(Kritische) Fremdsprachenlehrkraft werden
1125
2024
978-3-3811-1672-0
978-3-3811-1671-3
Gunter Narr Verlag
David Gerlachhttps://orcid.org/0000-0003-1112-9881
Mareen Lükehttps://orcid.org/0000-0002-8329-1338
10.24053/9783381116720
Dieses Studienbuch ermutigt, den eigenen Fremdsprachenunterricht und seine Praktiken zu hinterfragen. Es führt in zentrale Aspekte einer kritischen Fremdsprachendidaktik ein, welche zum Ziel hat, gesellschaftlich relevante Themen in einen Unterricht zu bringen, der Lernende motiviert und zum aktiven Handeln gegen soziale Ungerechtigkeit ermutigt. (Angehende) Lehrpersonen entwickeln eine kritische Distanz zu den traditionellen Gegenständen des Fremdsprachenunterrichts, reflektieren ihren eigenen Professionalisierungsprozess und entwickeln Innovationen für ihren Unterricht.
<?page no="0"?> (Kritische) Fremdsprachenlehrkraft werden David Gerlach / Mareen Lüke <?page no="1"?> Prof. Dr. David Gerlach ist Lehrstuhlinhaber für die Didaktik des Englischen an der Bergischen Universität Wuppertal. Er arbeitet primär im Bereich der fremdsprachlichen Lehrer: innen- und Professionsforschung sowie zur Kritischen Fremdsprachendidaktik. Foto: Friederike von Heyden/ BUW Dr. Mareen Lüke ist Studienleiterin und pädagogische Mitarbeiterin im Bildungszentrum HVHS Hustedt und promovierte in der Englischdidaktik im Bereich der Kritischen Fremdsprachendidaktik und Fremdsprachenlehrkräftebildung. <?page no="2"?> narr STUDIENBÜCHER <?page no="4"?> David Gerlach / Mareen Lüke (Kritische) Fremdsprachenlehrkraft werden <?page no="5"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381116720 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-381-11671-3 (Print) ISBN 978-3-381-11672-0 (ePDF) ISBN 978-3-381-11673-7 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="6"?> 9 1 13 1.1 16 1.2 17 1.3 25 2 29 2.1 30 2.1.1 34 2.1.2 36 2.1.3 39 2.1.4 41 2.1.5 43 2.1.6 45 2.2 46 2.2.1 49 2.2.2 55 2.2.3 60 2.2.4 63 2.3 66 2.3.1 66 2.3.2 69 2.3.3 71 2.3.4 74 2.3.5 81 2.3.6 86 2.4 87 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . Ich als Fremdsprachenlehrkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beruf „Fremdsprachenlehrer: in“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdsprachenlehrer: innen und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung . . . . . . . . . . . . . . Strukturtheoretischer Bestimmungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenztheoretischer Bestimmungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsbiographischer Bestimmungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Bestimmungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meta-Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Betrachtung der Bestimmungsansätze . . . . . . . . . . . . . Fremdsprachendidaktische Ansätze der Fremdsprachenlehrer: innenbildung und unterrichtliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung zur Professionalität und Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextsensibler Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusiver Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz Wissen, Können und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überzeugungen und Mindset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion und Reflektieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzen von Fremdsprachenlehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Zusammenspiel der einzelnen Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . Normen des Fremdsprachenunterrichts und deren Implikationen für die Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 3 95 3.1 96 3.2 108 3.3 113 3.4 119 3.5 131 4 133 4.1 134 4.2 143 4.3 152 4.4 161 4.5 165 4.5.1 166 4.5.2 171 4.5.3 175 4.6 180 5 183 5.1 184 5.2 187 5.3 189 5.4 192 5.5 194 5.6 197 5.7 199 5.8 201 5.9 204 5.10 206 5.11 209 Kritische Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik an der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Kritischer Fremdsprachendidaktik zu weiteren aktuell relevanten Konzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutet es, einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht zu gestalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung - Ein Überblick . . . . Lehrpersonenbildungsstandards und eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Language Teacher Identity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Lehrpersonen und die Idee von Neutralität . . . . . . . . . . . . . . Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexionsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materialentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutet es, eine kritische Fremdsprachenlehrkraft zu werden/ sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Fremdsprachenlehrpersonen in einem kritischen Fremdsprachenunterricht: Beispiele und Reflexionsanlässe . . . . . . . . . . . . . . Gender Awareness im Fremdsprachenunterricht fördern . . . . . . . . . . . Rassismuskritik im Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltigkeit im Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Fremdsprachenunterricht über Gewalt und Tod sprechen . . . . . . . LGBTQIA+ und sexuelle Identität im Fremdsprachenunterricht thematisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über soziale Klasse im Fremdsprachenunterricht ins Gespräch kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schönheits- und Körpernormen im Fremdsprachenunterricht bewusst machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschwörungstheorien und Dystopien im Fremdsprachenunterricht dekonstruieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über mentale Gesundheit sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Machtstrukturen im Fremdsprachenunterricht selbst thematisieren . Zusammenfassende Betrachtung der Unterrichtsbeispiele . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="8"?> 6 211 6.1 213 6.1.1 215 6.1.2 221 6.2 225 6.3 230 237 239 258 259 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung Typ Fremdsprachenlehrperson „Übernahme von Normen“ . . . . . . . . . Typ Fremdsprachenlehrperson „Aushandlung von Normen“ . . . . . . . Perspektiven für die Aus- und Fortbildung: Reflexionsebenen . . . . . . Perspektiven für Aus- und Fortbildung: Methodische Anregungen zusammengefasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="10"?> Vorwort We need to educate students to be critical agents, to learn how to take risks, engage in thoughtful dialogue, and taking on the crucial issue what it means to be socially responsible. Henry Giroux (2011a) Man kann Henry Giroux als „kritischen Pädagogen“ bezeichnen, als einen sozialkri‐ tischen Pädagogikprofessor, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, unangenehme Fragen an ein US-amerikanisches Bildungssystem zu stellen. Als Anhänger einer im Grundsatz emanzipatorischen Pädagogik im Anschluss an Paulo Freire legt er den Finger in die Wunde eines Systems von standardorientiertem Testen und Prüfen, kritisiert den starken Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund von Schüler: innen, ihren Bildungschancen und Leistungen und hinterfragt die Wirk‐ mächtigkeit curricularer Vorgaben zum Erhalt bildungspolitischer Ideologie (vgl. Giroux 1983/ 1997/ 2011b, Shor 1998). Das kennen wir: die Kritik am US-amerikanischen Bildungssystem. Aber: Was hat das mit Deutschland und dem deutschsprachigen Raum, der DACH-Region, im weitesten Sinne zu tun? Nun, nicht selten schwappen Entwick‐ lungen aus den USA über den Atlantik nach Europa, nicht immer und sicherlich nicht durchgehend in aller Konsequenz, aber in Tendenzen durchaus. Wir erkennen Muster wieder: z.B. den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund von Kindern und Jugendlichen und ihrem Bildungserfolg bzw. ihrer Benachteiligung im deutschen Schulsystem (vgl. OECD 2016, IQB 2023), eine zunehmende Orientierung an Bildungsstandards (vgl. Bonnet 2020, Bonnet/ Hericks 2020a) (wenn auch nicht in der schulpolitischen-neoliberalen Dramatik der USA) sowie eine „Durchprozessierung“ von Inhalten z.B. entlang von Lehrwerken (vgl. Bonnet/ Hericks 2020b, Gerlach/ Lüke 2024, Gray 2019 für Großbritannien). Dies alles scheint aktuell - was wir später noch genauer belegen werden - besonders im Fremdsprachenunterricht virulent zu werden - dem Fach, das Sie, liebe: r Leser: in, unterrichten. Das Bemerkenswerte dabei ist eigentlich, dass wir uns von diesen Entwicklungen kaum frei machen können. Wir können ein Lehrwerk nicht einfach abschaffen oder ignorieren, wir haben auch keinen Einfluss auf die Kontexte unserer Lernenden. Aber: Wir können Gelegenheiten schaffen, sodass die Lernenden von dem, was wir tun, überproportional profitieren. Genau aus diesem Grund haben wir dieses Buch geschrieben. Wir, Mareen Lüke und David Gerlach, beschäftigen uns seit vielen Jahren damit, wie Lehramtsstudierende der modernen Fremdsprachen zu Fremdsprachenlehrpersonen werden, wie sie aktiv Kompetenzen entwickeln, wie sie aber auch in Strukturen sozi‐ alisiert werden, und wie der Unterricht aussieht, der dabei herauskommt. Parallel dazu beobachten wir - wie Sie sicherlich ebenfalls - die Herausforderungen der globalen und lokalen Gesellschaften, die uns umgeben. Diese sind geprägt von Umbrüchen und <?page no="11"?> Unsicherheiten, Kriegen, Formen von Diskriminierung und Machtkonstellationen. He‐ ranwachsende müssen mit dieser ungewissen und krisenhaften Komplexität umgehen (lernen). Sie, liebe Leser: innen, entwickeln eine soziale Verantwortung für sich selbst und andere, für eine zukünftige Gesellschaft, die scheinbar zunehmend fragiler wird. Wenn wir als Lehrpersonen - im Sinne Giroux’ - „critical agents“ werden, gemeinsam mit Lernenden in einen Dialog über Ängste und Bedürfnisse treten und ein soziales Bewusstsein entwickeln sollen, dann können wir als Fremdsprachenlehrkräfte ein Baustein sein, Schüler: innen dabei zu helfen, sozial verantwortlich zu handeln. Gerade der Fremdsprachenunterricht mit seinen globalen Zielen der Förderung (inter-)kultur‐ eller und sprachlicher Kompetenzen müsste hierfür prädestiniert sein. Aber erfüllt er wirklich die Ansprüche? Und wie erkennen wir als Fremdsprachenlehrer: innen, dass wir in diesem Sinne pädagogisch handeln? Und wie schauen wir (selbst-)kritisch auf uns und unser Handeln? Dieses Studienbuch ist möglicherweise anders als andere Studienbücher oder Einführungswerke, die Sie kennen: Ja, Sie werden in diesem Studienbuch zahlrei‐ che theoretische Grundlagen kennenlernen. Sie werden z.B. Denkfiguren aus der Lehrer: innenbildung und -professionalisierung kennenlernen oder methodisch-didak‐ tische Prinzipien des Fremdsprachenunterrichts. Sie erfahren etwas dazu, wie Fremd‐ sprachenunterricht so gestaltet werden kann, dass er relevante (tabuisierte) Themen aufgreift, denen ein großes Bildungspotenzial innewohnt. Aber: Sie werden hoffentlich auch sehr viel über sich selbst erfahren. Denn das Ziel dieses Studienbuches ist es, eine Reflexionsgelegenheit zu schaffen, die Ihnen hilft, Ihr Dasein als Fremdsprachenlehrperson und Ihre Eingebundenheit in komplexere Zusammenhänge des Bildungssystems zu hinterfragen. Das mag zunächst merkwürdig anmuten, gleichwohl verfolgen wir damit mehrere Ziele: Wir gehen davon aus, dass sich ein bildungsorientierter Fremdsprachenunterricht nicht einstellen kann, wenn wir die Inhalte und Gegenstände des Unterrichts nicht kritisch reflektieren und in diversen Lerngruppen die Bedürfnisse der Lernenden angemessen adressieren. Und wir glauben auch, dass diese Bedürfnisse allein durch Maßnahmen von Differenzierung und Individualisierung nicht adressiert werden können - dazu aber später mehr. Wir sind ebenfalls davon überzeugt, dass die Idee, wie wir Fremdsprachenunterricht denken und wie wir die Rolle von Ihnen in diesem Fremdsprachenunterricht denken, zum einen weder gänzlich neu ist noch dass sie „on top“ als zusätzliche Belastung gesehen werden müssten. Ganz im Gegenteil: Beides trägt dazu bei, dass Sie einen Fremdspra‐ chenunterricht reflektieren und gestalten lernen, der Ihnen selbst ein höheres Maß an Autonomieerleben und Freude sowie Begeisterung auf Seiten der Lernenden erlaubt. Gleichzeitig bietet dieses Studienbuch die Gelegenheit, sich Ihrer hohen Wirkmächtig‐ keit im Fremdsprachenunterricht im Umgang mit den Schüler: innen bewusst oder noch bewusster zu werden. Die Natur eines solchen Studienbuches ist damit eine komplexitätsreduzierende: Wir fassen Theorien und Untersuchungen zusammen und liefern Literaturhinweise, die Ihnen helfen, einzelne Aspekte zu vertiefen. Zahlreiche Kästen dienen als Exkurse, 10 Vorwort <?page no="12"?> Zusammenfassungen von Forschung oder spannender Literatur. In den Kästen finden Sie auch Reflexionsaufgaben, die sich in dem Moment ganz explizit an Sie richten. Nutzen Sie die Momente zum Innehalten und Nachdenken! Gut zu wissen: Die Infokästen in diesem Studienbuch In diesem Studienbuch arbeiten wir mit Informationskästen. Diese dienen meh‐ reren Zwecken: Mal sollen sie Sie zum Nachdenken anregen, mal stellen wir weiterführendes Hintergrundwissen vor. Mit diesen Kästen arbeiten wir: • In diesem Kapitel: Dieser Infokasten steht zu Beginn jedes der größeren sechs Kapitel und gibt Ihnen einen Vorgeschmack darauf, was in dem Kapitel passiert. • Reflexionsaufgaben dienen in dem Moment, in dem sie Ihnen präsentiert werden, dazu, innezuhalten und sich einen Moment mit den Reflexionsfragen zu beschäftigen. An einigen Stellen werden wir Sie auch auffordern, aktiv etwas zu tun. Machen Sie mit - Sie machen diese Aufgaben ja ausschließlich für sich selbst. • Forschung im Fokus: Dieser Kasten stellt zentrale Forschungsergebnisse aus dem Bereich vor, der an der Stelle im Buch gerade relevant ist. • Literaturempfehlung verweist auf Publikationen, die wir für eine sinnvolle Ergänzung zu diesem Studienbuch halten. • Gut zu wissen erläutert einen Sachverhalt oder Hintergrund bzw. ein Konzept oder Konstrukt näher. • Begriffsbestimmung hilft der Definition und soll Ihnen verdeutlichen, wie wir bestimmte Konzepte verstehen und in diesem Studienbuch nutzen. • Stimmen von Lehrpersonen: In diesem Kasten lassen wir Lehrpersonen zu Wort kommen, die entweder in unseren eigenen Untersuchungen oder in Studien von Kolleg: innen über sich selbst oder Unterricht gesprochen haben. Diese Stimmen dienen uns im weitesten Sinne zur Reflexion, illustrieren aber auch echte Unterrichtspraxis bzw. echtes Lehrer: innensein mit allen Vorzügen, Freuden, Zwängen und Aufgaben, die dazugehören. Dieses Studienbuch dient nicht dazu, kurz quergelesen zu werden. Tatsächlich emp‐ fehlen wir ein lineares Lesen von vorne bis hinten, denn das Buch folgt einer gewissen Dramaturgie: Zunächst beschäftigen wir uns mit Ihnen und Ihrer Rolle im Fremdsprachenunterricht. Wir diskutieren einige Anforderungen, die Sie qua Berufsstand erfüllen sollen, reißen aber auch bereits an, unter welchen Zwängen wir im Unterricht häufig agieren (Kapitel 1). Anschließend kümmern wir uns in Kapitel 2 um die fremdsprachliche Lehrer: innenbildung und betrachten genauer, wie diese funktioniert und wie sie in der Forschung betrachtet wird. Wir als Autor: innen arbeiten in unserer Forschung wissenssoziologisch, was dazu führt, dass wir uns - wenn es Vorwort 11 <?page no="13"?> um Reflexion gehen soll - genauer anschauen, was eigentlich Reflexion ist, was Wissen, Können und Handeln für Fremdsprachenunterricht bedeutet und wie diese Konstrukte miteinander verwoben sind. Gewissermaßen im Zentrum dieses Buches - in Kapitel 3 - steht dann die Vorstellung einer „Kritischen Fremdsprachendidaktik“, also einer Idee, wie Fremdsprachenunterricht entlang gesellschaftlich und politisch relevanter („machtkritischer“) Themen angereichert werden kann, die für Lernende eine zunehmende Relevanz erhalten (vgl. Gerlach 2020a). Eine Voraussetzung für einen solchen Unterricht ist natürlich die Lehrperson. Ihr widmen wir Kapitel 4 und zeigen, wie Sie einen solchen Unterricht gestalten können. Hierzu gehört auch, dass Sie die Grundprinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik nachvollziehen können. Wenn Sie das Buch bis dahin - unserer Bitte eines linear-chronologischen Lesens von oben nachkommend - gelesen haben, dürften Sie aber so weit sein. Letzte Zweifel, z.B. die Frage, wie ein kritisch aufgeladener Unterricht mit dem Neutralitätsgebot von Lehrkräften in Einklang gebracht werden kann, räumen wir dort auch aus. Anhand einiger Unterrichtsbeispiele überlegen wir in Kapitel 5, auf welche Anforderungen, Risiken, aber auch Chancen wir uns im Fremdsprachenunterricht mit kritischen Auseinandersetzungen einlassen und diskutieren zuletzt in Kapitel 6, wie Professionalisierung Sie als eine kritische Fremdsprachenlehrperson als lebenslanger Lernprozess immer begleiten und bereichern kann. Wir freuen uns, wenn Sie uns durch das Buch begleiten und es für Sie zu einer Bereicherung für Ihren Unterrichtsalltag und Ihr Lehrer: innendasein wird! Zwar stehen nur unsere beiden Namen auf der Titelseite, unterstützt wurden wir beim Schreibprozess aber von zahlreichen Kolleg: innen, denen wir zu Dank verpflichtet sind. Zum einen sind das Kolleg: innen, deren Forschungsergebnisse wir für dieses Buch nutzen durften und die mit uns in Projekten zusammengearbeitet und damit indirekt einen Großteil der „Denke“ hinter diesem Buch geprägt haben. Wir danken außerdem Svenja Dehler, Natalie Güllü und Dr. Annette Kroschewski für die wertvollen Hinweise, Ergänzungen und Vorschläge zu ersten Entwurfsfassungen des Buches, Kathrin Heyng vom Narr-Verlag für das finale Lektorat. Ganz besonderer Dank gilt den mittlerweile mehr als 330 Studierenden aus David Gerlachs Kursen zu Critical Language Education: Zahlreiche Ideen, Prinzipien sowie Unterrichtsbeispiele entstammen den inspirierenden Diskussionen aus diesen Seminaren. Herzlichen Dank dafür! David Gerlach & Mareen Lüke Wuppertal und Celle im August 2024 12 Vorwort <?page no="14"?> 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen The teacher is of course an artist, but being an artist does not mean that he or she can make the profile, can shape the students. What the educator does in teaching is to make it possible for the students to become themselves. Myles Horton & Paulo Freire (1990: 181) In diesem Kapitel Dieses Kapitel zeichnet unterschiedliche Bilder von Fremdsprachenlehrpersonen und stellt die curricularen bzw. institutionellen Anforderungen sowie theoreti‐ schen Konzepte vor. Es dient gleichzeitig der Bewusstmachung und Reflexion des eigenen Selbstverständnisses als Lehrperson. Reflexionsaufgabe Wir starten mit einer vielleicht etwas ungewöhnlichen Reflexionsidee in dieses Studienbuch: Wir möchten Sie bitten, ein leeres Blatt Papier oder eine leere Seite auf Ihrem Tablet zu öffnen, sich einen (digitalen) Stift zu nehmen und einen Timer auf drei Minuten zu stellen. Dann: Malen Sie sich bitte selbst in Ihrem (zukünftigen) Fremdsprachenunterricht! Das Bild, das dabei entsteht, muss keinesfalls künstlerisch anspruchsvoll sein (schließlich ist es „for your eyes only“). Wichtig ist uns aber, dass Sie die Seite aufbewahren. Wir brauchen Sie zu späteren Zeitpunkten in diesem Buch wieder … Schule verfolgt einen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Kindern und Jugendlichen sollen nicht nur Inhalte, Allgemein- und fachspezifisches Wissen, sondern auch Werte vermittelt werden, die mit freiheitlich-demokratischen Grundprinzipien in Einklang sind. Schule hat damit eine Sozialisierungsfunktion, die darauf ausgerichtet ist, „mün‐ dige“ Bürger: innen zu „produzieren“. Das ist zunächst einmal ein Widerspruch: Die etwas saloppe Formulierung des „Produzierens“ erinnert an Fließbandproduktion und ruft natürlich (alte) Kritik am Bildungssystem und einer Outputorientierung hervor. Die Idee „mündiger Bürger: innen“ ist im Gegensatz dazu eine von Emanzipation, Förderung und Individualität; „Produkte“ sind im Gegensatz dazu nicht individuell, sondern einheitlich, konform, austauschbar. Bildung verstehen wir heute ganz grund‐ sätzlich als einen individuellen Prozess. Und wenn wir uns in diesem Studienbuch mit <?page no="15"?> dem Fremdsprachenunterricht beschäftigen wollen und welche Rolle die Lehrperson in diesem Unterricht spielt, müssen wir uns zunächst der Frage widmen, was denn der Fremdsprachenunterricht mit Bildung zu tun hat. Reflexionsaufgabe Entwerfen Sie eine Mindmap um die Knoten (a) „Bildung und Fremdsprachenun‐ terricht“ sowie (b) „Outputorientierung und Fremdsprachenunterricht“. Was fällt Ihnen an Stichworten und Kategorien ein? Selbstverständlich gibt es im Fremdsprachenunterricht stärker übungsorientierte Pha‐ sen, Phasen, in denen im klassischen Sinne „gelernt“ oder Regeln erklärt werden müssen. Dies wird sehr häufig mit Grammatik- oder Wortschatzlernen in Verbindung gebracht, die als Grundlagen für kommunikative Kompetenzen im weiteren Sinne gel‐ ten. Sprachliches Handeln setzt sprachliche Mittel voraus, die sprachlichen Fertigkeiten (Hörverstehen, Lesen, Sprechen, Schreiben, Sprachmittlung) nutzen diese sprachlichen Mittel für (interkulturell) kommunikative Zwecke. Handlungs- und Aufgabenorientie‐ rung im Fremdsprachenunterricht (siehe Kapitel 2.2.4) schaffen möglichst relevante, authentische Austauschszenarien, in denen sprachliche Mittel und Fertigkeiten sinn‐ voll eingesetzt werden, d.h. der kommunikative Anlass, der Grund in der Fremdsprache Kompetenzen zu nutzen, besteht vor der Vermittlung und dem Üben sprachlicher Mittel. In der Vergangenheit prägte das stärker technisierte Erlernen von Grammatikregeln (noch früher auch das direkte Übersetzen) das Bild vom Fremdsprachenunterricht (vgl. z.B. für einen historischen Überblick: Reinfried 2016 und de Cillia/ Klippel 2016). Das gehört heute glücklicherweise der Vergangenheit an. Ein Abarbeiten von Regeln ohne sinnvolle inhaltliche (d.h. kommunikationsorientierte) Füllung widerspricht den Anforderungen einer modernen Fremdsprachendidaktik (übrigens schon seit den 1970er bzw. 1980er Jahren, vgl. Piepho 1974). Die Anforderungen an Lehrpersonen (und auch die Unterrichtsmaterialien), einer sinnvollen Progression folgend kommunikative Situationen zu schaffen, für die sprachliche Mittel in einer gewissen Breite zur Verfügung stehen, sind damit keineswegs trivial. Hinzu kommt, dass der Fremdspra‐ chenunterricht nicht nur Sprache, sprachliche Mittel und Fertigkeiten zum Gegenstand macht, sondern auch Kompetenzen wie interkulturelle Kompetenzen (siehe Kapitel 3.3), Sprachbewusstheit, Textkompetenz und ganz besonders auch spezifische Inhalte thematisiert. Dies alles macht den Fremdsprachenunterricht zu einem komplexen Unterfangen. Natürlich wäre es ein Leichtes, dabei einfach nur der inhaltlichen und sprachlichen Progression im Lehrwerk zu folgen und klassischerweise die Lernenden bestimmte sprachliche Phänomene üben zu lassen. Das ist aber schließlich nicht die Idee des zeitgemäßen Fremdsprachenunterrichts. 14 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="16"?> Stimmen von Lehrpersonen: „wir wollen gerne jetzt auf ein Niveau A2 kommen“ (eigene, bislang unveröffentlichte Daten) Eine Lehrerin beschreibt die inhaltliche Gestaltung ihres Englischunterrichts in einem eigenen Forschungsprojekt folgendermaßen: Ja, Englischunterricht an sich, ja, Sprachentwicklung ähm abschlussbezogen bedeutet, dass/ wir wollen gerne jetzt auf ein Niveau A2 kommen, (.) ähm B1 vielleicht, also von den Bildungsstandards her. Das heißt, dass sie ähm (.) eben auch eigenes, individuelles, selbstständiges Arbeiten lernen. Also, die Texte selber lesen können in der fremden Sprache, den Wortschatz erweitern, Spaß an/ an der Sprache haben, (.) an Themen, die im Englischunterricht auch ähm (.) ja bearbeitbar oder behandelbar sind. Es ist ja auch in den Lehrwerken vorgegeben, es ist ja auch so sukzessive aufgebaut. Man fängt mit Großbritannien an, dann geht es also/ jetzt Landeskultur weiter/ geht es dann. Ähm also, das ist jetzt der Schwerpunkt, (.) eigene/ (.) eigene Beziehungen, eigene Heimat, eigenes Leben. Aber dann eben über den Tellerrand/ Großbritannien ist im Moment das Thema, (..) ja. Inwiefern steht das in Einklang oder widerspricht dem, was Sie gerade über Fremdsprachenunterricht erfahren haben? Welche Faktoren wirken hier auf die Lehrperson und den Unterricht ein? Wie positionieren Sie sich selbst zu dieser Sicht auf den Fremdsprachenunterricht? Während man sich im vergangenen Jahrhundert fast ausschließlich der Frage gewid‐ met hat, welches die beste Methode sein könnte, um Fremdsprachen zu lernen, befinden wir uns heute in einem „postmethodischen Zeitalter“ von Fremdsprachenunterricht (vgl. Kumaravadivelu 2003), in dem die Gegenstände und Prinzipien und, ja, die Pädagogik im eigentlichen Sinne, eine größere Rolle spielen. D.h. die internationale Fremdsprachendidaktik beschäftigt sich im engeren Sinne nicht mehr ausschließlich nur mit „Language teaching and learning“, d.h. fremdsprachlichen Lehr- und Lernproz‐ essen, sondern versteht sich als Disziplin und Fach in einem bildungsorientierten Sinne als „language pedagogy“ (Gerlach 2020a: 9). Eine solche pädagogische Orientierung war historisch gesehen früher weniger „nötig“, war doch der Fokus auf formorientierter Vermittlung stärker. Postmethodische Fremdsprachenpädagogik hat einen stärker emanzipatorischen und kontextsensiblen Anspruch (siehe Kapitel 2.2.2), bei dem es nicht möglich ist, einen „one size fits all approach“ zu verfolgen, welcher dann für alle Lerngruppen funktioniert (vgl. Akbari 2008b). Gleichwohl muss man attestieren, dass Fremdsprachenunterricht immer institutio‐ nell eingebunden ist und Fremdsprachenlehrkräfte in zahlreiche Anforderungen und Erwartungen verstrickt sind, denen wir uns mal mehr und mal weniger bewusst sind, manchmal aber vielleicht auch gar nicht bewusst sein können. Die Fremdsprachenfor‐ schung muss daher weiter daran arbeiten zu verstehen, was eigentlich im Unterricht passiert, also wie Lehrpersonen und Lernende handeln. 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen 15 <?page no="17"?> Gut zu wissen: Postmethodisches Zeitalter und Lehrpersonen Akbari schreibt bereits 2008 zu der Frage, welche Rolle Lehrpersonen im postme‐ thodischen Fremdsprachenunterricht („L2 classes“) einnehmen, Folgendes über die Rolle von Fremdsprachenforschung bzw. Fremdsprachendidaktik: Our profession must come to the realization that no grand theory or overarching idea can capture the local narrative of all L2 classes across time and space, and postmethod must get its inspirations not from postmodern philosophy or academic discussions per se, but also from the reflections of teachers and their practical wisdom. In other words, postmethod must get into language classes, adopt an ethnographic perspective of classroom life and reality, and then, based on those observations and interpretations, define or redefine its principles and pedagogies. Postmethod, in fact, must be able to help teachers theorize their practices by including their voices in its tenets, not speaking on their behalf from a purely theoretical perspective. (Akbari 2008b: 650) Wir gewinnen immer mehr Einblicke in diese Handlungspraktiken und Verstri‐ ckungen, Normen des Fremdsprachenunterrichts, denen wir uns vorher höchstens anekdotisch nähern konnten. In diesem Buch möchten wir diese aber zum Reflexi‐ onsgegenstand machen, wenn es um eine pädagogische Ausrichtung von Fremdspra‐ chenunterricht geht. 1.1 Ich als Fremdsprachenlehrkraft Bevor es konkreter um den Beruf der Fremdsprachenlehrkraft und die Fremdsprachen‐ lehrer: innenbildung in diesem Studienbuch geht, müssen wir zunächst einmal die Gelegenheit schaffen, dass Sie über sich selbst als (angehende) Fremdsprachenlehrkraft nachdenken. Oben haben Sie bereits sich selbst in Ihrem Fremdsprachenunterricht gezeichnet. Was haben Sie dabei empfunden? Was haben Sie zuerst gezeichnet? Sich selbst, Schüler: innen, eine Tafel bzw. ein Smartboard? Wie sind die Lernenden positioniert? Was machen die Lernenden bzw. Sie in dem Moment? In welchem Verhältnis stehen Sie zueinander? Ohne dass es jetzt zu tiefenpsychologisch werden muss: Das Bild, das Sie spontan gezeichnet oder gemalt haben, wird in gewisser Weise illustrieren, was für Vorstellun‐ gen Sie von Fremdsprachenunterricht haben. Vielleicht sind es Idealvorstellungen, möglicherweise sogar Wunschvorstellungen, in Ansätzen könnten es noch Ideen von Unterricht sein, den Sie selbst als Schüler: in erlebt haben. Auf jeden Fall haben Sie sich in und mit Ihrem Bild positioniert, es zeigt Sie als Fremdsprachenlehrperson, wie Sie sich aktuell verstehen. Lassen Sie uns das mit drei weiteren Reflexionsanlässen noch etwas weiter vertiefen: 16 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="18"?> Reflexionsaufgabe 1. Wenn Sie an Ihre eigene Schulzeit zurückdenken: Welche Lehrperson fanden Sie besonders gut und warum? Schreiben Sie fünf Eigenschaften auf, die Sie an dieser Lehrperson geschätzt haben. 2. Schauen Sie nun in die Zukunft und nennen Sie fünf Eigenschaften, die Sie bei sich selbst als Lehrperson beibehalten oder ausbauen möchten. Warum möchten Sie diese Eigenschaften beibehalten oder ausbauen? 3. Denken Sie nun an eine Unterrichtssituation in der Zukunft, in der Sie alle gewünschten Eigenschaften haben und notieren Sie sich Stichpunkte zu der fiktiven Situation. Wie sähe diese Situation aus? Wie würden Sie handeln? Die Eigenschaften oder Werte, die Sie gerade formuliert und notiert haben, sind Ihre ganz individuellen, auch Ihre Wünsche an sich selbst, die im Einklang oder vielleicht sogar leicht im Widerspruch stehen mit dem Bild, das Sie von sich selbst gezeichnet haben. Weder das Bild noch die Eigenschaften müssen in irgendeiner Form bewertet werden. Es sind Ihre Überzeugungen, die Sie davon haben, was eine gute Fremdsprachenlehrkaft ausmacht und welche Ziele Sie haben. Wir werden uns im Folgenden weiter mit dem (theoretischen) Berufsbild von Fremdsprachenlehrpersonen und den Erwartungen an diese beschäftigen. Möglicherweise fällt Ihnen dort schon auf, über welche Eigenschaften Sie verfügen. Vielleicht sehen Sie aber auch Aspekte, die Sie bislang nicht beachtet haben oder die Sie für wenig(er) relevant halten. All das ist möglich und weder falsch noch richtig: An dieser Stelle und in diesem Kapitel geht es uns ausschließlich darum, beide Vorstellungen - Ihre und die theoretische bzw. institutionelle - auf die Bühne zu holen, um im weiteren Verlauf dieses Studienbuches an beide Vorstellungen Fragen stellen zu können, wie Lehrpersonen unter den Voraussetzungen einer kritischen Perspektive zu betrachten sind oder arbeiten und sich weiterentwickeln können. 1.2 Der Beruf „Fremdsprachenlehrer: in“ Reflexionsaufgabe Beantworten Sie für sich diese drei Fragen (in ganzen Sätzen oder Stichworten): 1. Wie sehe ich mich aktuell als (angehende) Fremdsprachenlehrkraft? 2. Wie war früher meine Vorstellung davon Fremdsprachenlehrperson zu sein? 3. Wie sehe ich mich in der Zukunft als (angehende) Fremdsprachenlehrkraft? Die oben beschriebene doppelte Anforderungspraxis des Fremdsprachenunterrichts, also die parallele Vermittlung von Sprache und Inhalt, stellt besondere Ansprüche an eine Fremdsprachenlehrkraft. Ob diese nun über die Anforderungen an andere Fachlehrpersonen 1.2 Der Beruf „Fremdsprachenlehrer: in“ 17 <?page no="19"?> hinausgehen, sei dahingestellt, da Sprache, Sprachnutzung, Lesen und Schreiben auch in den meisten anderen Fächern eine Rolle spielen und dort sogar auch Gegenstand z.B. von Leistungsbewertung sind (selbst wenn sie nicht unbedingt explizit gefördert werden). Aber diese Gleichzeitigkeit von Sprach- und Inhaltslernen ist für den Fremdsprachenunterricht schon eine explizite Anforderung, der Lehrpersonen gerecht werden (müssen). Schaut man in unterschiedliche Einführungswerke zur Fremdsprachendidaktik und dort in die Kapitel zu den Charakteristika von Fremdsprachenlehrer: innen werden häufig Qualitäts‐ merkmale diskutiert, die besonders wichtig zu sein scheinen. Dabei werden nicht selten Qualitätsmerkmale guten Unterrichts vorangestellt, welche z.B. Helmke (2021), Meyer (2004) oder Hattie (2009) formuliert haben, um auf deren Basis dann Implikationen für die nötigen Anforderungen an Lehrkräfte zu formulieren. Diese sind dann im ersten Schritt zunächst einmal nicht fachspezifisch, sondern allgemeinpädagogischer Natur, gleichwohl aber bedeutsam für das unterrichtliche Geschehen. Literaturempfehlung: Visible Learning (Hattie 2009) John Hatties Visible Learning ist eine Analyse, die sich mit den verschiedenen Einflussfaktoren auf den Lernerfolg von Schüler: innen beschäftigt. Das Buch basiert auf der Auswertung von über 800 Meta-Analysen, die wiederum mehr als 50.000 Einzelstudien mit Millionen von Schüler: innen umfassen. Hatties zentrales Anliegen ist es, sichtbar zu machen, welche Faktoren den größten Einfluss auf den Lernerfolg haben. Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehört, dass nicht alle pädagogischen Maßnahmen und Unterrichtsmethoden gleich wirksam sind. Hattie identifiziert insbesondere die Rolle der Lehrkraft als entscheidend für den Lerner‐ folg. Zu den am stärksten wirksamen Faktoren zählen die Qualität des Feedbacks, die Klarheit und Struktur des Unterrichts sowie die Förderung von Selbstwirksam‐ keit bei Schüler: innen. Hattie betont, dass effektives Lernen sichtbar gemacht werden kann, wenn Lehrkräfte den Lernprozess der Schüler: innen kontinuierlich beobachten, reflektieren und darauf basierend ihre Unterrichtsstrategien anpassen. Visible Learning hat einen bedeutenden Einfluss auf die Bildungsforschung und -praxis weltweit und dient als Grundlage für viele Reformen im Bildungsbereich. Reflexionsaufgabe • Welche Prinzipien von gutem Unterricht allgemein kennen Sie? • Welche Prinzipien von gutem Fremdsprachenunterricht kennen Sie? • Wo gibt es Überschneidungen? • Können Sie sich Situationen vorstellen, bei denen Prinzipien von gutem Unterricht diejenigen von gutem Fremdsprachenunterricht überwiegen - und andersherum? 18 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="20"?> Die Fachlichkeit des Unterrichts und die Besonderheit von Lehr- und Lernprozessen im Fremdsprachenunterricht ist natürlich bedeutsam, wenn es darum geht, Unter‐ richtsqualität zu bestimmen (siehe dazu auch Lohe et al. 2024) bzw. zu überlegen, welche Anforderungen dieser Unterricht an die Lehrpersonen stellt. Für eine stärker fremdsprachendidaktische Konturierung verweist Viebrock (2018) auf zehn Kerndi‐ mensionen von Richards (2010), die Professionalität von Fremdsprachenlehrkräften ausmachen können. Diese haben wir leicht adaptiert und übersetzt in Tabelle 1 zusammengefasst. Dimensionen Fähigkeiten und Kompetenzen der Lehrkraft, Routinen und Verfahren Sprachkenntnisse • Bereitstellung eines guten Sprachmodells • Aufrechterhaltung des Gebrauchs der Zielsprache im Unterricht • Erklärungen und Anweisungen in der Zielsprache geben • Beispiele für Wörter und grammatikalische Strukturen geben • korrektes Feedback zur Sprache der Lernenden geben • Bereitstellung von Input mit angemessenem Schwierigkeitsgrad • Bereitstellung von Erfahrungen zur sprachlichen Bereicherung für Lernende inhaltliche Kennt‐ nisse • die Bedürfnisse der Lernenden verstehen • Diagnose der Lernschwierigkeiten der Lernenden • Planung geeigneter Unterrichtsziele für den Unterricht • Auswahl und Gestaltung von Lernaufgaben • Bewertung des Lernens der Lernenden • Konzeption und Anpassung von Tests • Bewertung und Auswahl von Materialien • angemessene Nutzung der Technologie • Reflektieren über den eigenen Unterricht Lehrkompetenzen • Einführung und Erläuterung von Aufgaben • die Herstellung von Lerngelegenheiten • Überprüfung des Verständnisses der Schüler: innen • Anleiten der Schüler: innen zum Üben • Beobachtung des Sprachgebrauchs der Schüler: innen kontextsensibles Wissen • Verständnis der Werte, Normen, Praktiken und Muster der sozialen Teilhabe an einer bestimmten Schule • Verständnis für die Dynamik und die Beziehungen im Klassen‐ zimmer die Identität der Sprachlehrkraft • sich der eigenen Rolle als Fremdsprachenlehrkraft bewusst sein • verschiedene soziale und kulturelle Rollen als Fremdsprachen‐ lehrkraft zu spielen lernendenorientier‐ ter Unterricht • mit typischem Verhalten von Lernenden vertraut zu sein • Anpassung des Unterrichts an die Bedürfnisse und Vorlieben der Lernenden • Aufrechterhaltung der aktiven Beteiligung der Lernenden (auch in Planungsprozessen und/ oder Entscheidungsfindung) • Anknüpfung an die Lebenserfahrungen der Lernenden pädagogische bzw. fachdidakti‐ • Analyse potenzieller Unterrichtsinhalte (z.B. ein Objekt, ein Text, eine Anzeige, ein Gedicht, ein Foto, usw.) 1.2 Der Beruf „Fremdsprachenlehrer: in“ 19 <?page no="21"?> sche Argumentati‐ onsfähigkeit • Ermittlung von Möglichkeiten, wie Materialien als Lehrmittel verwendet werden könnten • Festlegung von sprachlichen Zielen (z.B. im Bereich Sprechen, Wortschatz, Lesen, Schreiben, usw.), die aus dem gewählten Inhalt entwickelt werden könnten • Vorwegnahme von Problemen, die auftreten könnten, und Mög‐ lichkeiten zu ihrer Lösung • angemessene Entscheidungen über Zeit, Reihenfolge und Grup‐ pierung zu treffen Theoretisieren aus der Praxis • Erfahrungswissen • Reflexion von Unterrichtserfahrungen, um zu erklären, Hypo‐ thesen aufzustellen oder zu verallgemeinern Aspekte des Fremd‐ sprachenunterrichts • Bewertung des eigenen Unterrichts • Entwicklung von Grundsätzen und einer persönlichen Lehrphi‐ losophie Mitgliedschaft in ei‐ ner Gemeinschaft von Praktikern • Zusammenarbeit mit Kolleg: innen oder anderen pädagogischen Fachkräften • Erkundung und Lösung von Problemen im Zusammenhang mit Praktiken am Arbeitsplatz • Erreichen gemeinsamer Ziele Professionalität • sich mit den Standards des Berufs vertraut machen • Entwicklung der beruflichen Kompetenz • Anstreben von hohen Standards • kontinuierliche und systematische Reflexion der eigenen Unter‐ richtspraxis Tabelle 1: Dimensionen professionellen Handelns von Fremdsprachenlehrpersonen (übersetzt und adaptiert nach Viebrock 2018: 44 auf Basis von Richards 2010). Reflexionsaufgabe • Welche Fähigkeiten und Kompetenzen von Fremdsprachenlehrpersonen pas‐ sen zu den Eigenschaften, die Sie weiter oben skizziert haben? • Was fällt Ihnen auf ? • Welche der Kompetenzen sind Ihnen neu/ waren Ihnen nicht so bewusst? • Warum denken Sie, haben Sie ausgerechnet diese Fähigkeiten und Kompeten‐ zen zuvor für sich formuliert und nicht andere Fähigkeiten/ Kompetenzen? Der Kriterien- und Forderungskatalog in Tabelle 1 ist umfangreich, nicht unmissver‐ ständlich endet er mit einem Professionalitätsverständnis, das hohe Standards anstrebt und systematisch den Unterricht reflexiv zu betrachten versucht. Das (Vor-)Wissen, das hierzu nötig ist, kann dabei nicht allein durch das Studium und auch nicht allein durch Erfahrung erworben werden. Es zeigt eine große Bandbreite an Kompetenzen, die für die Gestaltung von Fremdsprachenunterricht nötig sind. Hierzu gehören aber beispielsweise nicht nur Sprachkompetenzen der Lehrperson und fachliches bzw. 20 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="22"?> fachdidaktisches Wissen. Auch Wissen über die Normen und Werte, die in der Schule und dem Kontext, in dem Unterricht stattfindet, gelten, wird als selbstverständlich vorausgesetzt bzw. als nötig für die Lehrperson beschrieben. Das ist insofern besonders, als dass Fremdsprachenunterricht hier nicht als ein auf Lehr- und Lernprozesse beschränktes Vermittlungsgeschehen reduziert wird, sondern den Normen und Werten sowie den Bedürfnissen der Lernenden eine Relevanz im Fremdsprachenunterricht zugeschrieben wird. Gut zu wissen: Europäische Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung (EPOSA) Das Europäische Fremdsprachenzentrum (EFSZ) des Europarats hat das Europä‐ ische Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung (EPOSA) entwickelt, um die spezifischen Kompetenzen und Wissensbereiche, die für die Gestaltung von Fremdsprachenunterricht nötig sind, zu fördern bzw. zu reflektieren. Dieses Portfolio dient als Reflexionswerkzeug, das es Lehrenden ermöglicht, ihre Fähig‐ keiten anhand von „Ich kann“-Aussagen selbst zu bewerten, ähnlich dem Ansatz des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (= GER, Council of Europe 2020). Es deckt kontextbezogene Faktoren ab wie Lehrpläne, Bedürfnisse von Lernenden und zur Verfügung stehende Ressourcen, widmet sich aber auch den sprachlichen Kompetenzen, Fragen der Unterrichtsgestaltung, der Förderung von Lerner: innenautonomie bzw. Bewertung von Produkten. Das EPOSA kann kostenfrei auf der EFSZ-Website in mehreren Sprachen herunter‐ geladen werden: https: / / www.ecml.at/ tabid/ 277/ PublicationID/ 16/ Default.aspx Zum Beruf einer Fremdsprachenlehrperson gehört ebenso die Berücksichtigung von Lehrplänen auf Landes- und Schulebene. Sollten schulinterne Curricula existieren, decken diese bestimmte inhaltliche Schwerpunkte ab. Die Lehrpläne der deutschen Bundesländer folgen in der Regel den Anforderungen, die die Kultusministerkonferenz als Bildungsstandards für das Ende der Sekundarstufe I bzw. für die Allgemeine Hochschulreife fachspezifisch formuliert hat (vgl. KMK 2023/ 2012). Die Lehrpläne spezifizieren diese Anforderungen meist für die unterschiedlichen Jahrgangsstufen, d.h. sie formulieren Kompetenzen oder Regelstandards, die Lernende am Ende einer Jahrgangsstufe (in der Regel, d.h. aber auch nicht zwingend) erreichen sollten. Die formulierten Kompetenzen dienen damit zur Orientierung, was in bestimmten Jahr‐ gangsstufen inhaltlich im Unterricht geschehen sollte, um diese Kompetenzen auf Seiten der Lernenden zu fördern. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Eine Lehrperson muss wissen, wie diese Kompetenzen zu diagnostizieren und anschließend zu fördern sind. Im Sinne der Kompetenzorientierung ist dies eine der zentralen Anforderungen an Fremdsprachenlehrpersonen. 1.2 Der Beruf „Fremdsprachenlehrer: in“ 21 <?page no="23"?> Reflexionsaufgabe: Curriculare Anforderungen Hier finden Sie eine Beispielformulierung aus einem Lehrplan für Englisch (MSB 2019: 36): Die Schülerinnen und Schüler können in interkulturellen Kommunikationssituationen sowohl in direkten persönlichen Begegnungen als auch im Umgang mit englischspra‐ chigen Texten und Medien in der Regel angemessen handeln. Sie können wesentliche kulturell geprägte Sachverhalte und Situationen verstehen und relevante kulturelle Konventionen und Unterschiede in ihrem interkulturellen Handeln respektvoll und geschlechtersensibel sowie weitgehend sicher berücksichtigen. Welche Kompetenzen, Fähig- und Fertigkeiten brauchen Sie als Lehrperson, um diese Kompetenz auf Seiten der Lernenden zu fördern? Wenn Sie eine andere Fremdsprache als Englisch unterrichten: Ändert sich etwas, wenn aus „englischsprachigen Texten und Medien“ z.B. spanischsprachige oder französischsprachige Texte und Medien werden? Diese curricularen Anforderungen sind insbesondere relevant für die ersten und fortge‐ führten Fremdsprachen. Dies sind im deutschsprachigen Raum meistens Englisch als erste Fremdsprache und Spanisch oder Französisch als am häufigsten gewählte zweite oder dritte Fremdsprachen (vgl. Statistisches Bundesamt 2023). Für Lehrpersonen, die Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache (DaF/ DaZ) unterrichten, ist die Frage curricularer Vorgaben eine andere, da diese selten formalisiert und durch landesweite bzw. landesspe‐ zifische Dokumente strukturiert werden (eine Ausnahme wäre der DaF-Unterricht an Auslandsschulen, der auf Prüfungen des deutschen Sprachdiploms der KMK vorbereiten soll). Auch der institutionelle Kontext ist nicht selten ein anderer: DaZ wird in der Regel parallel zu anderen Unterrichtsfächern in der Schule verankert, um z.B. Lernenden mit Zuwanderungsgeschichte Deutschkompetenzen zu vermitteln. DaF wiederum richtet sich innerhalb von Deutschland meist an ältere Lernende oder Erwachsene bzw. wird außerhalb von DACH als Fremdsprache unterrichtet, wie analog dazu in Deutschland die ersten Fremdsprachen unterrichtet werden. Mit den unterschiedlichen Kontexten changiert entsprechend die berufliche Anforderungspraxis, d.h. die Lehrperson passt sich an unterschiedliche Zielgruppen bzw. institutionelle Kontexte an. Dabei sind die eigentliche Lehr-/ Lernsituationen und die daraus resultierende Praxis entlang von Gütekriterien guten Fremdsprachenunterrichts immer sehr ähnlich. Literaturempfehlung: Lessons from Good Language Teachers (Griffiths/ Tajeddin 2020) Nachdem sich die Fremdsprachenforschung lange Zeit damit beschäftigt hat, was gute Lernende ausmacht, erschien 2020 auch ein Werk, das sich mit der 22 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="24"?> Frage auseinandersetzt, was zu den Charakteristika und Kompetenzen von guten Fremdsprachenlehrpersonen gehört. In dem Sammelband von Carol Griffiths und Zia Tajeddin (2020) wird praxisorientiert beschrieben, was zum „gutem“ Handlungsrepertoire gehört, was empirische Forschung weiß (und was nicht) und wie entsprechende Forschung praktisch umgesetzt werden kann. Dabei geht es in den einzelnen Beiträgen nicht nur z.B. um Kompetenzförderung oder die Berücksichtigung von Lerner: innenvariablen, sondern auch um das Beziehungs‐ geschehen zwischen Lehrperson und Lernenden, die Rolle von Reflexion, aber auch Autonomie oder Burnout. Jeder Beitrag ist von Expert: innen in ihrem: seinem Feld angelegt mit einer starken Fokussierung auf die jeweiligen praktischen Implikationen. Es ist deutlich geworden, dass die Anforderungen an Fremdsprachenlehrpersonen für die Durchführung von Unterricht aus einer kompetenztheoretischen Brille selbstver‐ ständlich häufig die Lernenden und die qualitativ gehaltvolle Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen in den Blick nimmt. Lehrpersonen haben gleichzeitig die Verant‐ wortung, - eher im allgemeinpädagogischen Sinne - Werte einzuhalten, zu vermitteln, Lernenden zugewandt zu sein und eine motivierende Atmosphäre zu schaffen, in denen Fremdsprachenunterricht überhaupt erst möglich wird. Lehrpersonen sind verpflich‐ tet, bestimmte Aspekte im Unterricht zu behandeln und Lernende nach Möglichkeit zum Erreichen bestimmter Standards zu befähigen. Bezüglich gerade dieser beiden letzten Aspekte genießen Lehrkräfte im deutschsprachigen Raum allerdings auch eine sehr hohe Autonomie, d.h. es ist ihnen (je nach Bundesland) weitgehend frei gestellt, wie sie die Aspekte vermitteln oder auf welchem Weg ihre Schüler: innen die Kompetenzen erreichen. Allein dieses Wissen um nötige Kompetenzen erscheint wiederum nicht ausreichend für die gesellschaftlichen und globalen Veränderungen, denen wir als Gesellschaft jetzt und in Zukunft ausgesetzt sind. Dieses muss nicht nur die Schnelllebigkeit von Inhalten durch Digitalisierung und soziale Medien berücksichtigen, sondern auch die wachsende Mobilität und Diversität, den zunehmenden Austausch, wachsende Verbundenheit sowie Verquickung von Interaktionen und globale Herausforderungen für Gesellschaft und Umwelt. Es stellt sich daher die Frage, wie eine Fremdsprachen‐ lehrperson (andere Fachlehrpersonen natürlich auch, aber wir konzentrieren uns hier auf unsere Fachlichkeit) mit diesen sich verändernden Bedingungen umgehen kann (vgl. Kumaravadivelu 2012, Viebrock 2018). Das Sich-Verlassen auf eine Methode zur Unterrichtsgestaltung wird modernen Bedingungen damit also nicht mehr gerecht. Der Fremdsprachenunterricht des 21. Jahrhunderts wird mit einem zunehmend höheren Anspruch verbunden, auf sich verändernde Umstände zu reagieren. Viebrock (2018) fasst auf Grundlage der bereits zuvor erwähnten post-methodischen Überlegungen von Kumaravadivelu (2012, siehe auch Akbari 2008b) zusammen, wie sich der Diskurs rund um die fremdsprachenunterrichtlichen Schwerpunkte und nötigen Kompetenzen 1.2 Der Beruf „Fremdsprachenlehrer: in“ 23 <?page no="25"?> der (angehenden) Fremdsprachenlehrkräfte ändert - ausgehend vom traditionellen transmissionsorientierten, d.h. auf Vermittlung zielenden Modell von Unterricht und Fremdsprachenlehrer: innenbildung hin zum transformativen Modell, welches neue Anforderungen berücksichtigt (siehe Tabelle 2). - Transmission model Transformation model Linguistic norms ---------- English as ›target language‹ Englishes as local repertoire(s) nationally-defined native Englishes global English as a plural system (lingua franca) language as homogeneous language as hybrid native and non-native speakers speakers of varying degrees of profi‐ ciency nativeness as target local norms of relevance language and discourse as static language and discourse as dynamic language as context-bound language as context-transforming correctness negotiation of meaning mastery of grammar rules metalinguistic awareness focus on rules and conventions focus on strategies L1 as problem (interference) L1 as resource cultural norms ›target‹ cultures and communities cultural diversity, hybridity and hetero‐ geneity expertise --- established universal knowledge context-specific local knowledge uni-directional knowledge flow multi-directional knowledge flows academic scholarship reflective practice information/ knowledge transmis‐ sion inquiry orientation/ collaborative know‐ ledge transformation curricu‐ lum prescription of innovation and change, top down-transmission bottom-up processes equally supporting continuity and development pedagogy - methods-dominated postmethod practices skills-based, skills-focused project-based, skills-in-context materials - authenticity relevance centrally generated and distributed locally generated Tabelle 2: Verschiebungen im Diskurs rund um die Gestaltung von Fremdsprachenunterricht und Fremd‐ sprachenlehrer: innenbildung am Beispiel von Englischlehrpersonen und Englischunterricht (Viebrock 2018: 53). 24 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="26"?> Die Tabelle haben wir bewusst nicht übersetzt, da sie in Teilen sehr starke Relevanz ausschließlich für Englischlehrpersonen bzw. den Englischunterricht hat, gleichwohl zeigt sie klar die Tendenzen auf, die für den Fremdsprachenunterricht an sich im gesellschaftlichen Wandel relevant werden: Ihre Lehrpersonen können sich nicht mehr auf einen Top-down Approach verlassen, der transmissionsorientiert zielkulturelle und sprachliche Inhalte vermittelt. Im Gegenteil: Kulturelle Hybridität, Wandel und wechselnde Normen müssen im Unterricht zum Gegenstand werden und verändern auch die Art und Weise, wie Fremdsprachen erlernt werden. Nämlich: partizipativer, interaktiver, weniger grammatikorientiert, sondern stärker sprachbewusstheitsorien‐ tiert, Interferenzen durch die sogenannte Mutter-, Herkunfts- oder eine andere lebens‐ weltliche Sprache werden nicht mehr als „Problem“ (euphemistischer ausgedrückt als „Lerngelegenheit“) gesehen, sondern produktiver als Ressource. Das alles bedeutet: Das Denken über die unterrichtliche Praxis und die damit verbundenen Anforderungen an das Berufsbild „Fremdsprachenlehrer: in“ verändern sich. Das bedeutet jedoch nicht, dass Überlegungen zur methodischen Umsetzung bestimmter Unterrichtsprinzipien oder Fertigkeiten keine Rolle mehr spielen. Sie verlieren aber etwas an Zentralität, wenn sie stärker als Mittel zum Zweck zur Erschließung von Inhalten, Gegenständen und zur Bewältigung von Herausforderungen oder Problemen gesehen werden, zu denen Lernende sprachlich befähigt werden. Reflexionsaufgabe Betrachten Sie noch einmal Tabelle 2 zu den Verschiebungen im Diskurs rund um die Gestaltung von Fremdsprachenunterricht und Fremdsprachenlehrer: innen‐ bildung. Erkennen Sie diese Verschiebungen selbst in Ihrem Bild vom Fremdspra‐ chenlehrer: innensein bzw. Ihrem (zukünftigen) Fremdsprachenunterricht? D.h.: Können Sie sich mit diesen Verschiebungen identifizieren? Erkennen Sie das stär‐ ker traditionelle Transmissionsmodell aus Ihrer eigenen Lerner: innenbiographie als Schüler: in wieder? 1.3 Fremdsprachenlehrer: innen und Bildung Mit der Vorrede aus dem letzten Kapitel und den veränderten Bedingungen, unter denen Fremdsprachenunterricht heute stattfindet, darf die Frage gestellt werden, die ganz zu Beginn schon angeklungen ist: Was hat der Fremdsprachenunterricht eigentlich mit Bildung zu tun? Oder: Wie kann der Fremdsprachenunterricht „bildend“ sein? Der Bildungsbegriff ist sehr facettenreich. Komposita wie „kulturelle Bildung“ oder „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wie auch „inklusive Bildung“ haben konkrete Gegenstände oder Ziele, zu deren Zweck oder durch deren Inhalte Bildung stattfinden soll. Man könnte meinen, dass „fremdsprachliche Bildung“ hier analog als Konzept passen könnte, schließlich ist die Fremdsprache ja ebenso der Gegenstand, durch den 1.3 Fremdsprachenlehrer: innen und Bildung 25 <?page no="27"?> Bildungsprozesse angestoßen werden können. Aber es geht um mehr: Es geht auch um Inhalte im Fremdsprachenunterricht, um die Gestaltung partizipativer, interaktiver Kommunikation und um die Förderung von Diskursfähigkeit der Lernenden, die möglichst eine Relevanz außerhalb der Schule entwickeln. Diese Ideen sind eng verknüpft mit der deutschen Bildungstheorie bzw. dem Bildungsbegriff in der deutschen Tradition, zu denen es international keine richtige Entsprechung gibt. Sie gehen zum einen stark zurück auf das Bildungsideal des 18. und 19. Jahrhunderts von Wilhelm von Humboldt (1960), der Bildung - ganz im Sinne der Aufklärung - nicht als kollektivistisches Unterfangen, sondern als sehr individuellen Prozess beschreibt. Jeder Mensch bildet sich selbst beständig weiter z.B. auch in Auseinandersetzung mit Kultur und in Interaktion mit anderen Menschen. Und diese Bildung auf individueller Ebene kann dann wiederum zum Wohle der gesamten Menschheit genügen. Es geht Humboldt ganz wesentlich um das Potenzial jedes: r einzelnen, sich zu entwickeln, und diese Entwicklung im Wechselspiel mit der Umwelt zu verstehen. Diese Sicht hat die Erziehungswissenschaft und Philosophie nachhaltig geprägt. In der heutigen Idee von transformatorischer Bildung (vgl. Koller 2023) hallen zahlreiche Ideen von Humboldt nach, sie trägt aber auch gesellschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen aus Soziologie und Erziehungswissenschaft Rech‐ nung: Im Anschluss an verschiedene Kolleg: innen erklärt Koller „Bildung als einen Prozess der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses angesichts der Konfrontation mit neuen Problemlagen“ (ebd.: 17). Das Reflektieren über bzw. das In-Beziehung-Setzen von Selbst und der Welt geht stark auf Humboldt zurück, das individuelle Positionieren und Verstehen, wer wir in der Welt sind und wie die Welt um uns herum funktioniert, kann dann als Prozess verstanden werden, durch den sich das Welt- und das Selbstverhältnis (je mehr wir darüber verstehen) ändern und transformieren. Figuren sind hier als Symbole zu verstehen, mit denen wir z.B. in Form von Sprache (inter)agieren. In der Fremdsprachendidaktik, besonders im kulturellen Lernen, spielt beispielsweise die Idee von symbolischer Kompetenz (vgl. Kramsch 2011) eine große Rolle. Bei Humboldt noch keine große Rolle spielte die Idee von Problemlagen oder Krisen; dort war es noch stärker eine romantische Vorstellung vom eigenen Antrieb des Menschen sich zu bilden. Dies hat sich aufgrund der Änderungen gesellschaftlicher Strukturen gewandelt: Es gibt sozusagen von außen induzierte Probleme, die einen zu transformatorischen Bildungsprozessen „zwingen“. Zwang klingt hier deutlich negativ, er ist aber - genauso wie der Begriff Krise - gar nicht so gemeint. Problemlage und Krise beschreiben vielmehr Herausforderungen, denen wir im Alltag oder der Schule begegnen oder im Austausch mit anderen Personen in der Gesellschaft. 26 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="28"?> Literaturempfehlung: Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transfor‐ matorischer Bildungsprozesse (Koller 2023) In Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungs‐ prozesse versteht Koller (2023) Bildung als einen transformatorischen Prozess, der tiefgreifende Veränderungen im Denken, Handeln und Fühlen bewirkt. Bil‐ dung wird nicht nur als Wissensvermittlung betrachtet, sondern als intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und der Welt. Krisen, Konflikte und Herausforderungen spielen eine zentrale Rolle, da sie transformative Prozesse anstoßen. Diese Veränderungen ermöglichen es den Lernenden, neue Perspektiven zu entwickeln und bestehende Denkmuster zu hinterfragen. Das Einführungswerk beschreibt die grundlagentheoretischen Bezüge von transformatorischer Bildung und gibt Einblicke in Forschungszugänge. Transformatorische Bildung, so wie sie rezipiert wird und wie wir sie auch in weiten Teilen für dieses Studienbuch als Grundlage mitdenken möchten, hat folglich eine große Bedeutung für das Individuum und wie das Individuum sich zu Welt positioniert. Das wiederum hat viel mit der jeweils ganz persönlichen Identität bzw. den Identitäten zu tun (vgl. Koller 2023, siehe auch Kapitel 4.4), denen wir im Unterricht begegnen und die eine Lehrperson selbst darstellt. Nicht immer ist man sich Bildungsprozessen bewusst. Woran machen wir fest, dass sich die Figuren des Welt- und Selbstverhält‐ nisses verändern? Wie schnell geschieht das? Ist dieser Prozess im Unterricht für die Lehrperson überhaupt greifbar oder müssen wir uns damit zufriedengeben, dass ein Individuum sich unter den richtigen Umständen schon „transformatorisch bilden“ wird? Koller (2023) gibt hierzu einige Ideen. Letztlich ist die Schule natürlich ein System, das Lernende mit Problemlagen konfrontieren kann, Krisen induzieren und Angebote schaffen kann, welche - im besten Fall - mittelfristig transformatorische Bildungsprozesse anstoßen. Das heißt für unseren Fokus auf den Fremdsprachen‐ unterricht: Wie kann Fremdsprachenunterricht bildend gedacht werden? Es kann argumentiert werden, dass durch eines der Teilziele des Fremdsprachenunterrichts, die Förderung interkultureller Kompetenz (Byram 1997, 2021), durchaus das Selbst- und Weltverhältnis im Sinne einer Perspektivierung eigenkultureller Werte und Vor‐ stellungen mit denen einer Zielkultur in ein Verhältnis gesetzt werden soll. Allerdings ist die praktische Umsetzung dieses Ziels zuletzt häufiger in die Kritik geraten (z.B. Plikat 2017, siehe Kapitel 3.3). Und die Förderung sprachlicher Kompetenzen allein bzw. die Auseinandersetzung mit Gegenständen der fremdsprachlichen Kultur scheint nicht ausreichend, um transformatorische Bildungsprozesse anzustoßen. Wir stellen daher in Kapitel 3 einen weiteren Zugang vor, der entsprechende Problemlagen zum Gegenstand des Unterrichts machen soll. 1.3 Fremdsprachenlehrer: innen und Bildung 27 <?page no="29"?> Reflexionsaufgabe Bevor wir mit den letzten Gedanken dieses Kapitel abschließen: Was bedeutet die Idee von transformatorischer Bildung für Sie und Ihren Fremdsprachenunterricht? Was bedeutet die Idee für Ihren Prozess des Fremdsprachenlehrer: innenwerdens? In diesem Studienbuch geht es darum, Reflexionsgelegenheiten zu schaffen, die helfen, eine (kritische) Fremdsprachenlehrkraft zu werden. Es geht also im engeren Sinne um Fremdsprachenlehrer: innenbildung. Lässt sich der Begriff von transformatorischer Bildung übertragen auf die Professionalisierung hin zu einer Fremdsprachenlehrper‐ son? Wir glauben ja. Lehrer: innenbildung und die verschiedenen Sichtweisen von Lehrer: innenprofessionalisierung, die in Kapitel 2 noch eine Rolle spielen werden, sind Prinzipien einer akademischen Bildung. Auch diese hat zum Ziel, die Selbst- und Weltsicht zu verändern: Studierende beginnen ihr Lehramtsstudium mit einer Selbstsicht aus der Perspektive von Schüler: innen und lernen z.B. in fachwissenschaft‐ lichen Anteilen des Studiums eine neue Weltsicht kennen, die sie mit sich und für sich koordinieren und verstehen müssen. Nicht wenige Lehramtsstudierende haben mit fachwissenschaftlichen Inhalten häufig Schwierigkeiten, da sie nicht unmittelbar mit der erwarteten Praxis des Fremdsprachenunterrichts in Einklang zu bringen sind. Diesen Prozess der Reflexion möchten wir in den nächsten Kapiteln unterstützen, da er immer wieder zu Irritationen, Krisen und Problemlagen führt, die in unseren Augen nur selten differenziert reflektiert bzw. aufgefangen werden. Das, was im Prozess des Lehrer: innenwerdens mit einem: einer geschieht, ist im besten Fall transformatorisch. Dieser Prozess wird aber begleitet von Internalisierung und Habitualisierung, was wiederum der Idee von Individualität und Eigenständigkeit widerspricht. Genau aus diesem Grund ist eine kritische Perspektive nötig: (Angehende) Lehrpersonen müssen in die Lage versetzt werden zu verstehen, was mit ihnen passiert und in welche Strukturen und Normen sie selbst und ihr Handeln eingebettet sind. Erst dann ist (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung in unseren Augen auch - ganz normativ formuliert - „gut“ und entspricht Bildungsidealen, denen wir uns als Gesellschaft verschrieben haben. 28 1 Bildung als Aufgabe von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen <?page no="30"?> 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung Education must begin with the solution of the teacher-student contradiction, by reconciling the poles of the contradiction so that both are simul‐ taneously teachers and students. Paulo Freire (1996: 72) In diesem Kapitel Dieses Kapitel thematisiert zunächst aus einer allgemeineren, schulpädagogi‐ schen Perspektive, wie Professionalität und Professionalisierung von Lehrperso‐ nen gedacht werden kann. Im Anschluss erweitern wir diese Perspektiven um empirische Ergebnisse zur fremdsprachlichen Lehrer: innenbildung, bevor wir dezidierter auf die Rolle von Wissen, Können und Handeln von Lehrpersonen im Fremdsprachenunterricht, aber auch aktuelle Prinzipien und Normen eingehen, die für den Fremdsprachenunterricht relevant sind. Dies ist nötig, um später zu verstehen, wie kritische Professionalität im Fremdsprachenunterricht aussehen kann. Da es in diesem Studienbuch darum gehen soll, eine kritische Haltung zur eigenen (zukünftigen) Unterrichtspraxis zu entwickeln, erscheint es sinnvoll, sich zunächst mit den Grundlagen der Fremdsprachenlehrer: innenbildung zu beschäftigen. Ziel ist es, schulpädagogische Ansätze von Lehrer: innenbildung kennenzulernen und diese dann für Reflexions- und Verstehensprozesse über das eigene Handeln im Fremdsprachen‐ unterricht nutzbar zu machen. Reflexionsaufgabe Was bedeutet für Sie, über „Grundlagen“ oder „Ansätze“ von Lehrer: innenbildung nachzudenken? Welche Ansätze kennen Sie schon? Was verbinden Sie damit? Die verschiedenen Ansätze, die wir im Folgenden kurz vorstellen werden, finden sich an unterschiedlichen Universitäten im deutschsprachigen Raum in unterschiedlicher Ausprägung wieder. Das liegt zum einen an den Curricula oder Modulordnungen der jeweiligen Standorte, d.h. es sind tradierte bzw. bewährte Schwerpunkte, die zentral für die lehrer: innenbildende Institution sind. Ganz häufig hängt die inhaltliche Gestaltung zum anderen aber auch von den Forschungsschwerpunkten derjenigen Personen ab, die an der Lehrer: innenbildung beteiligt sind. Gibt es z.B. in den Bildungswis‐ senschaften einen starken Fokus auf berufsbiographische oder kompetenzorientierte Forschung von angehenden Lehrpersonen, kann es sein, dass dieser Schwerpunkt <?page no="31"?> sich in der Lehre oder Struktur des Lehramts wiederfindet. Ähnliches gilt für die fachdidaktischen Schwerpunkte: Da die Anzahl an fachdidaktischen Professuren an einer Universität in der Regel im Verhältnis zu anderen relativ gering ist, ist die Schwerpunktsetzung z.B. in der Englischdidaktik damit möglicherweise eingeschränkt durch eine Professur, die z.B. stark sprachdidaktisch oder literaturdidaktisch forscht. Auch unter den Fremdsprachendidaktiken an einer einzigen Hochschule kann es durch verschiedene Schwerpunkte große Unterschiede geben. Hierdurch ergeben sich ganz natürlich inhaltliche Themenfelder, mit denen Lehramtsstudierende in ihren Seminaren konfrontiert werden. Reflexionsaufgabe 1. Wie „funktioniert(e)“ (auch rückblickend) Lehrer: innenbildung an Ihrer Uni‐ versität oder in Ihrem Studienseminar (bzw. Zentrum für schulpraktische Studien)? 2. Können Sie Strukturen oder Mechanismen identifizieren, Programme oder Projekte, an denen Sie teilgenommen haben oder teilnehmen mussten, vor dem Hintergrund einer bestimmten Programmatik oder Zielsetzung? 3. Welche fremdsprachendidaktischen Schwerpunkte werden/ wurden in Ihrem Lehramtsstudium gelegt? Denken Sie, Ihnen fehlt ein anderer Bereich? Wir werfen im Folgenden ein Licht auf die unterschiedlichen Deutungsansätze von Lehrer: innenbildung und wie aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik die Ausbildung und Professionalisierung von (angehenden) Fremdsprachenlehrer: innen betrachtet wird. Wir berücksichtigen dabei auch die Art und Weise, wie diese Leh‐ rer: innenbildung gestaltet wird und was seitens derjenigen, die hier ausgebildet werden sollen (nämlich Sie) erwartet wird. Es scheint offenkundig, dass diese Erwartungen auf beiden Seiten (Lehramtsstudierende und Universität/ Studienseminar) nicht immer de‐ ckungsgleich sind. Im Versuch zu illustrieren, wie Lehrer: innenbildung „funktioniert“, möchten wir zum einen ein Bewusstsein bei Ihnen wecken für die Systematiken, die hinter dieser Ausbildungsform stecken, und Ihnen zum anderen helfen, Ihren eigenen Werdegang kritisch zu reflektieren. 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung Lehrer: innenbildung kann zunächst einmal als überfachliches Anliegen gesehen wer‐ den, für das Strukturen vorbereitet sind (z.B. das Lehramtsstudium in Hochschulen oder der Vorbereitungsdienst begleitet von Studienseminaren). Forschung zur Lehrer: in‐ nenbildung wird in der Regel als Professions- oder Professionalisierungsforschung bezeichnet, da sie sich damit beschäftigt, was die Professionalität von Lehrpersonen im Kern ausmacht und wie Lehrpersonen für ihren Aufgabenbereich professionalisiert 30 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="32"?> werden können. Ein Kern dieses Aufgabenbereichs sind Lehr- und Lernprozesse und die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Diese Arbeit ist - je nach Denkart - entweder kaum planbar, da man es mit Heranwachsenden zu tun hat und jede Situation neue Herausforderungen mit sich bringt, oder man geht von bestimmten Parametern aus, welche Lern- und Bildungserfolg gelingen lassen können. Gut zu wissen: Das Technologiedefizit von Erziehung, Bildung und Unterricht Da es keine für soziale Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit anderen Worten keine Kausalpläne der Natur gibt, gibt es auch keine objektive Technologie, die man nur erkennen und dann anwenden müsste. (Luhmann/ Schorr 1979: 352) Schule und Unterricht sind soziale Systeme, in denen Handeln wenig vorher‐ sehbar ist. Im Gegensatz zu Technologien, mittels derer bestimmte Prozesse ablaufen, welche wiederum bestimmte Effekte haben oder Produkte bedingen, können Unterricht und unterrichtliches Handeln dies nicht unmittelbar. Lehrper‐ sonen haben auf das Ergebnis von Lern- und Bildungsprozessen keinen direkten Einfluss, was auch als „Technologiedefizit“ im Bildungsbereich gesehen wird (vgl. ausführlicher auch Rothland 2022). Es stellt die Forschung zu Professionali‐ sierung durchaus vor Herausforderungen - wie z.B. Fragen nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis oder welche Rolle bestimmte didaktische Ansätze oder Methoden im Rahmen der Lehrer: innenbildung einnehmen (sollten) - wenn unterrichtliches Handeln im Kern immer ein Aushandlungsprozess und sein Ergebnis kaum vorhersehbar ist. Professionsforschung versucht, sich dieser Unsicherheit von Bildungsprozessen anzu‐ nähern. Sie stellt Fragen an den Beruf der Lehrperson, ihr Handeln, ihr Wissen oder auch ihre Interaktion mit Lernenden. Sie betrachtet damit den Kern dessen, was es bedeutet, Lehrperson zu sein. Gut zu wissen: Profession, Professionalität und Professionalisierung Im Zusammenhang mit Lehrer: innenbildung fallen immer wieder drei Begriffe, die etymologisch sehr eng verbunden klingen: Profession, Professionalität und Professionalisierung. Folgendes hat es mit den drei Begriffen auf sich: • Eine Profession bezeichnet einen Berufsstand, der bestimmte Charakte‐ ristika aufweist: Dies bezieht ein bestimmtes Tätigkeitsfeld ein (Schule), bestimmte Tätigkeiten in diesem Berufsfeld (Unterrichten) und spezifisches Wissen bzw. Anforderungen, die mit dem Tätigkeitsfeld und der Tätigkeit verbunden sind (z.B. curriculares Wissen, aber auch fachwissenschaftliches oder fachdidaktisches Wissen). Die Spezifität einer Profession wird nicht selten über die Art und Weise hergestellt, wie sie institutionalisiert ist. 