Weise zugrunde geht, weil ihr mir nämlich durch nichts in gleicher Weise ein Totenopfer darbringen werden könnt, als wenn [/ 2] ihr hartnäckige Hüter dieses meines Willens seid. [Lehrer] Und weil sehr viel daran liegt, wie beschaffen die Lehrer sind, so viel, dass der 60 Makedone Philipp den Göttern nicht nur dafür dankte, dass ihm überhaupt ein Sohn geboren wurde, sondern vielmehr dafür, dass er ihm zu Lebzeiten des Aristoteles geboren wurde, muss man freilich meiner Meinung nach unter den › Ammen ‹ eine Auswahl vornehmen. Deswegen müssen, weil sie oft zusammen mit der vorgekauten Nahrung Verderbliches einträufeln, der durch Bildung und Begabung besonders 65 hervorstechende Lehrer und Unterlehrer unserer Sprachschule sorgfältig ausgewählt werden. Denn ich bin der Meinung, man muss kleine Kinder von Anfang an guten und gelehrten Männern übergeben, von denen sie die ersten Grundlagen der Wissenschaften und den Nährboden der Tugenden vermittelt bekommen. Denn wie die Farben von Wolle, bei denen das schlichte Weiß geändert wurde, nicht abgewaschen 70 werden können, und wie der Wohlgeruch, mit dem wir jeweils neue Dinge tränken, für lange Zeit anhält, so sind wir von Natur aus sehr stark im Behalten dessen, was <?page no="321"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 321 wir mit noch neuem Geist aufgenommen haben, so sehr, dass Leonides, der Hauslehrer des Alexander, diesen gewisse Laster lehrte, die den so einzigartigen König von jener kindlichen Unterweisung an verfolgten. Um wieviel mehr ziemt es sich für 75 uns, im gewissermaßen letzten Greisenalter der Welt und im Überfluss aller Laster angesichts einer so verführerischen Zeit und einer so unbegrenzten Zügellosigkeit der Menschen wachsameren Auges zu sein, wem wir unsere Kinder zur Ausbildung anvertrauen. Überdies werden Fehler, die sich einmal eingenistet haben, mit viel größerer Mühe abtrainiert, als das Richtige erlernt wird. Deswegen pflegte auch der 80 berühmte Flötenspieler Thimotheus mehr Honorar von denen zu verlangen, die zuvor ein anderer unterrichtet hatte, als bei den Anfängern. Alsdann wird es ohne jeden Zweifel von Nutzen sein, wenn jährlich einmal über den Fortschritt der Knaben durch euch oder andere ebenso geeignete Männer eine Prüfung vorgenommen wird. Wenn euch diese Sache ebenso am Herzen liegt wie mir, 85 vertraue ich also auf eure Einsicht, dass ihr das tun werdet. Drittens, hütet euch, ihr Erben, dass ihr von der nachfolgenden Lehrbzw. Lernvorschrift ja keinen Fingerbreit abweicht. Gleichwohl - wie spätere Überlegungen meistens die besseren sind - wenn euch irgend etwas sei es nützlicher, sei er passender für den Unterricht der Knaben scheint, so sollt ihr meine Erlaubnis zur Ände- 90 rung haben. Im übrigen soll das sehr sparsam geschehen, denn wenn ihr auch nur die Verletzung einer Bestimmung stillschweigend durchgehen lasst, wird daraus obendrein die Verachtung oder Verspottung aller übrigen folgen - nicht anders, als wenn ihr bei einem verwickelten Werk einen einzigen Knoten auflöst. Ihr beide aber, die ihr zur Leitung der Knaben vorangestellt werdet, sollt bedenken, 95 dass ihr wie ein Spiegel im Angesicht der Schüler seid, in den die Knaben jederzeit blicken, weil sie euch möglichst ähnlich sein wollen. Auch soll euch bewusst sein, dass ihr an die Stelle derer tretet, von denen euch die Kinder übergeben werden. Und deswegen dürft ihr weder Laster haben noch sie dulden. Deshalb, wie Platon mahnt, [müssen sich] die Lenker der Staaten fernhalten von der Trunkenheit des 100 Weines, auf dass nicht der Hüter des Hüters bedürfe. Und nein: es sitzen in der Brust des Betrunkenen keine vernünftigen und kühlen Entschlüsse. So ermahne ich insbesondere euch Lehrer, dass ihr nüchtern und enthaltsam seid und an die Spartaner denkt, die ihren Söhnen einen betrunkenen Sklaven vorführten, damit sie an diesem gewahr würden, wie widerlich Trunkenheit sei, [/ 3] und sie verabscheuten. Ohne 105 Zweifel wäre es schandvoll, euch berauscht oder nach den Weinen vom Vortag stinkend bei den nüchternen Knaben sitzen zu sehen. Sodann ziemt es sich, dass ihr auch sonst im Leben so streng, so enthaltsam und so rechtschaffen lebt, dass ihr dafür bei allen neidlose Anerkennung findet und dass alle sich anstrengen und es gerne wollen, euch wie in einem Wettkampf nachzuahmen und euer Verhalten zu 110 übernehmen. Ihr müsst nämlich wissen, dass die Augen der Eltern und aller Einwohner auf euch gerichtet sein werden und dass es, wenn ihr in irgendeinem Punkt <?page no="322"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 322 Anstoß erregt, lange dauern wird [bis es vergessen ist], aber rasend schnell von Mund zu Mund weitergegeben ist. Denkt auch an Christi Gleichnis, der sagt, es wäre besser, dass der, durch den einer von den Kleinen zur Sünde verführt wird, mit einem 115 Mühlstein um den Hals ins tiefe Meer versenkt würde. Ferner müsst ihr geduldig im Ertragen von Mühsal sein. Denn die Anfangspädagogik ist eine ziemlich beschwerliche und höchst unerquickliche Sache. Bei alledem will ich, dass ihr lieber beharrlich seid als übertreibt. Denn jenseits und diesseits des Maßes kann es kein Richtiges geben. 120 Schließlich werdet ihr leichtverständlich unterrichten, so dass die Gelehrigen das Gesagte schnell verstehen und zuverlässig behalten; ihr werdet weder grämlich noch pedantisch abfragen, so dass sie bereit sind, freiwillig und gern zu antworten, wenn ihr fragt, und grundsätzlich müsst ihr euch an die geistige Fähigkeit der Knaben anpassen. Denn wie Gefäße mit einer engen Öffnung ein Übermaß von Flüssigkeit 125 gleich wieder › ausspucken ‹ , aber voll werden, wenn man allmählich eingießt oder tropfenweise einfüllt, so gilt es darauf zu achten, wie viel die Knaben aufnehmen können. Deswegen sei es eure Sorge, als erstes die Begabungen der Knaben zu erkennen und mit Sachverstand zu unterscheiden, wohin jedweden seine Anlage am stärksten führe und sodann den erkannten Begabungen die ihnen jeweils eigene 130 Lehre und Schulung individuell zukommen zu lassen. Denn es wird ja nichts Großes zustande gebracht, solange Minerva dagegen ist und Widerstand leistet, so wie es sich bei Isocrates mit Ephorus und Theopompus verhielt, von denen dieser Zügel, jener Sporen nötig hatte. Wenn ihr also keinen Wert darauf legt, dies sorgfältig zu tun, muss man sehr befürchten, dass man urteilt, ich hätte allen Aufwand umsonst 135 betrieben, und dass es scheint, eure Mühe sei ganz vergeblich gewesen. Ihr sollt also daran denken, dass eure Tugend, eure Selbstbeherrschung, euer Maßhalten, eure Nüchternheit, eure Qualitäten und endlich eure Wissenschaft nicht im Dunkeln verborgen und versteckt sein dürfen, sondern ins Licht der Stadt, vor Augen und Ohren aller gestellt sein müssen. Und in der Tat werde ich frei heraus sagen, wie es sich 140 verhält: Vieles dürft ihr nicht tun, um Gerede und Tadel zu vermeiden, weil ihr eine von anderen sehr verschiedene Rolle ausfüllt. Im folgenden will ich mich mit der Lehrmethodik auseinandersetzen sowie mit den Lektionen und deren Aufteilung auf Tage und Stunden. Danach werde ich einige Richtlinien zur Ordnung von Disziplin und Lebenswandel der Schüler formulieren. 145 [Klassen und Unterrichtsgegenstände] Aristoteles überliefert, dass bei der Erziehung und Bildung der Kinder von altersher das Wechseln der Lebensphasen alle sieben Jahre beachtet worden sei. Die ersten sieben Jahre widmete man der Erziehung der noch kleinen Kinder auf solche Weise, dass sie daraufhin zu allem Tun geschickter waren. In den zweiten sieben Jahren 150 wurden die Kinder mit der Grammatik [/ 4] und dergleichen Gegenständen bekannt- <?page no="323"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 323 gemacht. Vom 14. bis zum 21. Lebensjahr wurden sie in der Mathematik unterwiesen. Die vierten sieben Jahre gehörten der Naturkunde. Im fünften Zeitabschnitt beschäftigten sie sich mit Fragen der Lebensführung und Moral. Das siebente und letzte Septennium verwandten sie auf Metaphysik und Theologie. Ich meinerseits 155 wäre des Lobes voll, wenn es jedem einzelnen ungeachtet der individuellen äußeren Umstände und des für uns unausweichlichen Schicksals einer kurzen Lebensspanne, dessentwegen Theophrast die Natur ganz zurecht angeklagt hat, gewährt würde, seine eigenen Studien über die ethischen Maßstäbe der Vorfahren sozusagen an einem Stück durchzuweben. Aber ich weiß nicht, weshalb uns als gleichsam den 160 Erben der Welt die Natur sowohl etwas so Reines missgönnt als auch ein so kurzes und von mannigfachen Krankheiten beeinträchtigtes Leben gegeben hat, dass die meisten ihre Studien in größter Eile und Hast betreiben. Deswegen muss auch ich jetzt der Not gehorchen und, so wie es eben steht, die ersten sieben Knabenjahre weniger für die körperliche Ertüchtigung als für die Formung des Verstandes vor- 165 sehen. Alsdann, wenn nämlich die von uns geplante Gemeine Schule errichtet ist, wird diese ausschließlich dem Grammatikunterricht dienen. Und da kleine oder auch etwas größere Kinder in die Schule kommen werden, schien es zweckmäßig, sie auf vier Klassen aufzuteilen, damit nicht alle gemeinsam unterrichtet werden müssen. In der 4. Klasse, um wie über Treppenstufen nach oben zu 170 gelangen, werden die ABC-Schützen sitzen, in der 3. die Donatisten, in der 2. die Grammatiker, und in die 1. und letzte Klasse rücken die Literaturschüler auf. Jetzt zurück zur 4. Klasse: Zu den ABC-Schützen will ich näherhin die zählen, denen die Buchstabenformen noch unbekannt sind. Ich möchte, dass sie so unterrichtet werden, dass sie nicht nur Zahl und Abfolge der Buchstaben kennen, sondern vor 175 allem deren Linienführung und Aussehen, damit sie sodann Konsonanten von Vokalen unterscheiden, diese wiederum in Halbvokale oder stumme Mitlaute einteilen können und lernen, welche und wie viele Diphthonge und Liquide es gibt und warum sie so heißen. Drittens sollen sie lernen, mit dem Gehörsinn die Buchstabenlaute dahingehend zu unterscheiden, welche weicher und sanfter, welche kräftiger 180 und welche dunkler klingen Viertens soll man ihnen beibringen, Buchstaben wohlgeordnet zu Silben zu fügen - jeder Buchstabe besitzt nämlich einerseits etwas Spezifisches, andererseits etwas Allgemeines, wodurch sich einer an den anderen umso besser anschmiegt und zwanglos mit ihm verbindet - , und zwar so lange, bis die Schüler das Verbinden der Buchsta- 185 ben ohne abzusetzen hinbekommen. Sodann sollen sie damit anfangen, ausgehend von den Silben Wörter zu erkennen und diese ohne Eile zu einem Satz zusammenzufügen. <?page no="324"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 324 Fünftens [bringe man es dahin], dass ihnen zur Gewohnheit werde, die miteinander verbundenen Wörter weder affektiert, noch ausdruckslos, sondern gefällig und deut- 190 lich zu artikulieren, und zwar in schicklicher Körperhaltung und passender Bewegung der Glieder. Sechstens sollen sie lernen, silbenweise zu lesen und zugleich zu memorieren: das Gebet des Herrn, den Englischen Gruß, das Apostolische Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote, die Taufformel und Einsetzungsworte, das [/ 5] Segensgebet vor 195 Tisch und das Dankgebet danach, 1 ebenso tägliche Nacht- und Morgengebete für zuhause und darüber hinaus, was in den gängigen Lesefibeln steht, z. B. das Lied › Gib Frieden, Herr ‹ , und welche Antworten man in der Kirche zu sprechen hat. Siebtens möchte ich, dass die erwähnten ABC-Schützen täglich ein Wörterbuch zur Hand nehmen, um gleichsam vom kindlichen Lallen voranzuschreiten zur Artikula- 200 tion unterschiedlicher Ausdrücke - der Lehrer soll jene sorgfältig korrigieren - und sich intensiv mit der Eigenheit der lateinischen Sprache auseinanderzusetzen. 1 [Hand D] Verzaichnus, mit hern Anthonien Fuggers aigner hannd underschriben, was die funnff knaben taglich vor unnd nach dem essen neben dem Benedicite unnd Gratias fur ain dannckhsagung sprechen sollen. [/ ] [Hand B] Vor dem Essen Preiset den Herrn. Aller Augen warten auf Dich, und Du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du öffnest Deine Hand und sättigst alles, was lebt, nach deinem Gefallen. Ehre sei dem Vater etc. Herr [erbarme dich], Christus [erbarme dich], Herr [erbarme dich], Vater unser, Gegrüßet seist Du, Maria, etc., Versikel: Und führe uns nicht in Versuchung. Antwort: Sondern erlöse uns. Lasset uns beten: Herr, segne uns und diese Deine Gaben, die wir von Deiner Güte nun empfangen, durch Christus, unseren Herrn. Des himmlischen Mahles teilhaft mache uns der König der ewigen Herrlichkeit. Amen. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Und die Liebe selbst segne uns und führe uns zum ewigen Leben. Amen. Nach dem Essen Lasst uns den Herrn preisen für dieses Mahl. Antwort: Dank sei Gott. Versikel: Gepriesen sei der Name des Herrn. Antwort: Von nun an bis in Ewigkeit. Versikel: Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn. Antwort: Der Himmel und Erde geschaffen hat. Gott, Du Vergelter alles Guten, vergilt allen, Herr, die uns um Deines heiligen Namens willen Gutes tun, mit dem ewigen Leben. Amen. Herr [erbarme dich], Christus [erbarme dich], Herr [erbarme dich], Vater unser, Gegrüßet seist Du, Maria, etc. Und führe uns nicht in Versuchung. Antwort: Sondern erlöse uns von dem Bösen. Preiset. Der Herr schenke den Lebenden seine Gnade, den Verstorbenen und unseren Wohltätern [ewige] Ruhe, dem Römischen Reich Sieg und uns Sündern nach diesem Leben das ewige wie auch unserem Stifter, dem Herrn Anton Fugger, und dessen Nachfolgern ewige Glückseligkeit. Amen. [Hand C] Anton Fugger, mit eigener Unterschrift <?page no="325"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 325 Ebenso werden sie schließlich unter Anleitung ihres Lehrers Buchstabenformen durch Schreiben nachbilden, denn Krakeleien zu malen verbietet sich für solche Schüler. 205 Für all dies darf sich niemand zu schade sein oder es für unwichtig halten, als wären es Nebensächlichkeiten. Sobald die Kinder eine gewisse Fertigkeit im Lesen und Schreiben erlangt haben, rücken sie in die 3. Klasse vor und sind jetzt die › Donatisten ‹ - eine Benennung, die jeden von ihnen nachdrücklich zu Anstrengung und Fleiß ermahnen soll. Denn den 210 Donatus müssen sie im Schlaf beherrschen. Sobald sie ihn verstanden haben, lernen sie ihn auswendig. Und damit die Erinnerung an ihn immer wieder aufgefrischt werde, muss er von euch Lehrern durch Frage und Antwort, worin ja der Aufbau des Donatus besteht, oft wiederholt und nicht anders als der Felsblock des Sisyphus in einem fort hin und her gewälzt werden. Und die Schüler werden der Reihe nach 215 - sie sitzen ja in allen Klassen nach einer festen Ordnung, in der sie früher oder später in die höhere Klasse aufrücken - und aus dem Gedächtnis auf die Fragen antworten. In der erwähnten Klasse werden die Schüler die Bestimmungskriterien der Wortarten beigebracht bekommen, die sie aufs genaueste und Wort für Wort auswendig 220 lernen werden. Davon ausgehend werden sie die Deklinationen der Nomina, Pronomina und Partizipien, danach die Verbkonjugationen lernen. Die müssen sie kennen wie ihre eigene Westentasche, denn ohne sie, das sage ich euch, werden sie nichts von dem, was noch kommt, verstehen können. 225 Alsdann werden sie nicht bei den Schemata des Donat verharren, als wäre es Sirenengesang, sondern man muss ihnen das Abgleichen jedweder Vokabeln mit den Paradigmen sowie das Flektieren zur Gewohnheit machen, bis sie das Deklinieren und Konjugieren aus dem EffEff beherrschen. Drittens, damit die verschiedenen Vokabeln abrufbar sind, möchte ich, dass ihnen 230 der Cato vorgelesen werde und die Wendungen in den einzelnen Versen auf die oben genannten Schemata hin untersucht und so unter die Lupe genommen werden, dass die Schüler jeweils der Wortherkunft und dazu der speziellen Bestimmungsgrößen gewahr werden. Und man darf über keine Wendung hinweggehen, deren Herkunft oder sonst Diesbezügliches sie nicht ganz begriffen haben. Hernach werden 235 sie Catos Verse, da sie zumeist zur sittlichen Erziehung von jung und alt beitragen, auswendig lernen. Jeder einzelne wird sie, wenn er einmal die Schule verlässt, der Reihe nach rezitieren, und der Vorleser wird es kontrollieren. Wer nach diesen Übungen nach Meinung der Lehrer ein guter Donatist ist, der [/ 6] kommt in die 2. Klasse und heißt fortan Sekundaner. Denn in dieser Klasse wird die 240 komplette Grammatik Philipp Melanchthons gelehrt werden, und alle seine Regeln <?page no="326"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 326 werden die Schüler, nachdem sie sie verstanden haben, wortwörtlich auswendig lernen. Nun gibt es vier Grammatikteile: die Orthographie, Etymologie und Syntax sowie die Prosodie, der ich absichtlich den letzten Platz zuweise, damit unsere Schüler, die sich einmal grammatisch korrekt ausdrücken wollen, von ihr schon einmal 245 etwas gehört haben, wenn sie sich mit ihr beschäftigen. Jedoch möchte ich, dass die einzelnen Teile der Grammatik der Reihe nach von den Lehrern so klar unterrichtet werden, dass die Schüler sie ganz leicht verstehen und nicht durch die Komplexität eingeschüchtert werden. Denn wenn die Lehrer in der Grammatik keine festen Fundamente gelegt haben, wird alles einstürzen, was sie darüber bauen. Damit deshalb 250 die Schüler vertraut werden mit den Grammatikregeln, will ich, dass für die Sekundaner die Fabeln des Aesop ausgelegt werden, die erstens wegen des reizvollen Inhalts für die Kinder leicht fasslich sind, zweitens vorzüglich zu deren lebenspraktischer Erziehung beitragen und drittens sehr von Nutzen sind zum Aufbau des Wortschatzes, den man für das Schreiben braucht. Ebenso sollen mit denselben 255 wegen der inhaltlichen Nähe Vergils Hirtengedichte gelesen werden, in denen abgesehen von der einfachen Sprache viel Gelehrsamkeit steckt. Wenn deshalb der eine oder andere Schüler in der Kenntnis der Prosodie so weit fortgeschritten ist, dass er eine Gesetzmäßigkeit im Gedicht erkennt, wird ihm Gelegenheit gegeben werden, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sie gleichsam an Ort und Stelle in Augenschein 260 zu nehmen. Denn die Prosodie ist eine große Hilfe für das korrekte Akzentuieren, worin die meisten Erwachsenen irren und gedankenlos daherreden, wie man täglich sieht. Außerdem ist sie unverzichtbar für das gelehrte Schreiben und darf deswegen von euch keineswegs übergangen werden, zumal sie von den Schülern ganz nebenbei ohne Mühe dazugelernt wird. 265 Bei den Sekundanern muss man auch ziemlich hartnäckig darauf dringen, dass sie ihr Gedächtnis, die Schatzkammer für alles, eifrig trainieren. Sonst wird es nämlich unfruchtbar wie ein Acker, den man nicht pflegt. Bei entsprechender Übung ist der Verstand geschult für Cato und Vergil. Wenn ein Schüler in der 2. Klasse so weit fortgeschritten ist, dass er des Lohns für 270 seine Mühe für würdig gehalten wird, soll er auf Veranlassung der Lehrer in die 1. Klasse aufrücken, damit er noch weit mehr dazulernt. Und wer die letzte Klasse besucht, wird Primaner genannt werden, weil die Erstklässler unter ihren Mitschülern erstklassig sein sollen. Ihnen sollen vorgelesen werden: Terenz, Ciceros › Epistulae ad familiares ‹ , die Epi- 275 steln des Horaz, die Abhandlungen über die Freundschaft und über das Alter von Cicero, Sallust, Ciceros Buch über die Pflichten und das erste Satirenbuch des Horaz, als letztes jedoch eine Komödie von Terenz, dazwischen das Büchlein über die Freundschaft; danach soll man zu einer anderen Terenz-Komödie zurückkehren, woraufhin der Dialog über das Alter vorgelesen werde, nach welchem man wieder 280 eine neue Terenz-Komödie zur Hand nehme. Die Lektüre der Cicero-Briefe soll <?page no="327"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 327 durch die Episteln des Horaz unterbrochen werden. Ferner soll man gegen Abend die Catilinarische Verschwörung von Sallust lesen, danach das 1. Buch über die Pflichten, dann [/ 7] Sallusts Bellum Iughurtinum, daraufhin das 2. Buch über die Pflichten und, wenn auch das geschafft ist, das 1. Satiren-Buch des Horaz, alsdann 285 das 3. über die Pflichten. Wenn dieser Lektüredurchgang beendet ist, wird zu den ersten Autoren zurückgekehrt. Und so geht es im Wechsel fort in dieser Klasse, weil ja Horaz ungemein gedankenreich ist und auch den älteren Schülern viel gibt. Diese sollen ferner jeden Tag etwas verfassen, um sich im Schriftlichen zu üben, wobei ihnen vom Lehrer ein einfaches, ergiebiges und zugängliches Thema vor- 290 gegeben ist. Die Aufsätze werden zweimal in der Woche korrigiert. Ich habe in aller Kürze dargelegt, wie die Schüler unterrichtet werden sollen; ich habe auch über die Lektionen gesprochen, die ich den einzelnen Klassen mit Bedacht zugeteilt habe. Jetzt komme ich dazu, was an den einzelnen Tagen und jeweils in den Stunden zu tun ist. Mit der Zeit nämlich müsst ihr alle geizig sein, weil sie vergeht, ehe man sich’s 295 versieht, und niemals wiederkehrt. [Stundenplan] Damit also dieser unserer Schulordnung ein Turnus zugrunde liege, kann der Anfang mit dem glücklich begonnen Montag gemacht und mit demselben Tag das Ende gesetzt werden. Und damit Gott der Allmächtige am Anfang der Studien und bei 300 ihrem Fortschreiten hilfreich zugegen sei (woran für mich kein Zweifel besteht, da er versprochen hat, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt seien, mitten unter ihnen zu sein), wird man pünktlich morgens um Fünf, wenn alle Kinder üblicherweise in der Elementarschule zusammenkommen, mit eigens dazu ausgewählten Gebeten, z. B. dem › Veni, Sancte Spiritus ‹ oder dem Paternoster, vor den Herrn tre- 305 ten, wobei alle Schüler gemeinsam mit gebogenen Knien singen. Bevor sie die Schule verlassen, werden sie in täglichem Wechsel das Glaubensbekenntnis oder diese Verse hier singen, die gut zu ihrem Unterfangen passen: Im neblig dichten Dunkel unsres Geistes, Wenn ratlos unser ganzes Herz, 310 Verwirrt, mit Herzensaugen zu dir wir blicken auf, o Gott, Und deine Hilf ’ allein erflehet unser Glaube. Dein Rat lenk ’ unser Handeln, bester Vater Du, Dass unser Werk allein dein Lob vermehre. Abends, vor dem Verlassen der Schule, singen die Schüler alle Tage Psalm 129 › Aus 315 der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir ‹ usw. oder, was ich besser finde, Abend für Abend im Wechsel mit Psalm 112 › Lobt, ihr Kinder, den Herrn ‹ usw. Zurück zum Ausgangspunkt: Nach dem Morgengesang ist der Unterlehrer in der 3. Klasse bei den Donatisten, mit denen er etwas aus dem Donatus durchnimmt oder wiederholt, ganz wie es sein Konzept verlangen mag. 320 <?page no="328"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 328 In der 6. Stunde aber geht derselbe in die 4. Klasse und ruft den ABC-Schützen die vorgeschriebenen