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 31 <?page no="33"?> Diese Institutionalisierung wiederum hängt mit gesellschaftlichen Anforde‐ rungen zusammen (Recht auf Bildung von Heranwachsenden) und mit der Art und Weise, wie Vertreter: innen dieser Profession (aus)gebildet werden (Lehramtsstudium). Eine derartige Eindeutigkeit aller dieser Tätigkeitsfelder weisen historisch gesehen nur noch Anwält: innen und Mediziner: innen auf - auch diese Professionen haben stark spezifische Handlungsfelder und eine akademische Grundausbildung. • Als Professionalität kann ein Grad an Kompetenz bezeichnet werden, der von Handelnden innerhalb des Feldes der Profession erwartet wird. Dies kann sich darin zeigen, dass die spezifischen Anforderungen des Tätig‐ keitsfeldes angemessen adressiert werden (z.B.: Unterricht findet in einer gewissen Qualität statt, curriculares Wissen wird vermittelt, Bildungspro‐ zesse werden initiiert). Professionalität kann dabei nicht als festgeschriebene Größe bezeichnet werden, d.h. Professionalität stellt sich nicht nach einer ge‐ wissen Zahl an besuchten Seminaren oder nach einer bestimmten Anzahl an Berufsjahren ein. Professionalität ändert sich auch je nach Betrachter: in oder je nach Anforderungssituation, d.h. in der einen Situation agiert man kompe‐ tent und professionell (beispielsweise bei der Vermittlung eines bestimmten kulturellen Inhalts), in einer anderen ist man - trotz der Eingebundenheit in die Profession und das Handlungsfeld - möglicherweise (noch) überfordert (z.B. bei einer pädagogischen Herausforderung, classroom management o.Ä.). Auf einer anderen Ebene wandelt sich Professionalität ebenfalls ständig: Wenn nämlich gesellschaftliche Umstände sich wandeln, ändert sich (zumin‐ dest in gewissen Teilen) Professionalität insofern, als dass sich innerhalb des Tätigkeitsfeldes Anforderungen verschieben, ändern oder neu hinzukom‐ men (z.B. Nutzung digitaler Medien). • Professionalisierung bezeichnet den Prozess, an dessen Ende sich auf Seiten der professionell Agierenden Professionalität zeigen kann. Diese kann dabei - im Sinne eines Bildungsprozesses - als sehr individuell gesehen und entlang der spezifischen Anforderungen der Profession initiiert werden. Professionalisierung kann auch in gewissem Maße durch Institutionen gesteuert, durch die Anwärter: innen einer Profession „geleitet“ werden (z.B. universitäre Lehrer: innenbildung, der Vorbereitungsdienst oder Fort‐ bildungsangebote). Die Steuerung dieser Maßnahmen ist mal stärker, mal schwächer, letztlich ist der individuelle Prozess der Aneignung z.B. eines bestimmten Wissens innerhalb dieser Institutionen stark abhängig von den Individuen, die sich professionalisieren möchten. Der Vergleich der Profession Lehrkraft mit der von Anwält: innen oder Ärzt: innen hinkt natürlich mitunter: Zum einen haben es letztere beide Gruppen von Professio‐ nellen meist nur mit einzelnen Personen in ihrem direkten Kontakt zu tun, während 32 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="34"?> Lehrkräfte zahlreiche „Klient: innen“ auf einmal versorgen müssen. Zum anderen ist das Klient: innen-Verhältnis in der Schule ungleich komplexer: Lernende sind aufgrund der Schulpflicht nämlich nicht freiwillig in der Schule, während Mediziner: innen oder Jurist: innen (zumindest weitgehend) freiwillig besucht oder gewählt werden aufgrund eines spezifischen Leidens oder einer rechtlichen Frage. Diese Gemengelage an Faktoren ist charakteristisch für jede Profession und muss immer wieder in das individuelle Bewusstsein gerückt werden. Wie eine professionelle Lehrkraft mit diesen Anforderungen umgeht, kann entlang von drei Deutungs- oder Bestimmungsansätzen beschrieben werden. Reflexionsaufgabe Die Soziologin Julia Evetts schreibt, Profession meint “the structural, occupational and institutional arrangements for dealing with work associated with the uncer‐ tainties of modern lives in risk societies” (Evetts 2003: 297). Was verbinden Sie mit dem Begriff „Unsicherheit“? Was hat dieser Begriff mit dem modernen Leben zu tun? Und was könnte in diesem Zusammenhang mit einer gefährdeten Gesellschaft gemeint sein? In der schulpädagogischen Professionsforschung, also der Disziplin, die sich die Frage stellt, wie man Lehrkräfte professionalisieren kann oder was ganz grundsätzlich ihre Professionalität ausmacht, hat Ewald Terhart (2011) drei zentrale Bestimmungs‐ ansätze herausgearbeitet, wie sich Professionalität im professionellen Handeln zeigen kann: den (1) strukturtheoretischen, den (2) kompetenztheoretischen sowie den (3) berufsbiographischen Bestimmungsansatz. Diese drei Ansätze unterscheiden sich deutlich voneinander und dominieren im Wesentlichen den Forschungsdiskurs im deutschsprachigen Raum. Hinzu kommen jedoch auch weitere Deutungsansätze, die je nach Kontext der Lehrpersonen, die betrachtet werden, relevant werden. Wir möchten im Folgenden die bedeutendsten Ansätze kurz vorstellen, um diese später für die individuelle Reflexion und Fremdsprachenlehrer: innenwerdung nutzbar zu machen. Gut zu wissen: Unser Verständnis von Professionalität und Professionalisierung Wir werden häufig mit dem Mythos konfrontiert, dass man ja ab einem bestimm‐ ten Punkt „ausgelernt“ habe, dass man sich nach der Entwicklung bestimmter Routinen auf letztere verlassen könne. Wenn Sie dieses Buch lesen, glauben wir nicht, dass Sie ein: e Anhänger: in dieses Mythos sind. Er ist auch leicht widerlegbar, wenn Sie berücksichtigen, was Sie gerade zu den drei Grundbegrif‐ fen Profession, Professionalität und Professionalisierung gelesen haben und wenn Sie sich an die Idee von transformatorischer Bildung aus dem letzten Kapitel erinnern: In dem von Unsicherheit geprägten Beruf der Lehrperson wird es immer neue „Problemlagen“ geben, denen wir uns stellen müssen. Soziale, 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 33 <?page no="35"?> gesellschaftliche und globale Entwicklungen zwingen uns gewissermaßen dazu, unser Selbst- und Weltverhältnis auch als Lehrkraft ständig neu auszurichten. Genau dies macht den Beruf von Lehrpersonen so spannend und inhaltlich attraktiv und reizvoll. Die Phasen der institutionalisierten Lehrer: innenbildung sind in begrenztem Maße Mittel zum Zweck: Akademisierung durch fachliche Inhalte und Abstand zur Praxis in der universitären Phase, umfassende (auch theorie-/ prinzipienge‐ leitete) Praxisreflexion in der zweiten Phase. Danach sind Sie in Ihrem ganz individuellen Entwicklungsprozess (fast) auf sich allein gestellt, wenn Sie sich nicht „Verbündete“ suchen. Um Zufriedenheit in diesem Job zu erhalten, glauben wir aber, dass der beständige Reflexions- und Professionalisierungsprozess erhalten bleiben muss. Und weiter unten werden wir versuchen, Ihnen hierfür einige Ideen und Denkanstöße zu liefern. 2.1.1 Strukturtheoretischer Bestimmungsansatz Der strukturtheoretische Bestimmungsansatz betrachtet die strukturelle Eingebunden‐ heit von Akteur: innen in soziale Praktiken und geht davon aus, dass diese Praktiken (zumindest in weiten Teilen) nicht intentional sind, sondern immer aus sich heraus neu entstehen. Der Ansatz versucht also, diese Eingebundenheit bzw. die Strukturiertheit dieser Praxis (als Summe von Praktiken) zu verstehen. Zwei bedeutende Vertreter dieses Deutungsansatzes sind Ulrich Oevermann (1996, 2008) und Werner Helsper (2007 und Helsper et al. 2001). Oevermann geht davon aus, dass besonders die im Schulkontext vorliegende Unmündigkeit der Lernenden eine Herausforderung des Feldes ist und Autonomieförderung damit eine zentrale Aufgabe von Lehrpersonen. Im Gegensatz zu anderen Professionen ist das Handeln von Lehrkräften aber sehr diffus und bedarf daher des Aufbaus bestimmter Routinen (z.B. von Kompetenzförderung, Wissensvermittlung). Das Verhältnis von Lernenden und Lehrenden gerät in eine „Krise“, wenn diese Routinen unterbrochen werden - und das passiert im regulären Unterricht natürlich sehr häufig. Oevermann (2008) stellt daher richtigerweise fest, dass „die Krise der Normalfall ist und die Routine der Grenzfall“ (ebd.: 57). Der Krisenbegriff ist damit nicht derart negativ aufgeladen, wie es zunächst den Anschein hat. Eine Krise kann auch als Gelegenheit begriffen werden, zu reflektieren, Handeln zu adaptieren oder gemeinsam mit Lernenden auszudiskutieren, was gerade (nicht) läuft. Professionalität zeigt sich demnach in der Fähigkeit der Lehrkraft, diese Spannung und Krisenhaftigkeit des Unterrichtens produktiv zu nutzen oder zumindest reflexiv einzuholen. Oevermann (2008) unterscheidet ganz bewusst Lernen und Bildung, wobei Ersteres reine Wissensvermittlung bedeutet, „Bildung immer Krisenlösung und damit das Gegenteil von Routine“ (ebd.: 59) ist. Werner Helsper spricht innerhalb des strukturtheoretischen Bestimmungsansatzes von Antinomien, die Lehrpersonen in ihrem Handeln „aushalten“ müssen. Handeln 34 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="36"?> im Unterricht ist damit nicht selten widersprüchlich - möglicherweise in seiner Widersprüchlichkeit teilweise kaum überwindbar und damit krisenhaft. Gut zu wissen: Antinomien des Lehrer: innenhandelns Helsper (2001, 2004) diskutiert insbesondere die elf folgenden Antinomien: 1. Begründungsantinomie: Lehrpersonen sollen begründet handeln und Unterricht planen, obwohl Unterricht in Teilen unplanbar ist. 2. Praxisantinomie: Theoretisches Wissen lässt sich nicht direkt in die Praxis umsetzen. 3. Subsumtionsantinomie: Man versucht, aus einzelnen Fällen eine gewisse Logik abzuleiten, welche wiederum in ihrer Abstraktion möglicherweise nicht mehr hilft, weitere Einzelfälle zu verstehen. 4. Ungewissheitsantinomie: Die Lehrperson vermittelt Wissen, kann sich aber nicht darüber sicher sein, ob die Lernenden das Wissen auch aufnehmen. 5. Symmetrieantinomie (Machtantinomie): Lehrende und Lernende stehen in einem Machtverhältnis zueinander, das kaum aufgelöst werden kann. 6. Vertrauensantinomie: Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden muss vertrauensvoll sein, wobei gleichzeitig Macht (s.o.) und Abhängigkeit wirken. 7. Näheantinomie: Lehrperson und Lernende müssen immer wieder Nähe und Distanz gemeinsam in Interaktionsprozessen aushandeln. 8. Sachantinomie: Inhalte werden vermittelt, müssen aber auch immer unter Einbeziehung der Lebenswelt der Lernenden bewertet werden. 9. Organisationsantinomie: Charakteristika der Institution Schule (Curri‐ cula, Räume, Stundenpläne) spielen auf unterschiedlichen Ebenen unter‐ schiedliche Rollen. 10. Differenzierungsantinomie: Lernende sollen umfassend allgemein gebil‐ det werden, gleichzeitig aber auch individuelle, differenzierende Maßnah‐ men erhalten. 11. Autonomieantinomie: Lehrpersonen sollen Lernende zu mündigen Bür‐ ger: innen erziehen, während sie in der Schule weiterhin in bestimmte Abhängigkeiten verstrickt sind. Überlegen Sie vor dem Hintergrund Ihres eigenen (zukünftigen) Fremdsprachen‐ unterrichts, welchen Antinomien Sie sich vermutlich am häufigsten ausgesetzt sehen. Aus strukturtheoretischer Perspektive ist das unterrichtliche Handeln von Ungewiss‐ heit geprägt: Man kann als Lehrperson weder die Effekte des Handelns wirklich wissen, noch hat man Einfluss darauf, welchen Verlauf der Unterricht nimmt. Sich dieser 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 35 <?page no="37"?> Ungewissheit bewusst zu sein, kann als Zeichen von Professionalität gedeutet werden, und aus den krisenhaften Erfahrungen zu lernen Kern von (individueller) Professiona‐ lisierung sein. Helsper (2014) fordert hierfür den „Erwerb eines pädagogischen Habitus, in dem Fallverstehen, Wissenschaftswissen, professionelle Deutungsschemata und das intuitive Verstehen feldspezifischer pädagogischer Probleme verbunden werden“ (ebd.: 223). Dieser Habitus, der uns als Konstrukt weiter unten noch beschäftigen wird, ist ein Produkt von Internalisierungs- und Sozialisierungsprozessen, die z.B. während der universitären Phase angebahnt werden können. Ernst genommen kann ein solcher Habitus also aufgebaut werden, indem (angehende) Lehrpersonen anhand von Einzelfällen versuchen zu verstehen, warum ein bestimmtes Handeln eintritt. Um dieses fallorientierte Verstehen zu gewährleisten, benötigt eine (angehende) Lehrper‐ son spezifisches Wissen um die Situation (Kontext), aber auch um mögliche Gründe für lehrer: innen- oder lerner: innenseitiges Handeln sowie pädagogisches oder fachliches Wissen, um Alternativen zu dem Fall (z.B. in Form von Lösungsoptionen) zu generieren. Zentral im strukturtheoretischen Ansatz ist also Reflexion: Die Reflexion von Krisen, Momenten des Scheiterns, das Reflektieren der Antinomien, denen man im Unterricht ausgesetzt ist - insgesamt also ein umfassendes Bewusstsein über das, was Unterricht ausmachen kann. Damit einher geht eine ganz grundsätzliche „Pro‐ fessionalisierungsbedürftigkeit“ jeder Lehrperson im positiven Sinn, denn nicht nur gesellschaftliche Umstände und Anforderungen ändern sich ständig bzw. mindestens über die Laufbahn einer jeden Lehrperson, sondern jede Lerngruppe, sogar jede: r einzelne Lerner: in ist anders. Und das Fallverstehen, das im besten Fall dazu führt, dass man allgemeine Regelmäßigkeiten und Handlungsroutinen entwickeln kann, hat damit bestimmte Grenzen. Und genau dies macht den pädagogischen Alltag, die alltägliche Unterrichtspraxis so spannend und wertvoll. 2.1.2 Kompetenztheoretischer Bestimmungsansatz Der kompetenztheoretische Bestimmungsansatz von Lehrer: innenprofessionalität zielt im Wesentlichen darauf ab, dass es sich im Kerngeschäft von Lehrpersonen, nämlich dem Unterrichten und dem Gestalten von Lehr-Lernprozessen, um problemorientiertes Handeln dreht, für dessen Bewältigung Lehrpersonen Wissen und Kompetenzen benötigen (z.B. Baumert/ Kunter 2006, Helmke 2021). Diese Kompetenzen, die letztlich dazu führen sollen, dass qualitativ hochwertiger Unterricht stattfindet, erwerben (angehende) Lehrpersonen im Rahmen der unterschiedlichen Phasen der Lehrer: innenbildung (universitäre Lehrer: innen‐ bildung, Vorbereitungsdienst, Fort- und Weiterbildung). Damit entsteht ein gewisser Widerspruch zwischen einer kompetenztheoretischen und einer strukturtheoretischen Sicht auf die Gestaltung von Unterricht: Während letztere von den oben beschriebenen Unsicherheiten geprägt und nur wenig planbar ist, geht die kompetenztheoretische Perspektive sehr wohl davon aus, dass Lehrpersonen in die Lage versetzt werden können, Unterricht in einem gewissen Rahmen derart vorzubereiten, dass er bestimmte Ziele erreicht. Diese Fertigkeit würden Anhänger: in‐ 36 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="38"?> nen einer strukturtheoretischen Perspektive nicht leugnen, gehen sie ja auch davon aus, dass Wissen eine notwendige Voraussetzung ist, um Unterricht und Handeln fallorientiert zu verstehen. Jedoch arbeitet der kompetenzorientierte Ansatz stärker mit der Vorstellung, dass bestimmte Wissensbereiche (Wissensdomänen) eine Relevanz für die unterrichtliche Gestaltung haben. Häufig werden diese Wissensbereiche unterteilt in fachdidaktisches, fachliches und pädagogisches Wissen in Anlehnung an Shulmann (1986, 1987). Es wird diskutiert, welche dieser Wissensdomänen nun eine besondere Relevanz für die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen hat. Forschung im Fokus: Kompetenztheoretische Ansätze mit Fokus auf Fremd‐ sprachenlehrpersonen Verschiedene groß angelegte Untersuchungen haben auch die Kompetenzen und das Wissen von (angehenden) Englischlehrpersonen untersucht. Hierzu gehören in den vergangenen Jahren insbesondere die TEDS-LT-Studie (Blömeke et al. 2013), die Studie PKE (König et al. 2016) sowie FALKO-E (Kirchhoff 2017). Generell folgen sie der Aufteilung der Wissensformen nach Shulman (1986, 1987) bzw. der Art und Weise, wie sie im Nachgang häufig reduziert wurde, auf insbesondere Fachwissen, pädagogisches sowie fachdidaktisches Wissen. Die TEDS-LT-Studie (Blömeke et al. 2013) untersuchte die professionelle Kom‐ petenz von angehenden Englischlehrpersonen in Deutschland. Es zeigte sich, dass das fachdidaktische Wissen und die pädagogischen Überzeugungen der Lehramtsstudierenden einen signifikanten Einfluss auf ihre spätere Unterrichts‐ qualität haben. Lerngelegenheiten während der Ausbildung, insbesondere pra‐ xisnahe Trainings und reflektierte Praxiserfahrungen, waren entscheidend für die Entwicklung professioneller Kompetenzen. Die PKE-Studie (König et al. 2016) konzentrierte sich ebenfalls auf professionelle Kompetenz bzw. deklaratives Wissen von Englischlehrkräften. Hierbei wurde die Bedeutung und Entwicklung von pädagogischem Wissen und fachdidaktischen Fähigkeiten hervorgehoben, während Fachwissen sich vom Studium zum Vor‐ bereitungsdienst kaum weiter ausdifferenzierte: „PKE zeigt, dass pädagogisches und fachdidaktisches Wissen enger miteinander zusammenhängen als beide Wissensformen mit Fachwissen, jedoch auch, dass diese Korrelation im Vergleich z.B. zu angehenden Mathematiklehrkräften geringer ist, wofür die Autor/ innen u.a. die diversen Bezugsdisziplinen der Fremdsprachendidaktik verantwortlich machen.“ (Gerlach 2022a: 31) Die FALKO-E-Studie (Kirchhoff 2017) beforscht Wissen und Kompetenzen von Englischlehrpersonen in unterschiedlichen Phasen und stellt - im Gegensatz zu den anderen großen Untersuchungen - die Eigenständigkeit fachdidaktischen Wissens heraus. Allerdings nimmt das fachdidaktische Wissen mit wachsender Erfahrung hier auch nicht zu (was bei den anderen Untersuchungen deutlicher der Fall war). 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 37 <?page no="39"?> Insgesamt stellen die Untersuchungen die Bedeutung der unterschiedlichen Wis‐ sensformen von fachdidaktischem, pädagogischem und Fachwissen für die Pro‐ fessionalität und Professionalisierung von Fremdsprachenlehrpersonen heraus. Immer wieder wird allerdings betont, dass das Wissen der Disziplin „Fremdspra‐ chendidaktik“ scheinbar nur gering strukturiert ist, d.h. dass es scheinbar - im Vergleich zu anderen Fächern wie Mathematik oder Naturwissenschaften - kein standardisiertes bzw. standardisierbares Wissen in der Fremdsprachendidaktik gibt. Es ist fluider und teilweise sogar von einzelnen Fremdsprachendidakti‐ klehrstühlen abhängig, welches Wissen als für angehende Fremdsprachenlehr‐ personen relevant gesetzt wird (vgl. Blömeke et al. 2013, Gerlach 2022b). Das heißt im Umkehrschluss: Fremdsprachenlehrpersonen wissen unterschiedliche Dinge, je nachdem wo sie ausgebildet wurden, welche Erfahrungen sie machen und vor allem: wie sie diese Erfahrungen verinnerlicht haben oder relevant setzen für ihre spätere Unterrichtspraxis. An späterer Stelle wird uns diese Verknüpfung und Reflexion verschiedener Wissensformen noch genauer beschäftigen. Der kompetenztheoretische Bestimmungsansatz hat eine gewisse Nähe zum sogenann‐ ten Expertise-Ansatz (vgl. Berliner 1988, Bromme 2014). Im Expertiseansatz wird unterschieden zwischen Noviz: innen und Expert: innen, die über den Wissenserwerb und den Aufbau von Routinen eben jene Expertise aufbauen. Dies passt wiederum zu zahlreichen Ausbildungsmodellen wie der universitären Phase, wo Dozierende Wissen vermitteln, oder dem Vorbereitungsdienst, bei dem angehende Lehrperson von erfahreneren Lehrpersonen praxisnah betreut (im Sinne eines Mentorats) oder von Expert: innen (in Form von Ausbildungskräften oder Fachleiter: innen) ausgebildet werden. Gleichwohl ist das Verhältnis von vermitteltem Wissen und der Aufnahme dieses Wissens nicht nur abhängig vom Vermittlungsprozess (d.h. der Qualität der Ausbildung) oder der Institution, in der diese Wissensvermittlung geschieht, sondern auch abhängig von den angehenden Lehrpersonen, die dieses Wissen aufnehmen. Auf diese Problematik gehen wir weiter unten noch einmal ein. Innerhalb des kompetenztheoretischen Bestimmungsansatzes wird allerdings eben‐ falls zugestanden, dass auch andere Faktoren über diese Wissensvermittlung und den Kompetenzaufbau hinaus bedeutend sind. Hierzu gehören z.B. Überzeugungen, Haltungen und Glaubenssätze der Lehrpersonen (vgl. Baumert/ Kunter 2006). Auch persönlichkeitsrelevante Merkmale spielen eine Rolle, die einen Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung haben können, beispielsweise wenn jemand sehr introvertiert agiert oder in einer sehr extrovertierten Art und Weise auftritt, sehr einfühlsam mit Lernenden interagiert oder eher Distanz zu wahren versucht. 38 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="40"?> 2.1.3 Berufsbiographischer Bestimmungsansatz Terhart (2001) nennt es ein „berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (ebd.: 56), dem sich (angehende) Lehrpersonen stellen, denn Bildung (und damit auch Professi‐ onalisierung) können als lebenslanger Prozess betrachtet werden. Der berufsbiogra‐ phische Bestimmungsansatz nimmt diese longitudinale Entwicklungsperspektive also insofern ernst, als dass es nicht nur um situatives Fallverstehen von Unterricht oder kompetenzorientiertes Lösen von Vermittlungsproblemen gehen kann, sondern dass die Lehrkraft als Person mit ihrer gesamten Biographie in dieses unterrichtliche Handeln eingebettet ist. Dies beginnt auf ganz individueller Ebene bereits mit eigenen Schulerfahrungen, die sich als Schüler: innenhabitus verfestigt haben. Diese Erfahrun‐ gen sind prägend für die Wahrnehmung von Unterricht oder auch für den Kontrast, den die universitäre Lehrer: innenbildung zu dem darstellt, was in Schule (vermeintlich) passiert. Wenn es letztlich Ziel ist, einen Lehrer: innenhabitus zu entwickeln, stellt der berufsbiographische Ansatz ein Modell dar, bei dem sich Professionalität im Laufe der Jahre mehr und mehr einstellen kann. Eine Berufsbiographie beginnt damit schon vor der eigentlichen Ausübung des Berufs. Sie ist gekennzeichnet von biographischen Brüchen, Phasen oder Krisen, die man individuell bearbeitet, reflektiert und interpretiert. Es gibt unsichere Phasen, in denen bestimmte Aspekte der Ausbildung, vielleicht sogar die Berufswahl in Gänze, hinterfragt werden. Aber es gibt auch stabilisierende Phasen, in denen die positiven Erfahrungen (z.B. das Lernen von besonderem Wissen oder positive Interaktionen mit Lernenden) die Berufsbiographie als gelungene Erfahrung bestätigen. Innerhalb der unterschiedlichen Phasen der Berufsbiographie von Lehrpersonen stellen sich ihnen verschiedene Aufgaben, die Hericks (2006) im Anschluss an Havighurst (1979) als Entwicklungsaufgaben (developmental tasks) bezeichnet. Diese Aufgaben werden von angehenden Lehrpersonen nicht unbedingt bewusst erlebt, sondern quasi-automatisch durchlaufen und je nach individuellen oder institutionellen Voraussetzungen gelöst. Entwicklungsaufgaben sind „unhintergehbar“ (Hericks 2006: 60), d.h. sie müssen bearbeitet werden, „wenn es zu Progression von Kompetenz und zur Stabilisierung von Identität kommen soll“ (ebd.). Reflexionsaufgabe Welche Herausforderungen haben Sie bislang in Ihrem Fremdsprachenlehrer: in‐ nenwerden bewusst wahrgenommen? Bei welchen Aufgaben ist Ihnen vielleicht erst im Nachhinein klar geworden, dass Sie diese gemeistert haben? 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 39 <?page no="41"?> Forschung im Fokus: Berufsbiographische Bestimmungsansätze in der deut‐ schen Fremdsprachenforschung Berufsbiographische Bestimmungsansätze im engeren Sinne sind bislang kaum zum Gegenstand von fremdsprachendidaktischer Professionsforschung im deutschsprachigen Raum geworden. • Una Dirks Dissertation Wie werden EnglischlehrerInnen professionell? Eine be‐ rufsbiographische Untersuchung in den neuen Bundesländern (2000) analysiert den Professionalisierungsprozess von Englischlehrkräften in Ostdeutschland nach der Wende. Sie untersucht, wie diese Lehrer: innen die Bildungschancen vor und nach der Wiedervereinigung für ihre berufliche Entwicklung nutzen, welche Herausforderungen sie im Berufsalltag meistern und welche Kom‐ petenzen sie dabei entwickeln oder reaktivieren. Dirks Methodik umfasst biographisch-narrative Interviews, die Einblicke in die beruflichen Lebens‐ geschichten und die reflexive Praxis der Lehrkräfte bieten. Die Studie zeigt, dass biographische Erfahrungen eine wesentliche Rolle in der Professionali‐ sierung spielen und bietet damit Anknüpfungspunkte für die Debatte über reflexive Lehrerbildung und Fremdsprachendidaktik. • In seiner Dissertationsstudie Professionalität und Professionalisierung im Bilingualen Unterricht - Was es bedeutet, Lehrperson für den Bilingualen Unterricht zu sein und es zu werden (Heinemann 2018) untersucht Arne Hei‐ nemann die spezifischen Anforderungen, die an Lehrkräfte im bilingualen Unterricht gestellt werden, und wie diese Anforderungen zur Entwicklung von Professionalität führen. Die Ergebnisse zeigen zwei Hauptzugänge zum bilingualen Unterricht: einen auf Unterrichtsebene und einen auf Schul‐ ebene. Die Reflexion über explizite und implizite Wissensbestände, insbeson‐ dere über (berufsbiographisch gewachsene) Erfahrungen und Vorstellungen zum Spracherwerb, spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Handlungskompetenz und der Professionalisierung im und für den bilingualen Unterricht. • David Gerlachs Habilitationsstudie Zur Professionalität der Professionalisier‐ enden: Was machen Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbe‐ reitungsdienst? (Gerlach 2020b) untersucht die Rolle und Professionalität von Ausbildungskräften und Fachleitungen im Kontext des fremdsprachendidak‐ tischen Vorbereitungsdienstes. Gerlach analysiert, wie diese Fachpersonen angehende Lehrkräfte in ihrer professionellen Entwicklung unterstützen, begleiten und die Ausbildungspraxis strukturieren. Es offenbart sich ein stark machtvoll geprägtes Verhältnis, bei dem tatsächlich fremdsprachen‐ didaktische Prinzipien stärker in den Hintergrund rücken. Der berufsbi‐ ographische Anteil zeigt, wie Fremdsprachenlehrpersonen überhaupt zu Lehrerbildner: innen werden, ob sie also z.B. sehr karriereorientiert diesen 40 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="42"?> Weg planen oder eher zufällig durch ein stärker akademisch geprägtes Interesse zu Erwachsenenbildner: innen werden. Auch weitere Arbeiten aus der rekonstruktiven Fremdsprachenforschung haben häufig einen berufsbiographischen Anteil, fokussieren aber z.B. auf bestimmte Aspekte wie Heterogenität im Unterricht (Leonhardt i.V.), Mehrsprachigkeit (Wilken 2022) oder auch die Implementation methodischer Innovationen wie kooperatives Lernen im Englischunterricht (Bonnet/ Hericks 2020b). Diese Ar‐ beiten spielen im weiteren Verlauf unten noch eine größere Rolle und werden entsprechend dort vorgestellt. Andere Arbeiten aus der Fremdsprachenforschung beschäftigen sich mit Berufs‐ wahlmotiven (vgl. Übersicht in Caspari 2014), sind daher aber stärker motivati‐ onstheoretisch geprägt und weniger berufsbiographisch. Stimmen von Lehrpersonen: „Sechser im Lotto“ (Gardemann 2021: 2019) Lesen Sie den folgenden Auszug aus der Dissertation von Christine Gardemann. Eine Lehrperson erzählt über ihre Motivation, Englischlehrkraft zu werden: […] so also das heißt nicht so diese Variante ‚Ich wusste schon immer dass ich Lehrerin werden will‘, aber ahm auchalso so ganz fern lag es mir auch von Anfang an nicht und eben auch nicht die Variante Lehramtsstudium (atmet) weil man dann so viel Ferien hat obwohl man keine eigentlich keine Kinder mag also das auch nicht, so gibt’s ja auch ahm genau aber Englisch war, war das erste was feststand und dann so die Frage was kann man denn damit Sinnvolles anfangen, so, und für mich ist es letztendlich tatsächlich (atmet) ja irgendwie ist das wie so’n Sechser im Lotto, weil sich dann herausgestellt hat, dass mir Unterrichten wirklich viel Spaß macht und total liegt und ich außerdem die Möglichkeit habe gerade eben mit Oberstufenkursen das zu tun was ich liebe, nämlich Literatur zu unterrichten das ist einfach ganz großartig weil (atmet) naja weil das so-so meine totale Leidenschaft ist und ich könnte ja in keinem anderen Job der Welt das tun, so, insofern ist das ahm ja passt das einfach. Welche Motive und Gründe beschreibt die Lehrperson in diesem Auszug? Was heißt für Sie etwas „Sinnvolles“? Wie deuten Sie das Bild vom „Sechser im Lotto“? Ist denkbar, dass die Lehrperson auch in anderen Berufsfeldern ähnliche Motive verfolgen und zentrale Aufgaben erfüllen könnte wie diejenigen, die sie hier beschreibt? 2.1.4 Weitere Bestimmungsansätze Neben den oben ausführlicher dargestellten und den wissenschaftlichen Diskurs dominierenden Bestimmungsansätzen von Lehrer: innenprofessionalität (und -profes‐ sionalisierung) lassen sich zahlreiche weitere ausmachen. Hierzu gehört der Exper‐ 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 41 <?page no="43"?> tise-Ansatz, der oben innerhalb der kompetenztheoretischen Ideen schon angeklungen ist, aber auch Ansätze, die sich mit der Persönlichkeit der Lehrpersonen beschäfti‐ gen. Diese argumentieren, dass die Persönlichkeit einen gewissen Einfluss auf die individuelle Professionalität hat, mindestens aber auf den Verlauf der Professionalisie‐ rung (d.h. die sogenannte berufliche Laufbahn), „wenn [(angehende) Lehrpersonen] psychisch stabil, extrovertiert und gewissenhaft sind und ausgeprägte soziale, künst‐ lerisch-sprachliche und unternehmerische Interessen aufweisen“ (Mayr et al. 2020: 142). Wenn Lehrpersonen einem bestimmten Persönlichkeitstyp entsprechen sollten oder dieser Typ besonders erfolgreich ist, dann könnten viele engagierte Personen eigentlich keine Lehrer: innen werden bzw. eine diverse Schüler: innenschaft mit allen möglichen Persönlichkeiten bekäme immer nur den einen Typus vorgesetzt. Die Frage ist dann, inwiefern diese Persönlichkeitsmerkmale statisch, d.h. kaum veränderbar und durch Professionalisierung oder Lehrer: innenbildung nicht „formbar“ sind, oder was Lehrer: innenbildung dann überhaupt bewirken kann. Gleichwohl ließe sich - je nach Persönlichkeitsstruktur - annehmen, dass bestimmte Handlungsstrategien eingeübt werden können, die die pädagogische Praxis zumindest erleichtern: wie man mit Ar‐ beitsbelastung umgeht, kann z.B. stark von der individuellen Persönlichkeit abhängen, aber mit Zeitmanagementstrategien (zumindest in Teilen) abgemildert bzw. organisiert werden. Auf dieser Ebene des Persönlichkeitsansatzes erscheint individuelle Beratung oder Coaching naheliegend, da nötige Professionalisierung vielleicht zum einen von der Lehrperson selbst nicht wahrgenommen wird oder - selbst wenn - es dann gezielter Beratung und Förderung bedarf, bei der keine pauschalisierten Lösungen ausreichen. Reflexionsaufgabe Denken Sie zurück an Ihre Fremdsprachenlehrer: innen aus der eigenen Schulzeit. Welche „Persönlichkeitsmerkmale“ wiesen diese auf ? Würden Sie die Merkmale als positiv/ negativ bzw. förderlich/ hinderlich bewerten? Es existieren auch stärker sozialwissenschaftlich bzw. soziologisch geprägte Deutungs‐ ansätze, die das professionelle Handeln von Lehrpersonen gesellschaftstheoretisch zu bestimmen versuchen. Zentral ist hier der praxeologisch-wissenssoziologische Ansatz von Professionalität und Professionalisierung, der maßgeblich von Bohnsack (2020) in der Tradition der Dokumentarischen Methode geprägt wurde und auf die Rekonstruktion der Struktur der Handlungspraxis von Lehrpersonen abzielt, um dadurch das Zusammenwirken von expliziten und impliziten Wissensstrukturen zu analysieren (siehe Kapitel 2.3). Anders als beim kompetenztheoretischen Ansatz zur Professionalität, bei dem theoretisches Wissen als grundlegend betrachtet wird, ist beim praxeologischen-wissenssoziologischen Ansatz das implizite und habitualisierte Wissen wichtig, das die Handlungsweisen in der Praxis, d.h. hier: der unterrichtlichen Praxis, analysiert. Um die Struktur der Praxis zu rekonstruieren, ist wiederum das explizite Wissen notwendig, das sich oft in Form von Normen zeigt (siehe Kapitel 2.4 42 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="44"?> und Kapitel 6). Um das Handeln von Lehrpersonen professionstheoretisch analysieren und letztlich bewerten zu können, wird in diesem Ansatz untersucht, wie Personen mit Normen insbesondere die der Organisation (hier: der Schule) umgehen und wie sich ihre Orientierungen im Unterricht potentiell daran stoßen. In der Widersprüchlichkeit von Normen der Organisation und den eigenen Orientierungen, die als selbstverständ‐ lich erachtet wird, kann schließlich professionstheoretisch rekonstruiert werden, inwiefern die sogenannte diskursethische Verständigung und damit Aushandlung über die Normen auf der Metaebene z.B. mit Kolleg: innen oder Schüler: innen, also Personen, die an der Interaktion beteiligt sind, erfolgt. Eine systemtheoretische Perspektive im Anschluss an Talcott Parson (z.B. 2023) oder Niklas Luhmann (z.B. 1988) sieht den Unterricht als Teilsystem von übergeordneten Einheiten, welche jeweils bestimmte Handlungslogiken, spezifische Regeln, Normen und Erwartungen zeigen. Im Anschluss daran könnte man einen machttheoretischen Deutungsansatz ableiten, welcher einer bestimmten Profession (bzw. Angehörigen dieser Profession) Macht und eine gewisse Autonomie im Handlungsvollzug zugesteht, welche sowohl (positiv) zur pädagogischen Arbeit und Transformation von Ungerecht‐ igkeiten oder (negativ) missbrauchend genutzt werden kann. Diese Machtförmigkeit einer Profession ist dabei sozial konstruiert, genießt mal mehr und mal weniger Autorität je nach Kontext und Ebene, die man betrachtet. Man mag argumentieren, dass Lehrpersonen innerhalb des Systems von Schule aufgrund von curricularen Vorgaben eingebunden und gewissermaßen gezwungen sind, Inhalte umzusetzen. Auf der Ebene von Unterricht lässt sich jedoch auch immer eine Machtförmigkeit zwischen der Lehrperson als Unterrichtsgestalter: in und Expert: in und den Lernenden als unwissenden Laien rekonstruieren. Literaturempfehlung Werner Helsper stellt in seinem Buch Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: Eine Einführung (2021) die verschiedenen Bestimmungs‐ ansätze (auch aus einer historischen Perspektive) ausführlich dar und grenzt sie voneinander ab. 2.1.5 Meta-Reflexivität Nachdem wir nun eine Reihe von möglichen Deutungsansätzen zur Bestimmung von Professionalität von Lehrpersonen betrachtet haben, stellt sich die Frage: Welcher ist der richtige? Die Antwort hierauf könnte sein: Keiner und alle. Die Ansätze stehen für sich relativ unverbunden. Und obwohl verschiedene Vertreter: innen der jeweiligen Deutungsansätze wiederholt gewisse Hoheitsansprüche formulieren und es auch zwischen Wissenschaftler: innen, die einen kompetenz- oder strukturtheoretischen Ansatz verfolgen, einen wissenschaftsöffentlichen Disput gab (siehe Baumert/ Kunter 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 43 <?page no="45"?> 2006, Helsper 2007), ist es wichtig, die unterschiedlichen theoretischen Annahmen und ihre jeweils gültige Relevanz für Unterricht und professionelles Handeln zu betrachten. Denn: Die Deutungsansätze sind zunächst einmal wissenschaftstheoretisch verankert und hängen davon ab, was Wissenschaftler: innen beforschen möchten bzw. entlang welcher Paradigmen sie forschen. Per se kann es hier also kein richtig oder falsch geben, sondern lediglich Unterschiede in der Betrachtung desselben Forschungsge‐ genstandes (= Lehrer: innen, ihre Professionalität oder ihre Professionalisierung). Die unterschiedlichen Bestimmungsansätze können parallel dazu aber (angehenden) Lehr‐ kräften helfen, ihr Handeln zu verstehen oder ihren Professionalisierungsprozess zu gestalten: Bin ich mir z.B. der Ungewissheiten und Antinomien im Unterricht bewusst (strukturtheoretischer Ansatz), nimmt mir das nicht nur Handlungsdruck, sondern hilft mir vielleicht auch besser, in einen Reflexionsprozess einzusteigen. Letzterer wiederum kann Fragen beinhalten wie: „Was brauche ich noch an zusätzlichen Methoden/ Ansät‐ zen/ Wissen, um diese Situation in Zukunft besser auszuhalten? “ Hiermit sind wir auf einer kompetenztheoretischen Ebene. Und gelangen wir beispielsweise an einen Punkt, wo ein bestimmter Inhalt curricular vorausgesetzt wird, wir als Lehrpersonen diesen allerdings vor dem Hintergrund unserer Lerngruppe für unmoralisch oder ethisch fragwürdig interpretieren und adaptieren, betrachten wir die Professionalität in diesem Moment möglicherweise sogar mit einer machtkritischen Brille. Cramer (vgl. Cramer et al. 2019, Cramer 2023) sieht eine sogenannte Meta-Refle‐ xivität als Zugang, um (unter anderem) der Komplexität dieser unterschiedlichen Professionstheorien und Bestimmungsansätze gerecht zu werden. Er argumentiert: „Professionelle nehmen meta-reflexiv (..) verschiedene Perspektiven auf denselben Gegenstand ein, bedenken deren Grundlagen und wägen die Deutungsmuster hin‐ sichtlich ihrer Möglichkeiten und Grenzen ab.“ (Cramer 2023: 14) Dieses Abwägen setzt zum einen eine Kenntnis der unterschiedlichen Deutungsansätze voraus, zum anderen ein bewusstes, möglicherweise kriterial geordnetes Reflektieren über das, was gerade (z.B. im Unterricht, in einer Ausbildungsveranstaltung oder im Uniseminar) passiert. Abbildung 1 zeigt, wie primäre Perspektiven (die oben beschriebenen drei Ansätze) im inneren Kreis Professionalität bestimmen können. Der äußere Rand beschreibt sekundäre Perspektiven, die durch einen meta-reflexiven Zugang entstehen: Sie ergeben sich daraus, wie z.B. mittels der Mehrperspektivität bzw. unter Berück‐ sichtigung der Kontextgebundenheit (siehe auch Kapitel 2.2) die Bestimmungsansätze relevant(er) werden (oder nicht). Sie erlauben aber auch, bestimmte theoretische Vorannahmen hinsichtlich der Gültigkeit der Ansätze für einen spezifischen Fall zu formulieren. Außerdem ist es erforderlich, dass Lehrerbildner: innen an Universitäten und Studienseminaren Grundlagentheorien im größeren Zusammenhang transparent darlegen. 44 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="46"?> Abbildung 1: Primäre Perspektiven und sekundäre/ meta-reflexive Perspektiven auf Lehrer: innenbil‐ dung (Cramer 2023: 17). Das oft von Lehramtsstudierenden als inkohärent erlebte Studium könnte durch eine meta-reflexive Herangehensweise (wenn Hochschuldidaktik konsequent integriert wird) Kohärenzerleben ein Stück weit begünstigen, „wenn unterschiedliche Theorien, Paradigmen, wissenschaftliche Disziplinen etc. aufeinander bezogen werden“ (Cramer 2023: 18). Das wird an der einen oder anderen Stelle möglicherweise schon versucht, aber nicht in der notwendigen Konsequenz und bleibt immer auch stark abhängig von der angehenden Lehrperson. 2.1.6 Abschließende Betrachtung der Bestimmungsansätze Die vorherigen Unterkapitel sollten zum einen die Komplexität von Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften aufzeigen (insbesondere aus einer theoreti‐ schen Perspektive). Zum anderen bietet abschließend die Idee von Meta-Reflexivität einen Zugang an, wie diese unterschiedlichen Brillen dabei helfen können, z.B. fallorientiert multiple Varianten von Deutungen zu generieren, die ein tiefgreifendes Verständnis eines solch komplexen Zusammenhangs wie dem des Unterrichts ermögli‐ chen. Die Professionstheorien, die in Zukunft noch weiter ausdifferenziert oder gar neu generiert werden (Abbildung 1 versucht dies unter „künftige Ansätze“ zu berücksich‐ tigen), haben dabei eine große Relevanz und dürfen nicht einseitig oder exkludierend betrachtet werden, sondern immer in ihrer Angemessenheit gegenüber dem jeweiligen 2.1 Schulpädagogische Ansätze der Lehrer: innenbildung 45 <?page no="47"?> Fall oder Problem. Es sollte daher auch nicht das Ziel des Lehramtsstudiums sein, von Beginn an Meta-Reflexivität aufzubauen. Vielmehr kann es als eine mögliche Option betrachtet werden, um Professionalität mittel- und langfristig zu entwickeln (siehe auch zur Adressierung entsprechender Kritik den Beitrag von Cramer 2020: 211-212). Im Folgenden möchten wir gleichwohl im Sinne eines meta-reflexiven Zugangs versu‐ chen zu bearbeiten, an welchen Stellen unterschiedliche Bestimmungsansätze relevant werden und wie sie uns helfen können, den individuellen Professionalisierungsprozess zu gestalten. 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze der Fremdsprachenlehrer: innenbildung und unterrichtliche Anforderungen Die Fremdsprachenforschung ist mit ganzer Selbstverständlichkeit eine sowohl theo‐ retisch-konzeptionell als auch empirisch arbeitende Wissenschaft. Bereits im vergan‐ genen Jahrhundert wurde umfassend dazu geforscht, wie z.B. Lehr- und Lernprozesse effektiv gestaltet werden können, wie Spracherwerbsprozesse verlaufen und welche Implikationen diese Forschung für die Unterrichtspraxis haben kann. Aus einer durchaus konstruktivistischen und auf die Förderung kommunikativer Kompetenz ausgerichteten Denkweise heraus lag der Fokus dabei fast ausschließlich auf dem Gegenstand (der Sprache bzw. den sprachlichen Mitteln) oder den Lernenden - Forschung zu Fremdsprachenlehrpersonen war viele Jahre eher marginal, was sich auch in der Entwicklung der Fremdsprachenlehrer: innenbildung insgesamt nieder‐ schlug. Abbildung 2 verdeutlicht, dass die ursprüngliche Konzeptualisierung wenig mit Lehrer: innenbildung zu tun hatte, sondern stärker trainingsorientiert war und auf die reine Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten abzielte. Ab den 1980er Jahren kam die Notwendigkeit auf, über Fortbildungsangebote die professionelle Entwicklung parallel zur Lehrtätigkeit zu fördern. Erst in den 1990er Jahren wurde Fremdspra‐ chenlehrer: innenbildung forschungsbasiert, d.h. man integrierte Erkenntnisse aus der Fremdsprachenforschung ganz bewusst und gestaltete die Ausbildung an sich stärker forschungsorientiert. Im Gegensatz zum reinen „training“ wurden „ganzheitliche“ Konzepte entwickelt, um die Entwicklung von Lehrpersonen anzubahnen und zu begleiten. Erst seit den 2000er Jahren - und als Folge der soziokulturellen Wende - beschäftigen Forscher: innen sich mit Lehrpersonen im Fremdsprachenunterricht als soziale und in Praktiken eingebundene Identitäten. Die soziokulturelle Wende hatte zuvor auch die sogenannte Lerner: innenorientierung bedingt, welche ebenfalls großen Wert auf soziale Praktiken im Klassenraum legt. 46 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="48"?> Abbildung 2: The Widening Gyre of Second Language Teacher Education (Freeman 2009: 14). Gut zu wissen: Die soziokulturelle Wende und der Fremdsprachenunterricht Die „soziokulturelle Wende“ bezieht sich auf eine Verschiebung in der Sprach‐ wissenschaft und in verwandten Disziplinen hin zu einem stärkeren Fokus auf die soziale und kulturelle Dimension von Sprache, die in den 1980er Jahren eintrat. Sie markiert eine Abkehr von strukturalistischen und kognitivistischen Ansätzen, die Sprache hauptsächlich als ein abstraktes System von Zeichen oder als mentalen Prozess betrachten. Diese Wende integriert Erkenntnisse und Methoden aus verschiedenen Disziplinen wie Soziologie, Anthropologie, Kulturwissenschaften und Psychologie in die Sprachwissenschaft und betrachtet Sprache als ein sozial und kulturell eingebettetes Phänomen. Der Gebrauch und das Verständnis von Sprache sind stark von den sozialen Kontexten ab‐ hängig, in denen sie verwendet wird, und Sprache spielt eine zentrale Rolle bei der Konstruktion und Aushandlung von Identitäten. Diskursanalytische Methoden untersuchen beispielsweise, wie Machtverhältnisse, Ideologien und soziale Strukturen durch Sprache (re-)produziert und verändert werden. 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 47 <?page no="49"?> Diese Wende hat damit umfassende Folgen für das Unterrichten von Fremdspra‐ chen. Der Fremdsprachenunterricht legt verstärkt Wert auf kommunikative Kompetenz, damit Sprachlernende sich in verschiedenen sozialen Kontexten adäquat und effektiv ausdrücken können. Der Unterricht integriert kulturelles Wissen und fördert das Verständnis für kulturelle Unterschiede und Gemein‐ samkeiten, sodass nicht nur die Sprache, sondern auch die (vermeintlichen) kulturellen Praktiken der „Zielsprachengemeinschaften“ verstanden werden. Lehrmaterialien umfassen authentische Texte und Medien, um den Lernenden ein besseres Gefühl für den natürlichen Sprachgebrauch zu vermitteln. Der Unterricht fördert kooperative Lernformen und interaktive Methoden, bei denen Lernende miteinander interagieren. Es wird anerkannt, dass Sprachenlernen ein sozialer Prozess ist, bei dem Lernende in soziale Netzwerke eingebunden sind und durch Interaktion mit anderen lernen. Die soziokulturelle Wende hat somit den Blick auf Fremdsprachenunterricht nachhaltig verändert, indem sie die Bedeutung von sozialem Kontext, kulturellem Verständnis und kommunikativer Praxis in den Mittelpunkt gestellt hat, was zu einem ganzheitlicheren Ansatz beim Sprachenlernen führt. Literaturempfehlungen zum Thema sind Block (2003), Johnson (2006) und Ortega (2011). Man könnte argumentieren, dass der starke Fokus auf die unterrichtlichen Prozesse und die Lernenden (als Lerner: innenorientierung) die Forschung zu (und Förderung von) Fremdsprachenlehrpersonal vernachlässigt hat (vgl. Königs 2014). Auch in der deutschen Fremdsprachenforschung kommt es erst in den 2000er Jahren und verstärkt in den 2010er Jahren zu einer starken empirischen Fundierung der Professions- und Professionalisierungsforschung. Auf die Schwerpunkte dieser Forschung möchten wir im Folgenden genauer eingehen, da sie bedeutende Grundlagen dafür liefert, wie sich Fremdsprachenlehrpersonen entwickeln und welche Ressourcen sie dafür nutzen können. Das hilft uns später für eine stärker kritisch und an sozialen Fragen entwickelte Form der Professionalisierung und Gestaltung von Fremdsprachenunterricht. Neben der Forschung zu Fremdsprachenlehrpersonen und relevanten Konstrukten stellen wir drei besondere Felder bzw. Ansätze vor, nämlich Kontextsensibilität, Inklusion sowie das Prinzip der Handlungsorientierung. Alle drei stellen besondere Anforderungen an (angehende) Fremdsprachenlehrpersonen und werden daher in gebotener Kürze erläutert. Dies geschieht nicht nur zwecks der Reflexion dieser Anforderungen, sondern soll auch vor dem Hintergrund der späteren Ausführungen zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, ihrem Verhältnis zu Kontextsensibilität, Handlungsorientie‐ rung und Inklusion sowie für die praktischen Beispiele in Kapitel 5 dienen. 48 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="50"?> Gut zu wissen: Zur Struktur der Fremdsprachenlehrer: innenbildung in DACH Lehrer: innenbildung ist nicht kohärent, obwohl sie an Universitäten und päda‐ gogischen Hochschulen angesiedelt ist. Lehrer: innenbildung ist inhaltlich und strukturell fragmentiert durch eine Untergliederung in Fächer, die studiert werden müssen, zuzüglich eines bildungs- oder erziehungswissenschaftlichen Anteils. Darüber hinaus sind die Fächer in sich fragmentiert. In den Fremdspra‐ chen zeigt sich dies durch die fachkulturelle Untergliederung in die Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaften als Fachwissenschaften, in die Sprachpraxis sowie die Fachdidaktik. All diese Fachanteile weisen unterschiedliche Logiken, Wissenschaftsstile und Schwerpunkte auf, obwohl sie alle an der Ausbildung der angehenden Lehrpersonen beteiligt sind. Dies ist insbesondere für Studie‐ rende, die gerade mit ihrem Studium beginnen, häufig nicht nachvollziehbar und intransparent. Es führt nicht selten dazu, dass die Studienwahl oder die Perspektive Lehramt in Gänze hinterfragt wird, da die Nähe zum vermeintlichen Ziel „Fremdsprachenlehrperson sein“ nicht wahrgenommen wird. Dies wird dann häufig mit Studieninhalten begründet, deren schulische Relevanz auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist (siehe auch Kapitel 2.1.3). Lehrer: innenbildung in Deutschland und im deutschsprachigen Raum hat ganz bewusst eine akademisch-wissenschaftliche Fundierung. Diese versteht sich eben nicht als Ausbildung/ training, wie oben in Abbildung 2 konzeptualisiert, sondern möchte dem mitgebrachten Schüler: innenhabitus etwas entgegensetzen. Die Distanz zur Praxis und eine damit einhergehende Irritation sind (mehr oder weniger) bewusst eingeplant und strukturell gewollt. Unserer Meinung nach, als Autor: innen dieses Buches zum „Fremdsprachenlehrer: innenwerden“, ist eine individuelle Reflexion des Prozesses und der Institution(en) wie Hochschule, Studienseminar und Schule nötig, um diese Hintergründe und Ziele miteinander zu vereinbaren. Die Ziele der Lehrer: innenbildung werden dabei von Seiten der Institutionen aber selten transparent gemacht, weswegen es uns ein Anliegen ist, dies zu tun. Im späteren Verlauf wird dies noch eine Rolle spielen für die Reflexion der Relevanz der jeweiligen Institutionen und deren „Deutungshoheit“ für Wissensbestände darüber, wie Lehrer: innenbildung und Lehrer: innensein gedacht werden kann. 2.2.1 Forschung zur Professionalität und Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften Die Professionsforschung im Bereich der Fremdsprachendidaktik hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ein zentrales Anliegen ist es, die verschiedenen Dimensionen der Professionalität und Professionalisierung von Fremd‐ 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 49 <?page no="51"?> sprachenlehrkräften zu untersuchen. Dabei spielen sowohl theoretische Konzepte als auch empirische Zugänge eine wichtige Rolle. In der deutschen Fremdsprachenforschung gibt es eine um die Jahrtausendwende begründete Tradition zu beforschen, „[was] in den Köpfen von Fremdsprachenleh‐ rer(inne)n vorgeht“ (Caspari 2014: 20). Dieser Forschungsgegenstand ist überaus facettenreich: Neben der Erforschung von Überzeugungen zu fremdsprachlichen Lehr- und Lernprozessen und Kognitionen sowie Wissen ging es in vielen Projekten um sogenannte Subjektive Theorien. Gut zu wissen: Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien nach Groeben und Scheele (2010) ist ein Ansatz in der psychologischen und pädagogischen Forschung, der sich mit den subjektiven Theorien von Individuen beschäftigt. Subjektive Theorien sind persönliche Überzeugungen, Meinungen und Vorstellungen, die Menschen über sich selbst, ihre Umwelt und ihre sozialen Beziehungen haben. Diese Theorien beeinflussen das Verhalten und Erleben von Individuen und sind daher von großem Interesse für die wissenschaftliche Untersuchung. Groeben und Scheele entwickelten diesen Ansatz, um die Komplexität und Struktur dieser subjektiven Theorien zu erfassen und zu analysieren. Das Forschungsprogramm basiert auf der Annahme, dass subjektive Theorien sowohl kognitive als auch emotionale Komponenten enthalten und tief in den individuellen Erfahrungen und sozialen Kontexten der Menschen verwurzelt sind. Ein zentrales Merkmal des Forschungsprogramms ist die Methode der „subjek‐ tiven Relevanzstrukturen“. Diese Methode ermöglicht es, die für das Individuum relevanten Aspekte eines Themas oder einer Situation systematisch zu erfassen. Dabei werden nicht nur das explizit geäußerte Wissen, sondern auch implizite und latente Überzeugungen berücksichtigt. Die Analyse subjektiver Theorien erfolgt dabei in mehreren Schritten: Zunächst werden die relevanten Themen und Fragestellungen in explorativen Interviews oder Fragebögen ermittelt. Anschließend werden die gewonnenen Daten quali‐ tativ und quantitativ ausgewertet, um die Strukturen und Muster der subjektiven Theorien zu identifizieren und dann gemeinsam mit den Teilnehmenden zu validieren. Ziel ist es, ein möglichst umfassendes und differenziertes Bild der individuellen Überzeugungssysteme zu zeichnen. In ihrem Artikel von 2014 fasst Daniela Caspari die (deutsche) Fremdsprachen‐ forschung zu Subjektiven Theorien von Lehrpersonen umfassend zusammen Dass sich die Fremdsprachenforschung im deutschsprachigen Raum sehr dafür interes‐ siert, was in den Köpfen der Lehrenden vorgeht, bestätigen auch weitere Projekte, die einen starken Fokus entweder auf Überzeugungen oder auf Reflexion und Reflexivität 50 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="52"?> legen. Wie weiter unten in Kapitel 2.3 noch stärker herausgearbeitet werden soll, kann das Reflektieren eine zentrale Aufgabe einer professionell agierenden oder sich im Professionalisierungsprozess befindlichen Fremdsprachenlehrkraft sein. Dies betrifft nämlich nicht nur die Planung von Unterricht, die Einbindung unterschiedlicher Wissensfacetten, sondern auch das schnelle, begründete Adaptieren von Ansätzen im Unterricht sowie das nachträgliche Reflektieren mit dem Ziel, den zukünftigen Unterricht besser zu gestalten. Dies spiegelt also eine kompetenztheoretische Sicht auf Unterricht und Professionalisierung wider. Forschung im Fokus: Neuere Beispiele aus der Fremdsprachenforschung zu Reflexionskompetenz • Die Dissertation Reflexionskompetenz von Englischlehramtsstudierenden im Lehr-Lern-Labor-Seminar von Christiane Klempin (2019) untersucht die Ent‐ wicklung der Reflexionskompetenz bei angehenden Englischlehrkräften. Die Studie basiert auf einer Interventionsmaßnahme in einem Lehr-Lern-La‐ bor-Seminar (LLLSE), das praxisnahe Unterrichtserfahrungen bietet und diese systematisch reflektieren lässt. Klempin zeigt, dass die Teilnehmer: in‐ nen des LLLSE durch die strukturierte Reflexion ihrer Unterrichtspraxis signifikante Verbesserungen sowohl in der Tiefe als auch in der Breite ihrer didaktischen Reflexionskompetenz erzielen. Die Ergebnisse betonen die Wirksamkeit von theoriegestützter Reflexion für die Professionalisierung von Lehramtsstudierenden. • In Fremdsprachendidaktische Reflexion als Interimsdidaktik. Eine Qualitative Inhaltsanalyse zum Fachpraktikum Französisch untersucht Birgit Schädlich (2019) die Reflexionsprozesse angehender Französischlehrkräfte während ihrer Praxisphasen im Lehramtsstudium. Schädlich verwendet die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse, um Interviews mit etwa zwanzig Studieren‐ den der Romanistik auszuwerten, die ihr Praktikum absolvieren. Im Kern der Studie geht es darum, wie angehende Lehrkräfte ihren Unterricht reflektie‐ ren und welche Arten von Reflexion sie dabei nutzen. Diese Reflexionspro‐ zesse werden unter dem Begriff „Interimsdidaktik“ systematisiert, der ein dynamisches und situatives Wissenssystem beschreibt. Dieses System gibt Aufschluss über die handlungsleitenden Repräsentationen des fachdidakti‐ schen Wissens, das für Professionalisierungsprozesse genutzt werden kann. Die Ergebnisse zeigen, dass Reflexionskompetenz ein zentraler Bestandteil der Professionalisierung von Lehrkräften ist. Schädlich betont, dass die gezielte Förderung dieser Reflexionsfähigkeiten in der Lehrer: innenausbil‐ dung wichtig ist, um die theoretischen und praktischen Kompetenzen der Studierenden zu verbessern. • Georgia Gödeckes (2022) Dissertation Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung zur Förderung fachspezifischer Reflexi‐ 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 51 <?page no="53"?> onskompetenz untersucht die Entwicklung und Implementierung eines elektronischen Portfolios zur Unterstützung der Reflexionsprozesse bei angehenden Fremdsprachenlehrkräften. Das e-Portfolio soll die fachspezifi‐ sche Reflexionskompetenz fördern, indem es eine strukturierte Plattform bietet, auf der angehende Fremdsprachenlehrpersonen ihre Erfahrungen dokumentieren, analysieren und Feedback erhalten können. Die Arbeit betont die Bedeutung klarer Anleitungen und Unterstützungsstrukturen für die effektive Nutzung des e-Portfolios und schließt mit Empfehlungen für dessen Implementierung in der Lehrkräfteausbildung sowie Vorschlägen für zukünftige Forschungen. • Die Dissertation von Franziska Baumann (2023), Reflexionskompetenz im Kontext von Aufgabenorientierung und Heterogenität, behandelt die Not‐ wendigkeit der Reflexion und Gestaltung eines heterogenitätssensitiven, aufgabenorientierten Fremdsprachenunterrichts. Die Arbeit ist sowohl kon‐ zeptionell als auch empirisch ausgerichtet und untersucht, wie reflektierte Englischlehrpersonen ausgebildet werden können. Baumann entwickelt und evaluiert eine hochschuldidaktische Intervention zur Förderung der multiperspektivischen Reflexionskompetenz bei angehenden Englischlehr‐ personen. Diese Intervention wird im Rahmen eines Design-Based-Re‐ search-Ansatzes konzipiert, der das Prinzip von Aufgabenorientierung im Fremdsprachenunterricht betont. Im Anschluss wird ein Modell zur Erfas‐ sung dieser multiperspektivischen Reflexionskompetenz im Kontext der Aufgabenorientierung und Heterogenitätssensitivität entwickelt. Durch die Kombination konzeptioneller und forschungsbasierter Ansätze zielt die Dissertation darauf ab, Wege aufzuzeigen, wie angehende Lehrkräfte ihre Reflexionskompetenzen verbessern können, um den Herausforderungen eines heterogenen Klassenzimmers gerecht zu werden und einen effektiven, aufgabenorientierten Fremdsprachenunterricht zu gestalten Eng verbunden mit der Frage von Reflexion sind die Kompetenzen und das Wissen von (angehenden) Fremdsprachenlehrpersonen, welche im vergangenen Jahrzehnt ebenfalls stärker Berücksichtigung gefunden haben. Hier interessiert vor allem die Frage, wie sich Kompetenzen und Wissen von Fremdsprachenlehrpersonen über verschiedene Phasen entwickeln, insbesondere mit dem Ziel, die Gestaltung ebenjener Phasen zu optimieren und den Professionalisierungsprozess nachhaltiger zu gestalten. Studien wie PKE, TEDS-LT und FALKO-E haben versucht, die Wissensbestände der Lehrkräfte zu erfassen und zu quantifizieren. 52 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="54"?> Forschung im Fokus: Kompetenzen und Wissen von (angehenden) Fremdspra‐ chenlehrpersonen) In der TEDS-LT-Studie (vgl. Blömeke et al. 2013, Jansing et al. 2013) wurde festge‐ stellt, dass das fach-, d.h. englischdidaktische Wissen von Lehramtsstudierenden im Studienverlauf erheblich zunahm, während das Fachwissen weitgehend kon‐ stant blieb. Ähnliche Ergebnisse wurden im Projekt Professionelle Kompetenz an‐ gehender Englischlehrkräfte (PKE, das sich auf die Messung von Wissen und nicht von Kompetenz konzentrierte, vgl. Roters 2018) beobachtet, das einen Vergleich zwischen Studierenden und Referendar/ innen zog (vgl. König et al. 2016, 2017). Die englischdidaktische Untersuchung im Rahmen von FALKO (Fachspezifische Lehrerkompetenzen, Krauss et al. 2017) und speziell FALKO-E zu (angehenden) Englischlehrpersonen (Kirchhoff 2017) zeigte, dass fachdidaktisches Wissen weitgehend unabhängig vom Fachwissen ist. Dies könnte auf die Eigenstän‐ digkeit der Disziplin und die Vielfalt der zugehörigen Bezugswissenschaften zurückzuführen sein. Im Gegensatz zu den Ergebnissen der TEDS-LT-Studie fand sich in FALKO-E kein Zusammenhang zwischen wachsender Erfahrung und einem Anstieg des fachdidaktischen Wissens; vielmehr waren die Unterschiede zwischen den Schulformen der befragten Englischlehrkräfte von Bedeutung (ähnlich wie bei TEDS-LT und PKE). In einem Schwerpunktheft der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung (Heft 1/ 2022) stand das fachdidaktische Wissen in der Fremdsprachenlehrkräftebil‐ dung im Zentrum. Die Wissensforschung im kompetenztheoretischen Paradigma beschäftigt sich ins‐ besondere mit den klassischen Wissenstypen nach Shulman (1986, 1987): fachdi‐ daktisches Wissen, Fachwissen und pädagogisches Wissen. Aber auch andere Wis‐ senskonzeptualisierungen wie z.B. das Erfahrungswissen (vgl. Appel 2000) oder die Unterscheidung nach expliziten und impliziten Wissensbeständen (vgl. z.B. Bon‐ net/ Hericks 2020b, Gerlach 2022b) spielen in der deutschen Fremdsprachenforschung eine Rolle. Letztere sind - wie auch das Erfahrungswissen - inkorporiert und innerhalb der Lehrer: innenschaft durch berufsbiographische Erfahrungen bzw. Sozialisation in bestimmte Strukturen geteilt. Die Identität und der Habitus von Fremdsprachenlehr‐ kräften und deren berufliche Sozialisation sind hier zentrale Themen, entlang derer untersucht wird, wie sich die berufliche Identität entwickelt und welche Faktoren dabei relevant werden. Der Begriff des Habitus wird genutzt, um die tief verwurzelten Einstellungen und Praktiken von Lehrkräften zu beschreiben und zu analysieren, da diese als von implizitem Wissen gesteuert (verankert in Identität und Habitus) in der Regel nicht leicht zugänglich und reflektierbar sind. Diese Konstrukte werden uns an späterer Stelle noch stärker beschäftigen (siehe Kapitel 2.3.1 und Kapitel 2.4). 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 53 <?page no="55"?> Ein weiterer empirischer Schwerpunkt in der Forschung zu Fremdsprachenlehrkräf‐ ten stellt das Prinzip der Aktionsforschung dar. Aktionsforschung ist ein Ansatz, der es Lehrpersonen ermöglicht, ihre eigene Unterrichtspraxis systematisch zu untersuchen. Er hilft Lehrpersonen, Unterrichtsstrategien zu entwickeln und die Lernprozesse ihrer Lernenden besser zu verstehen. Dieser Ansatz basiert auf einer zyklischen Prozessstruktur, die Planung, Handlung, Beobachtung und Reflexion umfasst. An späterer Stelle gehen wir nochmal dezidierter auf diese Prinzipien ein (siehe Kapitel 4.5.3). Forschung im Fokus: Aktionsforschung und Fremdsprachenlehrpersonen In Becoming a (Better) Language Teacher: Classroom Action Research and Teacher Learning untersucht Nora Benitt (2015), wie kooperative Aktionsforschung die berufliche Entwicklung von Fremdsprachenlehrkräften fördert. Benitt argumen‐ tiert, dass dieser Ansatz zu affektiven, kognitiven und zwischenmenschlichen Lernprozessen führt. Sie stellt das Studienprogramm „E-LINGO - Teaching Eng‐ lish to Young Learners“ vor, das Aktionsforschung systematisch in die Lehrer: in‐ nenbildung integriert. Die Studie zeigt, dass Aktionsforschung ein effektives Werkzeug für die professionelle Entwicklung von Lehrkräften unabhängig von ihrem Erfahrungsniveau ist, und betont die Bedeutung von Motivation und Enga‐ gement der Lehrkräfte im Zusammenhang mit der erfolgreichen Implementation von Aktionsforschung in die eigene Unterrichtspraxis Die Zusammenfassung zur fremdsprachendidaktischen Professionsforschung ist hier lediglich summarisch und kaum umfassend. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass sich die deutsche Fremdsprachenprofessionsforschung durch eine breite Palette an Forschungsthemen und methodischen Ansätzen auszeichnet. Zentrale Themen sind das Wissen und die Kompetenzen der Lehrkräfte, ihre berufliche Identität und Sozialisation sowie die kontinuierliche Professionalisierung durch Ausbildung und Fortbildung. Als Herausforderungen werden aktuell die Praxisrelevanz und Implemen‐ tation der Forschungserkenntnisse sowie die weitere Evidenzbasierung diskutiert, um den komplexen Anforderungen des Fremdsprachenunterrichts gerecht zu werden. Literaturempfehlungen: Forschungsberichte zur fremdsprachendidaktischen Professionsforschung An mehreren Stellen finden sich Forschungsüberblicke aus den vergangenen Jah‐ ren zur fremdsprachendidaktischen Professionsforschung. Einen ersten Überblick lieferten in der Fachzeitschrift Fremdsprachen Lehren und Lernen Roters und Traut‐ mann (2014) zur empirischen Forschung, im selben Heft findet sich auch der Beitrag von Caspari (2014) zu den wesentlichen Erkenntnissen der Arbeiten, die sich an das 54 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="56"?> Forschungsprogramm Subjektive Theorien angelehnt haben. In einem Sammelband zur fremdsprachendidaktischen Professionsforschung geben Legutke und Schart (2016) einen Überblick über die komplexen Anforderungen der Profession und ihrer Erforschung. Als zentrale Herausforderung, Forschungsdesiderat sowie Chance zur Beforschung des professionellen Handelns von Fremdsprachenlehrpersonen sehen Gerlach et al. (2020) die Facette der Unterrichtsplanung. In der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung (Heft 1/ 2022) gehen verschiedene Beiträge auf die Rolle fachdidaktischen Wissens ein, wie es beforscht wird und werden kann und welche Relevanz es innerhalb der fremdsprachlichen Lehrer: innenbildung einnimmt. Zuletzt sind in einem Sammelband zur fremdsprachendidaktischen Pro‐ fessionsforschung (Gerlach 2024b) zahlreiche aktuelle Projekte zusammengetragen worden, die deutlich machen, wie dynamisch aktuell die Bemühungen in diesem Feld sind, die Fremdsprachenlehrer: innenbildung empirisch zu fundieren. 2.2.2 Kontextsensibler Fremdsprachenunterricht In einem Buch aus dem Jahre 2019 haben David Gerlach und Eynar Leupold herausgear‐ beitet, dass der Fremdsprachenunterricht vor neuen (insbesondere gesellschaftlichen) Herausforderungen steht, welche durch Lehrwerke und die Förderung fremdsprach‐ licher Kompetenzen allein nicht adressiert werden können. Sie folgen damit inter‐ nationaler Kritik am traditionellen Fremdsprachenunterricht, der - selbst wenn er Prinzipien des kommunikativen Ansatzes folgt (vgl. Bax 2003) -, nicht selten durch eine „textbook-defined practice“ (Akbari 2008b: 647) geprägt ist, welche wiederum Gefahr läuft, nicht mehr lerner: innen- oder gar handlungsorientiert zu sein. Ein Argumentationsstrang dieser Sorge sind auch Überlegungen zu den Bedingungen des Fremdsprachenunterrichts in einem sogenannten post-methodischen Zeitalter (vgl. Kumaravadivelu 2006), bei dem nicht länger die Frage nach der besten Unterrichtsme‐ thode von zentralem Interesse ist, sondern eher die Frage, wie Unterricht entlang der Interessen der Lernenden in einem pädagogischen Sinne gestaltet werden muss. In Kapitel 1.3 sind wir bereits genauer auf diese Verschiebungen im Diskurs um das Berufsbild der Fremdsprachenlehrperson eingegangen. Die Idee eines kontextsensiblen Fremdsprachenunterrichts (vgl. Gerlach/ Leupold 2019) im Anschluss an den sogenannten Context Approach von Bax (2003) versucht unterschiedliche Kontextfaktoren zu identifizieren, die - mal mehr, mal weniger - die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts beeinflussen. Als maßgeblich für diese Gestaltung wird dabei die Lehrperson gesehen, die Unterricht so plant, dass dieser gehaltvoll und relevant für Lernende ist, ihn aber auch für Lernende und ihre Aushandlungsprozesse, Themen und Ideen öffnet. Kontextsensibler Fremdsprachenun‐ terricht ist daher weniger ein Buch zur konkreten Unterrichtsgestaltung, sondern bietet vielmehr Reflexionsmomente für (angehende) Fremdsprachenlehrpersonen, die helfen, Fremdsprachenunterricht anders zu denken. Die Kritische Fremdsprachendidaktik (vgl. 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 55 <?page no="57"?