Aufgaben in Erinnerung. Er lässt einen aus der Gruppe zu sich kommen und heißt ihn, während die übrigen zuhören, die Namen der Buchstaben auszusprechen. Dann lässt er einen anderen etwas Silbe für Silbe lesen. Macht der dabei einen Fehler, fragt er den nächsten, so dass mehrere nacheinander vorlesen 325 und ihnen ein und dieselbe Fähigkeit beigebracht wird. Denn die Kürze der Zeit erlaubt es ja nicht, jeden einzelnen abzuhören. Der Kantor dagegen muss darauf achten, dass ein jeder berücksichtigt werde. Nur wenn es die zu große Zahl oder die Zeitnot nicht zulässt, dulde ich, dass er alle [/ 8] reihum beim Vortragen abhört, in der Weise, wie es bisher üblich war. 330 Der Schulleiter aber nimmt nach der fünften Morgenstunde in der 2. Klasse die Grammatik durch und lässt die Sekundaner einen kleinen Abschnitt daraus auswendig wiedergeben. In der 1. Klasse aber liest er in der 6. Stunde Terenz oder etwas von Cicero, wiederholt das Gelesene und geht es im einzelnen so durch, dass sich die Schüler die verstandene Lektion ins Gedächtnis einprägen. Denn ich habe wegen 335 des vielfältigen Nutzens für die Schüler, lassen es deren Zahl und Bildung zu, nichts dagegen, dass jedes Jahr eine öffentliche Komödienaufführung stattfindet. Nach diesen ersten Unterrichtsstunden ist es Zeit, dass alle zugleich nach althergebrachtem Brauch zur Kirche gehen und dem Gottesdienst beiwohnen. Doch können, von den Feiertagen abgesehen, die kleinen und schlecht gekleideten Knaben in der Schule 340 bleiben und in der Zwischenzeit von dem anderen Lehrer unterrichtet werden. Kommen die Schüler um die 8. Stunde wieder von der Kirche in die Schule zurück, setzen sie sich jeder an seinen Platz, und der Unterlehrer dringt bei den ABC-Schützen darauf, dass ein jeder nach seinem Fortschritt entweder zu lesen oder aus dem Gedächtnis vorzutragen lerne, bald das Tagesgebet vom Sonntag, bald den Engli- 345 schen Gruß oder einen anderen der weiter oben genannten Texte. Sobald sie um die 10. Stunde aus der Schule nach Hause entlassen werden müssen, wird es der eine aus dem beschriebenen, der andere aus dem geschlossenen Büchlein memorieren. Derselbe Lehrer wird auch in der dritten Klasse zur 9. Stunde mit den Donatisten die Deklinationen und Konjugationen üben und ihnen die gebräuchliche Methode, 350 wie man aus einem Kasus einen anderen, aus einer Zeitform eine andere bildet, genau zeigen, damit sie die bekannten Nominal- und Verbflexionen nicht nach Papageienart ohne Regeln erlernen. Um es sogleich anwenden zu können, wird der Lehrer seinen Tertianern noch in dieser Unterrichtsstunde oder, um die Schüler nicht mit Stoff zu überhäufen, an anderen Tagen eine Äsop-Fabel kindgemäß aus- 355 legen und, wie gesagt, nach den Regeln des Donat durchgehen. Zur selben Zeit am Vormittag wird der Schulmeister in der 2. und 1. Klasse einen Cicero- oder Horazbrief übersetzen, den Text von den Schülern wiederholen lassen und dabei einzelne Aspekte der Grammatik genau unter die Lupe nehmen. Nach <?page no="329"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 329 diesen Lektionen ist die 10. Stunde gekommen. Etwa um diese Zeit ist es üblich, alle 360 Schüler zum Mittagessen zu entlassen. Pünktlich zur 12. Stunde müssen alle Kinder wieder vom Essen zurück sein. Der Unterlehrer übt mit den ABC-Schützen das Zeichnen von Buchstaben, in der 2. Stunde aber lässt er sie vorlesen und korrigiert jede verkehrte, unzusammenhängende und unschöne oder die Lippen verzerrende Aussprache. Die Übersetzung 365 der jeweiligen Begriffe fügt er hinzu. Davon lernen die Schüler vier oder sechs Vokabeln auswendig, die sie vor dem Verlassen der Schule ohne Buch vorsprechen. Auf diese Weise, denke ich, wird der ganze Tag für sie nicht müßig vergangen sein. Derselbe Lehrer übt vor der 1. Nachmittagsstunde mit den Tertianern das Deklinieren und Konjugieren anhand des Donat. In der 3. Stunde aber übersetzt er denselben 370 Tertianern höchstens zwei Distichen von Cato, die sie sich so ins Gedächtnis einprägen, dass jeder einzelne sie vor dem Nachhausegehen vorsprechen kann. Damit sie jedoch noch fester im Gedächtnis haftenbleiben, ist es sinnvoll, wenn der Lehrer die einzelnen Nomina und Verben mit den Fragen im Donat durchgeht. Denn alles, was man gut verstanden hat, kann man grundsätzlich besser behalten. [/ 9] 375 Der Schulmeister aber wird sofort nach dem Mittagessen für die Sekundaner Vergils Bucolica lesen, dann, nach einer Pause, soviel für das erneute Lesen und das Memorieren Zeit erforderlich ist. In der 2. Stunde lässt er denselben Text von den Schülern wiederholen und, ohne auch nur ein Wörtchen zu übergehen, nimmt er den Vergil anhand der Regeln der Grammatiker durch. Und wenn er Schüler hat, die für die 380 Verskunst empfänglich sind, erläutert er an Ort und Stelle die Prosodie sozusagen an seinem Finger, damit die Schüler kein grammatisches Problem übersehen. Die Primaner schreiben von der 12. Stunde an etwas nach einem ihnen vom Lehrer vorgegebenen Thema nieder, das, wie ich zuvor sagte, zweimal verbessert wird, doch nicht streng. Es reicht ja, wenn sie auf Latein und grammatikalisch korrekt schreiben. 385 Schließlich muss man bei den Kindern die Ausdrucksfreude stärker fördern als die Pedanterie. Denn ein Zuviel lässt sich leicht kurieren, aber Gedankenleere wird durch Anstrengung nicht besiegt. Für die Themenformulierung aber muss man sich eine Lehre des Horaz zu Herzen nehmen: Ihr, die ihr schreiben wollt, vor allen Dingen, 390 wählt einen Stoff, dem ihr gewachsen seid und wäget wohl vorher, was eure Schultern vermögen oder nicht, eh ’ ihr die Last zu tragen übernehmt. 2 2 C HRISTOPH M ARTIN W IELAND : Horazens Briefe Aus dem Lateinischen übersetzt und mit historischer Einleitung und andern nöthigen Erläuterungen versehen, Leipzig 1790, S. 211, V 72 - 76. <?page no="330"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 330 Ich möchte also, dass der Stoff für die Schreibübung so facettenreich ist, dass er zu 395 Kreativität und sprachlicher Gestaltung anregt. In der 3. Stunde aber übersetzt der Lehrer Sallust oder je nachdem entweder Ciceros › Pflichten ‹ oder Horaz. Und diesen Text, der bitte kurz sein soll, nimmt er anhand der Lehre eines Grammatikers durch. Denn nichts wünsche ich so sehr, als dass diese meine Schüler in der Grammatik versiert werden. Und weil Sallust, Cicero und 400 Horaz voller Sentenzen stecken, heißt er alsdann, sobald ein bekannter Sinnspruch unterkommt, diesen ins Gedächtnis aufzunehmen, damit es nicht stumpf werde. Wenn all dies mit Sorgfalt und Nutzen ausgeführt ist, haben die Schüler ihr Tagespensum geschafft. Aber da ich ja fünf Zöglinge habe, die in der Elementarschule mit dem Schulleiter zusammen im selben Haus leben, werden sich diese nicht 405 eher schlafen legen, als bis der Lehrer nach pythagoreischer Methode von jedem einzelnen einen Rückblick auf das Tagwerk eingefordert und sich über dessen Fleiß und Gedächtnis ein Bild gemacht hat, damit die Kinder auf diese Weise die tägliche Geistesnahrung sozusagen nochmals aufkochen. Denn jener muss sich nicht nur für alles, was diese tun, sondern auch dafür, was sie sprechen, verbürgen. Da sie fort- 410 während mit dem Lehrer unter einem Dach leben, wird er sie auch ermahnen, Gott Tag für Tag um Heil und Wohlergehen derer zu bitten, von denen sie diese Güte empfangen. Dieser Ordnung und Einteilung des Unterrichts werdet ihr beide an allen Werktagen Beachtung schenken und gegen meine Vorgabe, die unverbrüchlich und rechtsgültig 415 sein soll, nicht ohne weiteres verstoßen. [Sonn- und Feiertage, Pausen] An den Vigilien, also den Vortagen der höheren Feste, und ebenso am Samstag wird der Unterlehrer in der Frühe die Kleinen den Katechismus des Mainzer Weihbischofs N. lehren. Der Schulleiter aber wird für die Älteren und die zunehmend 420 Verständigeren die griechische Grammatik übersetzen. Nach dem Unterricht der beiden wird der Kantor, dessen vorzügliche Aufgabe dies ist, [/ 10] alle und jeden ohne Ausnahme sowohl den Choral als auch die Figuralmusik lehren. Den alten Brauch, dass sich die Kinder nach dem Mittagessen waschen, will ich nicht aufheben, sofern alle bald darauf so zusammenkommen, dass 425 ihnen vor Betreten der Kirche Evangelium und Lesung ohne Eile vorgelesen werden können. Sonn- und feiertags werden alle nach dem Mittagessen erneut singen, und es wird wieder der Katechismus gelesen; die meisten Hymnen hat ja der großartige Dichter Prudentius geschrieben, und auch die Sequenzen stammen aus der Feder rechtgläu- 430 biger Kirchenväter. Freilich: Im gesamten Unterricht will ich nicht, dass irgend etwas öffentlich gelehrt oder den unschuldigen Kleinen in die Ohren eingeflüstert werde, was von der alten, <?page no="331"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 331 katholischen Lehre abweicht. Und sollte dies einer wagen oder dahingehend ein schändlicher Fehltritt erfolgen, dass er anders, als ich es vorschreibe, handelt, wisse 435 er, dass er dies weder bei mir, solange ich lebe, noch bei meinen Nachkommen, wenn sie mir denn gleichen, ungestraft getan haben wird. Die obigen Punkte möchte ich jedoch von euch Lehrern Punkt für Punkt in solcher Weise beachtet wissen, dass nach meinem Rat den Kindern von Zeit zu Zeit eine Pause vergönnt werde. Zum einen, weil es nichts gibt, was unausgesetzte Belastung 440 erträgt - wie nämlich der allzusehr gespannte Bogen bricht - , so schöpfe auch der Geist beim Wechsel mit einer Zeit der Ruhe neue Kraft. Zum anderen, weil das Studium auf der Freiwilligkeit zu lernen beruht, die man nicht erzwingen kann, so kommt es auch auf den festen Vorsatz an. Denn dem, der etwas will, fällt nichts schwer. Deshalb ließ sich ein bestimmter Feldherr niemals etwas anderes von seinen 445 Soldaten angeloben als den Willen zu kämpfen. Sich selbst nämlich versprach er den Sieg, wenn die Soldaten sich standhaft zu kämpfen vorgenommen hatten. So müsst auch ihr euch Mühe geben, in den Kindern den Lerneifer zu erhalten, damit sie niemals Schaden nehmen. Deshalb will ich es erlauben, dass allen Schülern einmal in der Woche nach dem 450 Mittagessen zu spielen gestattet werde. Indes geschieht es oft, dass beim Spielen irgendein mehr oder weniger glänzender Einfall aufkommt, so dass die Kinder dann bisweilen zügelloser spielen, als es sich schickt. Deswegen sollt ihr beide oder einer von euch dabeisein und zuschauen, damit wenigstens jede Gefahr vermieden werde und sie wieder in ordentlichem Zustand vom Spiel zurückkehren. 455 [Erziehung; Belohnung und Strafe] Über die Ausbildung des Intellekts dürfte ich bis hierher genug gesagt haben, wobei ja die geistige auf die moralische Reife abzufärben pflegt, was Ovid bezeugt: Ja, und mit redlichem Sinne die edleren Künste erlernen Sänftigt die Sitten und nimmt ihnen das Grausame weg. 3 460 Bei alledem wäre es seine unaussprechliche Schande, wenn die Sitten und das Verhalten unserer Schüler, das den Leuten vor Augen kommt, überhaupt nicht mit deren wissenschaftlichen Studien in Einklang stünden. Denn Eltern und mit den allgemeinen Angelegenheiten nicht vertraute Laien bemessen für gewöhnlich die Gelehrsamkeit der Kinder nach deren äußerer Lebensführung. Und deshalb, damit 465 ihr eure Achtung bei den Unkundigen nicht verliert, ja sie noch vermehrt, gehört die sittliche Erziehung in besonderer Weise zu euren Aufgaben. Wie man nämlich Pferde, die vor Wildheit aufspringen, zum Zähmen gibt, damit ihre Herren sie williger und 3 P UBLIUS O VIDIUS N ASO , Briefe aus der Verbannung: Tristia, Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch, übertr. von W ILHELM W ILLIGE , eingel. und erl. von N IKLAS H OLZBERG (Sammlung Tusculum), München u. a. 1990, S. 404f., II, 9, V 47f. <?page no="332"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 332 sanftmütiger gebrauchen können, so müssen zügellose und sich selbst überschätzende Kinder an einer Erziehungslonge herumgeführt werden, [/ 11] die selbst 470 die ungebärdigste Natur zu zivilisieren vermag. Denn ich weiß nicht, durch welches (üble) Geschick heutzutage die Kinder so sehr zu allzugroßem Leichtsinn und Willensschwäche neigen. Um sie zu formen müsst ihr deswegen etwas aufmerksamere und strengere Kritiker sein, zumal euch in der Regel Kinder vom Land zur Unterweisung anvertraut werden, bei deren Verfeinerung und Veredelung ihr ja zwangs- 475 läufig ins Schwitzen kommt. Zu welchem Verhalten es aber angebracht ist, dass sie erzogen werden, will ich an dieser Stelle gar nicht ausführen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich hätte kein Vertrauen zu euch oder wollte euch den Alltag diktieren, euch, die ihr mir an gelehrter Bildung in allen wissenschaftlichen Bereichen überlegen und in der Praxis nicht unterlegen seid. Nur dazu rate ich, dass ihr des Eras- 480 mus ’ Büchlein über das gute und richtige Verhalten der Jugend nach und nach mit den Kindern lest und eure Schüler, soweit das möglich ist, danach korrigiert. Deren Aufgabe ist es, den Älteren und den an Ansehen herausragenden Männern mit Ehrfurcht zu begegnen und außerdem alle Bewegungen so unter Kontrolle zu haben, dass sich nicht irgendwo eine Unschicklichkeit zeigt und in keinem Lebensbereich 485 das Verhalten der Willkür überlassen ist. So rate ich nicht dazu, einen speziellen Tag für eine Disputation unter den Schülern herzunehmen, weil das nach eurem Urteil [nicht] geschehen kann, ehe die Knaben aus der Schule entlassen werden, und der Esel soll als Anreiz für das Lernen jenem um den Hals gehängt werden, der in seiner Klasse der Letzte ist. 490 Schließlich muss es, wenn so viele Kinder zusammenkommen, unbedingt eine gewisse Disziplin geben. Selten sind ja die Guten! Aber jeden ohne Unterschied über einen Leisten zu schlagen ist ungerecht. So ist es Hirtenart, zur Herde freundlich und ihr geneigt zu sein; andererseits verschließt nur ein Nichtsnutz und einer, der nicht zum Wohl und Vorteil derer, denen er vorgesetzt ist, dienen will, seine Augen 495 vor offenkundig bösen Taten und Worten. Ruft euch deswegen mit mir in Erinnerung, dass bei Platon steht, der Herrscher müsse Zuckerbrot und Peitsche anwenden. Denn es gibt Menschen, die durch Lob korrigiert und Ruhm motiviert werden. Dann wiederum gibt es einige knechtische Naturen, die sich bei Schlägen sogar noch verhärten. Die Züchtigung in der Schule wird man also je nach individuellem Cha- 500 rakter klug gebrauchen müssen und, kurz und gut: Ihr werdet solche Lehrer sein, die nach festen Grundsätzen die Zügel des Gehorsams sowohl straff zu ziehen als auch locker zu lassen wissen. Ich will euch nämlich gegen ein schwaches und der Willkür ausgesetztes Lebensalter nicht zu viel erlauben. Ebensowenig will ich, dass ihr eure Befehlsgewalt mit unangemessener Härte ausübt. Wenn einer ein braver Junge ist 505 und von sich aus seine Pflicht erfüllt, dürft ihr gegen diesen überhaupt nicht eure Hand erheben, müsst ihn vielmehr mit einem kleinen Geschenk bei der Ausübung seiner Pflicht halten und dem Horaz-Wort folgen: <?page no="333"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 333 Einst, sagt er, reichten schmeichelnd gar Plätzchen Die Lehrer, dass sie die ersten Buchstaben gerne erlernten. 510 Gegen die aber, welche einen Frevel oder etwas Böses getan haben, müsst ihr - ohne Jähzorn - vorgehen, damit die Zahl der weniger Guten nicht zunimmt, wenn die Strafe ausbleibt. Denn so wie die ganze Herde auf den Feldern Verendet durch die Räude und den Grind eines einzigen Schweines 515 Und eine Traube sich bläulich verfärbt durch den Anblick einer Traube. 4 Gewöhnlich breitet sich so unter den Schülern eine schlimme Tat gleichsam durch Ansteckung aus und vergiftet die Nachbarn, geht man nicht rechtzeitig dagegen vor. Deshalb müsst ihr alle Neigungen aller Schüler in Erfahrung bringen und einen jeden nach eurer Klugheit genau prüfen [/ 12], dahingehend, wovon er angezogen wird 520 oder wovor er Angst hat. Denn das Wesen jedes Menschen steckt in vielen täuschenden Verkleidungen und wird wie mit Vorhängen verhüllt. Und wenn es einer verdient hat, ist die Rute angemessen, und ich bin nicht gegen deren Anwendung. Dem Vergehen nämlich muss die Strafe angemessen sein. [Epilog: Ermahnungen an Nachfolger und Lehrer] 525 Mit der Veröffentlichung meiner Institutsordnung habe ich mich bestimmt hinreichend detailliert über unsere Trivialschule ausgelassen, so dass meiner Ansicht nach alles, was zur elementaren Didaktik gehört, berührt wurde. Euch ganz speziell, die Erben und Hüter, ersuche ich abermals und bitte euch, wenn es recht und billig ist, wieder und wieder, dass ihr euch den Schutz dieser Schule und deren Verteidigung 530 so kraftvoll angelegen sein lasst, dass sie fort und fort unversehrt und unberührt von jedem gierigen Erbschleicher weiterbestehen kann. Schließlich bedinge ich mir von euch, die ihr gerade Lehrer seid, und von euren Nachfolgern jedwede Aufmerksamkeit, Anstrengung und Sorgfalt aus, und ich verfüge zugleich und bestimme mit der ganzen Autorität, die ich bei euch genießen 535 muss, ernstlich, dass ihr die Vorschriften unserer Schule nicht ohne Rücksprache mit der Herrschaft und mit denen, die jene schützen müssen, übergeht. Solltet ihr es aber wagen, so wisst, dass ihr dem Allmächtigen dafür büßen müsst, und dass ihr, sobald es erfahren oder allgemein bekannt wird, aus der Schule verdientermaßen mit Schimpf und Schande entlassen werdet. Nicht als Eigentum nämlich wurde euch die 540 Schulgewalt übergeben, damit ihr sie nach Belieben missbraucht zu Müßiggang und persönlichem Vorteil. Sondern es ist eine Amtsgewalt auf Zeit, die ihr nach vertraglicher Vereinbarung oder auf Anordnung anderer niederlegen müsst. Wenn ihr aber 4 Übersetzung: D ECIMUS I UNIUS I UVENALIS , Satiren. Lateinisch und deutsch, hg., übers. und mit Anm. vers. von J OACHIM A DAMIETZ (Sammlung Tusculum), München-Zürich 1993, S. 29. <?page no="334"?> I N S TIT UTIO S C HOLA S TI CA . Ü BER S ET ZUNG 334 nach meinem Willen handelt und den obigen Anordnungen folgt, werdet ihr euch als würdig erweisen und mein und meiner Nachfolger Wohlwollen Tag für Tag er- 545 fahren - abgesehen davon, dass die Kinder euch immer dankbar sein und niemals das Gute vergessen werden, das ihr für sie getan habt. [Hand C] Anton Fugger, mit eigener Unterschrift 550 <?page no="335"?> 335 B ARBARA R AJKAY Familie, nicht Kloster. Evangelische Mädchenbildung in Augsburg Das Thema Geschichte der evangelischen Mädchenbildung wird heute in Augsburg vor allem vom Stetten-Institut besetzt. Diese private Einrichtung ist gegenwärtig eine weiterführende Schule ausschließlich für Mädchen und besteht aus einer Realschule und einem Gymnasium. Der Name geht auf die Stifterin Anna Barbara von Stetten, geb. Amman (1754 - 1805) zurück. In ihrem Testament hatte sie 1803 (neben vielen anderen Stiftungen) einen beträchtlichen Teil ihres enormen Vermögens für die Gründung einer höheren Schule für Mädchen bestimmt. Nach den Umbauten ihres weitläufigen Anwesens zum Schulgebäude wurde am 2. Januar 1806 das Institut mit 21 Schülerinnen in zwei Klassen eröffnet. Zur Erfolgsgeschichte dieser Institution liegen schon zahlreiche Publikationen vor. 1 Aus chronologischer Perspektive betrachtet rangiert diese Schulgründung allerdings auf dem zweiten Platz; bereits 1803 hatte Daniel Eberhard Beyschlag (1759 - 1835), der Rektor des Gymnasiums bei St. Anna, zusammen mit einigen Kollegen im dortigen Rektoratshaus eine höhere Töchterschule eingerichtet. Sie hatte jedoch nur wenige Jahrzehnte Bestand. 2 Dagegen kümmerten sich schon seit 1636 die Dominikanerinnen bei St. Ursula sowie seit 1662 die Schwestern der Congregatio Jesu, besser bekannt als die Englischen Fräulein, um die Erziehung der katholischen Töchter Augsburgs. 3 Der Blick auf die Bildungsgeschichte der Söhne zeigt: Konkurrenz belebte das Geschäft. 4 In 1 Auf Grund der coronabedingten Bibliotheksschließungen konnte für diesen Aufsatz leider nur in bescheidenem Umfang auf Literatur zurückgegriffen werden; K ARIN M EINERS , »Plan und Einrichtung einer Bürgerlichen Töchterschule und Erziehungsanstalt«. Aus dem Testament der Anna Barbara von Stetten, in: ZHVS 74 (1980), S. 131 - 168; M ADLEN B REGENZER , Anna Barbara von Stetten. Ein Beitrag zu ihren Stiftungen und ihrer Biographie, in: ZHVS 87 (1994), S. 143 - 162; ferner die vom Stetten-Institut herausgegebenen Jubiläumsschriften 1905, 1930 und 2005; bis 1968 befand sich das Institut am Martin-Luther-Platz 3 (Litera B 260 - 262), seit September 1969 ist es Am Katzenstadel 18a. 2 K. M EINERS , Plan und Einrichtung (Anm. 1), S. 135f. 3 W ALTER A NSBACHER , »Es soll und muß geschehen, daß sie ihr Verbleiben in der Stadt haben sollen«. 350 Jahre »Englische Fräulein« in Augsburg (1662 - 2012). Ein Rückblick auf die Anfänge, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte e. V. 47 (2013), S. 211 - 237; P ETER R UMMEL , Katholisches Leben in der Reichsstadt Augsburg (1650 - 1806), Augsburg 1984, S. 143 - 149. 4 Zur Entwicklung des Augsburger Schulwesens unter konfessionellen Aspekten vgl. L AETITIA <?page no="336"?> B A R BA RA R A JKAY 336 der konfessionell gemischten Reichsstadt stehen die Anfänge des Evangelischen Kollegs bei St. Anna im direkten Zusammenhang mit dem Bau des Jesuitenkollegs St. Salvator. Beide Institutionen boten seit 1582 sowohl zahlungsfähigen als auch mittellosen Eltern gute Ausbildungsmöglichkeiten für den männlichen Nachwuchs. 5 Auf evangelischer Seite sah man während des 17. Jahrhunderts und bis weit ins 18. Jahrhundert offenbar keine Notwendigkeit, den beiden katholischen Ordensschulen eine entsprechende weiterführende Mädchenschule entgegenzusetzen. Augsburg stellt in dieser Hinsicht keinen Sonderfall dar. Während Gelehrtenschulen bzw. Lateinschulen für Knaben im Laufe des 16. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schossen, z. B. 1526 Nürnberg und Ingolstadt, 1528 Lindau, 1531 Augsburg, sind die Gründungen höherer Mädchenschulen sehr überschaubar. Zwischen 1546 und 1612 gab es einige Versuche der Kurfürsten von Sachsen, Mädchenschulen entsprechend zu den Gelehrtenschulen für Jungen einzurichten, sie scheiterten jedoch an der Akzeptanz der Eltern. Selbst August Hermann Francke gelang es nicht, in Halle dauerhaft für seine höhere Mädchenschule ausreichend Schülerinnen zu finden. 6 In einzelnen protestantischen Städten etablierten sich sog. Jungfrauenschulen. Ihr Unterrichtsstoff ging über den Elementarunterricht hinaus und sollte Töchter aus den höheren Kreisen auf eine solide Haushaltsführung vorbereiten. 7 Dennoch lebten in Augsburg viele evangelische Frauen, deren Erfolgsgeschichte sich ohne eine entsprechende Bildungsbiographie nicht erklären lässt: angefangen bei der Schriftstellerin Sophie La Roche, geb. Gutermann (1730 - 1807), über die Klavier- B OEHM , Die Erneuerung des Augsburger Schulwesens im 16. Jahrhundert: Christliche Pädagogik in konfessioneller Parität, in: G ERT M ELVILLE / R AINER A. M ÜLLER / W INFRIED M ÜLLER (Hg.), Geschichtsdenken, Bildungsgeschichte, Wissenschaftsorganisation. Ausgewählte Aufsätze von Laetitia Boehm anläßlich ihres 65. Geburtstags (Historische Forschungen 56), Berlin 1996, S. 433 - 445. 5 R OLF K IESSLING , Gymnasien und Lateinschulen - Bemerkungen zur Bildungslandschaft Ostschwaben im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: D ERS . (Hg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. FS zum 450jährigen Gründungsjubiläum (Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen a. d. Donau 100), Dillingen a. d. Donau 1999, S. 243 - 270; W ILFRIED A LBRECHT , 400 Jahre Protestantisches Kollegium bei St. Anna, in: Anna-Kolleg Augsburg (Hg.), FS zum 400jährigen Bestehen des Protestantischen Kollegiums von St. Anna in Augsburg, Augsburg 1982, S. 14 - 40; W OLF - RAM B AER / H ANS J OACHIM H ECKER (Hg.), Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg [Ausstellung des Stadtarchivs Augsburg in Zusammenarbeit mit der Diözese Augsburg zum 400. Gründungsjubiläum des Jesuitenkollegs St. Salvator im Domkreuzgang 6.11. - 12.12.1982], München 1982. 6 B ARBARA B ECKER -C ANTARINO , Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur 1500 - 1800, Stuttgart 1987, S. 167. 7 J ULIANE J ACOBI , Mädchen- und Frauenbildung in Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart, Frankfurt-New York 2013, S. 73 - 79. <?page no="337"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 337 bauerin und Musikerin Nannette Streicher, geb. Stein (1769 - 1833), die Kattunfabrikantin Anna Barbara Gignoux, geb. Koppmair (1725 - 1796) bis hin zur Kupferstecherin und Dichterin Christiana Rosina Spitzel, geb. Corvinus (1710 - 1740). 8 Während die Quellenlage und die Literatur zu den Elementarschulen, in der Sprache der Zeit den Deutschen Schulen, hervorragend ist, entzieht sich der private Bildungssektor jeder systematischen Untersuchung. 9 Autobiographische Dokumente jenseits von Sophie La Roche konnten bisher nicht gefunden werden. Erst im Zusammenhang mit der Forderung nach umfassenden Reformen des gesamten Schulwesens in der Aufklärung erfuhr das Thema Mädchenbildung zunehmend mehr Aufmerksamkeit. Entsprechende Vorschläge brachten seit den 1780er Jahren die beiden Rektoren des Gymnasiums bei St. Anna, Hieronymus Andreas Mertens (1743 - 1799) sowie sein Nachfolger Daniel Eberhard Beyschlag (1759 - 1835), zu Papier. Auf der Basis vieler heterogener Quellen bieten sich für einen Längsschnitt zur Entwicklung der Mädchenbildung von der Reformation bis ins frühe 19. Jahrhundert drei Bereiche an, die im Folgenden näher behandelt werden: Die Mädchenbildung an den Elementarschulen, der Lernort Familie und schließlich der lange Weg zur Gründung höherer Schulen. 8 Aus der großen Fülle an Literatur zu Sophie von La Roche seien hier nur zwei Titel genannt, die besonders auf die Bildungsfrage eingehen: I NGRID W IEDE -B EHRENDT , Lehrerin des Schönen, Wahren, Guten. Literatur und Frauenbildung im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Sophie von La Roche, Frankfurt am Main u. a. 1987; B ARBARA B ECKER -C ANTA - RINO , Die Lektüren Sophie von La Roches (1730 - 1807), in: W OLFGANG A DAM / M ARKUS F AUSER (Hg.), Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 201 - 214; A NDREA S CHWAB , Außergewöhnliche Komponistinnen. Weibliches Komponieren im 18. und 19. Jahrhundert, Wien 2019, S. 78 - 83; C HRISTINE W ERKSTETTER , Anna Barbara Gignoux (1725 - 1796), Kattunfabrikantin oder Mäzenin? Zur Entstehung einer Augsburger Legende, in: J OHANNES B URKHARDT (Hg.), Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils (Colloquia Augustana 3), Berlin 1996, S. 381 - 399; F RANZ S CHMIDT , Christina Rosina Spitzlin, eine vergessene Augsburger Dichterin, in: ZHVS 50 (1932/ 33), S. 127 - 140. 9 Die Quellen verteilen sich im Stadtarchiv Augsburg auf die Bestände Evangelisches Wesensarchiv (EWA) sowie den Bestand Kirchen und Klöster, Evangelisches Wesen und Scholarchat; im Evangelisch-Lutherischen Kirchenarchiv Augsburg findet sich ein eigener großer Bestand Scholarchat. <?page no="338"?> B A R BA RA R A JKAY 338 1. Die evangelische Mädchenbildung im Bereich der Elementarschulen Im Januar 1537 waren durch einen Ratsbeschluss die letzten verbliebenen Institutionen der Alten Kirche geschlossen worden. Bereits 1534/ 35 hatte der Rat die Aufsicht über das gesamte Schulwesen an sich gezogen. 10 Im Zusammenhang mit der Einführung der Kirchenordnung wurden am 29. Juni 1537 auch die sog. Deutschen Schulen der städtischen Kontrolle unterstellt und dabei die Trennung in Knaben- und Mädchenschulen angeordnet. 11 Nur in der Zwingerschule, die man 1588 einrichtete, blieb man bei der Koedukation. Hier lernten die Kinder der Stadtgardesoldaten, die in 316 einfachen Wohnungen in den Zwingerhäusern entlang der Befestigungsanlagen lebten. Die Schulhalter der Zwingerschule erhielten wie die anderen Mitglieder der Stadtgarde einen Sold und waren damit nicht auf eine gewisse Schülerzahl angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 12 Anders verhielt es sich bei den übrigen Deutschen Schulhaltern: Das Recht der Stellenbesetzung lag beim Rat, doch im Gegensatz zu den Pfarrern mussten die Schulhalter von dem Schulgeld leben, das ihnen die Eltern in jedem Quartal bezahlten. In wirtschaftlich angespannten Zeiten sahen sich allerdings viele Eltern gezwungen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen. Erst ab 1726 entschloss sich der Rat zu einer bescheidenen, aber regelmäßigen Zuzahlung aus der Stadtkasse, um solche konjunkturellen Unwägbarkeiten abzufedern. 13 Außerdem flossen aus einigen Stiftungen regelmäßig Zuwendungen an die Lehrerschaft. 14 Alle Deutschen Schulen waren 10 Zur Situation vor der Reformation vgl. M ARTIN K INTZINGER , Ich was auch ain schueler. Die Schulen im spätmittelalterlichen Augsburg, in: J OHANNES J ANOTA / W ERNER W ILLIAMS - K RAPP (Hg.), Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts (Studia Augustana 7), Tübingen 1995, S. 58 - 81. 11 R OLF K IESSLING , Humanistische Gelehrtenwelt oder politisches Instrument? Das Gymnasium St. Anna und die Bildungslandschaft Schwaben im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: K ARL -A UGUST K EIL (Hg.), Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg, Augsburg 2006, S. 11 - 29, hier 17f., 27; M ARTIN N IESSELER , Augsburger Schulen im Wandel der Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des Augsburger Schulwesens, Augsburg 1984, S. 14 - 17. 12 J ÜRGEN K RAUS , Das Militärwesen der Reichsstadt Augsburg 1548 bis 1806. Vergleichende Untersuchungen über städtische Militäreinrichtungen in Deutschland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 26), S. 183f.; L UDWIG G REIFF , Beiträge zur Geschichte der deutschen Schulen Augsburgs aus urkundl. Quellen gesammelt, Augsburg 1858, S. 32; M. N IESSELER , Augsburger Schulen (Anm. 11), S. 21. 13 D ANIEL E BERHARD B EYSCHLAG , Kurze Geschichte des bey dem evangelischen Antheil in Augsburg in den neuern Zeiten verbesserten Schul- und Erziehungswesens, Augsburg 1805, S. 19; M. N IESSELER , Augsburger Schulen (Anm. 11), S. 36 - 40. 14 L. G REIFF , Beiträge (Anm. 12), S. 85. <?page no="339"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 339 einklassig; die Frauen und Töchter der Lehrer arbeiteten mit, ihre Rolle war es, die Schulanfänger mit dem ABC vertraut zu machen. 15 Auf dem Höhepunkt der Bevölkerungsentwicklung im frühen 17. Jahrhundert mit ca. 45.000 Einwohnern lernten 1623 an zehn evangelischen Knabenschulen 826 Buben, an den zehn evangelischen Mädchenschulen 724 Mädchen. 16 Die drastischen Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges wirkten sich noch lange auf die Schülerzahlen aus. Im 18. Jahrhundert reduzierte sich die Anzahl von zunächst sieben Knaben- und ebenso vielen Mädchenschulen auf jeweils sechs. In manchen Jahren wurden mehr Mädchen als Jungen gezählt, so 1746 mit 429 Schülerinnen und 369 Schülern. 17 Beträchtliche Unterschiede weisen die Zahlen der jeweiligen Schulen auf: Nach den Angaben in den Protokollen des Scholarchats lag z. B. 1747 die geringste Schülerstärke bei den Mädchenschulen bei 31, die höchste bei 136, ähnlich groß ist die Bandbreite bei den Knaben mit 20 bzw. 135. 18 Als Erklärung muss vor allem der sozioökonomische Hintergrund der Bewohner der einzelnen Stadtteile dienen. Beim nächsten Punkt, dem Lernort Familie, wird darauf noch ausführlich eingegangen werden. Weder quantitativ noch qualitativ waren die Mädchenschulen nachrangig. Die Bewerber auf frei gewordene Schulhalterstellen unterschieden sich nicht in ihren Qualifikationen. Dies zeigen die vielen Bewerbungsschreiben, die vor allem aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg überliefert sind. Die meisten hatten alle Klassen am Gymnasium bei St. Anna absolviert und anschließend z. T. viele Jahre als Privatlehrer oder als Assistent (Adjunct) bei einem Deutschen Schulhalter zugebracht. 19 Nicht anders als bei den Pfarrern lässt sich auch bei den Pädagogen ein Hang zur Dynastiebildung beobachten. 20 Die vielen Schulordnungen für die Deutschen Schulen, die 1537, 1543, 1551, 1568, 1575, 1683, 1748 und 1773 erlassen bzw. ergänzt wurden, können als konstanter Reformbedarf und/ oder als Reformeifer interpretiert werden. 21 Verantwortung 15 L. G REIFF , Beiträge (Anm. 12), S. 88; M. N IESSELER , Augsburger Schulen (Anm. 11), S. 29f.; M ARTIN N IESSELER , Schulvolkskunde der Elementarschulen in der freien Reichsstadt Augsburg, Augsburg 1970, S. 43 - 45. 16 L. G REIFF , Beiträge (Anm. 12), S. 35. 17 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 1: Protokoll vom 17.9.1746. 18 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 1: Protokoll vom 18.3.1747 und 16.9.1747; die statistische Entwicklung der Schülerzahlen zwischen 1689 und 1807 findet sich in den sog. Deutschen Schulkatalogen; StadtA Augsburg, EWA 1127, Tom. 1 - 40. 19 StadtA Augsburg, EWA 1124: Acta die deutschen Schulhalter betreffend. 20 Am bekanntesten ist sicher die Dynastie der Hainzelmann, deren Vertreter sich von 1552 bis ins frühe 18. Jahrhundert auf Lehrerstellen nachweisen lassen; M AX R ADLKOFER , Die schriftstellerische Tätigkeit der Augsburger Volksschullehrer im Jahrhundert der Reformation, Augsburg 1903, S. 41f. 21 L. G REIFF , Beiträge (Anm. 12), S. 11f., 16 - 20, 29, 33, 36 - 38, 84 - 89. <?page no="340"?> B A R BA RA R A JKAY 340 dafür trug das Scholarchat. Bereits in der Schulordnung des Jahres 1537 hatte der Rat diese Schulaufsichtsbehörde sowohl für die Deutschen als auch die Lateinischen Schulen eingerichtet. Seit 1551 setzte sie sich aus drei Vertretern des evangelischen Ratsteils und einem Ratskonsulenten (Justiziar) zusammen. In ihren Händen lagen die Leitung, Aufsicht und Organisation des gesamten evangelischen Schulwesens. 22 Die vier Scholarchen trafen sich für ihre Arbeit in der Konventstube, einem Raum über dem Westflügel des Kreuzgangs von St. Anna, nicht im Rathaus. Dieser Umstand dürfte auch die bis heute auf zwei Standorte verteilten Quellen erklären. 23 Anders als zum Beispiel in Memmingen war kein Pfarrer im Scholarchat vertreten. 24 Bei den Lerninhalten machte man keinen Unterschied zwischen Knaben- und Mädchenschulen. Als Basis diente stets der Katechismus, oder wie es zwei Visitatoren 1753 formulierten: das catechisieren, als das hauptwerk in einer Schul. 25 Einzige Ausnahme der geschlechtsneutralen Schulordnungen bildete der § 11 in der Ordnung von 1575, in der es heißt: Es sollen auch die Schuelmayster und Schuelmaysterin, so mägdlen lernen, gar kain Comedia halten, Bey Straff sechs gulden müntz. 26 Quellen zum konkreten Ablauf des Unterrichts sind selten. 1735 mussten alle 13 Deutschen Schulhalter ihre wöchentlichen Stundenpläne (Lektionen) dem Scholarchat darlegen. 27 Der Mädchenschulhalter und Schreibmeister Hieronymus Tochtermann (1683 - 1755) hat auf diese Anforderung des Scholarchats am 16. Oktober 1735 eine besonders ausführliche Beschreibung seiner Lerneinheiten verfasst und damit detaillierte Einblicke in den Ablauf einer Schulwoche gewährt. Zu dieser Zeit war seine Mädchenschule in der Jakobervorstadt mit weit über 100 Schülerinnen eine der größten in Augsburg. In der Sechs-Tage-Woche fand der Unterricht montags, 22 P AUL VON S TETTEN , Beschreibung der Stadt Augsburg, nach ihrer Lage, Verfassung p. mit beygefügtem Grundriß, Augsburg 1788, S. 83f. 23 Vgl. Anm. 9. 24 A NGELA S CHLENKRICH , Elementarbildung im Zeitalter der Aufklärung? Das niedere Schulwesen in den Territorien des Stifts Ottobeuren und der Reichsstadt Memmingen, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 10), Augsburg 2005, S. 229 - 283, hier 239; in Memmingen war es der jeweilige Superintendent, vergleichbar mit der Stellung des Seniors in Augsburg. 25 Die Visitatoren, Georg Adolf Demamal (1705 - 1759), Diakon bei St. Ulrich, und Hieronymus Sperling, Kupferstecher (1695 - 1777), besuchten im Auftrag des Scholarchats die Tochtermännische deutsche Mägdlein Schule am 12. und 13. November 1753, um die pädagogischen Fähigkeiten des Sohnes von Hieronymus Tochtermann zu beurteilen. Ihren Bericht schrieben sie am 15.11.1753 nieder; Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 37: Akten die Anstellung der deutschen Schulhalter betreffend. 26 L. G REIFF , Beiträge (Anm. 12), S. 37, Nr. 11. 27 Marcel G. R OETHLISBERGER , Der Augsburger Kalligraph Hieronymus Tochtermann, in: Librarium 46 (2003) 1, S. 2 - 24. <?page no="341"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 341 dienstags und freitags am Vor- und Nachmittag von 8 Uhr bis 10 Uhr und von 13 Uhr bis 16 Uhr statt, Mittwoch, Donnerstag und Samstag nur am Vormittag. Die Kinder verteilten sich entsprechend ihres Leistungsstands auf neun Gruppen, von Tochtermann als Ordnungen bezeichnet. 28 Die Woche startete mit einem Lied: Komm hl. Geist und sie endete mit einem Lied: Nun danket alle Gott. Sämtliche Buchstabier-, Schreib- und Leseübungen hatten den Katechismus bzw. das Alte und Neue Testament zum Inhalt. Die besten unter den älteren Schülerinnen beschäftigten sich auch mit Jesus Sirach. An den Samstagen wurde der jeweilige Abschnitt des Evangeliums für den Gottesdienst am Sonntag vorbereitet. Während die Kleinen durch die Ehefrau, den Sohn und einen › Collaborateur ‹ beschult wurden, kümmerte sich Tochtermann um die älteren Schülerinnen. Er setzte dabei ganz auf das Prinzip des Wettbewerbs, am Freitagnachmittag stand immer ein › Schriftenstechen ‹ auf dem Stundenplan. Dazu sammelte er die Schriften, die unter der Woche angefertigt worden waren, zusammen und ordnete sie nach der Leistung. Tochtermann selbst gilt heute als meisterhafter Kalligraph, ebenso sein Sohn Tobias (1716 - 1780), dem 1754 die kleine Knabenschule bei Hl. Kreuz übertragen wurde. 29 Trotz der vielen Schülerinnen begleitete Hieronymus Tochtermann auch einige seiner Schützlinge auf ihrem weiteren Lebensweg. Zum Tode der 26-jährigen Wirtin Maria Sabina Stemmer, geb. Lutz, die im Kindbett verstorben war, veröffentlichte er ein langes Gedicht. 30 Seiner ehemaligen Schülerin Jacobina Catharina Renz hatte er offenbar ein Hochzeits = Carmen versprochen. Darin heißt es u. a.: Was ich, als Lehrer, Ihr zum Nutzen vorgeschrieben, darinnen wuste Sie sich auch geschickt zu üben, und in der Rechen = Kunst, die jeder brauchen kann, hat auch die Jungfer Braut sich wohl hervorgethan. 31 Demnach lehrte Tochtermann durchaus auch den Umgang mit Zahlen. Bei Durchsicht aller Stundenpläne der Lehrer von 1735 zeigt sich, dass nur bei einigen Zeitfenster für den Rechenunterricht aufgeführt wurden. Johann Tobias Küsel, Mädchenschulhalter auf dem Kreuz, hatte am Dienstag- und Freitagvor- 28 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 37: Die Organisation der deutschen Schulen. 29 M. G. R OETHLISBERGER , Der Augsburger Kalligraph Hieronymus Tochtermann (Anm. 27); W OLFGANG M AYER , Hieronymus Tochtermann, Mägdlein-Schulhalter und Schreibmeister, in: D ERS ./ K ARL -G EORG P FÄNDTNER , Vorschrifft, Teutschlateinisch- und französischer Schrifften/ [2], Kommentar zur Kunstbuch-Edition, Luzern 2019, S. 10 - 13. W OLFGANG M AYER , Tobias Tochtermann. Ein Augsburger Schreibmeister in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Codices manuscripti & impressi 142/ 143 (November 2022), S. 27 - 47, hier 28f. 30 H IERONYMUS T OCHTERMANN , Acht Tage sind noch kaum verstrichen und verschwunden, da Gott Frau Stemmerin mit einem Sohn entbunden […], so will bey Ihrem Sarg und Bahr ein Freund, der einst Ihr Lehrer war, Ihr treuer Tochtermann, mit diesem Blat erscheinen, Augsburg 1741. 31 H IERONYMUS T OCHTERMANN , Es ist nunmehr Herr Leopold der lieben Jungfer Renzin hold, die Er zu Seinem Schatz erlesen; drum zeigt der alte Tochtermann mit seiner eignen Handschrifft an, wie lieb ihm diese Wahl gewesen, Augsburg 1741. <?page no="342"?> B A R BA RA R A JKAY 342 mittag Rechnen auf seinem Unterrichtsplan; doch offenbar galt das Augenmerk des Scholarchats ganz dem Katechismusunterricht und die Schulhalter versuchten, diesem Schwerpunkt Rechnung zu tragen. Der ausführliche Visitationsbericht der Scholarchen vom 9. Juli 1725 behandelt ebenfalls ausschließlich Verbesserungsvorschläge im Zusammenhang mit dem Katechismus. 32 Zu den Schulbüchern an den evangelischen Deutschen Schulen Augsburgs hat bereits Ludwig Greiff alles Wesentliche zusammengefasst. 33 Unerwähnt ließ er den Wandel im individuellen Bestand der einzelnen Lehrer. Im Jahr 1748 mussten die Deutschen Schulhalter dem Scholarchat ihren Besitz an Schulbüchern auflisten. Tochtermanns Übersicht zeigt zum einen die stark pietistische Ausrichtung; zum anderen war er religionsdidaktisch ganz auf der Höhe seiner Zeit, d. h. er bemühte sich um memoriergeeignete Lehrbücher. 34 Neben 15 Bibeln verschiedenster Verleger, einem handgeschriebenen Choralbuch und einer Ausgabe von Kirchenmusiken besaß er den Klassiker, D. Phil. Jacob Speners Catechismus-Tabellen aufgeschlüsselt in ein Format von Fragen und Antworten, der zarten Jugend zum besten verfasset von Johann Friederich Starck, 1717 erschienen; ferner neun Exemplare von Conrad Daniel Kleinknechts Das Neue Testament unseres Herrn und Heylandes Jesu Christi mit Zusammenfassungen der Kapitel in Reimformen, 1740 in Ulm publiziert; des Weiteren 15 Exemplare eines Kinderkatechismus des Augsburger Pfarrers Johann Martin Christell, 1740 in Augsburg gedruckt; 35 außerdem von Johann Jakob Rambach (1693 - 1735), dem Nachfolger von August Hermann Francke in Halle, Der wohlunterrichtete Catechet, das ist Deutlicher Unterricht Wie man der Jugend Auf die allerleichteste Art Den Grund der Christlichen Lehre beybringen könne. Rambachs 1734 in Jena veröffentlichte Schrift gilt als eine der ersten Werke, die die Methode des Unterrichtens des Katechismus in den Vordergrund stellten. 36 Nicht fehlen durfte von Johann Christian Rende (1676 - 1764), Inspektor und Katechet des Augsburger Armenhauses, Kurtze Erklärung der Evangelien auf alle Son[n]- Festu. Feyertage des gantzen Jahrs mit beygefügten Fragen/ worauf die Antwort aus der Erklärung zu nehmen, der lieben Jugend zum Besten verfasset, 1747 in Augsburg herausgebracht; das Lehrbuch stand noch 1883 in Bayern auf der Liste zugelassener Schulbücher für den evangelischen Religionsunterricht. 37 Rende stammte aus Eisenach, hatte in Jena und Halle Theologie studiert und war von August Hermann 32 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 40: Verbesserungsvorschläge der Visitatoren. 33 L. G REIFF , Beiträge (Anm. 12), S. 61f., 96 - 98. 34 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 37: Inventarium der Bücher. 35 J OHANN M ARTIN C HRISTELL , Historischer Katechismus / darinnen die vornehmste Biblische Geschichte der lieben Jugend durch Frag und Antwort / in möglischter Kürtze und Deutlichkeit / beygebracht werden, Augsburg um 1740. 36 B ERND S CHRÖDER , Religionspädagogik (Neue Theologische Grundrisse), Tübingen 2012, S. 90. 37 S EBASTIAN F ESSMANN (Hg.), Systematische Zusammenstellung der gebilligten Lehrmittel im Königreich Bayern […] , Ansbach 1883, S. 92. <?page no="343"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 343 Francke nach Augsburg vermittelt worden. 38 Rende bot auch für Externe einen kostenlosen Religionsunterricht von wöchentlich vier Stunden an. Bei diesen Schülern handelte es sich häufig um junge auswärtige Lehrlinge und Mägde, aber auch um Glaubensflüchtlinge aus dem Defereggental und Salzburg sowie um Konvertiten. 39 Mit der Zulassung zum Abendmahl endete die Unterweisung. Tochtermann listete kein Rechenbuch auf. Erst in einer Aufstellung des Nachfolgers im Jahr 1773 findet sich Christoph Friedrich Wurster, Die selbst lehrende Rechen- Kunst, sonderlich denen Herrn Beamten, Scribenten und Handlungs-Beflissenen zum Dienst ans Licht gegeben, Tübingen 1772. Auch das Fach Deutsch wurde den Mädchen 1773 ohne Bezug auf den Katechismus unterrichtet. Dazu diente Joh. Christoph Wolfens gründlicher und vollkommener Unterricht zur Rechtschreibung der deutschen Sprache, [ …] Allen jungen Leuten, in und außer den Schulen, ingleichen dem Frauenzimmer, wie auch erwachsenen Personen […] zum Besten […] . Dieses Lehrbuch war schon 1749 in Hof und Bayreuth veröffentlicht worden. Der nahezu revolutionäre Richtungswechsel bei den Lehrbüchern steht im Zusammenhang mit der neuen Schulordnung von 1773. Sie sollte den neuern Grundsätzen der Erziehung auch in den Elementarschulen Rechnung tragen und die Eltern selbst zur Mitwirkung an der verbesserten Erziehung einladen. 40 Auf dem Arbeitsmarkt waren jedoch ganz andere Fertigkeiten gefragt. Ein Inserat, veröffentlicht im Augsburger Intelligenz-Blatt vom 6. April 1778 gibt einen Einblick in das Fähigkeitsprofil einer jungen evangelischen Hausjungfer, [ … ] welche auch in häusl. Geschäfften wohl erfahren, besonders in Damen frisiren, Haubenstecken, Kleider garniren, Spitzen waschen, schön nähen, und was immer zu Frauenzimmer = Arbeit gehört […] . 41 Zahlreiche Stellengesuche aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigen die individuellen Qualifikationen der Frauen. Im Januar 1819 suchte ein lediges Frauenzimmer von gesetzem Alter […] , die mehrere Jahre in Spezereihandlungen als Ladenjungfer gedient hatte, auch eine Oekonomie zu führen versteht, einen neuen Arbeitsplatz. 42 Im Oktober desselben Jahres 38 J OHANN A UGUST U RLSPERGER , Trauer-Rede über Luc. 2, 29: 32. an dem Begräbnißtage des weiland Tit. Herrn Johann Christian Rende zwey und sechzig Jahre hindurch bestverdienten Inspectoris des alhiesigen Evangel. Armenhauses, Augsburg 1764, S. 24 - 30. 