> Gerlach 2020a und weiter unten in Kapitel 3) ist letztlich die logische Konsequenz aus den früheren Überlegungen zum kontextsensiblen Fremdsprachenunterricht, wenn auch mit einer stärker gesellschaftstheoretischen und sozialen Perspektive. Gerlach und Leupold (2019) betonen bereits, wie der Fremdsprachenunterricht als sozial-kul‐ turelle Praxis zu verstehen ist und bedacht werden muss, wie insbesondere die Wechselbeziehungen und Interaktionen zwischen den beteiligten Personen (Lehrende und Lernende) strukturiert sind. Diese Interaktion kann sich in zwei Dimensionen abbilden: 1. Fachbezogene Dimension: Diese Dimension hinterfragt die Konzepte und Themen des Fremdsprachenunterrichts im Hinblick darauf, welche Relevanz sie für die Lernenden haben. Dies ist nicht gänzlich als Kritik an veralteten Lehrwerkthemen zu verstehen, die dazu führen, dass z.B. aktuelle, popkulturelle Themen gar nicht aufgegriffen werden. Es geht insbesondere um die inhaltliche Ausgestaltung des Unterrichts mit einer Relevanzsetzung für die Lernenden (je nach Alter und Kontext), bei dem parallel Sprachenlernen ermöglicht wird. Gleichzeitig erfüllt der Fremdsprachenunterricht einen Bildungsauftrag, indem die Lehrperson z.B. relevante Themen und Texte in den Fremdsprachenunterricht einbringt, welche das Potenzial haben, transformatorische Bildungsprozesse anzustoßen (siehe Ka‐ pitel 1.3). Diese Themen und Texte können natürlich auch von Lerner: innenseite kommen, werden dann aber - in früheren Lernstufen häufiger, in späteren Lern‐ stufen weniger - von der Lehrperson entsprechend didaktisiert und unterstützend aufbereitet. 2. Lerner: innenbezogene Dimension: Die soziale Praxis des Fremdsprachenunter‐ richts ergibt sich natürlicherweise aus den Interaktionsprozessen von Lernenden (auch untereinander) und Lehrenden. Hierbei spielen nicht nur die reinen Lehr-/ Lernprozesse eine bedeutende Rolle, sondern z.B. ebenso die Emotionen aller Beteiligten. Überraschenderweise kümmert sich die Fremdsprachenforschung erst seit wenigen Jahren verstärkt um Emotionen und Emotionalität beim Fremdspra‐ chenlernen (vgl. Beiträge in Burwitz-Melzer et al. 2020). Vorher interessierte insbesondere die Frage, wie man Motivation für sprachliche Lehr-/ Lernprozesse herstellen kann. Eng verbunden mit Emotionen und sozialer Praxis ist die Frage von Vertrauen und Eingebundenheit. Zwar ist Unterricht generell immer im antinomischen Verhältnis von Nähe und Distanz zu sehen (Antinomien nach Helsper, siehe Kapitel 2.1.1), allerdings ist Vertrauen auch ein Grundbedürfnis in jeder sozialen Interaktion. Wenn Vertrauen besteht, steigt auch die Möglichkeit, Lernprozesse erfolgreich zu gestalten. Dieses Vertrauensverhältnis lässt sich auf einer Mikroebene beschreiben und reflektieren (z.B. wie mit Fehlern im Unter‐ richt umgegangen wird) oder auf einer Makroebene (z.B. ob man Aussagen von Kolleg: innen Glauben schenkt, die eine neu zu übernehmende Klasse negativ beschreiben). 56 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="58"?> Reflexionaufgabe Es gibt verschiedene Definitionen von Basisemotionen, welche mal mehr, mal we‐ niger „Zustände“ in einem gewissen Spektrum abzudecken versuchen (Übersicht auch in Gerlach/ Leupold 2019: 37-38). Denken Sie an Ihren eigenen Fremdspra‐ chenunterricht zurück oder an eine Seminarsitzung. Können Sie sich an Situationen erinnern, in denen Sie eine oder mehrere der folgenden Emotionen erlebt haben? Freude - Stolz - Ärger - Angst - Langeweile - Scham - Traurigkeit Die beiden Dimensionen einer Fachbezogenheit und einer Lerner: innenbezogenheit sind eng miteinander verwoben, sie bedingen sich gegenseitig. Damit diese Verwo‐ benheit in fruchtbarer sozialer Praxis aufgeht, bedarf es zusätzlich Transparenz als Organisationsprinzip einer demokratischen Schule (vgl. Gerlach/ Leupold 2019, auch Moegling/ Schude 2016). Transparenz kann den Lehr-Lernprozess entlasten und damit Emotionen wie Angst oder Unsicherheit nehmen, sogar motivierend wirken. Transpa‐ renz erlaubt aber auch den Lernenden, Ziele von Aufgaben oder Projekten zu verstehen und damit stärker (und vor allem gemeinsam) Produkte herzustellen, an denen alle partizipieren und damit dem Endergebnis eine größere Relevanz zuschreiben können. Reflexionsaufgabe Vertrauen entsteht auch durch Ehrlichkeit. In Kontextsensibler Fremdsprachenun‐ terricht wurde in einem anderen Kontext ein Zitat aus einem Blogpost von Scott McLeod (2011) vorgestellt: We’re supposed to be about learning in schools, right? How many schools have a mission or vision or purpose statement that says “blah blah blah life long learning blah blah blah? ” 97 %? 99 %? 100 %? And yet we do a terrible job of modeling this as educators (and parents). How many of us purposefully and explicitly model the learning process for our children? How many of us stand up in front of kids and say, “This is what I’m learning right now. I’m not any good at the moment but this is the process I’m following and this is what my plan is for achieving success. And I’ll give you an update in a few weeks, and then another few weeks, and so on, about how I’m doing? ” How many of us purposefully and explicitly show our students what it means to struggle with learning, overcome obstacles, and emerge on the other side more skilled and more knowledgeable than we were before? (ebd.) Fällt Ihnen ein Beispiel ein, etwas, das Sie gerade (noch) lernen, das Sie im Prozess Ihren Schüler: innen transparent machen würden? 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 57 <?page no="59"?> Zu den Kontextfaktoren für den Fremdsprachenunterricht gehören neben den Lehrpersonen, Lernenden und den Gegenständen auch Eltern und Kolleg: innen. Eltern haben durch die Struktur des Elternhauses einen unbewussten (z.B. im Hinblick auf sozioökonomische Faktoren und damit auch Bildungsbzw. Lesekompetenzniveau) oder einen bewussten Einfluss (z.B. durch Unterstützung, Engagement) auf ihre Kinder. Kolleg: innen spielen innerhalb der Institution eine Rolle: Mal sind es die Fremdsprachenlehrpersonen, die eine Klasse vor Ihnen unterrichtet haben und damit ein gewisses Maß an Kompetenzen, Emotionen und Vertrauen aufgebaut haben (oder auch nicht), mal sind es Kooperationen (z.B. gemeinsame Klassen- oder Stufenleitung) oder gemeinsame Projekte und Unterrichtsplanung, inhaltliche Absprachen hinsicht‐ lich schulinterner Fachcurricula, welche dann eher auf einer administrativen Ebene gelagert sind. Darüber hinaus gilt es noch „unbelebte“ Kontextfaktoren zu berücksichtigen wie z.B. die zur Verfügung stehenden Lernräume, Lehrwerke und Lernmaterialien, curriculare Vorgaben, soziokulturelle Aspekte des Umfelds der Schule bzw. ihres Einzugsgebiets, die Schulform und damit verbundene Schulprogramme. Auf diese hat man als Lehr‐ person mal mehr und mal weniger Einfluss, mal kann man größere, mal kleinere Spielräume nutzen, um diese Kontextfaktoren ggf. gemeinsam mit den Lernenden zu adaptieren. Insgesamt geht es der Konzeptualisierung eines „kontextsensiblen Fremdsprachenunterrichts“ generell um das Bewusstsein für diese unterschiedlichen Kontextfaktoren, dass man als Lehrperson also im Blick hat, was dominant oder viel‐ leicht auch eher unterschwellig den Fremdsprachenunterricht und das eigene Handeln sowie das Handeln der Lernenden steuert. Gerlach und Leupold (2019) diskutieren, inwiefern Reflektieren und Adaptivität für einen solchen Unterricht relevant werden - Aspekte, die wir weiter unten in diesem Buch ebenfalls aufgreifen und vertiefen. Gut zu wissen: Die soziokulturelle Theorie des Sprachenlernens nach Lantolf und Thorne (2007) Weiter oben wurde schon die soziokulturelle Wende angesprochen. Bedeutende Vertreter dieser Wende sind James Lantolf und Steven Thorne. Ihre soziokultu‐ relle Theorie basiert auf den Arbeiten des russischen Psychologen Lev Wygotsky und betont, dass Sprache und Lernen tief in sozialen und kulturellen Kontexten verwurzelt sind. Nach Lantolf und Thorne spielt soziale Interaktion eine zentrale Rolle im Prozess des Sprachenlernens. Ein wesentlicher Aspekt dieser Theorie ist das Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Zone of Proximal Development, ZPD) nach Wygostsky (1978). Die ZPD beschreibt den Bereich zwischen dem, was Lernende bereits alleine können, und dem, was sie mit Hilfe anderer, wie einer Lehrperson oder einem anderen Lernenden, erreichen können. In dieser Zone findet das Lernen durch soziale Interaktion und Unterstützung statt. 58 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="60"?> Lantolf und Thorne betonen die Bedeutung von „Scaffolding“, also der unterstütz‐ enden Struktur, die Lernende während des Lernprozesses erhalten. Diese Unter‐ stützung kann in Form von Erklärungen, Modellierung, Fragen und Feedback erfolgen und hilft den Lernenden, ihre Fähigkeiten schrittweise zu erweitern, bis sie in der Lage sind, Aufgaben selbstständig zu bewältigen. Ein weiteres zentrales Element der soziokulturellen Theorie sind kulturelle Werkzeuge im Lernprozess. Dazu gehören nicht nur physische Werkzeuge, sondern auch sprachliche und symbolische Mittel, die Menschen in ihrer Kultur verwenden, um zu kommunizieren und Probleme zu lösen. Im Kontext des Fremdsprachenlernens sind diese Werkzeuge besonders wichtig, da sie die Art und Weise prägen, wie Lernende neue Sprachen erwerben und verwenden. Darüber hinaus betonen Lantolf und Thorne die Bedeutung der inneren Spra‐ che (inner speech) im Lernprozess. Innere Sprache ist die Art und Weise, wie Menschen mit sich selbst sprechen, um zu denken und zu planen. Diese innere Kommunikation ist ein entscheidender Mechanismus, durch den Lernende neue sprachliche Strukturen verinnerlichen und anwenden. Die soziokulturelle Theorie von Lantolf und Thorne stellt das Lernen als einen dynamischen, sozialen Prozess dar, der durch Interaktion und kulturelle Einbet‐ tung geprägt ist. Sie hebt hervor, dass effektiver Fremdsprachenunterricht nicht nur die Vermittlung von grammatikalischen Regeln und Vokabular beinhalten, sondern auch reichhaltige, authentische Interaktionsmöglichkeiten schaffen sollte, die den Lernenden helfen, ihre sprachlichen Fähigkeiten in einem sozialen Kontext zu entwickeln und zu erweitern. Stimmen von Lehrpersonen: „Ich wusste nicht wo ich andocken soll bei den Kindern“ (Wilken 2021: 95) In der Dissertation von Anja Wilken beschreibt eine Lehrperson ihre Frustration mit dem Leistungsniveau ihrer Schüler: innen: Und ich war da einfach fix und fertig und ich fand=s nicht zuletzt auch sehr sehr unbe‐ friedigend dass die Kinder einfach gar nix können./ / I: Mhm./ / Also dass ich das Gefühl hatte Herrgott warum hab ich jetzt hier ähm mich so mit diesem Fach auseinander gesetzt um dann derart niveaulos das runterbrechen zu müssen Ich hatte teilweise einfach gar keine Einfälle mehr weil ich dachte das ist jetzt schon total einfach und das ist in dikt- Ich wusste nicht wo ich andocken soll bei den Kindern. Was beschreibt die Lehrperson in diesem Auszug als zentrale Herausforderung? Was hat das mit der Idee von kontextsensiblem Fremdsprachenunterricht zu tun? Was könnte das mit inklusivem Fremdsprachenunterricht zu tun haben, um den wir uns im folgenden Kapitel kümmern möchten? 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 59 <?page no="61"?> 2.2.3 Inklusiver Fremdsprachenunterricht Reflexionsaufgabe Bevor Sie weiterlesen: Wie sieht Ihr Bild von einem inklusiven Klassenzimmer aus, in dem Ihre Fremdsprache unterrichtet wird? Zeichnen Sie dieses Klassenzimmer auf ein Blatt Papier oder in eine Notizblockapp auf Ihrem Tablet. Spätestens mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 durch die deutsche Bundesregierung müssen sich die Bildungslandschaft und das Schulsystem der Frage widmen, wie Lernende mit besonderen Förderbedarfen im Re‐ gelschulsystem adressiert werden und Barrieren ebenda abgebaut werden können. Dies ist begrifflich als „Inklusion“ bekannt geworden und hat auch eine besondere Relevanz für den Fremdsprachenunterricht, da Fremdsprachen zum einen eine Basisqualifikation darstellen und zum anderen (mindestens) die erste Fremdsprache in der Regel zu den Hauptfächern zählt, also auch von allen Schüler: innen belegt wird. Begriffsbestimmung Rund um das Konzept inklusiven Unterrichts wird häufig zwischen zwei Formen bzw. Definitionen von Inklusion unterschieden: • Ein enger Inklusionsbegriff (Inklusion im engeren Sinne) bezeichnet die Integration von Lernenden mit (in der Regel festgestellten, d.h. diagnosti‐ zierten) sonderpädagogischen Förderbedarfen an Regelschulen. • Ein weiter Inklusionsbegriff (Inklusion im weiteren Sinne) bezieht sowohl Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein, berücksichtigt darü‐ ber hinaus jedoch auch alle anderen Formen von (Neuro-)Diversität, die nicht zwingend einen sonderpädagogischen Förderbedarf darstellen. Hierzu kann folglich auch gehören, wenn Lernende aufgrund anderer Erstspra‐ chen Lernschwierigkeiten haben (Mehrsprachigkeitsförderung), Lese-Recht‐ schreib-Schwierigkeiten, Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADS/ ADHS), Autismusspektrumsstörung (ASS), Hochbegabung oder wei‐ tere besondere Charakteristika aufweisen. Inwiefern sind Fragen eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts relevant vor dem Hintergrund, wie sich (angehende) Fremdsprachenlehrpersonen professionalisieren? Zum einen stellen die Anforderungen eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts ei‐ nen weiteren zu berücksichtigenden Kontextfaktor auf Seiten der Lernenden bzw. auch institutionell dar. Zum anderen ist die Frage, ob man im Unterricht Diversität begegnen und diese produktiv nutzen möchte, eine grundsätzliche Frage einer kritischen Fremd‐ sprachendidaktik, die wir später noch weiter ausdifferenzieren werden. Es stellt sich in 60 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="62"?> diesem Kontext insbesondere die Frage, ob wir als Lehrpersonen einen Fremdsprachen‐ unterricht leistungsorientiert entlang bestimmter Normen konzeptualisieren möchten (z.B. durchgängige Einsprachigkeit, Orientierung an einer native speaker-Norm) oder ob wir differenzierte Lernangebote schaffen (bewusster Rückgriff auf Umgebungs-, lebensweltliche oder Erstsprache(n), arbeitsteilige Aufgabengestaltung). Insgesamt ist inklusiver Fremdsprachenunterricht (wie auch Inklusion insgesamt) eine Frage von Partizipation, d.h. inwiefern das Lernangebot, das Lehrpersonen herstellen, Optionen schafft, miteinander zu lernen und zu arbeiten - und zwar in einem sinnstiftenden Zu‐ sammenhang (Gerlach/ Schmidt 2021). Diese Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, hat auf individueller sowie auf gesellschaftlicher Ebene Bedeutung: Wenn Lernende merken, dass sie ernst genommen werden und sich auch als kompetent erleben dürfen, steigert dies das Selbstbild und die Selbstwirksamkeit. Gleichzeitig werden sie ermächtigt, an der Gesellschaft teilzuhaben. Der Unterricht erfüllt damit auch das Prinzip von Bildung als Menschenrecht (Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). Forschung im Fokus: Inklusiver Fremdsprachenunterricht Die Fremdsprachenforschung im deutschsprachigen Raum hat sich in den vergangenen Jahren sehr dezidiert der Frage gewidmet, wie unterschiedliche Lernbedarfe (insbesondere die von Schüler: innen mit sonderpädagogischem För‐ derbedarf) adressiert werden können (vgl. Übersicht in Gerlach/ Schmidt 2021). In der Regel wird das Prinzip von Aufgabenorientierung (Task-based Language Learning) genutzt, um differenzierende Lernangebote herzustellen. Damit wird sprachliches Lehren und Lernen in Einklang gebracht mit der sonderpädagogi‐ schen Idee des „Lernens am Gemeinsamen Gegenstand“ (vgl. Feuser 2011). Die Gegenstände des Fremdsprachenunterrichts wie z.B. (inter-/ trans-)kulturelles Lernen oder auch Literatur eignen sich wahrscheinlich sehr für einen inklusiven Unterricht, da er zum Perspektivwechsel bzw. zur Perspektivübernahme einlädt, wenn auch die verwendeten Lehrwerke in dieser Hinsicht noch Verbesserungs‐ bedarf offenbaren (vgl. Alter et al. 2021). Zuletzt werden verstärkt Zugänge über das Prinzip von Universal Design for Learning oder auch Neurodiversität (vgl. Buendgens-Kosten/ Blume 2022) in den fremdsprachendidaktischen Diskurs eingebracht. Wenn man die geringe Anzahl an Publikationen betrachtet, die Lehrpersonen im inklusiven Fremdsprachenunterricht untersuchen, zeigt sich in einigen Fällen eine Überforderung auf Seiten der Lehrenden (vgl. Gerlach 2015a, Schlaak 2016, Dose 2019). Die Gründe hierfür sind zum einen struktureller Natur, d.h. in einem Mangel an Unterstützungsstrukturen bzw. sonderpädagogisch ausgebildeten Kolleg: innen zu suchen, welche als Expert: innen die Bedürfnisse von Lernenden besser diagnostizieren und entsprechende Unterstützungsangebote bereitstellen können. Zum anderen spielen aber auch die Überzeugungen der (angehenden) 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 61 <?page no="63"?> Lehrpersonen eine Rolle und das Wissen und die Kompetenzen, die sie für diesen Unterricht mitbringen. Sind sie z.B. überzeugt davon, dass sie die Lernenden in ihrer Diversität adressieren können? Haben sie die angemessenen Methoden, Prinzipien und Ansätze? Wie erfahren sie, ob diese Ansätze angemessen sind (und wirken)? Parallel dazu sind die Bildungsstandards als maßgeblich steuerndes Instrument für Lehrpläne und Lehrwerke nur wenig diskriminierungskritisch wie Vernal Schmidt et al. (2024) argumentieren, wenn sie schreiben, dass „im Subtext der [Bildungsstandards für die modernen Fremdsprachen] die Imagination eines einsprachig deutsch aufwachsenden, nicht behinderten, heteronormativen und weiß sozialisierten Lernenden liegt. Eine Fiktion, die der heutigen Schülerschaft nicht gerecht werden dürfte“. (ebd.: 118) Inklusiver Fremdsprachenunterricht ist, einem breiten Verständnis von Inklusion folgend, ein Unterricht, der Sprachenlernen mit einem bildungsorientierten Anspruch verknüpft, der zur Partizipation einlädt und Diversität offen begegnet. Hiermit ver‐ bunden sind zum einen bestimmte Ansprüche an die Lehrperson, die diesen Unterricht gestaltet, welche sich vermutlich besser begegnen lassen, wenn das entsprechende methodische Wissen um Differenzierung vorhanden ist, zum anderen aber auch bestimmte Überzeugungen vorhanden sind. So scheint es nur logisch, dass man die eigenen Denkmuster über (Dis-)Ability, Diskriminierung und Behinderung hinterfra‐ gen, gleichzeitig aber auch kritisch gegenüber strukturellen Benachteiligungen von Lernenden sein muss im Bestreben, diese Barrieren abzubauen. Für die Gestaltung inklusiven Fremdsprachenunterrichts und für den Abbau eben‐ jener Barrieren sind genau die Konstrukte relevant, mit denen wir uns weiter unten näher beschäftigen möchten: das Reflektieren, Wissen und die Kompetenzen für das Fremdsprachenlehrer: innensein . Stimmen von Lehrpersonen: „Grammatik ist halt einfach nicht so bunt“ (Wilken 2021: 99) Im folgenden Interviewauszug aus der Dissertation von Anja Wilken (2021: 99) äußert sich die Lehrperson kritisch zu neueren Konzepten des Fremdsprachenun‐ terrichts: Also ich hab wirklich viele Schüler die haben keine Hemmungen zu sprechen, die haben auchdie können auch passiv gut verstehen, also für die ist Englisch keine Hemmschwelle, aber sie können wirklich keine Grammatik. Sie können keine if-clauses, sie können die Zeiten nicht. Sie können he-she-it-s nicht sie können gar nichts. Und (.) das=ist was was mich so=n bisschen auch ankotzt, weil da hat jemand am grünen Tisch beschlossen dass der Englischunterricht jetzt bunter sein muss als noch zu meiner Schulzeit und Grammatik ist halt einfach nicht so bunt, […] Ich kann mich da jetzt nicht 62 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="64"?> reinstellen manchmal mach ich das (.) mach=ne Grammatikstunde die ich dann auch auf Deutsch erkläre, damit die das wenigstens mal kapieren. Aber im Grunde sollte da keiner reinlaufen in dem Moment in so=ne Stunde. Welche Herausforderungen beschreibt diese Lehrperson? Auf welchen Ebenen sieht sie die Gründe für diese Herausforderungen? Was sind die Sorgen der Lehrperson? Was hat dies alles mit inklusivem Fremdsprachenunterricht zu tun? Und welcher Eindruck bleibt bei Ihnen? 2.2.4 Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht Reflexionsaufgabe Was verstehen Sie unter Handlungsorientierung bzw. wie haben Sie Handlungs‐ orientierung als Prinzip bislang kennengelernt? Handlungsorientierung ist schon lange ein wesentliches Prinzip eines Fremdsprachen‐ unterrichts, der sich am kommunikativen Ansatz und an Aufgaben (im Sinne von Task-based Language Learning) orientiert. In der Englischdidaktik stehen Bach und Timm (2013a) mit ihrem Einführungswerk Englischunterricht stellvertretend für die Idee von Handlungsorientierung und ihrer Umsetzung. Sie definieren: Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, im Rahmen authentischer, d. h. unmittelbar-realer oder als lebensecht akzeptierbarer Situa‐ tionen inhaltlich engagiert sowie ziel- und partnerorientiert zu kommunizieren, um auf diese Weise fremdsprachliche Handlungskompetenz(en) zu entwickeln. (Bach/ Timm 2013b: 12; Hervorhebung im Original) Ein zentrales Element dieses Ansatzes ist die Ausrichtung des Unterrichts an den kommunikativen Bedürfnissen (und Fähigkeiten) der Lernenden. Dies bedeutet, dass Unterrichtsinhalte und -methoden so gestaltet werden, dass sie Lernende dazu anre‐ gen, die Zielsprache aktiv zu nutzen. Typische Aktivitäten im handlungsorientierten Unterricht umfassen Rollenspiele, Projektarbeiten, Diskussionen, Interviews und die Bearbeitung von authentischen Aufgaben (vgl. Bach/ Timm 2013b, Abendroth-Tim‐ mer/ Gerlach 2021). Diese sind darauf ausgelegt, die Lernenden in sprachliche Interak‐ tionen zu verwickeln, die ihren Alltagssituationen ähneln. Darüber hinaus fördert Handlungsorientierung die Autonomie der Lernenden. Sie werden ermutigt, Verant‐ wortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen und selbstständig sprachliche Herausforderungen zu meistern. Dies geschieht durch gezielte Aufgabenstellungen, die kreatives Denken und Problemlösungskompetenzen erfordern. Die Lehrenden agieren hierbei unterstützend und moderierend, der Lernprozess wird begleitet. Die handlungsorientierte Didaktik legt zudem besonderen Wert auf die Reflexion des Lernprozesses. Lernende werden dazu angehalten, ihre sprachlichen Fortschritte 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 63 <?page no="65"?> regelmäßig zu überprüfen und zu reflektieren. Dies kann durch Feedback, Selbst- und Peer-Assessment sowie durch die Analyse von Kommunikationssituationen erfolgen. Die dahinterstehenden Ideen und theoretischen Grundlagen sind deshalb anschluss‐ fähig bzw. von vornherein angeschlossen an sozio-konstruktivistische Konzepte von (Fremdsprachen-)Lernen, in weiten Teilen in Anlehnung an die soziokulturelle Theorie (vgl. Lantolf/ Thorne 2007). Aufgabenorientierung (vgl. Ellis 2003, Willis/ Willis 2007) erfüllt bereits in ihrer Grundkonzeption viele der Prinzipien, die Handlungsorien‐ tierung ebenfalls adressiert. Sie wurde zuletzt erweitert, um neueren gesellschaftli‐ chen wie auch wissenschaftlichen und theoretischen Anforderungen zu entsprechen (vgl. Abendroth-Timmer/ Gerlach 2021). Zu diesen Anforderungen gehören neben einem Grundverständnis von Fremdsprachenunterricht als „kultureller Praxis“ (vgl. Gerlach/ Leupold 2019) und der damit einhergehenden Notwendigkeit, Unterricht kontextsensibel zu gestalten und Unterrichtsgegenstände entsprechend auszuwählen, auch weitere, insbesondere bildungstheoretische Grundannahmen. Diese werden in Abbildung 3 modellhaft in Beziehung gesetzt: Die Prozesshaftigkeit von Sprache und Kultur (auch in Interaktion) bildet den äußeren Rahmen, welcher dann kontextsensibel gestaltet wird. Diese Kontextsensibilität („Sprachenlernen als kulturelle Praxis“) kann an unterschiedlichen Lernorten stattfinden (Schule, außerschulisch, medial vermittelt) und ermöglicht ein soziokulturelles-interaktives Wechselspiel zwischen Lernenden, Lehrenden und Lerngruppe. Wenn man dann z.B. Identitätsbildung und Partizipation als bildungstheoretische Ziele eines derart gestalteten (inklusiven) Fremdsprachenun‐ terrichts anerkennt, können die Bildungskomponenten von Handlungsorientierung (in Abbildung 3 im Kasten links) hierfür als Wegbereiter dienen, um Fremdsprachen‐ unterricht zu denken. Abbildung 3: Modell von Handlungsorientierung (Abendroth-Timmer/ Gerlach 2021: 248). 64 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="66"?> Diese Bildungskomponenten sind im Einzelnen (folgend in Anlehnung an Abend‐ roth-Timmer/ Gerlach 2021: 285-286): • Situierte sprachlich-kulturelle Bildung fördert die Diskursfähigkeit von Lern‐ enden in realen Kontexten, angepasst an individuelle Lernvoraussetzungen und -prozesse. Authentische Aufgaben und reflektiertes Lernen stehen im Mittelpunkt, um Sprach- und Diskursfähigkeiten zu stärken. • Mehrsprachig-mehrkulturelle Bildung berücksichtigt die Vielfalt der Spra‐ chen und Kulturen der Lernenden und der Unterrichtsgegenstände. Sie schafft mehrsprachige Lernkontexte und fördert transkulturelle Lernprozesse sowie symbolische Kompetenz. Ziel ist ein positives sprachliches Selbstkonzept und gesellschaftliche Partizipation. • Ästhetisch-aisthetische Bildung betont körperliche Erfahrungen und perfor‐ mative Kompetenz im Spracherwerb und fördert Persönlichkeits- und Identi‐ tätsentwicklung sowie soziokulturelle Empathie durch künstlerisch-kreative Aus‐ drucksmöglichkeiten bei der Aufgabenbearbeitung im Unterricht. • Multiliteracy-Bildung fokussiert auf die Nutzung und Analyse von Medien in Bildungsprozessen. Sie vermittelt kritische Medienkompetenz, (kritische) Dis‐ kursbewusstheit und reflektierte Nutzung digitaler Medien und fördert kritisches Handeln, Partizipation und Reflexivität. • Kritische Bildung zielt auf einen reflektierten Umgang mit Sprachen, Kulturen und Kommunikation und ermutigt Lernende, sich aktiv mit gesellschaftlich rele‐ vanten Themen zu beschäftigen und emanzipiert zu handeln. In diesem Sinne fördert kritische Bildung soziales Engagement und selbstbestimmtes Handeln (siehe Kapitel 3). Facetten dieser unterschiedlichen Bildungsformen können damit einen Beitrag zur Handlungsorientierung leisten - je nach Gegenstand, Nuancierung und Kontext, in dem das (Fremdsprachen-)Lernen stattfindet. Das partizipative Element und die Lerner: innenorientierung geht nicht nur einher mit grundsätzlichen Prinzipien der Fremdsprachendidaktik, sondern insbesondere mit den oben bereits knapp zusammen‐ gefassten von Kontextsensibilität und der Notwendigkeit, Fremdsprachenunterricht inklusiv zu denken. Diese Inklusivität erfordert auch eine strenge Berücksichtigung der Zonen proximaler Entwicklung, d.h. letztlich ein Diagnostizieren durch die Lehrper‐ sonen, welchen Lernstand in sprachlicher und konzeptioneller Hinsicht die Lernenden zeigen, um ihnen Lernen in dieser Zone überhaupt zu ermöglichen. Abendroth-Tim‐ mer und Gerlach (2021) liefern mit Verweis auf viele weitere einschlägige Beiträge aus der Fremdsprachenforschung Beispiele für handlungsorientierte Spracharbeit im Unterricht. 2.2 Fremdsprachendidaktische Ansätze 65 <?page no="67"?> Literaturempfehlung: Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht empirisch (Delius et al. 2021) Der im open access-Format frei verfügbare Sammelband trägt zum wissenschaft‐ lichen Diskurs über handlungsorientierte Ansätze in fremdsprachlichen Lehr- und Lernsituationen bei, insbesondere was ihre empirische Fundierung angeht. Während die Einleitung einen Überblick über die theoretischen Grundlagen und bisherigen empirischen Ergebnisse bietet, präsentieren die einzelnen Beiträge Untersuchungen zu drei spezifischen Bereichen, nämlich: handlungsorientierte Ansätze im Literaturunterricht, handlungsorientiertes Lernen in globalen Simula‐ tionen und im Lehr-/ Lernlabor sowie das Theaterspielen in der Fremdsprache. 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz Als wir weiter oben die Bestimmungsansätze zur Professionalität bzw. Professiona‐ lisierung beschrieben haben, kamen schon häufiger die Begriffe Wissen, Können, Handeln, Kompetenz oder auch Reflexion vor. Diese scheinen also zentrale bzw. elementare Konstrukte für den Lehrer: innenberuf zu sein. Umso wichtiger ist es uns an dieser Stelle, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Begriffe deutlich zu machen. Dabei möchten wir besser herausarbeiten, was wir eigentlich meinen, wenn Lehrpersonen Kompetenzen entwickeln oder über ihr Handeln reflektieren sollen. Unsere Argumentation führt dabei zu der Überzeugung, dass sich ein reflektiertes Lehrer: innenhandeln für einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht (siehe Kapitel 3) nur dann einstellen kann, wenn die eigene Professionalität (Wissen, Können, Reflexion, Kompetenz) mit einem gewissen Abstand bewertet und auch adaptiert werden kann. Die Voraussetzung hierfür ist dann wiederum ein Bewusstsein über die Qualität der unterschiedlichen Konstrukte. 2.3.1 Wissen, Können und Handeln Reflexionsaufgabe Worin liegen für Sie die begrifflichen Unterschiede zwischen Wissen, Können und Handeln, wenn es um Ihren (zukünftigen) Beruf als Fremdsprachenlehrkraft geht? Um über die eigenen Fähig- und Fertigkeiten reflektieren zu können, ist es wichtig, den Unterschied zwischen Wissen, Können und Handeln zu kennen: • Wissen bezieht sich auf die Ansammlung von Informationen, Theorien, Fakten und Prinzipien, die durch Lernen und Erfahrung erworben werden. Es umfasst 66 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="68"?> sowohl explizites Wissen, das in Form von Daten, Texten und Dokumenten festgehalten werden kann (z.B. als Prüfungswissen dann auch genutzt werden kann), als auch implizites Wissen, das in unseren Köpfen steckt und schwerer zu formalisieren bzw. zu explizieren ist. • Können bezieht sich auf die Fähigkeit und Fertigkeit, bestimmte Aufgaben oder Handlungen auszuführen. Es umfasst die praktischen und motorischen Fähigkeiten sowie die intellektuellen Fertigkeiten, die durch Übung und Erfahrung erworben werden. In der Psychologie und Pädagogik wird Können oft als Ergebnis eines Lernprozesses betrachtet, der auf die Entwicklung von Fertigkeiten abzielt. • Handeln bezieht sich auf die Umsetzung von Wissen und Können in konkrete Aktivitäten und Entscheidungen. Es umfasst die bewusste und zielgerichtete Ausführung von Tätigkeiten, die auf bestimmte Ziele oder Absichten ausgerichtet sind, kann aber auch unbewusst und routiniert sein. Diese drei Konstrukte hängen also offensichtlich eng zusammen und haben wiede‐ rum eine Verbindung zu Lernprozessen sowie Lernen durch Erfahrung. Georg Hans Neuweg (2014) hat in einer Abbildung das Verhältnis dieser Komponenten und ihre Relevanz besonders für Lehrpersonen veranschaulicht (Abbildung 4). In Ermangelung einer konkreten Bezeichnung bestimmt er drei unterschiedliche Wissensformen, drei Stadien sozusagen, in denen Wissen relevant werden kann. Abbildung 4: Lehrerwissen nach Neuweg (2014: 585). Wissen 1 ist objektives Wissen, das gelernt werden kann (z.B. fremdsprachendidak‐ tische Ansätze wie Aufgabenorientierung oder interkulturelles Lernen). Aber auch durch Erfahrung kann eben gelernt werden, sodass hier bereits ein erstes Wechselspiel entstehen kann. Wissen 2 bezeichnet das Wissen, das in unseren Köpfen vorliegt als 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 67 <?page no="69"?> mentale Struktur. Es ist dann nicht mehr deckungsgleich mit dem Wissen 1, da wir bestimmte Aspekte des Ausbildungswissens intensiv gelernt haben (z.B. wegen der Anknüpfbarkeit an frühere Erfahrungen oder wegen einer hohen Motivation), andere Aspekte vergessen wir schnell wieder oder interpretieren sie um. Das in unserem Gehirn gespeicherte Wissen kann wiederum unterteilt werden in explizites Wissen, d.h. das Wissen, das wir nutzen können für Erklärungen (oder als Prüfungswissen in Prüfungssituationen), aber auch implizites Wissen, also Wissen, das routiniert ist, also derart automatisiert, dass wir uns dieses Wissens nicht notwendigerweise bewusst sind. Neuweg nutzt hier gerne das Beispiel des Fahrradfahrens: Wir haben implizites Wissen darüber, wie wir uns auf dem Rad im Gleichgewicht halten, wie wir den Lenker bewegen und bremsen. Aber wir können nicht erklären, wann und wie wir das Gleichgewicht halten. Ein ähnliches Beispiel: Die meisten Erwachsenen können sich Schnürsenkel binden. Das Wissen, auf das sie dabei zurückgreifen, ist implizit. Aber könnten Sie einer anderen Person ausschließlich mündlich erklären (also ohne es zu zeigen), wann Sie wie den einen Schnürsenkel durch welche Schlaufe ziehen? Hier kommt das explizite Wissen an seine Grenzen und das implizite Wissen leitet quasi-automatisch das Handeln. Im Handeln im Klassenzimmer können sich auch explizites und implizites Wissen zeigen: Wir treffen bewusste Entscheidungen über unsere Unterrichtsplanung, wir handeln aber möglicherweise implizit auf der Basis von internalisierten Praktiken. Wir handeln vielleicht spontan gar nicht so, wie wir es eigentlich möchten oder ursprünglich vorhatten. Im Wissen 3 (Abbildung 4) kann sich „Können“ bzw. „Könnerschaft“ - mit anderen Worten Professionalität oder professionelles Handeln - zeigen. Allerdings ist dieses Können immer von außen (re-)konstruiert, d.h. die handelnde Lehrperson in diesem Beispiel ist sich ihres Könnens nicht notwendigerweise bewusst, aber eine beobach‐ tende Person kann entlang von verschiedenen Beobachtungszeitpunkten das Können als „Wissen 3“ potenziell rekonstruieren. Für die Frage allerdings, ob dieses Handeln „gut“ oder „schlecht“ ist, bedarf es weiterer externer Parameter, wie z.B. bestimmter Normen, Kriterien oder Standards. Wir benötigen z.B. im Vorbereitungsdienst Feed‐ back dazu, ob unser Handeln in bestimmten Situationen den Lernenden zugewandt oder ihnen gegenüber distanziert ist, ob wir eine gute Balance zwischen corrective feedback einerseits und gelingender Kommunikation andererseits herstellen können. Diese Werturteile dahingehend, ob das Können angemessen ist, folgen damit in Teilen den Bestimmungsansätzen von Lehrer: innenprofessionalität (siehe Kapitel 2.1): Beobachten wir ein antinomisches Schwanken zwischen Nähe und Distanz oder auch zwischen Sprachverwendungsnorm und metasprachlichem Rückgriff auf die L1? Oder betrachten wir Kompetenzen einer Lehrperson, die in einer bestimmten Situation spezifisch angemessen in Anwendung kommen sollen? 68 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="70"?> Gut zu wissen: Implizites Wissen nach Michael Polanyi (1996, 2016) Michael Polanyi, ein ungarisch-britischer Wissenschaftsphilosoph, auf den sich Neuweg (2014) bezieht, hat das Konzept des impliziten Wissens (tacit knowledge) wesentlich geprägt und betont, dass ein großer Teil des menschlichen Wissens stillschweigend ist und nicht vollständig artikuliert oder formalisiert werden kann. Polanyi hebt hervor, dass Wissen immer auch eine persönliche Dimension hat. Der Prozess des Wissenserwerbs und die Anwendung von Wissen sind stark von individuellen Erfahrungen und Kontexten geprägt. Dieses Wissen wird durch persönliche Interaktion, Beobachtung und Nachahmung erworben, nicht durch formale Unterweisung. Polanyi argumentiert, dass implizites und explizites Wissen gleichwohl mitei‐ nander verbunden sind. Explizites Wissen, also formales, kodifiziertes Wissen, kann ohne das unterstützende Netz impliziten Wissens nicht vollständig verstan‐ den oder angewendet werden. Er führt das Konzept des „tacit coefficient“ ein, das implizite Elemente beschreibt, die notwendig sind, um explizites Wissen sinnvoll zu interpretieren und anzuwenden. Eine zentrale These von Polanyi lautet, dass Menschen oft in der Lage sind, Aufgaben auszuführen und Probleme zu lösen, ohne in der Lage zu sein, die zugrunde liegenden Prozesse vollständig zu erklären. Dieses Wissen ist in Handlungsroutinen und praktische Fertigkeiten eingebettet. Ein berühmtes Zitat von Polanyi lautet: „We can know more than we can tell.“ (Polanyi 1996: 4) Dies unterstreicht die Grenzen der sprachlichen Vermittlung von (insbesondere implizitem) Wissen. 2.3.2 Theorie und Praxis Wissen, Können und Handeln hängen also eng zusammen und gerade implizites Wissen hat eine besondere Rolle für das Handeln in professionellen Kontexten. Dies ist ein wichtiges Prinzip, wenn wir uns der Idee von Reflexion und Reflexivität nähern. Eine weitere Unterscheidung ist die von Theorie und Praxis. In Seminaren in Universität und Hochschule wird häufig die Kluft zwischen Theorie und Praxis beklagt: Das, was man an der Universität lerne, habe nicht viel mit der Praxis zu tun bzw. würde die angehenden Lehrpersonen nur unzureichend auf die Praxis vorbereiten. Tatsächlich ist das vollkommen richtig. Aufgabe einer akademischen Lehrer: innenbildung ist nicht die Vorbereitung auf die Praxis, sondern die Durchdringung zentraler Gegenstände eines Faches auf einem akademischen Niveau. Die Konfrontation mit der Praxis soll (eigentlich) erst im Anschluss geschehen. Dass es heute zahlreiche Praxisphasen oder Praxissemester im Rahmen der universitären Lehrer: innenbildung gibt, ist mehr das Ergebnis einer stärkeren (in großen Teilen bildungspolitisch gewollten) Verknüpfung der Phasen, welche Vorteile, aber auch Nachteile haben kann. Das Argument, dass Theorie und Praxis nicht vereinbar seien, ist dabei aber aus einer wissenssoziologischen 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 69 <?page no="71"?> Perspektive korrekt: Für Neuweg (2014) ist das „Theorie-Praxis-Problem“ (wenn es denn überhaupt ein „Problem“ ist) durch die Unterschiedlichkeit von Wissen 1 (dem Ausbildungswissen) und dem in der Praxis beobachtbaren Wissen 3 (also Handeln von Lehrpersonen im Unterricht) beschreibbar. Radtke führte bereits 1996 aus: Aus revidierter Sicht ist die Vermittlung von Theorie und Praxis nicht länger ein Transfer‐ problem, sondern ein Problem unterschiedlicher Wissensstrukturen, deren Transformation oder, grundsätzlich, deren Transformierbarkeit zur Debatte steht. (ebd.: 51; Hervorhebungen im Original) Das Argument, dass Theorie und Praxis nicht einfach ineinander transformiert werden können, beruht auf der Einsicht, dass diese beiden Wissensformen eine unterschiedli‐ che Natur und unterschiedliche Funktionen haben. Diese Unterscheidung hat wichtige Implikationen für die professionelle Entwicklung und die Lehrer: innenbildung an sich, da sie zeigt, dass das Wissen aus theoretischen Konzepten nicht immer direkt und ohne Anpassungen in die praktische Anwendung übertragen werden kann. Theoretisches Wissen ist oft abstrakt und wird verallgemeinert. Es umfasst univer‐ selle Prinzipien, Konzepte und Modelle, die unabhängig vom spezifischen Kontext formuliert werden. Dieses Wissen ist systematisch und kohärent strukturiert und zielt darauf ab, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Praktisches Wissen hingegen ist konkret und kontextgebunden. Es entsteht durch direkte Erfahrung und Interaktion, ist oft situationsspezifisch und implizit, was bedeutet, dass es schwer formalisiert und all‐ gemein formuliert werden kann. Theoretisches Wissen wird in der Regel durch formale Bildung und Forschung erworben. Es wird in Lehrbüchern, wissenschaftlichen Artikeln und Vorlesungen vermittelt. Praktisches Wissen (teilweise auch als „Handlungswissen“ bezeichnet) wird hingegen durch Erfahrung und Handeln erworben. Es wird durch Beobachtung, Nachahmung und direkte Beteiligung in realen Kontexten erlernt. Eine der größten Herausforderungen bei der Transformation von der Theorie in die Praxis liegt in den unterschiedlichen Kontexten und Bedingungen. Theoretische Konzepte werden oft in idealisierten und kontrollierten Umgebungen entwickelt, die nicht alle Variablen und Unwägbarkeiten der realen Welt berücksichtigen. In der Praxis sind Lehrkräfte jedoch mit einer Vielzahl von unvorhersehbaren und komplexen Situationen konfrontiert, die spezifische Anpassungen und Flexibilität erfordern. Zudem enthält praktisches Wissen viele implizite Elemente (implizites Wissen), die schwer in Worte zu fassen oder zu formalisieren sind. Diese intuitiven, internalisierten, oft unbewussten Praktiken und Fertigkeiten sind entscheidend für die Bewältigung bestimmter Aufgaben, können aber nicht vollständig durch theoretisches Wissen ersetzt werden (vgl. Gerlach 2022b). Lehr-/ Lerntheorien und didaktische Modelle bieten wertvolle Orientierungshilfen, aber ihre Anwendung erfordert immer auch eine Anpassung an den spezifischen Kontext. Die konkrete Umsetzung hängt von zahlreichen Faktoren ab, wie den individuellen Lernbedürfnissen der Schüler: innen, der Klassendynamik und den ver‐ fügbaren Ressourcen. Um die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken, 70 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="72"?> ist eine reflexive Praxis notwendig (siehe Kapitel 2.3.4). Lehrkräfte sollen angeleitet werden, theoretisches Wissen kritisch zu reflektieren und zu überlegen, wie es auf ihre spezifischen Unterrichtssituationen angewendet werden kann. Diese Reflexion hilft, theoretisches Wissen zu kontextualisieren und anzupassen. Im Rahmen institu‐ tionalisierter Professionalisierung (also z.B. Lehrer: innenbildung in der Universität oder im Vorbereitungsdienst) können sich Gelegenheiten bieten, in denen angehende Lehrkräfte praktische Erfahrungen sammeln und diese systematisch mit theoretischen Konzepten verknüpfen. Praktika, Hospitationen und simulationsbasierte Trainings sind hierbei von großer Bedeutung (siehe Kapitel 6.3). Theoretisches und praktisches Wissen entwickeln sich im Laufe der beruflichen Laufbahn weiter und müssen daher auch in gewissem Maße reflektiert, aktualisiert und adaptiert werden. Im weiteren Verlauf dieses Buches werden wir Möglichkeiten vorstellen, wie das insbesondere vor dem Hintergrund der Gestaltung eines an aktuellen gesellschaftlichen Themen orientierten Fremdsprachenunterrichts geschehen kann. 2.3.3 Überzeugungen und Mindset Überzeugungen (Beliefs) sind tief verwurzelte Annahmen und Einstellungen, die eine Person über verschiedene Aspekte der Welt haben kann, einschließlich ihrer berufli‐ chen Tätigkeit. Im Kontext von (angehenden) Lehrer: innen spielen Überzeugungen eine wesentliche Rolle, da sie das Denken, die Entscheidungen und das Verhalten im Klassenzimmer (oder während der Phasen der Lehrer: innenbildung) erheblich beeinflussen können. Und auch in der einschlägigen fremdsprachendidaktischen Ein‐ führungsliteratur wird immer wieder auf die sogenannten BAK - „beliefs, assumptions and knowledge“ (Woods 1996: 185) - verwiesen, die für die Unterrichtsgestaltung eine bedeutende Rolle spielen. Überzeugungen können einen direkten Einfluss auf das Unterrichtsverhalten von Lehrkräften haben (Baumert/ Kunter 2006). Sie können bestimmen, wie Lehrpersonen den Unterricht gestalten, welche Methoden sie bevorzugen und wie sie auf die Bedürfnisse der Schüler: innen eingehen. Zum Beispiel neigen Lehrpersonen mit einer ko-konstruktivistisch-lerntheoretischen Überzeugung dazu, häufiger Gruppenarbeiten und kooperatives Lernen einzusetzen. Diese Überzeugungen beeinflussen auch die Erwartungen an die Schüler: innenleistungen. Lehrer: innen, die hohe Erwartungen an die Fähigkeiten ihrer Schüler: innen haben, stellen anspruchsvollere Aufgaben und bieten mehr Unterstützung, was das Selbstbild und die Motivation der Schüler: innen positiv beeinflussen kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Umgang mit Vielfalt im Klassenzimmer. Über‐ zeugungen in Bezug auf kulturelle, soziale und lernbezogene Unterschiede prägen das Verhalten von Lehrkräften gegenüber der Diversität von Lernenden. Ein kritisches Be‐ wusstsein und positive Einstellungen gegenüber Diversität fördern eine inklusive und respektvolle Lernumgebung, in der alle Schüler: innen gleichermaßen wertgeschätzt werden. Negative und häufig implizite Einstellungen gegenüber Diversität und Schü‐ 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 71 <?page no="73"?> ler: innen, die von der Norm abweichen, führen dagegen zu einer exkludierenden und mitunter gewaltvollen Lernumgebung, in der bestimmte Schüler: innen diskriminiert werden. Die berufliche Identität und Motivation von angehenden Lehrkräften werden ebenfalls stark von ihren Überzeugungen geprägt. Ihre Vorstellungen über die eigene Rolle, die Wirksamkeit und die Bedeutung ihrer Arbeit tragen zur Entwicklung ihrer beruflichen Identität bei und beeinflussen ihr Engagement im Beruf. Eine reflektierte Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen ermöglicht es Lehrpersonen, ihre pädagogische Praxis kontinuierlich zu hinterfragen und zu verbessern. Spezifische Überzeugungen betreffen verschiedene Bereiche der Unterrichtspraxis. So gibt es Überzeugungen hinsichtlich des Lernens bzw. der Gestaltung von Lehr-Lern‐ prozessen auf Grundlage lerntheoretischer Auffassungen, wie oben bereits angedeutet. Auch die Überzeugungen in Bezug auf Intelligenz spielen eine Rolle: Die Annahme, dass Intelligenz veränderbar ist (Wachstumsdenken; siehe Mindset unten), im Gegensatz zu einer festen bzw. festgelegten Intelligenz (statisches Denken), wirkt sich darauf aus, wie Lehrer: innen ihre Schüler: innen unterstützen und ermutigen. Ein dem der Überzeugungen sehr ähnliches Konstrukt ist das des Mindset (vgl. Dweck 2023). „Überzeugungen“ beziehen sich auf spezifische Vorstellungen von bzw. Einstellungen zu verschiedenen Aspekten des Lebens, während Mindset umfassender die grundlegende Denkweise einer Person beschreibt, insbesondere in Bezug auf ihre Fähigkeiten und das Lernen. Ein wesentlicher Zusammenhang zwischen Über‐ zeugungen und Mindset zeigt sich in Carol Dwecks Konzept des „Growth Mindset“ (Wachstumsdenken) und des „Fixed Mindset“ (statisches Denken). Diese Begriffe beschreiben unterschiedliche Überzeugungen bezüglich Intelligenz und Fähigkeiten: • Fixed Mindset: Personen mit einem festen Mindset glauben, dass Fähigkeiten und Intelligenz angeboren und unveränderlich sind. Sie neigen dazu, Herausfor‐ derungen zu vermeiden, um Misserfolge zu verhindern, da diese als Bestätigung ihrer begrenzten Fähigkeiten gesehen werden. Solche Überzeugungen können bei Lehrer: innen dazu führen, Lernende schnell als „fähig“ oder „unfähig“ einzustufen, was sich negativ auf das Lernverhalten und die Motivation der Schüler: innen auswirkt. • Growth Mindset: Personen mit einem Wachstumsdenken glauben, dass Fähigkei‐ ten und Intelligenz durch Anstrengung, Lernen und Ausdauer entwickelt werden können. Sie sehen Herausforderungen als Chancen zum Wachsen und betrachten Fehler als Teil des Lernprozesses. Lehrkräfte mit einem Wachstumsdenken fördern eine Lernumgebung, in der Anstrengung und Fortschritt geschätzt werden, was die Lernenden ermutigt, ihre Fähigkeiten kontinuierlich zu verbessern. 72 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="74"?> Forschung im Fokus: Mindset und inklusiver Englischunterricht (Blume et al. 2021) Der Artikel diskutiert, wie das Konzept des Mindsets zur Professionalisierung von Englischlehrkräften in inklusiven Unterrichtsumgebungen beiträgt. Mindsets, die entweder als „fixed“ (unveränderlich) oder „dynamic“ (veränderbar) verstan‐ den werden, beeinflussen die Lehrmethoden und Einstellungen der Lehrkräfte erheblich. Der Beitrag stellt dar, dass Lehrkräfte mit einem dynamischen Mindset eher bereit sind, die Lernfähigkeiten aller Schüler: innen zu fördern, während ein festes Mindset die Fähigkeiten von Schüler: innen als begrenzt ansieht. Die Autor: innen argumentieren, dass die Förderung von Reflexionskompetenz dazu beitragen kann, dynamische Mindsets zu entwickeln, die für den inklusiven Fremdsprachenunterricht notwendig sind. Die Autor: innen beschreiben die Entwicklung einer Fortbildung, die speziell auf die Bedürfnisse von Englischlehrkräften in heterogenen und inklusiven Klassen abzielt. In dieser Fortbildung, die sowohl Onlineals auch Präsenzpha‐ sen umfasst, werden Reflexion und praktische Anwendung kombiniert, um Lehrkräfte dazu zu befähigen, ihre Einstellungen und Praktiken kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Erste Ergebnisse zeigen, dass durch solche Fortbildungsmaßnahmen die Überzeugungen der Lehrkräfte hinsichtlich der Lernfähigkeit ihrer Schüler: innen inklusiver und dynamischer werden können. Überzeugungen und Mindset sind folglich nicht nur für die Gestaltung des Unterrichts relevant, sondern auch dafür, wie Lehrpersonen sich entwickeln und auf Lernende blicken. Diese beiden Konstrukte haben damit eine andere Qualität als das Wissen, das wir oben bereits ausführlich besprochen haben. Sie haben jedoch mit Wissensformen gemein, dass sie ebenfalls stärker implizit vorliegen, eine Lehrperson sich ihrer Über‐ zeugungen oder ihres Mindset also nicht notwendigerweise bewusst ist, gleichwohl stark auf Grundlage ebenjener Überzeugungen handelt. Überzeugungen spielen als Konstrukt ebenso im kompetenztheoretischen Ansatz von Lehrer: innenprofessionalität eine Rolle und tauchen in zahlreichen Modellen auf (z.B. Baumert/ Kunter 2006). Man erkennt hier also die große Bedeutung von Überzeugungen und die Rolle an, die sie für die Gestaltung von Lehr-/ Lernprozessen spielen. Allerdings zeigt die Forschung, dass Überzeugungen insgesamt nur schwer veränderbar sind. D.h. wenn man davon überzeugt ist, dass ein inklusives Schulsystem kaum umsetzbar ist, wird dies auch Einfluss darauf haben, wie man den Unterricht gestaltet, nämlich exklusiv. Überzeugungen und Mindset sind damit mit den individu‐ ellen Vorstellungen davon verwoben, was Bedeutung im Unterricht hat, haben sollte oder haben kann. Wenn wir weiter unten in diesem Buch die Rolle von sozialer Gerechtigkeit oder das Thematisieren von kritischen Themen relevant setzen, kann es - vielleicht allein aufgrund des Titels - sein, dass Sie als eine Person, die schon bis hierher 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 73 <?page no="75"?> gelesen hat, eher von der Bedeutung eines gesellschaftskritischen, bildungsorientierten Fremdsprachenunterrichts überzeugt sind als andere. Sie identifizieren sich mit diesen Themen. Andere tun dies vielleicht nicht und würden die Lektüre dieses Buches nicht einmal in Erwägung ziehen. Das ist soweit auch in Ordnung - löst nur nicht die grundlegenden pädagogischen Herausforderungen, die wir aktuell (und in Zukunft) für den Fremdsprachenunterricht in unserem Bildungssystem sehen und damit als notwendig für die Professionalisierung von angehenden Lehrpersonen. 2.3.4 Reflexion und Reflektieren Oben ist bereits angeklungen, dass das Wissen, das wir durch Lernen oder Erfah‐ rung(en) aufnehmen, nicht nur gefiltert und subjektiv eingefärbt wird, sondern auch explizit vorliegt, damit verbalisier- und aussprechbzw. anwendbar ist, oder eben impliziter Natur und damit nicht unmittelbar greifbar ist. Wir haben oben ebenfalls herausgestellt, dass in der fremdsprachendidaktischen Forschung zur Professionalisie‐ rung von Lehrpersonen sehr häufig Reflektieren als mindestens notwendiger Aspekt für Entwicklung oder Integration von Wissen angesehen wird. Reflexion und Reflek‐ tieren haben damit nicht nur eine gewisse Tradition für Fremdsprachenlehrpersonen, sondern sind auch sinnvoll und zweckdienlich auf mehreren Ebenen: • Reflexion kann uns helfen, Theorien, Prinzipien und Modelle hinsichtlich ihrer Implikationen bzw. Anwendbarkeit für Praxissituationen zu bewerten. • Reflexion kann uns helfen, unser eigenes Handeln im Unterricht entlang von Theorien, Prinzipien und Modellen im Nachhinein zu bewerten und ggf. für zukünftiges Handeln anzupassen. • Reflexion kann uns helfen, entlang der Bedürfnisse unserer Lernenden einen qualitativ hochwertigen Unterricht zu planen und durchzuführen. • Reflexion kann uns helfen, spontan bewusste und didaktisch-methodisch sinnvolle Entscheidungen im Unterricht zu treffen. Forschung im Fokus: Reflexion und Reflektieren in der Tradition von Dewey und Schön John Dewey (1933) und Donald Schön (1983) haben beide bedeutende Beiträge zur Theorie der Reflexion und Reflexivität geleistet, die das Verständnis von Lernprozessen und professioneller Praxis entscheidend geprägt haben. John Dewey, ein einflussreicher amerikanischer Philosoph und Pädagoge, betrachtete Reflexion als zentralen Bestandteil des Lernens. Er definierte reflektierendes Denken als ein aktives und sorgfältiges Nachdenken über jede Überzeugung oder vermeintliche Form des Wissens unter Berücksichtigung der Gründe, die sie stützen, und der weiteren Schlussfolgerungen, zu denen sie führt. Für Dewey ist Lernen ein Prozess, der durch die Reflexion über Erfahrungen initiiert wird. Er betonte die Bedeutung der kontinuierlichen Interaktion zwischen Mensch 74 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="76"?> und Umwelt, wobei Erfahrungen zu Gelegenheiten für das Lernen werden, wenn sie reflektiert und analysiert werden. Insbesondere im Kontext der Problemlö‐ sung beschreibt Dewey Reflexion als eine Phase, in der Menschen Hypothesen aufstellen, diese testen und die Ergebnisse analysieren, um zu einer Lösung zu gelangen. Donald Schön, ein amerikanischer Philosoph und Organisationswissenschaftler, entwickelte die Konzepte der Reflexion weiter, insbesondere im Kontext profes‐ sioneller Praxis und Lernen. Er führte den Begriff der „Reflexion im Handeln“ (reflection-in-action) ein, bei dem Praktiker: innen während der Ausführung einer Handlung über ihr Tun nachdenken. Diese spontane Reflexion ermöglicht es Praktiker: innen, ihr Handeln in Echtzeit anzupassen und zu verbessern. Neben der Reflexion im Handeln beschreibt Schön auch die „Reflexion über das Handeln“ (reflection-on-action), die nach der Handlung stattfindet und es den Praktiker: innen ermöglicht, ihre Erfahrungen zu analysieren, daraus zu lernen und ihre zukünftigen Handlungen zu verbessern. Zusammengefasst heben beide Theoretiker die Bedeutung der Reflexion als ein Mittel zur Förderung von nachhaltigem Lernen und Handeln hervor. Während Dewey sich auf die Reflexion als Teil des Denkprozesses und der Problemlösung konzentriert, legt Schön den Schwerpunkt auf die Reflexion im Kontext profes‐ sioneller Praxis und Echtzeithandeln. Wenn reflexiv auf Unterricht geschaut wird, passiert dies im Rahmen der Lehrer: innen‐ bildung, also z.B. in der Universität im Rahmen des Praxissemesters oder im Vorberei‐ tungsdienst, häufig retrospektiv: Ein Unterrichtsvorhaben wird durchgeführt und im Nachgang wird darüber reflektiert. Ein solches Reflektieren spiegelt sich in den meisten Reflexionsmodellen wider. Abbildung 5 zeigt das sogenannte ALACT-Modell von Kor‐ thagen und Vasalos (2005): Ein geplantes Unterrichtshandeln findet statt (Action), die Lehrperson blick auf das Handeln zurück (Looking), wird sich nötiger Aspekte bewusst (Awareness), entwickelt alternative Handlungsoptionen (Creating) und implementiert diese wiederum in der Unterrichtspraxis (Trial). Für den Professionalisierungsprozess ist ein solches Reflektieren unbedingt notwendig, da es hilft, Unterricht durch z.B. theorie-/ modellgeleitetes oder fallorientiertes Verstehen zu durchdringen. Die grund‐ sätzliche Idee ist, Handlungsoptionen zu entwickeln, welche nach und nach die Qualität des Unterrichts erhöhen, Routinen bei den Lehrpersonen aufbauen und damit Sicherheit im Handeln. Dies entspricht damit einer reflection-on-action, welche - kon‐ sequent durchgeführt und vor dem Hintergrund unterschiedlichster Anforderungen fallorientiert durchgespielt - im kompetenztheoretischen Sinne Professionalisierung ermöglicht. 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 75 <?page no="77"?> Abbildung 5: Reflexiver Zyklus im ALACT-Modell (Korthagen/ Vasalos 2005: 49). Das zirkuläre ALACT-Modell ist ein Beispiel dafür, wie kompetenzorientierte Reflexion auf der Ebene der Verschränkung von theoretischem und praktischem Wissen gedacht werden kann. Es hilft uns also dabei, z.B. fremdsprachendidaktische Prinzipien für Unterricht umzusetzen, ihre Implementation im Anschluss zu bewerten und ggf. zu adaptieren. Reflexionsaufgabe 1. Welches Prinzip, welches Modell oder welche Theorie haben Sie zuletzt versucht im Unterricht zu implementieren? Wie sind sie vorgegangen? Wie hat es funktioniert? Versuchen Sie, den Prozess entlang der Schritte des ALACT-Modells zu reflektieren. Machen Sie sich hierzu separate Notizen. 2. Wie würden Sie diesen Unterricht, den Sie gerade reflektiert haben, anpassen, um den Bedürfnissen von Lernenden z.B. in einem inklusiven Fremdsprachen‐ unterricht gerecht zu werden, der versucht, Heterogenität bestmöglich zu adressieren? Weiter oben bei der Vorstellung von Schwerpunkten in der fremdsprachendidaktischen Professionsforschung wurde schon vorgestellt, dass im Zusammenhang mit kompe‐ tenzorientiertem Reflektieren über Unterricht auch die Reflexionsbreite und -tiefe eine Rolle spielt, die Frage also, welches Wissen in der Breite genutzt wird, um Unterricht zu erklären (zu reflektieren), und in welchen Modi im Sinne einer Tiefe von Reflexion dies stattfindet. Baumann (2023) unterscheidet z.B. reine Beschreibungen von Unterricht von einer deskriptiven Reflexion, einer kritischen Analyse sowie einer prospektiven Reflexion. Ähnliche Abstufungen finden sich in anderen Arbeiten z.B. von Roters (2012), Klempin (2019) oder - mit besonderem Bezug auf die Anforderungen von 76 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="78"?> inklusivem Fremdsprachenunterricht - bei Blume et al. (2019). Dort werden sechs Stufen mit exemplarischen Charakteristika von Lehrpersonen formuliert, die auf dem entsprechenden Reflexionsniveau reflektieren (vgl. Tabelle 3). Reflexionsniveau Beispielhafte Beschreibung: (Angehende) Lehrpersonen auf diesem Niveau weisen folgende Charakteristika auf Level 1: Deskriptivpauschalisierend • Kritisch-ablehnende Haltung gegenüber inklusivem Eng‐ lischunterricht • Fremdattribuierung Level 2: Pauschalisierendreflexiv • Generalisierungen • fehlende Thematisierung binnendifferenzierender Maß‐ nahmen, Konzeptualisierung einer Aufgabe für alle Schü‐ ler_innen Level 3: instrumentell-reflexiv • Monoperspektivität auf inklusiven Englischunterricht • Fokus z.B. auf methodische Herangehensweise (z.B. Grup‐ penarbeit als vermeintliches Differenzierungskonzept - ohne weitere differenzierte/ fachdidaktisch begründete He‐ rangehensweise im Sinne einer Balance von Teilhabe und Kompetenzentwicklung) Level 4: Dialogisch-reflexiv • Beschreibung von Unterricht aus der Perspektive der Lern‐ enden und ihrer Lernprozesse betrachtend • Vorhandensein (fachdidaktischer) Begründungen für un‐ terrichtliches Handeln (z.B. Ausweisung einer differenzier‐ enden task, offenen Lernaufgabe) Level 5: Transformativ-reflexiv • Darlegung verschiedener Kontextfaktoren inklusiven Eng‐ lischunterrichts, Fokus auf Kompetenzentwicklung bei gleichzeitiger Berücksichtigung individueller Rahmenbe‐ dingungen Level 6: Inklusiv-innovativ - • Vorhandensein differenzierter fachdidaktischer Begrün‐ dungen, Thematisierung der individuellen Lernausgangs‐ diagnostik, differenzierte Berücksichtigung individueller Lernbiografien, daraus abgeleitete Hypothesenbildung, Konsequenzen für Unterrichtsgestaltung Tabelle 3: Beschreibung der Reflexionsniveaus (Reflexionstiefe) von Lehrpersonen im heterogenen und inklusiven Englischunterricht (aus Blume et al. 2019: 311). Reflexionsaufgabe Nehmen Sie sich Ihre Notizen aus der letzten Reflexionsaufgabe nochmal vor: Können Sie auf Basis von Tabelle 3 ausmachen, auf welchem Niveau bzw. in welcher Tiefe Sie reflektiert haben? Tiefenbeschreibungen von Reflexionen, wie die Tabelle sie darstellt, zeigen, dass es eine gewisse normative Erwartung dahingehend gibt, wie Unterricht reflektiert werden sollte, um qualitativ hochwertig zu sein. Das ist zum einen nicht unproblematisch, 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 77 <?page no="79"?> denn nicht jede einzelne Unterrichtssituation kann durch so einen Reflexionsprozess geschickt entwickelt werden. Zum anderen ist eine solche Reflexivität möglicherweise auch eher hinderlich für das eigene Handeln im Unterricht, wenn Lehrpersonen in einen „dauerreflexiven Zustand“ (Häcker 2019: 92) geraten. Daher gilt es für Professionalisierungsgelegenheiten im Studium, Vorbereitungsdienst sowie in der autonomen Lehr- und Unterrichtspraxis in der Schule zu entscheiden, wann Refle‐ xionsphasen bewusst initiiert werden sollten. Ein zirkuläres Modell von Reflexion wie das ALACT-Modell oder ein Reflexionstiefenmodell helfen dann innerhalb von Reflexionsgelegenheiten, um die Reflexion zu strukturieren und Ebenen auszumachen, die eine Reflexion erreichen soll. Reflexion und Reflexivität lassen sich jenseits von Implementation und Gestaltung von Unterricht auch anders denken: nämlich auf unterschiedlichen Ebenen der Lehr‐ kraft als Individuum. Kompetenzen und Wissen sind dabei natürlicherweise Bestandteil einer Lehrperson, aber noch weitere Aspekte müssen berücksichtigt werden, was in Abbildung 6 verdeutlicht wird. In einem sogenannten Zwiebelmodell von Reflexion‐ sebenen (vgl. Korthagen/ Vasalos 2005) wird deutlich, dass die Interaktion zwischen Umwelt (environment, also Lernenden) und der Lehrperson von mehreren Schichten abhängt, die sich als kognitive Voraussetzung bei einer Lehrperson finden. Hierzu gehört die Mission, der Antrieb, mit dem Unterricht gestaltet wird, welche die Identität (Identity) formen kann. Diese wiederum hat einen Einfluss auf Überzeugungen (Beliefs), auf die Kompetenzen (Competencies) und diese letztlich (zumindest mittelbar, siehe oben) auf das Handeln (Behaviour). 78 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="80"?> Abbildung 6: Zwiebelmodelle der Reflexionsebenen (oben: Korthagen/ Vasalos 2005, unten: Bur‐ witz-Melzer 2018). Reflexionsaufgabe In den beiden Abbildungen finden Sie zwei Zwiebelmodelle. Was drückt Ihrer Meinung nach jede Abbildung für sich aus? Wo sind Gemeinsamkeiten, wo finden Sie Unterschiede? Idee des Zwiebelmodells ist, dass jede Schicht einen Einfluss auf die jeweils umliegen‐ den Schichten hat oder haben kann. Burwitz-Melzer (2018) hat persönliche Identität und Mission daher umgekehrt und noch eine Ebene für die professionelle Identität hinzugefügt, da für sie insgesamt die Identität im Kern einer Fremdsprachenlehrperson bedeutsamer ist. (Wir folgen dieser Argumentation gerne und stellen an späterer Stelle die Bedeutung einer Language Teacher Identity separat heraus; siehe Kapitel 4.3.) Betont wird im zweiten Modell ebenfalls, dass das Verhalten von Lehrpersonen ständig kontextuell in Schule sowie einen bildungspolitischen Rahmen eingebettet ist, der mit Lehrplänen, Curricula, Vorgaben und Lehrwerken den Fremdsprachenunterricht steuert. Diese Aspekte sind oben im Zusammenhang mit der Idee eines kontextsensib‐ len Fremdsprachenunterrichts bereits angeklungen: Die Gestaltung - und damit die Reflexion von Unterricht - muss immer vor dem Hintergrund von Kontextfaktoren gesehen und damit auch je nach Kontext immer wieder neu bestimmt werden. Die 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 79 <?page no="81"?> einzelnen Reflexionsebenen in dem Zwiebelmodell, Ebenen von Lehrer: innenpersön‐ lichkeit, wie Burwitz-Melzer (2018) sie beschreibt, sind in diese Kontexte eingebunden und interagieren in einer Lehrperson miteinander. Forschung im Fokus: Reflexive Lehrer: innenbildung und Lehrer: innenfor‐ schung in der Fremdsprachendidaktik (Abendroth-Timmer 2017) Der Artikel von Dagmar Abendroth-Timmer (2017) untersucht die Elemente und theoretischen Grundlagen des Begriffs Reflexion in der Lehrer: innenbildung und -forschung. Reflexion wird als ein mentaler Prozess beschrieben, der kognitive und emotionale Aspekte umfasst und darauf abzielt, Probleme zu analysieren, Ideen zu generieren und Lösungen zu erproben. Abendroth-Timmer unterschei‐ det drei Qualitäten von Reflexion: Reflex, Reflektion und Reflexion, wobei die umfassendste Form subjektive, objektive und kontextuelle Elemente integriert. Der soziale Kontext und die Praxis spielen eine wesentliche Rolle, da Reflexion als soziale Praxis durch Interaktionen mit Peers und Expert: innen gefördert wird. Emotionen beeinflussen ebenfalls den Reflexionsprozess. Der Artikel stellt verschiedene praktische Ansätze zur Förderung (und Befor‐ schung) der Reflexion vor, darunter Tagebücher, Portfolios, Peer-Coaching, Vi‐ deographie und Unterrichtssimulationen. In einem Modell (Abbildung 7) werden die wesentlichen Ebenen und Komponenten, die für eine Reflexion eine Rolle spielen können, dargestellt. Auch hier besteht eine Durchlässigkeit (angedeutet durch die gepunkteten Linien), insbesondere aber auch eine Fachspezifität durch die Eingebundenheit von Sprachen und Kulturen. Abbildung 7: Modell zur Definition und Rahmung von Reflexion (Abendroth-Timmer 2017: 111). 80 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="82"?> In Kontextsensibler Fremdsprachenunterricht argumentieren Leupold und Gerlach (2019), dass für ein Zusammenspiel von Kontextfaktoren (insbesondere Lehrpersonen mit Lernenden) Routinen eine besondere Bedeutung spielen. Routinen sind dabei nicht als rezeptologische Verhaltensweisen zu verstehen, sondern Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden, die sich je nach Lerngruppe dynamisch einspielen, damit Verlässlichkeit schaffen und Transparenz für beide Seiten. Diese „Interaktionsroutine“ ist damit nicht (nur) bestimmt von Unterrichtsgegenständen oder didaktisch-metho‐ dischen Überlegungen, sondern ergibt sich über die einzelnen Reflexionsebenen der Lehrperson, wie sie die Modelle in Abbildung 6 suggerieren. Analog ist das Zwiebel‐ modell für die Lernenden zu denken: Auch sie sind gänzlich mit ihren Identitäten eingebunden, agieren auf Basis ihrer Überzeugungen, zeigen latent Wissen und Kompetenzen über ihre Performanz (ihr Handeln) und interagieren damit mit anderen Lernenden alleine, in der Gruppe oder mit der Lehrperson. Sich diese Komplexität eines solchen sozialen Raums wie des fremdsprachlichen Klassenzimmers ins Gedächtnis zu rufen und zum Gegenstand der Reflexion zu machen, ist damit von zentraler Bedeutung. Gut zu wissen: Konzeptualisierung von pädagogischer Reflexivität Mecheril (2010) argumentiert, dass Reflexivität nicht auf individueller Ebene gedacht werden sollte, sondern als institutionell eingebettet. Er schreibt (mit einem migrationspädagogischen Fokus): Gegenstand pädagogischer Reflexivität ist primär nicht der individuelle Pädagoge/ die Pädagogin, sondern das im pädagogischen Handeln und Deuten maskierte erziehungs‐ wissenschaftliche, kulturelle und alltagsweltliche Wissen (zum Beispiel über „die Mig‐ rant/ -innen“). Die Reflexion dieser mehr oder weniger verborgenen Wissensbestände und die Befragung ihrer Effekte können pädagogisch Handelnden nicht individuell aufgebürdet werden, sondern es müssen institutionelle Strukturen und Kontexte zur Verfügung stehen, in denen Reflexion als eine gemeinsame pädagogische Praxis möglich ist. (Mecheril 2010: 191) 2.3.5 Kompetenzen von Fremdsprachenlehrkräften Nun sind oben bereits verschiedene Ideen, Konzepte und Konstrukte angeklungen: Wir haben unterschiedliche Wissensformen betrachtet, insbesondere den Unterschied zwischen curricularem, d.h. gewissermaßen lernbarem Wissen in unterschiedlichen Institutionen (Schule und Universität) und dem explizitem und implizitem Wissen. Wir haben aber ebenso gesehen, dass das Handeln, das auf Basis dieses Wissens erfolgt, nicht immer erklärbzw. reflektierbar ist, und dass wir nicht selten gegen unsere eigenen Überzeugungen handeln. Dieses Handeln lässt sich - im Gegensatz 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 81 <?page no="83"?> zur Kompetenz - als Performanz bezeichnen: Kompetenz ist die abstrakte Form, in der Wissen vorliegen kann, Performanz ist das tatsächliche Handeln. Weinert (2001) versteht mit seiner im deutschen Raum einschlägigen Definition unter Kompetenzen die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertig‐ keiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (ebd.: 27-28) Mit allen Vorüberlegungen von oben wird deutlich, dass zwischen Kompetenz und Performanz ein großer Unterschied bestehen kann. Wenn im Fremdsprachenunterricht sprachliche Kompetenzen gefördert werden, heißt das weder, dass diese 1: 1 erlernt werden, noch bedeutet es, dass diese Kompetenzen dann unmittelbar für das Handeln (Performanz) zur Verfügung stehen. Dies könnte man als kompetenztheoretischen Kurzschluss bezeichnen, der für (sprachliche) Lehr- und Lernprozesse genauso gilt wie für die Professionalisierung als bzw. zur (Sprachen-)Lehrkraft. Laut Weinert (2001) gehören nicht nur Wissen (kognitive Fähig- und Fertigkeiten) zu Kompetenzen, son‐ dern auch Motivation, Volition (also der Wille) und soziale Aspekte, um in bestimmten Situationen Kompetenzen nutzen zu können. Für den Fremdsprachenunterricht wissen wir, dass insbesondere Motivation eine zentrale Voraussetzung für Lernprozesse ist. Ähnliches gilt dann offensichtlich auch für die Professionalisierung. Blömeke et al. (2015) haben sich mit der Kritik am kompetenztheoretischen Ansatz zur Professionalisierung und der Kompetenz/ Performanz-Diskrepanz auseinanderge‐ setzt, genauer gesagt mit der Frage, was „dazwischen“ passiert: Also welche Fertig‐ keiten notwendig sind, um in spezifischen Situationen zu handeln. Die Autor: innen bezeichnen diese als „situationsbezogene Fähigkeiten“, unterteilt in die Schritte Wahr‐ nehmung, Interpretation und Entscheidungsfindung (siehe Abbildung 8). Dies ähnelt in gewissem Maße einer Reflexion „in action“ (siehe oben), macht aber deutlich, dass die vorliegenden Kompetenzen (als Wissen) sowohl für die Wahrnehmung nützlich sind als auch für die Interpretation und die Entscheidung für das daraus folgende Handeln. Die Idee hinter jeder kompetenztheoretischen Konzeptualisierung von Lehren/ Lernen oder Professionalisierung ist: Die Kompetenzen (das Wissen), über die Individuen verfügen, hilft bei der Interpretation pädagogischer Situationen. Das ist übrigens in weiten Teilen die Argumentation eines strukturtheoretischen Ansatzes, der Fallverstehen fördern möchte. Auch hier wird durch eine fallorientierte Lehrer: innenbildung anhand von Einzelfällen Wissen über Handlungsoptionen ausgebildet mit einer gewissen, perspek‐ tivisch in die Zukunft gerichteten Hoffnung, dass dieses Wissen (diese Kompetenz) zu einem späteren Zeitpunkt im Klassenzimmer nützlich sein möge. 82 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="84"?> Abbildung 8: Modell der Transformation von Kompetenz in Performanz, vermittelt über situationsbezo‐ gene Fähigkeiten der Wahrnehmung (Blömeke et al. 2015: 312). Die Kultusministerkonferenz (2024) formuliert seit 2008 - regelmäßig erneuert und erweitert - Standards für die Lehrer: innenbildung in bildungswissenschaftlicher wie auch fachspezifischer Hinsicht. Das fachspezifische Kompetenzprofil finden Sie in der nachfolgenden Box. Gut zu wissen: Fachspezifisches Kompetenzprofil für Lehrpersonen in den Neuen Fremdsprachen (KMK 2024: 44) Die Studienabsolventinnen und -absolventen verfügen über Kompetenzen in der Fremdsprachenpraxis, der Sprachwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Kultur‐ wissenschaft sowie in der Fachdidaktik. Der schulische Fremdsprachenunterricht erfordert, dass die Studienabsolventinnen und -absolventen das im Studium erworbene Wissen systematisch abrufen und ihre Kompetenzen unterrichtsbezogen einsetzen können. Sie • verfügen über ein vertieftes Sprachwissen und „nativnahes“ Sprachkönnen in der Fremdsprache; sie sind in der Lage, ihre fremdsprachliche und interkulturelle Kompetenz auf dem erworbenen Niveau zu erhalten und ständig zu aktualisieren, • können auf vertieftes, strukturiertes und anschlussfähiges Fachwissen in den Teil‐ gebieten der Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft zugreifen und grundlegende wie aktuelle Fragestellungen und Methoden erkennen und weiterentwickeln, • verfügen über Erkenntnis- und Arbeitsmethoden im jeweiligen Fach sowie über einen Habitus des forschenden Lernens, • besitzen die Fähigkeit zur Analyse und Didaktisierung von Texten, insbesondere von literarischen, Sach- und Gebrauchstexten sowie von diskontinuierlichen Texten, 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 83 <?page no="85"?> • können fachliche und fachdidaktische Fragestellungen und Forschungsergebnisse wissenschaftlich adäquat und reflektiert darstellen sowie die gesellschaftliche Be‐ deutung der Disziplin und des Fremdsprachenunterrichts in der Schule analytisch beschreiben, • kennen die wichtigsten Ansätze der Sprach-, Literatur-, Kultur- und Mediendidak‐ tik und können diese für den Unterricht nutzen, • verfügen über eine linguistisch fundierte Textkompetenz, die es ihnen erlaubt, die sprachlichen und kulturellen Komplexitäten von Texten zu bewerten, einschließ‐ lich der Typisierung von Texten und sie können textlinguistische Kriterien mit didaktischen Fragen des Textverstehens verbinden, • verfügen über ausbaufähiges Orientierungswissen und Reflexivität im Hinblick auf fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse auch unter dem Gesichtspunkt von Mehrsprachigkeit, Heterogenität und inklusiven Unterricht, • kennen Möglichkeiten der Gestaltung von Lehr- und Lernarrangements insbeson‐ dere unter Berücksichtigung heterogener Lernvoraussetzungen und Inklusion, • verfügen über vertieftes Wissen zur Entwicklung und Förderung von kommuni‐ kativer, interkultureller und textbezogener fremdsprachlicher Kompetenz, metho‐ discher Kompetenz und Sprachlernkompetenz von Schülerinnen und Schülern, • verfügen über erste reflektierte Erfahrungen in der kompetenzorientierten Pla‐ nung und Durchführung von Fremdsprachenunterricht in heterogenen Lerngrup‐ pen z.B. im Hinblick auf zieldifferenten und zielgleichen Unterricht und kennen Grundlagen der Leistungsdiagnose und -beurteilung im Fach, • können auf der Grundlage ihrer fachbezogenen Expertise hinsichtlich der Planung und Gestaltung eines inklusiven Unterrichts mit sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkräften und sonstigem pädagogischen Personal zusammenarbeiten und mit ihnen gemeinsam entsprechende Lernangebote entwickeln, • sind sensibilisiert für den Bedarf an barrierefreien Lernmedien von Lernenden mit Behinderungen, • sind in der Lage, Entwicklungen im Bereich Digitalisierung aus fachlicher und fachdidaktischer Sicht angemessen zu rezipieren sowie Möglichkeiten und Gren‐ zen der Digitalisierung kritisch zu reflektieren. Sie können die daraus gewonnenen Erkenntnisse in fachdidaktischen Kontexten nutzen sowie in die Weiterentwick‐ lung unterrichtlicher und curricularer Konzepte einbringen. Sie sind sensibilisiert für die Chancen digitaler Lernmedien hinsichtlich Barrierefreiheit und nutzen digitale Medien auch zur Differenzierung und individuellen Förderung im Unter‐ richt. 84 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="86"?> Reflexionsaufgabe Nehmen Sie sich jeden einzelnen Punkt aus den KMK-Anforderungen heraus und bewerten Sie auf einer Skala von 1 bis 5, ob Sie selbst sagen würden, dass Sie diese Anforderung bereits erfüllen (5) oder noch nicht erfüllen (1). In welchen Bereichen fühlen Sie sich also schon kompetent? In welchen nicht? Die KMK-Lehrpersonenbildungsstandards sollen mehrere Ziele erfüllen: Zum einen sollen sie eine gewisse Vereinheitlichung innerhalb der lehrer: innenbildenden Einrich‐ tungen (Hochschulen) in einem ansonsten föderalistisch organisierten Deutschland gewährleisten und damit auch die Zugangsmöglichkeiten für Studierende erhöhen sowie den Studienortwechsel ermöglichen. Gleichzeitig bieten sie auf inhaltlicher Ebene eine gewisse Orientierung und Anlass zur Reflexion: Habe ich dieses Wissen bzw. diese Kompetenzen bereits entwickelt? Muss ich mich in bestimmten Bereichen noch weiterentwickeln? Was bedeutet für mich ganz individuell „ausbaufähig“? Bin ich „sensibilisiert“ für diese oder jene Fragestellung? Dies sind sehr individuelle Reflexionsfragen, denen man sich stellen kann, auf die es aber wenig standardisierbare Antworten geben wird, denn die individuelle Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen mag von Person zu Person unterschiedlich sein. Und woran, d.h. an welchen Indika‐ toren, machen wir eine bestimmte Kompetenz oder ein bestimmtes Wissen fest? Es sind also in der Regel Beispiele, Ideen, Erfahrungen und Wissensbestände, die uns in der Gesamtschau helfen zu bewerten, ob wir kompetent sind bzw. uns kompetent fühlen. Gleichwohl kann eine Lehrer: innenbildung, auch wenn sie den aufgeführten Anforderungen entspricht, eine bestimmte Entwicklung nicht garantieren: Die individuelle Professionalisierung einer Lehrperson kann trotz einer ‚guten‘ Aus- und Weiterbildung misslingen, sie kann trotz einer ‚schlechten‘ Aus- und Weiterbildung gelingen. Jedenfalls vermag keine noch so plausible Zuordnung bestimmter Aufgaben und Funktionen zu einzelnen Phasen der Lehrerbildung die spätere Professionalisierung einer angehenden Lehrerin oder eines angehenden Lehrers zu garantieren. (Keller-Schneider/ Hericks 2014: 401-402) Die ganz individuelle Professionalisierung scheint dabei nicht nur von äußeren Fakto‐ ren, sondern auch von inneren einer jeden Person abhängig. Daher beschäftigen wir uns im weiteren Verlauf dieses Buches mit diesen Faktoren bzw. dem Wechselspiel der äußeren Rahmenbedingungen und den individuellen Voraussetzungen. Denn es gilt auch: Nur weil Standards festlegen, dass Fremdsprachenlehrpersonen „nativnahes“ Sprachvermögen aufweisen sollen, heißt das noch lange nicht, dass Erstbzw. Mutter‐ sprachler: innen die besseren Lehrpersonen oder geeignetere Sprachmodelle sind. Es bedeutet lediglich, dass Lehrpersonen einer bestimmten Norm entsprechen sollen. Für eine Lehrperson ist eine kompetenzorientierte Kenntnis der institutionellen Anforderungen und Normen von Lehrer: innenbildung und auch des Schulsystems an sich eine zwingende Voraussetzung für Professionalisierung. Nur auf Grundlage 2.3 Die Rollen von Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz 85 <?page no="87"?> einer solchen Wissensbasis können überhaupt qualifiziert Kritik ausgeübt, Unterricht entwickelt und sinnstiftende Professionalisierung angestoßen werden. Lehrer: innen‐ bildungsstandards geben hierfür den Rahmen - alle (angehenden) Lehrpersonen und am Professionalisierungsprozess beteiligtes Personal können diesen Rahmen dann ausgestalten, vielleicht den Rahmen sogar hinterfragen und durchbrechen, Normen erkennen, verhandeln und neu ausdeuten oder gar gegen diese aufbegehren. Welche Normen hier für den Fremdsprachenunterricht bzw. die Professionalisierung von Fremdsprachenlehrpersonen relevant sein könnten, betrachten wir Kapitel 2.4. 2.3.6 Zum Zusammenspiel der einzelnen Komponenten In den letzten Unterkapiteln von Kapitel 2.3 haben wir uns dezidiert mit den Kon‐ strukten Wissen, Können, Handeln, Reflexion und Kompetenz auseinandergesetzt. Es wird deutlich geworden sein, warum diese Konstrukte relevant sind, wenn wir betrachten, wie Sie (Fremdsprachen-)Lehrer: in werden: Zum einen bringen Sie vielfäl‐ tiges Erfahrungswissen aus Ihrer Schulzeit mit, das konfrontiert wird mit anderen (expliziten) Wissensformen im Studium. Die Divergenz zwischen selbsterlebter bzw. erwarteter (Unterrichts-)Praxis und akademisierter Theorie gilt es zunächst einmal auszuhalten. Schließlich sollen Sie nicht mit Ihrem Schüler: innenhabitus die Schule nach dem Studium wieder betreten, sondern zunächst einmal Abstand zur Praxis gewinnen, um diese neu bewerten (und gestalten) zu können. Das wird im weiteren Verlauf dieses Buches wieder relevant, wenn wir uns an die kritische Betrachtung von fremdsprachenunterrichtlichen Gegenständen wagen. Wir haben aber auch angedeutet, wie relevant zum einen Überzeugungen sind, zum anderen die Kompetenzen, die Sie erwerben. Zwischen beiden gibt es einen Zusammenhang: Wenn Sie von inklusivem, kontextsensiblen oder handlungsorientier‐ tem Fremdsprachenunterricht im Wesentlichen nicht überzeugt sind, wird es Ihnen schwerer fallen, diese Konzepte in Ihre eigene Praxis zu übertragen. Vor allem aber: Sie müssen diese Konzepte in der Praxis erleben und Ihre Erfahrungen aufbauen. Denn Unterricht und unterrichtliches Handeln sind in hohem Maße von Ungewissheit geprägt, wie wir eingangs in Kapitel 2.1 im Zusammenhang mit der Definition von Professionalität und Professionalisierung beschrieben haben (vgl. Evetts 2003). Die Ungewissheit ist ebenfalls Kern des strukturtheoretischen Professionsansatzes, für den auch Wissen und Kompetenzen sowie deren Reflexion wichtig ist. Immer wird jedoch betont, dass Unterricht in seiner Grundstruktur unvorhersehbar ist und ständig aufs Neue ausgehandelt wird. Genau darum sind die beschriebenen Konstrukte in diesem Kapitel so wichtig, denn sie helfen Lehrpersonen, in diesem „Ozean der Ungewissheit“ zu navigieren. Gleichzeitig lösen alle Konstrukte und Konzepte die Ungewissheit nicht auf. Wenn wir sie aber für unsere eigene professionelle Entwicklung als Lehr‐ personen dauerhaft ernst nehmen, dürften die Konzepte mittelfristig helfen, guten Fremdsprachenunterricht zu gestalten. Dies passt zur Idee von Meta-Reflexivität: Ein Bewusstsein von und die Kenntnis der professionstheoretischen Ansätze wie auch der 86 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="88"?> Ansätze, die wir aus der Perspektive der fremdsprachendidaktischen Professionalisie‐ rung besprochen haben, können uns situativ helfen, Unterricht, Lernende und uns selbst als Lehrpersonen besser zu verstehen. Gerade wenn wir uns nicht sicher sind, warum wir so handeln, wie wir handeln. Gerade wenn wir uns der Implikationen unseres eigenen Handelns nicht gewiss sein können, kann diese Metaperspektive auf Schule und Unterricht hilfreich sein. Die Entwicklung von Lehrpersonen verläuft höchst individuell, wenn auch in bestimmten Logiken entlang der Ausbildungsphasen. Hericks (2006) nennt die Entwicklungsaufgaben in seiner berufsbiographischen Studie „unhintergehbar“ (ebd.: 60). Gleichzeitig spielen viele verinnerlichte Routinen als implizites Wissen eine große Rolle für das, was wir im Unterricht tun. Das Handeln, das sich hieraus ergibt, ist zudem geprägt von den Strukturen, in denen wir tätig sind, und den Normen, die diese Strukturen durch die in ihnen verankerten Praktiken ständig hervorbringen. Im nächsten Kapitel widmen wir uns daher genauer den Normen, die das Lehrer: innenhandeln insbesondere im Fremdsprachenunterricht scheinbar maßgeblich prägen. 2.4 Normen des Fremdsprachenunterrichts und deren Implikationen für die Professionalisierung Wenn Menschen im Alltag von Normen sprechen, können darunter Gesetze, Anfor‐ derungen an bestimmte familiäre oder berufliche Rollen sowie kulturelle und gesell‐ schaftliche Regeln verstanden werden. Im sozialen Kontext beziehen sich Normen auf Verhaltensweisen und Erwartungen, die innerhalb einer Gesellschaft oder Gemein‐ schaft als akzeptabel und angemessen angesehen werden. Diese sozialen Normen können helfen, das Zusammenleben zu strukturieren und harmonisch zu gestalten, indem sie festlegen, was als richtig oder falsch empfunden wird. Ein Beispiel wäre, dass es in vielen Kulturen als respektvoll gilt, älteren Menschen gegenüber höflich zu sein oder sich beim Betreten eines Raumes zu begrüßen. Normen können aber auch Handeln maßgeblich bestimmen, obwohl man sich bestimmter Normen nicht notwendigerweise bewusst ist. Man erfüllt diese Normen also quasi-automatisiert - sie lassen sich daher als Teil des impliziten Wissens (siehe Kapitel 2.3.1) verstehen. In erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten werden Normen daher häufig als Determinanten und Steuerungselemente des Handelns von Akteur*innen aufgefasst, die im Sprechen hervorgebracht und hierdurch kontinuierlich reproduziert werden. (Leonhardt i.V.; vgl. auch Meseth et al. 2019: 6) 2.4 Normen des Fremdsprachenunterrichts und deren Implikationen für die Professionalisierung 87 <?page no="89"?> Reflexionsaufgabe Nehmen Sie sich einen Moment und überlegen Sie, welchen Normen Sie im Alltag und im Beruf begegnen. Schreiben Sie diese auf. Beantworten Sie danach die folgenden Fragen: • Welche Normen stimmen mit Ihren Haltungen überein? Warum? • Inwiefern können Sie und Beteiligte Normen mitbestimmen? • Welche Normen stimmen mit Ihren Haltungen nicht überein? Warum? • Wenn Normen nicht mit Ihren Haltungen übereinstimmen, … - … wie gehen Sie damit um? - … versuchen Sie, diese Normen zu verändern? - … akzeptieren Sie diese Normen und passen Sie Ihr Handeln an? • Wie gehen Sie damit um, Normen in Ihrer pädagogischen Praxis nicht gänzlich erfüllen zu können? Ein Beispiel für zentrale und von außen festgelegte Normen, die auf das Lehrer: innen‐ handeln einwirken, sind die Standards für Lehrkräftebildung (vgl. KMK 2024 und Kapitel 2.3.5), die entsprechende Anforderungen und Erwartungen an Lehrpersonen stellen und als solche Erwartungen formal festgeschrieben sind. Damit Normen als sogenannte Determinanten und Steuerungselemente dienen können, müssen jegliche Normen zunächst von den Akteur: innen für die Handlungspraxis als relevant erkannt und erfahren werden. Dies kann beispielsweise durch Fort- und Weiterbildungen, durch Seminare in den Phasen der Lehrkräftebildung oder eben auch durch Studien‐ bücher passieren. So zielt dieses Studienbuch darauf ab, die Norm einer Kritischen Fremdsprachendidaktik für die Fremdsprachenlehrkräftebildung relevant zu machen. Damit wird diese Norm gesetzt und entsprechend argumentativ untermauert - als Lehrperson in diesem professionellen Umfeld und als diejenige, die Fremdsprachenun‐ terricht gestaltet, kann man sich nun gegenüber dieser Norm bewusst positionieren: Man kann sie ablehnen, man kann sie in Teilen unterstützen oder auch vollkommen in ihr aufgehen und sie für den eigenen Fremdsprachenunterricht nutzen. Wichtig ist uns an dieser Stelle jedoch, dass das reine Erkennen von derartigen Normen, wie sie auf einer expliziten Ebene von Dokumenten (Lehrpersonenbildungss‐ tandards oder einem Studienbuch) existieren, für das eigene Handeln als Lehrperson oft nicht ausreicht, um das habitualisierte Handeln, d.h. den Habitus zu verändern, der primär vom impliziten Wissen gesteuert wird (siehe Kapitel 2.3.1). Denn Normen können in Systemen wie der Gesellschaft, der Schule, dem Unterricht oder der Fremdsprachendidaktik auch existieren und sich festgeschrieben haben, ohne dass wir uns als Lehrpersonen ihnen notwendigerweise bewusst sind. Wir „funktionieren“ jedoch unwissentlich (und unwillentlich) entlang dieser Normen. 88 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="90"?> Gut zu wissen: Habitus nach Pierre Bourdieu Das Habituskonzept von Pierre Bourdieu beschreibt, wie Menschen durch ihre Sozialisation bestimmte Denk- und Verhaltensweisen entwickeln. Der Habitus ist ein System von dauerhaften Dispositionen, das beeinflusst, wie Menschen die Welt sehen und wie sie in verschiedenen Situationen automatisch reagieren. Der Habitus resultiert aus der Umgebung und Erziehung einer Person (dem Feld) und bestimmt, wie sie sich kleiden, sprechen, handeln und welche Werte sie haben. Die Habitustheorie bezieht sich im Wesentlichen auf Prozesse der Sozialisation. Übertragen auf Lehrpersonen entwickeln diese im Laufe ihrer eigenen Schulzeit einen Schüler: innenhabitus, nach dessen Logik man handelt. Universitäre Lehrer: innenbildung will diesen Habitus durch Akademisierung und fachwissenschaftliche Auseinandersetzung irritieren und so einen akademischen/ forschenden Habitus entwickeln. Später - vermittelt über den Vorbereitungsdienst und die Schule - wird dieser Habitus dann wiederum überformt vom Lehrer: innenhabitus, welcher Sozialisierungseffekte der Systeme Studienseminare und Schule aufweist. Man „funktioniert“ innerhalb der Logiken dieser Systeme nach bestimmten Normen, man ist sich dieser Normen und ihrer Auswirkungen auf die eigene Handlungspraxis aber nicht notwendigerweise bewusst. Wir haben es dann also mit implizitem Wissen zu tun (siehe Kapitel 2.3.1). Weiterführende Literatur: • Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. • Bourdieu, Pierre (2020): Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Im Sinne der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2017), die untersucht, wie (gerade auch implizites) Wissen in soziale Praktiken eingebettet ist und durch diese reproduziert wird, werden drei verschiedene Formen von Normen angesprochen: Com‐ mon-Sense-Theorien, Identitätsnormen und Normen der Institution bzw. der Organi‐ sation Schule. Common-Sense-Theorien stellen alltagspraktische Motivkonstruktionen dar, Institutsnormen sind vor allem Anforderungen der Institution (hier: der Institution Schule), die sich z.B. in Bildungsstandards, Curricula oder rechtlichen Verordnungen wiederfinden können. Identitätsnormen zeigen sich beispielsweise in (idealtypischen) Vorstellungen des Lehrberufs oder Selbstdarstellungen als Lehrperson (vgl. Bohnsack 2017, Bonnet/ Hericks 2020b, Leonhardt i.V.). In rekonstruktiven Arbeiten, die in der Fremdsprachendidaktik besonders im Rahmen der Professionsforschung durchgeführt werden, wird mithilfe von rekonstruktiv-methodischen Ansätzen der Umgang von Lehrpersonen mit Normen, insbesondere institutionellen Normen, untersucht (vgl. z.B. Bonnet/ Hericks 2020b, Wilken 2021, Lüke 2024a). Durch die zunehmende Anzahl an rekonstruktiven Arbeiten können zentrale Normen des Fremdsprachenunterrichts immer deutlicher herausgearbeitet werden. 2.4 Normen des Fremdsprachenunterrichts und deren Implikationen für die Professionalisierung 89 <?page no="91"?> Als eine dieser Normen im Fremdsprachenunterricht kristallisiert sich die Leistungs‐ orientierung heraus, die sich u.a. dadurch ausdrückt, dass die Messung von Leistungen, insbesondere sprachlichen Leistungen, in Form von Prüfungen sowie die effiziente Vermittlung von vorgegebenen Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht absolut im Vordergrund steht (vgl. Tesch/ Grein 2023, Lüke 2024a, Leonhardt i.V.). Häufig mit einer Orientierung an dieser Leistungsnorm verbunden ist die konsequente Verfolgung der Struktur des Lehrwerks und einer Durchprozessierung des Fremdsprachenunterrichts in Form eines Abarbeitens des Curriculums (vgl. Bonnet/ Hericks 2020b, Gardemann 2021, Tesch/ Grein 2023). Beispielhaft kann hierfür die Arbeit von Bonnet/ Hericks (2020b) zum kooperativen Lernen im Englischunterricht angeführt werden: Hier zeigt sich bei den beforschten Lehrpersonen ganz zentral ein Abarbeiten am Lehrplan. Auch in der Arbeit von Gardemann (2021) zu literarischen Texten im Fremdsprachen‐ unterricht zeigt sich, dass das Durcharbeiten des Lehrwerks einen hohen Stellenwert einnimmt, was wiederum der Leistungslogik entspricht (siehe weiterführend zur Dominanz des Lehrwerks im Fremdsprachenunterricht Akbari 2008b, Gray 2013, Gerlach/ Lüke 2024). Der Umgang mit der Leistungsnorm führt im Fremdsprachenunterricht zu einem veränderten Umgang auf der Ebene der Schüler: inneninteraktion. Während die Fremd‐ sprachendidaktik z.B. im Rahmen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik oder der Kontextorientierung eine Integration der Schüler: innenkontexte als normativ wichtig erachtet (siehe Kapitel 2.2.2), führt die Leistungsnorm dazu, dass die offene und bedürf‐ nisorientierte Interaktion mit den Schüler: innen im unterrichtlichen Umgang weniger relevant wird (vgl. Lüke 2024a). Hierin zeigt sich die Prominenz der Leistungsnorm, die die Integration von Schüler: innenkontexten in den Fremdsprachenunterricht potentiell verdrängt. Stimmen von Lehrpersonen: „Man fühlt sich manchmal so n bisschen wie ’n Dompteur“ (Bonnet/ Hericks 2020b: 338) Im Buch von Andreas Bonnet und Uwe Hericks (2020b) sagt die Studienteilneh‐ merin Silke Borg zur Norm von Leistung und Bewertung Folgendes: Man fühlt sich manchmal so n bisschen wie ’n Dompteur und da umzuschalten, und ich merke auch so diese Weichheit und Wärme und Freundlichkeit, je länger ich diesen Job mache, desto mehr geht mir die abhanden, also verlier ich die. Weil ich wirklich versuche, ich muss meinen Stoff durchziehen, ich muss irgendwie Noten geben, ich muss mich abgrenzen, ich will objektive Noten geben und äh, Menschlichkeit dabei zu behalten ist verdammt schwer. Was scheint die größte Herausforderung der Lehrperson hier zu sein? Welche Begriffe kontrastieren in dieser Erzählung bzw. Beschreibung von Unterricht? Wie bewerten Sie das Bild einer Dompteurin? Können Sie sich damit identifizieren? 90 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="92"?> Als genuin sprachdidaktische Normen zeigen rekonstruktive Arbeiten deutlich, dass auch die Norm der muttersprachlichen Kompetenz sowie die Norm der funktionalen Einsprachigkeit in der Unterrichtsgestaltung relevant werden (vgl. Wilken 2021, Tesch/ Grein 2023, Lüke 2024). So zeigen beispielsweise Tesch/ Grein (2023), dass der Umgang mit der funktionalen Einsprachigkeit einen zentralen Platz in der Unterrichtspraxis des Fremdsprachenunterrichts einnimmt und damit praktisch relevanter ist als der Umgang mit Mehrsprachigkeit. Auch Wilken (2021) rekonstruiert in ihrer Arbeit den Umgang der Lehrpersonen mit der Korrektheitsnorm, in die sie die Orientierung der Lehrpersonen an Einsprachigkeit sowie an der Native Speaker-Norm mit einschließt. Stimmen von Lehrpersonen: „Ich kenn schon echt schlechtes Spanisch, (…) aber ich hab manchmal schon echt nicht verstanden was ihr wollt“ (Tesch/ Grein 2023: 175) In Ihrem Forschungsprojekt zu Normen im fremdsprachlichen Klassenzimmer lassen Bernd Tesch und Matthias Grein (2023: 175) eine Lehrperson zu Wort kommen. Diese spricht in dieser Situation zu ihren Schüler: innen hinsichtlich der sprachlichen Korrektheit in mündlichen Prüfungen: ((…)) in der Kommunikationsprüfung, und erstens zählt die Sprache dreifach (.) zum Inhalt einfach (.) wenn ihr Glück habt zählt der Inhalt zwei und Sprache drei und deswegen wir müssen an der Sprache arbeiten (..) darf ich euch was ganz Gemeines sagen (.) wir müssen (.) jetzt hab ich gar nicht gewartet (.) unbedingt an eurer Aussprache arbeiten (.) ihr habt das Problem dass ihr ganz arg viel französisiert da könnt ihr nix dafür des isch ganz einfach so bei zwei Sprachen, das wird in der Oberstufe besser (.) außer habt zwei gewählt. Hat jemand Französisch und Spanisch gewählt, ((…)) gut (.) und szweide isch wir haben hier Leude und da müssen auch die durch die Spanisch abwählen isch mir scheiß egal ((..)) die eine Aussprache haben (.) ich hab manch mal, ohne Witz und ich behaupt ich kann (.) ich kenn schon echt schlechtes Spanisch hä ((ironisch)); aber (.) ich hab manchmal schon echt nicht verstanden was ihr wollt ((..)) nur von der Aussprache her (.) wen ich Eure Notizen gesehen hab war des gut aber (.) von der Sprache her (.) isch es peinlich und da sind wir wohl auch so im Vergleich mit den Paraklassen nicht besonders gut. Welche Norm(en) finden Sie hier wieder und wie wird sie von der Lehrperson relevant gesetzt? Wie werden die beiden romanischen Sprachen Französisch und Spanisch ins Verhältnis gesetzt? Wie, denken Sie, kommt diese Aussage der Lehrperson bei den Lernenden an? Wie kommt es wohl überhaupt zu dieser Aussage? Nachdem nun einige zentrale Normen des Fremdsprachenunterrichts genannt wurden, kann die Frage aufkommen, wie sich diese Normen im Gesamtzusammenhang bewer‐ ten lassen. Auf diese Frage kann keine pauschale Antwort gegeben werden, da es stark vom Standpunkt (z.B. Standpunkt von Forschenden der Fremdsprachendidaktik 2.4 Normen des Fremdsprachenunterrichts und deren Implikationen für die Professionalisierung 91 <?page no="93"?> und Bildungsminister: innen) abhängt, von dem diese Bewertung gegeben wird. Um diese standortabhängige Bewertung nicht in den Vordergrund unserer Ausführungen zu stellen, geht es uns hier nicht um die Bewertung der Norm im engeren Sinne, also der Frage, ob wir jetzt eine bestimmte Norm gut oder schlecht finden. Es geht uns an dieser Stelle zunächst um den Umgang mit eben diesen Normen. Konkret bedeutet diese Bewertung des Umgangs, dass in der Praxis selbst, z.B. in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts, die Reflexion der Normen (siehe Kapitel 2.3.4), die Kommunikation mit den Betroffenen (d.h. z.B. den Lernenden) über die Normen und das Aushalten von Ungewissheit bei widersprüchlichen Normen bewertet werden kann (siehe Kapitel 2.1). Hierbei können als hilfreiche Meta-Theorien die praxeologisch-wissenssoziologi‐ sche oder auch die strukturtheoretische Professionstheorie angeführt werden (siehe Kapitel 2.1). Ein Kernmerkmal pädagogischer Professionalität ist, wie oben schon beschrieben, der Umgang mit Ungewissheit sowohl im strukturtheoretischen wie im praxeologisch-wissenssoziologischen Bestimmungsansatz von Professionalität, da die Struktur des pädagogischen Handelns als Lehrperson durch Antinomien gekenn‐ zeichnet ist, die nicht aufzulösen sind. So soll eine Lehrperson beispielsweise einen inklusionsorientierten und differenzierenden Umgang mit den Schüler: innen zeigen, gleichzeitig muss eine Lehrperson die Lernenden bewerten und übt dadurch unmittel‐ bar selektierende Praktiken auf die Schüler: innen aus. Wie oben schon angerissen, ist ein Bewusstsein für die widersprüchlichen Anforderungen nötig, nämlich hier: die des inklusionsorientierten Umgangs vs. die Norm der selektierenden Bewertung. Nur auf Basis der Reflexion der Normen können diese wiederum im Sinne des praxeologisch-wissenssoziologischen Ansatzes mit allen an der Interaktion Beteilig‐ ten (z.B. den Schüler: innen oder Lehrpersonen) ausgehandelt werden (vgl. Püster 2021, Bohnsack et al. 2022). In der Abwägung und Bewusstmachung (z.B. durch Rekonstruktionen) des eigenen - oftmals unbewussten, d.h. impliziten - Umgangs mit den Normen, sollten im professionstheoretischen Sinne die Kontextfaktoren der Beteiligten mit einbezogen werden. Konkret würde das bedeuten, dass die Spannung zwischen Bewertung und inklusivem Anspruch mit den Schüler: innen besprochen und darauf basierend eine von den Schüler: innen mitbestimmte Form von Bewertung bzw. Prüfung ausgehandelt und durchgeführt wird. Auch wenn damit die Ungewissheit einhergehen würde, ob sowohl die Anforderung eines inklusiven Umgangs als auch die Anforderung an eine objektive Bewertung tatsächlich gänzlich erfüllt wird, so ist eben diese Ungewissheit in der Aushandlung der Normen Kern von pädagogischer Professionalität und letztlich pädagogischer Arbeit im weitesten Sinne. Denn: Dass Normen eine große Wirkmächtigkeit haben, ist klar - auch außerhalb der Schule. Wenn wir die Chance nutzen, sie offenzulegen und mit derselben Offenheit mit allen Betroffenen zu diskutieren, erarbeiten wir uns eine pädagogische Kultur in einem von widersprüchlichen Normen geprägten Fremdsprachenunterricht. Diese Kultur würde es ermöglichen, gemeinsam mit Lernenden Unterricht zu gestalten - und zwar entlang 92 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="94"?> einer kritischen Grundorientierung. Und dieser widmen wir uns (noch ausführlicher) im nächsten Kapitel. Forschung im Fokus: Exemplarische Arbeiten in der rekonstruktiven For‐ schung in der Fremdsprachendidaktik Gardemann, Christine (2021): Literarische Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe I: Eine Mixed Methods-Studie mit Hamburger Englisch‐ lehrer*innen. Die Autorin erforscht in ihrer Arbeit die Verwendung von Literatur durch Englischlehrkräfte im Rahmen der LITES-Studie mit rund 400 Teilnehmenden und bedient sich dabei einer Mixed-Methods-Methodik. Sie kombiniert eine Umfrage mit einer rekonstruktiven und qualitativen Untersuchung von vier Lehrkräften, die mittels der Dokumentarischen Methode ausgewertet wird. Die Untersuchung offenbart, dass Lehrbücher den Englischunterricht maßgeblich strukturieren und als verborgenes Curriculum fungieren. Zudem zeigt sich, dass das didaktische Potenzial von Literatur im Englischunterricht häufig ungenutzt bleibt, da die Interessen der Lernenden nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die Analyse verdeutlicht außerdem, wie stark das handlungsleitende Wissen der Lehrkräfte die Bildungsfunktion von Literatur im Fremdsprachenunterricht prägt. Bonnet, Andreas/ Hericks, Uwe (2020b): Kooperatives Lernen im Englisch‐ unterricht. Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule. Das Werk basiert auf einer dreijährigen Studie, bei der vier Lehrer: innen ihre Un‐ terrichtserfahrungen dokumentierten und reflektierten. Der Unterricht wurde videografiert und die Entwicklung der Sprachkompetenz der Schüler: innen durch C-Tests gemessen. Der professionstheoretische Teil der Studie zeigt, dass kooperatives Lernen im Englischunterricht auf verschiedene Weise umgesetzt wird und dass dabei sowohl Chancen als auch Hindernisse auftreten. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass die Routine des lehrbuchsowie leistungsorien‐ tierten Unterrichts oft im Widerspruch zu den Prinzipien kooperativen Lernens steht. Trotz dieser Spannungen wird deutlich, dass kooperatives Lernen das Potenzial hat, die Sprachkompetenz der Schüler*innen zu fördern und ihre aktive Teilnahme am Unterricht zu erhöhen. Wilken, Anja (2021): Professionalisierung durch Schüler*innen-Mehr‐ sprachigkeit? Englischlehrer*innen im Spannungsfeld zwischen Habitus und Norm. Diese qualitativ-rekonstruktive Interviewstudie erforscht das implizite, hand‐ lungsleitende Wissen von Englischlehrer: innen im Umgang mit Mehrsprachig‐ keit. Trotz ihrer eigenen biographischen Erfahrungen zeigt sich, dass institutio‐ 2.4 Normen des Fremdsprachenunterrichts und deren Implikationen für die Professionalisierung 93 <?page no="95"?> nelle Normen, wie die in dieser Studie identifizierte Korrektheitsnorm, den Einbezug der sprachlichen Fähigkeiten der Schüler: innen erschweren. Die Hal‐ tung der Lehrpersonen gegenüber dieser Norm und ihr Umgang mit Korrektheit verdeutlichen das Spannungsverhältnis zwischen Norm und Habitus, in dem sie sich befinden. Dieses Spannungsverhältnis wird aus professionstheoretischer Sicht untersucht und diskutiert. Tesch, Bernd/ Grein, Matthias (2023): Normen und Praktiken des fremd‐ sprachlichen Klassenzimmers. Der Alltag des Französisch- und Spanisch‐ unterrichts im Kontext von Bildungsreformen und gesellschaftlichem Wandel. Diese Studie fokussiert ebenfalls Normen und Alltagspraktiken im romanischen Fremdsprachenunterricht. Hierzu werden Normen der Fremdsprachendidaktik mit dem Alltagshandeln im Spanisch- und Französischunterricht verglichen, in‐ dem Unterricht videografiert und Logiken der Praxis durch die Dokumentarische Methode rekonstruiert und typisiert werden. Die Teilnehmenden wurden in vier Bundesländern an neun Schulstandorten akquiriert und untersucht. Es werden u.a. der Umgang mit der Norm der funktionalen Einsprachigkeit, mit der Norm der Leistung und dem Umgang mit Feedback und Arbeitsaufträgen. 94 2 (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung <?page no="96"?> 3 Kritische Fremdsprachendidaktik There’s no such thing as neutral education. Edu‐ cation either functions as an instrument to bring about conformity or freedom. Paulo Freire (1996: 34) In diesem Kapitel In diesem Kapitel wird das Konzept einer Kritischen Fremdsprachendidaktik darge‐ stellt, um die kritisch-politische Dimension von Fremdsprachenlernen zu verstehen und darauf zu reagieren. Hierbei stehen die folgenden Fragen im Mittelpunkt: • Was ist eine Kritische Fremdsprachendidaktik? • Warum ist eine Kritische Fremdsprachendidaktik relevant für den Fremd‐ sprachenunterricht? • Welche Erkenntnisse zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik gibt es schon? • Inwiefern möchte man als Lehrperson eine machtkritische Haltung im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik im Fremdsprachenunterricht einnehmen? Wie können Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik im Fremdspra‐ chenunterricht praktisch umgesetzt werden? Ein kritisches „Momentum“ besteht schon lange in der internationalen Fremdsprachen‐ didaktik bzw. der angewandten Linguistik. Pennycook (1999) aus der Perspektive der angewandten Linguistik, Norton/ Toohey (2004) mit dem Fokus auf sozialen Wandel oder auch Kumaravadivelu (2003, 2006), den wir oben schon im Zusammenhang mit der soge‐ nannten post-methodischen Ära des Fremdsprachenunterrichts erwähnt haben, betonen allesamt seit mindestens zwei Jahrzehnten die Notwendigkeit, das Fremdsprachenlernen pädagogisch-kritischer und kontextsensibler zu gestalten. Für den deutschen Raum wurde die Idee einer Kritischen Fremdsprachendidaktik von Gerlach (2020a) in Anlehnung an die gerade genannten, internationalen, primär sprachdidaktischen Forschungsarbeiten zu Critical Pedagogy und Critical Literacy geprägt (vgl. z.B. Crookes 2009, 2013). Das Konzept zielt darauf ab, Ungleichheiten speziell im Fremdsprachenunterricht machtkritisch zu perspektivieren und zu hinterfragen und dadurch zu verändern und zu reduzieren. Dies ist besonders vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Sprache, Kultur und Macht essentiell, da durch eine machtunkritische Haltung im Fremdsprachenunterricht Diskriminierungen (durch Sprache) produziert und reproduziert werden können. Hierbei ist besonders wichtig, gemeinsam mit den Schüler: innen zu analysieren, „wenn vorgegebene Skripte und Handlungsweisen einem ideologischen Zweck dienen“ (Gerlach 2020a: 25), um diese auf Basis der Analyse gemeinsam zu verändern. Diese Analyse und Transformation <?page no="97"?> von Machtungleichheiten im Fremdsprachenunterricht soll Schüler: innen zu mündigen Bürger: innen bilden, die aktiv die Zukunft in einer machtbewussten und -sensiblen Weise insbesondere auf sprachlicher Ebene gestalten wollen (vgl. ebd.). Die Fremdsprache und die darin genutzten Medien (zum Beispiel Filme oder Literatur) können die Möglichkeit eröffnen, in einem geschützten Rahmen (Safe Space) über sensible Themen zu sprechen und diese einzuordnen. Bei sprachlichen Schwierigkeiten können selbstverständlich auch die L1 bzw. andere lebensweltliche oder Umgebungssprachen genutzt werden. Im Folgenden möchten wir beschreiben, wie die Kritische Fremdsprachendidaktik diese Ansprüche von (transformatorischer) Bildung (siehe Kapitel 1.3) erfüllen könnte. Begriffsbestimmung: Kritische Fremdsprachendidaktik Eine Kritische Fremdsprachendidaktik vergegenständlicht die Kommunikation und Interaktion im fremdsprachlichen Klassenzimmer zur Förderung sozialer und demo‐ kratischer Verantwortung, zur Reflexion sozialer Ungleichheit, zum respektvollen Miteinander und zum pflichtbewussten Handeln. (Gerlach 2020a: 24) Ziele einer Kritischen Fremdsprachendidaktik: • Reflexion und Transformation von sprachlich-kulturellen Ungleichheiten, • machtkritische Interaktion im Fremdsprachenunterricht insbesondere zwi‐ schen Lehrperson und Schüler: innen, • Kontextorientierung, Förderung einer machtkritischen Haltung insbesondere gegenüber sprach‐ lich-kulturellen, aber auch gesellschaftlichen Ungleichheiten und Formen von Benachteiligung. 3.1 Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik Reflexionsaufgabe Nehmen Sie sich einen Moment und überlegen Sie, was Sie unter einer Kritischen Fremdsprachendidaktik in Bezug auf Ihren Unterricht verstehen. Beantworten Sie danach die folgenden Fragen: • Warum interessieren Sie sich für eine Kritische Fremdsprachendidaktik? • Was ist für Sie eine Kritische Fremdsprachendidaktik? Welche Situationen aus Ihrem Unterricht kommen Ihnen in den Kopf, wenn Sie an eine Kritische Fremdsprachendidaktik denken? 96 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="98"?> • Warum denken Sie genau an diese Situationen? • Welche Vorbehalte haben Sie gegenüber einer Kritischen Fremdsprachendi‐ daktik? Oben haben wir schon erläutert, dass bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in der Fremd‐ sprachendidaktik vor allem die Frage nach dem effizienten Lernen von Fremdsprachen im Mittelpunkt stand. In den letzten 20 Jahren nehmen sowohl in internationalen wie auch deutschen Kontexten die Diskussionen rund um Fragen des interbzw. transkulturellen Lernens, der fremdsprachlichen Diskursbewusstheit oder jüngst einer machtkritischen Perspektive auf fremdsprachliche Gegenstände und Praxen zu (vgl. Gerlach 2020a: 9, Marxl/ Römhild 2023). Begriffsbestimmung: Machtkritik Machtkritik bezeichnet die systematische und theoretisch fundierte Untersu‐ chung und Hinterfragung von Machtstrukturen und Machtverhältnissen in ver‐ schiedenen gesellschaftlichen Kontexten. Sie analysiert die Mechanismen, durch die Macht ausgeübt und legitimiert wird, und deckt die sozialen, politischen und ökonomischen Dynamiken auf, die zur Aufrechterhaltung von Ungleichheiten und Hierarchien beitragen. Ziel der Machtkritik ist es, nicht nur das Verständnis von Machtprozessen zu vertiefen, sondern auch Wege zu finden, diese kritisch zu hinterfragen und zu transformieren, um eine gerechtere Gesellschaft zu fördern (vgl. Foucault 1978, Butler 2006). Diese Abkehr von einem rein funktionalistischen und transmissionsorientierten Verständnis des Fremdsprachenunterrichts (siehe auch Kapitel 1.2) begründet sich zum einen dadurch, dass den kulturellen und sprachlichen Gegenständen des Fremd‐ sprachenunterrichts latent innewohnt, dass sie in der Gesellschaft verbreitete bzw. verankerte Machtungleichheiten, Stereotype und Diskriminierungen reproduzieren, wenn sie nicht reflektiert und verändert werden. Zum anderen zielt dieses bildende und pädagogische Verständnis von Fremdsprachenunterricht darauf ab, strukturelle Ungleichheiten durch die Mitwirkung der Lernenden an sprachlichen Diskursen abzubauen - sowohl innerhalb des Klassenzimmers als auch außerhalb. In ihrer theoretischen Fundierung führt Gerlach (2020a) eine Kritische Fremdsprachendidaktik in ihrem Grundsatz auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule zurück mit ihrer neomarxistisch-sozialkritischen Perspektive und dem Anspruch der Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Ziel der Kritischen Theorie ist es, Unterdrückungs- und Herrschaftsmechanismen in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufzu‐ decken und damit Bürger: innen zu ermächtigen, eine mündige Haltung gegenüber Autoritäten einzunehmen. Aus den ursprünglichen Prinzipien der Kritischen Theorie 3.1 Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik 97 <?page no="99"?> speisen sich die Konzepte Critical Literacy und Critical Pedagogy, die als grundlegend für eine Kritische Fremdsprachendidaktik erachtet werden können (siehe Abbildung 9). Critical Literacy und Critical Pedagogy im heutigen Verständnis wurden maßgeblich durch Paulo Freire, einen brasilianischen Pädagogen, und durch sein Buch Pedagogy of the Oppressed (1970, 1996) beeinflusst. Die Ideen von Freire und wie sie gerade in postkolonialen wie auch in nordamerikanischen Kontexten rezipiert wurden, sind die zentralen Säulen der Kritischen Fremdsprachendidaktik. Gut zu wissen: Die Pädagogik von Paulo Freire Paulo Freire war ein brasilianischer Pädagoge und Philosoph (1921-1997). Er hinterlässt mit der Pedagogy of the Oppressed (1970, 1996) ein bedeutendes Erbe in der kritischen Pädagogik, in dem er seine Ansichten über Bildung und gesellschaftliche Transformation darlegt. Die Grundidee von Paulo Freires Pädagogik basiert auf der Vorstellung, dass Bildung ein Mittel zur Befreiung und Emanzipation der Unterdrückten sein kann. Er kritisiert das traditionelle Bildungssystem, das er als „Banking-Modell“ bezeichnet, in dem Lehrende als Wissensvermittler: innen und Lernende als passive Empfänger: innen des Wissens betrachtet werden. Stattdessen propagiert Freire einen dialogischen und partizipativen Ansatz, der auf folgenden Prinzipien basiert: 1. Dialogische Bildung: Bildung sollte als dialogischer Prozess verstanden werden, bei dem Lehrende und Lernende miteinander in einen offenen und respektvollen Dialog treten. Dieser Austausch fördert kritisches Denken und gemeinsames Lernen. 2. Kritisches Bewusstsein und Bewusstseinsbildung (Conscientizaç-o): Ein zentrales Konzept in Freires Pädagogik ist die Bewusstseinsbildung conscientizaç-o, bei der Lernende sich sozialer, politischer und ökonomischer Bedingungen bewusst werden. Diese Bewusstwerdung ermöglicht es ihnen, ihre Realität kritisch zu reflektieren und zu verändern. 3. Problem-Posing-Methode: Anstelle der traditionellen Belehrungsmetho‐ den („banking model of education“) schlägt Freire die „Problem-Posing-Me‐ thode“ vor, bei der Bildung durch die Untersuchung realer Probleme und Fragestellungen erfolgt. Lernende werden ermutigt, Fragen zu stellen, Hy‐ pothesen zu bilden und Lösungen zu erarbeiten, die ihre Lebenswelt betreffen (vgl. für das Fremdsprachenlernen mit jüngeren Schüler: innen: Nelson/ Chen 2023). 4. Praxis: Freires Konzept der Praxis umfasst die Wechselwirkung von Refle‐ xion und Handeln. Bildung sollte nicht nur theoretisches Wissen vermitteln, sondern auch zur praktischen Umsetzung und Veränderung in der Gesell‐ schaft führen. 98 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="100"?> Paulo Freires Pädagogik zielt darauf ab, die Lernenden als aktive Subjekte in ihrem Bildungsprozess zu sehen, die durch kritisches Denken und kollektives Handeln ihre eigene Realität transformieren können. Seine Ideen haben weltweit Einfluss auf Bildungsreformen genommen und inspirieren weiterhin Pädagog: in‐ nen, die soziale Gerechtigkeit und Emanzipation durch Bildung anstreben. Abbildung 9: Elemente einer Kritischen Fremdsprachendidaktik (Gerlach 2020a: 26). Literaturempfehlung: Kritische Fremdsprachendidaktik: Grundlagen, Ziele, Bei‐ spiele (Gerlach 2020c) David Gerlachs Sammelband Kritische Fremdsprachendidaktik: Grundlagen, Ziele, Beispiele (Gerlach 2020c) setzt sich mit der Erweiterung und kritischen Reflexion von fremdsprachendidaktischen Ansätzen auseinander. Der Band versammelt Bei‐ träge verschiedener Autor: innen, die sich mit den theoretischen Grundlagen sowie der praktischen Anwendung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik befassen. Ziel ist es, den Fremdsprachenunterricht nicht nur als Ort der Vermittlung von Sprachkompetenz, sondern auch als ein Medium der kritischen kulturellen und sozialen Reflexion zu verstehen, das zur Förderung von kritischem Handeln und gesellschaftlicher Teilhabe beitragen kann. Die Beiträge in Gerlachs Sammelband behandeln eine Reihe von zentralen Themen im Lichte einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. Die Beiträge gehen auf mögli‐ che Unterrichtsinhalte im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik ein (vgl. König 2020, Leonhardt/ Viebrock 2020a, Matz 2020, Merse 2020), diskutieren die Di‐ 3.1 Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik 99 <?page no="101"?> gitalisierung für eine kritische Unterrichtsgestaltung (vgl. Blume/ Reinhardt 2020, Steininger 2020), skizzieren Herausforderungen der praktischen Umsetzung (vgl. Bonnet/ Hericks 2020a, Plikat 2020) sowie die Möglichkeiten für die Fremdspra‐ chenlehrer: innenbildung (vgl. Abendroth-Timmer 2020, Gerlach/ Fasching-Varner 2020, Schart 2020). Reflexionsaufgabe Nehmen Sie sich einen Moment und reflektieren Sie die nachfolgenden Fragen: • Auf welchen Ebenen in Ihrem Unterricht spielt Macht eine Rolle? • Wie blicken Sie auf die Machtverteilung in Ihrem Unterricht? • Welche Instrumente kennen Sie, um Machtgefüge in Ihrem Unterricht zu durchbrechen? • Welche Instrumente nutzen Sie, um Machtgefüge in Ihrem Unterricht zu verändern? Und warum? Wenn Macht und Diskriminierung durch Sprache bzw. sprachliches Handeln vermittelt werden, brauchen Lernende ein Werkzeug, um dies zu entlarven. Critical Literacy kann als solches verstanden werden: Es nutzt einen breiten Text‐ begriff, der (dis)kontinuierliche Texte in der Breite, Bilder sowie Filmmaterial, Social Media-Posts oder beispielsweise Werbung mit einschließt. Breidbach et al. (2014: 91) schreiben einleitend: “For a person to be critically literate means, in a broad sense, that she or he is able to take a step back from the obvious, from what is perceived as normal, from established practices with regard to the use of language.” Die kritische Distanz zum Gegenstand ist ein Kern Kritischer Fremdsprachendidaktik, das „Normale“ zu hinterfragen. Aber Critical Literacy geht noch einen Schritt weiter, wie Luke (2014) definiert: Begriffsbestimmung: Critical Literacy The term critical literacy refers to use of the technologies of print and other media of communication to analyze, critique and transform the norms, rule systems and practices governing the social fields of institutions and everyday life. (Luke 2014: 21) Neben der kritischen Distanz geht es also darum, den Status Quo, das Normale, die Normen zu verändern. Bei der Analyse, Kritik und Veränderung von Texten werden im Sinne der Critical Literacy besonders Machtungleichheiten adressiert, die auf strukturelle gesellschaftliche Verhältnisse zurückgehen. Zudem wird Text in seinem breiten Verständnis als nicht neutral angesehen, weil dieser in bestimmten politischen 100 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="102"?> und historischen Kontexten publiziert wurde. Deshalb gilt ein Text im Sinne von Critical Literacy als ein Abbild der Welt, in dem sich gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren. Insbesondere in der internationalen fremdsprachendidaktischen For‐ schung ist Critical Literacy ein relevantes Konstrukt, beispielsweise auch als Bestandteil von Multiliteracies Education (vgl. Breidbach et al. 2014, Gironzetti et al. 2020, Kalantzis et al. 2019, Vasquez et al. 2019). Für die Anwendung von Critical Literacy im Fremd‐ sprachenunterricht gibt es eine hinreichende Anzahl an methodischen Zugängen (siehe Kapitel 3.4), denen ein methodisch-didaktischer Dreischritt zugrunde liegt: 1) Benennung von Ungleichheiten, 2) Reflexion der Ursachen dieser Ungleichheiten und 3) Veränderung dieser Ungleichheiten. Es lassen sich also Fragen an Texte stellen z.B. von (Nicht-)Repräsentation, Machtverhältnissen, die Rollen von Kontexten, Personen oder Themen. Critical Literacy ist damit auch eine dialogische Praxis, die Fragen und Antworten aufwirft, entwickelt und weiterspinnt. Critical Pedagogy hat - im Gegensatz zu Critical Literacy - eine weniger sprachkri‐ tische Akzentuierung und rückt insbesondere das Handeln in den Mittelpunkt (siehe auch Abbildung 9). In der Unterrichtspraxis kann dies z.B. eine Analyse der machtkri‐ tischen Struktur mit Blick auf Schüler: innen-Lehrer: innen-Interaktionen sein oder das Handeln von Personen in einer Lektüre. Daneben geht es in der Critical Pedagogy aber insbesondere um die Thematisierung sozialer Praktiken, die über das Klassenzimmer und den Fremdsprachenunterricht hinausgehen und gesellschaftspolitische Relevanz haben (vgl. Akbari 2008a). Sie steht in engem Zusammenhang mit der Freire’schen Pädagogik (siehe oben) und sucht im Kern nach Möglichkeiten zur Partizipation und transformatorischer Bildung - und setzt sich damit ebenso für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung ein. Nach Crookes (2013) kann Critical Pedagogy wie folgt definiert werden: Begriffsbestimmung: Critical Pedagogy Critical pedagogy is teaching for social justice, in ways that support the development of active, engaged citizens who will, as circumstances permit, critically inquire into why the lives of so many human beings, including their own, are so materially (and spiritually) inadequate, be prepared to seek out solutions to the problems they define and encounter, and take action accordingly. (Crookes 2013: 77) International wird Critical Pedagogy als ein wichtiger Ansatz für die fremdsprachen‐ didaktische Forschung und Lehrer: innenbildung erachtet, der einer Dehumanisierung von Schule entgegenwirken soll. In Deutschland finden Critical Literacy und Criti‐ cal Pedagogy zunehmend Anknüpfung an den Forschungsdiskurs besonders in der Englischdidaktik. Hier konzentriert sich die Forschung bisher vor allem auf die unter‐ richtspraktische Umsetzung von Critical Literacy und Critical Pedagogy und weniger auf die empirische Forschung von Critical Literacy und Critical Pedagogy besonders 3.1 Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik 101 <?page no="103"?> in der Lehrer: innenbildung (vgl. Gerlach/ Lüke 2023b, für empirische Forschung siehe z.B. Thorbecke 2022, Louloudi 2023 und Lüke 2024a). In der folgenden Informationsbox wird der Stand der Forschung zu Critical Pedagogy und Critical Literacy überblicksartig skizziert. Forschung im Fokus: Kritische Fremdsprachendidaktik (Critical Language Pedagogy) Die Forschung zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik konzentriert sich im internationalen Raum seit über 25 Jahren besonders auf die Konstrukte Critical Literacy und Critical Pedagogy (vgl. Porto 2022; für einen Überblick siehe Crookes 2021). Insbesondere in postkolonialen Kontexten (z.B. Südafrika, Australien oder Pakistan) und langsam auch in der Fremdsprachenforschung im deutschen Raum haben sie als Konstrukte an Bedeutung gewonnen (vgl. Gerlach 2020a). Während in den 70er und 80er-Jahren besonders Grundlagenessays, Materialbeispiele und kleinere Fallstudien verfasst wurden, nahmen in den 90er und 00er-Jahren die theoretischen Abhandlungen zu einer Critical Language Pedagogy zu (vgl. Crookes 2021). Erst ab der Jahrtausendwende nehmen die theoretischen und empirischen Arbeiten zu, wenngleich sich die Studien zumeist anfänglich als Fallstudien mit besonderem Fokus auf die Lehrkräftebildung herausstellen. Bis heute zeigt sich eine starke Dominanz von qualitativen Studien, die nur durch einige wenige quantitative Arbeiten durchbrochen wird (z.B. Leal 2018). Seit den letzten zwanzig Jahren nehmen die Arbeiten zu einer Critical Language Pedagogy deutlich zu, indem ein besonderes Augenmerk auf die Lehrkräftebil‐ dung, Lehrpläne und Materialentwicklung gelegt wird. Auch werden Themen wie Rassismus oder geschlechtliche Identität relevanter (vgl. Crookes 2021). Eine mögliche Erklärung dieser wachsenden Relevanz von Arbeiten im Rahmen einer Critical Language Pedagogy seit der Jahrhundertwende könnte darin liegen, dass Bildungssysteme auf globaler Ebene verschiedenen kulturellen, digitalen, sozialen und politischen Umbrüchen ausgesetzt wird, die die Ökonomisierung des Bildungs- und Schulsystems und auch des Fremdsprachenunterrichts be‐ günstigen. So ist beispielsweise eine Lehrwerkorientierung charakteristisch, die Lehrpersonen eher zu passiven Vermittler: innen macht als zu transformativen Systemkritiker: innen, sodass Ungleichheiten z.B. in den Lehrwerken und durch sie potenziell verstärkt werden (vgl. Akbari 2008b, Bonnet/ Hericks 2020b, Ge‐ rlach/ Lüke 2024). Um der Reproduktion von sozialen und gesellschaftlichen Ungleichheiten entgegenzuwirken, wie z.B. der zunehmenden Armut oder Ras‐ sismus, müssen daher im Sinne von Critical Literacy und Critical Pedagogy soziale Ungleichheiten im Unterricht thematisiert und verändert werden (vgl. Akbari 2008a). Eine besondere Relevanz kommt dem Fremdsprachenunterricht zu, weil hier gesellschaftliche Machtgefüge durch das sprachliche und kulturelle Lernen unmittelbar adressiert werden können (vgl. Breidbach et al. 2014). 102 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="104"?> Im Hinblick auf die - vornehmlich internationale - Forschung zu Critical Literacy und Critical Pedagogy können verschiedene Forschungsstränge ausgemacht wer‐ den. So wenden sich Arbeiten der machtkritischen Materialentwicklung (vgl. z.B. Gray 2013), der post-methodischen Pädagogik (vgl. z.B. Kumaravadivelu 2006) oder dem Zusammenhang zwischen Neoliberalisierung und Dehumanisierung von Schule zu (vgl. z.B. Block/ Gray 2016). Weitere zentrale Schwerpunkte, die sich mittlerweile auch im deutschen Raum herauskristallisieren, sind Überlegun‐ gen zur unterrichtspraktischen Umsetzung von Critical Literacy und Critical Pedagogy (vgl. z.B. Gerlach/ Lüke 2023b) oder wie in diesem Buch Überlegungen zu einer kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung (vgl. z.B. Gray 2019, Gerlach/ Fasching-Varner 2020, Louloudi 2024, Lüke 2024a, siehe auch das Projekt Critical Spanish Language Teacher Education = CRITERION). Derichsweiler (2023) leitet theoretisch-konzeptionell her, wie gesellschaftliche Heterogenität und polarisierte Debatten im Sinne eines widerstandsbegrüßenden Fremdsprachen‐ unterrichts besonders mit Schwerpunkt auf Literatur im Englischunterricht behandelt werden können. Wenn nun die Kritik an und die Veränderung von gesellschaftlichen Ungleichheiten das zentrale Moment einer Kritischen Fremdsprachendidaktik bzw. der Ansätze Critical Literacy und Critical Pedagogy sind, so stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen diese Kritik und die Veränderungen im Kontext des Fremdsprachenunterrichts geschehen sollen. Im Folgenden werden daher drei Ebenen angesprochen, wobei ausschließlich die erste (der Fremdsprachenunterricht und seine Gegenstände) und die zweite Ebene (die Struktur des Fremdsprachenunterrichts) genuin fremdsprachendidaktisch sind und durch die Lektüre der Arbeiten zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik abgedeckt sind. Die dritte Ebene ist wiederum eine, die das Schul- und Bildungssystem adressiert und damit eine eher schulpädagogische und systemkritische Position einnimmt. Diese dritte Ebene wird im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik nicht direkt adressiert, gleichwohl muss sie als Rahmen im Sinne von Kontextsensibilität (siehe Kapitel 2.2.3) ständig mitgedacht werden, wenn die Prinzipien und Ansätze, die wir im Folgenden näher beleuchten möchten, innerhalb dieser Ebene natürlich geschehen und umgesetzt werden. Man könnte argumentieren, dass größere Veränderungen wie das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und soziale Umbrüche insgesamt nur möglich sind, wenn diese dritte Ebene des Schul- und Bildungssystems sich grundsätzlich ändert (und an dieser Argumentation mag viel dran sein). Allerdings geht es uns an dieser Stelle und im Rahmen dieses Studienbuches zunächst einmal um die einer kritischen Lehrkraft unmittelbarer zugänglichen Ebenen: Und das sind zum einen die Gegenstände und Themen, denen wir uns im Unterricht widmen, und zum zweiten die Art und Weise, wie wir Unterricht und die Interaktionen mit Lernenden gestalten. Auf der unterrichtlich-inhaltlichen Ebene (= Mikroebene) geht es darum, Inhalte und Materialien multiperspektivisch und machtkritisch auszuwählen oder bestehende 3.1 Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik 103 <?page no="105"?> Gegenstände in den Unterricht einzubringen und/ oder entsprechend zu verändern. So können z.B. Materialien, die gesellschaftskritische Themen umreißen (z.B. Rassis‐ mus, Sexismus oder Klassismus), eingesetzt, analysiert oder machtkritisch genutzt werden. Das Ziel ist hier insbesondere die Förderung eines kritischen Bewusstseins der Lernenden durch die Beschäftigung mit kritischen, gesellschaftlich relevanten oder gar tabuisierten Themen (vgl. Gerlach 2020a; siehe auch Kapitel 3.4). Um diese Mikroebene zu adressieren, ist wiederum ein Rahmen nötig, in dem z.B. Schüler: innen den Fremdsprachenunterricht aktiv mitgestalten und verändern können, sodass die interaktiven Machtgefüge im Fremdsprachenunterricht selbst reduziert werden (= Mesoebene). Diese Mesoebene stellt dementsprechend das eigentliche Handeln aller am Unterricht Beteiligten (also Lehrende wie Lernende) in den Vordergrund. Auf dieser Ebene könnte gefragt werden, wie das Verhältnis der Lehrperson zu den Lernenden ist: Ist es geprägt von Angst, Respekt, Zuwendung? Wie wird der Unterricht (gemeinsam) gestaltet? Dies tangiert Fragen eines kontextsensiblen Fremdsprachenunterrichts (vgl. Gerlach/ Leupold 2019; siehe auch 2.2.2). Zu Diskussionen auf dieser Ebene könnte beispielsweise ein an die Lernenden angepasster Umgang mit Prüfungen im Fremd‐ sprachenunterricht gehören oder auch der reflektierte und transparente Umgang mit fremdsprachlichen Normen, wie z.B. die funktionale Einsprachigkeit, die in einem machtkritischen Setting gemeinsam mit den Schüler: innen ausgehandelt werden. Es ist für diese Ebene also zentral, die Interaktionsprozesse in den Vordergrund zu rücken. Auf dieser Ebene spielt weniger eine Rolle, was der Gegenstand ist, sondern wie er im Unterricht ausgehandelt wird. Während die Interaktionsprozesse im Unterricht und die Gestaltung derselben stark von Schüler: innen und Lehrer: innen abhängen, betreffen die oben angesprochene Frage des Umgangs mit Prüfungen (insbesondere Vergleichs- oder Abschlussprüfun‐ gen) sowie generell alle stärker strukturell verankerten Aspekte (auch z.B. die Frage, welches Lehrwerk eingesetzt wird) die dritte Ebene (Makroebene). Hier braucht es strukturelle Veränderungen im Schul- und Bildungssystem, die u.a. die Lehrkräftebil‐ dung, die Standardisierungszwänge in Schulen oder auch die Lehrpläne tangieren. Zudem erscheint wichtig, die Gründe für das Bestehen aktueller Strukturen und Systeme zu hinterfragen. Und mit dieser systemkritischen Ebene werden natürlich bil‐ dungspolitische Maßnahmen adressiert, die global - wie Block/ Gray (2016) attestieren - auf eine zunehmend neoliberale Bildungspolitik zurückzuführen sind. Reflexionsaufgabe: Politisch-ökonomische Debatten in der Lehrkräftebildung Bevor Sie weiterlesen, möchten wir Sie bitten, die folgenden Fragen aus dem Zitat für sich mit Notizen zu beantworten: • “Why should teachers be concerned with the political economy of schooling under global capitalism and the new imperialism? 104 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="106"?> • How can they recognize the decisive role they play in the ensuing battle between labor and capital? • Why should teachers be troubled with the growing class polarization and the maquiladorization of the global economy? ” (Farahmandpur 2009: 111) Der Begriff „maquiladorization“ ist hier übrigens sehr interessant: „Als Maquila‐ doras oder auch Maquilas werden die Fabriken bezeichnet, die von multinationa‐ len Unternehmen im mexikanischen Grenzsaum entlang der US-amerikanischen Grenze angesiedelt werden. In oft primitiven Fertigungshallen werden aus import‐ ierten Vorprodukten Konsumgüter für die zollfreie Wiedereinfuhr in die USA oder auch für den Weltmarkt hergestellt.“ (Ellrich 2004) Mit „maquiladorization“ ist im Zitat oben daher die Ausbreitung solcher Unternehmen weltweit gemeint, die durch den Kapitalismus getrieben werden und soziale Arbeits- und Marktbedin‐ gungen drastisch reduzieren. Gut zu wissen: Neoliberalismus als Ursache für die Dehumanisierung von Bildung und Fremdsprachenunterricht Wie Block/ Gray (2016) am Beispiel der Fremdsprachenlehrkräftebildung in Groß‐ britannien aufzeigen, nimmt die Marktorientierung in Form des Neoliberalismus in Bildungseinrichtungen und im Fremdsprachenunterricht zu. Neoliberalismus ist eine wirtschaftliche und politische Ideologie und eine Weiterführung des Kapitalismus, bei dem die freie Marktwirtschaft gefördert wird und staatliche Eingriffe in wirtschaftliche Fragen reduziert werden sollen. Durch Neoliberalis‐ mus wird die Maximierung von Profit als essentiell betrachtet, wodurch die Konkurrenz z.B. zwischen Schulen oder nationalen Bildungssystemen wächst. Hierdurch entsteht die Idee von Bildung als Ware, weshalb Schulen und Bildungs‐ institutionen wie Unternehmen konkurrieren und die Effizienz von Maßnahmen entgegen sozialer und menschlicher Interessen in den Vordergrund stellen (vgl. ebd.). In einem marktorientierten Fremdsprachenunterricht wird die Sprache als reines Werkzeug betrachtet, um bestimmten, insbesondere wirtschaftlichen Zielen, für den späteren Arbeitsmarkt zu dienen. Der soziale und kulturelle Kontext der Fremdsprache ist dabei untergeordnet, sodass strukturelle Ungleichbehandlun‐ gen von Schüler: innen kaum thematisiert werden, außer wenn sie wirtschaftli‐ chen Interessen nützen. Mit Blick auf Fremdsprachenlehrpersonen zeigt die Fokussierung auf Effizienz und deren Messbarkeit (z.B. durch zunehmend standardisierte Prüfungen), wie von den Autoren exemplarisch an der Englischlehrer: innenbildung in Großbri‐ tannien festgemacht wird, dass Lehrpersonen durch die Neoliberalisierung zu reinen Dienstleister: innen werden, die Inhalte möglichst effizient vermitteln 3.1 Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik 105 <?page no="107"?> sollen. Eine kritische, machtsensible und kontextorientierte Haltung von Fremd‐ sprachenlehrpersonen, kurzum: eine pädagogische Haltung, verliert an Relevanz (vgl. ebd.). Hierdurch finden auch andere Lehrmethoden und Herangehenswei‐ sen Eingang in den Unterricht, wie z.B. eine textbook-defined practice oder eine zunehmende Prüfungsorientierung (vgl. Akbari 2008b, Gerlach/ Lüke 2024; siehe auch Bonnet/ Hericks 2020b). Das folgende Modell in Abbildung 10 veranschaulicht die genannten Ebenen mit beispielhaften Aspekten für die jeweiligen Ebenen. Abbildung 10: Ebenen der Kritik einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. Auch wenn die Makroebene strukturelle Veränderungen des Schul- und Bildungssys‐ tems umfasst und damit größere Veränderungen einhergehen als durch einen praktisch bzw. thematisch/ interaktiv veränderten Fremdsprachenunterricht, so reichen diese nicht aus. Vielmehr argumentieren wir und plädieren dafür, dass alle Ebenen in dem Modell gleichermaßen verändert werden sollten (vgl. Gerlach 2020a). Wir möchten mit diesem Studienbuch zunächst auf den beiden unteren Ebenen beginnen, denn dies sind die Ebenen, auf die Sie als Lehrperson einen unmittelbaren Einfluss haben: Sie können entscheiden, welche Gegenstände und Inhalte Sie in Ihrem Unterricht einsetzen und wie Sie die Struktur des Unterrichts sowie die Interaktionen mit Ihren Lernenden gestalten. Sie arbeiten dabei gleichwohl gegen Normen des Fremdsprachenunterrichts und des Schulsystems an (siehe Kapitel 2.4), denen Sie sich bewusst sein bzw. werden 106 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="108"?> können. Wir werden uns später in Kapitel 5 der Frage widmen, wie man sich unter diesen Bedingungen (trotzdem) als kritische Fremdsprachenlehrperson verstehen und entwickeln kann. Im nachfolgenden Kapitel beschäftigen wir uns zunächst einmal damit, was kritisch an einer Kritischen Fremdsprachendidaktik sein könnte. Literaturempfehlung: Social Justice and the Language Classroom (Ortaçtepe Hart 2023) Social Justice and the Language Classroom von Deniz Ortaçtepe Hart beschreibt, wie soziale Gerechtigkeit im Sinne einer Social Justice Education in den Sprachun‐ terricht integriert werden kann. Das Buch fordert Lehrkräfte auf, systemische Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und bietet praktische Werkzeuge wie Reflexi‐ onsaufgaben und Unterrichtsbeispiele. Es behandelt Themen wie soziale Klasse, Rassismus und Gender, und verbindet verschiedene theoretische Ansätze, um kritisches Bewusstsein und reflektierendes Handeln bei Lehrkräften zu fördern. Literaturempfehlung: Critical Applied Linguistics: A Critical Reintroduction (Pen‐ nycook 2021) Critical Applied Linguistics: A Critical Reintroduction von Alastair Pennycook (2021) ist eine stark überarbeitete Neuauflage seines (fast) gleichnamigen, zwanzig Jahre zuvor erschienenen Buches und bietet eine tiefgreifende und umfassende Neube‐ wertung des Feldes der angewandten Linguistik aus einer kritischen Perspektive. Pennycook, ein führender Forscher in der kritischen angewandten Linguistik, untersucht die Verbindungen zwischen Sprache, Macht und Gesellschaft und fordert eine ständige Reflexion und Neubewertung dieser Beziehungen. Der Autor untersucht, wie Sprache soziale Ungleichheiten und Machtstrukturen reflektiert und reproduziert und beleuchtet dabei Themen wie Kolonialismus, Queer-The‐ orie, Rasse, Gender, Translanguaging und Posthumanismus. Er ruft dazu auf, angewandte Linguistik als soziale Praxis zu verstehen, die aktiv zu sozialen Veränderungen beitragen kann. Die Implikationen, mit denen sich Pennycook auseinandersetzt, betreffen sowohl die Disziplinen der angewandten Linguistik und der (Fremd-)Sprachenforschung, aber auch die Gestaltung von (Fremd-)Spra‐ chenunterricht. 3.1 Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik 107 <?page no="109"?