39 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 9: Privatdozenten 1570 - 1737; A NDREAS L INK , Lendler, Defregger, Salzburger: arme Exulanten in Augsburg, in: D IETMAR S CHIERSNER u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte, FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 35 - 83. 40 D ANIEL E BERHARD B EYSCHLAG , Kurze Geschichte des bey dem evangelischen Antheil in Augsburg in den neuern Zeiten verbesserten Schul- und Erziehungswesens, Augsburg 1805, S. 19; zu den Schulreformen im 18. Jahrhundert: M ADLEN B REGENZER , Pietistische Pädagogik und Schulreformen im Augsburger Bildungswesen des 18. Jahrhunderts, in: R EIN - HARD S CHWARZ (Hg.), Samuel Urlsperger (1685 - 1772). Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkungen und Binnenwelt (Colloquia Augustana 4), Berlin 1996, S. 131 - 148. 41 Augsburgisches Intelligenzblatt Nr. 14 vom 6.4.1778, S. 57. 42 Intelligenz = Blatt und wöchentlicher Anzeiger von Augsburg Nr. 7 vom 23.1.1819, S. 30. <?page no="344"?> B A R BA RA R A JKAY 344 bot eine Frau ihre Dienste als Stubenjungfer oder Ladenjungfer an, da sie im Rechnen und Schreiben wohl erfahren sei. 43 In den letztgenannten Beispielen verzichteten die Inserentinnen auf Angaben zur Konfession, was auch als ein Indiz auf die schwindende Bedeutung der religiösen Zugehörigkeit am Arbeitsplatz interpretiert werden kann. Während sich die Eltern von der Schule Unterrichtsfächer wünschten, die ihre Töchter auf die zukünftigen Erwerbsmöglichkeiten hin vorbereiten sollten, beschwerten sich die Visitatoren 1748 in Anbetracht der zeitlichen und ewigen Wohlfahrt über die vielen Eltern, die ihre Töchter zu früh von der Schule nähmen, um sie entweder gleich in den Dienst zu schicken oder lieber informell an Nähschulen unterrichten zu lassen. 44 Beliebt waren offenbar auch private Handarbeitsstunden am Mittwochnachmittag, wo sich eigentlich alle Schulkinder zu den Kinderpredigten einfinden mussten. Die morgendliche Unpünktlichkeit vieler Schüler führten die Visitatoren ebenfalls auf das Desinteresse der Eltern an der Schulbildung zurück. Beim Mathematikunterricht sollten die Schulhalter […] ihre untergebene Schul-Kinder ohne Ausnahme, auch allenfalls wider der Eltern und ihren Willen, in der Rechen-Kunst, nach dem Maaße ihrer Gaben, durch die sogenannten fünff Species derselben fleißig unterrichten, und zumahl die Anfänger die Multiplications-Tabelle, oder das Einmahl Eins vor und rückwärts auswendig lernen […]. 45 Die Lehrer beklagten sich über den Wildwuchs an Bildungsangeboten, d. h. über die Konkurrenz der nicht vom Rat autorisierten billigen Lehrer. Tatsächlich waren die Grenzen zwischen den städtischen Schulhaltern und Privatlehrern jedoch fließend, denn die meisten hatten ihre pädagogische Laufbahn mit zum Teil jahrelangem Hausunterricht begonnen. Hieronymus Tochtermann und seine Frau können hier einmal mehr als Beispiel dienen: Ab 1706 war er über zehn Jahre als Hauslehrer tätig gewesen, in dieser Zeit besserte seine Frau Maria mit Nähunterricht das Familieneinkommen auf. Erst 1717 erhielt Tochtermann seine erste Schulmeisterstelle und seine Frau gab ihren Nebenerwerb auf, um beim Unterricht mitzuwirken. 46 Das Scholarchat versuchte auch den privaten Bildungssektor zu kontrollieren, indem man die Qualifikationen vom Rektor des Gymnasiums bei St. Anna überprüfen ließ und insgesamt die Anzahl der autorisierten Lehrer beschränkte. Bei der Examinierung interessierte offensichtlich ausschließlich die sattelfeste Kenntnis vom Inhalt des Katechismus. Häufig legten die Kandidaten einfach entsprechende Bestätigungen ihrer Pfarrer vor. 47 43 Intelligenz = Blatt und wöchentlicher Anzeiger von Augsburg Nr. 79 vom 6.10.1819, S. 322. 44 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 40: Verbesserungsvorschläge der Visitatoren. 45 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 40: Verbesserungsvorschläge der Visitatoren; unter den fünf Species der Rechenkunst verstand man die Zahlen-Mengenerfassung und die vier Grundrechenarten. 46 W. M AYER , Tochtermann (Anm. 29), S. 10f. 47 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 9: Privatdozenten 1570 - 1737. <?page no="345"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 345 Seit 1675 durften Privatlehrer während der öffentlichen Schulzeit keine Stunden abhalten und auch keine Kinder aus zwei oder mehr Häusern gleichzeitig unterrichten. Damit wollte man die Konkurrenz zum regulären Schulbetrieb ebenso unterbinden wie die Etablierung von Winkelschulen. 48 Doch glaubt man den Beschwerdebriefen der Lehrer, dann sah die Realität weniger geordnet aus. Als besonders dreist empfanden die Vorgeher der Deutschen Schulen 1736 den Bortenmacher N. Broßer, der nicht nur während der regulären Schulzeit Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet haben solle, sondern sogar im Garten des Silberjuweliers Carl Gutermann zusammen mit Eltern und Verwandten das Rüthenfest gefeiert habe. 49 Bis zu einem gewissen Grad halfen bei armen Familien zahlreiche Stiftungen, die das Schulgeld übernahmen oder bei wirtschaftlichen Notlagen die Fortdauer des Schulbesuchs sicherstellten. 50 Davon profitierten auch die Mädchen. Aus dem Schülerverzeichnis vom Herbst 1796 von Tochtermanns Nachfolger Johann David Ziegler in der Jakobervorstadt geht hervor, dass von seinen 76 Schülerinnen 25 von insgesamt zehn verschiedenen Stiftungen finanziert wurden. Damit dürfte seine Schule eher im Mittelfeld gelegen haben. Bei Peter Ziegler jun., der nur 33 Mädchen unterrichtete, waren 16 auf Unterstützung angewiesen. Die Berufe ihrer Väter spiegeln das differenzierte Handwerk Augsburgs wider, Weber und Färber, Maurer und Schäffler, Schuster, Schneider und Metzger bis hin zum Goldschlager und Seidenweber; ferner wurden auch einige Kinder von Taglöhnern und Hausknechten gefördert. 51 Für das Jahr 1802 veröffentlichte Beyschlag eine Statistik zum gesamten evangelischen Schulwesen. Demnach hatten im Pfingstquartal 247 Knaben und 260 Mädchen die Elementarschulen besucht, darunter waren 267 sog. Stiftungskinder. Der direkte Vergleich zwischen der Knaben- und Mädchenschule in der Bäckergasse zeigt, dass sich bei den Anteilen der Stiftungskinder keine geschlechtsspezifischen Unterschiede ausmachen lassen. Unter den 35 Jungen waren 18, die auf Stiftungskosten zur Schule gingen, bei den Mädchen zehn von 21. 52 48 Die Verordnung wurde am 3. Juli 1675 vom evangelischen Rat beschlossen; Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 37: Akten, die Hauslehrer betreffend. 49 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 37: Akten, die Hauslehrer betreffend; zum Rüthenfest in Augsburg vgl. N IESSELER , Schulvolkskunde (Anm. 15), S. 86 - 95; Broßer, Bortenmachersgeselle, taucht auch 1733 in einer Namensliste von 55 nicht examinierten Privatlehrern auf, die von den Deutschen Schulhaltern dem Rektor des Gymnasiums übergeben worden war; Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 9: Privatdozenten 1570 - 1737. 50 A NTON W ERNER , Die örtlichen Stiftungen für die Zwecke des Unterrichts und der Wohltätigkeit in der Stadt Augsburg, historisch und systematisch dargestellt, Augsburg 1899, S. 43f., 53, 56, 60, 76f., 80f. 51 Ev.-Luth. KA Augsburg, Scholarchat 13: Schulkataloge. 52 D ANIEL E BERHARDT B EYSCHLAG , Nachricht von der nunmehrigen Einrichtung des gesammten evangelischen Schul- und Erziehungswesens in Augsburg, Augsburg 1802, S. 20f. <?page no="346"?> B A R BA RA R A JKAY 346 In den Schülerlisten finden sich kaum Töchter aus wohlhabenden Familien. Um ausreichend Schulgeld zu erhalten, brauchte es viele Schüler, deshalb war es das Ziel eines jeden Deutschen Schulhalters, eine Schule in den Wohnvierteln der Handwerker, nicht der Patrizier und Kaufleute zu ergattern. Der Mädchenschulhalter Johann Ludwig Hainzelmann begründete seinen Wunsch nach einem Stellenwechsel 1681 mit dem Argument, […] weilen die ob dem Obstmarckht, und in Heyl+Gassen wohnende Eltern, mir von ihren Kindern keines in die Schul schicken, sondern dieselbe mit privat Praeceptorn versehen […] . 53 2. Lernort Familie Abgesehen von den Berufen des Baugewerbes fand auch noch im 18. Jahrhundert und darüber hinaus für die meisten Menschen Wohnen und Arbeiten unter einem Dach statt, man wechselte bestenfalls den Raum. Schon auf Grund dieser Tatsache kam dem Lernort Familie für das Gros der Kinder eine fundamentale Bedeutung zu. Christine Werkstetter hat in ihrer Studie zur Rolle der Frauen im Augsburger Zunfthandwerk deren wichtigen Beitrag zur Handwerksarbeit erforscht, mit anderen Worten: Der Gebrauch von Werkzeugen endete für die Frauen und Töchter keinesfalls beim Kochlöffel. Meistertöchter waren zwar von der formalen Ausbildung ausgeschlossen, doch sie leisteten weit mehr als Handlangerdienste in den Familienbetrieben. 54 Für Kenntnisse und Fertigkeiten, die in der Familie nicht oder nur unzureichend vermittelt werden konnten, sei es die Buchführung, Fremdsprachen oder der Musikunterricht, boten Privatlehrer ihre Dienste an. 55 Als prominentes Beispiel sei hier Susanna Jacobina Jungert (1741 - 1799) genannt, eine Schülerin des Musikdirektors bei St. Anna, Johann Gottfried Seyfert (1731 - 1772), die sowohl als Sopranistin eine tragende Rolle im Konzertleben der Reichsstadt spielte, als auch als Gesangslehrerin im Intelligenzblatt ihre Dienste anbot. 56 Jungert stellte offenbar keine Konkurrenz zu den städtischen Lehrern dar. 53 StadtA Augsburg, EWA 1124: Acta die deutschen Schulhalter betreffend. Am Obstmarkt wohnten zu Hainzelmanns Zeit etwa die Stetten, in der Heilig-Kreuz-Straße die Rehlinger und Langenmantel; G ABRIELE VON T RAUCHBURG , Häuser und Gärten Augsburger Patrizier, Berlin 2001, S. 77, 112, 114. 54 C HRISTINE W ERKSTETTER , Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert (Colloquia Augustana 14), Berlin 2001, S. 281 - 317, 498 - 500. 55 B ARBARA K ALTZ , Wie lernte man in der Frühen Neuzeit Französisch in Augsburg und Nürnberg? , in: M ARK H ÄBERLEIN / C HRISTIAN K UHN (Hg.), Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 7), Wiesbaden 2010, S. 121 - 133, hier 128f. 56 J OSEF M ANČAL , Zu Musik und Aspekten des Musikmarkts des 18. Jahrhunderts im Spiegel <?page no="347"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 347 Während in den Leichenpredigten verstorbener Männer deren Bildung im Personalteil eine detaillierte Würdigung erfuhr, beschränkte man sich bei Frauen auf sehr allgemeine Aussagen. 57 Bei Anna Maria Peller, geb. Huber (1639 - 1671), die aus einer reichen Kaufmannsfamilie stammte, lautete die barocke Beschreibung: Nachmals haben ihre liebste Eltern mit Christlicher Sorgfalt und gebührlichem Fleiß sie zur wahren Gottesfurcht / eifferigem Gebet / vernünfftiger Haushaltung / und andern Jungfräulichen Tugenden und wohlanstehenden Übungen / zum theil selber angewiesen / zum theil durch andere / sonder Ersparung einiger Unkosten / Anweisung thun lassen […]. 58 Hundert Jahre später fiel die entsprechende Passage beim Begräbnis der Maria Barbara Haußmann (1746 - 1774), Tochter des berühmten Kattunfabrikanten Johann Heinrich von Schüle (1720 - 1811) und der Catharina Barbara, geb. Christel (1723 - 1792), ähnlich floskelhaft aus: So wie sie zu der größten Freude Ihrer hochansehnlichen Aeltern immer mehr heranwuchse, so ware auch ihre einige Bemühung dahin gerichtet, sie nicht nur in den Wahrheiten der christlichen Religion, sondern auch in allen einem Frauenzimmer von ihrem Stande anständigen Wissenschaften auf das getreueste unterrichten zu lassen. 59 Die Inhalte einer für Frauen anständigen Wissenschaft lassen sich im Falle Augsburgs nur am Beispiel der Schriftstellerin Sophie La Roche (1730 - 1807) festmachen. Die Tochter des angesehenen Stadtarztes Georg Friedrich Gutermann (1705 - 1784) arbeitete täglich an der Seite der Mutter, die religiöse Erziehung war vom Pietismus geprägt. Doch wurde ich daneben auch die beste Tänzerin, lernte französisch, zeichnen und Blumen malen, sticken, Clavier spielen, und Küche und Haushaltung besorgen. 60 Eltern, die es sich leisten konnten, stellten eine Gouvernante oder einen Hauslehrer bzw. Hofmeister ein. Häufig handelte es sich bei den männlichen Erziehern der Augsburger Intelligenzzettel, in: S ABINE D OERING -M ANTEUFFEL / J OSEF M ANČAL / W OLFGANG W ÜST (Hg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (Colloquia Augustana 15), Berlin 2001, S. 391 - 432, hier 410. 57 B ARBARA R AJKAY , Zeiten des Abschieds, Zeiten des Rückzugs. Kindheit, Jugend und Alter in Augsburg 1500 - 1800, in: D IETMAR S CHIERSNER (Hg.), Zeiten und Räume - Rhythmus und Region (Forum Suevicum 11), Konstanz 2016, S. 133 - 154, hier 135 - 137. 58 J OHANNES G RÄFFE , Seeliger Stand Christglaubiger und Gottseeliger Kinder-Mütter, aus deß Apostels Worten, I. Tim. 2. 15. Das Weib wird seelig werden, durch Kinder zeugen, [et]c. Bey der weiland Edlen, Viel- Ehr- und Tugendreichen Frauen Anna Maria Deß Edlen und Vesten Herrn Jobst Christoph Pellers Ehelichen Haußfrauen, einer gebornen Hueberin von Augspurg […] Volckreicher Beerdigung [… ], Augsburg 1671 (ohne Seitenzählung). 59 J OHANN C HRISTOPH T HENN , Der Glaube an Jesum als das sicherste Verwahrungsmittel gegen alle Macht und Furcht des Todes zum wohlverdienten Angedenken der weiland Hochedelgebohrnen Hoch- Ehr- und Tugendreichen Frau Maria Barbara Haußmann gebohrner von Schüle, Ao. 1774. den 2. Jun. vor Ihrer Beerdigung in einer Haußparentation vorgestellet, Augsburg 1774, S. 21. 60 C HRISTOPH M ARTIN W IELAND (Hg.), Melusinens Sommer-Abende von Sophie la Roche, Halle 1806, S. VII. <?page no="348"?> B A R BA RA R A JKAY 348 um Universitätsabgänger. Ihre Dienste in den einflussreichen Familien erwiesen sich auch in Augsburg als Sprungbrett für eine Karriere am Gymnasium bei St. Anna, am Evangelischen Kolleg oder auf eine Pfarrerstelle. Daniel Schleißner (1760 - 1813) hatte z. B. nach dem Theologiestudium in Leipzig 1786 als Hofmeister bei der Bankiersfamilie Halder begonnen und wechselte zwei Jahre später als Hilfslehrer an das Gymnasium. 61 Für die Töchter des Hauses bedeutete die Anwesenheit eines Hofmeisters, zusammen mit den Brüdern die häusliche Schulbank zu drücken. Daran änderte der Übergang an Bayern und damit die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht zunächst nichts. Ganz ähnlich lagen die Verhältnisse auch in München. 62 Die erst 3 ½-jährige Tochter des Kunstverlegers Paul Martin Wilhelm (1757 - 1823), Sophia Friederika Regina, lernte mit ihren Brüdern in unbestimmten Stunden die Woche 2 od. 3mal das Sylabieren. 63 Die Statistiken zum Unterricht der Privatlehrer, die seit 1807 für einige Jahre überliefert sind, zeichnen ein sehr genaues Bild der Lage. Für Kinder aus den Familien vom Stande gab es offenbar weiterhin keinen Zwang, die öffentlichen Schulanstalten zu besuchen. Ein Sonderfall war sicher der königlich bayerische Finanzrat Benedikt Adam Freiherr von Liebert (1731 - 1810). Auf seinen ausdrücklichen Wunsch, seinen Enkeln soviel möglich, eine gemeinschaftliche häusliche Erziehung zu geben, genossen die sechs Kinder ausschließlich häuslichen Unterricht; als weiterer Grund wurde der Aufenthalt der Familie außerhalb der Stadt in den Frühlings- und Sommermonaten aufgeführt. 64 In der Obhut des Hauslehrers Dr. Karl Christoph Binder lernten Lieberts Enkel neben Religion, Geschichte und Geographie auch Naturlehre und Naturgeschichte, Lateinisch und Französisch sowie die deutsche Sprache und vertieften ihr Wissen durch Lese-, Schreib- und Denkübungen. Allergrößten Wert auf die häusliche Bildung seiner Tochter Elisabeth Magdalena legte auch der Entomologe und Kupferstecher Jacob Hübner (1761 - 1826), der darauf bestand, sein Kind selbst zu unterrichten, und darüber hinaus nur für zwei Wochenstunden einen Privatlehrer für Religion, Lesen, Schreiben und Gedächtnisübungen verpflichtet hatte. 65 61 J OHANN G EORG H ERTEL , Album für die Zeitgenossen des vereinigten Gymnasiums zu St. Anna in Augsburg aus den Jahren 1807 bis 1828, Augsburg 1862, S. 34. 62 C HRISTL K NAUER , Frauen unter dem Einfluss von Kirche und Staat. Höhere Mädchenschulen und bayerische Bildungspolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Miscellanea Bavarica Monacensia 165), München 1995, S. 43. 63 StadtA Augsburg, EWA 1280, Tom. III: Verzeichnisse der Schüler, die Privatunterricht erhalten: Auflistung des Privatlehrers Johann August Löffler vom 22.3.1808. 64 StadtA Augsburg, EWA 1280, Tom. II: Verzeichnisse der Schüler, die Privatunterricht erhalten. Die Auflistung des Hauslehrers Binder vom 16.3.1808 nennt sechs Enkel zwischen sieben und 16 Jahren, darunter zwei Enkeltöchter. 65 StadtA Augsburg, EWA 1280, Tom. II: Verzeichnisse der Schüler, die Privatunterricht erhalten, Auflistung des Privatlehrers und Mesners Johann Georg Beyer vom 1.9.1808. Zu Jakob Hübner vgl. E BERHARD P FEUFFER , Jakob Hübner (1761 - 1826): 3598 Schmetterlinge <?page no="349"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 349 Aus den Aufstellungen der Privatlehrer geht klar hervor, dass die meisten Eltern bei ihren Söhnen wie Töchtern eine Kombination aus dem Besuch einer öffentlichen Schule und zusätzlichen häuslichen Lerneinheiten wählten. Die beiden Töchter des städtischen Baudirektors Balthasar von Hößlin (1759 - 1845) besuchten z. B. 1807 die 1803 gegründete Töchterschule Beyschlags und vertieften ihre Kenntnisse im Rechnen und Schreiben noch beim Hauslehrer Emanuel Gottlieb Ebner. 66 Die Töchter des Pfarrers von St. Ulrich Ludwig Friedrich Krauss (1757 - 1851), neun und zehn Jahre alt, mussten sich neben dem Besuch des Stetten-Instituts wöchentlich in Kalligraphie üben, ebenso ihr elfjähriger Bruder, der außerdem noch vom selben Privatlehrer Stunden in Arithmetik erhielt und ansonsten am Gymnasium bei St. Anna zur Schule ging. 67 Die hier ausgewerteten Listen stammten nur von den autorisierten Privatlehrern und betreffen die Kernfächer, also Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion. Buchführung, Musik und moderne Fremdsprachen interessierten die staatliche Aufsicht offenbar nicht. Unter den Kindern der Handwerker hatten vor allem jene einen Bedarf an Privatunterricht, die dringend bei den häuslichen Arbeiten gebraucht wurden. Sie sollten dann nach Möglichkeit die neu eingerichteten Sonntagsschulen besuchen. 68 Daneben entstanden auch auf private Initiative hin Industrieschulen für Jungen und Mädchen aus ärmeren Familien. Die Mädchen lernten dort vor allem Nähen, Sticken und Stricken. 69 Doch schon für die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts gilt: Schulstunden in häuslicher Atmosphäre waren den Verfechtern der Aufklärung in vielerlei Hinsicht suspekt. In Augsburg kämpfte vor allem der Rektor des Gymnasiums bei St. Anna, Hieronymus Andreas Mertens (1743 - 1799), seit 1785 für die Einrichtung eigener höherer Mädchenschulen. Als Medium für seine Vorschläge wählte er die öffentlichen Reden, die er im Zusammenhang mit der Prämienausteilung an die Schüler seines Gymnasiums hielt; alle diese Reden wurden auch gedruckt. Die Umsetzung seiner Forderungen erlebte Mertens allerdings nicht mehr. in getreuester Nachahmung der Natur, in: D ERS . (Hg.), Von der Natur fasziniert … Frühe Augsburger Naturforscher und ihre Bilder, Augsburg 2003, S. 34 - 83. 66 StadtA Augsburg, EWA 1280, Tom. I: Verzeichnisse der Schüler, die Privatunterricht erhalten, Auflistung des Hauslehrers Emanuel Gottlieb Ebner vom 2.12.1807. 67 StadtA Augsburg, EWA 1280, Tom. I: Verzeichnisse der Schüler, die Privatunterricht erhalten, Auflistung des Hauslehrers Johann Andreas Dannenmann vom 2.12.1807. 68 D ANIEL E BERHARDT B EYSCHLAG , Etwas über die Sonntagsschulen in mittlern und größern, besonders aber in Fabrik-Städten, Augsburg 1803. 69 U LRIKE L AUFER , Gewerbliches Schulwesen im 19. Jahrhundert in Augsburg, in: R AINER A. M ÜLLER (Hg.), Aufbruch ins Industriezeitalter. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns von 1750 - 1850, Bd. 2, München 1985, S. 584 - 598, hier 593 - 595. <?page no="350"?> B A R BA RA R A JKAY 350 3. Der lange Weg zur Gründung höherer Töchterschulen Vor der versammelten Schulfamilie des Gymnasiums bei St. Anna fragte Mertens 1785: Und ist denn die Aufklärung nur ein Erbtheil des männlichen Geschlechtes? Seine Antwort war: aber Aufklärung gehört für alle Stände, und für jedes Geschlecht. 70 Drei Jahre später konkretisierte er seine Überlegungen. Er plädierte für die Einrichtung einer allgemeinen Frauenzimmerschule mittlerer Jahre, weil das gemeinschaftliche Lernen in Schulen bey diesem Alter seine ausgemachten Vorzüge vor dem sehr kostbaren Privatunterricht hat. 71 Der Einfluss des weiblichen Geschlechts auf die Erziehung sei ungemein groß, in gewissem Verhältnis noch größer als der des männlichen Geschlechts. Der Unterricht sollte durch dazu ausgebildete unverheiratete Frauen, nicht von Männern, gestaltet werden, bei einer idealen Klassenstärke von nur 15 Kindern. 1793 unternahm Mertens einen weiteren Anlauf, um seinem Ziel näher zu kommen. Diesmal referierte er zunächst ganz allgemein über die Wichtigkeit öffentlicher Erziehungsanstalten: alles, alles was öffentlich ist, treibt mehr zur Beobachtung der Pflicht an, als was nicht öffentlich ist. 72 Auch Strafen und Belohnungen würden durch die Öffentlichkeit größere Kraft erhalten als durch die Gleichgültigkeit im häuslichen Leben. Zudem hätten öffentliche Schulen die glückliche Wirkung, dass sie den edlen Gemeingeist (in Klammern setzte er den englischen Begriff des the public spirit) hervorbrächten; besonders wichtig sei dies für die Kinder aus den vornehmen Ständen, denn sie bedürften als zukünftige Inhaber von Führungspositionen unbedingt der Bildung der geselligen Tugenden und der Bildung des Herzens. Das Prinzip der Öffentlichkeit hatte bei Mertens pädagogischen Vorstellungen universelle Bedeutung. Dagegen trennten die Geschlechterrollen seine Erziehungskonzepte grundlegend. Das männliche Geschlecht hat, wie wir wißen, mancherley Berufsarten, unter denen gewählt werden muß; das weibliche Geschlecht hat diese Unterschiede nicht, sondern schränkt sich auf die Einförmigkeit der Oekonomie und der häuslichen Geschäfte ein. 73 70 H IERONYMUS A NDREAS M ERTENS , Rhapsodische Beobachtungen über Erziehung und Unterricht der Jugend beyderley Geschlechts. Eine Einladungsschrift zu den öffentlichen Schulreden und der damit verbundenen jährlichen Austheilung der Schulpreise […], Augs burg 1785, S. 16. 71 H IERONYMUS A NDREAS M ERTENS , Gedanken zu weitern Betrachtungen über Erziehung und Unterricht für das Augsburgische Publikum: Ein Scherfchen, auf den Altar der Vaterstadt gelegt […], Augsburg 1788, S. 15. 