> 3.2 Kritik an der Kritik Wie verschiedene Rezensionen, Artikel oder Buchbeiträge zeigen (vgl. z.B. Funk 2024), gibt es durchaus Kontroversen rund um die Umsetzung einer Kritischen Fremd‐ sprachendidaktik im Fremdsprachenunterricht. Bevor die Kontroversen und Kritiken thematisiert und diskutiert werden, interessieren wir uns hier zunächst einmal für Ihre ganz persönliche Haltung gegenüber einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. Reflexionsaufgabe Bevor Sie nun weiterlesen, bitten wir Sie, die folgenden Reflexionsfragen zu beantworten: • Inwiefern sind die Grundlagen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, die im vorherigen Kapitel beschrieben wurden, für Ihren Fremdsprachenunterricht relevant? • Welche Probleme kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik denken? • Welche Chancen sehen Sie bei der Umsetzung einer Kritischen Fremdspra‐ chendidaktik in Ihrem Fremdsprachenunterricht? • Wie fühlen Sie sich als Lehrperson bei der Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik? Sollte das Konzept einer Kritischen Fremdsprachendidaktik mit Blick in die Praxis verändert werden? Wenn ja, wie? Nachdem Sie nun die Reflexionsfragen hinsichtlich der Kritikpunkte an einer Kriti‐ schen Fremdsprachendidaktik für sich beantwortet haben, schließt sich nun eine Debattensektion an, in der die Kritikpunkte an einer Kritischen Fremdsprachendidaktik und kritischen Lehrer: innenbildung von anderen Forschenden zusammengebracht werden. Mit Blick auf die Frage der Neutralität von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen an sich und der damit einhergehenden Kritik an einer Kritischen Fremdsprachendidaktik und der damit einhergehenden politischen Haltung im Unterricht verweisen wir auf das Kapitel 4.4. Eine erste Kritik an dem Konzept der Kritischen Fremdsprachendidaktik stammt von Bonnet/ Hericks (2020a) im Sammelband Kritische Fremdsprachendidaktik (Gerlach 2020c) selbst. Bonnet und Hericks machen diesen Punkt sehr klar und kritisieren eine Kritische Fremdsprachendidaktik insofern, als dass diese sich primär über die Gegenstände definiere. Das stimmt auch insofern, als dass sich eine Kritische Fremdsprachendidaktik zunächst einmal den Themen widmen möchte, die dazu ge‐ führt haben, dass Fremdsprachenunterricht unkritisch geworden ist und wenig gesell‐ schaftsrelevante Aspekte integriert, wenn rein das Vermitteln sprachlicher Fertigkeiten dominiert. Was aber ebenso stimmt, ist, dass ein kritischer Fremdsprachenunterricht sich zudem mit den beteiligten Personen auseinandersetzen muss, dass also in der 108 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="110"?> Tat die Interaktionen und die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden eine bedeutende Grundvoraussetzung ist für eine Konzeption von Fremdsprachenunterricht, der Bildungspotenzial hat. Auch geben die Autoren zu bedenken, dass die normative, d.h. bewertende Set‐ zung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik dazu führen könnte, dass Lehrpersonen (noch) weniger autonom agieren und dadurch in noch mehr Standardisierungszwänge geraten (siehe Kapitel 2.4). Bei einer kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung und Kritischen Fremdsprachendidaktik sollte es jedoch - wie von Bonnet und Hericks hervorgehoben und oben schon kurz angedeutet - weniger um das „Was“, d.h. die Be‐ schränkung auf „kritische“ Themen, sondern vielmehr um das „Wie“, d.h. den Umgang mit den kritischen Themen, gehen. Konkret bedeutet dies für die Unterrichtspraxis, dass Lehrpersonen nicht mehr oder andere Inhalte thematisieren, sondern bei den bestehenden Inhalten eine machtkritische Haltung einnehmen sollten. Eine weitere Kritik liefert Funk (2024: 52) in seiner Rezension: Um die Ironie aufzugreifen: Den Verfasser*innen sei zu wünschen, dass sie sich nicht in die Hände von Absolventen einer „kritischen Chirurg*innenausbildung“ oder „kritischer Pilot*innen“ begeben müssen, die in der Ausbildung selbstkritische Diskursfähigkeit, aber wenig handwerkliche Kompetenz erworben haben. Das Risiko handwerklicher Fehler liegt eben vor allem bei den Betroffenen, in unserem Fall bei den Schülerinnen und Schülern, um deren Bedürfnisse es ja im pädagogischen Prozess gehen soll. Belege für die Behauptung, dass in Konzepten multikultureller Bildung lokale und persönliche Bedürfnisse von Lernenden nicht genügend berücksichtigt würden, fehlen. Die Gegenbelege sind in Theorie und Praxis zahlreich. Aus diesem Zitat lassen sich die folgenden Kritikpunkte herauslesen: • Indem eine Kritische Fremdsprachendidaktik in der fremdsprachlichen Lehrkräf‐ tebildung und im Fremdsprachenunterricht relevant gesetzt werde, könne die Ausbildung der Lehrkompetenz von Lehrpersonen und der Sprachkompetenz der Lernenden vernachlässigt werden. • Die Vernachlässigung der Lehrkompetenz von Lehrkräften und der Sprachkompe‐ tenz von Schüler: innen von seiten der Fremdsprachendidaktik wird als gefährlich dargestellt, indem hier der Vergleich zu Chirurg: innen und Pilot: innen gezogen wird, welche bei vermeintlich fehlendem Handwerkszeug Menschen töten können. • Dass im Bereich des kulturellen Lernens die lokalen und persönlichen Bedürfnisse von Lernenden nicht repräsentiert seien, wie von einer Kritischen Fremdsprachen‐ didaktik kritisiert, könne nicht belegt und sogar widerlegt werden. Um die ironische Argumentation des Verfassers in Bezug zu Chirurg: innen und Pilot: in‐ nen aufzugreifen, ist zuerst einmal festzustellen, dass das Fehlen (macht-)kritischer Perspektiven, z.B. antirassistischen oder (queer-)feministischen, in der Ausbildung von Chirurg: innen, Ärzt: innen und Pilot: innen in der Tat Leben gefährden kann: 3.2 Kritik an der Kritik 109 <?page no="111"?> Als ein Beispiel für die lebensgefährdende rassistische und sexistische Diskriminie‐ rung im Gesundheitssektor kann die hohe Sterblichkeitsrate von Schwarzen Müttern gelten, die durch das MBRRACE-UK-Programm belegt wird, welches u.a. durch die Universität Oxford in Großbritannien durchgeführt wird, um die Sterblichkeitsraten von Müttern zu untersuchen. Als Gründe für die hohe Sterblichkeitsrate werden soziale Benachteiligung und Vorurteile angeführt, weil z.B. die Schwangerschaftsvorsorge nicht in Anspruch genommen wird (oder werden kann) und die Mütter zudem in ihren Bedürfnissen nicht ernst genommen werden (vgl. University of Oxford/ Oxford Population Health NPEU o.J., Deutschlandfunk 2024). Weitere Beispiele für rassistische und sexistische Diskriminierungen im Gesundheitswesen sind zum einen die fehlende Erkennung von Hautkrankheiten bei Schwarzen Patient: innen, weil in Lehrbüchern fast ausschließlich weiße Personen mit Krankheitsbildern abgebildet sind (vgl. NDR 2022). Zum anderen werden bei Frauen neben anderen Krankheiten Herzinfarkte häufig nicht erkannt, da diese andere Symptome als Männer zeigen und die männliche Symptomatik die Norm darstellt (vgl. Ärzteblatt 2016, Criado-Perez 2019). Mit Blick auf die von Funk angesprochene Profession der Pilot: innen (wobei man eher von Piloten sprechen könnte) werden Genderperspektiven vermutlich tatsächlich kaum als relevant erachtet, weil sich in Deutschland im Jahr 2022 nur knapp 6,9 Prozent der Pilot: innen überhaupt als weiblich identifizieren (vgl. Bocksch 2022). Als kleine Anekdote soll hier noch ein persönliches Beispiel ergänzt werden: Eine Chirurgin, die in einer Klinik arbeitet, sich vor einiger Zeit von ihrem Partner getrennt hatte und zum Karneval gehen wollte, wurde von ihrer Vorgesetzten in einer Teambesprechung mit den folgenden Worten verächtlich gemacht: „Wenn Sie jetzt zum Karneval gehen, dann fallen Sie in neun Monaten sicherlich aus.“ Diese sexistische Diskriminierung sowie weitere rassistische Diskriminierungen, die in diesem Kontext auftraten, führten dazu, dass sich die äußerst kompetente Chirurgin nun nach einer neuen Anstellung umsieht und die Klinik in Zeiten des Ärzt: innenmangels dadurch eine wichtige Mitarbeiterin verliert und somit die Versorgung von Patient: innen gefährdet wird. In der Hoffnung, dass die Relevanz von machtkritischen Perspektiven in den Professionen der Chirurg: innen, Ärzt: innen und Pilot: innen durch die beschriebenen Beispiele, Fakten und Anekdoten deutlich wird, möchten wir zurück zur Fremdspra‐ chendidaktik finden. So ließe sich die Kritik des Rezensenten umdrehen durch die These: Pilot: innen, Ärzt: innen und Chirurg: innen könnten sich sicherlich besser auf ihre Arbeit rund um das Leben von Menschen konzentrieren, wenn sie sich machtkritische Perspektiven bereits in der Schule und im Fremdsprachenunterricht angeeignet hätten. Dadurch würden sie eine machtkritische Grundhaltung als Basis in ihrem Handeln betrachten und durch ihre Ausbildung hindurch in ihre Profession hereintragen, möglicherweise sogar Bemühungen anstoßen, die rassistische oder sexistische Struk‐ turen im Gesundheitssektor abbauen. Dies wird von dem Rezensenten jedoch nicht in Betracht gezogen. Die scharf kritisierte Vernachlässigung der „handwerklichen 110 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="112"?> Kompetenz“ reduziert das Fremdsprachenlernen auf rein funktionale, technologisierte Kompetenzen, die Schule und Fremdsprachenunterricht zu einem entpolitisierten und Emotionen aberkennenden Raum machen, der in einer (noch) demokratischen Gesell‐ schaft nicht haltbar ist. Besonders weil Macht in Sprache inhärent ist, Lehrmaterialien Diskriminierungen beinhalten, Zugänge zur Sprachbildung sehr ungleich verteilt sind, Sprachen unterschiedliches Prestige haben oder auch die Hierarchie (z.B. zwischen Lernenden und Lehrperson) für das gelingende Sprachenlernen beachtet werden muss, ist eine Kritische Fremdsprachendidaktik und damit einhergehend eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung wichtig. Auch die Behauptung, dass kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht doch lokale und individuelle Perspektiven der Lernenden mit einbeziehe, kann mit Blick insbesondere auf neuere Beiträge aus der Disziplin nicht aufrechterhalten werden (vgl. z.B. Güllü/ Gerlach 2023, Vernal Schmidt et al. 2024). Empirische Belege für den Einbezug dieser lokalen, individuellen Perspek‐ tiven der Lernenden liefert Funk nämlich nicht, vielmehr zeigen Lehrwerkanalysen eher Tendenzen in die gegensätzliche Richtung (siehe Kasten „Kritische Analyse von Lehrwerken“ in Kapitel 3.4). Schließlich kritisiert Funk (2024: 52) die Ausblendung vorheriger einschlägiger fremdsprachendidaktischer Arbeiten in die Theoriebildung einer Kritischen Fremd‐ sprachendidaktik: Der Entwurf einer grundsätzlich anderen Fremdsprachendidaktik mit Bezug auf die Kriti‐ sche Theorie, die Verbindung des sozialwissenschaftlichen Begriffs der kommunikativen Kompetenz nach Habermas mit den Positionen der linguistischen Pragmatik und kritischen pädagogischen Positionen sowie der Didaktik offener Curricula gelang zuerst und vor allem Hans-Eberhard Piepho in seiner einflussreichen Schrift von 1974 zur kommunikativen Kompetenz im Englischunterricht, die im Literaturverzeichnis des Herausgebers fehlt. Sie war begleitet von einer grundsätzlichen Neubewertung des Übungsgeschehens, das die Lernenden als Individuen mit Interessen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellte. Sie führte zu heftigen Kontroversen mit Bildungsverwaltungen und einer weitgehend konservativen Philologenschaft. Die Folge waren u. a. die Gründung systemkritischer Fachzeitschriften wie „Lingua e Nuovo Didattica“ (LEND) in Italien oder „Englisch-Amerikanische Studien“ (EAST) in Deutschland und kritischer Fachverbände wie der „Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule“. Nur wer die Fachdidaktik dieser Zeit ausblendet oder nicht kennt, kann mit dem Anspruch der Begründung einer neuen Fremdsprach[en]didaktik in direkter Folge der Kritischen Theorie auftreten. Wer sich auf die intellektuelle Flughöhe der Begründung einer neuen Theorie des Fremdsprachenunterrichts begibt, sollte von dort einen guten Überblick über die langen Flüsse der Fachentwicklung haben. 3.1 Kritik an der Kritik 111 <?page no="113"?> Gut zu wissen: Kernthesen aus Hans-Eberhard Piephos (1974) Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht Hans-Eberhard Piepho argumentiert in seinem 1974 erschienenen Werk Kom‐ munikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht, dass das Hauptziel des Englischunterrichts darin bestehen solle, die kommunikative Kompetenz der Lernenden zu fördern. Piepho kritisiert die traditionelle Sprach‐ didaktik, die sich primär auf Grammatikvermittlung und Wortschatzerwerb konzentriert, und schlägt stattdessen eine didaktische Neuorientierung vor, bei der die Fähigkeit zur effektiven und vor allem angemessenen Kommunikation im Vordergrund steht. Piepho definiert kommunikative Kompetenz als die Fähigkeit, sich in unter‐ schiedlichen sozialen Kontexten sprachlich korrekt und situationsangemessen ausdrücken zu können. Dazu gehören nicht nur die Beherrschung der sprachli‐ chen Strukturen, sondern auch das Wissen um die sozialen Regeln der Kommu‐ nikation. Piepho betont die Notwendigkeit, den Unterricht stärker auf solche authentischen Kommunikationssituationen auszurichten und die Lernenden aktiv in die Sprachverwendung einzubinden. Piephos Konzept der kommunikativen Kompetenz hat die Sprachdidaktik nach‐ haltig beeinflusst und zur Entwicklung des kommunikativen Ansatzes beigetra‐ gen, die heute in vielen modernen Lehrplänen und Lehrwerken verankert ist. Sein Werk stellt einen wichtigen Schritt in der Entwicklung einer praxisorientierten Sprachlehr- und lernforschung dar, die den tatsächlichen Sprachgebrauch in den Mittelpunkt stellt. Auch heutige Fokussierungen auf Diskursbewusstheit und Diskursfähigkeit (siehe Kapitel 3.3) stehen in dieser Tradition. Obwohl zugegebenermaßen eine explizite Referenz zu Piepho im Zusammenhang mit der theoretischen Konzeption einer Kritischen Fremdsprachendidaktik fehlt, so knüpft sie doch an Hallets (2008) Diskursbegriff an, der immerhin auf Piephos The‐ orie zur kommunikativen Kompetenz zurückgeht (vgl. Gerlach 2020a: 9). Dennoch sehen wir eine Erweiterung dieses diskurs- und kommunikationstheoretischen An‐ satzes als dringend notwendig an, weil eine machtkritische Perspektivierung des Fremdsprachenunterrichts bis dato durch solch einschlägige Konzepte wie das der kommunikativen Kompetenz keinen hinreichenden Eingang in den Fremdsprachen‐ unterricht gefunden hat (vgl. auch die Argumentation von Marxl/ Römhild 2023). Dies ist daran festzumachen, dass verschiedene Arbeiten (siehe Kapitel 2.4, 3.1, 4.1, 6.1) Machtungleichgewichte sowohl in der Fremdsprachenlehrkräftebildung als auch im Fremdsprachenunterricht selbst empirisch dokumentieren. Nachdem nun ausführlich mehrere Kritikpunkte an einer Kritischen Fremdspra‐ chendidaktik aufgegriffen und diskutiert wurden, vertieft das nachfolgende Kapitel 112 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="114"?> die Verortung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik im Forschungsdiskurs der Fremdsprachendidaktik. Gut zu wissen: Die Frage von „Unterrichtsqualität“ unter den Prämissen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik Weiter oben in Kapitel 1.2 zum Beruf der Fremdsprachenlehrer: in haben wir schon kurz Qualitätskriterien angesprochen, die sowohl für die Gestaltung von gutem (Fremdsprachen-)Unterricht aufgestellt werden können (vgl. Lohe et al. 2024) wie auch für gute (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung. Dies passt in Diskurse um eine kompetenztheoretische Bestimmung von Professionalität (Kapitel 2.1.2) oder eine Standardorientierung hinsichtlich lehrpersonenseitiger Kompetenzen, die wir weiter unten nochmal kritisch würdigen werden (Kapitel 4.2). Für die Entwicklung von Qualität im Fremdsprachenunterricht fragt Crookes (2020), „good for what? “ (ebd. 26), und möchte sensibilisieren für eine bildungs- und werteorientierte Qualitätsentwicklung entlang der Prinzipien von Critical Pedagogy. Er argumentiert, dass z.B. auf Teilhabe und Mitbestimmung ausgerich‐ teter Fremdsprachenunterricht auch bedeuten dürfte, dass sich die Qualität der Lernendenprodukte an sich verbessert. Die systematische Analyse der Bedürf‐ nisse der Lernenden (etwas, das Freire bereits in seinen Alphabetisierungspro‐ grammen in Lateinamerika konsequent umsetzte) und die darauf aufbauende Gestaltung von Sprachunterricht spiegelt die Idee von Wygotskys Zone proxi‐ maler Entwicklung (1978) wider und lässt sich als inhärent kompetenzorientiert verstehen. Einzig die Situation von Sprachlehrpersonen sieht er - allerdings aus einer vorrangig internationalen Perspektive von Prekarisierung - als prob‐ lematisch an für die Umsetzung kritischen Fremdsprachenunterrichts. Aber auch in unserem Bildungssystem mit einer hohen Unterrichtsverpflichtung - im Gegensatz zu vielen anderen Ländern - scheint die professionelle Autonomie von Lehrpersonen eingeschränkt und dürfte damit ebenfalls einen (negativen) Einfluss auf Unterrichtsentwicklung und -qualität haben. 3.3 Das Verhältnis von Kritischer Fremdsprachendidaktik zu weiteren aktuell relevanten Konzepten Beim Lesen der Grundprinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik werden Ih‐ nen Aspekte aufgefallen sein, die durchaus mit bekannten fremdsprachendidaktischen Prinzipien vereinbar sind, wie z.B. der Förderung von inter- oder transkultureller Kompetenz, von Bildung für nachhaltige Entwicklung oder Global Education. Wir möchten daher im Folgenden Überschneidungspunkte und Parallelen, aber auch Unterschiede kurz zusammenfassend vorstellen. 3.3 Das Verhältnis von Kritischer Fremdsprachendidaktik zu weiteren aktuell relevanten Konzepten 113 <?page no="115"?> In den meisten Lehrplänen und Curricula herrscht weiterhin die Idee von interkul‐ tureller kommunikativer Kompetenz im Sinne Byrams (1997, 2021) vor. Diese ist - nicht zuletzt aufgrund ihrer Implementation in den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (Council of Europe 2020) - weit verbreitet und zielt letztlich darauf ab, Menschen zu befähigen, in interkulturellen Kontexten angemessen zu kommunizieren. Hierbei sind das Wissen über und die Einstellungen gegenüber der eigenen und anderen Kulturen, Fertigkeiten zum Entdecken und Verstehen kultureller Referenzen sowie die Entwicklung eines kritischen, kulturellen Bewusstseins bedeutsam. Byram hat die Bedeutung der Reflexion der eigenen kulturellen Situiertheit herausgestellt, aus der heraus wir mit Werten, Referenzen, Sprecher: innen und Artefakten der „anderen Kultur“ in Austausch treten. Mit diesem Verständnis geht eine Idee von Kulturen als abgeschlossene, in sich homogene Entitäten einher, die sich antithetisch gegenüber‐ stehen, indem die eigene Kultur mit einer vermeintlich anderen verglichen wird. Auch wenn Byram in der Neuauflage seines Buches 2021 diese Kritik aufgegriffen hat und er den Kulturbegriff als nicht derart statisch betrachtet, ist - wie so oft - die Rezeption einer Idee oder eines Modells das Problem: Die Art und Weise, wie interkulturelle kommunikative Kompetenz in Unterrichtsmaterialien und Lehrwerken aufgegriffen wurde, führt nicht selten zu einer deutlichen Engführung des Kulturbegriffs und damit zu Stereotypisierungen (vgl. z.B. Vernal Schmidt et al. 2024). Dies ist kritisiert und zugunsten einer Idee von transkultureller kommunikativer Kompetenz (vgl. Blell/ Doff 2014) erweitert worden: Die Autorinnen stellen heraus, dass der Kulturbegriff zuneh‐ mend fluider geworden ist und ganz sicherlich nicht mehr auf Gebiete oder Nationen eingegrenzt gedacht werden kann. Vielmehr entwickelt sich kulturelle Identität auf ganz individueller Ebene beständig durch die Einflüsse von Globalisierung, techno‐ logischen Entwicklungen, Mobilität sowie Migration. Sie erweitern daher Byrams Modell von interkultureller kommunikativer Kompetenz um Bestandteile wie „globales Wissen“ oder auch „border literacies“, um diesen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Durch diese Entwicklungen kommen andere Themen in einem auf Transkulturalität angelegten Fremdsprachenunterricht zur Sprache, was durchaus eine Nähe zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik aufweist. Aber auch bereits die Reflexion der eigenen kulturellen Identität und Verfasstheit ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt, welcher in Lehrwerken allerdings selten aktiv eingefordert wird. Letztlich hebt jedoch die Fluidität von transkultureller Kompetenz einen Kultur‐ begriff noch nicht gänzlich auf; auch Aspekte wie soziale Klasse oder Milieu können mit einer machttheoretischen Brille hier noch nicht adressiert werden. Aus diesen Gründen wird zunehmend die Idee von „Diskursfähigkeit“ oder „Diskursbewusstheit“ in den Fremdsprachendidaktiken diskutiert, da diese einen stärker reflexiv-diskursiven Kulturbegriff zugrunde legen (wenn überhaupt; siehe dazu auch die Diskussionen in König et al. 2022). Den Begriff der Diskursfähigkeit hat Hallet (2008) im Anschluss an das diskurs- und machttheoretische Konzept von Foucault sowie die Grundlagen von Piepho (1974) für die deutsche Fremdsprachendidaktik weiterentwickelt und geprägt. Das Konstrukt 114 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="116"?> berücksichtigt bereits Entwicklungen von einem Leben in einer globalisierten und digitalisierten Welt mit den entsprechenden Anforderungen an Lernende. Plikat (2017) setzt sich grundlegend kritisch mit der interkulturellen Kompetenz auseinander und argumentiert mit Diskursbewusstheit aus stärker sozialphilosophischer und macht‐ kritischer Perspektive, welche gleichzeitig anschlussfähig ist an eine der zentralen Kompetenzen, die im Fremdsprachenunterricht gefördert werden sollen: nämlich Sprachbewusstheit. Er argumentiert zusätzlich mit unterschiedlichen theoretischen Konstrukten, die auch für einen pädagogisch bzw. kritisch orientierten Fremdspra‐ chenunterricht zentral sind, nämlich die Idee von transformatorischer Bildung sowie die Vergegenständlichung von Machtstrukturen in Diskursen. Kultur an sich spielt hier vordergründig keine Relevanz mehr, sondern wird ersetzt durch eine gewisse rechtsstaatliche Perspektive, die global vor dem Hintergrund universeller Menschen‐ rechte gespannt wird. Auch Marxl und Römhild (2023) argumentieren für diese Hintergrundfolie als gemeinsamen Wertekompass, wenn sie ein Konzept „kritischer Diskursfähigkeit“ ausdiskutieren. Forschung im Fokus: Kritische Diskursfähigkeit (Marxl/ Römhild 2023) Der Beitrag von Anika Marxl und Ricardo Römhild (2023) diskutiert die Bedeutung der kritischen Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht und argumentiert für eine zweigleisige Vorgehensweise. Erstens sollten Lernende ein Bewusstsein für Diskursstrukturen entwickeln, das die Fähigkeit umfasst, Machtstrukturen zu erkennen, die eigene Position zu reflektieren und Fakten von Meinungen zu unterscheiden. Zweitens wird vorgeschlagen, Menschenrechte als normative Basis zu nutzen, um eine wertorientierte Reflexion und kritische Partizipation an Diskursen zu fördern. Diese kritische Diskursfähigkeit soll nicht nur funktionale kommunikative Fähigkeiten vermitteln, sondern auch eine tiefere, kritische Auseinandersetzung mit sprachlichen und sozialen Strukturen ermöglichen, um die Lernenden zu aktiven und reflektierten Teilnehmer: innen globaler Diskurse zu machen. Abschließend werden praktische Umsetzungs‐ möglichkeiten im Unterricht und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen, fächerübergreifenden Förderung dieser Fähigkeiten betont. Diese Art von Diskursfähigkeit ist sehr gut in Einklang zu bringen mit den Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, die die Machtförmigkeit von Sprache genauso adressiert wie transformatorische Bildung. Die Menschenrechte als Wertekompass sind in der Kritischen Fremdsprachendidaktik (bislang) noch nicht in der Konsequenz ver‐ treten. Soziale Gerechtigkeit entsteht entlang einer Kritischen Pädagogik situativ und kontextbezogen, wird also regelmäßig ausgehandelt. Dass die Idee von universellen Menschenrechten - je nach Thema oder Konflikt - als Orientierung dienlich sein kann, ist naheliegend. Charmant an den Konstrukten von „(kritischer) Diskursbewussheit“ 3.2 Das Verhältnis von Kritischer Fremdsprachendidaktik zu weiteren aktuell relevanten Konzepten 115 <?page no="117"?> sowie „(kritischer) Diskursfähigkeit“ ist, dass sie als Kompetenz strukturiert werden können, die im Unterricht gefördert werden kann. Die Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik mag - anders als die obigen Konstrukte - unterrichtspraktisch noch nicht so weit fortgeschritten sein, zumindest nicht im deutschsprachigen Raum. Im Vergleich zur kritischen Diskursbewusstheit und -fähigkeit zielt eine Kritische Fremdsprachendidaktik jedoch noch auf eine strukturell-gesellschaftliche Ebene ab, die sowohl bildungspolitische als auch gesellschaftspolitische Strukturen tangiert. Aus diesem Grund stellen wir später in Kapitel 5 noch Unterrichtsbeispiele sowohl in didaktischer als auch methodischer Perspektivierung vor, bei denen Diskursfähigkeit eine bedeutende Rolle spielen wird. Die oben schon angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen, die tendenziell ein Abrücken von interkulturellem Lernen einleiten und stärker globale Themen als bildungsrelevant setzen, zielen als Global Education darauf ab, Lernende auf die Herausforderungen und Chancen einer vernetzten und interdependenten Welt vor‐ zubereiten - „[i]n addition to competences such as interand transcultural competence“ (Kroschewski 2015: 121). So fördert z.B. „critical diversity competence“ (ebd.) ein tiefes Verständnis und Bewusstsein für globale Themen wie Menschenrechte, kulturelle Vielfalt, nachhaltige Entwicklung, Frieden und soziale Gerechtigkeit. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen, sondern ebenfalls um die Entwicklung von Kompetenzen, Einstellungen und Werten, die für ein verantwortungsvolles und aktives globales Bürger: innenbewusstsein notwendig sind, woher auch der Begriff der Global Citizenship rührt. Das damit einhergehende Moment von Partizipation und Zusammenarbeit ist in Teilen in Deckung zu bringen mit Ideen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. Insbesondere die Idee von (sozialer) Transformation kommt bei Themen von Global Education deutlicher durch als es z.B. Diskursfähigkeit oder Diskursbewusstheit vermögen. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE, UN 2015) als zentrales Konzept und Ziel der Vereinten Nationen hat viel gemein mit Ideen von Global Education und fokussiert dabei auf 17 konkrete Nachhaltigkeitsziele, welche sowohl sozial als auch naturwissenschaftlich, global als auch lokal gesehen werden können. Literaturempfehlung: Bildung für nachhaltige Entwicklung im Englischunterricht. Grundlagen und Unterrichtsbeispiele (Surkamp 2022) Der Sammelband Bildung für nachhaltige Entwicklung im Englischunterricht he‐ rausgegeben von Carola Surkamp (2022), zeigt, wie der Englischunterricht zur Förderung von BNE-Kompetenzen beitragen kann. Er richtet sich an Lehramtss‐ tudierende, Referendar: innen und Fremdsprachenlehrkräfte und bietet sowohl theoretische Grundlagen als auch praktische Unterrichtsbeispiele. Das Buch erklärt die Bedeutung von BNE und die Rolle des Englischunterrichts zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele. Ein Modell, das aus den fachspezifisch ausdifferenzierten Dimensionen Erkennen, Bewerten und Handeln besteht, hilft, 116 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="118"?> die Komplexität von BNE-Themen für den Unterricht zu strukturieren. Es werden konkrete Unterrichtsbeispiele gegeben, wie etwa das Ziel „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ (SDG 11) Gegenstand im Englischunterricht werden kann, innovativ methodisch unterfüttert durch Ansätze wie Hackathons zur Stadtgestaltung und Schulgartenprojekte. Insgesamt betont der Sammelband, dass Fremdsprachenun‐ terricht nicht nur Sprachkenntnisse, sondern auch kritisches Denken und aktive Teilnahme an der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft fördern sollte. BNE teilt damit zahlreiche mögliche Themenfelder einer Kritischen Fremdsprachendidaktik (siehe unten) und hat unmittelbare Relevanz für Heranwachsende. Allerdings sind die Nach‐ haltigkeitsziele als Themen auch vorgegeben (weil: politisch gewollt) sowie auf einer stark individuellen Ebene verortet, und ergeben sich damit nicht notwendigerweise organisch aus den unmittelbaren Kontexten der Lernenden (obwohl der Lebensweltbezug didaktisch natürlich immer hergestellt wird). Es scheint jedoch ganz häufig, dass die Verantwortung für Wandel primär den Lernenden überlassen wird, statt grundsätzlich im machttheoretischen Sinne Kritik an Strukturen, Institutionen und Unternehmen zu äußern (vgl. z.B. Weselek 2022). Hier wäre folglich ein Unterschied zu den Prinzipien von Critical Pedagogy, welche auch aktives Handeln des Individuums vorsehen, aber immer mit dem primären Ziel von Kritik, um Strukturen zu verändern. Ein weiterer Ansatz, der Ähnlichkeiten zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik aufweist, ist die politische Bildung, die bislang in nur wenigen Publikationen (z.B. Grünewald 2017, Kuhn 2019) Eingang in die Fremdsprachendidaktik gefunden hat. Je nach Auslegung des Konstrukts der politischen Bildung kann dieses entweder als informelle politische Sozialisation oder als intendierte schulische oder außerschulische politische Bildung gesehen werden, die im zweiten Fall entweder im Fach Politik oder als überfachliches Prinzip umgesetzt werden kann (vgl. Kuhn 2019). Insbesondere die Auslegung von politischer Bildung als überfachliches Prinzip weist viele Ähnlichkeiten zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik auf: So zielen sowohl eine Kritische Fremd‐ sprachendidaktik als auch politische Bildung darauf ab, gesellschaftliche Werte und Normen zu diskutieren, Machtmechanismen sowohl in den Inhalten (Gegenständen) als auch in der Bearbeitungsweise zu entlarven und gleichzeitig Machtgefüge zu ver‐ ändern (vgl. Fäcke et al. 2017). Dennoch - und hier ist ein grundlegender Unterschied - verfolgt eine Kritische Fremdsprachendidaktik nicht das primäre Ziel, politisches Fachwissen über Institutionen oder politische Prozesse zu vermitteln (vgl. Kuhn 2019), obwohl es für bestimmte Themenfelder gleichwohl eine nötige Voraussetzung sein kann. Auch scheint die Gewichtung von Sprache als Gegenstand der Kritik im Rahmen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik deutlich ausgeprägter zu sein als in der politischen Bildung. Zusammenfassend lässt sich argumentieren, dass interkulturelle kommunikative Kom‐ petenz das Wissen über und die Reflexion der eigenen und zielsprachlichen Kulturen betont, um angemessene Kommunikation in interkulturellen Kontexten zu ermöglichen. 3.2 Das Verhältnis von Kritischer Fremdsprachendidaktik zu weiteren aktuell relevanten Konzepten 117 <?page no="119"?> Transkulturelle Kompetenz erweitert diese Perspektive um die fluiden und individuellen Aspekte kultureller Identität in einer globalisierten Welt. Dieser Ansatz, der globale Themen wie Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit integriert, steht in engem Zusammenhang mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, die ebenfalls soziale Transformation und Machtstrukturen thematisiert, bleibt jedoch in seiner Anwendung auf den Fremdsprachen‐ unterricht bei der Betrachtung von Kulturen als weitgehend geschlossenen, antithetischen Entitäten stehen. Diskursbewusstheit und Diskursfähigkeit gehen einen Schritt weiter, indem sie die Reflexion von Machtstrukturen und die Fähigkeit zur kritischen Partizipa‐ tion an globalen Diskursen fördern. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und politische Bildung ergänzen diese Ansätze, indem sie konkrete Nachhaltigkeitsziele und gesellschaftliche Werte und damit unmittelbar soziale Gerechtigkeit in den Fokus rücken, was auch im Rahmen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik relevant ist. Dennoch wird in einer Kritischen Fremdsprachendidaktik - anders als in der politischen Bildung - nicht zwangsläufig Wissen über politische Systeme oder Prozesse vermittelt. Gleichwohl könnte dies nötig werden an Stellen, an denen dieses domänenspezifische Wissen relevant wird für eine machtkritische Perspektive. Gleiches gilt für Global Education und BNE: Die global und lokal relevanten Themen beider Konzepte erfordern Wissen über die jeweils betrachteten Gegenstände. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die sozialen Auswirkungen globaler Erwärmung oder die gesellschaftlichen Implikationen von Gendergerechtigkeit lassen sich nur verstehen, wenn die dahinterliegenden Prinzipien (möglicherweise auch aus einer historischen Perspektive) verstanden wurden und diese dann - je nach Kontext oder Ebene, je nach Institution oder Zielstellung - kritisch bewertet werden können. Literaturempfehlung: unterricht_kultur_theorie: Kulturelles Lernen im Fremd‐ sprachenunterricht gemeinsam anders denken (König et al. 2022) Der Sammelband unterricht_kultur_theorie: Kulturelles Lernen im Fremdsprachen‐ unterricht gemeinsam anders denken untersucht Ansätze für kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht aus theoretisch-konzeptioneller, empirischer und unter‐ richtspraktischer Perspektive und diskutiert aktuelle kulturdidaktische Entwick‐ lungen. Die Beitragenden des Sammelbandes reflektieren Konzepte und entwerfen Szenarien für einen kulturwissenschaftlich orientierten Fremdsprachenunterricht und die Lehrer: innenbildung in den Bereichen Englischdidaktik, Didaktik der romanischen Sprachen sowie Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Die Beiträge stammen aus einer sprachenübergreifenden, interdisziplinären Tagung von 2019 an der Georg-August-Universität Göttingen. Durch Fallstudien und unterrichts‐ praktische Diskussionen sowie theoretische Beiträge wird gezeigt, wie kulturelles Lernen gestaltet werden kann, um die sprachlichen und kulturellen Kompetenzen von Lernenden potenziell zu stärken. 118 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="120"?> 3.4 Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik Es widerspricht ein Stück weit den Prinzipien einer Critical Pedagogy über vorab festgelegte Themen zu sprechen, denn: Folgt man den Freire’schen Idealen konsequent, müssten sich die Themen organisch aus den Diskussionen und den Bedürfnissen der Schüler: innen ergeben. Nun findet der Fremdsprachenunterricht, um den es uns hier geht, in einem institutionellen Kontext statt, in dem zahlreiche Normen, Lehrpläne und Lehrwerke wirken (siehe Kapitel 2.4). Parallel dazu erfüllen wir als Fremdsprachenlehrpersonen in der Doppelstruktur des Fremdsprachenunterrichts von Inhalts- und Sprachenlernen einen Bildungsauftrag, der es nötig macht, bestimmte Themen im Unterricht relevant zu setzen. Es ergibt daher durchaus Sinn, dass wir uns anschauen, welche Themen wir im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik behandeln und vor allem wie wir sie behandeln. Denn zahlreiche der Themen und Ideen, die unten und später in Kapitel 5 vorgestellt werden, können auch gänzlich unkritisch betrachtet werden: Lehrwerke thematisieren Hobbies oder Berufe, Urlaub oder Natur. Aber tun sie dies immer vor dem Hintergrund des Erfahrungsbereichs der Lernenden oder vor dem Hintergrund einer zielsprachlichen Kultur? Und werden Hobbies thematisiert, die die Lernenden realistisch ausüben können, wenn sie aus einem ökonomisch unterversorgten Haushalt kommen? Waren unsere Lernenden in den Sommerferien überhaupt im Urlaub? Und wie kann ihr Beitrag zum Umweltschutz aussehen, wenn ihre Umgebung hierfür keine Partizipationsmöglichkeiten bietet? Wie verantwortlich kann ich meine Lernenden für den Konsum von billig produzierten Waren machen, wenn das Haushaltseinkommen ihrer Familien sich im Bereich der Armutsgrenze befindet? Sie merken: Es müssen nicht immer große Themen wie Black Lives Matter, Femizide oder School Shootings sein, die im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik genutzt werden können. Letztlich geht es um die Kontexte der Lernenden und darum, eine Relevanz der Thematik für die Lebenswelt der Lernenden zu finden. Dies ist im ganz eigentlichen (Wort-)Sinne pädagogisch, nämlich den Kindern und Jugendlichen zugewandt. Hinsichtlich der praktischen Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik im Unterricht bieten sich - je nach Alters- und Jahrgangsstufe - auf inhaltlicher Ebene verschiedene, häufig aber stark tabuisierte Themen an, die von Gerlach (2020a) teilweise schon genannt wurden. Diese Themen eignen sich besonders deswegen, weil sie zu Diskussionen über soziale und gesellschaftliche Fragen führen, Positionierungen im Unterricht hervorrufen und zudem häufig Machtungleichheiten adressieren. Eine Beispielsauswahl finden Sie in der nachfolgenden Liste. 3.4 Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik 119 <?page no="121"?> Gut zu wissen: Mögliche Themen für eine Kritische Fremdsprachendidaktik gegliedert nach Jahrgangsstufen • Grundschule - Freundschaft - Liebe - Mobbing - Verschiedene Strukturen des (familiären) Zusammenlebens - Umwelt und Natur - Berufe - Trauer - Krisen und Veränderung - Armut - Ability und Disability • Sekundarstufe - Kapitalismus und Neoliberalismus - Migration und Identität - Medien und Werbung - Geschlechterrollen und Patriarchat - Technologie und Gesellschaft - Klimawandel und Nachhaltigkeit - Literatur und Kunst - Rassismus - Privilegien - Soziale Klassen - Soziale Gerechtigkeit - Politische Systeme (in der Schule) und Demokratie - Kriege und Frieden - Gewalt - Globalisierung - Sexuelle Orientierungen und Sexualität Ludwig/ Summer (2023) diskutieren weitere Tabuthemen im Fremdsprachenunterricht und haben diese systematisiert (Abbildung 11). Thematische Oberkategorien bilden hier die Diskurse um Gewalt, Gender und Sexualität, Konsum, Beziehungen, kulturelle Taboos, Drogen und Abhängigkeiten, Menschenrechte und geistige Gesundheit (bzw. Krankheit). Einzelne (Teil-)Aspekte der Themen kommen zwar in Lehrwerken und in Curricula vor, Ludwig und Summer betonen aber, dass dies selten in der nötigen Kon‐ sequenz geschieht und zudem wenig lebensweltnah für die Lernenden umgesetzt wird. Häufig werden die tabuisierten Themen als Schwierigkeiten oder Herausforderungen 120 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="122"?> von Lehrwerkcharakteren oder literarischen Figuren inszeniert, teilweise sogar dann noch geographisch distanziert als ein Phänomen, das Lernende dann in den USA oder in Australien verorten. Dadurch entsteht eine Verfremdung des jeweiligen Themas, das auch für Lernende in ihrem Kontext relevant ist. Das bedeutet nicht, dass jede: r Lernende ein Alkohol- oder Drogenproblem hat, Rassismuserfahrungen macht oder schon mal auf der Straße gecatcallt worden ist, sondern es bedeutet, dass das kritische Bewusstsein über die Existenz und Wirkmächtigkeit dieser Probleme im besten Sinne bildend ist, dass also das eigene Verstehen über sich selbst und die Welt gefördert wird. Und möglicherweise kommt es dann auch dazu, dass die Themen und Probleme für das Individuum selbst oder im Austausch mit Dritten eine gewisse Relevanz erhalten. Abbildung 11: Tabuthemen im Fremdsprachenunterricht (Ludwig/ Summer 2023: 10). 3.3 Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik 121 <?page no="123"?> Trotz dieser Eingrenzung auf tabuisierte, „kritische“ Themen sind die meisten Ge‐ genstände des Fremdsprachenunterrichts insofern für einen kritischen Unterricht geeignet, als dass sie politisiert werden können. Das zunächst einmal unverfänglich daherkommende Thema von „Wegbeschreibungen“, kann zum Anlass genommen werden, Straßennamen, ihre historischen Kontexte und ihre kontemporäre gesell‐ schaftliche Bedeutung zu ergründen und zu diskutieren: Wieso gibt es noch heute Straßennamen mit rassistischen Fremdbezeichnungen? Wieso sind die meisten Plätze oder Straßen nach Männern benannt? Wieso heißen diese überproportional häufig Friedrich oder Karl? Finde ich Stolpersteine auf dem Weg und woran erinnern sie uns? Gab es in meiner Stadt schon mal eine Initiative mit dem Ziel der Umbenennung einer Straße? Welche Straßen werden von Mädchen und Frauen, besonders im Dunkeln, gemieden und warum? Ist der Weg barrierefrei? Ziel der unterrichtlichen Praxis sollte es also sein, machtkritisch Ungleichheiten in Themen zu reflektieren und diese gemeinsam mit den Lernenden zu verändern. In dieser Transformation kann sich dann zeigen, ob und wie Lernende ein kritisches Bewusstsein in Bezug auf das Thema entwickelt haben. Um diesen Prozess zu unterstüt‐ zen, haben wir (vgl. Gerlach/ Lüke 2023b: 217) in Anlehnung an McLaughlin/ DeVoogd (2004: 41) ein Modell geschaffen, das den methodisch-didaktischen Dreischritt, der ursprünglich aus dem pre-/ while-/ post-Ansatz des Task-Based Learning stammt, im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik zugrunde legt (vgl. Kapitel 3.1) und die Schritte einer kritischen Reflexion und Transformation unterrichtspraktisch mithilfe von Leseförderung und Handlungsorientierung sinnvoll systematisiert: 1) Benennung von Ungleichheiten, 2) Reflexion der Ursachen dieser Ungleichheiten und 3) Verände‐ rung dieser Machtungleichheiten. 122 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="124"?> Abbildung 12: Modell zur Förderung von Critical Literacy adaptiert nach McLaughlin/ DeVoogd (2004: 41) in Gerlach/ Lüke (2023b: 217). Mithilfe dieses Modells können verschiedene Gegenstände im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik machtkritisch gelesen werden. Diese (textlichen) Gegenstände können, einem breiten Textbegriff folgend, sowohl klassische kontinuierliche Texte sein als auch andere mediale Produkte umfassen, wie Filme, Werbung, Fotos, Zeich‐ nungen, Social Media Posts oder z.B. auch Lieder. Nachdem ein durch die Schüler: innen mitbestimmter Anlass zum Lesen gegeben wird, kann das Hintergrundwissen zum Thema aktiviert werden. Innerhalb eines Themenbereichs kann dann die oben ange‐ sprochene Politisierung stattfinden, wobei idealerweise gemeinsam mit den Lernenden entschieden wird, welchen kritischen Aspekt die Lernenden gemeinsam mit der Lehrperson adressieren wollen (wie z.B. bei dem Thema „Wegbeschreibungen“ die historischen Hintergründe von Straßennamen mit einer machtkritischen Positionie‐ rung). Nach dem verstehenden und kooperativen Erschließen des Textes u.a. in der 3.3 Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik 123 <?page no="125"?> Lerngruppe kann das Medium hinsichtlich der Bedeutung für den Fremdsprachenun‐ terricht und die Gesellschaft hinterfragt werden. Um die Bedürfnisse und Lebenswir‐ klichkeiten von Lernenden einzubeziehen, sollten hier im Sinne eines kontextsensiblen Fremdsprachenunterrichts (siehe Kapitel 2.2.3) die lokalen und persönlichen Kontexte der Schüler: innen angesprochen werden. In der letzten und - aus unserer Sicht - wichtigsten Phase werden die Texte transformiert, d.h. machtkritisch verändert. Diese Transformationsphase kann aufgaben- und handlungsorientiert (siehe Kapitel 2.2.4) ganz verschieden ausfallen: So können Texte umgestaltet oder umgeschrieben werden, es können Diskussionen über die Kritik initiiert werden oder es kann ein neues Produkt entwickelt werden, das die Kritik aufgreift. Literaturempfehlung: David Gerlach und Dagmar Abendroth-Timmer (2021): Handlungsorientierung im Fremdsprachenunterricht: Eine Einführung. Das Buch Handlungsorientierung im Fremdsprachenunterricht: Eine Einführung von David Gerlach und Dagmar Abendroth-Timmer bietet eine detaillierte Ein‐ führung in die handlungsorientierte Didaktik im Fremdsprachenunterricht (siehe auch Kapitel 2.2.5). Die Autor: innen betonen, dass Sprachlernende als autonome Individuen mit einzigartigen Sprachlernbiographien und kulturellen Identitäten betrachtet werden sollten. Theoretische Grundlagen werden durch zahlreiche Praxisbeispiele ergänzt, um Lehrkräften bei der Planung und Durchführung von handlungsorientiertem Unterricht zu helfen. Das Buch richtet sich an Lehrkräfte in allen Ausbildungsphasen und fokussiert auf methodische Differenzierung und kontextgebundenes Lernen. Das gerade beschriebene Vorgehen zum kritischen Analysieren und Transformieren von Texten erfüllt in hohem Maße die Prinzipien von Handlungsorientierung, wie sie in diesem Buch beschrieben werden. Das Modell zur unterrichtlichen Umsetzung von Critical Literacy greift verschiedene didaktische Prinzipien auf, die im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik empfohlen und im Folgenden als Ideen für die Praxis umrissen werden. Die Übersicht stammt von Crookes (2009), der sich wiederum auf Crawford (1978) bezieht. Gut zu wissen: Praktische Prinzipien für die Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik nach Crookes (2009: 184, eigene Übersetzung) 1. Ziel von Bildung ist es, kritisches Denken zu entwickeln, indem man Schü‐ ler: innen die Situation als Problem präsentiert, damit sie es wahrnehmen, darüber nachdenken und handeln; 2. Der Inhalt des Lehrplans ergibt sich aus der Lebenssituation der Lernenden, wie sie in ihrer Realität zum Ausdruck kommt; 3. Die Lernenden produzieren ihr eigenes Lernmaterial; 124 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="126"?> 4. Die Aufgabe der Planung besteht erstens in der Organisation der generativen Themen und zweitens in der Organisation des Lehrstoffs, der sich auf diese Themen bezieht; 5. Die Lehrkraft beteiligt sich […] als Lernende: r unter Lernenden; 6. Die Lehrkraft […] bringt ihre Ideen, Erfahrungen, Meinungen und Wahrneh‐ mungen in den dialogischen Prozess ein; 7. Die Funktion der Lehrkraft ist es, Probleme zu stellen; 8. Die Schüler: innen haben das Recht und die Macht, Entscheidungen zu treffen. Aus diesen didaktischen Prinzipien geht als essentielles Merkmal der Unterrichts‐ struktur hervor, dass die Hierarchie zwischen Lernenden und Lehrperson abgebaut werden muss und gleichzeitig ein problemorientierter, durch die Lernenden mitbe‐ stimmter und an den Kontexten der Lernenden orientierter Unterricht entsteht. Auch Ludwig/ Summer (2023) führen weitere Richtlinien auf, um mit kritischen Tabuthemen im Fremdsprachenunterricht umzugehen. Anders als die Prinzipien von Crookes (2009) sind diese Richtlinien unterrichtspraktischer angelegt (siehe Tabelle 4). Educational Guidelines for Dealing with Taboos Educational guidelines Suggestion T Texts and artefacts Bringing in a variety of texts and artefacts that offer different perspec‐ tives on taboos. A Advice and help Creating an atmosphere of trust and specifying where learners can get help. Depending on the taboo topic in focus, a trigger warning might be important or a choice of topics/ texts to avoid negative experiences among learners. B Be fair! Encouraging learners to be fair by listening to their classmates. This also holds true for teachers, who need to handle biased perspectives and listen to their students’ points of view. O Open: knowledge Widening learners’ horizons by providing relevant, reliable, and important information and facts on historical, social, and cultural developments. O Open: views Opening one’s classroom for new topics, forms of discussions and interdisciplinary approaches while pushing for common ground (for example, by adhering to basic human rights), and inviting multiple perspectives. S Student-centered‐ ness Considering learners’ subjective needs/ interests and inviting them to bring in their own materials and raise questions relevant to their lives in the onand offline world outside the classroom, if appropriate (depending on the learners and the topic in focus). Tabelle 4: Tabelle zu pädagogischen Prinzipien für die unterrichtspraktische Thematisierung von Tabu‐ themen nach Ludwig/ Summer (2023: 25). 3.3 Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik 125 <?page no="127"?> Hier werden übergeordnet die Mitbestimmung der Lernenden, die Orientierung an den Lernenden, die Hierarchiekritik im Klassenzimmer, die Auswahl von Quellen und die Multiperspektivität auf Themen hervorgehoben - Prinzipien, die mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik in Einklang gebracht werden können. Die grundsätzliche Idee ist, wie oben schon erläutert, auf Seiten der Lernenden ein kritisches Bewusstsein (nach Freire: conscientizaç-o) im Hinblick auf die sozialen, politischen und ökonomischen Kontexte zu fördern, in die Heranwachsende eingebettet sind. Eine mögliche Frage, die Sie sich in diesem Zusammenhang stellen könnten: Wie kann ich überhaupt herausfinden, dass meine Schüler: innen ein kritisches Bewusstsein entwickeln oder entwickelt haben? Im nachfolgenden Kasten finden Sie einige Ansätze. Forschung im Fokus: Kritisches Bewusstsein diagnostizieren und fördern • Der Artikel „Critical Feminist Pedagogy in English Language Education: An Action Research Project on the Implementation of Feminist Views in a German Secondary School“ (Granger/ Gerlach 2024) beschreibt eine Studie im Englischunterricht der 10. Klasse, die zum Ziel hat, Geschlechtergerechtig‐ keit und Gender Awareness durch Critical Pedagogy zu fördern. Der Kern des Vorhabens ist, das kritische Bewusstsein der Lernenden durch die Analyse von Gruppengesprächen in einem Vorher-Nachher-Vergleich zu rekonstruie‐ ren, um Veränderungen nach der Behandlung feministischer Themen im Un‐ terricht sichtbar zu machen. Der theoretische Rahmen des Artikels stützt sich auf Paulo Freire sowie feministische Pädagogik, um traditionelle westliche Wissensstrukturen zu hinterfragen und die Perspektiven von Frauen sowie Prinzipien der Geschlechtergleichheit zu betonen. Die Ergebnisse zeigen, dass Schüler: innen nach der Behandlung feministischer Themen ein größeres Bewusstsein für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten entwickelt haben und sich als Akteur: innen sehen, die Veränderungen bewirken können. • Der Beitrag „Privilegien, check! - Eine Aktivität für den Fremdsprachenun‐ terricht zur Förderung kritischen Bewusstseins“ (Dehler 2024) beschreibt eine Unterrichtsreihe im Spanischunterricht zum Thema Feminismus und Gewalt an Frauen, die auf kritische Auseinandersetzung und globales Lernen abzielt. Die Analyse ausgewählter Daten zeigt, dass Schüler: innen beginnen, sich mit sozialen Ungerechtigkeiten auseinanderzusetzen und Empathie zu entwickeln. Kritisches Bewusstsein manifestiert sich seitens der Lernenden durch die Reflexion globaler Probleme und die Förderung von sozialen Gerechtigkeitsfragen. Da dieses Buch die kritische Lehrkräftebildung fokussiert, können wir nicht ausführli‐ cher auf unterrichtspraktische Beispiele eingehen (siehe weiterführend Gerlach 2020a). In Kapitel 5 greifen wir gleichwohl einzelne Beispiele auf, perspektivieren sie jedoch 126 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="128"?> stärker im Hinblick auf die Rolle von Lehrpersonen in solchen unterrichtspraktischen Settings. In der nachfolgenden Box finden Sie eine Sammlung von Unterrichtsbeispie‐ len oder Artikeln aus den letzten Jahren mit theoretisch fundierten Prinzipien zur Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, insbesondere mit Fokus auf den deutschen Raum und seinen Anforderungen (weitere Beispiele dann auch später in Kapitel 5). Literaturempfehlungen: Unterrichtspraktische Beispiele zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik geordnet nach Themengebieten Rassismuskritik Braselmann, Silke (2023): I’m not a racist! Addressing racism in predominantly white classrooms with cooperatively designed multimodal text ensembles. Braselmann, Silke (2024): Teaching About Black Lives Matter, Teaching Against Racism: Opportunities for Participation in Antiracist English Language Education. Güllü, Natalie & Gerlach, David (2023): White Gaze und der fremdsprachendidaktische Kanon. Heidt, Irene (i.V.): The color of my skin - Mit dem Bilderbuch ‚Sulwe‘ über colorism sprechen und in einen Dialog gegen Rassismus und Colorism eintreten. Anti-Fatness Langensiepen, Natalie; Lüke, Mareen & Leonhardt, Jan-Erik (2022): I can't wake up one day and not be fat: Ein Konzept für ein Musikvideo zum Thema anti-fatness entwickeln. Güllü, Natalie & Lüke, Mareen (i.V.): Anti-fatness and fat activism: critical approaches for addressing social (in)justice in language teaching. Schönheitsnormen Gerlach, David & Lüke, Mareen (2023b): Critical literacy als Beitrag zur Bildungsgerechtig‐ keit im Englischunterricht - Eine unterrichtspraktische Annäherung. König, Lotta (2020): On beauty ideals and body norms: Schönheits- und Körpernormen als Thema in einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. Literatur- und filmdidaktische Zugänge Leonhardt, Jan-Erik & Viebrock, Britta (2020a): Ausgewählte Materialien für einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht: Jugendliteratur mit Transgender-Thematik. Matz, Frauke (2020): Taking a stance: The role of critical literacies in learning with literature in a world at risk. Güllü, Natalie; Lüke, Mareen & Gerlach, David (in Vorbereitung): White feminism: an intersectional analysis. Fake News Leonhardt, Jan-Erik & Viebrock, Britta (2020b): Watch out for fake realities! Wahrheit, Rea‐ litätskonstruktionen, Fiktion und Lügen unterscheiden lernen, critical literacy ausbilden. Diehr, Bärbel (2023): Fake News and Critical Literacy in Foreign Language Education. 3.3 Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik 127 <?page no="129"?> Enguix, Ricardo (2022): Desinformando, que es gerundio. Trabajando con fake news en la clase de ELE. Generelle Praxis von Critical Literacy Gerlach, David & Lüke, Mareen (2020): Jenseits von „Fake News“: Das transformative Potenzial von Critical Literacy. Ludwig, Christian & Summer, Theresa (2023): Approaching taboos and controversial issues in foreign language education. Digitales Lernen Blume, Carolyn & Reinhardt, Jonathon (2020): Gaming as a critical language learning practice. Steininger, Ivo (2020): Towards a concept of critical digitalisation in the foreign language classroom. Geschlechtliche Identitäten Merse, Thorsten (2020): Queere Interventionen in die Kritische Fremdsprachendidaktik: Theoretische Überlegungen und praxisorientierte Implementationen. Leonhardt, Jan-Erik & Viebrock, Britta (2020a): Ausgewählte Materialien für einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht: Jugendliteratur mit Transgender-Thematik. Links, Frank Reza (2023): Sobre el arcoíris: Einführende Gedanken zum gendergerechten Spanischunterricht. Neveling, Christiane (2023): Geschlechterrollen in Spanischlehrwerken. Global Diversity Kroschewski, Annette (2015): From British Diversity to Global Diversity: Perspectives for the EFL Classroom. Wie in den oben genannten unterrichtspraktischen Publikationen schon ausgeführt wird, eignen sich verschiedene methodische Herangehensweisen für die Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. Hierbei sollten insbesondere die Lernenden und das Lehrwerk Beachtung finden (siehe weiterführend Gerlach 2020a). Mit Blick auf die Lernenden ist es grundlegend, dass sich ein Unterricht im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik an den emotionalen und sozialen Bedürfnis‐ sen der Lernenden orientiert (siehe auch Kapitel 2.2.2 zum kontextsensiblen Fremd‐ sprachenunterricht). Zwar ist schon jetzt die Lerner: innenorientierung ein wichtiger Grundsatz in der Fremdsprachendidaktik, jedoch bedarf es für eine Lerner: innenorien‐ tierung im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik sowohl den Einbezug der Kontexte der Lernenden wie auch einer machtkritischen Brille, mit der Privilegien und deren Verteilung bewusst gemacht werden. Diese Überlegungen hinsichtlich der Lerngruppe müssen in die methodische Struktur des Fremdsprachenunterrichts ein‐ fließen, sodass Lehrpersonen z.B. ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche Themen und unterrichtliche Strukturen Lernende benachteiligen. Dies könnte beispielsweise 128 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="130"?> die Themenauswahl betreffen: Wenn ich das Thema „Familienstrukturen“ aufgreife, ist es im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik wichtig, dass ich mir als Lehr‐ person darüber bewusst werde, welche Lernenden in strukturell benachteiligten oder strukturell privilegierten Familien aufwachsen und dass Lernende möglicherweise in dem Moment des Unterrichts Traumata innerhalb der Familie durchleben (vgl. Gerlach 2020a: 18-19, Norton 2013). Diese Orientierung an den Kontexten der Lernenden leitet zu dem nächsten methodisch-didaktischen Grundsatz über: zum Umgang mit Lehrwerken. Mit dem Ziel eines kritischen Fremdsprachenunterrichts, soziale und emotionale Be‐ dürfnisse der Lernenden aktiv und als unterrichtliche Basis mit einzubinden, erscheint es herausfordernd, das Lehrwerk als Grundlage für die Struktur des Fremdsprachen‐ unterrichts zu nehmen. Denn: In Lehrwerken werden fast ausschließlich Themen und Herangehensweisen verhandelt, die eine gewisse Gruppe an privilegierten Schüler: in‐ nen (nämlich: obere Mittelschicht, ohne Behinderung, heterosexuell, cisgeschlechtlich usw.) adressieren, die gesamtgesellschaftlich aber in der Minderheit sind. Die Kontexte und die Individualität der Schüler: innenidentitäten drohen hier aus dem Fokus zu geraten (vgl. Akbari 2008b). Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn Lehr‐ werkanalysen zeigen, dass diese Unterrichtsmedien Formen von Diskriminierungen reproduzieren, die sich z.B. durch Nicht-Repräsentation von Personengruppen oder Abwertung von Personengruppen in Aufgabenstellungen, Texten oder Bildern zeigen (vgl. Vernal Schmidt 2020, Bönkost 2020, Alter et al. 2021, Güllü/ Gerlach 2023). Diese Inhalte sollten in einem kritischen Fremdsprachenunterricht - in ausgewählten Fällen auch gemeinsam mit Lernenden - reflektiert und verändert werden, um Diskriminie‐ rung abzubauen (siehe Kapitel 4.5.2). Darüber hinaus kann eine sehr starke Orientierung am Lehrwerk durch die Lehrkraft dazu führen, dass dieses den Unterricht maßgeblich strukturiert. Dadurch kann ein erheblicher Druck auf Lehrpersonen entstehen, Inhalte zeiteffizienter zu vermitteln und diese in einem vorgegebenen, engen zeitlichen Rahmen „abzuarbeiten“ (vgl. Ge‐ rlach/ Lüke 2024). Natürlich hat dieses Abarbeiten nicht ausschließlich die Verwendung des Lehrwerks als Ursache, sondern viele komplexe strukturelle Gründe (vgl. Kapitel 2.4 zu Normen und Kapitel 2.2.3 zu Kontextfaktoren des Fremdsprachenunterrichts). Dennoch kann das Lehrwerk eine zeiteffiziente Durchprozessierung des Fremdspra‐ chenunterrichts begünstigen (siehe auch Bonnet/ Hericks 2020b, Kapitel 2.4). Die letzten Absätze sollen keineswegs als Plädoyer für das Verbannen von Lehrwer‐ ken aus dem Fremdsprachenunterricht verstanden werden. Vielmehr wollen sie für einen kritischen, reflektierten Umgang mit dem Lehrwerk im Fremdsprachenunter‐ richt werben, der darin besteht, Aufgaben und Inhalte im Lehrwerk kontextbezogen mit den Lernenden zu hinterfragen, anzupassen und zu verändern sowie das Lehrwerk nicht als unterrichtsstrukturierende, der Lehrperson womöglich überlegene Instanz anzusehen (siehe weiterführend Akbari 2008b, Gerlach/ Lüke 2024). Wir werden an späterer Stelle noch zeigen, warum dies für einen kritischen Fremdsprachenunterricht besonders relevant ist (siehe Kapitel 4.5.2). 3.3 Praktische Anknüpfungspunkte für eine Kritische Fremdsprachendidaktik 129 <?page no="131"?> Forschung im Fokus: Kritische Analysen von Lehrwerken Forschung zu Lehrwerken, insbesondere aus einer rassismuskritischen Perspek‐ tive, nimmt in den vergangenen Jahren zu. Hier einige Beispiele aus der deut‐ schen (Fremdsprachen-)Forschung: • In einem Artikel zu Afrikabildern in deutschen Lehrwerken untersucht Elina Marmer (2013), wie Schulbücher in Deutschland rassistische Stereotype, ins‐ besondere in der Darstellung Afrikas, reproduzieren. Anhand von Beispielen zeigt die Autorin, wie Lehrmaterialien oft unkritisch koloniale Ideologien und rassistische Bilder weitertragen, die Afrikaner: innen als primitiv und hilflos darstellen. Diese Darstellungen verfestigen Vorurteile und beeinflus‐ sen das Bewusstsein der Schüler: innen negativ. Zudem wird kritisiert, dass Lehrkräfte häufig diese rassistischen Inhalte nicht erkennen oder hinter‐ fragen. Der Artikel plädiert für eine kritischere Auseinandersetzung mit solchen Darstellungen und fordert eine rassismuskritische Bildungsarbeit, um stereotype Bilder zu überwinden und eine differenziertere Sichtweise auf Afrika und seine Menschen zu vermitteln. • Janina Vernal Schmidt (2020) untersucht eine Lektion eines Spanischlehr‐ werks für die Sekundarstufe II aus einer rassismuskritischen Perspektive. Es wird analysiert, wie Lehrwerke rassistische und koloniale Repräsentationen vermitteln, oft unbewusst durch Benennungspraktiken und Darstellungen eurozentrische und diskriminierende Sichtweisen reproduzieren. Der Artikel zeigt auf, dass solche Lehrmaterialien nicht nur historische Ungerechtigkei‐ ten fortschreiben, sondern auch die Entwicklung eines kritischen Bewussts‐ eins bei Schüler: innen erschweren können. Um dem entgegenzuwirken, wird ein didaktischer Ansatz vorgestellt, der rassismuskritische Reflexionen in den Sprachunterricht integriert und alternative Lehrstrategien vorschlägt, um ein differenziertes Verständnis von Geschichte und Machtverhältnissen zu fördern. • In einem umfassenden Dossier thematisiert Jule Bönkost (2020) die Dekon‐ struktion von Rassismus in deutschen Schulbüchern und argumentiert, dass bloße Verbesserungen von Schulbuchinhalten nicht ausreichen, um rassisti‐ sche Strukturen und Denkmuster zu überwinden. Schulbücher, so die Diag‐ nose, sind tief in gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse ein‐ gebunden und spiegeln oft unbewusst rassistische Wissensbestände wider. Selbst überarbeitete Schulbücher können Rassismus nicht vollständig ver‐ meiden, da sie weiterhin innerhalb eines rassistischen Diskurses operieren. Daher fordert die Verfasserin eine kontinuierliche kritische Reflexion von Schulbuchinhalten und eine umfassende rassismuskritische Bildungspraxis, die über die bloße Korrektur von Lehrmaterialien hinausgeht. Lehrer: innen spielen eine zentrale Rolle, da ihre rassismuskritische Handlungskompetenz entscheidend dafür ist, wie Schulbuchinhalte im Unterricht genutzt und 130 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="132"?> interpretiert werden. Letztlich argumentiert der Artikel, dass eine wirkliche Veränderung nur durch eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den rassistischen Strukturen in der Gesellschaft und im Bildungssystem erreicht werden kann. • Eine breitere Perspektive nimmt der Artikel von Grit Alter, Lotta König und Thorsten Merse (2021) ein: Er bietet eine Analyse der Repräsentation von Diversität in Englischlehrbüchern der 9. Klassenstufe an Gesamtschulen. Die Autor: innen untersuchen anhand von drei Lehrwerken der großen Verlagshäuser, wie verschiedene Dimensionen von Diversität - darunter Geschlecht, Hautfarbe, sozioökonomischer Hintergrund, sexuelle Identität und körperliche Beeinträchtigungen - dargestellt werden. Die Analyse zeigt, dass es zwar Ansätze zur Repräsentation von Vielfalt gibt, diese jedoch oft von stereotypen Darstellungen und Ungleichheiten geprägt sind. So werden Männer häufiger als Frauen gezeigt, körperliche Perfektion wird als Norm dargestellt, und Menschen mit Behinderungen sind unterrepräsentiert. Die Autor: innen kritisieren, dass trotz einiger positiver Entwicklungen viele Lehrbücher immer noch ein eingeschränktes und oft normatives Bild der Gesellschaft vermitteln. Sie fordern daher eine stärkere Berücksichtigung von Diversität und Inklusion in Lehrwerken, um eine realistischere und gerechtere Darstellung der Gesellschaft zu fördern. 3.5 Was bedeutet es, einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht zu gestalten? Einen kritischen Fremdsprachenunterricht zu gestalten bedeutet, den Unterricht partizipativ auszurichten und gesellschaftlich relevante, insbesondere soziale und sozialkritische Fragen in den Unterricht hineinzuholen. Wie in diesem Kapitel deutlich geworden sein dürfte, ist das nicht selbstverständlich: Ein stark auf (ziel-)kulturelle Gegenstände und sprachliche Fertigkeiten ausgerichteter Unterricht läuft Gefahr, die Bedürfnisse von Lernenden und sozialen Wandel eben nicht zu berücksichtigen (vgl. Kumaravadivelu 2006, Akbari 2008a, b, Crookes 2009, 2013). Kritische, vielleicht sogar tabuisierte Themen zwingen die Lernenden (und Lehrenden) zu einer Positionierung: Kritischer Fremdsprachenunterricht kreiert damit nicht nur potenziell Motivation, sondern auch einen relevanten Diskursraum im institutionalisierten Kontext Schule. Im besten Sinne eines handlungsorientierten Fremdsprachenunterrichts schafft dies Gelegenheiten zum Probehandeln im geschützten Raum, der dann wiederum zu echtem Handeln außerhalb von Schule führen kann. Wenn Lernende dann die Relevanz entlang der Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik für ihr eigenes Leben und ihren eigenen Kontext erkennen, kann potenziell ein Bildungsprozess angestoßen werden, der die Selbst- und Weltsicht zu transformieren vermag (siehe Kapitel 1.3). Zu dieser Ermächtigung, Bildung und Förderung von Diskursfähigkeit gehört zentral auch, dass 3.5 Was bedeutet es, einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht zu gestalten? 131 <?page no="133"?> wir als Lehrpersonen dem Lernniveau angepasste Materialien auswählen, sprachliche und inhaltliche Hilfen als Scaffolding anbieten und so den Lernenden überhaupt (zunächst einmal sprachliche) Teilhabe an den Diskursen erlauben. Nur dann kann sich ein (kritisches) Sprachbewusstsein in Verbindung mit dem nötigen Wissen um den inhaltlichen Schwerpunkt, um den es geht, einstellen. Uns ist hier aber ganz wichtig darauf hinzuweisen, dass nicht jede Unterrichtsstunde „kritisch“ sein muss. Nicht jede Unterrichtsstunde muss Machtkritik üben oder Formen von Diskriminierung offenlegen und zur Weltverbesserung beitragen. Es geht auch nicht darum, Aktivist: innen zu produzieren, die lediglich um des Aktivismus Willen Politik machen und auf die Straße gehen möchten. Dies wäre ein grundsätzliches Miss‐ verständnis der Kritischen Fremdsprachendidaktik, die im Kern eine breite Wissens‐ basis und kritische Diskursfähigkeit von Lernenden über relevante Themen fördern möchte. Natürlich braucht es ebenfalls fröhliche Themen im Fremdsprachenunterricht, natürlich braucht es auch Einblicke in die fremdsprachlichen Lebenswelten abseits von Gesellschaftskritik. Es gibt jedoch ebenso Momente, in denen wir uns vergewissern müssen, dass wir keine Stereotype verstärken und dass wir die Bedürfnisse einer diversen Schüler: innenschaft inhaltlich adressieren und Unterricht gemeinsam mit ihnen entwickeln. Die zentrale Verantwortung, diese Gelegenheiten zu schaffen, liegt natürlich bei der Lehrperson. Eine Argumentation könnte sein, dass wenn Fremdsprachenlehrpersonen selbst kritisch gegenüber ihrer Unterrichtspraxis, den inhaltlichen Gegenständen und Materialien sind, sich ein kritischer Fremdsprachenunterricht potenziell von selbst einstellt. Aber ist es wirklich so einfach, wenn wir weiter oben schon erfahren haben, dass im Fremdsprachenunterricht zahlreiche Normen wirken (siehe Kapitel 2.4), die das potentiell einschränken? Was ist, wenn wir - gefangen in internalisierten schulischen Praktiken - gar nicht anders können als Unterricht entgegen den Interessen von Lernenden zu gestalten? Keine Sorge - wir haben einige Ideen. Diese präsentieren wir Ihnen im folgenden Kapitel, wenn es darum geht, wie Sie eine kritische Fremdspra‐ chenlehrperson werden können. 132 3 Kritische Fremdsprachendidaktik <?page no="134"?