72 H IERONYMUS A NDREAS M ERTENS , Die Nothwendigkeit und Wichtigkeit öffentlicher Erziehungsanstalten aus philosophischen Staatsgründen erwogen […], Augsburg 1793, S. 15. 73 H. A. M ERTENS , Die Nothwendigkeit und Wichtigkeit öffentlicher Erziehungsanstalten (Anm. 72), S. 22. <?page no="351"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 351 Abb. 1: Postkarte des Stettenbunds (Vereinigung ehemaliger Schülerinnen des Stetten- Instituts) von 1955; Entwurf: Dagmar Schulze-Herringen, 7. Klasse. Deshalb brauchte es auch keine parallelen Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen für Knaben und Mädchen. - Gott behüte vor weiblichen Universitäten! Dann würde es schlimm in der Küche stehen! , 74 heißt es wenige Zeilen später. 74 H. A. M ERTENS , Die Nothwendigkeit und Wichtigkeit öffentlicher Erziehungsanstalten (Anm. 72), S. 23. <?page no="352"?> B A R BA RA R A JKAY 352 Für die Umsetzung der Pläne von Frauenzimmer- und Töchterschulen war in den 1790er Jahren allerdings das Loch im Stadtsäckel viel zu groß. Nur dank einiger privater Initiativen kam es kurz nach der Jahrhundertwende gleich zur Eröffnung zweier Einrichtungen. Mertens Nachfolger Daniel Eberhard Beyschlag (1759 - 1835) richtete zusammen mit weiteren Lehrern des Gymnasiums bei St. Anna im benachbarten Rektoratshaus eine höhere Töchterschule ein, die am 1. Februar 1803 eröffnet wurde. Nicht mehr als 25 Mädchen sollten wöchentlich 33 Schulstunden besuchen. Die monatlichen Kosten für die Eltern lagen bei 1 Gulden und 45 Kreuzern. Wie lange die Schule existierte, lässt sich auf Grund der schlechten Quellenlage nicht feststellen, bei Beyschlags Tod 1835 wurde sie noch von seinem Schwiegersohn Heinrich Schmidt (1788 - 1865), ebenfalls Lehrer am Gymnasium bei St. Anna, betrieben. 75 Der von den zeitgenössischen Pädagogen geprägte Begriff der Töchterschule sollte die Nähe dieses Schultyps zum Lernort Familie ausdrücken. Das Stetten-Institut, das am 2. Januar 1806 mit 21 Schülerinnen in zwei Klassen eröffnet wurde, kam diesem Idealbild deutlich näher als Beyschlags Einrichtung. Organisatorisch ähnlich strukturiert wie das 1582 gegründete Evangelische Kolleg, gab es auch hier Internatsplätze. Doch während das Kolleg als Kaderschmiede für die evangelischen Funktionseliten diente und in Kombination mit den zahlreichen Stipendien aus Stiftungen gute Aufstiegsmöglichkeiten für die Kollegiaten bot, hatte Anna Barbara von Stetten (1754 - 1805) eher das Gegenteil im Sinn: Bei den Mädchen, die als Alumnen in die Pensionsanstalt aufgenommen wurden, sollte es sich nach dem Willen der Stifterin um Kinder handeln, für die auf Grund ihres Standes das Waisenhaus nicht als passend erschien. Es galt, ihren sozialen Abstieg zu verhindern. Einen Freiplatz erhielten z. B. 1818 Johanna Auguste Theresia Ilsung, Leutnantstochter, Luise Karoline Baur, Tochter des hoch verschuldeten Traubenwirts, sowie Christiana Johanna Elisabeth Burkhard, Tochter eines Polizeisoldaten. 76 Die Alumnae zwischen elf und 17 Jahren wohnten im ehemaligen Haus der Stifterin und speisten zusammen mit der Direktorin. Familie, nicht Kloster, sollte laut Testament dieses Internat sein und überhaupt aller klösterlicher Anstrich, auszeichnende Kleidung, Kopfhängerei und dergleichen mehr sollen aus diesem Institut verbannt sein. 77 Und damit es ganz dem Charakter eines elterlichen Hauses gleiche, sollten die Mädchen ein Christgeschenk (Weihnachtsgeschenk), Heiratsgut sowie ein Hochzeitsgeschenk bekommen. 78 Dank der üppigen finanziellen Grundlage für die bürgerliche Töchter- 75 Intelligenzblatt und wöchentlicher Anzeiger Nr. 28 vom 17.3.1835, S. 118, Nekrolog Beyschlag. 76 StadtA Augsburg, Stiftungen 249 - 251a: Freiplätze im Barbara von Stettischen Institut. 77 K. M EINERS , Plan und Einrichtung einer Bürgerlichen Töchterschule (Anm. 1), S. 146. 78 K. M EINERS , Plan und Einrichtung einer Bürgerlichen Töchterschule (Anm. 1), S. 147. <?page no="353"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 353 schule mit der Nebenstiftung des Aussteuerinstituts in Höhe von 90.000 Gulden nebst den Immobilien gab es bei der Umsetzung keine Probleme. 79 Pädagogisch folgte das Institut ganz den Vorschlägen Mertens ’ . Die Leitung der Schule lag in den Händen einer Direktorin. Noch zu Lebzeiten hatte Anna Barbara von Stetten für diese Position ihre Patentochter Maria Barbara Degmair (1773 - 1856), die älteste Tochter des Pfarrers und Seniors bei St. Anna, Georg Andreas Degmair (1740 - 1816), bestimmt. 80 Die Stifterin wollte dem fortschreitenden Geist der Zeiten keine Fesseln anlegen, daher war man stets flexibel bei der Auswahl der Schulfächer. 81 Auf Wunsch der Eltern wurde bereits 1807 der Französischunterricht eingeführt, für die Förderung der naturwissenschaftlichen Stunden stand seit 1811 ein Naturalienkabinett zur Verfügung, und 1815 erwarb man auch physikalische Geräte wie eine Vakuumpumpe und eine Elektrisiermaschine. 82 Während an Beyschlags Töchterschule noch 1828 Frauenzimmerarbeiten mit zehn von 33 Wochenstunden den Schwerpunkt des Unterrichts bildeten, war es am Stetten-Institut bereits 1813 der Französischunterricht, gefolgt von Deutsch und Rechnen. 83 Beyschlag pries in der Jubiläumsschrift 1828 seinen Stundenplan, der doch ganz nach den Bedürfnissen des weiblichen Geschlechts aus den gebildeten Ständen gestaltet sei. 84 Seine Frage, und wie oft ist es nicht der Fall, daß die Mutter von der Weisheit ihrer altklugen 10 oder 12 jährigen Tochter verstummen und schweigen muß? kann durchaus als Kritik an den ambitionierten Lehrplänen des Stetten-Instituts verstanden werden. 85 Unterschiede finden sich nicht nur bei der Gewichtung der Fächer. Beyschlag wollte die höhere Mädchenbildung zwar aus dem häuslichen Umfeld herausholen, doch nur, um sie andernorts weiterhin abgeschottet von der Öffentlichkeit zu unterrichten; den Lernort Familie ersetzte er durch einen externen familiären Lernort im Rektoratshaus. Öffentliche Prüfungen lehnte Beyschlag strikt ab, dies würde nur der Profilierung der Lehrer dienen, aber nichts zum tatsächlichen Leistungsstand der Schülerinnen aussagen. 86 Anna Barbara von Stetten bestimmte dagegen in ihrem Testament ausdrücklich die Einbeziehung der Öffentlichkeit in Form von Feiern, 79 M. B REGENZER , Anna Barbara von Stetten (Anm. 1), S. 150. 80 M ADLEN B REGENZER , Maria Barbara Degmair, in: Jahrbuch des Stettenbundes 1993, S. 8f. 81 K. M EINERS , Plan und Einrichtung einer Bürgerlichen Töchterschule (Anm. 1), S. 141. 82 P ETER F ASSL , 200 Jahre Stetten-Institut, in: I LONA K ARSTEN (Hg.), 200 Jahre Stetten- Institut. A. B. v. Stettensches Institut, A. B. v. Stettensche Stiftungen 1805 - 2005, Augsburg 2005, S. 130 - 166, hier 133. 83 StadtA Augsburg, Magistrat 893: Beyschlag-Schmidtsche Töchter-Schule. Im gedruckten Rechenschaftsbericht findet sich auch auf S. 16 ein Lections-Verzeichnis von 1828; P. F ASSL , 200 Jahre (Anm. 82), S. 134. 84 StadtA Augsburg, Magistrat 893: Rechenschaftsbericht (Anm. 83), S. 2. 85 StadtA Augsburg, Magistrat 893: Rechenschaftsbericht (Anm. 83), S. 3. 86 StadtA Augsburg, Magistrat 893: Rechenschaftsbericht (Anm. 83), S. 7f. <?page no="354"?> B A R BA RA R A JKAY 354 öffentlichen Prüfungen und Preisvergaben. 87 In diesem Punkt standen die Schülerinnen den Schülern des Gymnasiums bei St. Anna in nichts nach. Preiswürdig in den wissenschaftlichen Fächern war z. B. 1825 die Alumnin Adelheid Neuhofer (1810 - 1867), Tochter des früh verstorbenen Diakons von St. Anna, Georg Adam Neuhofer (1773 - 1867). 88 Sie verbrachte acht Jahre im Institut, anschließend einige Zeit in einem Pensionat in Genf und folgte 1856 als zweite Direktorin auf Barbara Degmair. 89 4. Resümee Abgesehen vom Verbot, Schulkomödien aufzuführen, machte das Scholarchat von 1537 bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit keinerlei Unterschiede zwischen den deutschen Knaben- und Mädchenschulen. Selbst bei der Unterstützung durch Stiftungen wurden Mädchen nicht nachrangig behandelt. Dieses Ergebnis schließt damit an die Befunde Christine Werkstetters zur Rolle der Frauen im Augsburger Zunfthandwerk an. Lehrlinge und Meisterstöchter starteten mit den gleichen schulischen Vorkenntnissen in die Jugendphase. 90 Die Töchter der Patrizier und Kaufleute konnten erst im frühen 19. Jahrhundert jenseits ihres Elternhauses die Schulbank drücken. Ihre Bildungsbiographien lassen sich daher kaum detailliert rekonstruieren. Da ihre Brüder im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts immer später das Elternhaus zum Studium bzw. zur Ausbildung im Handel verließen, dürften die Schwestern auch länger vom gemeinsamen Unterricht durch den Hofmeister bzw. die Privatlehrer profitiert haben. 91 Der Weg bis zur Gründung von weiterführenden Mädchenschulen jenseits der Deutschen Schulen war mit dem Blick auf die Zeitachse sehr lang, aber aus der Perspektive der Topographie ausgesprochen kurz. Als Gebäude des Stetten-Instituts diente bis 1969 das ehemalige Wohnhaus der Stifterin, ein stattliches Anwesen in bester zentraler Wohnlage und nur wenige Gehminuten entfernt vom Gymnasium bei St. Anna und vom Evangelischen Kolleg. Die Töchterschule Beyschlags lag direkt neben dem Gymnasium im Annahof. 87 K. M EINERS , Plan und Einrichtung einer Bürgerlichen Töchterschule (Anm. 1), S. 162. 88 StadtA Augsburg, EWA 1168a: Verzeichnis der Schüler und Schülerinnen, welche im Jahre 1824/ 25 sowohl in der höhern Bürgerschule, als in den Werktags-Sonntags- und Industrieschulen der Stadt Augsburg Unterricht erhielten. Den Eltern und Schulfreunden gewidmet, Augsburg 1825. 89 C AROLINE B AUR , Immortellenkranz auf ein frisches Grab, Augsburg 1867. 90 C H . W ERKSTETTER , Frauen im Augsburger Zunfthandwerk (Anm. 54), S. 289 - 291. 91 B. R AJKAY , Zeiten des Abschieds (Anm. 57), S. 142 - 144. <?page no="355"?> F AMILIE , NICHT K LO S TER . E VANGELIS CH E M ÄDCH ENB ILDUNG IN A UG S B UR G 355 Während auf katholischer Seite das niedere und das höhere Schulwesen, ebenso wie auch alle Pfarreien, in der gesamten reichsstädtischen Zeit in Orden und andere kirchliche Gemeinschaften eingebettet war, brauchte es auf evangelischer Seite stets private Initiativen seitens der Bürgerschaft, die durch die Unterstützung des evangelischen Ratsteils ebenso beeindruckende wie lange Erfolgsgeschichten schrieben. Dies gilt für das Evangelische Kolleg ebenso wie für das Armenhaus und für das Stetten-Institut. 92 Trotz aller politischen und gesellschaftlichen Veränderungen sind alle drei Einrichtungen bis heute aktiv. 92 Unter der Bezeichnung › Stiftung Evangelisches Waisenhaus und Klauckehaus ‹ führte man das ursprünglich eigenständige Armenhaus, im 19. Jahrhundert Kinderarmenhaus genannt, 1964 mit dem evangelischen Waisenhaus zusammen; H ERMANN B ÖVING , Historie des evangelischen Armenhauses, des evangelischen Armenkinderhauses, des Klauckehauses und der J. Klaucke’schen Stiftung in Augsburg, hg. v on der J. G. Klaucke’schen Stiftung, Augsburg 2005. <?page no="357"?> 357 M ARIELUISE K LIEGEL Übe früh dich hauszuhalten. Die Vermittlung textiler Alltagskompetenzen in der Mädchen- und Lehrerinnenbildung Das Überhandtuch aus dem Hausstand meiner Urgroßeltern schmückt, begleitet vom Foto der Stickerinnen, bis heute eine Wand der Küche. Oft ein Grund zum Schmunzeln, besonders wenn die Anmerkung der Urgroßmutter zitiert wird, ihre Töchter hätten doch den Buchstaben › r ‹ vor das -auszuhalten sticken sollen, so dass man früh lerne, sich › rauszuhalten ‹ . Das Überhandtuch ist ein Grund zur Frage nach dem Sinn und Zweck eines solchen textilen Objektes mit diesem Sinnspruch, der direkt in das Thema dieses Beitrags überleitet. Die Geschwister Müller (Abb. 2) haben Anfang des 20. Jahrhunderts die staatliche allgemeinbildende Volksschule am Ort besucht und u. a. am Handarbeitsunterricht für Mädchen teilgenommen. Auf dem historischen Foto präsentieren sie stolz einige ihrer dort erlernten und geschulten weiblichen Fähigkeiten: die Nadelarbeit und das Lesen. Sie stehen stellvertretend für die bürgerlichen Frauen der Zeit, die diese Mädchenbildung durchliefen, um kompetent einen Haushalt führen sowie die Kinder adäquat erziehen und bilden zu können. Abb. 1: Überhandtuch, Putzarbeit um 1920, gestickt von den Geschwistern Müller aus Lüdenscheid. <?page no="358"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 358 Abb. 2: Maria, Hildegard, Magdalene und Elisabeth Müller aus Lüdenscheid dokumentieren die weibliche zeitgenössische Bildung, um 1925. In diesem Beitrag gehen wir auf die Spurensuche nach den weiblichen textilen Bildungsorten im 19. und 20. Jahrhundert, Bildungsorte, die im regionalen Bezug zur Fachtagung stehen. Erkenntnisreich ist dabei der Blick in die allgemeine pädagogische und didaktische Entwicklung des Schulwesens mit dem besonderen Fokus auf die Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen und den damit einhergehenden Anforderungen. Für dieses Forschungscluster wird besonders das 19. Jahrhundert in den Blick genommen, dort wo sich die haushaltsbezogene Bildung für Mädchen aus dem privaten und familiären Umfeld in öffentliche und private Schulformen verlagerte. Im fachwissenschaftlichen Diskurs kristallisierte sich die Forschungsthese heraus, dass der spezifische Handarbeitsunterricht für Mädchen mit der zunehmenden Professionalisierung durch ein schulisches Bildungsformat einer der zentralen Schritte in die Forderung nach einer institutionalisierten höheren Mädchenbildung nach dem Vorbild der höheren Knabenbildung war. In der Fachliteratur lassen sich zwei Beschulungsbereiche in der Mädchenbildung festmachen. Zum einen ist es die Professionalisierung der weiblichen Bildung für die bürgerlichen Mädchen in ihrem späteren Wirkungskreis als Ehefrau, Hausfrau und Mutter, da Staat und Gesellschaft in der Familie ein zentrales Rückgrat für das Gemeinwohl und den Wirtschaftsaufschwung sahen. Zum anderen sind es die Verbesserungsbestrebungen für die Bildung der Armen, im Speziellen für die Mädchen und Frauen, die zum Lebensunterhalt der Familie Geld verdienen mussten. Das berufliche Umfeld waren hier Fabrik- und Heimarbeit sowie Care-Aufgaben in wohlhabenden Haushalten als Dienst- oder Kindermädchen. 1 1 K ARIN S TAMMLER , Von »Schwestern«, »Schutzbefohlenen« und »Rohen Weibern aus dem Volke«. Frauenbewegung und Bildung von Frauen aus den handarbeitenden Klassen um <?page no="359"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 359 1. … meine Töchter zum Haushalten und allerlei anständigen Arbeiten […] anhalten lassen Im Zuge dessen gründeten besonders Frauen bzw. Frauenvereine private Mädchenschulen mit unterschiedlichen Denominationen. Hingewiesen sei hier auf die erste Mädchengewerbeschule (1848/ 49) von Emilie Wüstenfeld (1817 - 1874) in Hamburg, in der die Mädchen aus dem Arbeiterstand von Vereinsmitgliedern ehrenamtlich beschult wurden. 2 Eine andere Bevölkerungsgruppe hatte Königin Katharina von Württemberg (1788 - 1819) 1816 bei der Gründung ihres Stiftes in Stuttgart im Blick, hier wurden familienbezogene Bildungsinhalte an die gutbürgerlichen Stadtmädchen aus den höheren und mittleren Ständen vermittelt. 3 Für die Mädchen bedeutete die Ehe, in einem verlässlichen gesellschaftlichen Stand verortet sowie sozial und finanziell versorgt zu sein. Dazu wurden sie zur Weiblichkeit erzogen, und das Spielzeug in den wohlhabenden Familien in Form von Puppenstuben, das zugleich die zukünftige Rolle und Aufgabe trainieren sollte, ist hierzu ein anschauliches und beredtes Beispiel. 4 Zeitgenössische Denkbilder und gesellschaftliche Unabdingbarkeiten prägten und beeinflussten die Anforderungen und Inhalte der Mädchenbildung. Im Rahmen dieses Beitrags sei ein kleiner Einblick in zentrale Quellen getan, die auch mit Publikationen die Bedeutung, Funktion und Aufgabe der sog. Bildung zum Weibe fixieren. 5 Prominenter Vertreter ist sicher Joachim Heinrich Campe (1746 - 1818) mit seinem Werk › Vaeterlicher Rat für meine Tochter ‹ . 6 Zentraler Aspekt ist die ausdifferenzierte Darlegung der verschiedenen Aufgaben im Einklang mit der Wesenheit der zukünftigen Rolle seiner Tochter. Campe schreibt unter anderem, […] das wahre und beneidenswerthe Glück eines Weibes, dem es bei eigener Neigung 1848, in: E LKE K LEINAU / C LAUDIA O PITZ (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt-New York 1996, S. 51 - 65, hier 58. 2 K. S TAMMLER , Von »Schwestern«, »Schutzbefohlenen« und »Rohen Weibern aus dem Volke« (Anm. 1), S. 59. 3 Vgl. hierzu die Ausführungen in: G ISELA D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften«. Ein Rückblick auf 200 Jahre Mädchenbildung und Lehrerinnenberuf in Baden-Württemberg, in: Weingartner Hochschulschriften 11, Bergatreute 1992, hier S. 32 - 40. 4 I NGEBORG W EBER -K ELLERMANN , Frauenleben im 19. Jahrhundert. Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit, 3. Aufl. München 1991, S. 108 - 116; M ONIKA S IMMEL , Erziehung zum Weibe. Mädchenbildung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1980, S. 22 - 29. 5 J ULIA K ELLER -E VERS , Bürgerliche Mädchenbildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Prozess der Modernisierung oder Mittel zur Traditionssicherung? Zwischenprüfungsarbeit, Nortstedt 2004, S. 10 - 19. 6 J OACHIM H EINRICH C AMPE , Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen Jugend gewidmet, 5. rechtmäßige Ausgabe (Quellen und Schriften zur Geschichte der Frauenbildung 3), Braunschweig 1796, Nachdruck Paderborn 1988. <?page no="360"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 360 zur Häuslichkeit gelungen ist, ihr Haus und den darin befindlichen kleinen Familienzirkel, auch zugleich ihrem Gatten so angenehm und werth zu machen, daß er sich nirgends lieber als in ihm befindet. 7 Campe empfiehlt seiner Tochter: Durch unablässige Uebungen in nützlicher Geschäftigkeit müssen Fleiß und Arbeit dir zu einem eben so wesentlichen Bedürfnisse, als das Athemholen, werden. 8 Des Weiteren empfiehlt er dringend dem Müßiggang zu fliehen. Dieses entspricht ganz dem Vorbild aus der adeligen Mädchenerziehung des 18. Jahrhunderts. So ist vom westfälischen Standesherrn Franz Theodor von Fürstenberg-Herdringen folgende Eintragung zur Erziehung seiner Töchter aus dem Jahre 1737 erhalten: Ich möchte gern […] meine Töchter zum Haushalten und allerlei anständigen Arbeiten, also dass selbige niemals müßig sind, der Teufel sie niemals müßig findet, anhalten lassen. 9 Diese Maxime spiegelt sich in der bürgerlichen Mädchenbildung, und der Begriff › Haushalten ‹ findet sich eben auch auf den gestickten Sinnsprüchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wieder. Wollte man den Mädchen von Stand solch ’ eine Erziehung angedeihen lassen, dann schickte man sie zumeist in klösterliche Einrichtungen, z. B. zu den Ursulinen oder auch in ein Institut der Englischen Fräulein von Mary Ward (1585 - 1645). 10 Beeinflusst wurde die Idee der Gründung und Verstetigung von höheren Mädchenschulen aber auch von Frauen, die sozial und bildungspolitisch aktive Pionierinnen waren und u. a. durch Publikationen ihre Forderungen darlegten. Als ein Beispiel sei auf die Veröffentlichung von Betty Gleim (1781 - 1827) hingewiesen. 11 In ihrem Werk › Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts. Ein Buch für Eltern und Erzieher ‹ (1810) 12 folgt auch sie dem Zeitgeist von weiblicher Grundhaltung und Aufgabe, führt aber immer wieder die Notwendigkeit einer gebildeten Frau aus, die sich nicht in Eitelkeiten verliert, sondern das Hauswesen in einer Ganzheitlichkeit betrachtet und führt. 13 Sie benennt ebenso die dringende Notwendigkeit, für die Mädchen und Frauen, die für sich oder die Familie erwerbstätig sein müssen, eine berufliche Bildung anzubieten: […] man ertheile den Mädchen wie den Knaben eine 7 J. H. C AMPE , Vaeterlicher Rath für meine Tochter (Anm. 6), S. 138. 8 J. H. C AMPE , Vaeterlicher Rath für meine Tochter (Anm. 6), S. 139. 9 M ARIELUISE K LIEGEL , Mit Wappen und Nadel - Fürstliche Stickereien für Burg Bentheim, in: Bentheimer Jahrbuch 2009, S. 221 - 229, hier 223. 10 A NNE C ONRAD , »Katechismusjungfrauen« und »Scholastikerinnen«. Katholische Mädchenbildung in der Frühen Neuzeit, in: H EIDE W UNDER / C HRISTINE V ANJA (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt am Main 1991, S. 154 - 179, hier 161, 164, 167. 11 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in J. K ELLER -E VERS , Bürgerliche Mädchenbildung (Anm. 5), S. 14 - 16. 12 B ETTY G LEIM , Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts. Ein Buch für Eltern und Erzieher, Leipzig 1810 [Reprint der Erstausgabe USA Standfort University Libraries]. 13 B. G LEIM , Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (Anm. 12), S. 75f. <?page no="361"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 361 Erwerbsbildung. 14 Das Berufsfeld bewegt sich im rollentypischen Bereich von Erziehung, Pflege und Hauswirtschaft, dazu gehörten Kinderwärterin, 15 Gouvernante und Krankenwärterin. 16 Des Weiteren führt sie in dem Zusammenhang aus, […] die Geschicklichkeit in weiblichen Handarbeiten, im Nähen, Stricken, in feiner Stickerei, im Verfertigen von Kleidern, Blumen, Putz - Stoff und Gelegenheit genug, um etwas davon als Erwerbsmittel zu nutzen. 17 Betty Gleim gründete 1806 eine Lehranstalt für Mädchen in Bremen, die aber am Widerstand der Stadtbehörden und auch an Vorbehalten in der Stadtbevölkerung scheiterte und bereits 1815 wieder geschlossen wurde. Sie nahm durch die Veröffentlichungen praxisbezogener Lehrbücher zu Form und Inhalt einer lebensnahen und pragmatischen Mädchenbildung immer wieder Einfluss auf die Einführung und Etablierung einer schulischen Mädchenbildung. Besonders bekannt wurde ihr bremisches Kochbuch, was allein im Titel das weibliche Aufgabenfeld im Haushalt lebendig beschreibt und eine sachlogische Anleitung zu einem Aufgabenbereich für eine gebildete Hausfrau dokumentiert. 18 Eine weitere Wegbereiterin für einen fundierten Unterricht im Bereich der Handarbeit war Rosalie von Schallenfeld (1819 - 1864), die mit ihrer Schwester Agnes Schriften für einen geordneten sowie fachlich und methodisch fundierten Textilunterricht in den Volksschulen forderte. Die bekannteste Schrift ist der Aufsatz › Ueber die Unzweckmäßigkeit des jetzigen Handarbeitsunterrichts in Töchterschulen ‹ (1857), 19 der die Grundlage für die Aufnahme des Handarbeitsunterrichts in den Fächerkanon der preußischen Volksschulen war. 20 Im Oktober 1872 wurde erstmals per preußischem Erlass die Mädchenhandarbeit in der Mittelstufe als ein obligatorisches Unterrichtsfach mit zwei Wochenstunden in der Volksschule eingeführt. 21 14 B. G LEIM , Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (Anm. 12), S. 104; L YDIA I MMENROTH , Textilwerken. Der Pädagogische Problemstand im Handarbeitsunterricht der Mädchen aufgezeigt in einer historisch-genetischen Darstellung, Wuppertal u. a. 1970, S. 61. 