> 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden Without a sense of identity, there can be no real struggle. Paulo Freire (1996: 23) In diesem Kapitel In diesem Kapitel wird zuerst die Idee einer kritischen Fremdsprachenlehrkräf‐ tebildung vorgestellt, welche zahlreiche Prinzipien einer Kritischen Fremdspra‐ chendidaktik aufgreift. Sie wird im Anschluss ins Verhältnis gesetzt zu den fremdsprachendidaktischen Lehrer: innenbildungsstandards der KMK (2024), be‐ vor Language Teacher Identity als Konstrukt vorgestellt wird, um Professionalität (und Professionalisierung hin zu) einer kritischen Fremdsprachenlehrperson zu denken. Abschließend stellen wir stärker praxisorientierte Verfahren vor, um diesen Professionalisierungsprozess anzustoßen und den eigenen Unterricht im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik zu entwickeln. Um die Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik im Unterricht nutzen bzw. anwenden zu können, d.h. um soziale Ungerechtigkeit und diskriminierende Sprache zu kritisieren und zu verändern, bedarf es einer Lehrperson, die eine gewisse Distanz zu den Strukturen von Schule, Unterricht und Fremdsprachenunterricht einnehmen kann. Genau dieses kritische Hinterfragen der Strukturen und die damit einhergehende kritisch-transformative Haltung sind grundlegend für eine kritische Lehrperson. Begriffsbestimmung: Was ist eine kritische Fremdsprachenlehrperson? Eine kritische Fremdsprachenlehrperson nimmt im Unterricht eine transforma‐ tive Rolle ein, indem sie den Lernenden nicht ausschließlich Inhalte vermittelt und Kompetenzen fördert, sondern Schüler: innen befähigt, Diskriminierungen und Machtgefüge im gesellschaftlichen Kontext zu erkennen, zu kritisieren und zu verändern mit dem Ziel, dass dies außerhalb des Klassenzimmers Irri‐ tationen bzw. Transformationsprozesse anstoßen kann, ganz im Sinne eines kritischen und demokratischen Bewusstseins der Heranwachsenden. Hierzu entwickeln kritische Fremdsprachenlehrpersonen eine Haltung und Identität, mit der Strukturen von Fremdsprachenunterricht, Schule und Gesellschaft kritisiert und verändert werden. Diese Haltung wiederum setzt Reflexivität, Kontextorientierung und Autonomie voraus (vgl. Giroux 1988, Kumaravadivelu 2003, Gerlach/ Fasching-Varner 2020). <?page no="135"?> Im Hinblick auf die Entwicklung einer solchen Haltung gibt es aber einige Hindernisse, die mitgedacht werden sollten: Zum einen braucht es vonseiten der Lehrperson Mut und einen autonomen Umgang damit, systemische Strukturen zu reflektieren und ggf. zu kritisieren, die sowohl die eigene Berufung sicherstellen als auch durch eine Verbe‐ amtung schützen. Zum anderen haben Lehrpersonen die Strukturen durch ihre eigene Berufsbiographie als Schüler: in und angehende Lehrperson so verinnerlicht, dass die Veränderung des eigenen Schüler: innenhabitus hin zu einem Lehrer: innenhabitus bzw. letztlich zu einem kritisch-autonomeren Lehrer: innenhabitus mühevoll sein kann. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns daher zunächst mit der wissenschaftlichen Fundierung: Was wissen wir aus der Forschung zur kritischen Fremdsprachenleh‐ rer: innenbildung? Welche Bedingungen müssen für die Entwicklung zu kritischen Lehrpersonen erfüllt sein? Im Anschluss kontrastieren wir diese empirischen wie auch theoretischen Erkenntnisse mit den curricularen Anforderungen an (ange‐ hende) Fremdsprachenlehrpersonen in Deutschland und betrachten die Lehrer: innen‐ bildungsstandards der KMK für Lehrpersonen moderner Fremdsprachen noch einmal im Detail. Wir beschäftigen uns also mit der Frage, wie man in einem standardori‐ entierten Kontext eigentlich eine kritische Fremdsprachenlehrperson werden kann. Abschließend möchten wir mit Language Teacher Identity ein Konstrukt vorstellen, das den Lesenden helfen soll, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, die eigene Reflexionskompetenz zu erweitern und die theoretischen Stränge aus diesem Buch zu bündeln. Dies mündet dann in stärker praxisorientierten Konzepten dazu, wie man sich und seinen Unterricht kritisch entwickeln kann. 4.1 Kritische (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung - Ein Überblick Neoliberale und ökonomisierende Tendenzen im Bildungssystem (z.B. Zunahme an Vergleichsarbeiten, Standardorientierung) fördern insbesondere einen Gegenentwurf zu einem kritischen Fremdsprachenunterricht und einer kritischen Fremdsprachenleh‐ rer: innenbildung (vgl. Gray 2019, siehe auch Infokasten zu Neoliberalismustendenzen im Fremdsprachenunterricht in Kapitel 3.1). So steht nicht selten das Abarbeiten von Inhalten im Vordergrund, das sich z.B. durch eine Lehrwerksorientierung bzw. eine textbook-defined practice ausdrückt (vgl. Gardemann 2021, Summer/ Ludwig 2023, Gerlach/ Lüke 2024), welche mit dem eigentlichen Ziel von Bildung (siehe Kapitel 1.3) wenig gemein haben. Diese Entwicklungen werden durch Standardisierungsmaßnah‐ men, wie z.B. den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (Council of Europe 2020) oder Bildungsstandards (KMK 2024, 2012), gefördert, weil damit Messungen des unterrichtlichen Outputs und damit ein Fokus auf Leistung einhergehen (vgl. Lüke 2024a). 134 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="136"?> Stimmen von Lehrpersonen: „Wie soll ich euch benoten am Ende? “ (Lüke 2024a: n.a.) Eine Lehrperson aus der Dissertation von Mareen Lüke (2024a) erzählt eine Episode aus ihrem eigenen Unterricht: […] ich sage, pass auf, ihr sitzt jetzt hier, ihr hattet eine Hausaufgabe. Das war keine große Sache, ihr solltet den Text lesen, Stichpunkte machen. Ihr habt überhaupt nichts gemacht, ihr sitzt jetzt hier, ihr könnt die ganze Stunde nicht mitarbeiten. Was/ Was denkt ihr? Wie soll ich euch benoten am Ende? Was ist die grundsätzliche Herausforderung in diesem Auszug für die Lehrkraft? Inwiefern offenbart diese Interviewsequenz eine Orientierung an Leistung seitens der Lehrperson? Wenn Sie selbst an Situationen aus Ihrem (selbst erlebten oder geplanten) Fremd‐ sprachenunterricht denken: Welche Rolle spielt Leistung da? Inwiefern fördert oder behindert eine Orientierung an Leistung Ihre Gestaltung des Unterrichts? Lehrer: innenbildung arbeitet nicht per se gegen diese Tendenzen an, da diese schon als Normen im Bildungssystem wirken und diese (unbewusst) als implizite Normen übernommen werden (siehe Kapitel 2.4). D.h.: Lehrer: innen können gar nichts dafür, den Unterricht in gewisser Weise so zu strukturieren, wie die im System wirkenden Normen es vorgeben. Eine kritische Lehrer: innenbildung muss sich daher zunächst einmal des Umstands bewusst werden, dass ein auf Selbsterhalt zielendes System nur schwerlich veränderbar ist. Wir fokussieren daher an dieser Stelle nicht auf das System oder (noch nicht) auf Veränderungen im System, sondern auf die Lehrperson, die im Kerngeschäft von Schule, dem Unterricht, wirken und gestalten kann, darf und soll. Um also diesen ökonomisierenden Tendenzen entgegenzuwirken, eine Kritische Fremd‐ sprachendidaktik im Unterricht umzusetzen und als kritische Lehrperson zu handeln, bedarf es seitens der Lehrperson einer kritischen Haltung sowie Identität, die eine demokratische Werteorientierung und Orientierung an Menschenrechten beinhaltet, wie es auch von dem Konzept der kritischen Diskursfähigkeit eingefordert wird (vgl. Marxl/ Römhild 2024, Kapitel 4 und 4.1). Auf Basis der Arbeiten Paulo Freires wurde von kritischen Pädagog: innen (z.B. Giroux 1988 oder - mit stärkerem Bezug zur Fremdsprachenforschung: Hawkins & Norton 2009) der Begriff der transformative intellectuals geprägt und genutzt, durch den die Rolle von kritischen Lehrpersonen beschrieben wird: [T]he role that teachers and administrators might play as transformative intellectuals who develop counterhegemonic pedagogies that not only empower students by giving them the knowledge and social skills they will need to be able to function in the larger society as critical agents, but also educate them for transformative action. (Giroux 1988: xxxiii) So sollen kritische Lehrpersonen Schüler: innen in ihrer Mündigkeit stärken und gleichzeitig kritische Impulse in die Gesellschaft senden, um diese mit ihrem Handeln gemeinsam mit den Lernenden zu verändern. Dieser Zugriff auf die Gesellschaft erfolgt im Fremdsprachen‐ 4.1 Kritische (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung - Ein Überblick 135 <?page no="137"?> unterricht selbst, weil Sprache, Gesellschaft und Kultur verbunden sind und Lernende wie auch Inhalte im Fremdsprachenunterricht dadurch den gesellschaftlichen Kontext abbilden (vgl. Hawkins/ Norton 2009). Um als kritische Lehrperson zu agieren, bedarf es eines Ver‐ antwortungsbewusstseins gegenüber den Lernenden. Es sollten dialogisch Erfahrungen und Bedürfnisse der Lernenden eingeholt werden, sodass diese Erfahrungen und Bedürfnisse die Grundlage für den Unterricht bilden. Gleichzeitig wird die Interaktion zwischen Lehrperson und Lernenden beleuchtet, in der sowohl Machtgefüge als auch Kontextfaktoren bedacht werden müssen (vgl. Gerlach/ Leupold 2019). Es zeigt sich an diesen zwei Prinzipien, dass für eine kritische Fremdsprachenlehrperson sowohl die Interaktion zwischen Lernenden und ihnen als Lehrkraft wie auch die Herstellung und Dekonstruktion von Themen relevant sind (vgl. Bonnet/ Hericks 2020a). Um diese Prinzipien in ihrer Umsetzung anzubahnen, haben Gerlach/ Fasching-Var‐ ner (2020) Ziele für eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung formuliert: Zuerst nennen die Autoren das Ziel, professionell in Strukturen und Institutionen zu handeln (= Praxis). Hierzu muss zum einen ein grundständiges Wissen über Sprachen‐ lernen, Literatur, Kultur und Pädagogik erworben werden, wie es in Deutschland z.B. im Lehramtsstudium geschieht. Mithilfe dieses Wissens kann einerseits das Wissen selbst, andererseits die Wissensvermittlung in den Strukturen der Organisation Schule hinterfragt und kritisch verändert werden. Die Reflexion und Transformation von Wissen und dessen Vermittlung ist abhängig von der eigenen Berufsbiographie, wes‐ halb auch diese Gegenstand der Reflexion sein sollte (vgl. Kubanyiova/ Crookes 2016, siehe Kapitel 4.3 zu Language Teacher Identity). Als zweites Ziel wird in dem Beitrag die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins angeführt, durch das Lehrpersonen bestehende Machtgefüge innerhalb ihrer Arbeit bzw. des Feldes hinterfragen können, in dem sie tätig sind. Hierzu bedarf es Unterrichtsreflexionen, Unterrichtsentwick‐ lung sowie Fallarbeit im strukturtheoretischen Sinne (siehe Kapitel 2.1.1), die mit einer machtkritischen Brille durchgeführt werden sollten (= Haltung). Als drittes Ziel einer kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung wird die Entwicklung einer transformativen Identität genannt, die soziokulturelle, persönliche und berufliche Bereiche umfasst. Durch die Reflexion und letztlich Veränderung der eigenen Identität kann wiederum der Wissens- und Kompetenzerwerb positiv beeinflusst werden (= Identitätsentwicklung; vgl. Kapitel 4.3). Reflexionsaufgabe Welche Machtgefüge erkennen Sie in Ihrer Arbeit als Fremdsprachenlehrperson (z.B. die Hierarchie zwischen Lehrperson und Lernenden, zwischen den Lernenden untereinander oder in den Machtgefügen im Bereich der kulturellen Bildung)? Denken Sie dabei sowohl an die Behandlung von Themen und Inhalten als auch an die Interaktion im Fremdsprachenunterricht. Schreiben Sie diese Machtgefüge stichwortartig auf. 136 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="138"?> Im Spektrum der genannten Ziele gibt es verschiedene Publikationen, die besonders im internationalen Raum die Studien zu einer kritischen Fremdsprachenlehrer: innen‐ bildung zusammenfassen. Die Zusammenfassung im Folgenden orientiert sich an der Zusammenstellung in Gerlach/ Fasching-Varner (2020) und Lüke (2024a). Es lassen sich hierbei drei Schwerpunkte identifizieren, nämlich Untersuchungen mit Fokus auf … • ein kritisches Bewusstsein für gesellschaftliche Machtgefüge, • die Reflexion der Identität und Positionierung in der Gesellschaft, • die Machtgefüge in der Ausbildungspraxis für Lehrpersonen selbst (vgl. Ge‐ rlach/ Fasching-Varner 2020: 223). Mit Blick auf den ersten Schwerpunkt gibt es Arbeiten (z.B. Goldstein 2004, Sharma/ Phyak 2017), die mit verschiedenen methodischen Herangehensweisen ein kritisches Bewusstsein für gesellschaftliche Ungleichheiten bei (angehenden) Lehrpersonen fördern wollen (vgl. Selvi/ Kocaman 2024). Diese Bewusstseinswerdung ist zum einen notwendig, um Machtgefüge in sprachlichen Gegenständen zu erkennen, zum anderen kann diese Bewusstseinswerdung das Einnehmen von werteorientierten Haltungen fördern, mit denen Lehrpersonen den unterrichtlichen oder sprachlichen Machtgefü‐ gen begegnen. In den Arbeiten dieses Schwerpunkts werden besonders methodische Ansätze herausgestellt, die eigene berufsbiographische Reflexionsanlässe nutzen, um eigene Unterdrückungserfahrungen bewusst werden zu lassen (vgl. Nuske 2015). Gleichzeitig wird die Reflexion von Unterrichtsmaterialien und ihre Entwicklung als relevant angesehen, um Machtgefüge zu reflektieren und diese dann für konkrete Unterrichtssituationen mit eigenem Material zu reduzieren (vgl. Ahmadian/ Maftoon 2016, Lüke 2024a). Auch innovativere Ansätze wie Autoethnographie oder dramapä‐ dagogische Methoden werden in Forschungsbeiträgen als hilfreich diskutiert, um sich der eigenen Erfahrung mit Machtgefügen oder aber auch der (Re-)Produktion von Un‐ gleichheiten emotional bewusst zu werden (vgl. Pennycook 2004, Abendroth-Timmer 2020). Gut zu wissen: Autoethnographische Methoden in der Forschung Autoethnographie ist eine (Forschungs-)Methode, die persönliche Erfahrungen nutzt, um kulturelle, soziale und institutionelle Phänomene zu verstehen und zu reflektieren. Im Kontext des Fremdsprachenunterrichts ermöglichen autoeth‐ nographische Methoden Lehrenden und Lernenden, ihre eigenen Lernerfahrun‐ gen zu analysieren und daraus wertvolle Erkenntnisse für den Lernprozess zu gewinnen. Autoethnographie kombiniert autobiographische und ethnogra‐ phische Methoden, um persönliche Geschichten mit kulturellen und sozialen Kontexten zu verbinden (vgl. Ellis et al. 2011). Im Fremdsprachenunterricht hilft diese Methode, tiefere Einblicke in die individuellen Lernprozesse und die sozialen Dynamiken innerhalb der Unterrichtsgruppe zu gewinnen. Die Anwen‐ dung autoethnographischer Methoden im Fremdsprachenunterricht umfasst das 4.1 Kritische (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung - Ein Überblick 137 <?page no="139"?> Schreiben von Reflexionen, das Führen von Lerntagebüchern und das Erstellen narrativer Berichte. Beispielsweise konnten Canagarajah (2013) und Denzin (2014) nachweisen, dass Lernende durch die autoethnographische Reflexion ein tieferes kulturelles Verständnis und eine höhere Motivation beim Sprachenlernen entwickeln. Gut zu wissen: Dramapädagogik in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts Dramapädagogische Methoden im Fremdsprachenunterricht nutzen kreative und interaktive Techniken aus dem Theater, um das Sprachenlernen zu fördern. Diese Methoden schließen Rollenspiele, Improvisation, Szenenarbeit und das Aufführen ganzer Stücke ein. Diese Aktivitäten helfen Lernenden, Sprache nicht nur als abstrakte Struktur, sondern als lebendiges Kommunikationsmittel zu erleben, das in realen Kontexten Anwendung findet. Der Einsatz von Dramapä‐ dagogik im Fremdsprachenunterricht bietet eine dynamische Umgebung, in der Lernende ihre sprachlichen Fähigkeiten in einer Art „Probehandeln“ entwickeln können, ohne Angst vor Fehlern haben zu müssen. Die Grundlage der Dramapä‐ dagogik ist das Verständnis, dass Sprachenlernen am effektivsten ist, wenn es in sozialen und kulturellen Kontexten stattfindet, die den Lernenden vertraut oder von Interesse sind (vgl. Abendroth-Timmer/ Gerlach 2021). Durch dramatische Darstellung können Lernende in unterschiedliche Rollen schlüpfen und soziale Interaktionen und kulturelle Szenarien simulieren, was nicht nur die sprachliche Kompetenz, sondern auch das kulturelle Verständnis fördert. Darüber hinaus ermöglicht die dramatische Einbindung eine tiefere emotionale Verbindung zum Lernstoff, was die Motivation und das Engagement im Lernprozess steigert. Abendroth-Timmer (2006) hebt hervor, dass dramapädagogische Ansätze beson‐ ders wertvoll sind, weil sie die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung der Lernenden schärfen. Durch die Übernahme verschiedener Rollen entwickeln Lernende ein Gefühl für unterschiedliche kulturelle Perspektiven und soziale Kontexte, die in einer Fremdsprache eingebettet sind (siehe weiterführend: „Kritisch-reflexive Professionalisierung von Fremdsprachenlehrenden: Ein dra‐ mapädagogisch-hochschuldidaktischer Ansatz“ von Abendroth-Timmer 2020). Unabhängig von konkreten methodischen Vorgehensweisen heben Gerlach/ Lüke (2023a) hervor, dass innerhalb einer kritischen Lehrer: innenbildung eine dialogische und kooperative Praxis notwendig ist, die machtkritisch hinterfragt wird, um z.B. mit Reflexionsfragen oder auch (kooperativer) Materialentwicklung eine kritische Haltung zum Fremdsprachenunterricht einzunehmen (siehe Kapitel 4.5). Mit wenigen Ausnahmen (z.B. Leal 2018) wird bei den meisten empirischen Arbeiten zur kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung ein qualitatives Forschungsdesign gewählt, mit 138 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="140"?> dem diese Prozesse der Bewusstseinswerdung bei (angehenden) Lehrpersonen nach‐ gezeichnet werden (vgl. z.B. Nuske 2015). Literaturempfehlung: Transformation and Stasis: Two Case Studies of Critical Teacher Education in TESOL (Nuske 2015) In diesem Beitrag berichtet Nuske (2015) von zwei Fallstudien zur kritischen fremdsprachlichen Lehrkräftebildung. Der Artikel beleuchtet die Herausforderun‐ gen und Möglichkeiten, die mit einer kritischen Lehrkräftebildung verbunden sind. Mit Blick auf das transformative Potenzial analysiert Nuske, wie Lehrkräfte durch eine kritische Bildungspraxis entweder transformative Veränderungen er‐ leben oder in bestehenden Mustern verharren. Zudem wird die Relevanz einer kritischen Orientierung in der fremdsprachlichen Lehrkräftebildung betont, weil diese Lehrpersonen dazu befähigen soll, soziale Ungerechtigkeiten zu erkennen und zu bekämpfen. Die erste Fallstudie untersucht eine Lehrkraft, die durch kritische Reflexion und Ausbildung transformative Veränderungen in der Unterrichtspraxis erfährt. Diese Lehrperson entwickelt neue Methoden und Ansätze, um die Bedürfnisse ihrer Schüler: innen besser zu erfüllen. Die zweite Fallstudie beschreibt eine Lehrperson, die trotz der Teilnahme an einer kritischen Lehrkräftebildung in ihren traditio‐ nellen Lehrmethoden verharrt. Dies zeigt die Herausforderung, tief verwurzelte pädagogische Überzeugungen und Praktiken zu ändern. Nuske schlussfolgert, dass die Bereitschaft der Lehrkräfte, sich auf transformative Lernprozesse einzulassen, eine entscheidende Rolle für den Erfolg einer kritischen Fremdsprachenlehrperso‐ nenbildung spielt. Ähnlich wie bei den Prinzipien der Kritischen Fremdsprachendidaktik ist auch für kritische Fremdsprachenlehrkräfte domänenspezifisches Wissen relevant (siehe kom‐ petenztheoretischer Ansatz in Kapitel 2.1.2), d.h. um eine (macht-)kritische Position zu einem bestimmten Thema oder Gegenstand einnehmen zu können, muss man Wissen über dieses Feld haben (vgl. Willingham 2007). Liegt dieses nicht vor, besteht eine ganz grundlegende Gefahr, dass ein Urteil über ein bestimmtes Phänomen stärker über Meinungen gefällt wird. Wie gerade in den vergangenen Jahren jedoch wiederholt gezeigt wurde, ist dies aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive problematisch. Als Lehrpersonen gehen wir verantwortungsvoll mit Themen und Inhalten um. Ein Rück‐ zug auf das sogenannte Neutralitätsgebot (als verbeamtete Lehrkraft) gilt hier übrigens nur so weit, solange keine demokratischen Grundprinzipien verletzt werden (siehe auch Kapitel 4.4). Dies wird deutlich, wenn wir die weiteren Forschungsschwerpunkte bezogen auf eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung betrachten. Der zweite Schwerpunkt nach Gerlach/ Fasching-Varner (2020) ist die Reflexion der Identität und Positionierung in der Gesellschaft. Hierzu gibt es zahlreiche Arbeiten, 4.1 Kritische (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung - Ein Überblick 139 <?page no="141"?> die sich besonders mit der Identität der Lehrpersonen sowie deren Positionierung in der Gesellschaft bzw. gegenüber bestimmten Institutionen oder Normen befassen. So soll eine Identitätsentwicklung u.a. dadurch angeregt werden, dass sich Fremd‐ sprachenlehrpersonen mit ihren eigenen Werten auseinandersetzen und diese mit humanistischen und demokratischen Werten abgleichen. Um sich der eigenen Identität, d.h. Positionierung in der Welt und Gesellschaft (siehe Kapitel 4.3) bewusst zu werden, nutzen Forschende hier besonders Instrumente zur Selbstreflexion, wie beispielsweise reflexive Tagebücher oder Interviews (vgl. Abednia 2012, Afshar/ Movassagh 2021). Darüber hinaus werden Methoden der Materialentwicklung und Aktionsforschung eingesetzt (vgl. Altrichter et al. 2018; siehe auch weiter unten), damit Lehrpersonen durch bestimmte Maßnahmen wie Seminare oder Weiterbildungen eine transformative Identität im Kontext ihres Fremdsprachenunterrichts entwickeln (vgl. Fairley 2020). Wie unter dem ersten Schwerpunkt, der Entwicklung eines kritischen Bewusstseins, ist auch für die Identitätsentwicklung der Großteil der Forschung dem qualitativen Paradigma zuzuordnen und bezieht sich besonders auf angehende Fremdsprachenlehr‐ personen z.B. im Rahmen des Lehramtsstudiums (vgl. z.B. Abednia 2012). Im dritten Forschungsschwerpunkt, der Ausbildungspraxis, werden häufig die Beziehungen und Interaktionen zwischen Lehrkräftebildner: innen und Lehrpersonen untersucht. So zeigt beispielsweise Gray (2019), dass Fremdsprachenlehrkräftebild‐ ner: innen in ihrer täglichen Ausbildungspraxis den Strukturzwängen von Bildungs‐ institutionen unterworfen sind, die besonders durch neoliberale Tendenzen geprägt sind. Um diesen Zwängen in der täglichen Ausbildungspraxis zu begegnen, bräuchte es die Anerkennung und Diskussion der inhärent politischen Funktion von Schule (und Hochschule). Aus universitärer Ausbilder: innensicht schauen Banegas/ Gerlach (2021) auf ihre eigenen Seminare in der Lehrer: innenbildung mit einer kritischen Perspektive auf Sexualerziehung und Gender Awareness im Fremdsprachenunterricht. Forschung im Fokus: Critical language teacher education: A duoethnography of teacher educators’ identities and agency (Banegas/ Gerlach 2021) In ihrem Artikel untersuchen die Autoren die Prozesse der Identitätsbildung und der Handlungsfähigkeit von Lehrkräftebildner: innen im Bereich der kriti‐ schen Fremdsprachenlehrkräftebildung. Durch die Anwendung der Duoethno‐ graphie, bei der sie ihre eigenen Lebensgeschichten und beruflichen Erfahrungen miteinander verflechten, beleuchten die Autoren, wie ihre persönlichen und beruflichen Identitäten geformt und verändert werden. Banegas und Gerlach betonen, dass die kritische Reflexion über die eigene Identität und die eigenen Machtpositionen für Lehrkräftebildner: innen von zentraler Bedeutung sind und dass Lehrkräftebildner: innen, die sich ihrer eigenen Vorurteile und der sozialen Ungerechtigkeiten im Bildungssystem bewusst sind, besser in der Lage sind, transformative pädagogische Praktiken zu entwickeln und zu fördern. Durch die Reflexion ihrer eigenen pädagogischen Wege und ihrer Interaktionen mit 140 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="142"?> (angehenden) Lehrpersonen und Kolleg: innen zeigen die Autoren, wie sie ihre pädagogischen Überzeugungen und Praktiken kontinuierlich hinterfragen und weiterentwickeln. Banegas und Gerlach fordern eine verstärkte Integration kritischer Reflexion und dialogischer Methoden in die fremdsprachliche Lehrkräftebildung, um eine tiefere und nachhaltigere Veränderung pädagogischer Praxis zu ermöglichen. Weitere Arbeiten mit ähnlichen Untersuchungsschwerpunkten (z.B. Crookes/ Lehner 1998, Toohey/ Waterstone 2004, Willett/ Miller 2004) nennen im Wesentlichen die gleichberechtigte Kommunikation und Gestaltung der Ausbildungspraxis als grundle‐ gend für eine kritische Fremdsprachenlehrkräftebildung. Somit kann hierfür, ähnlich wie für die Interaktion mit Lernenden, festgehalten werden, dass die gleichberechtigte Kommunikation, die Autonomie der Lehrenden sowie die gemeinsame Arbeit mitei‐ nander grundlegende Voraussetzungen für die Anbahnung einer kritischen Haltung und Identität sind. Es gibt bisher nur wenige Arbeiten, die die Umsetzung einer kritischen Haltung und Identität in den Strukturzwängen der Praxis der deutschen Schule und im Fremdsprachenunterricht untersuchen (siehe Beiträge in Lüke 2024a, Heidt et al. i.V.). Literaturempfehlung: Englischlehrer: innen im Umgang mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik: Ein praxeologisch-wissenssoziologischer Zugang (Lüke 2024a) In ihrer Arbeit geht Mareen Lüke der Frage nach, wie berufsroutinierte Engli‐ schlehrpersonen ihre unterrichtliche Handlungspraxis nach einem Workshop zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik gestalten und strukturieren. Diese Frage hat im Kontext der kritischen Fremdsprachenlehrkräftebildung im deutschen Raum Relevanz, weil hierzu generell wenige Arbeiten existieren und der Struktur der Praxis der Fremdsprachenlehrpersonen wenig Bedeutung beigemessen wird. In dem Workshop zum Umgang mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik wurden gemeinsam mit den Lehrpersonen die Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachen‐ didaktik erarbeitet, eigene Bedürfnisse und Wünsche als Lehrperson an einen kritisch orientierten Unterricht reflektiert, kritische Unterrichtsmaterialien entwi‐ ckelt, diese in Praxiserkundungsprojekten gemeinsam mit Kolleg: innen untersucht und schließlich Probleme aus der Praxis mithilfe der Kollegialen Fallberatung beraten. Nach dem Workshop wurden dann episodische Interviews mit den Englischlehr‐ personen durchgeführt und mithilfe der Dokumentarischen Methode ausgewertet. Hierbei wurden zentrale Orientierungen der Lehrpersonen rekonstruiert und typisiert, die sie in ihrem unterrichtlichen Handeln zeigen. In der Typenbildung, in der die rekonstruierten Orientierungen abstrahiert werden, zeigen sich besonders 4.1 Kritische (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung - Ein Überblick 141 <?page no="143"?> zwei typische Ausprägungen: Der Typ „Unterrichtliche Durchprozessierung“ und der Typ „Unterrichtliche Aushandlung“. Während sich der Typ „Unterrichtliche Durchprozessierung“ besonders am Unterrichtsfortschritt, der Nichtbeachtung von Lernendenbedürfnissen und der Durcharbeitung des Lehrwerks orientiert, bezieht der Typ „Unterrichtliche Aushandlung“ die Resonanz der Lernenden stärker in die Unterrichtsgestaltung mit ein, praktiziert ein kommunikatives und kreatives - wenn auch nicht kritisches - Vorgehen, das von inhaltlichen Interessen geleitet wird und in dem Unterrichtsstörung als keine Gefahr angesehen werden. Zahlreiche Erkenntnisse aus dieser Arbeit sind in dieses Studienbuch eingeflossen, wie Sie auch im weiteren Verlauf noch erfahren werden. Literaturempfehlung: Investigating Teachers’ Perspectives of Critical Literacies. A Comparison of Case Studies in Canada and in Europe (Louloudi 2024) In diesem Werk untersucht Eleni Louloudi die Perspektiven von Lehrkräften im Bereich von Critical Literacy. Die Studie vergleicht die Haltungen von Lehrkräften aus Kanada, Schottland und Finnland hinsichtlich der Definition und Umsetzung von Critical Literacy in ihren jeweiligen soziokulturellen und soziopädagogischen Kontexten. Die Forschung basiert auf Expert: inneninterviews und einer vergleich‐ enden Fallstudie. Die Ergebnisse zeigen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unter‐ schiede in den Wahrnehmungen der Lehrkräfte. Während kanadische Lehrkräfte beispielsweise Critical Literacy mit sozialer Gerechtigkeit verknüpften, betonten schottische Lehrkräfte die Identitätsentwicklung und finnische Lehrkräfte heben Ideen des Informationsmanagements und von Multiliteralität hervor. Hinsichtlich der Erforschung der Machtförmigkeit von (kritischer) Lehrer: innenbil‐ dung an sich könnten weitere Fragen im Mittelpunkt stehen, wie z.B.: Wie kann eine kritische Haltung zu unterrichtlichen Ungleichheiten in einer hierarchisch orga‐ nisierten Prüfungskultur gewahrt werden, in der Lernende wenig Mitspracherecht haben? Wie können Ungleichheiten auf thematischer Ebene reflektiert und verändert werden, wenn Lehrwerke diese reproduzieren? Wie kann die Vermittlung sprachlicher Fertigkeiten im Einklang mit einer kritischen Haltung zur unterrichtlichen Interak‐ tion und unterrichtlichen Themen erfolgen? Wie kann eine Lehrperson trotz der strukturellen Zwänge ihre Autonomie wahren, um kritische Perspektiven mit in den Fremdsprachenunterricht einfließen zu lassen? Als einen ersten Schritt in diesem Schwerpunkt zeigt die Arbeit von Lüke (2024a), dass der Umgang mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, der durch eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung angeregt wird, zwar auf der expliziten Ebene, d.h. im Bereich der Haltungen, die von den Lehrpersonen unmittelbar geäußert werden, Veränderungen zulässt; Veränderungen im Bereich des impliziten Wissens werden dadurch jedoch nicht ermöglicht und in ihrer Studie auch nicht wirklich sichtbar. Dies 142 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="144"?> wird in der Arbeit u.a. durch eine Orientierung an Leistung und Prüfungen begründet (siehe Kapitel 2.4 zu Normen im Fremdsprachenunterricht), weil die teilnehmenden Lehrpersonen die Erfüllung von Leistungsstandards relevanter setzen als eine kritische Orientierung. Vor dem Hintergrund von Lüke (2024a) und den Forschungsarbeiten aus dem vorigen Überblick wird deutlich, dass eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung mit stärkerem Bezug zur unterrichtlichen Praxis untersucht werden muss und strukturelle Zwänge im Fremdsprachenunterricht (sowie das implizite Wissen) die Umsetzung einer kritischen Haltung und Identität maßgeblich bedingen. Um diese kritische Perspektive überhaupt anzubahnen, braucht es bestimmte praktische Maßnahmen. Es wäre dabei vermessen zu argumentieren, dass ein solcher Professionalisierungsbzw. Unterrichtsentwicklungsprozess gegen alle Widerstände und Strukturen, in die Leh‐ rer: innenbildner: innen, Lehrende sowie Lernende eingebettet sind, einfach stattfinden könnte. Es fehlt weiterhin Forschung dazu, wie diese Prozesse entwickelt und angele‐ itet werden können. Deutlich wird aber schon: Es hängt (natürlich) am beteiligten Lehr‐ personal und ob dieses gegen gewisse Widerstände Interesse an einem demokratie- und bildungsorientierten Fremdsprachenunterricht hat. Parallel dazu hängt die Umsetzung auch immer vom individuell (oder kollektiv) mitgebrachten Habitus ab, der strukturell verinnerlicht ist (siehe Kapitel 2.1 und 2.4). Das hieße im Umkehrschluss, dass die Implementation kritischer Prinzipien sich solange nicht im Fremdsprachenunterricht verwirklichen lässt, solange unser Schulsystem so funktioniert, wie es funktioniert, und für den Fremdsprachenunterricht gewisse Normen wirkmächtig sind (siehe Kapitel 2.4). Unwahrscheinlich ist, dass sich das Schulsystem von heute auf morgen komplett ändern wird. Aber: Es wird sich wandeln (müssen), wenn es den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden will. Lehrpersonen sind dabei diejenigen, die diese sich verändernden Umstände in den Fremdsprachenunterricht bringen und die Herausfor‐ derungen adressieren; kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung kann helfen, auf unterschiedlichen Ebenen Wissen, Werkzeug und Werte zu vermitteln, die mittel- und langfristig für den eigenen Professionalisierungsprozess dienlich sind. 4.2 Lehrpersonenbildungsstandards und eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung In Kapitel 2 wurden die unterschiedlichen Wissensformen und Kompetenzen vor‐ gestellt, die für (angehende) Fremdsprachenlehrkräfte Relevanz haben. In diesem Zusammenhang haben wir auch das fachspezifische Kompetenzprofil der KMK (2024) vorgestellt, welches zusammenfasst, was Studienabsolvent: innen der neuen Fremd‐ sprachen können bzw. wissen sollten. Wie oben jedoch ebenfalls bereits angedeutet wurde, setzt sich eine kritische Fremdsprachenlehrkraft mit diesen Anforderungen und Standards bewusst auseinander, hinterfragt sie vor allem vor dem Hintergrund der eigenen Berufsbiographie, der eigenen Erfahrungen und reflektiert sie perspektivisch für die eigene Zukunft. Wir möchten daher die Anforderungen hier noch einmal einzeln 4.2 Lehrpersonenbildungsstandards und eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung 143 <?page no="145"?> aufführen (KMK 2024: 44) und kritisch mit (möglichen) Fragen zu den Grundprinzipien einer kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung ins Verhältnis setzen. Fremdsprachenlehrkräfte verfügen über ein vertieftes Sprachwissen und „nativnahes“ Sprachkön‐ nen in der Fremdsprache; sie sind in der Lage, ihre fremdsprachliche und interkulturelle Kompetenz auf dem erworbenen Niveau zu erhalten und ständig zu aktualisieren. Diese erste Anforderung betrifft die sprachliche Kompetenz als Sprachlehrkraft. Wäh‐ rend in internationaler Forschung die Forderung nach „nativnahem“ Sprachvermögen stark kritisiert und Diskriminierung gegenüber sogenannten Non-native Speakers offenbar wird, sind Sprachlehrende im deutschen Schulkontext in der Regel ohnehin keine Muttersprachler: innen der Fremdsprache, die sie unterrichten. Gleichwohl gilt es, dieses „nativnahe“ Sprachvermögen auf C2-Niveau kritisch zu hinterfragen: Der Hintergrund des Sprachniveaus sollte nämlich nicht (ausschließlich) sein, Fremdspra‐ chenunterricht auf einem akademischen Niveau zu gestalten. Vielmehr soll ein gewis‐ ses Sprachniveau Flexibilität beim Gestalten von Interaktionsprozessen von Lernenden bedingen. Ob man dies nun an dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (Council of Europe 2020) festmachen muss, sei dann erstmal dahingestellt - zumindest gibt er jedoch eine gute Orientierung für Lehrende (und Lernende). Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen distanziert sich beispielsweise mit dem C2-Niveau auch ganz ausdrücklich von der Idee des Native Speaker-Sprachniveaus: “It should be emphasised that the top level in the CEFR scheme, C2, has no relation whatsoever with what is sometimes referred to as the performance of an idealised “native speaker”, or a “well-educated native speaker or a “near native speaker.” (ebd.: 37) Forschung im Fokus: Das Native-Speaker-Konstrukt im Fokus. Kritik und Kontroversen (Schmenk 2022) In ihrem Aufsatz untersucht Barbara Schmenk (2022) das Konzept des Native Speakers kritisch und beleuchtet seine historische, kulturelle und ideologische Verwobenheit. Der Begriff wird in der Sprachforschung und -didaktik häufig verwendet, um bestimmte Kompetenzniveaus und (vermeintliche) Authentizität zu beschreiben. Schmenk argumentiert, dass dieses Konstrukt tief in kolonialen und nationalistischen Diskursen verankert ist und zur Aufrechterhaltung von Machtstrukturen beiträgt, die nicht-erstsprachliche Sprecher: innen marginali‐ sieren. Sie weist darauf hin, dass das Streichen des Begriffs aus offiziellen Dokumenten wie dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (Council of Europe 2020) zwar ein Fortschritt sein könnte, aber nicht ausreicht, um die zugrunde liegenden Ideologien zu bekämpfen. Stattdessen schlägt sie vor, das Konzept des Native Speakers kritisch zu hinterfragen und seine Rolle in der Fremdsprachendidaktik neu zu definieren. Schmenk plädiert für eine Abkehr von binären Klassifikationen wie Native und Non-native Speaker hin zu einem dynamischen Verständnis von Sprachkompe‐ 144 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="146"?> tenz, das individuelle Sprachbiographien und -repertoires berücksichtigt. Durch eine solche kritische Reflexion könn(t)en die negativen Effekte des Native Speakerisms abgebaut und inklusivere Ansätze in der Sprachbildung gefördert werden. Stimmen von Lehrpersonen: „Ich muss das jetzt (…) noch mal auf Deutsch erklären, sonst verstehen sie’s nicht“ (Wilken 2021: 131) In der Dissertation von Anja Wilken (2021: 131) kritisiert eine Lehrperson die Forderung nach Einhaltung der Zielsprache im Unterricht: Und es immer hieß ähm von der Seminarleitung Sie dürfen also Sie müssen konsequent Englisch sprechen. Alles mit Gesten und Mimik noch mal unterstreichen damit die Kinder das verstehen und wiederholen, und aber ich hab immer noch die Momente wo ich denke, nee ich muss das jetzt das Spiel noch mal auf Deutsch erklären, sonst verstehen sie=s nicht. In Kapitel 2.4 ging es um die Normen des Fremdsprachenunterrichts - wer stellt in diesem Interviewauszug welche Norm auf ? Was könnte der Grund für diese Norm sein? Wie positionieren Sie sich selbst gegenüber dieser Norm? Interessanter in der Standardformulierung ist die Idee des lebenslangen Lernens und die Aktualisierung der Sprachkompetenz im Zusammenhang mit interkulturellem Lernen, also der Sprachkompetenzerhalt durch Austauschformate. Dies hängt natür‐ lich stark von den angestrebten Austauschformaten ab und ob es beispielsweise Angebote für Lernende sind, die begleitet werden (z.B. Schüler: innenaustausche), oder Austausche auf der Ebene von Lehrpersonen. Fremdsprachenlehrkräfte können auf vertieftes, strukturiertes und anschlussfähiges Fach‐ wissen in den Teilgebieten der Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissen‐ schaft zugreifen und grundlegende wie aktuelle Fragestellungen und Methoden erkennen und weiterentwickeln. Die Fachwissenschaften werden häufig im Lehramtsstudium seitens der Studierenden aufgrund ihrer fachlichen Ferne vom angestrebten Arbeitsumfeld der Schule geringer geschätzt. Dass hiermit den Fachwissenschaften im Rahmen einer akademischen Lehrer: innenbildung Unrecht getan wird, haben wir weiter oben schonmal themati‐ siert. Die fachwissenschaftlich grundständige Ausbildung strebt ganz im Gegenteil eine bewusste Entfernung des mitgebrachten Schüler: innenhabitus an, um durch die Konfrontation mit Theorie den nötigen professionellen Abstand gewinnen zu lassen. Von einem strukturtheoretischen Deutungsansatz (siehe Kapitel 2.1.1) gedacht, kann das Fachwissen dann wiederum für eine sachanalytische Betrachtung von späteren Unterrichtsgegenständen im Sinne einer didaktischen Reduzierung dienen. Hierbei helfen auch die Forschungsmethoden der Fachwissenschaften. Gleichzeitig ist es 4.2 Lehrpersonenbildungsstandards und eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung 145 <?page no="147"?> spannend und nötig, die jeweilige Schwerpunktsetzung der Fachwissenschaften an der Universität, an der man studiert, zu hinterfragen und zu erkennen, dass Professuren, Lehrstühle und Mitarbeitende häufig Expert: innen in ihren Feldern sind und damit bestimmte Themen überhäufig in der Lehre stattfinden. Fremdsprachenlehrkräfte verfügen über Erkenntnis- und Arbeitsmethoden im jeweiligen Fach sowie über einen Habitus des forschenden Lernens. Dieser Standard hängt mit dem letzten eng zusammen: Die Entwicklung eines Habitus des forschenden Lernens wird über die Distanzierung zur Praxis angestoßen, gleichsam erfordert die Vielfältigkeit der Forschungsmethoden (nicht nur in den Fachdidaktiken, Fach- oder Bildungswissenschaften, sondern zudem noch im zweiten oder dritten Fach) eine grundlegende Orientierung dahingehend, was für die individuelle Professi‐ onalisierung relevant und nötig ist. Auch scheint es zunächst so, als würde sich der forschende Habitus quasi automatisch einstellen, was wir bezweifeln würden. Ein Be‐ wusstsein für die Notwendigkeit einer forschenden Perspektive ist gleichwohl relevant. Wir werden weiter unten noch vorstellen, welche Rolle wir der Aktionsforschung, d.h. einer Beforschung des eigenen Unterrichts als professionelle Entwicklung hin zu einer kritischen Fremdsprachenlehrkraft attestieren. Fremdsprachenlehrkräfte besitzen die Fähigkeit zur Analyse und Didaktisierung von Texten, insbesondere von literarischen, Sach- und Gebrauchstexten sowie von diskontinuierlichen Texten. Für die Gestaltung eines Fremdsprachenunterrichts, der die Wirkmächtigkeit von Sprache in Texten aller Art mit Lernenden thematisieren möchte, erscheint dies eine zentrale Kompetenz für Fremdsprachenlehrpersonen. Eine Textauswahl nach Kriterien wie Altersangemessenheit, sprachlicher Passung sowie entlang ihres Potenzials für die Gestaltung von Lernprozessen, die zu sinnstiftenden Auseinandersetzungen mit den Inhalten führen, ist hier unentbehrlich. Fremdsprachenlehrkräfte können fachliche und fachdidaktische Fragestellungen und For‐ schungsergebnisse wissenschaftlich adäquat und reflektiert darstellen sowie die gesellschaft‐ liche Bedeutung der Disziplin und des Fremdsprachenunterrichts in der Schule analytisch beschreiben. Eine akademisch orientierte Lehrer: innenbildung sollte Wissen in den unterschiedli‐ chen Fächern und Fachkulturen vermitteln, das entsprechend vernetzt und in Anwen‐ dung gebracht werden kann. Natürlich ist nicht jeder Aspekt von (Prüfungs-)Wissen aus dem Studium relevant für das Unterrichten, die mehrperspektivische und kritische Betrachtung von Gegenständen ist allerdings unbedingt notwendig für die Unterrichts‐ planung und -gestaltung. Dieser Standard geht aber sogar noch einen Schritt weiter: Er fordert die Fähig‐ keit zum wissenschaftlich-analytischen Denken nicht nur für die Gestaltung des Unterrichts, sondern auch für die Rechtfertigung der Bedeutung der Disziplin und 146 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="148"?> des eigenen Unterrichts in einem gesellschaftlichen Kontext. Die Bedeutung des Fremdsprachenunterrichts als Teil der Allgemeinbildung wäre sicherlich deutlich niedriger anzusetzen, wenn die Fremdsprachen nur - als Sprachkurse konzeptualisiert - sprachliche Fertigkeiten, Grammatik und Wortschatz vermitteln würden. Vielmehr sind die Gegenstände eines (auch und vielleicht insbesondere kritischen) Fremdspra‐ chenunterrichts gesellschaftlich relevant, entfalten emanzipatorisches Potenzial und eröffnen damit die Möglichkeit, transformatorische Bildungsprozesse anzustoßen. Fremdsprachenlehrkräfte kennen die wichtigsten Ansätze der Sprach-, Literatur-, Kultur- und Mediendidaktik und können diese für den Unterricht nutzen. Das gerade beschriebene Bildungspotenzial des Fremdsprachenunterrichts ergibt sich also im Wesentlichen aus seinen Gegenständen. Für die Fremdsprachenlehrer: innen‐ bildung folgt daraus, dass sie einen umfassenden Über- und Einblick in die Sprach-, Literatur-, Kultur- und Mediendidaktik erlauben sollte. Gewinnen Studierende keine Einblicke in literaturdidaktische Prinzipien, besteht die Gefahr, dass sie das Potenzial des Einsatzes von verschiedenen Formen von Literatur nicht wertschätzen lernen, da sie vielleicht dem Literaturunterricht in der Schule als Schüler: innen selbst nur wenig Bedeutung beigemessen haben, da dieser nach traditionellen Verfahren gestaltet wurde. Mit einer Neubetrachtung bestimmter Themen und Ansätze vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher, aber auch wissenschaftlicher Entwicklungen könnten gerade bestimmte literarische (oder kulturelle) Gegenstände besonders bedeutsam sein. Fremdsprachenlehrkräfte verfügen über eine linguistisch fundierte Textkompetenz, die es ihnen erlaubt, die sprachlichen und kulturellen Komplexitäten von Texten zu bewerten, einschließlich der Typisierung von Texten und sie können textlinguistische Kriterien mit didaktischen Fragen des Textverstehens verbinden. Ohne diese Textkompetenz scheint eine kritisch orientierte Textauswahl bzw. das Anleiten von Lernenden zur Textarbeit kaum möglich. Die Machtförmigkeit von Sprache und sprachliche bzw. kulturelle Eigenheiten können nur aufgedeckt werden, wenn Wissen um diese Strukturen vorhanden ist und Lernende für diese sensibilisiert werden. Zur Didaktisierung bzw. methodischen Herangehensweise an potentiell kri‐ tisch auszuwertende oder zu transformierende Texte ist es nötig, ein entsprechendes Gerüst aufzubauen, das Lernenden bei der Bearbeitung hilft. Fremdsprachenlehrkräfte verfügen über ausbaufähiges Orientierungswissen und Reflexivität im Hinblick auf fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse auch unter dem Gesichtspunkt von Mehrsprachigkeit, Heterogenität und inklusiven Unterricht. (Angehenden) Fremdsprachenlehrkräften wird hier attestiert, dass sie Lehr- und Lern‐ prozesse noch nicht vollumfänglich (woher auch) gestalten können. Möglicherweise haben fachdidaktische Seminare oder das Praxissemester Grundlagen in dieser Hin‐ sicht angebahnt; vertieft werden diese allerdings stärker im Vorbereitungsdienst. Rele‐ vanter erscheint hier die Nennung von Heterogenität, Inklusion und Mehrsprachigkeit: 4.2 Lehrpersonenbildungsstandards und eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung 147 <?page no="149"?> Diese werden als Anforderungskontexte für Lehr- und Lernprozesse gerahmt. Auch dies hängt wiederum maßgeblich von Schwerpunktsetzungen an den Hochschulen und Universitäten ab: Zwar ist mittlerweile in einigen Studiengängen vorgegeben, dass Inklusion Gegenstand in fachwissenschaftlichen oder fachdidaktischen Studienantei‐ len ist, jedoch bleibt die inhaltliche Ausdifferenzierung von Inklusion maßgeblich in den Händen der Dozierenden. Welches Konzept von Mehrsprachigkeit vermitteln sie? Welches Verständnis von Inklusion (siehe Kapitel 2.2.3) oder Heterogenität legen sie zugrunde? Wie wird beides für Fremdsprachenunterricht gerahmt? Stimmen von Lehrpersonen: „Behandelt die doch als Menschen so. Und nicht als Leute mit Migrationshintergrund.“ (Wilken 2021: 148) In der Dissertation von Anja Wilken (2021) beschreibt eine Lehrperson, wie sie zum Thema Mehrsprachigkeit steht: und wie das halt so ist ähm (.) haben die Politiker gerne immer so=n bisschen drauf rumgehackt (.) dass äh Vielfalt und hier und da und (.) ähm haben auch ihre Flyer in verschiedenen Sprachen ausgeteilt und (.) da: (.) hab=ich mich auch in der in der Plenumsdiskussion da tierisch drüber aufgeregt (.) und hab denen gesagt dass ich das äh ähm dass das für mich positiver Rassismus ist und dass die da bitte aufhören sollten ähm nicht nur mich jetzt auch als als Einzelperson, sondern uns alle an der Schule (.) irgendwie nur unter dem Aspekt derdes Migrationshintergrunds und der Anders‐ sprachigkeit ähm definieren sollen. […] dass da so=n positiver Rassismus vorherrscht und dass es immer darum geht Migrationshintergrund hier Migrationshintergrund da (.) verschiedene Sprachen bla bla bla und ähm (.) […]o=n wo ich für mich persönlich immer sagen muss warum legt man denn den Fokus so sehr darauf. Behandelt die doch als Menschen, so. Und nicht als Leute mit Migrationshintergrund. Welche Konzepte und Ebenen von Schule bzw. dem Bildungssystem bringt die Lehrperson in diesem Statement zusammen? Was ist das grundlegende Problem? Was ist das Verhältnis von Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit für die Lehrperson? Der nächste Standard hängt mit dem vorherigen inhaltlich eng zusammen: Fremdsprachenlehrkräfte kennen Möglichkeiten der Gestaltung von Lehr- und Lernarran‐ gements insbesondere unter Berücksichtigung heterogener Lernvoraussetzungen und Inklu‐ sion. Heterogene Lernvoraussetzungen betreffen alle Schüler: innengruppen auf unter‐ schiedlichen Ebenen von Motivation, sprachlichen und fachlichen Kompetenzen, In‐ teraktionen mit Peers oder Lehrpersonen etc. Inklusion wiederum kann eng verstanden sich auf sonderpädagogische Förderbedarfe beziehen, im weiteren Sinn aber auch alle anderen Lernvoraussetzungen bzw. Diversitätsmerkmale meinen. Die Kenntnis sowie der Gebrauch von Möglichkeiten zur Gestaltung entsprechender Angebote, die diese 148 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="150"?> Lernvoraussetzungen adressieren, setzt nicht nur diagnostische Kompetenzen voraus (also die Frage, wie ich als Lehrperson diese Voraussetzungen sichtbar machen kann) und das Wissen über Differenzierungsmöglichkeiten, sondern auch ein entsprechendes Mindset hinsichtlich der Gestaltung eines derartigen Unterrichts (siehe Kapitel 2.3.3). Parallel dazu muss berücksichtigt werden, dass die aktuell gültigen Bildungsstandards für Lernende der ersten Fremdsprache wenig inklusionsorientiert und wenig diskrimi‐ nierungskritisch sind (vgl. Vernal Schmidt et al. 2024, siehe auch Kapitel 2.2.4), es also maßgeblich an den Lehrpersonen liegt, entsprechende Lernangebote zu schaffen und Themen in den Vordergrund zu rücken, die im weitesten Sinne diversitätsorientiert sind und damit z.B. auch gendersensibel, rassismus-, gesellschafts- und machtkritisch. Fremdsprachenlehrkräfte verfügen über vertieftes Wissen zur Entwicklung und Förderung von kommunikativer, interkultureller und textbezogener fremdsprachlicher Kompetenz, methodischer Kompetenz und Sprachlernkompetenz von Schülerinnen und Schülern. Dieser Standard bezieht sich wiederum auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozes‐ sen, hier jedoch mit einer besonderen Fokussierung auf die im Fremdsprachenunter‐ richt besonders zu fördernden Kompetenzen, wie sie durch die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (vgl. KMK 2023) festgelegt sind. Dies setzt voraus, dass Fremdsprachenlehrpersonen sich mit den Bildungsstandards, ihren Inhalten, Anforde‐ rungen und möglichst ebenfalls mit der Kritik an diesen Standards auseinandersetzen (vgl. z.B. das Themenheft der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, Ausgabe 1/ 2024). Dass Standards ein politisches Instrument sind, um Rahmenbedingungen herzustellen, innerhalb derer sich Schule bewegt, sollte keine Überraschung darstellen. Bedeutsam ist in dem Zusammenhang aber, dass der Weg und die inhaltliche Füllung dieser Standards bzw. die Förderung der entsprechenden Kompetenzen auf unterschiedlichen Wegen geschehen kann. Die Bildungsstandards berücksichtigen dabei auch nicht die ganz individuellen, kontextsensiblen Bedingungen, unter denen Lehrpersonen unterrichten und Lernende lernen. Und sie können auch nicht aktuelle gesellschaftliche oder pädagogische Herausforderungen berücksichtigen, zu deren Gunsten vielleicht auch einmal die Förderung sprachlicher Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht zurückstehen muss. Fremdsprachenlehrkräfte verfügen über erste reflektierte Erfahrungen in der kompetenz‐ orientierten Planung und Durchführung von Fremdsprachenunterricht in heterogenen Lerngruppen z.B. im Hinblick auf zieldifferenten und zielgleichen Unterricht und kennen Grundlagen der Leistungsdiagnose und -beurteilung im Fach. Erste Erfahrungen von Unterrichtsplanung und -durchführung geschehen idealerweise angeleitet durch Lehrer: innenbildner: innen im Rahmen von Praxiserfahrungen wie dem Praxissemester. Der Standard hebt noch einmal die Heterogenität von Lerngrup‐ pen hervor und betont damit, dass dies für Planung und Durchführung ein höchst relevanter Faktor ist, der in Zusammenhang mit Leistungsdiagnose und -beurteilung steht. Man mag zunächst vermuten, dass Leistungsdiagnose und Kritische Fremd‐ 4.2 Lehrpersonenbildungsstandards und eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung 149 <?page no="151"?> sprachendidaktik vielleicht nicht unmittelbar zusammengehören. Das tun sie auch nicht, wenn man Leistungsdiagnose nur im Zusammenhang mit Klassenarbeiten oder einer Outputorientierung denkt, deren Maßstäbe bzw. Normen durchaus kritikwürdig sein können. Leistungsdiagnose gehört aber dennoch in einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht, da die Voraussetzungen für einen kritischen Diskurs im Unterricht maßgeblich vom themenspezifischen Vorwissen und den sprachlichen Kompetenzen der Lernenden abhängen. Zwar ergibt es Sinn, metareflexive oder machtkritische Perspektiven im Fremdsprachenunterricht phasenweise in der Erst- oder Umgebungssprache der Lernenden (statt in der zu lernenden Fremdsprache) einzubringen, allerdings werden ja nicht erst für die (fremdsprachliche) Produktion sprachliche Mittel benötigt, sondern auch, um z.B. Inputmaterial zunächst einmal zu verstehen und auf ihr möglicherweise problematisches Potenzial hin zu analysieren. Ein kritischer Fremdsprachenunterricht, der die Lernausgangslage der Lernenden nicht in den Blick nimmt, läuft ansonsten sogar Gefahr, das Gegenteil von dem hervorzurufen, was er eigentlich will: Dann würde ein Unterricht, der nicht die (Förder-)Bedürfnisse von Lernenden adressiert, tatsächlich diskriminierend, nicht inklusiv sein und würde Ungleichheitsverhältnisse herstellen bzw. perpetuieren. Fremdsprachenlehrkräfte können auf der Grundlage ihrer fachbezogenen Expertise hin‐ sichtlich der Planung und Gestaltung eines inklusiven Unterrichts mit sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkräften und sonstigem pädagogischen Personal zusammenarbeiten und mit ihnen gemeinsam entsprechende Lernangebote entwickeln. Ob bei Abschluss des Studiums schon von einer „Expertise hinsichtlich der Planung und Gestaltung eines inklusiven Unterrichts“ im Sinne des Expertisebegriffs (vgl. Kapitel 2.1.2) gesprochen werden kann, sei einmal dahingestellt. Unbedingt beachtenswert ist aber, dass hier die Kooperation zwischen Fachlehrpersonen und Sonderpädagog: innen und pädagogischen Förderkräften als bedeutsam herausgestellt wird und diese Grup‐ pen gemeinsam Lernangebote entwickeln. Schließlich hat das (sonder-)pädagogische Lehrpersonal besondere Kenntnisse zur Förderung von Lernenden mit sonderpädago‐ gischem Förderbedarf, kennt die Lernenden in ihrem engen Betreuungsverhältnis häufig sogar noch besser, als es Fachlehrpersonen möglich ist, und kann daher eine Einschätzung geben. Die gemeinsame Planung eines Lernangebots, welches dann auf Partizipation am gemeinsamen Unterricht angelegt sein muss, ist natürlich nicht trivial. Und außerdem benötigt die gemeinsame Planung (Arbeits-)Zeit, die unter den aktuellen Bedingungen von Schule und Unterricht kaum vorhanden ist. D.h. für die Erfüllung dieses Standards müssen sich eigentlich institutionelle Strukturen und Vorgaben ändern. Fremdsprachenlehrkräfte sind sensibilisiert für den Bedarf an barrierefreien Lernmedien von Lernenden mit Behinderungen. Lernende mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen haben es ungleich schwerer, am Fremd‐ sprachenunterricht zu partizipieren, dessen Lernmedien über Sprechen und Hören (z.B. 150 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="152"?> beim Hörverstehen oder dialogischem Sprechen) oder Schreiben und Lesen (Rezipieren von Inputtexten oder Arbeitsanweisungen, schriftliches Bearbeiten von Aufgaben) funktionieren. Für die Anbahnung einer Critical Literacy, wie wir sie oben in Kapitel 3.1 beschrieben haben, ist es daher für diese Lernenden unverzichtbar, das Textbzw.- Arbeitsmaterial in einer anderen oder zumindest einer barrierefreien Form zu erhalten. Unter dem Aspekt von Partizipation und Inklusion können barrierefreie Lernmedien dabei nicht nur Lernende mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen unterstützen: Auch Lernende mit Lese- oder Schreibschwierigkeiten können mit barrierefreien Medien wie z.B. Texten, die auch als Hörtexte vorliegen oder digitale Texte, deren Schriftgröße angepasst werden kann, potentiell besser inkludiert und adressiert werden. Die Multi‐ modalität, insbesondere ermöglicht durch digitale Materialien, kann hier einen echten Mehrwert gegenüber traditionellen Printmedien darstellen. Die Sensibilisierung der Fremdsprachenlehrkräfte dafür, dass ein Bedarf an barrierefreien Lernmedien besteht, bedeutet noch lange nicht, dass diese zur Verfügung stehen. Allerdings bietet ein enger Austausch mit Lernenden über ihre individuellen Bedürfnisse und Erfahrungen, was ihnen im Alltag oder auch in anderen Fächern hilft, möglicherweise eine gute Grundlage dafür, wie man selbst auf die Materialien blickt, die man in den Unterricht mitbringt. Fremdsprachenlehrkräfte sind in der Lage, Entwicklungen im Bereich Digitalisierung aus fachlicher und fachdidaktischer Sicht angemessen zu rezipieren sowie Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung kritisch zu reflektieren. Sie können die daraus gewonnenen Erkenntnisse in fachdidaktischen Kontexten nutzen sowie in die Weiterentwicklung unter‐ richtlicher und curricularer Konzepte einbringen. Sie sind sensibilisiert für die Chancen digitaler Lernmedien hinsichtlich Barrierefreiheit und nutzen digitale Medien auch zur Differenzierung und individuellen Förderung im Unterricht. Man kann eine unzureichende technische Ausstattung an deutschen Schulen kriti‐ sieren, allerdings durchzieht Digitalität unseren Alltag, Gesellschaft, Medien und Institutionen in einem solchen Ausmaß, dass auch Schule, Bildung und Unterricht diesem Umstand Rechnung tragen müssen. Die mobilen Endgeräte von Lehrpersonen und Lernenden erleichtern dabei den Zugang, den die schulische Technikausstattung möglicherweise noch nicht flächendeckend bereithält. Gleichzeitig ruft der Standard dazu auf, die Möglichkeiten in der Breite zu kennen und Chancen und Grenzen „kritisch zu reflektieren“. Partizipation an globalen Diskursen ist hier für den Fremdsprachen‐ unterricht sicherlich ein Kern. Diese Partizipation wird nicht selten durch soziale Medien beeinflusst. Der kritische Umgang mit ihnen gehört damit ebenso im Kern zur Förderung von lerner: innenseitiger Medienkompetenz wie die angemessene Auswahl von Inhalten seitens der Lehrperson. Die Verwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) hat zuletzt weitere Anforderungen für die Lehrpersonen gebracht. Auch wenn sich ein (kritisch-)bildungsorientierter Fremdsprachenunterricht unserer Meinung nach (im Gegensatz zu manchen Unkenrufen) keine Sorgen machen muss, aufgrund der Fähig‐ keiten von KI obsolet zu werden, so verändert KI dennoch die Dynamiken im Fremd‐ 4.2 Lehrpersonenbildungsstandards und eine kritische Fremdsprachenlehrer: innenbildung 151 <?page no="153"?> sprachenunterricht: Übersetzungen und Textproduktion werden erleichtert, aber auch das Üben sprachlicher Strukturen. Das Angebot von differenzierenden Texten auf unterschiedlichen Niveaustufen, die dennoch den gleichen Inhalt transportieren, bietet sogar Chancen auf mehr Inklusion und Partizipation im Unterricht. Lehrpersonen müssen allerdings ein Bewusstsein über die Implikationen der Nutzung von KI auf sozialer Ebene haben: Möglicherweise haben nicht alle Lernenden gleichermaßen Zu‐ griff auf entsprechende Tools oder haben bestimmte Funktionen noch nicht entdecken können. Hierfür benötigen sie (möglicherweise auch finanzielle) Unterstützung, damit keine Schere von Medienkompetenz innerhalb eines Klassenzimmers dazu führt, dass Ungleichheiten auf fachlich-inhaltlicher Ebene auftreten allein durch die Vorteile, die KI bietet. Die fremdsprachendidaktischen Standards zur Lehrer: innenbildung folgen natürlich einer kompetenztheoretischen Logik und gewissermaßen (bzw. idealerweise) einem Backward Planning: Wenn gewünscht ist, dass Fremdsprachenlehrpersonen diese An‐ forderungen erfüllen, muss universitäre Lehrer: innenbildung Gelegenheiten schaffen, dieses Wissen zu erwerben. Dass Wissen nicht immer zielgerichtet aufgenommen wird bzw. kein 1: 1-Verhältnis besteht von curricularem Wissen und dem, was in den Köpfen von Fremdsprachenlehrkräften vorgeht und was sie dann als Unterrichtshandeln zeigen, konnten wir schon in Kapitel 2.3 deutlich machen. Gleichwohl bieten die Standards eine Grundlage dafür, was fremdsprachliche Lehrer: innenbildung in der Universität und Hochschule vermitteln soll. Als Norm ist das zunächst einmal gesetzt, wird sicherlich auch häufig hinterfragt und in Zukunft immer wieder angepasst werden müssen. Dabei sind die Standards, wie oben klar geworden sein dürfte, auch so allge‐ mein formuliert, dass es immer Auslegungssache sein wird, was eine „angemessene Rezeption“ oder was „erste reflektierte Erfahrungen“ der Fremdsprachenlehrkräfte sind. Was zählt ist sicherlich ein Bewusstsein für die Lehrer: innenbildungsstandards, die Anforderungen und eine ganz individuelle Positionierung und Relationierung dieser Anforderungen mit dem eigenen Lehrer: innenwerden und dem Handeln im Fremdsprachenunterricht. Die Standards steuern sicherlich in gewissem Maße, wenn auch indirekt, was in den Lehramtsstudiengängen an deutschen Universitäten und pädagogischen Hochschulen geschieht. Die daraus resultierende Praxis hat mittelbaren Einfluss auf die (angehenden) Lehrpersonen, will heißen: Es macht etwas mit ihnen. Und um herauszufinden, was genau es mit ihnen (vielleicht) macht, schauen wir uns im nächsten Kapitel an, was die Diskussionen bis hierher mit der Identität von Fremdsprachenlehrpersonen zu tun hat. 4.3 Language Teacher Identity Weiter oben ist bereits der Begriff des Habitus bzw. Lehrer: innenhabitus gefallen. Die Habitustheorie von Pierre Bourdieu (1987, 1992) beschreibt, wie individuelle Denk- und Handlungsmuster durch soziale Strukturen und kulturelle Praktiken geprägt 152 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="154"?> werden. Der Habitus ist ein System von dauerhaften, verinnerlichten Dispositionen, das Menschen dazu bringt, auf bestimmte Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln. Diese Dispositionen werden durch die Sozialisation innerhalb spezifischer sozialer Felder geformt, wie (ganz besonders) in der Familie, später im Bildungssystem und in der Berufswelt - in unserem Fall und Kontext für dieses Studienbuch also in Lehrer: innenbildung und Schule (vgl. Beiträge in Kramer/ Pallesen 2019). Der Habitus beeinflusst, wie Individuen ihre Umwelt wahrnehmen und auf sie reagieren, allerdings sind diese Reaktionen als Praktiken den Individuen in der Regel nicht reflexiv zugäng‐ lich, da es sich um verinnerlichtes, implizites Wissen handelt (siehe Kapitel 2.3.1). Gerade Forschungsprojekte, die in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum die Wirkmächtigkeit gewisser Normen wie Prüfungs- und Standardorientierung im Fremdsprachenunterricht herausgestellt haben (siehe Kapitel 2.4), nutzen als Grundla‐ gentheorie Bourdieus Habitus, um internalisierte Praktiken und Strukturen besser zu verstehen. Als (angehende) Lehrpersonen sind wir alle in diese Strukturen eingebunden und können ihnen auch nur schwerlich entkommen. Denn: Wenn dieses Handeln primär durch implizites Wissen gesteuert ist, können wir es ja kaum reflektieren. Eine „Habitusreflexion“ (siehe z.B. auch Jenert 2021, Wittek et al. 2022) ist nämlich ein recht komplexes Unterfangen. Forschung im Fokus: Habitusreflexion (Wittek et al. 2022) Im Artikel „Habitusreflexion und reflexiver Habitus im Widerstreit - grundla‐ gentheoretische Überlegungen und empirische Annäherungsversuche“ hinter‐ fragen Wittek et al. (2022), wie die Konzepte Reflexion und Habitus zusam‐ mengeführt werden können und stellen die theoretischen Grundlagen sowie empirische Ansätze zur Diskussion. Habitusreflexion wird als besondere Form der Selbstreflexion definiert, die sich auf habituelle Dispositionen bezieht, also auch unbewusste und implizite Aspekte des Selbst einbezieht. Der Habitus, nach Bourdieu als Produkt der Einverleibung sozialer Strukturen verstanden, ist das zentrale Objekt der Reflexion. Diese tief verwurzelten Strukturen sind schwer zu reflektieren, da sie in den sozialen und biographischen Erfahrungen verankert sind. Der reflexive Habitus wird als Erweiterung des professionellen Habitus durch gezielte Reflexion und wissenschaftliche Methoden entwickelt. Dies er‐ fordert eine Distanzierung von der Praxis, um eine kritische Sichtweise auf das eigene Handeln zu ermöglichen, was zentral für die Entwicklung professioneller Kompetenzen bei Lehrpersonen ist. Neben der Idee von Habitusreflexion existieren auch weitere Ansätze, um implizites Wissen reflektierbar zu machen. Dies geht allerdings (vermutlich) nur mit Kommili‐ ton: innen, Kolleg: innen oder Lehrkräftebildner: innen, wenn implizites Wissen eben 4.3 Language Teacher Identity 153 <?page no="155"?> einer Rekonstruktion bedarf und nicht - wie explizites Wissen - relativ leicht abruf- oder erhebbar ist. Forschung im Fokus: Implizite Reflexion (Gerlach 2022b) Mit „impliziter Reflexion“ (Gerlach 2022b) wird der Versuch beschrieben, das implizite Wissen von Lehrkräften, d.h. ihre unbewussten Überzeugungen und Glaubenssätze, ins Bewusstsein zu rücken und für Professionalisierungsprozesse nutzbar zu machen. Dabei wird angenommen, dass dieses implizite Wissen das Handeln maßgeblich beeinflusst und durch narrative Methoden wie Erzäh‐ lungen und Beschreibungen eher zugänglich gemacht werden kann als durch argumentative oder bewertende Ansätze, welche sich jedoch sehr viel häufiger in Reflexionen von Lehrpersonen finden. Implizite Reflexion zielt darauf ab, angehenden Lehrkräften zu helfen, ihre unterschwelligen Überzeugungen und habitualisierten Orientierungen besser zu verstehen und in der beruflichen Entwicklung zu berücksichtigen, indem Reflexionsgespräche wie narrative Interviews gestaltet werden. Hierfür sind aber Kolleg: innen notwendig, die ein besonderes Augenmerk für die nötigen Aspekte haben, die in solchen eher erzählenden Reflexionen zutage treten. Noch besser können Lehrkräftebildner: innen oder Mentor: innen eine solche implizite Reflexion anleiten, d.h. beispielsweise Unterrichtsnachbesprechungen derart gestalten, dass nicht reine Wertungen zum Unterricht vorgenommen werden, sondern die Lehrperson zunächst im wahrsten Sinne des Wortes in der Retro‐ spektive (nach-)erzählt, was passiert ist. Hierbei kommt es dann nicht nur darauf an, was konkret Teil der Erzählung ist, sondern wie es erzählt wird: Werden z.B. wiederholt Handlungsabläufe sehr unpersönlich als Passivkonstruktionen beschrieben, liegt der Verdacht nahe, dass etwas mit der Person „geschehen“ ist, auf das sie keinen Einfluss hatte, dass normativ etwas gewirkt hat, das vielleicht im weiteren Verlauf des Gesprächs auf einer deutlich expliziteren Ebene nochmal in den Fokus gerückt werden müsste. Werani (2023: 83) schreibt: „Bei der Bewusstmachung des Habitus handelt es sich um den Übergang zur Wahrnehmung der eigenen Identität.“ (Hervorhebung im Original) Zumindest Teilaspekte des Habitus lassen sich damit durch ein reflexives, sicherlich aber narratives Vorgehen beschreibbzw. rekonstruierbar machen. Eine andere Mög‐ lichkeit, sich den Überzeugungen und dem Handeln von Sprachlehrpersonen innerhalb von Strukturen und Institutionen zu widmen, kann das Konstrukt von Language Teacher Identity sein. Die Identitätstheorie ist anders gelagert als die Habitustheorie: Identität ist deutlich fluider, wechselhafter, aber auch verknüpft mit stärker expliziten Wissensbeständen. In Kapitel 2.3.4 wurde Identität bereits im Zwiebelmodell der Reflexion als eine Schicht dargestellt, die zum einen von der tiefliegenden Mission 154 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="156"?