15 B. G LEIM , Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (Anm. 12), S. 109. 16 B. G LEIM , Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (Anm. 12), S. 113. 17 B. G LEIM , Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (Anm. 12), S. 114. 18 B ETTY G LEIM (Hg.), Neues bremisches Koch- und Wirtschaftsbuch: enthaltend eine sehr deutliche Anweisung wie man Speisen und Backwerk für alle Stände gut zubereiten und wie man von verschiedenen Früchten die besten Weine, Liqueure und Essige verfertigen lernt; für junge Frauenzimmer, welche ihre Küche und Haushaltung selbst besorgen und ihre Geschäfte mit Nutzen betreiben wollen, Bremen 1817; digitale Ausgabe unter https: / / brema. suub.uni-bremen.de/ urn/ urn: nbn: de: gbv: 46: 1-456 (aufgerufen am 15.3.2023). 19 R OSALIE VON S CHALLENFELD , Ueber die Unzweckmäßigkeit des jetzigen Handarbeitsunterrichts in Töchterschulen, Schulblatt für die Provinz Brandenburg, Berlin 1857. 20 D IETLIND S OMMERFELD , Textiles Werken, in: T HEO D IETRICH / J OB -G ÜNTER K LINK / H ANS N ETZER (Hg.) Didaktische Grundrisse, 2. verb. Aufl. Bad Heilbrunn 1974, S. 20 - 25. 21 D. S OMMERFELD , Textiles Werken (Anm. 20), S. 19. <?page no="362"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 362 Vorläufer eines Textilunterrichts in den allgemeinbildenden Schulen war der Handarbeitsunterricht in der Industrieschule, die sich auch in Württemberg im ländlichen Raum etablierte. Den Ursprung hatte dieser im wirtschaftlichen Produktionsbedarf des 19. Jahrhunderts. Diese Einrichtungen zielten darauf ab, notwendige Fähigkeiten für die Produktion zu vermitteln, eine Beschulung im humanistischen Sinne war es nicht. Die Textilindustrie befand sich auf Wachstumskurs, und so suchte man junge Menschen, eben auch Kinder, denen hier geschlechtsunabhängig die wichtigsten Grundkenntnisse für die Textilproduktion wie Spinnen, Stricken, Nähen usw. beigebracht wurden. Die für die Manufakturen zu erbringende Arbeit erfolgte meistens in Heimarbeit. Im ländlichen Raum nutzte man diese Einrichtung auch zur Vermittlung landwirtschaftlicher Kenntnisse zur Steigerung der Produktivität. 22 Das Ziel der Schulen, Kinder im Unterricht so auszubilden, dass sie in der Arbeitswelt bestünden, endete, als Maschinen zunehmend Fertigungsschritte in der Textilproduktion übernahmen. Die Denomination der Schule wandelte sich zu einer Mädchenschule mit der Intention, Grundkenntnisse zur Alltagsbewältigung für den privaten Haushalt gerade auch in Mangelzeiten zu lehren. Da die dort vermittelten Kenntnisse über textile Fasern, textile Techniken, Wäschepflege und Reparaturtechniken genau die Handlungskompetenzen für das damalige Verständnis der Aufgaben von Frauen im familiären Umfeld waren, hielt man an der Idee einer weiblichen Ausbildung zur Lebensführung fest. 23 So veränderte die Industrieschule ihren Lehrplan und vermittelte nun die textilen Techniken für den privaten Bedarf in der Familie. Mit Blick auf die soziale Lage und Stellung der dort unterrichteten Mädchen ging es darum, die Fertigkeiten zur Herstellung textiler Alltagsgegenstände von der Kleidung für die Mitglieder der Familie bis zu Haushaltstextilien zu beherrschen und besonders eben auch Kenntnisse zur sog. Gebrauchswerterhaltung, das heißt zu Ausbesserungsarbeiten und Textilpflege, beizubringen. 24 Doch wer unterrichtete die Mädchen in einer Zeit, als es keine staatliche bzw. länderbezogene Lehrerinnenbildung gab? Hier kommen die Frauenklöster in das Bildungssystem. Da die weiblichen Konvente ebenso wie die männlichen bei der Säkularisation ab 1803 ihre tradierte klösterliche Lebensform aufgeben mussten, sah man dort eine gute und sinnvolle Anfragemöglichkeit, wie das noch folgende Beispiel von Gutenzell zeigt. Anknüpfungspunkt für die Einbeziehung von Klosterschwestern in das Bildungsangebot für Mädchen waren deren Kenntnisse und Fähigkeiten aus dem Erwerbszweig der klostereigenen Paramentenwerkstätten, deren Herstellungsverfahren von der Fasergewinnung über Flächenbildung und 22 G ERDA T ONIEPORTH , Studien zur Frauenbildung. Ein Beitrag zur historischen Analyse lebensweltorientierter Bildungskonzeptionen, Weinheim-Basel 1979, S. 44. 23 D. S OMMERFELD , Textiles Werken (Anm. 20), S. 15. 24 D. S OMMERFELD , Textiles Werken (Anm. 20), S. 17. <?page no="363"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 363 -gestaltung im Konvent erfolgte. Zudem brachten die Konventualen je nach Familienabstammung die textile Bildung als standesbezogene weibliche Bildung mit bzw. erlernten diese im Kloster. So ist es sachlogisch verständlich, wenn bei der Einrichtung von Mädchenbildung diese textilen Kompetenzen der weiblichen Konvente gezielt angefragt und integriert wurden. Im Folgenden schauen wir deshalb fokussiert auf die Entwicklung der Bildungslandschaft in dem Zeitabschnitt der zunehmenden Institutionalisierung textiler Bildung - in dem Zeitfenster, in dem Bildung zur weiblichen Lebensführung zum gesellschaftlichen Auftrag wird. 2. Mit Nadel und Faden zu Stift und Buch - der Weg zur höheren Mädchenbildung Bildungspolitische Anknüpfung für eine zeitgemäße Mädchenbildung im 19. Jahrhundert ist das Wissen um textile Kompetenzen zur Alltagsbewältigung in der eigenen Familie, die besonders für die finanziell schlecht gestellten Bevölkerungsgruppen lebenswichtig waren. So ist die Gründung von Mädchenschulen im städtischen und ländlichen Raum zu sehen. In den weiteren Ausführungen werden einige Ausbildungsorte nach deren Unterrichtsformat in Ravensburg und im klösterlich-ländlichen Umfeld von Gutenzell, Habsthal, Reute und Sießen genauer betrachtet, dabei erhebt die Auswahl nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Wie in der eingangs reflektiert Forschungsthese dargelegt, geht es um die regionalen Bildungsangebote für Mädchen. Rückblickend ist zu überprüfen, inwieweit diese Bildungsoffensive als erster Schritt zur Institutionalisierung einer allgemeinen Mädchenbildung auf dem Niveau der höheren Schulausbildung für Jungen eingestuft werden kann. Erstes Beispiel ist die Initiative des Ravensburger Rechtsanwalts Eugen Mezler (1849 - 1919), der tatkräftig und unter Widerstand sowie ohne städtische Unterstützung mit einem Kreis gleichgesinnter liberaler Männer und Väter 1887 eine freie höhere Töchterschule gründete. 25 Die beteiligten Familien waren u. a. Kaufleute, Fabrikbesitzer, Beamte und verfügten über entsprechendes Einkommen und gesellschaftliche Etablierung. Das Besondere und bis heute Zukunftsweisende dieser privaten höheren Mädchenschule ist auch die Tatsache, dass die Schule konfessionell ungebunden jüdische, christliche und protestantische Schülerinnen aufnahm. 26 25 Ravensburger Mädchen bildeten im Jahr 1887 die erste Klasse, den Handarbeitsunterricht leitete die am Königlichen Katharinenstift in Stuttgart ausgebildete Lehrerin Emma Schuler. 27 Unterrichtet wurde anfänglich in den von einem 25 G. D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften« (Anm. 3), S. 41. 26 https: / / www.welfen-rv.de/ de/ schule/ geschichte.de, Abschnitt: Der Schulgründer Eugen Mezler (aufgerufen am 16.3.2023). 27 G. D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften« (Anm. 3), S. 41. <?page no="364"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 364 Vater über seinem Geschäft zur Verfügung gestellten Räumen. Der Fächerkanon umfasste Deutsch (Literatur, Schönschreiben), Englisch, Französisch, die Naturwissenschaften, Rechnen und Buchführung. Auf dem Stundenplan für Mädchen zwischen sieben und 16 Jahren standen ebenso Kunstgeschichte, Zeichnen, Singen, feine Nadelarbeiten, Leibesübung und Religionsunterricht. 28 Bis 1910 beantragte der Elternrat der von dem Schulgeld der Eltern und durch Spenden finanzierten Mädchenschule erfolglos eine Subvention durch die Stadt Ravensburg. Bewegung kam in diese starre städtische Grundhaltung erst, als sie 1909 vom Königlichen Ministerium des Kirchen- und Schulwesens eine Rüge betreff des Fehlens jeglicher Zuwendung zum höheren Mädchenschulwesen erhielt. 29 1921 ging die Schule dann in kommunale Trägerschaft über. Immer wieder in Schwierigkeiten, wurde sie 1954 zum Mädchen-Gymnasium in Ravensburg. 1972 ermöglichte die Koedukation nun auch nach außen sichtbar die höhere Bildung für Mädchen und Jungen in einem Schulgebäude und Klassenraum. 30 Das Welfen-Gymnasium, aus der privaten höheren Mädchenschule entstanden, ist bis heute fester Bestandteil der Ravensburger Schul- und Bildungslandschaft. 3. › Und füllet mit Schätzen die duftenden Laden ‹ - der textile Bildungsauftrag Doch was war mit den finanziell schlechter gestellten und armen Familien? Sie hatten die Möglichkeit, die Mädchen in die katholische Elementarschule, genannt › Klösterle ‹ , zu schicken. 31 Unterhalten und geführt wurde die Schule von dem Orden der › Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau ‹ . Ziel der Ausbildung war es, den Mädchen eine christliche Grundhaltung und das Wissen um eine adäquate Lebensführung als Vorbereitung auf den Alltag in der Familie und Gesellschaft zu vermitteln. 32 Im Bildungsplan des › Klösterle ‹ finden sich die von der Gründerin des Ordens Karoline Gerhardinger (1797 - 1879), mit Ordensnamen Schwester Theresia von Jesu, bereits in ihrem Lehrplan der ersten Schule zu Stadtamhof (bei Regensburg) verankerten Bildungsinhalte wieder. Zu diesen gehörten neben Schreiben, 28 https: / / www.welfen-rv.de/ de/ schule/ geschichte.de, Abschnitt: 1887 - 1921 (aufgerufen am 16.3.2023). 29 G. D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften« (Anm. 3), S. 42f. 30 G. D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften« (Anm. 3), S. 43 - 45. 31 G. D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften« (Anm. 3), S. 41. 32 H ANS P ITSCH , »125 Jahre Unterricht und Erziehung im Klösterle zu Ravensburg - Erziehung aus dem Geist des Evangeliums und der christlichen Tradition - Aufgabe für Gegenwart und Zukunft«. Festansprache zum 125. Jubiläum des KLÖSTERLE zu Ravensburg am 29. Juni 1985, in: Marchtaler Pädagogische Beiträge 3 (1986), S. 5 - 11, hier 7. <?page no="365"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 365 Lesen und Rechnen auch Kenntnisse von Natur und Leben, Musik, Kunst und die Herstellung von Kleidungs- und Wäschestücken, von Spinnen des Garns bis zur Verarbeitung des selbstgewebten Stoffes. 33 Die Mädchen konnten nach Beendigung der Schule zudem noch in eine Arbeitsschule (hierzu am Beispiel Kloster Reute mehr) gehen und ihre erworbenen Kenntnisse in der Anfertigung von Kleidung umsetzen, die an die Bedürftigen der Stadt verteilt wurden. 34 Neben dieser Fortbildungsschule für schulentlassene Mädchen richtete man dort eine siebenzügige Elementarschule mit zwei weiteren Klassen für höhere Töchter ein. 35 Diese Einrichtung der Armen Schulschwestern in Ravensburg war keine außerordentliche lokale Initiative, sondern lag in überregionalen Bildungsvorstellungen von Politik und Zivilgesellschaft begründet sowie in einem überkonfessionellen christlichen Menschenbild und den Reformbewegungen im 19. Jahrhundert. Im Bildungskonzept des › Klösterle ‹ finden sich Aspekte des sog. deutschkatholischen Spektrums, das u. a. mit Louisa Otto (1819 - 1895) durch die Herausgabe der › Frauen-Zeitung ‹ (1849 - 1853) weite Verbreitung fand. 36 Als Initiatorin und langjährige Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins benennt sie gezielt die Probleme der mangelnden Ausbildung der Mädchen und Frauen für die Aufgabe in der Familie, aber auch für die Erwerbsfähigkeit in den sozial schwachen Familien. Die Bildung sollte nicht dem Zufall in den Stammfamilien oder innerhalb eines beruflichen Dienstes überlassen werden. Gerda Tornieporth differenziert hier zwischen den tradierten Orten der Frauenbildung innerhalb der Familie, zwischen elterlichem Betrieb, Werkstatt, Gewerbe oder häuslichem Privatunterricht, der sich im 19. Jahrhundert zu einem Bildungsort außer Haus wandelt. 37 Die Forderung nach einer staatlichen Allgemeinbildung speziell für die Mädchen etablierte sich. Gefordert wurde hier ein verbindlicher Stoffplan, der neben der textilen Handarbeit auch allgemeinbildende Fächer wie Lesen, Schreiben, Rechnen beinhaltete. Nach diesen ausgewählten Beispielen aus dem urbanen Lebensumfeld stellt sich die Frage nach den Bildungsmöglichkeiten der Mädchen im ländlichen Raum. Der Fokus sei deshalb auf die Industrieschule von Gutenzell gerichtet. 33 S R . M ARIA L IOBGID Z IEGLER , Karoline Gerhardinger (1797 - 1879), in: Marchtaler Pädagogische Beiträge 3 (1986), S. 13 - 23, hier 16. 34 S R . M. L. Z IEGLER , Karoline Gerhardinger (Anm. 33), S. 16. 35 Pressebericht zum Vortrag anlässlich der 150 Jahrfeier des › Klösterle ‹ von Stadtarchivar A NDREAS S CHMAUDER , https: / / kloesterle-rv.de/ geschichte/ 150-jahre-kloesterle/ festabend. de (aufgerufen am 13.3.2023). 36 K. S TAMMLER , Von »Schwestern«, »Schutzbefohlenen« und »Rohen Weibern aus dem Volke« (Anm. 1), S. 51. 37 G. T ONIEPORTH , Studien zur Frauenbildung (Anm. 22), S. 43 - 45. <?page no="366"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 366 4. … für die Zukunft der gutenzellischen Schuljugend nützlich sein zu können 38 - die Industrieschule zu Gutenzell Die Worte von Schwester Theresia Krismar in ihrem Gesuch um eine Dispens von den unterrichtlichen Verpflichtungen in der Industrieschule Gutenzell 1827 treffen die Bedeutung dieser Einrichtung. Im Nachgang zur Säkularisation, bei der auch das Gutenzeller Zisterzienserinnenkloster aufgelöst wurde, gründete sich zur Ausbildung des räumlichen Umfelds in der Landgemeinde eine Industrieschule, die von 1822 - 1899 bestand. 39 Als Unterrichtsräume dienten Zimmer in dem säkularisierten Konventgebäude. Da dort gleichzeitig noch einige Konventualinnen wohnen durften, wurde gezielt bei den Schwestern nach Lehrerinnen für den Textilunterricht gesucht. 40 In den Visitationsprotokollen von 1809 ist angeführt, dass bereits zu diesem Zeitpunkt einige Klosterfrauen, darunter auch die oben genannte Schwester Theresia Krismar, den Dorfmädchen Handarbeitsunterricht erteilten. Der örtliche Pfarrer Augustin Rugel (1762 - 1825) 41 förderte dieses sehr, da er darin die Möglichkeit zur allgemeinen Verbesserung des Schulwesens sah. 42 Als sich 1822 durch Pfarrer Alois Scherr aus Kirchberg die Industrieschule in Gutenzell etablierte, unterrichtete man die Fächer Stricken, Sticken, Nähen und Musik. Diese vorgegebenen Inhalte der Industrieschule in Württemberg unterschieden sich von der württembergischen Arbeitsschule, in der Spinnen, Nähen, Stricken, Waschen und Anbau und Betreuung eines Wurzgartens auf dem Stundenplan standen. 43 Auch hier war die klare Zielführung der Mädchenbildung, ihnen Fähigkeiten und Fertigkeiten für ihre spätere Aufgabe in der Familie und auf dem Hof zu vermitteln. Janine Christina Maegraith recherchiert in ihrer Dissertation zu den Zisterzienserinnen in Gutenzell, dass Schwester Theaesia Krismar bis 1827 in der Industrieschule unterrichtete und Schwester Aloisia Hailer bis 1824. Die Klosterfrauen wurden abgelöst von weltlichen Lehrerinnen bzw. kundigen Frauen aus der Region. 44 38 StA Ludwigsburg, E 209, Bü 1556: Austrittsgesuch der Theresia Krismar vom 19.6.1827, zitiert nach J ANINE C HRISTINA M AEGRAITH , Das Zisterzienserinnenkloster Gutenzell. Vom Reichskloster zur geduldeten Frauengemeinschaft (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 15), Epfendorf 2006, S. 281. 39 J. C. M AEGRAITH , Das Zisterzienserinnenkloster Gutenzell (Anm. 38), S. 277. 40 J. C. M AEGRAITH , Das Zisterzienserinnenkloster Gutenzell (Anm. 38), S. 264. 41 O TTO S CHMID , Art. Rugel, Augustin, in: ADB (1889), (https: / / www.deutsche-biographie. de/ pnd11670215X.html; aufgerufen am 15.3.2023). 42 J. C. M AEGRAITH , Das Zisterzienserinnenkloster Gutenzell (Anm. 38), S. 263, 277. 43 J. C. M AEGRAITH , Das Zisterzienserinnenkloster Gutenzell (Anm. 38), S. 277 - 279. 44 J. C. M AEGRAITH , Das Zisterzienserinnenkloster Gutenzell (Anm. 38), S. 278f. <?page no="367"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 367 5. Nähen, Waschen, Plätten - haushaltsbezogene Bildungsziele im Kloster Habsthal Ähnlich wie in Gutenzell verhielt es sich im ländlich gelegenen ehemaligen Dominikanerinnenkloster Habsthal. Durch die Initiative des Mediziners Franz Xaver Mezler (1756 - 1812) wurde dort 1807 eine Erziehungsanstalt für bürgerliche Mädchen im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren gegründet, die nach drei Jahren wieder schloss. 45 Das Bildungsziel war auch hier, die Schülerinnen für die Aufgabe als Ehefrau, Hausfrau und Mutter bzw. ebenso für eine Erwerbstätigkeit wie Hauswirtin, Aufseherin oder Dienstmädchen auszubilden. 46 Überliefert ist ein umfassender sozioökonomischer, sprich hauswirtschaftlicher und familienpflegerischer Lehrplan. Dieser enthielt neben Gesundheitspflege, Naturgeschichte und Naturlehre, Rechnen, Rechtschreiben und Religion folgende konkrete hauswirtschaftliche Tätigkeiten: Kochen, Stricken, Nähen, Spinnen, Weben, Zwirnen, Bleichen, Kleidungsstücke zuschneiden, Waschen, Stärken, Plätten, Herstellen und Reinigung von Weißzeug, Obst-, Gemüse- und Kräuteranbau, Blumenkultur, Versorgung der Haustiere, Herstellung von Lichtern, Seife, Stärke und Essig. 47 Für die schnelle Schließung war neben finanziellen Problemen auch Kritik am Lehrplan verantwortlich, da die künstlerisch musischen Fächer fehlten. Mezler selbst benannte immer wieder die Notwendigkeit einer professionellen Lehrerinnenausbildung, deren Realisierung erst Jahre später an anderem Orte, u. a. im Kloster Sießen gelang - dazu am Ende des Beitrags Näheres. 6. … zur Ordnung und Sparsamkeit erziehen und ihnen das Auge für das, was schön ist, öffnen 48 - Handarbeitsunterricht im Kloster Reute Im Bestand der ehemaligen Paramentenwerkstatt des Klosters Reute befindet sich eine Sammlung von Stickmustertüchern ehemaliger Schülerinnen aus dem von Klosterschwestern geleiteten Handarbeitsunterricht. Nicht zufällig liegen diese historischen textilen Objekte dort, denn die Schwestern der Paramentenwerkstatt waren oft auch für den Handarbeitsunterricht verantwortlich. 45 D ORIS M UTH / S R . K ORNELIA K REIDLER OSB, Kloster Habsthal in Geschichte und Gegenwart, Lindenberg 2009, S. 27. 46 D. M UTH / S R . K. K REIDLER OSB, Kloster Habsthal (Anm. 45), S. 26. 47 D. M UTH / S R . K. K REIDLER OSB, Kloster Habsthal (Anm. 45), S. 26. 48 Archiv Kloster Reute, ohne Signatur: Sammlung von Unterlagen zum Handarbeitsunterricht der Klosterschwestern, hier Handschrift: Spezielle Mitschrift für den Handarbeitsunterricht, Lehrplan für den Handarbeitsunterricht (Grundschule) 1926/ 1927, o. N., Blatt 1. <?page no="368"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 368 Ein Zeugnis aus dem Jahr 1924 von Schwester Hadwigis Hirt OSF (geboren 1900) dokumentiert deren Ausbildung in hauswirtschaftlichen Fächern und der praktischen Säuglingspflege im privaten hauswirtschaftlichen Seminar der Franziskanerinnen zu Sießen. 49 Eine der späteren Leiterinnen der Werkstatt, Schwester Deogratias Wehle OSF, war ebenfalls Kursleiterin für den Textilunterricht. Es ist ein Dokument mit Stoffverteilungsplan und Notiz zur Schlussprüfung, von Schulrat Wollmar gegengezeichnet, aus dem Jahr 1946 erhalten. 50 Dieser listet Fähigkeiten und Fertigkeiten in Theorie (Faser- und Stoffkunde) und Praxis, vom Entwurf bis zur Fertigstellung von Kleidungsstücken, auf. Dazu gehören Näh-, Stick- und Flickarbeiten sowie Anfertigungsbeispiele von Alltagsgegenständen und Kleidung, wie ein Frauenhemd mit und ohne Falte, Beinkleider oder eine Nachtjacke. 51 Interessant ist mit Blick auf den Forschungszeitraum des Beitrags, dass sich hier die Bildungsinhalte aus der Gründungsidee eines professionellen Textilunterrichts des 19. Jahrhunderts widerspiegeln. Mädchen in diesen Alltagskompetenzen fit zu machen, war bis in die Nachkriegszeiten nach 1945 mit Blick auf eine erneute Mangelsituation in den alltäglichen Gebrauchsdingen notwendig. 49 Archiv Kloster Reute, ohne Signatur: Zeugnis Württemberg privates hauswirtschaftliches Seminar Siessen b. Saulgau, Schwester Hadwigis Hirt aus Kloster Reute, datiert 27.12. 1924. 50 Archiv Kloster Reute, ohne Signatur: maschinengeschriebener Stoffverteilungsplan vom Februar - Mai 1946, signiert von Schulrat Wollmar 3.5.1946, Schwester M. Deogratias Wehle O.S.F. Kursleiterin. 51 Archiv Kloster Reute, ohne Signatur: maschinengeschriebener Stoffverteilungsplan vom Februar - Mai 1946, Blätter ohne Seitenzahlen, in kalendarischer Auflistung: Frauenhemd 5., 15. - 18. März 1946; Beinkleid 4. - 9. April 1946; Beinkleid 17. - 27. April 1949. Abb. 3: Sammlung von Stickmustertüchern aus dem Handarbeitsunterricht im Kloster Reute, 19. Jahrhundert. <?page no="369"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 369 Abb. 4: Unterer Teil eines Stickmustertuchs mit Hohlsaum, Weiß- und Buntstickerei, Kloster Reute, 19. Jahrhundert. Die erhaltenen Stickmustertücher dienten dem Training und illustrieren die erlernten Erkenntnisse. Später, gerahmt an der Wand, avancierten sie zur dekorativen Dokumentation von Können und Fleiß der Hausfrau. In den Mädchenschulen und im Handarbeitsunterricht der Volksschulen war es ein Lerntuch bzw. didaktisches Medium, das zum Üben und zum Nachschauen und Einprägen diente 52 und verschiedene Stickstiche, Borten, Bildmotive, Buchstaben, Ziffern, Stopfbeispiele für Strick- und Webwaren enthalten konnte (Abb. 4 - 6). Schwerpunkte der Lerninhalte sind: Materialkenntnisse, textile Techniken und Gestaltungslehre mit Flächengliederung, Formgebung und Farbgestaltung. Im Alltag des 19. Jahrhunderts fanden diese Kenntnisse Anwendung bei der Kennzeichnung der Aussteuer, bei der Herstellung von textilen Alltagsgegenständen für Wohnung und Mensch und als dekorative 52 C ORRIE H OCHE , Stickmustertücher aus Altmark und Prignitz, hg. vom Kreismuseum Osterburg, Ausstellungskatalalog, Magdeburg 1996, S. 4. Abb. 5: Stickmustertuch mit Muster- und Bildmotivstickerei, 1887, Kloster Reute. Abb. 6: Stickmustertuch dokumentiert den Einzugsbereich des Arbeitskurses im Kloster Reute, Emma Beck aus Altshausen, 1880. <?page no="370"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 370 Gestaltungsarbeiten. Man kann hier zwischen den sog. Nutz- und Putzarbeiten unterscheiden. 53 Eine solche Putzarbeit war auch das Überhandtuch › Übe früh dich hauszuhalten ‹ (Abb. 1), das diesem Beitrag den Titel gibt, denn solche Überhandtücher dienten eher als dekorativer Vorhang, hinter dem sich die realen Gebrauchstücher für die Küchenarbeit befanden. Die Stickmustertücher aus dem Paramentenarchiv des Klosters Reute (Abb. 3 - 8) zeigen die Fertigungspraxis in den textilen Techniken auf, zugleich aber dienten sie zur Vermittlung sog. weiblicher Tugenden. 54 Im Zentrum standen das Training von Fleiß, Ausdauer, Geduld, sparsamer Umgang mit den textilen Materialien, pfleglicher Umgang mit den textilen Objekten, Ordnung und Sauberkeit. Die Redewendung › langes Fädchen, faules Mädchen ‹ ist aus diesem Alltagszusammenhang abzuleiten, denn zu lange Stickfäden verheddern und verknoten sich schnell, beim Abschnitt und Neustart ist der Verlust des teuren und oft seltenen Materials die Folge. Auf zwei Stickmustertücher aus dem Paramentenarchiv des Klosters Reute 55 findet sich die gestickte Kennzeichnung Arbeits-Kurs Reute 1883 und Arbeits-Schule (Abb. 7, 8). 7. … die Freude an der weiblichen Handarbeit vermitteln - die Arbeitsschule zu Reute Mit dieser Zuordnung zur Arbeitsschule verbindet sich ein Schultypus, der besonders die finanziell schlecht gestellte Bevölkerungsgruppe im Blick hatte. Kriegsjahre und die große Hungersnot in Württemberg im Jahr 1816 hatten einschneidende Spuren von Elend hinterlassen. Der Bedarf nach Stärkung der Arbeitsschulbewegung in der Denomination zur Vermittlung von Fähigkeiten und Kenntnissen zur Herstellung nützlicher Alltagsgegenstände zum eigenen Gebrauch oder Verkauf sowie haushälterischer Fähigkeiten vom Nähen bis zur Nahrungszubereitung sollte und 53 G ABRIELE W AND -S EYER , Zwischen Nutz und Putz. Handarbeit und Handarbeitsunterricht 1750 - 1950. Ausstellungskatalog Emschertal-Museum Herne, Städtische Galerie im Schlosspark Strünke, 28. Mai bis 13. August 2000, Herne 2000, S. 34f.; M ARTIN W ENDL / D ETLEF M ARSCHALL , Urgroßmutters Leib- und Küchenwäsche. Spaß am Sammeln, Leipzig- Köln 1985, S. 9 - 15. 54 R UTH B LECKWENN / A NNETTE H ÜLSENBECK , Weiblichkeit und Textilarbeit im gesellschaftlichen Zusammenhang, in: Textilarbeit und Unterricht, Heft 3, Baltmannsweiler- Hohengehren 1988, S. 138 - 151, hier 145. 55 An dieser Stelle sei Schwerster Romula Michel OSF, ehemalige Leiterin der Paramentenwerkstatt, für ihre so tatkräftige und kundige Unterstützung und Recherche herzlich gedankt. <?page no="371"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 371 wurde hier besonders den Mädchen der sog. armen Bevölkerung vermittelt. 56 Da keine staatliche Schulpflicht bestand bzw. städtische oder ländliche Schulen ausreichend vorgehalten wurden bzw. vorgehalten werden mussten, waren es, wie bereits dargelegt, häufig weibliche Konvente und somit Klosterschwestern, die aufgrund ihrer fachlichen Expertise für die Mädchen u. a. den Handarbeitsunterricht anboten. Wie am Beispiel des › Klösterle ‹ in Ravensburg sowie in Gutenzell und Reute gesehen, geschah dieses zumeist in Räumen des Klosters selbst oder in der örtlichen Dorfschule. Im Archiv des Klosters Reute ist die handgeschriebene Abschrift eines Lehrplans von etwa 1926 für die Grundschule erhalten, der den Auftrag des Unterrichts und der Handarbeitslehrerin und deren pädagogische Grundhaltung festhält. Ziel: Der Grundschulunterricht soll den Mädchen die Freude an der weiblichen Handarbeit geben u. sie befähigen, die einfachen Gegenstände der weiblichen Handarbeit richtig u. hübsch anzufertigen u. auszubessern. Er soll sie planmäßig zum selbständigen Arbeiten, zur Ordnung und Sparsamkeit erziehen und ihnen das Auge für das, was schön ist, öffnen. 57 Im Kontext der Lehrinhalte für das erste Schuljahr finden sich neben fachlichen auch pädagogische bzw. didaktische Anweisungen für die Handarbeitslehrerin: Eine erste mittelbare Vorbereitung erfährt der Handarbeitsunterricht schon in den ersten Schulwochen, wie der Gesamtunterricht die 56 E RICH M ÜLLER -G AEBELE , Von der Strickschule zum Textilen Werken. Ein Streifzug durch die Geschichte des Handarbeitsunterrichts. Begleitschrift zur Sonderausstellung vom 5. April 2006 bis 15. März 2007 im Schulmuseum Friedrichshafen, Friedrichshafen o. J., S. 8. 57 Archiv Kloster Reute, ohne Signatur: Handschrift: Lehrplan für den Handarbeitsunterricht, 1926 (Anm. 48). Abb. 7: Stickmustertuch aus dem Arbeits- Kurs (Handarbeitsunterricht), Kloster Reute, Schülerinnenarbeit 1883. Abb. 8: Detail Stickmustertuch aus dem Handarbeitsunterricht, hier Arbeits- Schule genannt, Kloster Reute, um 1900. <?page no="372"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 372 Grund- und Fingerfertigkeit, das Augenmaß u. die Selbständigkeit der Kinder zu entwickeln sucht. […] Die Handarbeitslehrerin nimmt die Arbeit im ersten Schuljahr sofort nach Abschluß des Gesamtunterrichts auf. Sie setzt die bisherige mittelbare Vorbereitung zielbewußt fort durch Arbeiten u. Übungen die darauf berechnet sind, den Schülerinnen unaufdringlicher Weise die Handgriffe, Fertigkeiten, Ausdrücke und Lerngriffe zu geben, die im Handarbeitsunterricht unentbehrlich sind. 58 Der Blick in die zu der Zeit üblichen bzw. sich entwickelnden Bildungseinrichtungen über die regionalen Grenzen hinaus zeigt, dass das hier notierte Vermittlungsformat der Idee der Arbeitsschulbewegung der Reformpädagogik am Anfang des 20. Jahrhunderts folgt, die besonders durch den Bildungsbereich der Arbeitsschule von Georg Kerschensteiner (1854 - 1934) geprägt wurde. So forderte er für die Volksschulen die Integration von Werkräumen und Nähzimmern, um das handwerkliche Lernen zu ermöglichen. 59 Das zeigt, dass diese Grundhaltung auch Einzug in die Ausbildungsstätten für Handarbeitslehrerinnen des privaten hauswirtschaftlichen Seminars Sießen hielt. Im Archiv des Klosters Reute sind einige Zeugnisse von Mitschwestern aus den 1920er Jahren erhalten, die vom Württembergischen Kultusministerium gegengezeichnet sind. Diese Abschlüsse waren somit für den Lehrdienst an öffentlichen Schulen anerkannt. 8. Zu selbständigem Arbeiten, zur Ordnung und Sparsamkeit erziehen - die Professionalisierung des Handarbeitsunterrichts Bei der eingehenden Betrachtung von Unterrichtsangeboten und Schulkonzepten für Mädchen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Lebensbereichen richtete sich der Blick auch immer wieder auf das Lehrpersonal. Bei den Beispielen aus Ravensburg, Gutenzell, Habsthal oder Reute waren es in der Regel Klosterschwestern, die im Rahmen des Unterrichtsangebotes vom Konvent oder aber nach der Säkularisation von Schulinitiatoren privater oder öffentlicher Angebote angefragt und eingesetzt wurden. Dieses stellte einen ersten Schritt der Professionalisierung und damit den Beginn einer Demokratisierung in der Bildung für die Mädchen dar. Die Inhalte 58 Archive Kloster Reute, ohne Signatur: Handschrift: Lehrplan für den Handarbeitsunterricht, 1926 (Anm. 48), Blatt 1f. 59 D. S OMMERFELD , Textiles Werken (Anm. 20), S. 38; G EORG K ERSCHENSTEINER , Berufsbildung und Berufsschule. Ausgewählte pädagogische Schriften, Bd. I (Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften, Quellen zur Geschichte der Pädagogik), Paderborn 1966, S. 58f.; D ERS ., Texte zum pädagogischen Begriff der Arbeit und zur Arbeitsschule. Ausgewählte pädagogische Schriften, Bd. II (Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften, Quellen zur Historischen, Empirischen und Vergleichenden Erziehungswissenschaft), 2. Aufl. Paderborn 1982, S. 9, 30 - 33. <?page no="373"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 373 einer weiblichen Bildung lösten sich sichtbar und langsam aus dem privaten familiären Umfeld in den öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs. Zwar wurden auch hier durch das gewählte und initiierte Schulangebot standesbezogene Bildungsorte von der Volksschule zur höheren Töchterschule eingerichtet, aber es gab doch gemeinsame Querschnittskompetenzen auf der inhaltlichen Ebene, von der Handarbeit bis zur Haushaltsorganisation, angepasst an die jeweilige Adressatinnengruppe. Wie im Beitrag bereits erwähnt, hatte der Initiator des Mädchenpensionats in Habsthal, Franz Xaver Mezler, bereits um 1810 die Notwendigkeit einer gezielten Ausbildung von Lehrerinnen im Blick. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zwei konfessionell getrennte, überregional bekannte Lehrerinnenbildungsanstalten gegründet. 1873 entstand unter der Leitung von Johannes Buhl das Evangelische Volksschullehrerinnenseminar in Markgröningen. Obwohl das Volksschulgesetz von 1836 keine Ausbildung von Lehrerinnen vorsah, erhielt Johannes Buhl 1855 die Erlaubnis, in seiner Wohnung in Markgröningen mit sechs Frauen aus der Umgebung eine solche Ausbildung umzusetzen. Die Schulpraxis absolvierten die Seminaristinnen in einer privaten Mädchenschule und fanden nach erfolgreichen Prüfungen durch den Schuldekan als Privatlehrerinnen Anstellungen. 60 Erst 1858 sah die behördliche Seite im Volksschulgesetz die Anstellung von weiblichen Unterlehrerinnen oder Lehrgehilfinnen vor. 1873 wurde das Markgröninger Lehrerinnenseminar verstaatlicht. 1860 etablierte sich im Kloster Sießen ein katholisches privates Volksschullehrerinnenseminar. Geleitet wurde dieses von den Franziskanerinnen aus Oggelsbeuren, die das ehemalige Dominikanerinnenkloster bei Bad Saulgau erwarben und als Schulschwesternkongregation neben der Lehrerinnenausbildung 1867 auch eine eigene Volksschule einrichten, die zugleich den praktischen Ausbildungsteil der Lehrseminaristinnen ermöglichte. Als externe Prüflinge legten die zukünftigen Lehrerinnen ihre erste staatliche Dienstprüfung am Schullehrerseminar in Schwäbisch Gmünd ab. 61 Eine zweijährige Ausbildung in der Sießener Handarbeitsschule bereitete die Kandidatinnen auf die staatliche Handarbeitsprüfung vor. Im Schulzweig der Haushaltungsschule initiierten die Schulschwestern eine öffentliche landwirtschaftliche Fortbildungsschule für die Bauerntöchter. 62 Auch hier integrierte sich ein Praxisteil der Lehrerinnenausbildung. Ingrid Irion resümiert in ihrer 1997 vorgelegten wissenschaftlichen Studie zu den Sießener Schulschwestern, dass das besondere Verdienst dieser Mädchenbildungsangebote und Lehrerinnenausbildung die Entwicklung und 60 G. D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften« (Anm. 3), S. 84; D. S OMMERFELD , Textiles Werken (Anm. 20), S. 26f. 61 G. D ANZ , »Auf Kosten des zart Frauenhaften« (Anm. 3), S. 90 - 101. 62 I NGRID I RION , Sießener Schulschwestern und die Mädchenerziehung im Königreich Württemberg, Lorch 1997, S. 112f. <?page no="374"?> M A RIELUIS E K LIEG EL 374 Etablierung eines adäquaten Leistungs- und Schulkonzepts außerhalb des öffentlichen Schulwesens war. 63 Eine zentrale Veröffentlichung ist die vom Erziehungsinstitut Sießen 1894 herausgegebene › Anleitung zur methodischen Erteilung eines gründlichen Handarbeits-Unterrichts in der Volksschule ‹ , 64 die in Ermangelung eines offiziellen staatlichen Lehrplans vielen Privatschulen und auch den Volksschulen als Unterrichtslehrplan diente. Erst 1907 erschien in Württemberg der erste verbindliche Lehrplan für die Volksschulen, der das Fach Handarbeit beinhaltete. 65 9. Die schulische textile Bildung als Wegbereiterin der höheren schulischen Mädchenbildung Abschließend lässt sich feststellen, dass die ersten Schritte in eine öffentliche und gesellschaftlich definierte Mädchenbildung der Wegbereiter für die höhere Mädchenbildung auf dem Niveau der höheren Knabenschulen waren, auch um ein späteres Studium zu ermöglichen. Der Bedarf, die Mädchenbildung aus dem Privaten in eine öffentliche und dann auch staatliche Beschulung zu überführen, diente der adäquaten und professionellen Ausbildung der Mädchen für ihre spätere Aufgabe als Ehefrau, Hausfrau und Mutter oder für ihre Erwerbstätigkeit. Die Beschulung der Mädchen aus den ärmeren Bevölkerungsgruppen war zudem ein Beitrag zur Bekämpfung der Armut. Mit den vermittelten Inhalten lernten sie, einen Haushalt sparsam zu führen, und zugleich erschloss sich damit die Möglichkeit einer Erwerbsarbeit, womit der Bildungsauftrag letztlich auch emanzipatorische Aspekte beinhaltete. Unser kurzer Blick in die überregionalen Bildungskonzepte zeigt auf, dass viele wichtige Impulse aus der sog. zeitgenössischen Frauenbewegung zur Emanzipation aus bestehenden Rollentraditionen und den karitativ tätigen Frauenvereinen kamen. Diese nahmen Einfluss auf die Bildungsinhalte und die Bildungsform. 66 Den Klosterschulen kam, wie beschrieben, eine wichtige Bedeutung zu, da sie im 19. Jahrhundert die Initiatoren der grundständischen Bildung waren. Private Schulgründungen ergänzten die Bildungslandschaft, und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierten sich erste staatliche und kommunale Mädchenschulen. In diesem Zusammenhang kam dem Handarbeitsunterricht eine wichtige Bedeutung zu, denn als zentrale Notwendigkeit für eine zeitgemäße Mädchenbildung standen die Vermittlung von textilem Wissen und die Kenntnisse zur Ausführung der textilen Techniken. Nicht nur neue Textilien anzufertigen, sondern auch deren Gebrauchswert zu 63 I. I RION , Sießener Schulschwestern (Anm. 62), S. 202. 64 Anleitung zur methodischen Erteilung eines gründlichen Handarbeits-Unterrichts in der Volksschule nach Klassen geordnet, hg. vom Erziehungsinstitut Sießen, Stuttgart 1894. 65 E. M ÜLLER -G AEBELE , Von der Strickschule zum Textilen Werken (Anm. 56), S. 10. 66 L. I MMENROTH , Textilwerken (Anm. 14), S. 62 - 65. <?page no="375"?> Ü BE FRÜH DICH HAU S ZUH ALTE N . D IE V ERM IT TLUNG T EX TIL ER A L LTAG SKO MP ET EN ZEN 375 erhalten, war eine Kompetenz, die vor dem Hintergrund, dass Textilien in diesem Jahrhundert keine Massenwaren, sondern oft ein kostbares und kostspieliges Gut darstellten, zentrales Wissen für eine adäquate und alltagsbezogene Bildung. Der Spruch des Überhandtuchs › Übe früh dich hauszuhalten ‹ dokumentiert diese schulischen Bildungsinhalte der Mädchenbildung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im regionalen und überregionalen Kontext. <?page no="377"?> 377 T HOMAS A LBRICH Über die Anfänge der Deutschen Schule bey der Judenschaft in Hohenems vor 1814 Rabbiner Aron Tänzer, der Historiker der jüdischen Gemeinde in Hohenems, zeichnete 1905 ein idealisiertes Bild einer schon immer aufgeklärten jüdischen Gemeinde und hinterließ den Topos ihres hohen Bildungsniveaus, das er auf die Anfänge der Deutschen Schule bey der Judenschaft in Hohenems in den 1760er Jahren zurückprojizierte. 1 Erst in den 1990er Jahren wurde durch Quellenstudium dieses Bild der Anfänge der jüdischen Schule vor 1812 in Hohenems zurechtgerückt. 2 In der einzigen größeren jüdischen Gemeinde Alttirols - 1808 zählte sie 429 Personen und somit knapp 14 Prozent der 3.130 Einwohnerinnen und Einwohner von Hohenems - wurden die Errungenschaften und Anforderungen des Toleranzpatents von 1781 rasch umgesetzt. Die Judengemeinde hatte von Anfang an ihre eigene Verwaltung, an der Spitze stand der Vorsteher, der von den Ausschussmitgliedern unterstützt wurde. Daneben gab es die Ämter der Kultusgemeinde: einen Rabbiner, einen Kantor und einen Schächter. Auch der Lehrer der Deutschen Normalschule und seit 1790 ein Arzt zählten dazu. 3 Die Normalschule war bereits 1784 vom K. K. Kreis- und Oberamt Bregenz eingerichtet worden. Der erste Lehrer der Jüdisch-Deutschen Schule war ab 1785 bis weit in die bayerische Zeit hinein der am 12. Oktober 1761 in Hohenems geborene Lazar Levi. 4 Die Schule betreffend gab es immer wieder Anordnungen der Behörden: Um den weltlichen Unterricht zu fördern, machte die österreichische Regierung schon im April 1786 eine Heiratserlaubnis vom erfolgreichen Besuch einer Normalschule abhängig. Im Jahre 1807, als Hohenems unter bayerischer Herrschaft stand, ordnete Kaiser Franz I. zudem an, dass alle seine Untertanen, egal welcher Religion sie angehörten, 1 A RON T ÄNZER , Die Geschichte der Juden in Hohenems und im übrigen Vorarlberg, Meran 1905, unveränd. Nachdruck, Bregenz 1982. 2 Vgl. dazu T HOMAS A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition. Lazar Levi Wälsch und die Anfänge der deutschen Schule »bey der Judenschaft in Hohenems«, in: Alemannia Studens 3 (1993), S. 5 - 19, und D ERS ., Zweierlei »Klassen«? Öffentliche Schule und Privatunterricht in der jüdischen Gemeinde Hohenems in der bayerischen Zeit (1806 - 1814), in: Alemannia Studens 4 (1994), S. 7 - 44. 3 T HOMAS A LBRICH , Jüdisches Leben in Tirol und Vorarlberg von 1806 bis 1867, in: D ERS . (Hg.), Jüdisches Leben im historischen Tirol, Bd. 2: Von der bayerischen Zeit 1806 bis zum Ende der Monarchie 1918, Innsbruck-Wien 2013, S. 70. 4 A. T ÄNZER , Die Geschichte der Juden in Hohenems (Anm. 1), S. 508. <?page no="378"?> T HOMA S A LBRI CH 378 vor der Eheschließung ausreichende Kenntnisse ihres Glaubens nachweisen mussten, auch die Juden. Daher durften zwischen 1812 und 1838 nur jene jüdischen Männer heiraten, die eine erfolgreiche Prüfung über Herz Hombergs Buch › Bne Zion ‹ [Söhne Zions] abgelegt hatten. 5 Über den ersten Lehrer Lazar Levi und seine Familie ist relativ wenig bekannt. Er und seine beiden Brüder zählten zu den Armen in einer Gemeinde, in der die sozialen Unterschiede gewaltig waren. Lazar Levi wohnte im Haus Nr. 25, war seit 1794 mit Sara Ullmann verheiratet und schwer verschuldet. Seine Schulden, so der Landrichter im Jahre 1809, hätten zum Teil im unwirtschaftlichen Benehmen seines Weibes und in dem kleinen Lehrergehalt ihren Grund. Um 1802 war er durch Mangel und Hunger sogar todkrank. Sein einziges Kind, die am 27. September 1795 geborene Tochter Hendel, starb bereits am 28. Juni 1796. Seine beiden Brüder Marx (1766 - 1846) und Abraham Lazar (1773 - 1836) waren arme Hausierer, die mit ihren Familien seit 1807 im Haus Nr. 60 »unter der alten Post« wohnten. 6 Zu Beginn des Schuljahres 1807/ 08, nach 22 Dienstjahren, nützte Lazar Levi die Gelegenheit, der neuen bayerischen Verwaltung - Vorarlberg und somit auch Hohenems gehörte seit 1806 zum Illerkreis des Königreichs Bayern - Entwicklung und Zustand der Schule sowie seine persönliche Lage zu schildern. Er erhoffte sich dadurch eine Verbesserung des desolaten Emser Schulwesens und seiner eigenen Situation. Am 20. Oktober 1807 schickte er einen ausführlichen Bericht an das bayerische Amtsgericht in Dornbirn. 7 Das Gericht akzeptierte den Bericht des Lazar Levi als faktisch richtig, was auch von der jüdischen Gemeindevorstehung bestätigt wurde. 8 Der Quellenwert von Lazar Levis Schreiben ist daher hoch und bildet im Wesentlichen die Grundlage für die folgenden Befunde dieses Beitrags. Lazar Levi wurde 1785 nach Ablegung der notwendigen Prüfungen in Bregenz zum ersten Lehrer der neuen Schule bestellt. 9 In den Anfangsjahren der Schule hielt Lazar Levi den Unterricht, gegen Mietzahlung der jüdischen Gemeinde, in seiner Wohnung im 1. Stock des Hauses Nr. 46 hinter der Synagoge ab. Im 2. Stock wohnten zu dieser Zeit noch seine Brüder. Nachdem ein neues Schulhaus um 1790 den Anforderungen nicht entsprach, kaufte die jüdische Gemeinde 1807 die Haushälfte seiner Brüder im oberen Stock des Hauses und verlegte die Schule dorthin. 10 5 C HRISTOPH L IND , Juden in den habsburgischen Ländern 1670 - 1848, in: E VELINE B RUG - GER u. a., Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2013, S. 399. 6 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 10. 7 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1807/ 1137: Lazar Levi an K. B. Landgericht Dornbirn, 22.10.1807. 8 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1807/ 1137: K. B. Landgericht Dornbirn an die Judenvorstehung in Hohenems, 26.10.1807. 9 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 6f. 10 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 12. <?page no="379"?> Ü BER DIE A N FÄNGE D ER D EU TS C HEN S C HUL E BEY DER J UDE NS CH AFT IN H O HENEM S 379 Die Emser Schule des Lazar Levi unterstand der allgemeinen Schulaufsicht und alle Unterrichtsgegenstände, außer Religion, mussten nach den Bestimmungen der allgemeinen Schulordnung gelehrt werden, wie es ein Erlass › Allgemeiner Unterricht über das deutsche Schulwesen ‹ des Guberniums in Innsbruck vom 5. Juni 1787 bis in die bayerische Zeit regelte. Für den Religionsunterricht war ein eigener hebräischer Lehrer zuständig. Die Schulpflicht galt ausnahmslos für alle Kinder vom 6. bis zum 12. Lebensjahr. 11 Die Durchsetzung der Schulpflicht blieb aber bis ins 19. Jahrhundert in allen Schulen ein Hauptproblem und konnte in Vorarlberg nicht einmal mit Zwangsmitteln erreicht werden. 12 Ein Schulzimmer musste Platz für zwei Drittel der Schulpflichtigen bieten, und ein Lehrer durfte insgesamt maximal 100 Kinder unterrichten. Die Schule war in zwei Klassen mit jeweils 25 bis 28 Schülerinnen und Schülern unterteilt, wobei die eine am Vormittag, die andere am Nachmittag unterrichtet wurde. In einer Klasse sollten die Buchstabenkenner, Buchstabierer und Anfänger im Lesen zusammengefasst sein, in der anderen die Schreiber, Leser und Rechner. Auch Lazar Levi organisierte seinen Unterricht in dieser Form. Ganzjährig hielt er zwei Stunden täglich deutschen Unterricht für die erste Klasse am Vormittag und zwei Stunden für die zweite Klasse am Nachmittag. 13 Beim Anschluss Vorarlbergs und Tirols an Bayern Anfang 1806 lebten in Hohenems 84 jüdische Familien in 56 Häusern. 14 Das hieß, dass fast aus jeder Familie ständig ein Kind die Schule besuchte. Den Großteil der Unterrichtszeit nahm in Hohenems, wie Lazar Levi 1807 ausführte, der tägliche hebräische Religionsunterricht ein, der von › hebräischen Schulmeistern ‹ außerhalb der Schule abgehalten wurde. Über die Zahl und Identität dieser Lehrer in Hohenems ist wenig bekannt. Sie wurden von den Eltern der Kinder privat bezahlt und unterrichteten meist in ihren eigenen Wohnungen. In den Gründungsjahren der Schule wurde Aron Landauer als hebräischer Schulmeister geführt, zu Beginn der bayerischen Herrschaft dann Michael Moos. Wahrscheinlich gaben auch die Privatlehrer bei den wohlhabenden jüdischen Familien in Hohenems Religionsunterricht. 15 Die wenigsten jüdischen Kinder in Hohenems besaßen eigene Bücher. Wohlhabendere Eltern mussten die vorgeschriebenen Schulbücher selbst kaufen, arme Kinder erhielten, immer zwei und zwei, ein Buch zum Lesen in der Schule. Die Bücher durften sie nicht mit nach Hause nehmen. Die Emser Schule besaß 1807 nach Auskunft des Lazar Levi folgende Bücher als Lesestoff: Das › Namensbüchl ‹ , 11 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 10. 12 StadtA Dornbirn, 44/ 1: Ignaz Anton Indermauer, Erlass vom 5.11.1793. 13 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 11. 14 T H . A LBRICH , Jüdisches Leben in Tirol und Vorarlberg (Anm. 3), S. 13. 15 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 11. <?page no="380"?> T HOMA S A LBRI CH 380 dann zwei Exemplare des zweiten Teils des › Lesebuchs für Städte ‹ und acht Exemplare des › Lesebuchs für Landschulen ‹ . Der Kauf dieses Buches war schon 1786 angeordnet worden, und es stand bis zum Beginn der bayerischen Herrschaft in Gebrauch. Alle Bücher waren 1807 schon sehr abgegriffen. 