> geprägt wird und dann wiederum die Überzeugungen beeinflussen kann. Allerdings liegt in dem Modell Identität sehr tief im Inneren einer Lehrperson verborgen. Wir verstehen hier Identität, wie auch viele Forschende, als Positionierung gegenüber Themen, Institutionen und Personen (vgl. Kayi-Aydar 2019). Diese Positionierung wiederum beeinflusst (natürlich), wie wir in bestimmten Kontexten und Situationen handeln. Dieses Handeln mag dann wiederum habituell gesteuert sein, die Reflexion darüber als „Identitätsreflexion“ oder „Positionierungsreflexion“ (in Abgrenzung zu einer „Habitusreflexion“) ist dann jedoch eine, die in unseren Augen großes Potenzial insbesondere für kritische Professionalisierungsprozesse haben kann, die wir mit diesem Buch anstoßen möchten. Denn wenn Sie die Themen, für die eine kritische Fremdsprachendidaktik steht (siehe Kapitel 3), betrachten und eingehender studieren, kann man zu diesen Themen und Schwerpunkten nicht keine Meinung haben, d.h. man muss sich positionieren. Und so geht es übrigens auch den Lernenden. Forschung im Fokus: Learner Identity Dass mittlerweile und insbesondere im internationalen Diskurs der Fremdspra‐ chenforschung der Identity-Begriff eine große Konjunktur hat, ist unter anderem das Verdienst von Bonny Norton (2013). Sie definiert Identität als “the way a person understands his or her relationship to the world, how that relationship is structured across time and space, and how the person understands possibilities for the future” (ebd.: 4). Sie hat das Konzept der Learner Identity damit als dynamisch und kontextabhängig betont. Laut Norton ist die Identität von Sprachlernenden nicht statisch, sondern wird durch soziale Interaktionen und Machtverhältnisse ständig neu verhandelt, ist also in eine kulturelle Praxis des Fremdsprachenunterrichts eingebettet und gewissermaßen davon abhängig. Nortons Forschung hebt hervor, dass Lernende verschiedene Identitäten in unter‐ schiedlichen Kontexten einnehmen, was ihre Motivation und ihr Engagement im Sprachlernprozess beeinflusst. Norton argumentiert, dass Sprachlernende nicht nur Wissen und Fähigkeiten erwerben, sondern auch um soziale Anerkennung und Zugehörigkeit kämpfen. Diese Perspektive beeinflusst die Forschung und Praxis im Fremdsprachenunterricht nachhaltig, indem sie die Bedeutung der sozialen Dimension des Lernens ins Zentrum rückt und dazu beiträgt, dass Lernprozesse als komplexe, identitätsbezogene Aktivitäten verstanden werden. Nortons Arbeit betont die Notwendigkeit, Lernumgebungen zu schaffen, die die vielfältigen Identitäten der Lernenden anerkennen und unterstützen. Wir legen im Rahmen dieses Buches übrigens ein eher angloamerikanisch-in‐ ternationales Verständnis von Identity zugrunde und nutzen daher primär den englischsprachigen Begriff: Im deutschsprachigen Raum wird „Identität“ in einer Tradition von Erikson (1968) deutlich stärker psychologisiert und nicht durchgängig im Sinne der Positionierungstheorie verstanden (Überblick auch in Schultze 2018 und Gerlach 2023). Im Sinne einer kritischen Fremdsprachenlehr‐ 4.3 Language Teacher Identity 155 <?page no="157"?> personenbildung ist uns eine offenere und entwicklungsdynamischere Perspek‐ tive auf Identität/ Identity jedoch wichtig. Diese steht stärker in einer Tradition von Mead (2015) und dem symbolischen Interaktionismus, der betont, dass Identität durch soziale Interaktionen und den Austausch von Symbolen (z.B. Sprache) geformt wird. Identität ist somit ein soziales Konstrukt, das durch den Umgang mit anderen Menschen entsteht. Schon aus Nortons Definition (siehe Kasten) wird die Positionierung und das Selbst‐ verständnis deutlich, auf das die Arbeit mit Identitätskonstrukten Wert legt. Nicht nur Lernende sollen ihre Eingebundenheit in soziale Kontexte verstehen, auch Lehrperso‐ nen reflektieren diese Eingebundenheit und eventuelle Abhängigkeit. Man positioniert sich folglich nicht nur selbst gegenüber Unterrichtsgegenständen oder äußeren Um‐ ständen, man wird auch fremd-positioniert und muss mit dieser Fremdpositionierung umgehen (lernen). Dabei trägt man selbst als Person unterschiedliche Identitäten mit sich: eine private Identität mit Familien und Freund: innen, eine professionelle Identität im beruflichen Umfeld, eine vielleicht kulturelle Identität beim Musizieren in einer Band oder eine soziale Identität bei der Arbeit in einem Ehrenamt. Diese Identitäten können sich überschneiden, grundlegende Überzeugungen haben dabei aber sicherlich auf die meisten der Identitäten Einfluss. Und doch „funktionieren“ wir in unterschiedlichen Kontexten anders, positionieren uns anders, stellen uns anders dar. Zu unterscheiden ist Identity dabei von der Idee einer „sozialen Rolle“, welche eher mit handlungsspezifischen Mustern in bestimmten Kontexten zusammenhängt. Wäh‐ rend die Identität eines Individuums ein breites und tiefgreifendes (Selbst-)Verständnis seiner selbst umfasst, konzentriert sich die soziale Rolle auf spezifische Verhaltens‐ weisen und Erwartungen in bestimmten sozialen Kontexten. Beide Konzepte sind miteinander verknüpft, da die Erfüllung sozialer Rollen zur Formung und Veränderung der Identität beitragen kann und umgekehrt die Identität beeinflusst, wie jemand seine: ihre sozialen Rollen interpretiert und ausführt (siehe „onion model“ in Kapitel 2.3.4). Literaturempfehlung: Sprache und Identität - eine Einführung (Werani 2023) Das Narr-Studienbuch Sprache und Identität - eine Einführung von Anke Werani (2023) beleuchtet den komplexen Zusammenhang zwischen Sprache und Identität aus einer psycholinguistischen Perspektive und integriert dabei entwicklungsp‐ sychologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse. Das Werk beginnt mit einer detaillierten Einführung in die terminologischen Grundlagen der Begriffe „Sprache“ und „Identität“. Werani erklärt, wie Sprache als zentrales Medium der Identitätsbildung fungiert, indem sie die Möglichkeit bietet, sich selbst und die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Diese Narrationen sind wesentlich, da sie 156 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="158"?> Individuen helfen, eine kohärente Identität zu entwickeln und zu reflektieren, wer sie sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buches ist die Untersuchung, wie Identitäts‐ merkmale in der Sprache ausgedrückt werden. Werani zeigt auf, dass Sprache nicht nur ein Mittel der Kommunikation ist, sondern auch ein Werkzeug zur Darstellung von Identität. Das Buch geht in dem Zusammenhang auf weitere spezifische Forschungsbereiche ein, wie zum Beispiel Gender und Mehrsprachigkeit. Forschung im Fokus: Zum Stand der Forschung zu Language Teacher Identity Im deutschsprachigen Raum wird wenig zu Language Teacher Identity geforscht. Nur zwei Dissertationen haben sich im Besonderen mit Identität beschäftigt. Hierzu gehört zum einen die Arbeit von Katrin Schultze (2018), die berufliche Identitätsbildungsprozesse von Englischlehrpersonen anhand von (berufs-)bio‐ graphischen Erzählungen betrachtet. Beate Valadez Vazquez (2014) Dissertation geht in eine ähnliche Richtung, differenziert aber stark zwischen beruflicher und privater Identität (angehender) Spanischlehrpersonen. In einem aktuellen Projekt rekonstruiert Lisa Fischer (2024) die Identität(en) und Positionierungen von Englischlehramtsstudierenden innerhalb eines Auslandsschulpraktikums. International hat sich die Forschung zu Language Teacher Identity in den letz‐ ten beiden Jahrzehnten stark weiterentwickelt und mehrere Schwerpunkte hervorgebracht, wie Hayriye Kayi-Aydar (2019) in einem Forschungsüberblick zusammenfasst. Zu den zentralen Schwerpunkten gehören die Identität(en) von Nicht-Muttersprachler: innen im Vergleich zu Muttersprachler: innen, wobei die frühen Studien die Herausforderungen und Spannungen untersuchten, die nicht-mutter-/ erstsprachliche Lehrpersonen bei der Konstruktion ihrer professi‐ onellen Identität erleben. Diese Forschungen betonen die Unterscheidung und die Auswirkungen eines Native-Like- und Non-Native-Speaker-Status auf die professionelle Identität von Sprachlehrkräften (vgl. auch Schmenk 2022). Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Rolle von soziokulturellen und bio‐ graphischen Faktoren bei der Identitätsbildung. Hierbei wird betrachtet, wie vergangene Erfahrungen und kulturelle Identitäten die Wahrnehmung und die berufliche Entwicklung von Lehrer: innen prägen. Poststrukturalistische Ansätze in diesem Forschungsfeld betonen, dass Language Teacher Identities vielfältig, komplex und dynamisch sind, wobei die Identität durch Diskurse und ideologische Kämpfe, denen Sprachlehrpersonen in internationalen Kontexten ausgesetzt sind, ständig neu verhandelt wird. Forschungsmethodisch dominieren narrative Ansätze und Fallstudien, die die vielschichtigen und sich wandelnden Identitäten der Lehrpersonen im Kontext ihrer sozialen, politischen und pädagogischen Umfelder beleuchten. Zu den neu‐ eren Forschungsthemen gehören die Verbindungen zwischen Language Teacher 4.3 Language Teacher Identity 157 <?page no="159"?> Identity und Agency sowie die Beziehung zwischen Identität und Emotionen, die beide als Schlüsselbereiche für das Verständnis der professionellen Entwicklung von Sprachlehrer: innen hervorgehoben werden. Zuletzt wurde das Forschungs‐ feld erweitert um Forschung zu den Identitäten der Personen, die Lehrkräfte ausbilden, also hin zur Language Teacher Educator Identity (Barkhuizen 2021). Die aus der Forschung insbesondere poststrukturalistisch geprägte Konzeptualisierung von Identity spiegelt sich in den Positionierungen wider und ist entsprechend dyna‐ misch und komplex, geht aber von einer verwobenen Beziehung zwischen Identität, Professionalität/ Professionalisierung sowie Handlungspraxis aus (vgl. Yazan/ Lindahl 2022). Block (2022) beschreibt im weitesten Sinne ein biographisches Verständnis von Identity als • Vergangenes (eine individuelle Erinnerung, die gleichzeitig soziale Konstruktionen und Versionen von individuell Erlebtem beinhaltet), • Gegenwärtiges (lokale, politische, soziokulturelle Bedingungen, in denen das Individuum handelt) und • Zukünftiges (in der je individuellen Antizipation von Handeln und Verhalten). Diese dreigliedrige Denkfigur lässt sich berufsbiographisch für die individuelle Profes‐ sionalisierung von (angehenden) Fremdsprachenlehrkräften nutzen und kann auch zur Reflexion dienen. Identität zeigt sich dabei in Narrationen (vgl. Lucius-Hoene/ Dep‐ permann 2004, Barkhuizen 2017), also Erzählungen aus der eigenen Biographie, Ge‐ schichten über Erlebtes, Handlungsepisoden aus dem Unterricht. Es sind Erzählungen darüber, wie Fremdsprachenlehrer: innen handeln, wie sie denken. Dies kann explizite Wissensbestände einbeziehen, zeigt aber auch viele implizite Wissensbestände. Die eigene Identität als Fremdsprachenlehrperson zu verstehen, ist also eine Form von Erzählen über sich selbst. Lucius-Hoene und Deppermann (2004) schreiben: „Über sprachliche Kommunikation werden Identitäten entworfen, dargestellt, ausgehandelt, zurückgewiesen, bestätigt.“ (ebd.: 49) Das bedeutet: Wir finden die oben bereits angesprochenen Positionierungen in Geschichten über uns selbst als (angehende) Fremdsprachenlehrpersonen. Wir blicken in diesen Erzählungen in gewisser Weise auf uns zurück und distanzieren uns ggf. von unserem eigenen Selbst in den Erzählungen. Auch dies kann man als Positionierung deuten. Dies ist in gleichem Maße hochgradig identitätsstiftend, da wir durch die Betrachtung unserer eigenen Identität in einen Verstehensprozess zu Facetten, Dimensionen oder Motiven unserer selbst eintreten. Gut zu wissen: Mehrsprachigkeit und Identität Für die Fremdsprachendidaktik und Fremdsprachenforschung ist Mehrsprachig‐ keit selbstverständlich ein bedeutendes Forschungsfeld. Das betrifft nicht nur die Forschung z.B. zum Transfer zwischen Sprachen im Unterricht oder die Frage, 158 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="160"?> wie weitere Sprachen z.B. im Fremdsprachenunterricht integriert und adressiert werden können. Es geht dabei auch um die Frage von Learner Identity. Denn: Mehrsprachigkeit und Identität sind eng miteinander verknüpft, da Sprache ein wesentlicher Bestandteil der persönlichen, kulturellen und sozialen Identität ist. Mehrsprachige Menschen können sich in verschiedenen kulturellen Kontexten ausdrücken und dadurch eine komplexere Identitätsstruktur entwickeln und sich in unterschiedlichen Kontexten mittels unterschiedlicher Sprachen verschieden positionieren. Sprache ermöglicht Zugang zu unterschiedlichen Kulturen und sozialen Gruppen, was die Identitätsbildung beeinflussen kann. Die Forschung zeigt, dass Mehrsprachige oft eine flexible und dynamische Identität besitzen, die ihnen hilft, in verschiedenen sozialen und kulturellen Umgebungen erfolgreich zu agieren. Das Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik von Christiane Fäcke und Franz-Josef Meißner (2019) bietet zahlreiche Einblicke und Hinter‐ gründe zum Verhältnis von Lerner: innenidentität und Mehrsprachigkeit, unter anderem dazu, wie diese unterrichtlich adressiert werden können. Das Narrative von Identität kommt übrigens auch in der Idee von impliziter Reflexion (vgl. Gerlach 2022b, siehe oben) heraus, wenn Lehrer: innenbildner: innen innerhalb von Reflexionsgelegenheiten, angehende Lehrpersonen über ihr Handeln im Unterricht erzählen statt dieses direkt bewerten zu lassen. Unterrichtsnachbesprechungen z.B. im Referendariat sind traditionell eher ein Verteidigen des gerade gezeigten Unter‐ richts. Es geht darum, zu begründen, warum der Unterricht so gelaufen ist, wie er gelaufen ist, für eine Abweichung von der vorausgehenden Unterrichtsplanung zu argumentieren, um der Ausbildungskraft (der: dem Fachleiter: in) zu zeigen, dass man begründet pädagogische oder fachdidaktische Entscheidungen treffen kann. Dieser Reflexionsmodus produziert sehr viel explizites Wissen in Form von Bewertungen und Argumentationen, also genau nicht die Textsorte, die wir generieren möchten, um an handlungsleitendes, implizites Wissen, die damit verbundenen Orientierungen sowie Language Teacher Identity zu gelangen. (Fremdsprachen-)Lehrer: innenbildung lässt sich als Identity-orientiert konzeptuali‐ sieren: Es kann als ständiges Aushandeln, Verstehen und Positionieren der eigenen Person in unterschiedlichen Kontexten und gegenüber unterschiedlichsten Kontext‐ faktoren (siehe Kapitel 2.2.2) gesehen werden. Language Teacher Identity ist dabei anschlussfähig an die im deutschen Forschungsdiskurs rund um Professionalität und Professionalisierung dominanten Bestimmungsansätze (siehe Kapitel 2.1). Denn: „Iden‐ titätsarbeit“ ist eine berufsbiographische Aufgabe der Vergewisserung der eigenen persönlichen und professionellen „Beschaffenheit“, sie ist aber auch eine strukturthe‐ oretische Denkfigur aufgrund der potentiellen Abwägungen der Unsicherheiten im Beruf oder der Antinomien der Handlungspraxis. Und sie kann schließlich kompetenz‐ 4.3 Language Teacher Identity 159 <?page no="161"?> theoretisch gedacht werden, wenn man sich eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten oder ihrer Grenzen - und damit eines gewissen Entwicklungsbedarfs - bewusst wird. Yazan und Lindahl (2022) argumentieren, dass im besten Fall die Lehrpersonen, die selbst mit einer Identity-Perspektive ausgebildet wurden oder diese für ihren eigenen Professionalisierungsprozess adaptieren, auch Identity-orientiert - entlang des Konstrukts von Learner Identity - Fremdsprachenunterricht gestalten: „Learning languages involves crossing borders - both real and imagined - and becoming exposed to new discourses laden with ideologies and power relations, which leads language learners to engage in identity work.“ (ebd.: 3) Die enge Verbindung von Identität und Sprache und damit auch die Idee von Language Teacher Identity sind also grundlegend für die Arbeit als kritische Fremdsprachenlehrperson. Reflexionsaufgabe: Ihre eigene Language Teacher Identity Am Anfang wussten Sie es vielleicht noch nicht, aber Sie haben im Verlauf des Le‐ sens dieses Studienbuches schon Ihre eigene Language Teacher Identity reflektiert. In der Reflexionsaufgabe in Kapitel 1.2 haben wir Sie gebeten, über Ihre Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nachzudenken. Im Kapitel davor (1.1) sollten Sie an Ihre eigene Schulzeit zurückdenken, sich gegenüber selbst erlebten Lehrpersonen positionieren, Eigenschaften reflektieren und für die Zukunft perspektivieren. Nehmen Sie sich Ihre Aufzeichnungen zu diesen Reflexionsaufgaben noch einmal vor: Wie verstehen Sie diese nun vor dem Hintergrund dessen, was Sie bisher ge‐ lesen und erfahren haben - zu den Ideen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, aber auch zu den Aspekten einer kritischen Fremdsprachenlehrperson. Was ist neu und aufregend? Was ist anders im Gegensatz zu Konzepten und Ansätzen, die Sie vielleicht in Ihren Ausbildungsphasen bislang kennengelernt haben? Was ist noch unklar oder kaum vorstellbar? Reflexionsaufgabe: Identitätskonstruktion Nachfolgend finden Sie eine Definition von Identity von David Block (2007). Über‐ legen Sie, inwiefern kritische Lehrpersonen diese facettenreiche Konzeption von Identität in ihrem Unterricht adressieren können (im Sinne von Lerner: innenidenti‐ tät) und wie die Facetten in Ihre Reflexionen zu Ihrer eigenen Lehrer: innenidentität passen. Identities are socially constructed, self-conscious, ongoing narratives that individuals perform, interpret, and project in dress, bodily movements, actions, and language … Identities are negotiating new subject positions at the crossroads of the past, present, and future … Individuals are shaped by their sociohistories but they also shape their sociohistories as life goes on. The entire process is conflictive as opposed to harmonious and individuals often feel ambivalent. There are unequal power relations to deal 160 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="162"?> with, around the different capitals economic, cultural, and social - that both facilitate and constrain interactions with others in the different communities of practice with which individuals engage in their lifetimes. Finally, identities are related to different traditionally demographic categories such as ethnicity, race, nationality, migration, gender, social class, and language. (Block 2007: 27) 4.4 Kritische Lehrpersonen und die Idee von Neutralität Reflexionsaufgabe: Politik in Ihrem Fremdsprachenunterricht Denken Sie an Ihren Fremdsprachenunterricht des letzten Jahres zurück: • Inwiefern haben Politik, eine politische Haltung oder explizit politische The‐ men eine Rolle gespielt (z.B. US-amerikanisches Wahlsystem, Populismus in Europa, Armut, Auswirkungen des Klimawandels etc.)? Schreiben Sie alle politischen Inhalte des letzten Jahres auf. • Suchen Sie sich aus dieser Sammlung ein Thema aus, über das Sie nun weiter reflektieren möchten. • Welche Positionierung haben Sie in Bezug auf das Themenfeld? Schreiben Sie Ihre Gedanken auf. • Haben Sie Ihre Positionierung bewusst in den Fremdsprachenunterricht mit einfließen lassen? - Wenn ja, wie? Und wie stand dieser Einfluss im Einklang bzw. im Widerspruch zum Neutralitätsgebot von Lehrpersonen? - Wenn nein, warum? Und wie stand dieser fehlende Einfluss im Einklang bzw. im Widerspruch mit dem Bildungsanspruch, mündige Bürger: innen zu bilden? Wie Sie vielleicht durch die obige Reflexionsaufgabe erahnen können, bieten verschie‐ dene Themen im Fremdsprachenunterricht politische Anknüpfungspunkte, welche wiederum die Möglichkeit zur eigenen Positionierung als Lehrperson geradezu er‐ zwingen. Mit Blick auf eine Kritische Fremdsprachendidaktik, die einen politischen Blickwinkel auf den Fremdsprachenunterricht einnimmt, gibt es selbstverständlich eine normative, d.h. politische Setzung (siehe Kapitel 3). So ist der Kern einer Kritischen Fremdsprachendidaktik eine systembezogene Machtkritik, die sich sowohl auf die Struktur von Schule und Unterricht als auch - und umso wichtiger - auf die Struktur der Gesellschaft bezieht. Durch diese Machtkritik sollen mithilfe einer Kritischen Fremdsprachendidaktik soziale Ungleichheiten reflektiert und verändert werden, so‐ dass eine demokratische Verantwortung, ein pflichtbewusstes und werteorientiertes 4.4 Kritische Lehrpersonen und die Idee von Neutralität 161 <?page no="163"?> Handeln sowie ein respektvolles Miteinander gefördert werden (vgl. Gerlach 2020a, siehe Kapitel 3). Konkret bedeutet das, dass eine Kritische Fremdsprachendidaktik jegliche Diskriminierung von Personen kritisiert, Mitsprache und Mitbestimmung sowie Kontextorientierung als didaktische Prinzipien befürwortet und eine rein funk‐ tionalistische Betrachtung von Fremdsprachenunterricht durch die genuin politische Dimension von Sprache und Inhalten ablehnt (s. Kapitel 3). Diese Grundsätze einer Kri‐ tischen Fremdsprachendidaktik sind zwar werteorientiert, stellen aber keine politische Ideologie oder parteipolitische Positionierung dar. Insbesondere vor dem Hintergrund des Bildungs- und Erziehungsauftrags von Schule, der in den deutschen Schulgesetzen verankert ist, ist eine demokratische Wertebildung hin zu mündigen Bürger: innen unerlässlich (vgl. Wrase 2020: 11). Kritischer Fremdsprachenunterricht als Ort einer solchen Werteorientierung ist dabei nicht unumstritten, wie in Kapitel 3.2 schon herausgearbeitet wurde. Als internationale Kontroverse, die im ELT Journal im Jahr 2008 erschien, gilt eine Auseinandersetzung zwischen Ramin Akbari und Colin Sowden um die Umsetzung von Critical Pedagogy, einem Grundpfeiler einer Kritischen Fremdsprachendidaktik (siehe Kapitel 3.1). In dieser Debatte ging es besonders um die Frage, inwiefern (überhaupt) eine politische Haltung im Fremdsprachenunterricht geboten sei und welche Folgen diese (fehlende) Haltung haben könne. Gut zu wissen: Kontroversen rund um einen kritischen Fremdsprachenunter‐ richt am Beispiel der Diskussion von Akbari (2008a, c) und Sowden (2008) Als Debattenartikel im Pro-Kontra-Format angelegt, skizziert Akbari (2008a) die Umsetzung von Critical Pedagogy im Fremdsprachenunterricht, worauf Sowden (2008) eine Replik verfasst, die wiederum von Akbari (2008c) beantwortet wird. In seinem ursprünglichen Beitrag erklärt Akbari (2008a), was mit Critical Pedagogy in Bezug auf Englischunterricht gemeint ist und argumentiert, dass durch Critical Pedagogy eine soziale Umgestaltung des Fremdsprachenunterrichts ermöglicht werden könne. Trotz des Potentials von Critical Pedagogy wurden die praktischen Auswirkungen von Critical Pedagogy in der fremdsprachendidaktischen For‐ schung bisher kaum gewürdigt, weshalb Akbari sich vor allem auf theoretische Überlegungen zur Umsetzung von Critical Pedagogy stützt. Als Gründe für die Anwendung von Critical Pedagogy im Fremdsprachenunterricht führt er die nötige Berücksichtigung der Bedürfnisse von Lernenden, die Bewusstmachung von Macht und Marginalisierung in Sprache und im Fremdsprachenunterricht selbst sowie die Reduktion von Diskriminierungen an. Sowden (2008) argumentiert in seiner Replik - die unmissverständlich heißt: „There’s more to life than politics“ -, dass einige Englischlehrer: innen Critical Pedagogy umsetzen würden, um politischen und sozialen Wandel durch Bildung zu bewirken. Es sei jedoch unklar, wie dieses Ziel erreicht werden könne und zu welchen Herausforderungen dies führen würde. Es gebe zudem Widersprüche 162 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="164"?> in dem Ansatz von Critical Pedagogy: Er sei oft am kritischsten gegenüber dem anglophonen Erbe, das das Recht auf Kritik stark gefördert habe; Critical Peda‐ gogy basiere auf postmodernen Wissenskonzepten, mache jedoch universelle Ansprüche geltend; Critical Pedagogy spreche eine Sprache der Fürsorge, nehme aber eine totalitäre Sicht auf die Gesellschaft ein, in der alle Beziehungen als politisch gehandelt würden, was das Leben auf Politik reduziere. In der darauffolgenden Antwort von Akbari (2008c) auf Sowden (2008) hebt ersterer hervor, dass Bildung untrennbar mit Politik verbunden sei. Er argumen‐ tiert, dass Critical Pedagogy gegen die Vorstellung ankämpfe, Bildung sei eine unpolitische Aktivität. Akbari bezieht sich auf Platons „Apologie des Sokrates“, um zu zeigen, dass schon in der Antike Bildung als politische Angelegenheit galt, die die Gesellschaftsstruktur beeinflusste. Er stellt die Frage, wessen Werte in der Bildung Priorität haben sollten und warum. Dabei diskutiert er, ob die Werte z.B. von wirtschaftlichen Akteur: innen Vorrang haben sollten gegenüber denen von Minderheiten und Marginalisierten. Akbari betont außerdem, dass die von Sowden genannten Gruppen wahrscheinlich keine Einwände gegen das aktuelle Bildungssystem hätten, da ihre Lebensstile und Präferenzen bereits von denjenigen, die Bildungsmaterialien erstellen oder Curricula schreiben, berücksichtigt würden. Anschließend an die von Sowden (2008) aufgeworfene Frage, inwiefern Fremdspra‐ chenlehrpersonen eine politische Haltung einnehmen dürfen, kann diskutiert werden, inwieweit diese die Schüler: innen überhaupt in ihrer politischen Meinung beeinflussen dürfen. Die Debatte über die politische Positionierung von Lehrkräften im Bildungs‐ kontext wird durch Michael Wrases Artikel aus dem Jahr 2020, „Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein? “, aufgegriffen. Wrase argumentiert, dass das Konzept der politischen Neutralität von Lehrpersonen ein Mythos sei und dass es im Rahmen des Bildungs- und Erziehungsauftrags unbedingt notwendig sei, dass Lehrkräfte in Diskussionen auch eigene Positionen vertreten können, ohne die Schüler: innen einseitig zu beein‐ flussen (Wrase 2020). Er betont die Bedeutung des Beutelsbacher Konsens, der drei Prinzipien für die politische Bildung in Schulen festlegt: das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und die Lernendenorientierung. Diese Prinzipien sollen sicherstellen, dass Schüler: innen nicht von einseitigen Meinungen überwältigt werden, kontrovers diskutieren, was auch in der Wissenschaft bzw. Gesellschaft kontrovers ist, und dass dabei ihre Interessen berücksichtigt werden (vgl. ebd.). Wrase (2020) stellt klar, dass Lehrkräfte ihre eigenen Haltungen kommunizieren dürfen, solange sie diese thematisieren und nicht zur Indoktrination nutzen. Zudem besagt der Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes das Folgende: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschau‐ 4.4 Kritische Lehrpersonen und die Idee von Neutralität 163 <?page no="165"?> ungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Grundgesetz, Artikel 3(3)) Auf Basis des Grundgesetzes könnte daher sogar argumentiert werden, dass Lehrper‐ sonen, die sich im Fremdsprachenunterricht nicht politisch positionieren und damit nicht für einen diskriminierungssensiblen Unterricht eintreten, gegen das Grundgesetz verstoßen. Daher steht eine Kritische Fremdsprachendidaktik, die darauf abzielt, Diskriminierungen und Machtstrukturen aufzudecken und zu verändern, sowohl im Einklang mit dem Grundgesetz als auch den Grundsätzen des Beutelsbacher Konsens. Denn eine Kritische Fremdsprachendidaktik ermutigt zu einer multiperspektivischen Analyse von gesellschaftsrelevanten Themen zusammen mit den Lernenden. Gleich‐ wohl sollten sich Lehrkräfte bei der Einnahme einer bestimmten politischen Haltung oder bei der Implementation bestimmter Prinzipien (wie denen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik) bewusst sein, dass Schüler: innen Meinungen vertreten kön‐ nen, um Lehrpersonen aufgrund des institutionellen Machtgefüges zu gefallen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit und einer Reflexion der eigenen Rolle und dem eigenen Einfluss als Lehrkraft im Bildungsprozess (vgl. Lüke 2024a). Forschung im Fokus: Englischlehrpersonen im Umgang mit Verschwörungs‐ theorien im Unterricht (Weiser-Zurmühlen et al. 2023) Die Autor: innen untersuchen in diesem Projekt, wie Lehrkräfte sich in Unter‐ richtssituationen positionieren, wenn sie mit Verschwörungstheorien konfron‐ tiert werden. Dies wird in dem hier vorgestellten Artikel im Zusammenhang mit epistemischen Überlegungen, der Form der Vertextung von Verschwörungstheo‐ rien und den institutionellen Anforderungen diskutiert. Die Studie untersucht, wie Lehrkräfte in Interviews ihre Erfahrungen schildern und ihre Reaktionen auf solche Situationen erläutern. Es zeigt sich, dass Lehrkräfte oft in einem Spannungsfeld agieren: Einerseits fühlen sie sich verpflichtet, Schüler: innen zu sensibilisieren und zu einem kritischen Umgang mit Verschwörungstheorien zu erziehen, andererseits gibt es Unsicherheiten und Inkohärenzen in ihrem Handeln. Die Lehrkräfte beschreiben unterschiedliche Situationen, in denen sie mit Verschwörungstheorien konfrontiert wurden. In diesen Situationen variieren ihre Reaktionen von einer klaren Zurückweisung der falschen Informationen bis hin zu einer offenen Diskussion, in der die Schüler: innen dazu aufgefordert werden, selbst nachzuforschen. Dabei zeigt sich, dass die Positionierungen der Lehrkräfte nicht immer konsistent sind und oft von der spezifischen Situation und den beteiligten Schüler: innen abhängen. Problematisch wird es, wenn Lehrpersonen jedoch die Deutungshoheit für die ideologischen Falschbehauptungen in Verschwörungstheorien vollkommen den Lernenden überlassen und sich selbst auf ihr Neutralitätsgebot (locker angelehnt an den Beutelsbacher Konsens) zurückziehen. An diesen Stellen entstehen im 164 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="166"?> Sprachunterricht Diskursräume, die möglicherweise konträr zu freiheitlich-de‐ mokratischen Prinzipien sind, wogegen eine Lehrperson unbedingt angehen müsste. Insgesamt lässt sich also im Hinblick auf die Frage, wie das vermeintliche Neutrali‐ tätsgebot für Lehrpersonen vereinbar mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik ist, wie folgt zusammenfassen: Mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik als Prinzip unterrichtet man keine bestimmte (politische) Ideologie, sondern man unterrichtet werteorientiert. Denn es lässt sich gleichzeitig argumentieren, dass auch das Gegenteil (vermeintliche Neutralität) politisch ist: Wenn man nicht lerner: innenorientiert die so‐ zialen Realitäten und gesellschaftliche Herausforderungen im Unterricht thematisiert, verhält man sich als Lehrperson so, wie diejenigen, die Ungleichheit nicht anerkennen und Outputorientierung in Kauf nehmen, was manche Lernende gut ans Ziel bringt, einen Großteil aber zurückdrängt - das Gegenteil von auf Partizipation, Ermächtigung und Inklusion ausgerichteter Bildung. 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung Abschließend zu diesem größeren Kapitel, das sogar den Namen des Buches trägt, möchten wir anhand einiger praktischer Beispiele zeigen, wie eine kritische Haltung angebahnt, Identität aufgebaut, Sensibilität für Kontexte des eigenen Fremdsprachen‐ unterrichts geschaffen und gleichzeitig ein kritisches Bewusstsein entwickelt werden kann (vgl. Gerlach/ Leupold 2019, Gerlach/ Fasching-Varner 2020, Gerlach/ Lüke 2023a). Das klingt zunächst einmal nach einem komplexen Unterfangen, wir möchten es im Folgenden aber an konkreten Vorhaben versuchen herunterzubrechen: Zum einen beschäftigen wir uns mit Aktionsforschungsprojekten, kritischer Unterrichtsentwick‐ lung sowie Reflexionsaktivitäten zugunsten der Bewusstmachung der eigenen kriti‐ schen Identität, zum anderen aber auch mit Materialentwicklung und -veränderung. Die Ideen, die hier vorgestellt werden, lassen sich teils individuell bearbeiten (also von Ihnen als Fremdsprachenlehrperson alleine), für andere benötigen Sie möglicherweise Unterstützung durch Kommiliton: innen, Kolleg: innen oder Lehrer: innenbildner: innen. Die Konzepte sind nicht als exklusiv oder erschöpfend zu verstehen. Im Wesentlichen basieren sie auf bereits erprobten Ansätzen aus einem Fortbildungsangebot, das im Rahmen der Dissertationsstudie von Mareen Lüke (2024a) stattgefunden hat, in dem es um die Implementation einer Kritischen Fremdsprachendidaktik ging. Abbildung 13 stellt die grundsätzlichen Elemente und Prinzipien dar (vgl. Ge‐ rlach/ Lüke 2023a), die wir auf einer strukturellen Ebene für die Professionalisierung von kritischen Fremdsprachenlehrpersonen als relevant erachten. Um Machtgefüge in der Durchführung derartiger Professionalisierungsmaßnahmen nicht selbst zu reproduzieren, sollten die unterschiedlichen Aktivitäten von Kooperation und Kom‐ munikation auf Augenhöhe gerahmt sein, Machtgefüge adressiert und kritisch von 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 165 <?page no="167"?> allen Beteiligten hinterfragt werden. Um einen Einblick in mögliche Aktivitäten zu geben, werden im Folgenden Beispiele für jede Maßnahme gegeben, die sich an Lüke (2024b) anlehnen. Obwohl in der Grafik (Abbildung 13) keine Ordnung der Reihenfolge der Aktivitäten dargestellt wird, werden die praktischen Maßnahmen in den nachfolgenden Unterkapiteln in eine sinnvolle Ordnung gegliedert, d.h.: Zuerst werden Machtgefüge im Fremdsprachenunterricht und die eigene Identität reflektiert, dann Machtgefüge in Materialien verändert, schließlich werden Unterrichtsstunden ggf. mit den neu entwickelten Materialien mithilfe von Aktionsforschungsprojekten untersucht und auf Basis der Erhebungen bzw. eigenen Beobachtungen von Unterricht verändert. Abbildung 13: Prinzipien für mögliche Maßnahmen zu einer kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbil‐ dung nach Gerlach/ Lüke (2023a: 44). 4.5.1 Reflexionsaufgaben Um sich Machtgefügen und deren Relevanz im Fremdsprachenunterricht bewusst zu werden, braucht es Reflexionsanlässe, die sowohl 1) die machtunkritischen Strukturen von Schule und (Fremdsprachen-)Unterricht hinterfragen als auch 2) den eigenen Status als Fremdsprachenlehrperson mit den damit einhergehenden Machtressourcen in der Gesellschaft (vgl. Bercaw/ Stooksberry 2005) sowie 3) die eigene Language Teacher Identity im weiteren Sinne reflektieren. Insbesondere in der Fremdsprachen‐ didaktik zielt reflexives Denken darauf ab, deklaratives Wissen einzusetzen z.B. zur Unterrichtsplanung (siehe Kapitel 2.3.4). Es ist aber ebenso dienlich, um subjektive Theorien und Identitätsentwicklungsprozesse sichtbar zu machen (vgl. Gerlach 2015b, siehe auch Kapitel 2.3). Insbesondere durch die Reflexion von Handlungsweisen sowohl im Unterricht als auch vor oder nach dem Unterricht können unterrichtliche Routinen 166 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="168"?> reflektiert und ggf. verändert werden, die Positionierung als Lehrperson kann bewusst gemacht und ggf. neu justiert werden. Die folgenden Reflexionsimpulse sollen dazu dienen, sich selbst als Fremdsprachenlehrperson zu hinterfragen oder Impulse für die Lehrkräftebildung z.B. für Fort- und Weiterbildungen zu geben. (In Kapitel 5 werden Sie noch weitere unterrichtspraktische Beispiele zur (Identitäts-)Reflexion finden.) 1) Beispiel: Machtkritische Reflexion von Fremdsprachenunterricht anhand von Unterrichtsmaterialien Das folgende Beispiel stammt aus dem Beitrag von Güllü/ Gerlach (2023: 30) und soll den Ausgangspunkt für die machtkritische Reflexion von Gegenständen im Fremd‐ sprachenunterricht bilden. Das Beispiel aus Güllü/ Gerlach (2023) stammt ursprünglich aus einem Englischlehrwerk, English G 21, das - anders als vielleicht anzunehmen - im Jahr 2017 erschienen ist. Leider sind solche Beispiele nicht unüblich, auch für Lehrwerke für die anderen Schulfremdsprachen. Abbildung 14: Aufgabenbeispiel aus English G 21 (Schwarz 2017: 84). Reflexionsaufgabe Um sich selbst gesellschaftspolitischer Machtgefüge und damit der inhärent poli‐ tischen Dimension von Fremdsprachenunterricht bewusst zu werden, bietet es sich an, das Beispiel in Abbildung 14 als Reflexionsanlass zu nutzen. Beantworten Sie hierzu für sich persönlich die folgenden Fragen: • Was wird in der Aufgabe unter grammatischen Gesichtspunkten versucht zu fördern? • Welche Veränderungen in der inhaltlichen Bedeutung entstehen durch die grammatische Modifikation der Sätze? • Wie werden die Menschen bezeichnet, über die in diesem Satz gesprochen wird? Welche Machtgefüge offenbaren sich durch diese Bezeichnungen? • Inwiefern zeigen sich in der Aufgabe Formen von Diskriminierungen? • Um welche Diskriminierungskategorie handelt es sich (z.B. Sexismus oder Rassismus)? Stellen Sie sich vor, dass ein: e Kolleg: in Ihrer Schule diese Aufgabe im Fremdspra‐ chenunterricht nutzen will. Wie könnten Sie Ihr Feedback zur Aufgabe einer: m Kolleg: in kommunizieren? 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 167 <?page no="169"?> Eine Aufgabe mit inhärenten und reproduzierenden Formen von Diskriminierung und Rassismus kann im Unterricht auftreten, weil Diskriminierungen und speziell Rassismus strukturell in unserer Gesellschaft verankert sind (vgl. Güllü 2025). Aus diesem Grund liegt es in der Verantwortung von jedem: r Einzelnen, Diskriminierungen z.B. in Aufgaben zunächst einmal zu erkennen, zu reflektieren und anschließend die Wirkmacht zu verändern, indem z.B. der Dialog mit Kolleg: innen oder Schüler: innen über diese Aufgabe gesucht wird. Hierzu braucht es Mut und eine Toleranz für einen ungewissen Ausgang der Situation, die beispielsweise auch in einem Konflikt enden kann. Dennoch werden diese Hürden immer geringer, je mehr schulische Akteur: innen handeln und Diskriminierungen adressieren. Um auf das Beispiel von oben zurückzukommen und Anregungen für die Reflexionsfragen zu geben, kann dieses Zitat aus Güllü/ Gerlach (2023: 30) genutzt werden: Im vorgegebenen Beispiel wird aus „People brought African slaves to the US till 1808“ [Schwarz 2017: 84] eine semantisch reduzierte Aussage: ‘African slaves were brought to the US till 1808’ (ebd.). Nicht nur wird der Agens (people) in der Aktivkonstruktion nicht genauer benannt, er wird auch der als Entität beschriebenen Gruppe ‚African slaves‘ gegenübergestellt. Die Wahl des Prädikats „brought“ vom Infinitiv ‚to bring‘ ist interessant vor dem Hintergrund, dass Schwarze Menschen in Westafrika zuerst versklavt und dann zu Tausenden auf Schiffen unter widrigsten Umständen über den Atlantik verschleppt worden sind, um dort auf Plantagen für weiße Siedlungskolonialist*innen Kapital zu generieren. Sie wurden vor dem Gesetz der Vereinigten Staaten von Amerika nur zu einem Fünftel als Mensch anerkannt. Insgesamt zeigt sich anhand dieses Beispiels, dass die intensivere Reflexion über Machtgefüge in Materialien bzw. Lehrwerken im Fremdsprachenunterricht hilfreich sein kann, auch wenn die Aufgabe aus sprachdidaktischer Sicht kompetenztheoretisch vielleicht logisch aufgebaut ist und eine sprachliche Form zu einem Zeitpunkt trainie‐ ren oder wiederholen will, die aus lerntheoretischer Sicht sinnvoll ist. Manche könnten argumentieren, dass wir eine solche Aufgabe, die Rassismus reproduziert, gar nicht erst im Unterricht einsetzen sollten. In unseren Augen wäre das - zumindest in diesem speziellen Fall - aber eine vertane Chance, gemeinsam mit der Lerngruppe über die Wirkmächtigkeit von Sprache zu sprechen. Und insbesondere der Dialog über die an dieser Stelle wenig sinnvolle Nutzung des Passivs dürfte bei den Lernenden gleichzeitig zu einem höheren Sprachbewusstsein über eben jene Struktur führen, welche Wissen über die Funktion des Passivs (und z.B. des by-agent) gleichzeitig gefördert hat. 2) Beispiel: Machtkritische Reflexion der eigenen Person als Englischlehrer: in Die folgenden Reflexionsfragen zielen darauf ab, die eigene Person (Language Teacher Identity) und den bisherigen Unterricht hinsichtlich eines sensiblen Umgangs mit Machtgefügen und daraus resultierenden Diskriminierungen zu hinterfragen. Auch soll reflektiert werden, inwiefern Sie schon einmal bewusst Machtgefüge und Diskri‐ minierungen im Fremdsprachenunterricht wahrgenommen und wie Sie darauf reagiert 168 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="170"?> haben. Die folgenden Antworten auf die Fragen sollen bewusst nicht mit anderen Kolleg: innen geteilt werden, da sie ausschließlich der Anregung des eigenen Denkens dienen. Reflexionsaufgabe • Nehmen Sie sich etwas Zeit und denken Sie an eine Situation aus Ihrem Fremdsprachenunterricht, in der Sie miterlebt haben, wie Personen (siehe Kapitel 3) Diskriminierung erlebt haben. Wenn Ihnen keine Situation aus dem Fremdsprachenunterricht einfällt, können Sie auch über andere Situationen im Schulalltag nachdenken. Machen Sie sich schriftlich Notizen zu der entsprech‐ enden Situation. • Wie haben Sie sich in der Situation gefühlt? • Wie könnten sich die Beteiligten in der Situation gefühlt haben? Versuchen Sie, sich in das Erleben der beteiligten Personen hineinzuversetzen. • Wie haben Sie in der Situation reagiert? • Welche Gefühle haben Sie nach der Reaktion auf die oben dargestellte Situation gespürt? • Inwiefern fühlen Sie sich in der Verantwortung, als Fremdsprachenlehrer: in auf Diskriminierungen im Unterricht zu reagieren? Machen Sie sich hierzu Notizen. • Wenn Sie an Ihre Reaktion auf die Situation denken: Wie könnten Sie anders reagieren und warum? Schreiben Sie Alternativen in Stichworten auf. • Erinnern Sie sich an die Zeit vor der oben beschriebenen Situation. Hätten Sie vor der Situation etwas anders machen können? Wenn ja: Was hätten Sie verändern können, damit diese Situation nicht zustande kommt? Mithilfe dieser Reflexionsfragen soll eine Situation aus dem Fremdsprachenunter‐ richt erneut mit machtkritischer Brille hinterfragt werden, um darauf basierend alternative Handlungsmöglichkeiten zu eruieren. Language Teacher Identity ist hier bereits insofern eine relevante Perspektive, als dass Identity, wie in Kapitel 4.3 dargestellt, mit Positionierungen einhergeht. Ein Verstehen der eigenen Einge‐ bundenheit in institutionelle Normen und gesellschaftliche Machtverhältnisse ist damit elementarer Bestandteil, vielleicht sogar die Grundlage für die Entwicklung einer kritischen Identität als Fremdsprachenlehrperson. 3) Reflexion der Language Teacher Identity in einer berufsbiographischen Perspektive Die Reflexion von Language Teacher Identity in der gerade vorgestellten Reflexions‐ aufgabe zielt stärker auf die machttheoretische Ebene ab. Identity hat aber, wie wir weiter oben in Kapitel 4.3 herausgearbeitet haben, insbesondere eine berufsbiogra‐ phische Perspektive, wenn es um das Erzählen von vergangenen Episoden, gegen‐ 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 169 <?page no="171"?> wärtiger Unterrichtspraxis oder erwarteter (vielleicht auch erwünschter) zukünftiger Lehrer: innenidentität geht. Yazan und Lindahl (2022) haben Methoden und Ansätze zusammengestellt, wie Language Teacher Identity-Reflexionen insbesondere in der Lehrer: innenbildung integriert und angeregt werden können. Gut zu wissen: Identity-orientierte Fremdsprachenlehrer: innenbildung Yazan und Lindahl (2022) sowie Gerlach (2024a) argumentieren für eine stärker an Identity ausgerichtete fremdsprachliche Lehrer: innenbildung. Gerlach (2024a) nutzt die hier bereits angesprochenen, übergeordneten und professionstheoreti‐ schen Argumente für eine Identity-Orientierung, Yazan und Lindahl (2022) liefern fünf konkrete Ansätze, die in Lehrer: innenbildung integriert werden können: 1. Sprachlernbiographien sind eine gängige Übung für (angehende) Fremd‐ sprachenlehrpersonen, bekommen aber mit einem Fokus auf Identität und eine Analyse z.B. des Kontexts, in dem verschiedene Sprachen erworben oder gelernt wurden, ein besonderes Potenzial, um Entwicklung anzusto‐ ßen. Wichtig erscheint den Autor: innen, dass die Sprachlernbiographien zu unterschiedlichen Zeiten wieder hervorgeholt, analysiert, interpretiert und ergänzt werden. Nur so kann diese Entwicklung auch reflektierbar werden. 2. Sprachenportraits - eine im deutschen Diskurs durch Krumm (2001) nicht unbekannte Idee - helfen zu reflektieren, welche Funktion oder Wertigkeit unterschiedliche Sprachen individuell einnehmen. Während das Ausmalen von Silhouetten ursprünglich stärker Lernende fokussierte, um im Sinne einer Mehrsprachigkeitsdidaktik sprachliche Ressourcen zu verdeutlichen, können sie aus der Perspektive angehender Sprachlehrpersonen die Bedeu‐ tung eben jener vielfältiger Sprachen für die professionelle Praxis reflektier‐ bar machen. 3. Geschichten (Erzählungen, Narrative) von (angehenden) Fremdsprachen‐ lehrpersonen über professionelle Lerngelegenheiten in ihrer Vergangenheit, Gegenwart sowie ein Erzählen über zukünftige Ambitionen liefern weitere Impulse, wenn diese z.B. in Seminaren oder Workshops implementiert und die Geschichten auch mit Kommiliton: innen oder Kolleg: innen geteilt werden. 4. Kritische Autoethnographie ist ähnlich wie der dritte Ansatz, das Gene‐ rieren von Geschichten, widmet sich aber stärker der kritischen Analyse der produzierten, autoethnographischen Texte im Sinne des Herausarbeitens z.B. von Machtverhältnissen, die im eigenen (auto-)biographischen Text durch‐ scheinen. Wird diese kritische Analyse der schriftlichen Selbstbeobachtung mit anderen geteilt (vor allem Personen auf einer gleichen Ebene, um keine Machtverhältnisse künstlich herzustellen), spricht man auch von Critical Community Autoethnography (Mihan 2022), welche eine vielversprechende 170 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="172"?> Methode für kleine Gruppen ist, um die eigene (und kollektive) Identität zu verstehen. 5. Race-based caucuses ist die letzte Idee, die Yazan und Lindahl vorstellen. Hierbei finden sich Personen in Gruppen mit anderen zusammen, mit denen sie sich identifizieren oder Erfahrungen der Rassifizierung teilen. Sie reflek‐ tieren ihr Fremdsprachenlehrer: innenwerden, Erfahrungen auf Basis ihrer „racialized identities and how these identities interact with their professional identities as teachers“ (ebd.: 6). Hier werden also zunächst Identitätskonst‐ ruktionsprozesse im Schutzraum kleinerer Gruppen ermöglicht, bevor diese mit anderen geteilt werden. Sowohl Yazan/ Lindahl (2022) wie auch Gerlach (2024a) fokussieren die Implementation einer Identity-Orientierung in der Fremdsprachenlehrer: innenbildung - besonders in institutionellen Kontexten wie z.B. der Hochschule und Universität oder im Rahmen der zweiten Phase in Studienseminaren. Das bedeutet aber nicht, dass die fünf Ansätze auf diese institutionalisierten Kontexte beschränkt sein müssen. Insbesondere die Ideen, die auch auf ganz individueller Ebene Identität reflektierbar machen (Sprach‐ lernbiographien, Sprachenportraits, Geschichten, kritische Autoethnographie) lassen sich zur selbstgesteuerten Professionalisierung nutzen. Wichtig erscheint hier ledig‐ lich, dass die entstehenden Texte und Reflexionen über eine gewisse zeitliche Spanne wiederholt betrachtet und reflektiert, neu geschrieben oder angepasst werden. Denn wenn Identität ein ständiger Aushandlungsprozess ist, sind es genau die Texte, die bei diesen Reflexionsprozessen entstehen, die Anlass zur (Re-)Positionierung und Entwicklung geben. 4.5.2 Materialentwicklung Materialien spielen im Fremdsprachenunterricht eine bedeutende Rolle z.B. in Form von Inputtexten, Übungen oder komplexen Lernaufgaben. Dass diese Materialien teils diskriminierende Sprache oder Strukturen offenbaren, konnte oben anhand eines Lehrwerksbeispiels schon gezeigt werden. Auch qualitativ hochwertige Unterrichts‐ materialien sind nicht dagegen gefeit, eine derartige Machtförmigkeit oder Diskrimi‐ nierungspraktiken zu reproduzieren. Daher ist uns eine machtkritische Reflexion von Unterrichtsmaterialien wichtig, da diese dazu beitragen kann, eine Veränderung ebenjener Materialien bzw. ein Bewusstsein über die Problematik von Materialien Dritter anzuregen. Dieses Bewusstsein ist besonders vor dem Hintergrund relevant, dass Lehrpersonen oft Lehrwerke nutzen (müssen), die derartige Formen von Diskri‐ minierungen explizit oder implizit enthalten (vgl. Bönkost 2020, Gerlach/ Lüke 2024, Lüke 2024b). Dies führt nicht selten dazu, dass man nach alternativen Quellen für Material sucht oder selbst Material erstellt. In einem ersten Schritt zielen die folgenden 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 171 <?page no="173"?> Reflexionsaufgaben und Fragen daher darauf ab, eigene Kriterien für Unterrichtsma‐ terialien im Fremdsprachenunterricht aufzustellen. Reflexionsaufgabe Rufen Sie sich die Prinzipien von Critical Pedagogy, Critical Literacy und die einer Kritischen Fremdsprachendidaktik in Erinnerung (siehe Kapitel 3). Bearbeiten Sie darauf basierend die folgenden Aufgaben: • Überlegen Sie, welches Material Ihnen im Unterricht besonders gut gefallen hat? Warum? Machen Sie sich Notizen. • Denken Sie nun an Materialien aus dem Fremdsprachenunterricht, die Ihnen besonders negativ aufgefallen sind. Warum? Machen Sie Stichpunkte. • Schauen Sie sich jetzt Ihre Notizen an und finden Sie 3-5 übergeordnete Themen oder Aspekte, die für Sie in den positiven wie negativen Bewertungen relevant sind. Stellen Sie inhaltliche und machtkritische Kriterien auf, die Sie für Materialien relevant setzen wollen (z.B. dass alle Schüler: innen inhaltlich partizipieren können, dass keine Machtungleichheiten in der Repräsentation bestimmter Gruppen von Menschen zum Tragen kommen oder dass die Schüler: innen innerhalb eines Materials Mitsprache üben können bezüglich der Bearbeitung des Themas). Nachdem Sie nun für sich wichtige Kriterien für Lehrmaterialien festgelegt haben, können diese genutzt werden, um konkrete Unterrichtsmaterialien im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik zu entwickeln. Ziel ist es, dass Sie die selbst kreier‐ ten Materialien mit in Ihren Fremdsprachenunterricht nehmen können und sich über eigene Prinzipien bzw. Kriterien im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, die Sie für Ihren Unterricht als wichtig erachten, bewusst werden. Wichtig ist, dass es weniger darum geht, was konkret unterrichtet wird, sondern vielmehr wie Themen unterrichtet werden. D.h. es sind besonders Fragen relevant wie: Aus welchen Kontex‐ ten kommt meine Lerngruppe? Wie können die Lernenden den Unterrichtsdiskurs mitbestimmen? Welche Stimmen kommen bei bestimmten Themen zu Wort oder welche kommen nicht zu Wort? Inwiefern möchte ich Bilder, Texte oder Aufgaben kommentieren oder auch unkommentiert lassen? Um letztlich Material zu entwickeln, gibt es drei Möglichkeiten (vgl. auch Güllü 2025): Entweder Sie verwerfen das problematische Material, das Sie kennen, und entwi‐ ckeln gänzlich Neues für Ihren Fremdsprachenunterricht - alleine oder gemeinsam mit Kolleg: innen. Sie könnten auch den Verlag kontaktieren und bitten, entsprechend in Folgeauflagen kritische Aspekte zu korrigieren bzw. zu entschärfen, was zeitlich einen etwas längeren Atem in Anspruch nimmt. Oder: Sie nutzen bestehende (potentiell problematische) Materialien z.B. aus Lehrwerken, um diese mit einem kritischen Blick (und gemeinsam mit Lernenden) zu verändern (analog zum Critical Literacy-Modell in 172 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="174"?> Kapitel 3.4, Gerlach/ Lüke 2023a). Im Folgenden wollen wir ein Beispiel für die letzte Option beleuchten, da diese im Unterrichtsalltag wesentlich weniger zeitaufwendig ist und dadurch erneut deutlich wird, dass nicht das Thema des Materials, sondern die Art und Weise der Behandlung des Themas im Material entscheidend ist (vgl. Bonnet/ Hericks 2020a). Reflexionsaufgabe: (Weiter-)Entwicklung von bestehenden Materialien für den Fremdsprachenunterricht als Ort, an dem diese De- und Rekonstruktion passieren kann • Suchen Sie sich Material aus, das vorgefertigt ist und das Sie bald in Ihrem Fremdsprachenunterricht nutzen wollen. Falls Sie sich für kein konkretes Material entscheiden wollen oder können, nutzen Sie einfach das Material aus dem Lehrwerk, das Sie nutzen. Denken Sie darüber nach, warum Sie dieses Material nutzen wollen. • Welches Thema behandelt das Material und welche Machtgefüge könnten bei der Thematisierung dieses inhaltlichen Gegenstands relevant werden? Warum? • Welche Machtgefüge und Ungleichbehandlungen offenbaren sich in dem Material und warum kommen diese Machtgefüge und Ungleichbehandlungen zustande? - Ebene Schüler: innen: Wie werden die Lernenden in die Entscheidung über die Konstruktion des Themas mit eingebunden? Inwiefern können Lernende eigene Relevanzsetzungen hinsichtlich der Behandlung des Themas vornehmen? Werden Wünsche der Lernenden berücksichtigt? - Ebene Thema: Welche geschichtlichen und politischen Kontexte müs‐ sen bei dem Thema mitbedacht werden? Wird eine bestimmte Perspek‐ tive einer Personengruppe relevanter gesetzt als die von anderen? Inwie‐ fern wird das Thema bei sprachpraktischen Übungen mitgedacht? Eignet sich das Thema auf der Ebene von Sprachkompetenz für die Lernenden? - Ggf. Ebene Bilder und Texte: Wer wird textlich und bildlich bei dem Thema repräsentiert und wer nicht? Wie ist das Verhältnis von verschiedenen Textsorten? • Nach der Analysephase zu Machtgefügen und Ungleichbehandlungen sollte die Veränderungsphase folgen, in der auf den oben genannten Ebenen Verän‐ derungen vorgenommen werden. - Ebene Schüler: innen: Wie können Lernende stärker in die Entschei‐ dung über die Konstruktion des Themas mit eingebunden werden? Wie kann das Material so verändert werden, dass Schüler: innen das Thema mit ausgestalten können? - Ebene Thema: Wie kann das Material relevante geschichtlich und politische Kontexte machtkritisch aufgreifen? Wie kann das sprachlich 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 173 <?page no="175"?> umgesetzt werden? Wie können Personengruppen und ihre Perspek‐ tiven gleichberechtigt repräsentiert werden? Wie kann das Material trotz sprachpraktischer Übungen Inhalte sensibel und machtkritisch hinterfragen? - Ggf. Ebene Bilder und Texte: Wie können Bilder und Texte verändert werden, sodass Ungleichheiten und Machtgefüge abgebaut werden bzw. angesprochen werden? Wie kann das Verhältnis unterschiedlicher Text‐ formen entsprechend gestaltet werden, dass es Ungleichheiten abbaut bzw. ein kritisches Bewusstsein für Machtverhältnisse schafft? • Nachdem Sie anhand der Leitfragen die Materialien entsprechend verändert haben, bietet es sich an, diese Veränderungen mit Kolleg: innen zu besprechen. Um die Veränderung von bestehenden machtunkritischen Materialien aufzuzeigen, gehen wir erneut zurück zu dem Beispiel aus Unterkapitel 4.3.2, das aus Güllü/ Gerlach (2023) und ursprünglich aus einem Englischlehrwerk, English G 21 (Schwarz 2017), stammt. Zur Anregung von Veränderungen im Material können die folgenden Refle‐ xionsfragen mit den Lernenden diskutiert werden: Beispiel für den Fremdsprachenunterricht basierend auf „A bit of history“ Trigger warning: This material addresses slavery. The topic originates from a textbook (English G 21, Schwarz 2017: 84). The task misrepresents historical facts, so we want to make changes. • How do you form the active and passive voice in English? Independent of this textbook exercise, give two examples each. • What is a “by-agent”? Give an example. • When do you use the a) active and b) passive voice in English? Write down at least 2-3 principles for each voice. • Who is the subject in the active sentence in the sample task above? Take notes. • The word “people” refers to an undefined group. Why is this problematic? 174 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="176"?> • Which terms are more suitable to refer to the agent of the sentence? Take notes. • What happens to the subject of an active sentence if changing it to the passive voice? Take notes. • How does the loss of the subject affect the content of the sentence? Take notes. • Which word is the predicate in this sentence? In what other context can this predicate or verb be used? Which synonyms would be more specific or appropriate in this context? 4.5.3 Aktionsforschung In der Diskussion um die Professionalisierung von Fremdsprachenlehrpersonen spielt Aktionsforschung, also die niedrigschwellige Erforschung des eigenen Unterrichts, eine große Rolle (siehe Kapitel 2.2.1). Mithilfe von aktionsforschenden Ansätzen kann eine reflexive und forschende Haltung zum eigenen Fremdsprachenunterricht angebahnt und bei regelmäßiger Durchführung langfristig gefördert werden (vgl. z.B. Altrichter et al. 2018, Burns 2009/ 2019). Da komplexe Aktionsforschungsprojekte zeitlich aufwendig sind und sich im Unterrichtsalltag (zumindest ohne Begleitung und umfassenderen Austausch mit Kolleg: innen) schwieriger umsetzen lassen, hat Legutke (2012) das Konzept der „Praxiserkundungsprojekte“ (PEP) geprägt, die die Prinzipien von Aktionsforschung aufgreifen, jedoch u.a. ein festes Ablaufschema aufweisen, wodurch sie eigenständig ohne externe Unterstützung durchgeführt werden können (vgl. Lüke 2024a). Die folgenden Schritte werden nach Legutke (2012) zitiert und können selbstständig und/ oder mit Kolleg: innen im Fremdsprachenunterricht (und anderen Unterrichtsfächern) durchgeführt werden. Ziel der eigenen Praxisforschung soll im Kontext dieses Studienbuches selbstverständlich die Erforschung von kritischen fremdsprachendidaktischen Ansätzen in der Praxis sein, PEP können aber natürlich auch zahlreiche andere Schwerpunkte ermöglichen. Gut zu wissen: 10 Schritte zum Praxiserkundungsprojekt nach Legutke (2012) 1. Suchen Sie Kolleginnen und Kollegen, die mit Ihnen gemeinsam ein Pra‐ xiserkundungsprojekt erarbeiten möchten und vereinbaren Sie, wie Sie zusammenarbeiten wollen. 2. Finden Sie heraus, was Sie in Ihrem Praxiserkundungsprojekt erkun‐ den / erforschen wollen. […] Beantworten Sie folgende Fragen: - Was war neu für mich [an den Themen einer kritischen Fremdspra‐ chenlehrkräftebildung in diesem Buch bisher]? ? - Was hat mich überrascht? - Was fand ich besonders interessant? 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 175 <?page no="177"?> - Was möchte ich gern selbst einmal ausprobieren? Versuchen Sie, durch diese Überlegungen auf ein Phänomen zu kom‐ men, das Ihnen für Ihren Unterricht besonders relevant oder interes‐ sant erscheint. Formulieren Sie dazu, was Sie in Ihrem Praxiserkun‐ dungsprojekt untersuchen oder herausfinden wollen. Denken Sie an eine Frage nach dem Muster: „Wenn ich X tue, was passiert dann? “ […] [Ein Beispiel: Mir ist aufgefallen, dass in dem Lehrwerk, das ich verwende, machtunkritische Aufgaben enthalten sind. Wie kann ich die Aufgaben verän‐ dern, wenn ich machtunkritische Aspekte gemeinsam mit meinen Schüler: innen thematisiere? ] 3. Tauschen Sie sich in Ihrer Projektarbeitsgruppe aus. - Vergleichen Sie Ihre Ideen für ein Praxiserkundungsprojekt. - Versuchen Sie, sich auf eine gemeinsame Fragestellung zu einigen, der jede/ r für sich in ihrem/ seinem Kontext nachgeht. - Entwickeln Sie gemeinsam erste Ideen, wie Sie das Praxiserkundungs‐ projekt durchführen werden und welcher Art Ihre Ergebnisse sein sollen (z.B. Beobachtungen, schriftliche Produkte der Lernenden, Port‐ folios, Auszählungen …). 4. Analysieren Sie den Kontext, in dem Sie das Praxiserkundungspro‐ jekt durchführen werden. - Können Sie die Antworten auf Ihre Frage in Ihrem eigenen Unterricht bekommen? - Oder brauchen Sie stattdessen einen Unterricht, den Sie hospitieren oder auf Video ansehen können? - Sind die Rahmenbedingungen des ausgewählten Unterrichts für das Projekt geeignet? 5. Planen Sie Ihr Projekt und denken Sie daran: „Klein aber fein“ soll es sein. - Brauchen Sie Kolleginnen oder Kollegen, die Ihnen helfen, das Ge‐ schehen zu dokumentieren, indem Sie bei Ihnen hospitieren und Beobachtungen aufzeichnen? - Werden Sie ein Interview mit den Schülerinnen und Schülern durch‐ führen? Wann und wie werden diese das Interview beantworten? - Werden Sie nach Ihrem Versuch Ihre Beobachtungen festhalten? Wie sieht Ihr Reflexionsbogen dazu aus? Oder wie werden Sie Ihre persön‐ lichen Eindrücke festhalten? - Werden Sie im Unterricht eine Videokamera oder ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen zur Dokumentation? Brauchen Sie Einverständniser‐ klärungen für Video- oder Audioaufzeichnungen? - Werden Sie Ihre Schülerinnen und Schüler informieren, dass Sie gerade ein Projekt mit ihnen durchführen oder nicht? 176 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="178"?> - Brauchen Sie noch mehr Literatur, um sich auf Ihr Projekt vorzuberei‐ ten? - Brauchen Sie Tipps aus Lehrwerken/ von Fortbildner: innen oder von Kolleginnen oder Kollegen? - etc. 6. Führen Sie Ihr Projekt durch und sammeln Sie die Daten. 7. Werten Sie das Projekt aus. - Bewerten Sie die Daten im Hinblick darauf, was Sie erkunden wollten. - Formulieren Sie, was Sie aus diesem Projekt gelernt haben. - Stellen Sie die Ergebnisse so kurz und übersichtlich wie möglich zusammen. 8. Präsentieren Sie die Ergebnisse Ihrer Praxiserkundungsprojekte! - Senden Sie Ihrer Projektarbeitsgruppe Ihre Ergebnisse. - Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse. - Überlegen Sie, wem Sie Ihre Ergebnisse vorstellen/ von wem Sie ein Feedback haben möchten (Kolleginnen und Kollegen, Referendar: in‐ nen, Lehrer: innenbildner: innen …)? - Einigen Sie sich auf eine Präsentationsform. - Erstellen Sie (arbeitsteilig) die Präsentation. - Überlegen Sie, welches Feedback Sie von Ihren Zuhörerinnen und Zuhörern gern haben möchten. 9. Präsentieren Sie Ihr Praxiserkundungsprojekt gemeinsam. 10. Dokumentieren Sie Ihr Praxiserkundungsprojekt und relevante Reak‐ tionen von anderen. Ein solches Praxiserkundungsprojekt kann beliebig oft im Kollegium zu unterschied‐ lichen Themenbereichen durchgeführt werden. Eine Einsatzmöglichkeit sind auch Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen, die von Lehrpersonen selbst organisiert werden, um langfristig und strukturiert einen forschenden Blick auf den eigenen Fremdsprachenunterricht zu gewinnen. Im Folgenden wird ein PEP beispielhaft für eine fiktive Lerngruppe anhand der obigen Schritte nach Legutke (2012) beschrieben - jedoch vor dem Hintergrund eines kritischen Fremdsprachenunterrichts. Diese Schritte mit praktischen Anregungen stellen natürlich ausschließlich erste Ideen und grobe Möglichkeiten dar, die zur exemplarischen Reflexion anregen sollen für die Gestaltung Ihrer eigenen PEP. 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 177 <?page no="179"?> Gut zu wissen: 10 Schritte zum Praxiserkundungsprojekt nach Legutke (2012) mit einem praktischen Beispiel 1. Suchen Sie Kolleginnen und Kollegen, die mit Ihnen gemeinsam ein Praxiserkundungsprojekt erarbeiten möchten (am besten 2) und vereinbaren Sie, wie Sie zusammenarbeiten wollen. - Ich unterrichte Englisch an einer Sekundarschule. Ich habe zwei Kol‐ leginnen, Kollegin 1 und Kollegin 2, gefunden, die mit mir ein Praxi‐ serkundungsprojekt durchführen möchten. Wir haben vereinbart, uns wöchentlich zu treffen und unsere Fortschritte sowie Beobachtungen zu besprechen. Jede von uns wird ein eigenes kleines Projekt durch‐ führen und wir werden uns gegenseitig unterstützen und Feedback geben. 2. Finden Sie heraus, was Sie in Ihrem Praxiserkundungsprojekt erkun‐ den / erforschen wollen. - In einer Kritischen Fremdsprachendidaktik war für mich neu, wie stark Machtverhältnisse in Unterrichtsmaterialien präsent sein können. Es hat mich überrascht, dass viele Aufgabenstellungen in Lehrwerken subtile Formen von Machtgefügen, Diskriminierungen und Vorurteilen enthalten. Besonders interessant fand ich die Idee, diese Aspekte mit den Schüler: innen kritisch zu hinterfragen. Ich möchte ausprobieren, wie sich der Unterricht verändert, wenn ich bewusst machtkritische Inhalte einführe und bespreche. - Fragestellung: „Wenn ich in meinem Englischunterricht machtkritische Inhalte einführe und mit den Schüler: innen thematisiere, wie beein‐ flusst das deren Sicht auf Diskriminierungen? “ 3. Tauschen Sie sich in Ihrer Projektarbeitsgruppe aus. - Wir haben unsere Ideen verglichen und festgestellt, dass wir alle daran interessiert sind, machtkritische Aspekte im Unterricht zu thematisie‐ ren. Wir einigten uns darauf, dass jede von uns in ihrem Unterricht einen bestimmten machtkritischen Ansatz ausprobiert. Kollegin 1 wird sich auf die Analyse von Lehrbuchtexten konzentrieren, Kollegin 2 wird Filmausschnitte und deren kulturelle Darstellung untersuchen und ich werde kritische Diskussionen zu Themen wie Rassismus und Gender im Unterricht einführen. 4. Analysieren Sie den Kontext, in dem Sie das Praxiserkundungspro‐ jekt durchführen werden. - Mein Unterricht eignet sich gut für dieses Projekt, da ich regelmäßig Diskussionsrunden einplane und die Schüler: innen daran gewöhnt sind, ihre Meinungen im Unterricht zu äußern. Ich plane, die Diskus‐ sionen zu dokumentieren und die Veränderungen in den Sichtweisen der Schüler: innen durch Interviews und Beobachtungen festzuhalten. 178 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="180"?> 5. Planen Sie Ihr Projekt und denken Sie daran: „Klein aber fein“ soll es sein. - Kolleg: innen werden mir helfen, indem sie meine Unterrichtsstunden hospitieren und ihre Beobachtungen notieren. - Ich werde vor und nach den Diskussionen Interviews mit den Schü‐ ler: innen führen, um ihre Sichtweisen zu erfassen. - Zur Dokumentation werde ich eine Videokamera einsetzen (mit Ein‐ verständniserklärung der Eltern und Schüler: innen sowie der Schullei‐ tung). - Ich informiere die Schüler: innen über das Projekt, um Transparenz zu schaffen. - Ich recherchiere zusätzliche Literatur zur unterrichtspraktischen Um‐ setzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik und spreche mit erfahrenen Kolleg: innen, um weitere Tipps zu erhalten. 6. Führen Sie Ihr Projekt durch und sammeln Sie die Daten. - Ich führe das Projekt durch, indem ich in den nächsten vier Wochen wöchentlich eine machtkritische Diskussion in meinem Englischun‐ terricht einplane. Ich dokumentiere diese Diskussionen per Video und führe Interviews mit den Schüler: innen vor und nach den Diskussio‐ nen. Die zwei Kolleginnen helfen mir dabei, die Unterrichtsstunden zu beobachten und Notizen zu machen. 7. Werten Sie das Projekt aus. - Nach Abschluss des Projekts werte ich die Daten aus, indem ich die Videoaufnahmen und Interviews transkribiere und nach Kategorien aus den Interviews analysiere. Ich konzentriere mich darauf, wie sich die Sichtweisen der Schüler: innen zu Machtgefügen und Diskriminie‐ rungen verändert haben. Dabei stelle ich fest, dass viele Schüler: innen bewusster und kritischer gegenüber kulturellen Darstellungen in den Medien und Lehrmaterialien geworden sind. - Ich fasse die Ergebnisse des Projekts in einem Bericht zusammen, der die wichtigsten Erkenntnisse und Beispiele aus den Diskussionen und Interviews enthält. 8. Präsentieren Sie die Ergebnisse Ihrer Praxiserkundungsprojekte. - Ich schicke die Ergebnisse an Kollegin 1 und Kollegin 2. Wir verglei‐ chen unsere Ergebnisse und bereiten eine gemeinsame Präsentation für unser Kollegium vor. Wir einigen uns darauf, die Präsentation in Form eines Workshops zu gestalten, bei dem wir unsere Methoden und Ergebnisse vorstellen und Diskussionen anregen. 9. Präsentieren Sie Ihr Praxiserkundungsprojekt gemeinsam. - Wir präsentieren unser Projekt gemeinsam in einem schulischen Fort‐ bildungsworkshop. Dabei erhalten wir wertvolles Feedback von den 4.5 Beispiele zur Anbahnung einer kritischen Haltung 179 <?page no="181"?> Kolleg: innen, die das Projekt diskutieren und selbst Interesse zeigen, machtkritische Inhalte in ihren Unterricht zu integrieren. 10. Dokumentieren Sie Ihr Praxiserkundungsprojekt und relevante Re‐ aktionen von anderen. - Wir dokumentieren unser Projekt und die Reaktionen unserer Kol‐ leg: innen. Diese Dokumentation wird in der schulinternen Bibliothek für Lehrkräftefortbildung abgelegt und steht zukünftigen Lehrkräften als Ressource zur Verfügung. 4.6 Was bedeutet es, eine kritische Fremdsprachenlehrkraft zu werden/ sein? Wir sind in dieses Kapitel mit dem Anspruch an eine kritische Fremdsprachenlehr‐ person eingestiegen, dass diese eine potenziell transformative Rolle im Unterricht einnimmt und die Lernenden dazu befähigt, kritische Diskursfähigkeit zu entwickeln. Mit dieser sollen Schüler: innen Machtgefüge (in vielfältigster Art und Weise) aufdecken und transformieren. Hierzu gehört zunächst einmal selbst einen kritischen Blick auf das einzunehmen, was im Fremdsprachenunterricht passiert oder passieren soll. Es gehört auf Seiten der Lehrperson einiges an Wissen, Kompetenzen und Reflexivität dazu (siehe Kapitel 2.3), denn: Wenn wir als Lehrperson selbst kein domänenspezifisches Wissen über unser Kerngeschäft (d.h. den Fremdsprachenunterricht, den wir gestalten mitsamt seinen Inhalten und Anforderungen) haben, wird es uns nur schwerlich möglich sein, diesen (wie auch immer) zu entwickeln. Wissen ist damit eine zwingende Voraussetzung, aber noch nicht ausreichend. Wir haben in diesem Kapitel ebenfalls zeigen können, dass kritische Fremdspra‐ chenlehrer: innen sich insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie eine bestimmte Haltung zum Unterricht haben und sich selbst mit ihrer Identität im Unterricht genauer verstehen möchten. Language Teacher Identity hilft uns als Brille, uns selbst zu reflektieren und uns gegenüber zahlreichen Kontextfaktoren zu positionieren. Zu diesen Faktoren können wir auch die auf den Fremdsprachenunterricht und seine beteiligten Personen (also Lernende wie Lehrende) wirkenden Normen zählen, die wir in Kapitel 2.4 offengelegt haben: Wie gestalten wir einen inklusiven, kritischen Fremdsprachenunterricht, wenn alle Beteiligten genau wissen, dass in der folgenden Woche eine Klassenarbeit über den Yosemite-Nationalpark in den USA, den Día de los Muertos in Mexiko oder die Geschichte von La Réunion geschrieben wird? Zu einer solchen Norm eine Position zu haben, diese möglicherweise den Lernenden transparent zu machen oder mit ihnen auszudiskutieren, wäre auch ein Kern kritischen Fremdsprachenunterrichts und wäre für uns ein Kern von Professionalität, den kriti‐ sche Fremdsprachenlehrpersonen zeigen: ein Bewusstsein über die Wirkmächtigkeit von Normen und eine Adressierung eben jener in der eigenen Handlungspraxis (d.h. in der Vorbereitung, Durchführung und Reflexion des eigenen Unterrichts). 