16 Lazar Levi brachte in seinem Bericht von 1807 auch einen Rückblick auf die Anfänge der Schule. In dieser Zeit habe die für der jüdischen Nation so wichtige Schulanstalt ganz ihrem nützlichen Zweck entsprochen. Der Lehrer erfüllte seine Pflicht und so kam es, wie er stolz berichtete, dass in diesen Jahren kein Hebräer den Schutz oder die Heyratsbewilligung erhielt, der kein Schulzeugnis vorweisen konnte. Die Kinder besuchten damals fleißig die Schule. In den ersten Jahren wurden jährlich öffentliche Prüfungen in Anwesenheit des Schul-Kommissärs, des Rabbiners, des Vorstehers der jüdischen Gemeinde und anderer angesehener Personen abgehalten. Die Kinder erhielten bei dieser Gelegenheit auch kleine Geschenke. Die erste derartige Prüfung fand im Winter 1788 statt. Die lokale Schulaufsicht hatte damals noch der alte Rabbiner Löb Ullmann, danach bis in die bayerische Zeit der reiche Handelsmann Nathan Elias. Ab 1792 wurde die lokale Schulinspektion an die jüdische Vorstehung übertragen, was bis 1807 zu einem stetigen Absinken des Niveaus der Schule führte, da die Aufsicht nicht mehr wahrgenommen wurde. 17 Seit ungefähr 1792 wurden keine öffentlichen Prüfungen mehr abgehalten, die Schule blieb sich selbst überlassen und geriet laut Lazar Levi in Zerfall. Der Schulbesuch ließ in den 1790er Jahren nach, jedes Kind kam nur wann es wollte, der Unfleiß riß ein, es kammen kaum der 4te Theil der Schulfähigen, und diese nicht für beständig, sondern bald dies, bald jenes. Das hatte auch Folgen für den Lehrer: Er konnte keinen geregelten Unterricht mehr abhalten und die Lehrgegenstände nicht mehr regelmäßig unterrichten. Es wurden keine Schulrequisiten mehr angeschafft und die Ausgaben des Lehrers für Tinte, Tintengefäße, Kreide, Schwämme sowie für notwendige Reparaturen an Ofen und Fenstern wurden ihm seit 1795 nicht mehr ersetzt. 18 Ein Grund für diesen generellen Verfall waren die Kriege mit Frankreich, die auch Vorarlberg ab 1796 im Zuge des Ersten Koalitionskrieges direkt trafen. Die Landesverteidigung musste aufgeboten werden, nachdem die Franzosen Anfang August Lindau eingenommen hatten. Trotz erfolgreicher Abwehr besetzten die Franzosen nach dem Abzug der österreichischen Truppen nach Tirol auch Bregenz. Bei ihren Raubzügen ins Vorarlberger Oberland wurde Hohenems und damit die jüdische Gemeinde mehrfach getroffen. Einen Monat lang, bis Mitte September 1796, stand Hohenems im Mittelpunkt der Kämpfe. Nachdem die Franzosen Bregenz räumen 16 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 13. 17 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 12f. 18 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1807/ 1137: Lazar Levi an K. B. Landgericht Dornbirn, 22.10.1807. <?page no="381"?> Ü BER DIE A N FÄNGE D ER D EU TS C HEN S C HUL E BEY DER J UDE NS CH AFT IN H O HENEM S 381 mussten, war Vorarlberg dann mehr als zwei Jahre lang, bis März 1799, von Feinden frei. 19 Lazar Levi wurde während dieser Zeit von der jüdischen Gemeinde jahrelang ohne Bezahlung die so beschwerliche militärische Quartiermacherei überbürdet. Dafür ließ man ihn selber quartierfrei. Er war freilich der Ansicht, dass er darauf ohnehin Anspruch gehabt hätte. Man überhäufte mich mit Nebenarbeiten, wofür man mir nichts zahlte. Leben mußte ich! Daher nahm er bezahlte Arbeiten an. 20 Vor allem die Ereignisse des Zweiten Koalitionskrieges zwischen 1798 und 1801 trafen dann Vorarlberg und im besonderen Hohenems schwer. Zuerst konnten die Franzosen unter General Massena im März 1799 bei Feldkirch abgewehrt und besiegt werden, im September desselben Jahres mussten sich aber 30.000 Mann österreichischer Truppen mit 8.000 Schweizer Emigranten aus der Schweiz nach Vorarlberg zurückziehen. Im Oktober 1799 traf nach einem dreiwöchigen Gewaltmarsch aus Oberitalien über die Alpen das russische Heer unter General Suworow in einem jämmerlichen Zustand in Feldkirch ein. Im Winter 1799/ 1800 war eine große österreichische Besatzung in Vorarlberg stationiert. Die Kosten für die Unterbringung aller Truppen betrugen 100.000 Gulden im Jahr. Im Mai 1800 kam es immer wieder zu Gefechten mit den Franzosen, die nördlich des Bodensees stationiert waren. Im Juli 1800 scheiterten sie bei ihrem Vormarsch aus Bregenz Richtung Feldkirch und mussten sich wieder zurückziehen. »Auf dem weiteren Rückzug nach Bregenz ließen die geschlagenen Franzosen ihre Wut auch an Hohenems aus, das ausgeraubt und geplündert wurde.« 21 Am 15. Juli 1800 mussten die Österreicher nach ihrer Niederlage bei Ulm einen Waffenstillstand unterzeichnen und sich aus Vorarlberg nach Tirol zurückziehen. Vorarlberg wurde ein halbes Jahr lang bis zum Frieden von Lunéville im Februar 1801 von den Franzosen besetzt. 22 Der Dritte Koalitionskrieg im Jahre 1805 traf Hohenems erneut. Mitte Oktober musste sich Feldmarschall-Leutnant von Jelachich aus Süddeutschland nach Hohenems zurückziehen. Nach einigen Gefechten wurde er schlussendlich mit drei Generälen, 160 Offizieren und 4.000 Mann bei Dornbirn zur Kapitulation und zum Abzug ohne Waffen nach Böhmen gezwungen. Bis zum Frieden von Pressburg im Dezember 1805 war Vorarlberg erneut von den Franzosen besetzt, was mit enormen Kosten für die Bevölkerung verbunden war. Der Friedensschluss brachte dann für acht Jahre die Bayern als neue Landesherren nach Tirol und Vorarlberg. 23 19 Zum Ersten Koalitionskrieg 1792 - 1797 vgl. T HOMAS A LBRICH , Vorarlberg 1809. Am Rande des Aufstands. Das Tagebuch des Christoph Anton Kayser, Innsbruck-Wien 2009, S. 14 - 21. 20 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 16. 21 Zum Zweiten Koalitionskrieg 1798 - 1801 vgl. T H . A LBRICH , Vorarlberg 1809 (Anm. 19), S. 21 - 34, hier 31. 22 T H . A LBRICH , Vorarlberg 1809 (Anm. 19), S. 32. 23 Zum Dritten Koalitionskrieg 1805 vgl. T H . A LBRICH , Vorarlberg 1809 (Anm. 19), S. 34 - 36. <?page no="382"?> T HOMA S A LBRI CH 382 Vor dem Hintergrund der Koalitionskriege hatten die führenden Männer der jüdischen Gemeinde Hohenems offenbar kein besonderes Interesse an der allgemeinen Schule des Lazar Levi, kümmerten sich nur unter Zwang um geltende Bestimmungen, hungerten die Schule finanziell aus, ließen keine Renovierungen durchführen, ersetzten zwischen 1795 und 1807 nicht einmal mehr die vom Lehrer ausgelegten Beträge für Unterrichtsbehelfe und Reparaturen, vernachlässigten ihre Aufsichtspflicht und ließen ihre eigenen Kinder zunehmend von Privatlehrern unterrichten. Darunter litt das Ansehen der Schule und des Lehrers. Die Schuldisziplin der Schülerinnen und Schüler sank dramatisch, ebenso die Leistungen des Lehrers. 24 Auch die soziale Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule spielte eine Rolle und bewog die höheren Schichten, Privatlehrer zu engagieren. Wer waren nun die Repräsentanten dieser »höheren Schichten« in der jüdischen Gemeinde um 1800? Der reichste Mann der Gemeinde war Josef Veit Levi (ab 1813 Rosenthal), einer der Vorsteher und Schulinspektoren, der 1809/ 10 mit einem Umsatz von 90.000 Gulden der erfolgreichste Händler der Gemeinde war. Er war jedoch ein Mann, der nach Aussage des Landrichters kaum seinen Namen unterschreiben konnte. Allerdings ließ er seinen Sohn Isaak von einem Privatlehrer unterrichten, offenbar um die Kontrolle über seine Ausbildung zu behalten. Auch der Unternehmer und Großhändler Nathan Elias (ab 1813 Brentano) erfüllte über Jahrzehnte verschiedenste leitende Funktionen in der Gemeinde. Er hatte mit seinen Söhnen »die Fabrikation von Baumwollwaren in Hohenems eingeführt.« Weiters gehörte der Hoffaktor und Bankier Lazarus Josef Levi, der Stammvater der Familie Löwenberg und Vorsteher der jüdischen Gemeinde zwischen 1785 und 1806 zu den reichen und einflussreichen Männern in der Gemeinde, ebenso sein Bruder Wolf Josef Levi, seit 1797 ebenfalls Hoffaktor, um nur einige zu nennen. Die Hoffaktoren waren die jüdische Oberschicht und entwickelten in anderen Gegenden ein dem christlichen Adel vergleichbares Selbstverständnis, nicht jedoch in Hohenems, wo alles auf ein schon sehr früh ausgebildetes bürgerliches Lebensgefühl hindeutet. 25 Lazar Levi verteidigte sich 1807 präventiv gegen den zu erwartenden Vorwurf, er habe seit über zehn Jahren nicht mehr richtig Schule gehalten. Die Schule sei schon lange ohne Aufsicht gewesen, der Schulbesuch sei nachlässig gewesen, die entsprechende Achtung ihm gegenüber erloschen und er bekomme nur einen kümmerlichen Lohn, von dem er unmöglich leben könne. 26 Lazar Levi musste Sekretärs- und andere Arbeiten für die jüdische Gemeinde erledigen, so diverse Inkasso-Aufträge, wie das vierteljährliche Einheben der Schutzgelder oder seine Tätigkeit als Lotto-Kollektor. Um sein schmales Lehrergehalt aufzubessern, erledigte er gegen 24 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 15. 25 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 16f. 26 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1807/ 1137: Lazar Levi an K. B. Landgericht Dornbirn, 22.10.1807. <?page no="383"?> Ü BER DIE A N FÄNGE D ER D EU TS C HEN S C HUL E BEY DER J UDE NS CH AFT IN H O HENEM S 383 Bezahlung auch Schreibarbeiten für die Reichen der Gemeinde. Da seine privaten Auftraggeber gleichzeitig seine amtlichen Dienstgeber waren, konnte er sich offene Kritik an deren › Schulpolitik ‹ nicht erlauben. 27 Ein wesentlicher Teil von Lazar Levis Bericht drehte sich um die kärgliche Bezahlung und insgesamt seine finanziellen Schwierigkeiten. Obwohl der ganzjährige Unterricht ebenfalls 1787 angeordnet worden war, blieb es bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiterhin mehrheitlich beim gewohnten Winterunterricht von Anfang November bis Ende März. Die Lehrer wurden daher auch nur für diese Zeit entlohnt. Für den ganzjährigen Unterricht war 1787 das Lehrergehalt mit 130 Gulden festgelegt worden. Lazar Levi erhielt 1807 von der Judengemeinde mit 150 Gulden nicht mehr als seinen 20 Jahre zuvor festgelegten Mindestlohn. 28 Das Gehalt bekam er aber nicht in bar, sondern in Form von Gutscheinen, mit denen er geschlachtetes Kleinvieh und Geflügel kaufen konnte. Ich beziehe also meinen Gehalt, zu meinem größten Nachtheile, Kreutzerweiß, ohne damit etwas Wesentliches schaffen zu können. Er bekomme jährlich einen Holzteil, für den er dankbar sei, aber die Bezahlung von Fäller-, Fuhr- und Spälterlohn koste ihn viel Geld. Vom jährlichen Schutzgeld war Lazar Levi befreit, wofür er sich auch bedankte. Dafür musste er vierteljährlich das Schutzgeld der anderen einkassieren. 29 Zum Abschluss beklagte er sich, dass er seit 22 Jahren alle Schreibarbeiten und Rechnungen der jüdischen Gemeinde ohne Bezahlung zu erledigen hatte. Zudem habe er sich durch die Einquartierung von Soldaten überall im Ort Feinde gemacht und musste dafür Tag und Nacht im Einsatz sein. Zudem musste er noch die jährliche Steuer an die Emser Christengemeinde selbst bezahlen, wozu er sich aber als Besitzer einer Realität verpflichtet halte. Daher, und nicht durch Verschwendung, oder Nachlässigkeit, die bekannte Lage meiner bedrängten häuslichen Verhältnisse! 30 In diesem Umfeld hatte der arme, schwer verschuldete und völlig von der jüdischen Gemeindeführung abhängige Lazar Levi wenig Ansehen, obwohl er als Lehrer nach Einschätzung des Landgerichts Dornbirn einer der geschicktesten oder wohl der Erste im Landgerichtsbezirke war. Trotzdem war er ein Almosenempfänger und wurde von den Reichen der jüdischen Gemeinde rücksichtslos ausgebeutet. All das stand im kompletten Gegensatz zur behördlichen Anordnung aus dem Jahre 1789, der zufolge Lehrer überhaupt von den Gemeindediensten verschonet werden sollen. 31 27 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 16. 28 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 11. 29 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1807/ 1137: Lazar Levi an K. B. Landgericht Dornbirn, 22.10.1807. 30 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1807/ 1137: Lazar Levi an K. B. Landgericht Dornbirn, 22.10.1807. 31 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 15. <?page no="384"?> T HOMA S A LBRI CH 384 Die weitere Entwicklung der Schule stand in der Zeit nach 1806 in krassem Gegensatz zur Gesamtentwicklung der jüdischen Gemeinde, die als Kollektiv generell von der neuen bayerischen Herrschaft profitierte. Die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung machte große Fortschritte und die Bevölkerungszahl der jüdischen Gemeinde stieg innerhalb von nur fünf Jahren von 360 auf 484 Personen in 90 Haushalten. 32 Die Kehrseite der Liberalisierung war der immer größere Unterschied zwischen arm und reich: während der Umsatz der 52 Handelsmänner und Hausierer 1810 auf fast 700.000 Gulden angestiegen war, mussten gleichzeitig 46 Arme von der Gemeinde unterstützt werden. Weitere Familien wurden durch ihre Freunde erhalten. 33 Die sozialen Unterschiede zeigte sich im Erziehungswesen besonders deutlich. Bis 1812 entwickelte sich die öffentliche Schule in Ems zu einer › Armenschule ‹ mit den sozial unterprivilegierten Kindern, während die reichen Kinder von Privatlehrern unterrichtet wurden. Die Festschreibung sozialer Ungleichheit in der jüdischen Gemeinde für die nächste Generation geschah in dieser Zeit. 34 Lazar Levis Klage vom 20. Oktober 1807 beim Landgericht Dornbirn zeitigte sofortige Wirkung. Der Vorsteher Nathan Elias musste Stellung nehmen, die vorerst etwas nach Ausflüchten klang. Immerhin wurde versprochen: wan der Lehrer in Zukunft fleißiger ist, ihm seine Besoldung um etwas zu verbessern. 35 Daran und an weiteren Forderungen Lazar Levis entzündeten sich immer wieder unschöne Konflikte zwischen Lehrer und Gemeinde, die bis zu seiner Pensionierung 1812 zu keinem Ende kamen. Ein weiteres Problem, das direkt die Schule betraf, war die erwähnte zunehmende Zahl von Privatlehrern, die von den Wohlhabenden angestellt wurden. Schon im Schuljahr 1807/ 08 wurden 16 der 55 Schulkinder von sechs Privatlehrern exklusiv unterrichtet, was den geltenden Gesetzen widersprach. 36 Nach dem Aufstand von 1809 gegen die bayerische Herrschaft besuchten im folgenden Schuljahr 1809/ 10 von 76 Schulpflichtigen 42 bei Lazar Levi die Deutsche Schule, 27 Kinder wurden von sechs Privatlehrern unterrichtet. Mit Lazar Levi, der nun 200 Gulden jährlich verdiente, war die Gemeindeführung im Herbst 1810 zufrieden. 37 32 A. T ÄNZER , Die Geschichte der Juden in Hohenems (Anm. 1), S. 185. 33 Zur Lage der armen Emser Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. M ONIKA V OLAUCNIK -D EFRANCESCO , Arme und Hausierer in der jüdischen Gemeinde von Hohenems, 1800 - 1860 (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs 12), Dornbirn 1993. 34 T H . A LBRICH , Zweierlei »Klassen«? (Anm. 2), S. 8. 35 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1807/ 1137: Nathan Elias und Isaak Wolf Levi an K. B. Landgericht Dornbirn, 26.10.1807. 36 T H . A LBRICH , Zweierlei »Klassen«? (Anm. 2), S. 10 - 12. 37 T H . A LBRICH , Zweierlei »Klassen«? (Anm. 2), S. 14. <?page no="385"?> Ü BER DIE A N FÄNGE D ER D EU TS C HEN S C HUL E BEY DER J UDE NS CH AFT IN H O HENEM S 385 Die bekanntesten Privatlehrer in Hohenems waren Mayer Bretzfeld aus Bayreuth, Jacob Bamberger und Samuel Zürndorfer aus Fürth, Simon Oettinger aus Dettingen und Simon Drach aus Straßburg. Am 22. Oktober 1810, am Anfang des Schuljahres 1810/ 11, wurden die jüdischen Schülerinnen und Schüler vom Dornbirner Landrichter persönlich geprüft. Im Gegensatz zu den Privatschülerinnen und -schülern, die alle › sehr gut ‹ entsprachen, waren jene des Lazar Levi in jedem Fach durchwegs sehr schwach. Grund war die außerordentliche Nachlässigkeit, womit die gemeinen Juden ihre Kinder bisher in die Schule geschickt hätten. 38 Obwohl der Besuch der Schule mehr als unregelmäßig war, wurden die Eltern nicht bestraft. Zu offensichtlich war die wirtschaftliche Notwendigkeit für die armen Familien, ihre Kinder zur Arbeit heranzuziehen. Das Prüfungsergebnis war katastrophal: Kinder, welche schon das Multiplizieren, und Dividieren verstehen sollten, wußten nicht einmal größere Zahlen auf die Tafel anzuschreiben. Von den Buchstabenregeln wußten sie zwar einige, aber diese nicht auf jeden Fall anzuwenden. Die Regeln der Rechtschreibung waren ihnen größtentheils unbekannt, aber im Lesen waren die Ersteren [d. h. die Besten, Th. A.] so ziemlich fertig. All dies rührt von der außerordentlichen Nachläßigkeit her, womit die gemeinen Juden ihre Kinder bisher in die Schule geschickt haben, und worüber sich der Lehrer mit dem tabellarischen Ausweis über den Schulbesuch legitimiert hat. Bisher sind sie mit keiner Strafe belegt worden, und die Judenvorsteher wirkten umsoweniger zum besten der öffentlichen Schule, da alle Kinder der ansehlichen und vermöglicheren Juden bei geschickten Privatlehrern Unterricht nahmen. 39 Ein Jahr später, Ende 1811, entschied das K. B. General-Kommissariat Kempten nach langen Querelen der Emser Privatlehrer untereinander, Lazar Levi zu pensionieren und Mayer Bretzfeld aus Bayreuth als dessen Nachfolger zu ernennen. Lazar Levi und die jüdische Gemeinde wehrten sich erfolgreich dagegen, da diese nicht auf seine billige Arbeitskraft verzichten wollte und Lazar Levi das Geld brauchte, um seine Schulden in Höhe von 700 Gulden zurückzuzahlen. 40 Kurz vor seiner Pensionierung erreichte er im Mai 1812 noch einen Erfolg bei den bayerischen Behörden: Sein Hinweis auf eine geplante Privatschule in Hohenems alarmierte das General-Kommissariat in Kempten, das äußerst scharf reagierte und das Landgericht in Dornbirn anwies, jeden Versuch der Eröffnung einer derartigen Winkelschule in Hohenems jetzt und künftig energisch zu unterdrücken. 41 38 T H . A LBRICH , Zweierlei »Klassen«? (Anm. 2), S. 16f. 39 VLA, Lg. Dornbirn, Sch. 221 Schule, 1810/ 1141: K. B. Landgericht Dornbirn an K. B. General-Kommissariat Kempten, 29.10.1810. 40 T H . A LBRICH , Zweierlei »Klassen«? (Anm. 2), S. 25f. 41 T H . A LBRICH , Zweierlei »Klassen«? (Anm. 2), S. 29. <?page no="386"?> T HOMA S A LBRI CH 386 Mit Ende des Schuljahres 1811/ 12 wurde Lazar Levi pensioniert. Sein Nachfolger bis 1814 wurde Jacob Bamberger, der nach zwei Jahren bereits 400 Gulden erhielt, also das doppelte Jahresgehalt von Lazar Levi. 42 Dieser nahm im Zuge des bayerischen Edikts 1813 mit seinen Brüdern den Familiennamen Wälsch an. 43 Der Aufschwung der Emser Judengemeinde während der bayerischen Zeit zeigte sich auch in der Gründung einer Lesegesellschaft im Februar 1813, dem ersten modernen Verein in Vorarlberg. Vereinszweck war »ein die Bildung des Geistes befürwortender angenehmer Umgang«. Lazar Levi Wälsch war Gründungsmitglied und wurde zum Direktor bestimmt. Die 23 Gründungsmitglieder gehörten zur jüngeren, gebildeten Generation und mehr als die Hälfte waren unselbständige Privatlehrer oder Schreiber, meist Zuwanderer. 44 Lazar Levi Wälsch starb am 3. März 1836 an Lungenlähmung und wurde im Grab Nr. 106 auf dem israelitischen Friedhof in Hohenems beigesetzt. 45 Abschließend eine Bilanz der ersten 30 Jahre der Deutschen Schule in Hohenems: Die Gründung der Deutschen Schule wurde 1784 nicht von der jüdischen Gemeinde Hohenems beschlossen, wie Aron Tänzer 1905 behauptete, sondern von oben, von der Landesbehörde, angeordnet. Laut Lazar Levi war 1785 durch das damalige K. K. Kreis- und Oberamt Bregenz, die deutsche Schule bei der Judenschaft in Hohenems gemäß allerhöchster Vorschrift eingeführet worden. Daher ist klar, dass wir, im Gegensatz zu Aron Tänzers Version, von einer oktroyierten weltlichen Bildung bei der Emser Judengemeinde ausgehen müssen. Mit der Übernahme der Schulaufsicht durch die jüdische Gemeindevorstehung 1792 und die nachlassende Kontrolle durch die Behörden setzte der Niedergang der Schule ein. Der zunehmende Verfall dieses Modells deutet ebenfalls in die Richtung einer von oben angeordneten Gründung der Deutschen Schule, deren Erziehungszielen sowohl die Wohlhabenden als auch die Orthodoxen aus unterschiedlichen Gründen Widerstand entgegensetzten. 46 Angesichts dieser Zustände darf bezweifelt werden, ob für den Beginn des 19. Jahrhunderts noch zutraf, was Aron Tänzer schon für das 17. Jahrhundert behauptete, dass nämlich › alle Hohenemser Juden deutsch lesen und schreiben, selbstverständlich noch besser rechnen ‹ konnten. 47 42 T H . A LBRICH , Zweierlei »Klassen«? (Anm. 2), S. 33f. 43 A. T ÄNZER , Die Geschichte der Juden in Hohenems (Anm. 1), S. 508. 44 T H . A LBRICH , Jüdisches Leben in Tirol und Vorarlberg (Anm. 3), S. 71f. 45 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 10. 46 T H . A LBRICH , Bildung zwischen Aufklärung und Tradition (Anm. 2), S. 18f. 47 A. T ÄNZER , Die Geschichte der Juden in Hohenems (Anm. 1), S. 505. <?page no="387"?> 387 C LAUDIA R IED Ein staatliches Erfolgsmodell? Jüdisches Schul- und Bildungswesen in bayerisch-schwäbischen Landgemeinden während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Nachdem sich der jüdische Bevölkerungsanteil durch die territorialen Zugewinne am Ende des Alten Reiches erstmals seit den frühneuzeitlichen Judenvertreibungen wieder deutlich erhöht hatte, 1 führte das Kurfürstentum Bayern mit dem Erlass der Verordnung den verbesserten Schulunterricht der Juden 2 betreffend am 18. Juni 1804 die Schulpflicht für jüdische Kinder ein. Die in der Verordnung als schädliche Mitglieder des Staates erachteten Juden, die in ihrer moralischen Bildung [als] gänzlich vernachlässigte Classe angesehen wurden, sollten durch den verbesserten Schulunterricht dem Staat [zukünftig] von Nutzen sein. 3 Neben dem Recht der Juden auf den Besuch sämtlicher Lehranstalten erlaubte die Verordnung den jüdischen Kultusgemeinden - sofern sie die Kosten dafür selbst bestritten - auch die Führung eigener, den geltenden Vorschriften entsprechenden Schulen mit staatlich geprüften Lehrern. In Ortschaften, an denen keine jüdischen Schulen vorhanden waren, bestand für jüdische Kinder mit dem Inkrafttreten der Verordnung die Pflicht, die örtlichen Schulen zu besuchen, wobei der Kurfürst in diesem Fall von den beteiligten Christlichen Lehrern [erwartete], daß sie ihren Zöglingen ohne Unterschied die Grundsäze ächter christlicher Moral, nemlich der Menschenliebe und wechselseitige Duldung einflößen werden. 4 Mit dem Übergang Schwabens an das Kurfürstentum bzw. Königreich Bayern galten die genannten Vorgaben auch für die dortigen Jüdinnen und Juden. 1 Zu den Grundstrukturen der Judenpolitik im Herzogtum bzw. Kurfürstentum Bayern vgl. C LAUDIA R IED , Zeit des Umbruchs? Die Auswirkungen des bayerischen Judenedikts auf die schwäbischen Landjudengemeinden (1813 - 1850) (Veröff. SFG 11/ 6), Friedberg