180 4 Eine kritische (Fremdsprachen-)Lehrkraft werden <?page no="182"?> An einigen Stellen in diesem Kapitel kam Ihnen das kritische Fremdsprachen‐ lehrer: innendasein möglicherweise relativ einsam vor - besonders, als es um die Language Teacher Identity ging, welches ein sehr individuelles Konzept ist. Es ist richtig, dass von Ihnen allein viel ausgeht: Sie erfahren sich selbst als handelnde Person im Unterricht und erleben das unmittelbare Feedback Ihrer Lernenden auf Veränderungen im Unterricht. Sie schaffen die Anlässe, zu denen sich Ihre Lernenden positionieren (müssen) und Sie geben ihnen die nötigen sprachlichen Mittel und Inhalte, um kritische Meinungen auszutauschen. Wir haben aber auch gerade im letzten Abschnitt in Kapitel 4.5 zeigen wollen, dass es im Kontext von Unterrichts‐ entwicklung, wenn diese aktionsforschende Prinzipien einbezieht (Praxiserkundungs‐ projekte), wunderbare Gelegenheiten gibt, um mit Kolleg: innen zusammenzuarbeiten und über Unterricht nachzudenken. In Mareen Lükes Fortbildungsprojekt im Rahmen ihrer Dissertationsstudie (Lüke 2024a) waren die Praxiserkundungsprojekte und der gemeinsame Austausch darüber im Sinne einer kollegialen Fallberatung zentrale Bausteine für die Professionalisierung der Lehrpersonen und die Entwicklung des eigenen Unterrichts (siehe auch Kapitel 6.3). Daher möchten wir Sie an dieser Stelle ermutigen: Denken Sie gemeinsam mit Kolleg: innen oder Kommiliton: innen über (kritischen) Fremdsprachenunterricht nach, planen Sie ihn gemeinsam, hospitieren Sie nach Möglichkeit bei Kolleg: innen und reflektieren Sie über das Geschehene. Diese selbstgesteuerten, eher informellen Gelegenheiten sind möglicherweise diejenigen, aus denen man für die eigene Professionalisierung das Meiste mitnimmt. Weitere Ideen stellen für noch an späterer Stelle in den Kapiteln 6.2 und 6.3 vor. 4.6 Was bedeutet es, eine kritische Fremdsprachenlehrkraft zu werden/ sein? 181 <?page no="184"?> 5 Kritische Fremdsprachenlehrpersonen in einem kritischen Fremdsprachenunterricht: Beispiele und Reflexionsanlässe Critical reflection on practice is a requirement of the relationship between theory and practice. Otherwise theory becomes simply “blah, blah, blah,” and practice, pure activism. Paulo Freire (1998: 30) In diesem Kapitel Dieses Kapitel verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen illustrieren wir anhand einiger Beispiele, wie sich Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachendi‐ daktik im Unterricht umsetzen lassen. Zum anderen sollen diese unterrichtsprak‐ tischen Beispiele als Reflexionsgelegenheiten dienen, denn: Ein kritischer Fremd‐ sprachenunterricht ist - vielleicht noch mehr als einer, der keine entsprechend moralisch aufgeladenen Themen verhandelt - von zahlreichen Unsicherheiten geprägt, die entsprechende Herausforderungen an die Lehrpersonen stellen und daher besonderer Reflexion bedürfen. Die vorangehenden Kapitel haben nicht nur gezeigt, welche Aspekte, Konstrukte und Mechanismen zur fremdsprachlichen Lehrer: innenbildung beitragen bzw. welche wir aktiv nutzen können. Sie haben auch erfahren, welche Ideen eine Kritische Fremdspra‐ chendidaktik verfolgt und wie wiederum Machtkritik, Positionierung (mitsamt der individuellen Language Teacher Identity) und die Erforschung des eigenen Handelns zur persönlichen Professionalisierung dienlich sein können. Auch wenn die vorherigen Kapitel schon den Anspruch hatten, praxisnahe Beispiele zu liefern, wie eine konkrete Umsetzung der Ideen im Alltag aussehen kann, geht dieses Kapitel noch einen Schritt weiter: In unserer Arbeit zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik und kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung sind wir häufig - entweder im Austausch mit Kolleg: innen aus der Wissenschaft oder Lehrpersonen - mit der Frage konfrontiert, wie praktikabel beide Ansätze (Unterricht und Lehrer: innenbildung) in ihrer kritischen Perspektivierung sind. Die empirische Fundierung kritischer Ansätze der vergangenen 20 Jahre auf internationaler Ebene hilft bereits ein Stück weit, diese Frage zu beant‐ worten. Eine Unsicherheit vieler klärt sie aber nicht: Wie gehe ich als Lehrperson damit um, dass die Implementation kritischer, tabuisierter und unbequemer Themen an sich bereits zahlreiche weitere Fragen, Herausforderungen und mögliche Probleme im Unterricht und im Austausch mit meinen Lernenden aufwirft? Das „Aushalten“ dieser Unsicherheiten in einem strukturtheoretischen Sinn ist in der Tat herausfordernd, <?page no="185"?> weswegen wir uns für dieses Kapitel vorgenommen haben, einige Praxisbeispiele aus unseren Seminaren sowie von Kolleg: innen als Reflexionsmomente zu nutzen: Im Rahmen eines fallorientierten Vorgehens möchten wir Unterrichtsvorhaben skizzieren und zeigen, welche möglichen Krisen und Problemlagen sich aus diesen Ideen im Unterricht entwickeln können und wie Sie als Lehrperson mit ihnen im Rahmen einer fiktiven Lerngruppe umgehen könnten. Dies hat natürlich sehr viel mit der Entwicklung bzw. Positionierung von Language Teacher Identity (siehe Kapitel 4.3) zu tun und soll Ihnen Ideen für eigene Positionierungen liefern. Das Ganze ist dabei jeweils ein Gedankenexperiment vor dem Hintergrund einer fiktiven Gruppe von Lernenden. Die Ideen und die Fragen, die wir im Folgenden je nach Beispiel stellen, sind nicht notwendigerweise die, die Ihnen beim Durchführen der Unterrichtsidee mit Ihrer Lerngruppe weiterhelfen werden. Sie sollen aber zum Nachdenken anregen und zur Orientierung dienen. Einige Beispiele sind „gröber“, beschäftigen sich allgemeiner mit der Implementation einer Idee oder eines Konzepts, eines Tabuthemas oder einer gesellschaftlichen Fragestellung. Andere Beispiele sind sehr konkret und können als Modelle dienen, um entweder genau diese Idee umzu‐ setzen oder dieselbe Idee mit anderen Inputmaterialien zu füllen. Das ist natürlich vollkommen Ihnen überlassen! Wie gerade angedeutet, greifen wir hier auch auf Unterrichtsideen von Kolleg: innen zurück, die diese an anderer Stelle publiziert haben. Die Verweise finden Sie jeweils in den Ideenkästen. Wir haben hier nur Veröffentlichungen aus den letzten fünf Jahren aus dem deutschsprachigen Raum verwendet (2020-2024), um einer gewissen Aktualität und Kontextgebundenheit Rechnung zu tragen. Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass wir hier eine selektive Auswahl entlang bestimmter Themen getroffen haben und daher vielleicht einige Ideen nicht berücksichtigen konnten oder diese gar nicht kennen. Das müssen wir in Kauf nehmen und freuen uns im Gegenzug über Hinweise zu weiteren Unterrichtsskizzen. 5.1 Gender Awareness im Fremdsprachenunterricht fördern Die notwendige Förderung von Gender Awareness und der Abbau geschlechtsspezifi‐ scher Stereotype hat nicht nur zahlreiche Konzepte und Erkenntnisse in der Fremdspra‐ chendidaktik hervorgebracht (vgl. z.B. Fuchs 2013, Elsner/ Lohe 2016, Merse 2017, König 2018), sondern findet sich zunehmend in der unterrichtlichen Praxis wieder, in Lehr‐ werken und Unterrichtsmaterialien, und ist auch curricular in Lehrplänen verankert: In Nordrhein-Westfalen ist Gender Awareness beispielsweise im Englischunterricht der Grundschule bereits vorgesehen (vgl. MSB 2021). Zahlreiche Ideen, gerade für frühen Fremdsprachenunterricht, machen sich literarische Vorlagen zunutze: Bilderbücher oder altersangemessene Kinder- und Jugendromane, die Geschlechterstereotype expli‐ zit oder implizit aufbrechen, lassen damit die Protagonist: innen als Stellvertreter: innen für die Lesenden handeln. Letztere können sich in die Personen hineinversetzen, 184 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="186"?> erleben und hinterfragen Rollen. Dieses Erleben kann dann im Unterricht Gegenstand von Anschlusskommunikation werden. Gender Awareness: Gender Swapped Fairy Tales • Jahrgangsstufe: 3-6 (frühe Lernjahre) • Ziel: Lernende analysieren die Rollen, die in klassischen Märchen mit Pro‐ tagonist: innen verbunden sind (traditionalistische Frauen-/ Männerbilder), diskutieren und bewerten diese kritisch und überlegen, was sich am Märchen ändern würde, wenn die Geschlechter getauscht würden (Gender Swap). • Inputmaterial: Bekannte Plots von Märchen; mittlerweile gibt es auch Bücher, die bewusst mit Geschlechtlichkeit und Rollenzuschreibungen in Märchen spielen, welche gerade für ältere Lernende interessant sein könnten (z.B. Fransman/ Plackett 2020). • Vorgehen und erwarteter Output: Die Lernenden erläutern den Plot von ihnen bekannten Märchen. Dann werden sie aufgefordert, sich zu überlegen, was sich ändert, wenn die Protagonist: innen das Geschlecht wechseln. In diesem Zusammenhang kann auch die Frage nach der Binarität von Geschlecht diskutiert werden. Hierdurch entstehen möglicherweise (je nach Rollenzuschreibungen) Änderungen am Plot. Lernende können dann (alleine oder gemeinsam) Märchen umschreiben, um diese an ein offeneres Verständnis von Gender anzupassen. • Sprachdidaktischer Fokus: Lese- und Schreibkompetenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: (selbst entwickelt) Das Unterrichtsbeispiel zu den Gender Swapped Fairy Tales ist insofern spannend, als dass es zur Reflexion über Geschlechterzuschreibungen anregt und dann die Lernenden ermutigt, die Geschichte im transformatorischen Sinne neu zu schreiben. Zwar existieren mittlerweile Vorlagen, in denen mit Geschlechterrollen in Märchen gespielt wird (z.B. Fransman/ Plackett 2020), welche sicherlich auch zum Gegenstand gemacht werden könnten. Jedoch: Diese haben den Prozess des Durchdenkens, was sich bei einem Geschlechtertausch ändert, bereits durchgeführt, d.h. es ist den Lernenden sozusagen „aus der Hand genommen“, die Geschichte selbst neu unter anderen Vor‐ zeichen zu denken. Die Lehrperson muss den Prozess des Denkens selbstverständlich anleiten, mit sprachlichen Mitteln entlasten und sich von der Norm der funktionalen Einsprachigkeit an entsprechenden Stellen distanzieren. Es gehört sicherlich dazu, auf einzelne Aspekte der Geschichte hinzuweisen, die sich ändern könnten (aber nicht müssen). Wenn Lernende beispielsweise Die Schöne und das Biest als Vorlage wählen für eine eigene Geschichte à la Der Schöne und das Biest, muss zunächst einmal überlegt werden, ob die Protagonistin Belle in der ursprünglichen Erzählung 5.1 Gender Awareness im Fremdsprachenunterricht fördern 185 <?page no="187"?> überhaupt ein solch klassisch-schwacher Prinzessinnencharakter ist, wie wir ihn häufig in Märchen anfinden. Ist sie nicht vielmehr die Heldin, die das Biest (den männlichen Protagonisten) rettet? Gender Awareness sowie ein Aufbrechen tradierter Rollenzuschreibungen lässt sich auch durch feministisch-pädagogische Interventionen adressieren. In einem eigenen Beispiel haben wir dies in einem Oberstufenkurs ausprobiert (und rekonstruktiv beforscht), das Vorgehen lässt sich für jüngere Lernende adaptieren: Gender Awareness: Feminismus und Intersektionalität • Jahrgangsstufe: 9-11 (fortgeschrittenere Lernjahre) • Ziel: Lernende erfahren Hintergrundwissen über die feministischen Wellen in den USA und wie die Rolle der Frau mit Rassifizierung und Klasse zusammenhängt (als eine Überschneidung im Sinne von Intersektionalität); die Lernenden erfahren mehr über aktuell relevante Persönlichkeiten und perspektivieren dieses Wissen für ihren eigenen Alltag • Inputmaterial: Diverse multimodale Texte zu berühmten amerikanischen (Schwarzen) Frauen, Hintergrundtexte zum historischen Kontext • Vorgehen und erwarteter Output: Lernende präsentieren als Zielaufgabe eine Schwarze Frau mitsamt ihres historisch-kulturellen Kontexts und ihrem Impact für den Feminismus. • Sprachdidaktischer Fokus: Lese- und Schreibkompetenz (je nach Präsen‐ tationsform auch monologisches Sprechen) • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Granger/ Gerlach (2024) Die zentrale Idee ist hier wieder über Wissen um z.B. das Konstrukt von Feminismus und das Kennenlernen von Personen, die für feministische Perspektiven stehen, ein kritisches Bewusstsein auf Seiten der Lernenden zu entwickeln, das das Potential hat, für die jeweiligen Learner Identities im Klassenraum transformatorisch bildend zu sein: Die Lernenden sollen erkennen, inwiefern Feminismus bzw. die feministischen Wellen gesellschaftliche Relevanz haben. Um ein wachsendes kritisches Bewusstsein auszu‐ bilden, wurden in der vorgeschlagenen Unterrichtseinheit zwei Gruppendiskussionen zum Thema „Feminismus“ geführt, nämlich zu Beginn und zum Ende der Einheit. Offensichtlich können Lernende am Ende einer solchen „Intervention“ mehr über Feminismus und Frauen sagen - das wäre aber auch reines Prüfungswissen, das hier tatsächlich weniger interessierte: Es ging eher darum, herauszufinden, ob sich das Sprechen über Feminismus ändert, ob man also an der Art und Weise, wie Lernende über das Thema reden, ableiten kann, dass sich ein kritisches Bewusstsein eingestellt hat. Dieses Vorgehen lässt sich auf weitere kritische Themen übertragen, verlangt von 186 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="188"?> der Lehrkraft allerdings ein genaues Zuhören bzw. die Gestaltung eines Settings, in dem die Lernenden in ein Erzählen über das Thema kommen. Für die Förderung von Gender Awareness im Fremdsprachenunterricht eignet sich auch eine Diskussion zur Umsetzung von gendergerechter Sprache. Dies kann für den Englischunterricht bedeuten, traditionell häufig geschlechtlich eindeutig verwen‐ dete Bezeichnungen (bestes Beispiel: das Wortfeld „Berufe“ im Anfangsunterricht) zu hinterfragen oder Pronomen inklusiver zu verwenden. Insbesondere für den DaF/ DaZ-Unterricht scheint ein sensibler Umgang mit Gender und geschlechtergerechter Sprache angezeigt (vgl. Schmidt et al. 2024) und auch für das Spanische gibt es Ideen, wie geschlechtergerechte Sprache umgesetzt werden kann (vgl. z.B. Soler 2022). Macht man dies gezielt zum Gegenstand, dürfte nicht nur Gender Awareness, sondern auch (kritische) Sprachbewusstheit gefördert werden. 5.2 Rassismuskritik im Fremdsprachenunterricht Rassismuskritik nimmt einen immer größeren Stellenwert in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften in Deutschland ein und hat damit auch auf fachdidaktische Forschung und - im Transfer - auf den (Fremdsprachen-)Unterricht zunehmend Auswirkungen. Zwar wird beispielsweise im Englischunterricht Rassismus häufig, be‐ sonders im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Geschichte, zum Gegenstand gemacht. Wie weiter oben aber bereits gezeigt wurde, ist diese Herangehensweise nicht selten problematisch - insbesondere dann, wenn Rassismus als ein der Lebenswelt der Lernenden fernes Problem konstruiert wird (vgl. Bönkost 2020, Güllü/ Gerlach 2023). Neben problematischen Darstellungen in Lehrwerken selbst, die dann zur Reflexion und gemeinsamen Transformation mit Lernenden einladen, stellen wir im Folgenden zwei Unterrichtsideen vor, die Rassismus bewusst machen und zu einer rassismuskritischen Betrachtung einladen. Rassismuskritik: Eine rassismuskritische Bewegung wie Black Lives Matter verstehen lernen • Jahrgangsstufe: Sekundarstufe I • Ziel: 1) Lernende entwickeln anhand eines Bilderbuchs ein Bewusstsein für Rassismus und mögliche Gründe und Ursachen. 2) Lernende erwerben Hintergrundwissen über den Kontext des Entstehens der Black Lives Mat‐ ter-Bewegung und über die Rolle sozialer Medien bei der Entstehung. • Inputmaterial: Hintergrundinformationen zur Black Lives Matter-Bewe‐ gung, Bilderbuch Something Happened in Our Town von Marianne Ce‐ lano/ Marietta Collins/ Ann Hazzard (2018), methodische Materialien • Vorgehen und erwarteter Output: Beide oben formulierten Ziele stammen aus zwei unterschiedlichen Unterrichtsideen, sind aber kompatibel miteinan‐ der: Im ersten Beispiel erarbeiten die Lernenden anhand des Bilderbuches So‐ 5.2 Rassismuskritik im Fremdsprachenunterricht 187 <?page no="189"?> mething Happend in Our Town ein erstes Bewusstsein für Rassismus und seine Folgen und formulieren emotionale Reaktionen auf der Grundlage dieser Re‐ zeptionserfahrung. Der zweite Teil beschäftigt sich aus mediendidaktischer Perspektive mit dem Entstehen der Black Lives Matter-Bewegung entlang der historischen Ereignisse und der sozial-medialen Verarbeitung (inklusive des Hashtags). Lernende formulieren als Produkte fiktive Instagram-Posts und entwickeln damit im Probehandeln kritische Diskursfähigkeit. • Sprachdidaktischer Fokus: Lese- und Schreibkompetenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Matz/ Reckermann (2021), Braselmann (2021) Das Sprechen über Rassismus als Phänomen eines im Lehrwerk verhandelten Landes kann zum Verschieben von Verantwortung bzw. Verantwortlichkeiten führen, wenn es nicht als globales und lokales Phänomen begriffen wird, das strukturell in der Gesellschaft verankert ist (vgl. Güllü 2025). Die beiden vorgestellten Unterrichtsideen arbeiten auf einer affektiven Ebene, indem eine emotionale Antwort auf der Grundlage des Bilderbuches verfasst werden soll. Diese dient zur Herstellung eines Grundvers‐ tändnisses für die Problematik von Rassismus und der Bedrohung durch Gewalt, der Betroffene ausgesetzt sind. Das zweite Beispiel arbeitet zudem auf einer stark kognitiven Ebene: Denn Rassismus und Polizeigewalt wird zwar als US-amerikanisches Phänomen durch die Black Lives Matter-Bewegung erachtet, die Schüler: innen analy‐ sieren jedoch die Entwicklung der Bewegung insbesondere durch die Verwendung des Hashtags. Es wird sodann als eine Bewegung verstanden, die über soziale Medien nicht lokal auf die Vereinigten Staaten beschränkt ist, sondern globale Relevanz erhält, zu der die Lernenden sich mit eigenen Social Media-Postings verhalten können. Auch das zweite Beispiel arbeitet mit einem zunächst literarischen Gegenstand, der aber anders gelagert ist als das obige Beispiel: Rassismuskritik: Mein Name ist Ausländer/ Benim Adım Yabancı von Semra Ertan (2023) • Jahrgangsstufe: Sekundarstufen I und II (junge und fortgeschrittene Lern‐ ende) • Ziel: Lernende erfahren und vertiefen durch die Auseinandersetzung mit einem Gedicht und einer sich anschließenden Mediationsaufgabe, wie Aus‐ grenzung und rassistische Diskriminierung innerhalb Deutschlands erfahren werden kann. • Inputmaterial: Gedicht Mein Name ist Ausländer/ Benim Adım Yabancı von Semra Ertan • Vorgehen und erwarteter Output: Im Gedicht Mein Name ist Auslän‐ der/ Benim Adım Yabancı von Semra Ertan erzählt das lyrische Ich, wie die 188 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="190"?> körperliche Arbeit türkeistämmiger Gastarbeiter: innen in Deutschland nicht gewürdigt wird während diese gleichzeitig von der Mehrheitsgesellschaft ver-andert werden (Othering). Es illustriert die Verwobenheit zwischen dem Land, in dem Personen arbeiten, und dem Land, in dem die Familie lebt. Im Rahmen einer Mediationsaufgabe, deren Ziel es ist, den Inhalt des Gedichts in der Fremdsprache vermittelbar zu machen, durchdringen die Lernenden die Thematik und entwickeln somit ein tiefergehendes Verständnis für die vom lyrischen Ich aufgeworfene Problematik, die eine für den lokalen Kontext (Deutschland) historisch spezifische Form des Rassismus ist. • Sprachdidaktischer Fokus: Mediation (Sprechkompetenz) • Ausgangssprache des Textes: Deutsch und Türkisch • Ursprüngliche Fremdsprache: - • Quelle: Güllü (2025) Das Gedicht setzt unmittelbar den deutschen Kontext ins Zentrum und wie in Deutsch‐ land Rassismus strukturell verankert ist, obwohl das lyrische Ich als Arbeiter: in eigentlich Tugenden erfüllt, die eine weiß-deutsche Person für relevant hält bzw. halten sollte. Um diesen Text zum Gegenstand einer Mediationsaufgabe zu machen, ist es notwendig, dass die Lernenden mehr Hintergrundwissen (z.B. durch die Lehr‐ kraft bzw. weitere Inputmaterialien) sowie die sprachlichen Mittel erhalten, um den Inhalt umfänglich zu verstehen. Schließlich soll das Gedicht nicht übersetzt, sondern Inhalt und Intention in der Fremdsprache als Sprachmittlung umgesetzt werden. Eine einfache Zusammenfassung ist hier nicht ausreichend. Fragen müssen daher gemeinsam entwickelt und geklärt werden, möglicherweise kann mit dem Gedicht auch kreativ-schreibend bzw. perspektiventechnisch umgegangen werden. Dieses Durchdringen hilft insgesamt dabei, ein rassismuskritisches Bewusstsein anzubahnen. Reflexionsaufgabe Wie positionieren Sie sich als (nicht-)weiße Fremdsprachenlehrperson gegenüber (nicht-)weißen Lernenden, wenn Sie rassismuskritische Themen in Ihrem Fremd‐ sprachenunterricht adressieren möchten? 5.3 Nachhaltigkeit im Fremdsprachenunterricht Nachhaltigkeit, insbesondere in der Form von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), wie wir sie weiter oben in Kapitel 3.3 bereits angerissen haben, ist eines der zentralen Themen eines kritischen Fremdsprachenunterrichts, der sich mit globalen, lokalen und sozialen Phänomenen auseinandersetzen möchte. Denn alle Bereiche von BNE haben Schnittmengen mit Fragen von Ungerechtigkeit und Macht. Ein vielbehandeltes Beispiel ist hier zunächst einmal der Klimawandel mit seinen Aus‐ 5.3 Nachhaltigkeit im Fremdsprachenunterricht 189 <?page no="191"?> wirkungen insbesondere für ökonomisch benachteiligte Menschen, die sich gegen Extremwetterlagen, Dürren oder Hitzeperioden nicht angemessen schützen können. Aber BNE beschäftigt sich auch mit Fragen von Geschlechtergerechtigkeit (siehe 5.1), Gesundheit, Frieden oder Biodiversität als bedeutender Voraussetzung für Leben auf der Erde und nachhaltige Landwirtschaft. Bei Lernenden ein Bewusstsein für komplexe Zusammenhänge zu schaffen, ist daher zwingend nötig. Die erste Unterrichtsidee versucht dies bereits im Fremdsprachenunterricht der Grundschule zu integrieren: Nachhaltigkeit: Samenbomben für Biodiversität • Jahrgangsstufe: 3 (junge Lernjahre, Grundschule) • Ziel: Die jungen Schüler: innen lernen die Bedeutung von Blütenpflanzen für Bienen kennen. Ihnen wird bewusst, dass gerade urbane, verbaute Räume nur begrenzt bienenfreundlich sind und stellen daher unter Anleitung Samenbomben (seed bombs) her, die sie anschließend verteilen. • Inputmaterial: Altersgerechtes Infomaterial zu Bienen und Biodiversität, Anleitung zur Erstellung der Samenbomben • Vorgehen und erwarteter Output: Die Lernenden erfahren durch Input mehr über die Rolle von Bienen und Blütenpflanzen und hinterfragen Um‐ fang und Menge in ihrer Umgebung. Anschließend werden Samenbomben als eine Möglichkeit vorgestellt, mehr Blütenpflanzen in den städtischen Raum zu bringen. • Sprachdidaktischer Fokus: Hör-/ Sehverstehen, Lesekompetenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch (Grundschule) • Quelle: Dimowa (2022) So simpel die Unterrichtsidee mit der Erarbeitung des nötigen Wortschatzes und dem Schaffen eines Bewusstseins für die Bedeutung von Blütenpflanzen (und Bienen) für Biodiversität daherkommen mag, so tangiert sie auch ein zentrales Prinzip von Critical Pedagogy: den Effekt außerhalb des Klassenzimmers. Dieser kommt spätestens dann zum Tragen, wenn die Lernenden ihre Samenbomben außerhalb des Schulgeländes verteilen. Außenstehende mögen dies kritisch beäugen, Ihre Lernenden könnten sich mit Vorwürfen konfrontiert sehen, wenn sie die Päckchen auf freien Flächen verteilen. Daher muss es im Sinne der Schaffung eines kritischen Bewusstseins hier wohl auch darum gehen, gute Argumente für die Aktion bereitzustellen, fundiert zu argumentieren, warum Samenbomben auf ansonsten brach liegenden Flächen eine gute Idee für die nähere Umgebung sind. Das zweite Beispiel für ältere Schüler: innen ist insbesondere aufgrund der einge‐ setzten Methode spannend: Es geht um „Hackathons“, also das projektgeleitete und problemorientierte Entwickeln von Lösungen für zentrale Nachhaltigkeitsfragen. 190 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="192"?> Nachhaltigkeit: Hackathons für nachhaltige Stadtentwicklung • Jahrgangsstufe: 9 (sowie fortgeschrittenere Lernjahre) • Ziel: Lernende erarbeiten im Rahmen eines Hackathons Ideen zur nach‐ haltigen Entwicklung von Städten und Gemeinden („sustainable cities and communities“). • Inputmaterial: Informationen zum Ablauf eines Hackathons, selbstge‐ wählte Recherchematerialien • Vorgehen und erwarteter Output: Vorbereitung, Gruppenbildung, kre‐ ative Problemlösung, Präsentation und Feedback sind die Phasen eines Hackathons, der die Hauptverantwortung für die Entwicklung von Ideen und Lösungen in die Hände der Teilnehmenden gibt. Auch der Präsentationsmo‐ dus wird gemeinsam ausgehandelt und je nach erarbeiteter Lösung bestimmt. • Sprachdidaktischer Fokus: Interaktives Sprechen, Lese-/ Schreibkompe‐ tenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Kroschewski (2022) In dem Unterrichtsbeispiel, das Kroschewski (2022) beschreibt, dreht sich der Hack‐ athon zentral um nachhaltige Stadtentwicklung. Dies kann als unmittelbar authentisch und kontextsensibel von den Lernenden wahrgenommen werden, da es um ihr eigenes Umfeld geht. Für die Lehrkraft heißt es an dieser Stelle (wie in der Regel bei komple‐ xeren Lernaufgaben oder Projekten), dass viel Verantwortung für den Lernprozess an die Schüler: innen abgegeben wird. Gleichzeitig muss die Lehrperson sensibel sein für Bedürfnisse der Lernenden, d.h. wann diese sprachliche, inhaltliche oder methodische Hilfestellung (Scaffolding) benötigen, um am Prozess des Hackathons teilnehmen zu können. Wenn diese Partizipation entlang der unterschiedlichen Fragestellungen und Miniprojekte gegeben ist, wird ein Hackathon auch inklusiv und lässt die Lernenden erleben, was es bedeutet, gemeinsam an einer relevanten Fragestellung zu arbeiten. Die Methode lässt sich auf andere Themenfelder oder Sustainable Development Goals innerhalb der Bildung für nachhaltige Entwicklung erweitern. Für eine kritische Auseinandersetzung und lösungsorientierte Lerner: innenprodukte ist eine tiefgehende inhaltliche Durchdringung der jeweils gewählten Themen enorm wichtig. Der Input hierfür bzw. die Vorbereitung muss daher zentral von der Lehrperson (mit-)verant‐ wortet werden, aber auch Lernende können selbstgesteuert in Rechercheprozesse eintauchen und ihre Ergebnisse teilen. Eine solche Methode bietet die Gelegenheit, über die Ideen von Engagement („Warum engagiere ich mich und welche Form von Engagement halte ich für sinnvoll? “) zu reflektieren (siehe z.B. auch Falbe de Altez 2020). 5.3 Nachhaltigkeit im Fremdsprachenunterricht 191 <?page no="193"?> 5.4 Im Fremdsprachenunterricht über Gewalt und Tod sprechen Es ist wahrscheinlich nie leicht über die Themen zu sprechen, die in der Überschrift dieses Unterkapitels anklingen, da sie häufig persönliches Leid und negative Emotionen hervorrufen. Je nach persönlichem Verhältnis zwischen Fremdsprachenlehrperson und Lerngruppe bzw. den Lernenden untereinander können sehr persönliche Erfahrungen mit Gewalt oder (gewaltsamem) Tod (z.B. in der Familie) durchaus im offenen Diskurs‐ raum der Klasse zur Sprache kommen. Zu sehr persönlichen Erfahrungen öffnen sich Lernende aber ggf. auch nur in Gesprächen unter vier Augen mit der Lehrperson im Vertrauen. Gerade Erfahrungen mit Krieg, die in unseren Klassenzimmern häufig und ganz unmittelbar mit Flucht verbunden sind, können aufgrund der traumatischen Umstände möglicherweise gar nicht vor und mit der gesamten Klasse ausgehandelt werden. Vorliegende Ideen aus den Fremdsprachendidaktiken, um über Gewalt und Tod zu sprechen, nähern sich den Themen in der Regel über Phänomene oder über literarische bzw. kulturelle Gegenstände. Die erste Unterrichtsidee thematisiert die Problematik von Femiziden und fokussiert - basierend auf Inputmaterialien und Wissen - auf ein Verstehen der Wirkungszusammenhänge des Phänomens. Gewalt und Tod: Femizide • Jahrgangsstufe: 8-10 (fortgeschrittenere Lernjahre) • Ziel: Die Schüler: innen lernen den Begriff und das Konzept „Femizid“ (hier am Beispiel der mexikanischen Ciudad Juarez) kennen und entwickeln ein kritisches Bewusstsein für die Problematik des gesellschaftlichen Wirkungs‐ gefüges hinter dem Phänomen des Femizids. • Inputmaterial: Hintergrundinformationen zu Femiziden (in Mexiko und Deutschland) • Vorgehen und erwarteter Output: Die Lernenden erfahren Details über das Phänomen von Femizid durch eine Erzählung zweier Freundinnen. Entlang einer Methode zum globalen Lernen (Mystery-Methode) entwickeln die Lernenden ein Verständnis für die Hintergründe von Femiziden und für das Phänomen in Mexiko, aber auch in Deutschland. • Sprachdidaktischer Fokus: Interaktives Sprechen, Lese-/ Schreibkompe‐ tenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Spanisch • Quelle: Münch (2022) Die Unterrichtsidee geht den Schritt interkulturellen Lernens und möchte ein kritisches Bewusstsein für Femizide in Deutschland aufbauen. Das Ziel hierbei ist, Femizide als strukturelles und gesamtgesellschaftliches Problem zu verstehen, das vorab als „fern“ 192 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="194"?> in Mexiko konstruiert wird. Erweitert man das Themenfeld um Gewalt gegen Frauen, findet man über Deutschland erschreckende Statistiken mit sechsstelligen Zahlen von Betroffenen, die aufrütteln sollten. Das faktenbasierte Aufdecken der Problematik muss dann in ein moderiertes und sensibilisierendes Diskutieren darüber führen, in welchen Formen sich diese Gewalt äußert, wie man sie erkennt und was man dagegen unternehmen kann. Das folgende Beispiel von Bartosch (2023) nimmt sich abstrakter der Thematik „Tod und Auslöschung“ aus einer globalen Perspektive an. Hier spielen auch Nachhal‐ tigkeitsaspekte eine gewisse Rolle (Artensterben, Klimawandel), zugrunde liegen im Wesentlichen literarische Werke, die mit der Auslöschungsthematik inhaltlich spielen. Gewalt und Tod: Tod und Auslöschung anhand von Literatur thematisieren • Jahrgangsstufe: Sekundarstufe I und Oberstufe • Ziel: Lernende diskutieren die Bedeutung von Tod oder Auslöschung auf der Grundlage von Literatur. • Inputmaterial: Altersangemessene Literatur (Beispiele für Oberstufe in Bartosch 2023) • Vorgehen und erwarteter Output: Die Lernenden erwerben Wissen über die Relevanz von Artenverlust und dessen Auswirkungen auf das menschli‐ che Leben auf der Erde. Sie diskutieren die zuweilen tabuisierte Möglichkeit des Aussterbens des Homo sapiens und werden durch die literarischen Beispiele zur emotionalen Auseinandersetzung mit dem Thema befähigt. • Sprachdidaktischer Fokus: Lese-/ Schreibkompetenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Bartosch (2023) Diskussionen in einem kritischen Fremdsprachenunterricht der Oberstufe können über den konkreten Gegenstand der Thematisierung mit der teils unausweichlichen Auslöschung durch den menschengemachten Klimawandel hinausgehen und morali‐ sche Fragen adressieren, wie z.B.: Ist das Aussterben unserer Spezies nur gerecht in Anbetracht dessen, was der Mensch der Erde angetan hat? Wie müsste eine alternative und in Einklang mit anderen Spezies konstruierte Welt aussehen? Literarische Vorlagen, Charaktere und Protagonist: innen erlauben eine distanzier‐ tere Auseinandersetzung mit komplexeren Themen und Herausforderungen, die man - im besten Fall und je nach Qualität der Lektüre - durch die Perspektive der Handelnden erfährt. Diese Perspektivenübernahme ist dabei natürlich nur der erste Schritt, denn auch er ist getrübt von der Erzählperspektive und der Struktur der Geschichte. Das Verstehen der Motive von Protagonist: innen (oder Antagonist: innen) ist etwas, das kollektiv im Unterricht geschehen kann. Die (Nicht-)Identifikation ist jedoch etwas sehr Persönliches, das auf der Ebene von Learner Identity passiert und als solches 5.4 Im Fremdsprachenunterricht über Gewalt und Tod sprechen 193 <?page no="195"?> ernst genommen und reflektiert werden muss. Und gerade vor dem Hintergrund von tabuisierten, emotional hoch aufgeladenen Themen wie Gewalt und Tod ist je nach vorhandenem Erfahrungsraum der Lernenden besonderes Fingerspitzengefühl gefragt. Beispielsweise muss ernsthaft abgeschätzt werden, ob innerhalb des Themenfeldes von Gewalt und Tod ein Phänomen wie Suizid überhaupt für Heranwachsende und Jugendliche zum Gegenstand gemacht werden sollte, wenn diese im Prozess ihrer Identitätsfindung stecken. Der sogenannte „Werther-Effekt“ (vgl. Ziegler/ Hegerl 2002) beschreibt das Phänomen, dass es z.B. in der Folge von Medienberichten über Suizide einen Anstieg derselben innerhalb der Bevölkerung geben kann, d.h. die Präsentation allein kann eventuell psychisch instabilen Personen eine Option aufzeigen, im nega‐ tiven Sinne identitätsstiftend wirken und zum Nachahmen verleiten. Fernsehserien werden daher mittlerweile mit entsprechenden Warnhinweisen versehen und nennen Hotlines von möglichen Ansprechpersonen - entsprechende Verfahren sind auch für den Fremdsprachenunterricht, der solche Themen nutzen möchte, daher nicht irrelevant. 5.5 LGBTQIA+ und sexuelle Identität im Fremdsprachenunterricht thematisieren Im Zusammenhang mit dem Thema Gender Awareness (siehe Kapitel 5.1) wird in der Regel auch das Bewusstsein für sexuelle Identität insgesamt verhandelt und bezieht dabei schwule, lesbische, transsexuelle/ transgender, queere, intersexuelle, asexuelle, pansexuelle und weitere Identitäten mit ein. Als Thema ist es curricular verankert und muss daher zum Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts werden (vgl. Merse 2017). Die Fülle an Unterrichtsmaterialien und popkulturellen Gegenständen (Literatur, Filme, Serien) zu diesem Themenfeld ist groß und unterstützt damit das Themati‐ sieren im Fremdsprachenunterricht sehr. In der Fremdsprachendidaktik insgesamt gibt es zahlreiche theoretisch-konzeptionelle, empirische sowie unterrichtspraktische Beispiele, die LGBTQIA+ in den Fokus rücken (vgl. z.B. Merse 2017, König 2018, Merse 2020). Merse (2020) beispielsweise schlägt einen Dreischritt vor mit einer Sichtbarmachung von LGBTQIA+-Identitäten, einer kritischen Auseinandersetzung mit Heteronormativität und dem Einüben sprachlicher Aushandlungspraktiken zum Thema von sexueller und geschlechtlicher Identität. Dies kann im Sinne einer För‐ derung der Befähigung zum Sprechen über die Thematik gesehen werden, also als Förderung von Diskursfähigkeit (siehe Kapitel 3.3). Als potentiell sensibles Thema liegen auch hier zahlreiche Unterrichtsbeispiele vor, die sich literarische Vorlagen zunutze machen, um sexuelle Identität(en) zu reflektieren. Dies kann bereits mit sehr jungen Lernenden geschehen, wie im ersten Beispiel deutlich wird: 194 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="196"?> LGBTQIA+ und sexuelle Identität: Ein Bilderbuch über schwule Pinguineltern • Jahrgangsstufe: 3-5 (erste Lernjahre, junge Lernende) • Ziel: Lernende entwickeln ein Bewusstsein für LGBTQIA+ anhand des Bilderbuchs And Tango Makes Three von Justin Richardson & Peter Parnell (2005). • Inputmaterial: And Tango Makes Three (Richardson & Parnell 2005) - das Bilderbuch erzählt die wahre Geschichte eines schwulen Pinguinpärchens in einem New Yorker Zoo, das ein Küken adoptiert. • Vorgehen und erwarteter Output: Lernende formulieren auf Basis des Covers Erwartungen an das Bilderbuch und stellen im Verlauf des Betrach‐ tens Vermutungen zu den Bildern im Rahmen eines parallelen Storytellings an. • Sprachdidaktischer Fokus: Primär rezeptive Fertigkeiten (Hör-/ Sehver‐ stehen) • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch (Grundschule) • Quelle: (Selbst entwickeltes Beispiel) Interessanterweise wird im Bilderbuch nie explizit erwähnt, dass das Pinguinpärchen homosexuell ist. Es spielt aber auf wunderbare Weise mit (und kritisiert) Heteronor‐ mativität und den damit verbundenen Vorstellungen und kann daher überleiten zu Diskussionen in der Klasse über die Rolle von zwei (Pinguin-)Vätern, die ein (Pinguin-)Baby adoptieren. Ein pikantes Detail: In einigen Staaten bzw. Distrikten der USA darf das Buch nicht in der Schule eingesetzt werden. Auch das könnte auf einer Metaebene mit Lernenden diskutiert werden - zentral steht aber wohl der Plot der Geschichte, die Eindrücke der Lernenden dazu und möglicherweise analog verlaufende Geschichten, die die Lernenden selbst verfassen könnten. Reflexionsaufgabe Wie würden Sie damit umgehen, wenn ein Elternteil Ihrer Lernenden Sie aufgrund ausgewählter Themen im Bereich Gender Awareness, LGBTQIA+ und sexuelle Identität anspricht und Ihnen vorwirft, Sie würden sein: ihr Kind mit fragwürdigem Gedankengut indoktrinieren? Das zweite Beispiel, das wir hier präsentieren möchten, nutzt als Medium eine Fernsehserie, um in der Situation eines Outings einer Protagonistin als HIV-positiv Diskriminierung und Macht offenbar werden zu lassen. 5.5 LGBTQIA+ und sexuelle Identität im Fremdsprachenunterricht thematisieren 195 <?page no="197"?> LGBTQIA+ und sexuelle Identität: Geoutet werden als HIV-positiv und Queerfeindlichkeit • Jahrgangsstufe: Oberstufe (fortgeschrittene Lernjahre) • Ziel: Lernende erfahren anhand einer Szene aus der Serie Élite, wie Machtstrukturen und Unwissenheit zu Diskriminierungserfahrungen und Queerfeindlichkeit führen, wenn die Protagonistin vor Mitschüler: innen als HIV-positiv geoutet wird. • Inputmaterial: Szene aus Élite (Netflix) • Vorgehen und erwarteter Output: Durch die Analyse der Szene (Emoti‐ onen, Körpersprache und filmtechnischer Aufbau, aber auch rein fakteno‐ rientierter Gehalt) wird den Lernenden die Machtförmigkeit des Outings deutlich. Sie lernen im Anschluss mehr über HIV/ AIDS und verfassen im Modus des kreativen Schreibens alternative Textformen, die für den Kontext der Szene relevant sind. • Sprachdidaktischer Fokus: Hör-/ Sehverstehen, Schreibkompetenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Spanisch • Quelle: Reinhardt (2023) Die Szenenanalyse ist anspruchsvoll und doch lohnenswert, da sie zum Verstehen der Situation, in der sich die Protagonistin befindet, führt. Zwar sind in der Regel die Themen Diskriminierung oder Mobbing/ Bullying in früheren Jahrgangsstufen bereits Thema (wie auch HIV/ AIDS), hier wird die Thematik aber durch die filmische Darstellung in einer Art und Weise dramatisiert, dass sie in hohem Maße Empathie und kritisches Bewusstsein zu fördern vermag. Insgesamt sind Unterrichtsstunden oder -einheiten, die sich der Förderung eines Be‐ wusstseins für sexuelle und geschlechtliche Identitäten widmen, hochgradig relevant für Schüler: innen, da sie selbst in einem Findungsprozess ihrer eigenen (nicht nur sexuellen und geschlechtlichen) Identität sind, wenn sie die Schule besuchen. Damit geht man als Lehrperson automatisch gewisse Risiken ein: Manche Lernende tragen ihre Identität(en) möglicherweise deutlich nach außen, andere sind verschlossener oder unsicherer. Literarisches Lernen kann hier also einen differenzierenden Zugang ermöglichen, weil hierdurch ein fiktiver und dadurch sicherer Raum zur Aushandlung geschaffen wird. Sensibilität im Umgang mit geschlechtlicher und sexueller Identität ist in diesem Zusammenhang ein hohes Gut und muss auch aufgrund möglicherweise aus dem Elternhaus und darüber hinaus mitgebrachter queerfeindlicher Einstellungen frühzeitig angebahnt werden. Der vermeintlichen Bedrohung durch das oben vorge‐ stellte Bilderbuch, die offenbar in manchen Teilen der USA als solche gesehen wird, sollte im Sinne freiheitlich-demokratischer Werte mit Widerspruch begegnet werden. Der frühe Fremdsprachenunterricht kann hier wertvolle Vorarbeit leisten, auf die in späteren Jahrgangsstufen aufgebaut werden kann. 196 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="198"?> 5.6 Über soziale Klasse im Fremdsprachenunterricht ins Gespräch kommen Das Prinzip von Social Justice Education ist im deutschsprachigen Raum noch nicht weit verbreitet, obwohl gerade hierzulande Bildungserfolg in hohem Maße abhängig ist vom sozioökonomischen Hintergrund (also der sozialen Klasse; siehe Vorwort). Auch wenn die traditionelle Einordnung in drei soziale Klassen (Oberschicht/ Elite, Arbeiter: innenklasse, Unterschicht) in der Regel nicht mehr so dargestellt wird, zeigen sich dennoch sozioökonomische Effekte von Teilhabe an Gesellschaft und Bildung. In Lehrwerken des Fremdsprachenunterrichts wird soziale Klasse selten thematisiert (vgl. Alter et al. 2021) bzw. wenn Armut thematisiert wird, dann zuweilen sogar in rassifizierter Form (z.B. im Kontext von Lateinamerika oder Schwarzen in den USA; vgl. Bönkost 2020). Soziale Klasse ist ein hochgradig intersektionales Thema und kann selten isoliert betrachtet werden, d.h. es geht nicht immer nur um (ökonomisches) Kapital, sondern ganz häufig auch um Fragen von (Grund-)Bildung, Geschlecht sowie Migrationsgeschichte. Um Privilegien (und die mit sozialer Klasse verbundene Intersektionalität) deutlich zu machen, wird häufig als Methode der sogenannte „Privilege Walk“ vorgeschlagen, bei dem die Teilnehmenden in einer Aufstellung entlang von auf soziale Klasse bezogenen Fragen entweder vorrücken dürfen, wenn sie die Privilegien besitzen, oder einen Schritt zurücktreten müssen, wenn sie das Privileg nicht besitzen oder gar für eine Charakteristik ausgegrenzt werden. In einschlägigen Videoportalen kann man Videos hierzu ansehen. Sie zeigen, dass die Teilnehmenden offensichtlich sehr emotional auf diese Form der Visualisierung ihrer eigenen sozialen Realität reagieren. Das Unterrichtsbeispiel hier geht etwas anders vor: Soziale Klasse: Der „Privilege Walk“ zur Erfahrung von sozialer Ungleichheit • Jahrgangsstufe: 7/ 8 bis Oberstufe (mittlere Lernjahre) • Ziel: Lernende werden sich bewusst über „Ungleichheit als Ursache von Diskriminierung und Ausgrenzung“ (Dehler 2024: 9). • Inputmaterial: Rollenkarten • Vorgehen und erwarteter Output: Entlang der Idee des „Privilege Walk“ simulieren die Lernenden gesellschaftliche Privilegien entlang der sozialen Rollen und Zuschreibungen, die ihnen anhand von Rollenkarten zugewiesen werden. Im Anschluss reflektieren sie die Erfahrung kritisch und setzen sich mit sozialer Ungleichheit und ihren Effekten auseinander. • Sprachdidaktischer Fokus: Sprachbewusstheit, Lese- und Sprechkompe‐ tenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Spanisch • Quelle: Dehler (2024) 5.6 Über soziale Klasse im Fremdsprachenunterricht ins Gespräch kommen 197 <?page no="199"?> Auch der „Privilege Walk“ aus dem obigen Beispiel ist nicht unproblematisch: Zwar sind es (entgegen der ursprünglichen Idee) nicht die eigenen Werte, Hintergründe und Überzeugungen der Lernenden, die dargestellt werden, dennoch vermag das Vorgehen Stereotype zu reproduzieren, die im Unterricht gemeinsam dekonstruiert und reflektiert werden müssen. Eine weitere Alternative könnte sein, keine mit sozialen Kategorien verbundene Fragen zu stellen („Wer mag Vanilleeis? “, „Wer hat Geschwis‐ ter? “, „Wer ist größer als 1,65m? “ …) - auch hieraus ergeben sich Positionierungen im Klassenzimmer. Sobald diese feststehen, kann immer noch diskutiert werden, was wäre, wenn Fragen nach Migrationshintergrund, Taschengeld, Diskriminierungserfah‐ rungen und ähnliche gefallen wären. Reflexionsaufgabe Gehen Sie in einer Klasse, die sozioökonomisch schlechter bzw. besser gestellt ist, unterschiedlich mit dem Thema „soziale Klasse“ um? Warum, warum nicht? Selbst wenn Sie festgelegt sind auf eine Antwort, können Sie Argumente für die andere Perspektive finden? Wie oben angedeutet, überschneidet sich die Kategorie soziale Klasse mit zahlreichen anderen. Literarische oder popkulturelle Gegenstände eignen sich daher ebenfalls, um diese Intersektionalität deutlich zu machen: Soziale Klasse: Intersektionale Analyse der Fernsehserie Dickinson • Jahrgangsstufe: 9 bis Oberstufe (fortgeschrittene Lernjahre) • Ziel: Lernende entwickeln ein Bewusstsein für die unter popkulturellen Bedingungen der Gegenwart problematische Darstellung der historischen Figur Emily Dickinson in der Apple TV+-Serie vor dem Hintergrund von White Feminism, sozialer Klasse, Rassismus, Sexismus und der daraus resul‐ tierenden Intersektionalität. • Inputmaterial: Szenen aus der Serie Dickinson (Apple TV+) • Vorgehen und erwarteter Output: Lernende erfahren zunächst mehr über den historischen Kontext, in dem Emily Dickinson groß geworden ist, sowie das Konstrukt des White Feminism. Mit dieser Brille widmen sie sich Szenen aus Dickinson, aus denen deutlich hervorgeht, dass die als Rebellin dargestellte Protagonistin aus einer privilegierten Position agiert. Dabei werden relevante Themen der Zeit wie Sklaverei, kapitalistische Ausbeu‐ tung, Rassismus und Sexismus ausgeblendet. Lernende sollen ein Bewusst‐ sein dafür entwickeln, welche Leerstellen in dieser ansonsten zeitgemäß ansprechenden Verfilmung in Kauf genommen werden, aber ein deutlich verfälschtes Bild der historischen Person und ihrer Umgebung zeichnen. Als Endprodukt einer komplexen Lernaufgabe erstellen die Lernenden einen 198 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="200"?> kleinen Schaukasten (Diorama) und transformieren so eine Szene aus der Serie, um die (bis dahin fehlende) Darstellung von Intersektionalität zu ermöglichen. • Sprachdidaktischer Fokus: Hör-Sehverstehen, Lesekompetenz • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Güllü et al. (i.V.) Zentral in der vorgestellten Unterrichtsidee - und einer kritisch-fremdsprachendidak‐ tischen Betrachtung von Texten - sind die Fragen: Wer spricht - und wer nicht? Wer ist repräsentiert (und wie) - wer nicht (und warum nicht)? Die zunächst aufgrund der filmästhetischen Präsentation der Serie anspruchsvolle Ästhetik, die Dramaturgie, Musik und die popkulturellen Referenzen zur Gegenwart sind Faktoren, die die Zuschauenden durchaus in Bann ziehen können. Die Unterrichtsidee möchte für die Lernenden allerdings eine Gelegenheit schaffen, Abstand vom Medium zu nehmen und sich nicht rein aufgrund der Ästhetik einfangen zu lassen, wenn doch offensichtlich die (Nicht-)Darstellung ein Problem an sich ist. Die Lehrperson ist daher gefragt, das Stel‐ len von kritischen Fragen anzuleiten und den Blick dafür zu schärfen, welche Themen des historischen Kontexts ausgeblendet oder nur oberflächlich angerissen werden. Dies kann am Ende (neben einer transformierten/ alternativen Szenendarstellung in Form eines Dioramas) auch dazu führen, über Mechaniken der (US-amerikanischen) Filmin‐ dustrie und ästhetische Praktiken des modernen Films im Zeitalter von Streaming etc. zu sprechen. 5.7 Schönheits- und Körpernormen im Fremdsprachenunterricht bewusst machen Heranwachsende sind nicht nur durch Filme, Serien und Werbung, sondern insbeson‐ dere durch soziale Medien ständig mit Schönheits- und Körperidealen und den damit verbundenen Normen konfrontiert, die sich bewusst und unbewusst einschreiben und zu negativen psychosozialen Effekten führen (können). Zur Identitätsbildung im Kindes- und Jugendalter gehören das Sich-Positionieren über Äußeres (auch im Vergleich mit anderen) bzw. das Sich-Finden (und Wohlfühlen) im eigenen Körper. Im Idealfall basiert dies auf einem gesunden Selbstverständnis und Selbstbild, kann aber auch über die angesprochenen Ideale und Normen zu individuell wahrnehmbarem Druck führen. Daher scheint es angezeigt, Schönheits- und Körpernormen und ihre Konstruiertheit im kritischen Fremdsprachenunterricht zu dekonstruieren und zu hinterfragen. Dies gelingt dem Unterrichtsbeispiel von König (2020) sehr zielorientiert: 5.7 Schönheits- und Körpernormen im Fremdsprachenunterricht bewusst machen 199 <?page no="201"?> Schönheits- & Körpernormen: Empathiefähigkeit und soziales Handeln för‐ dern • Jahrgangsstufe: 8-10 (fortgeschrittenere Lernjahre) • Ziel: Lernende analysieren und reflektieren die Wirkmacht von Schönheits‐ normen anhand ihrer historischen Entwicklung, bauen Empathie für die Auswirkungen dieser Normen auf Individuen auf (z.B. mittels literarischer Beispiele) und werden ermächtigt, dieses Wissen und diese Empathiefähig‐ keit zum kritischen Aushandeln von Körpernormen auch in ihren (sozial-me‐ dialen) Alltag zu integrieren. • Inputmaterial: Z.B. Kinder- und Jugendliteratur, die Schönheits- und Kör‐ pernormen thematisieren (König 2020: 140) • Vorgehen und erwarteter Output: König (2020) untergliedert ihr Vorge‐ hen in vier Phasen: Name, Reflect, Empathize und Act, welche den oben angesprochenen Zielen entsprechen. • Sprachdidaktischer Fokus: Lesekompetenz, entsprechende sprachliche Mittel zu Schönheits- und Körpernormen • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: König (2020) Ein Bewusstsein zu schaffen für körperliche Darstellungen oder Ideen von Schönheit lässt sich schon mit jüngeren Lernenden umsetzen, insbesondere mit Darstellungen, mit denen sie schon durch Werbung oder Beiträge in sozialen Medien konfrontiert werden (sofern die Nutzung dieser sozialen Medien den Schüler: innen in dem Alter überhaupt schon erlaubt ist). Das in Kapitel 4.3 vorgestellte Modell zur Förderung von Critical Literacy eignet sich für die Bewusstmachung, Dekonstruktion und Trans‐ formation von Schönheitsnormen. Mit alternativen Produkten zeigen die Lernenden ihr gewachsenes Bewusstsein für die möglicherweise problematische Darstellung von Schönheit und Körperlichkeit. Dies könnte in die kreativ-kritische Bearbeitung von Körpernormen, insbesondere unter den Vorzeichen von Fat-Shaming bzw. der Idee von Anti-Fatness münden: Schönheits- & Körpernormen: Eine Idee für ein Musikvideo zum Thema Anti-Fatness entwickeln • Jahrgangsstufe: 9/ 10 und Oberstufe (fortgeschrittenere Lernjahre) • Ziel: Lernende entwickeln ein kritisches Bewusstsein für Anti-Fatness und Fat Shaming und übertragen dieses in ein Konzept für ein Musikvideo. • Inputmaterial: Song „My Skin“ der Sängerin Lizzo, Songtext, Hintergrund‐ material zum Schwerpunkt Anti-Fatness 200 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="202"?> • Vorgehen und erwarteter Output: Lernende erschließen den Inhalt des Songs „My Skin“ von Lizzo und analysieren ihn anschließend vor dem Hin‐ tergrund des Konstrukts Anti-Fatness sowie auch intersektional deutbaren Stereotypen von dick_fetten Menschen und Fat Shaming. Die Lernenden entwickeln ein Konzept/ Storyboard für ein passendes Video zum Song und kontrastieren es mit dem Originalvideo. • Sprachdidaktischer Fokus: Lese- und Schreibkompetenz, filmdidak‐ tisch-methodische Mittel • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Langensiepen et al. (2022) Offensichtlich kann die Thematisierung von Anti-Fatness bzw. die Problematik von Fat Shaming, insbesondere wenn es in der Klasse mehrgewichtige Kinder gibt, problema‐ tisch verlaufen - auch wenn das Thema von einer normschlanken, also von Anti-Fatness nicht betroffenen Lehrkraft gesetzt wird. Dieses Thema durch die Konzeptentwicklung für ein Musikvideo daher gegenständlich (zumindest zunächst) zu verlagern, ist ein Vorteil des vorgestellten Vorgehens. Gleichzeitig bieten sich in sozialen Medien zahl‐ reiche Artefakte, Videos, Bilder, die im Unterricht zum Gegenstand gemacht werden könnten, die hinterfragt werden nicht nur im Hinblick auf die (meist unnatürliche) bildliche Zusammenstellung, sondern vor allem auch auf die dahinterliegenden (in der Regel ja kommerziellen) Interessen von Einzelpersonen als Influencer: innen oder (Groß-)Konzernen. 5.8 Verschwörungstheorien und Dystopien im Fremdsprachenunterricht dekonstruieren Nicht erst seit der Corona-Pandemie beeinflussen Verschwörungstheorien gesell‐ schaftliche Diskurse. Manchmal sind sie derart abstrus, dass sie schnell als Hirnge‐ spinste abgetan werden, teilweise werden sie aber auch derart sprachlich verschlüsselt, dass sie - besonders in politischen Diskursen - als Wahrheiten verpackt verargu‐ mentiert werden und dabei nicht selten antisemitische oder rassistische Ideologien bedienen. Verschwörungstheorien als Textform bieten damit ein großes Potential, um die Machtförmigkeit von Sprache zu untersuchen und zu analysieren, wie bestimmte Stilmittel, Wendungen, Formulierungen und Framings die Wahrnehmung eines Inhalts oder einer (politischen) Position beeinflussen können. In einem eigenen Projekt haben wir zuletzt an verschiedenen Stellen das Potential von Verschwörungstheorien für die Förderung von kritischer, digitaler Diskursfähigkeit beschrieben (Gerlach/ Schildhauer 2023, Weiser-Zurmühlen et al. 2023, Schildhauer et al. 2024). 5.8 Verschwörungstheorien und Dystopien im Fremdsprachenunterricht dekonstruieren 201 <?page no="203"?> Die erste Unterrichtsidee, die wir hier präsentieren, zielt genau darauf ab: Verschwörungstheorien und Dystopien: Sprache in Verschwörungstheorien dekonstruieren • Jahrgangsstufe: 9-10 (fortgeschrittenere Lernjahre) • Ziel: Lernende bauen ein kritisches Sprachbewusstsein hinsichtlich der manipulierenden Sprache auf, die in Videos zu Verschwörungstheorien genutzt wird. • Inputmaterial: Tiktok-Video zu Verschwörungstheorien, Hintergrundtexte zur Funktionsweise von Verschwörungserzählungen • Vorgehen und erwarteter Output: Anhand eines Infovideos erfahren Lernende, welche Charakteristika Verschwörungstheorien aufweisen und können dieses Wissen für die Analyse eines Tiktok-Videos nutzen, um so ein kurzes Video zu kreieren, das Verschwörungsnarrative entlarvt. • Sprachdidaktischer Fokus: (Kritische) Sprachbewusstheit, Hör-Seh-Ver‐ stehen • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Gerlach/ Schildhauer (2023) Sucht man auf einschlägigen Videoplattformen (übrigens unbedingt im Inkognito-Mo‐ dus des Internetbrowsers, um dem Algorithmus für das private/ persönliche Profil zu entgehen) nach Verschwörungstheorien, finden sich zahlreiche Erzählungen (auch Dekonstruktionen der Erzählungen), die sich im Unterricht einsetzen lassen. Häufig werden, besonders von Stiftungen z.B. zur politischen Bildung, altersangemessene Informationsmaterialien angeboten, die sich im Unterricht einsetzen lassen (so z.B. auch von der Bundeszentrale für politische Bildung). Das Unterrichtsbeispiel oben kontrastiert ganz bewusst Informationsmaterial einer öffentlich-rechtlichen Quelle (der Deutschen Welle) mit einem Tiktok-Video, analysiert die Versprachlichung der Verschwörung und leitet die Lernenden dazu an, ein kritisches Bewusstsein für die Sprache von Verschwörungstheorien zu entwickeln. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Lernende Verschwörungstheorien über das Internet, soziale Medien, das Elternhaus oder Peers ausgesetzt sind. Die Betrachtung von Verschwörungstheorien muss damit über das reine Überprüfen von Fakten hinausgehen, da das Phänomen eine soziale bzw. emotionale Komponente enthält, die logisches Argumentieren auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Regel außen vor lässt. Das Aushandeln von Verschwörungstheorien im Unterricht darf daher auch nicht rein den Lernenden überlassen werden - ein Umstand, den wir in einem Forschungsprojekt selbst untersucht haben (vgl. Weiser-Zurmühlen et al. 2023): Lehrpersonen berufen sich hier nicht selten auf ihr Neutralitätsgebot als Beamt: innen, was in Kapitel 4.4 schon als höchst problematisch diskutiert wurde. 202 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="204"?> Sobald sich Verschwörungstheorien als demokratiefeindlich entpuppen, muss dies im Unterrichtsdiskurs deutlich herausgestellt und entsprechend inhaltlich faktenbasiert unterfüttert werden. Das literarische Genre der Dystopien ist nicht nur im Allgemeinen beliebt, sondern auch im Fremdsprachenunterricht. Häufig ist es dort im Oberstufenunterricht sogar zentral curricular verankert, zahlreiche Dystopien (z.B. in Form von Kurzgeschichten oder Filmadaptionen) lassen sich aber ebenso bereits mit jüngeren Lernenden betrach‐ ten und diskutieren. Auch sie haben in der Regel eine politische Dimension, da sie die gesellschaftskritische Version der Zukunft aufzeigen und den Rezipierenden der Gegenwart Warnzeichen vermitteln möchten. Neben Klassikern wie 1984, Fahrenheit 451 oder den Hunger Games spielen zunehmend Stoffe eine Rolle, die Nachhaltigkeits‐ themen berühren (z.B. Cli-Fi/ Climate Fiction, vgl. Matz 2020). Das Unterrichtsbeispiel, das wir im Folgenden ausgewählt haben, ist ungleich brisanter in der Thematik: Verschwörungstheorien und Dystopien: Sollte ein dystopisches Theater‐ stück aufgeführt werden, das Kindesmissbrauch verherrlicht? • Jahrgangsstufe: Oberstufe (fortgeschrittenere Lernjahre) • Ziel: Die Lernenden setzen sich mit dem dystopischen Theaterstück The Nether (Haley 2014) auseinander, in dem eine Zukunftsvision gezeichnet wird, in der Kindesmissbrauch in einer virtuellen Welt geduldet wird. Sie entwickeln eine gesellschaftskritische Perspektive auf das Stück und diskutieren, ob und in welcher Form das Stück (überhaupt) in der Gegenwart aufgeführt werden sollte. • Inputmaterial: Textauszüge und Videos aus dem Theaterstück, Rollenkar‐ ten • Vorgehen und erwarteter Output: Die Lernenden erfahren zunächst mehr zum Inhalt des Stückes, bevor sie anhand von verteilten Rollen erarbeiten, wie das Stück auf einer Bühne umgesetzt werden könnte. Hieran schließt sich als Zielaufgabe an, eine generelle Debatte über die Umsetzung des Stückes in der Umgebung der Lernenden (Schule, Stadt) zu führen. • Sprachdidaktischer Fokus: (Kritische) Sprachbewusstheit, Hör-Seh-Ver‐ stehen, Diskussionen • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Bauer et al. (2022) Der zentrale Konflikt des Stückes, die Duldung von Kindesmissbrauch in einem virtuellen Raum, bedarf zunächst einmal inhaltlicher Aufarbeitung. Das alleine wäre schon aufgrund der aufgeladenen, sicherlich zuweilen gesellschaftlich tabuisierten Thematik als kritisch-fremdsprachendidaktisch einzustufen (und macht es übrigens 5.8 Verschwörungstheorien und Dystopien im Fremdsprachenunterricht dekonstruieren 203 <?page no="205"?> auch nötig, hier mit einer Trigger-Warnung zu arbeiten, siehe Beispiel in Kapitel 4.5.2). Die Unterrichtseinheit verlässt diese inhaltliche Ebene aber noch, um auf einer Metaebene diskutieren zu lassen, ob ein Theaterstück, das diese Thematik des Kindesmissbrauchs offen adressiert, eine gesellschaftliche Relevanz hat und potentiell vor Ort aufgeführt werden sollte (oder eben nicht). Das moralische Dilemma, das sich hier auftut zwischen dem Thematisieren eines tabuisierten Themas und der damit einhergehenden, potentiellen Provokation, soll damit verhandelt werden. Es können sich daran generelle Diskussionen anschließen über die Relevanz unbequemer Themen und die öffentliche Auseinandersetzung mit ihnen. Reflexionsaufgabe Was wäre für Sie als Fremdsprachenlehrkraft ein unbequemes Thema, über das Sie in Ihrem Fremdsprachenunterricht ungern sprechen würden? Warum? Welche Gründe sprechen dafür, es trotzdem zu thematisieren? Welche Gründe sprechen dagegen? 5.9 Über mentale Gesundheit sprechen Über mentale Gesundheit wurde gesamtgesellschaftlich lange nicht gesprochen, da‐ durch auch kaum in der Schule. Erst in den vergangenen Jahren hat das Thema an Bedeutung gewonnen und wurde zuletzt für die Fremdsprachendidaktik fokussiert (vgl. Ludwig et al. 2024). Dabei mag man zurecht anmerken, dass es sehr wohl zum Grundlagenwortschatz gehört, über Gefühle zu sprechen. Ja - aber das reicht offensichtlich nicht, wie das folgende Unterrichtsbeispiel eindrücklich schildert: Mentale Gesundheit: Sprechen über Emotionen auf Basis von Liedern • Jahrgangsstufe: Alle Lernjahre (abhängig vom gewählten Song bzw. dem zu erstellenden Endprodukt) • Ziel: Schüler: innen lernen, wie Emotionen in der Fremdsprache differenziert ausgedrückt werden können, um damit bewusster auch ihren emotionalen Zustand ausdrücken zu können (z.B. anhand von Liedtexten, die sie in dem vorliegenden Beispiel auch selbst erstellen). • Inputmaterial: Lieder und Songtexte, ggf. Musikvideos, Wortfelder zum Themenschwerpunkt • Vorgehen und erwarteter Output: Lernenden wird bewusst gemacht, dass Aussagen wie „I feel good“ oder „I feel bad“ keine Gefühle ausdrücken, sondern Zustände (vgl. Summer/ Werner 2024: 97) und entwickeln darauf basierend ein besseres Verständnis für Emotionen. Sie wenden dieses erwei‐ terte Verständnis auf Liedtexte an, erkennen Emotionen dort und verknüpfen sie mit eigenen emotionalen Reaktionen, die im Zusammenhang mit der 204 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="206"?> Beschreibung mentaler Gesundheit verstanden werden können. In eigenen Songtexten bzw. Liedzeilen drücken sie diese Emotionen aus. • Sprachdidaktischer Fokus: Sprech- und Schreibkompetenz, Hörverstehen • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Summer/ Werner (2024) Emotionen und Emotionalität gehören ganz selbstverständlich zum Unterricht dazu und bestimmen zentral das Verhältnis zwischen Lehrperson und Schüler: innen. Im Zusammenhang mit einem kontextsensiblen Fremdsprachenunterricht (siehe Kapitel 2.2.2) haben wir herausgestellt, dass der Fremdsprachenunterricht, wenn wir ihn als kulturelle Praxis verstehen, sich durch die Interaktionen zwischen allen Beteiligten immer wieder neu herstellt. Das bringt Emotionen hervor: Freude, Stress, Neugier, Angst … Nur werden diese Emotionen selbst selten versprachlicht und damit zum Gegenstand gemacht. Eine solche Metareflexion über Unterricht kann das Interakti‐ onsverhalten im Unterricht nachhaltig (positiv) prägen, setzt gleichzeitig aber natürlich Offenheit und Zugewandtheit voraus. Mentale Gesundheit: Ein Videospiel als Text, um über mentale Gesundheit zu sprechen • Jahrgangsstufe: Oberstufe • Ziel: Die Lernenden erfahren durch die Beschäftigung mit dem als Text zu rezipierenden Videospiel Hellblade, wie Personen mit Psychosen umgehen. • Inputmaterial: Let’s Plays von Hellblade: Senua’s Sacrifice, Interviews mit den Spieleentwickler: innen • Vorgehen und erwarteter Output: Nachdem Lernende das Spiel kennen‐ gelernt haben (durch selbständiges Spielen bzw. Let’s Plays), analysieren sie Plot und Spielmechaniken und erarbeiten, wie mentale Gesundheit anhand der Protagonistin dargestellt wird. Die Psychosen, unter denen diese leidet, werden im Spiel auf unterschiedliche Weise dargestellt und erlauben damit ein Hineinversetzen in die Auswirkungen von Wahnvorstellungen bzw. Realitätsverlust. Die Erfahrungen der Lernenden mit der Darstellung im Spiel werden um Einblicke in den Spieldesignprozess erweitert, für den Interviews mit den Spieleentwickler: innen zur Verfügung stehen. Die Erfahrungen und Eindrücke werden in einem kollaborativen Blog gesammelt. • Sprachdidaktischer Fokus: Sprech- und Schreibkompetenz, Hör-Sehver‐ stehen • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: Zehne (2024) 5.9 Über mentale Gesundheit sprechen 205 <?page no="207"?> Zehne (2024) argumentiert in ihrem Beitrag, aus dem die obige Unterrichtsidee stammt, dafür, Videospiele als Texte und damit mögliche Materialien im Fremdsprachenunter‐ richt zu betrachten, da sie ohnehin in der Fremdsprache ausgehandelt werden (siehe auch das Textverständnis im Sinne von Critical Literacy in Kapitel 3.1). Die Multimo‐ dalität der Präsentation führt vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit Psychosen als (eine mögliche) Facette von mentaler Gesundheit dazu, dass Spielende in eine Si‐ mulation psychotischer Zustände hineinversetzt werden. Die Auseinandersetzung mit der Thematik muss gleichwohl sensibel vorbereitet und durchgeführt werden: Zehne (2024) empfiehlt, mit einer Trigger-Warnung in die Einheit einzusteigen. Gleichzeitig finden sich in zahlreichen Videospielen häufig stereotype Darstellungen von psychi‐ schen Störungen, die selten Gelegenheit bieten, produktiv und vor allem diskursoffen dazu ein Gespräch zu gestalten. Daher helfen die Hintergrundinformationen in dieser Unterrichtseinheit, die z.B. auch Interviews mit den Spieledesigner: innen einbeziehen, um eine kritische Distanz zum Text aufzubauen und den Entstehungsprozess kontex‐ tuell zu verstehen. Reflexionsaufgabe Wie gehen Sie als nicht fachlich geschulte Person damit um, wenn Lernende in der Auseinandersetzung mit einem Thema aus dem Feld mentaler Gesundheit bemerken, dass sie unter einer bestimmten Symptomatik leiden? 5.10 Machtstrukturen im Fremdsprachenunterricht selbst thematisieren Die gerade in Kapitel 5.9 besprochene Thematisierung von Emotionen und die dafür nötige Offenheit aller am Unterricht Beteiligten wird an dieser Stelle noch einmal höchst relevant: Im abschließenden Kapitel zu den Unterrichtsbeispielen geht es uns um den Fremdsprachenunterricht selbst und die ihm inhärenten Machtstrukturen. Wir präsentieren hierzu zwei Beispiele: In dem einen wird die Rolle der Sprache selbst in den Fokus gerückt, das zweite Beispiel adressiert (sprachliche) Machtstrukturen, die zwischen Lehrpersonen und Lernenden bestehen. Machtstrukturen im Fremdsprachenunterricht: Die Rolle der Sprache für die globale Gesellschaft reflektieren • Jahrgangsstufe: Sekundarstufe I bis Oberstufe (mittlere bis fortgeschrittene Lernjahre) • Ziel: Lernende entwickeln ein Bewusstsein für Varietäten der Sprache (in diesem Fall Englisch) und erleben, dass die Ausrichtung des Unterrichts an vermeintlichen Standardvarietäten wie des British oder American English nicht die Realität der Sprecher: innen weltweit abbildet. 206 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="208"?> • Inputmaterial: Authentische Materialien von Sprecher: innen anderer Va‐ rietäten, Hintergrundinformationen zu World Englishes bzw. Global Englishes • Vorgehen und erwarteter Output: Anhand von authentischen Materialien (z.B. Videos aus sozialen Medien mit Sprecher: innen anderer Varietäten als den Standards) erleben die Lernenden andere Varietäten und analysieren Besonderheiten der Varietäten im Vergleich mit bisher erlebten Standards. Sie erfahren, dass die Abweichungen von der (Native Speaker-)Norm für die Sprechenden identitätsstiftend ist und entwickeln neben ihrer Sprach‐ bewusstheit für die Varietäten auch gleichzeitig ein Bewusstsein für die angemessene, kontextbezogene Verwendung. • Sprachdidaktischer Fokus: Lese- und Schreibkompetenz, Sprechen, (kri‐ tische) Sprachbewusstheit • Ursprüngliche Fremdsprache: Englisch • Quelle: König et al. (2023) Mit dem Ziel des Fremdsprachenunterrichts, die Diskursfähigkeit von Lernenden so zu fördern, dass sie in die Lage versetzt werden, nicht nur an lokalen, sondern vor allem an globalen Diskursen teilzuhaben (z.B. auch per sozialer Medien), muss hinterfragt werden, welche Rolle beispielsweise das Englische hier spielt. Ganz selbstverständlich gilt es als Lingua Franca, dennoch scheint das Festhalten an Standardvarietäten veraltet, vor allem, weil Lernende vermutlich mehreren anderen Varietäten des Englischen über soziale und traditionelle Medien (auch Serien und Filme) ausgesetzt sind. Auch das Spanische ist in diesem Zusammenhang höchst relevant als eine der Sprachen mit den meisten L1-Sprecher: innen weltweit (vgl. Suhr 2021). Und auch hier gibt es Ähnlichkeiten zum Englischen: Viele Varietäten des Spanischen existieren, aber seit langer Zeit und teilweise noch heute, wird das spanische Spanisch als (zu lernende) Standardvariante im Schulunterricht in Deutschland angesehen, obwohl durch zahl‐ reiche andere Texte und Textformen (wie Serien und Filme sowie soziale Medien) Lernende viel häufiger mit anderen Varietäten in Berührung kommen. Damit lässt sich ebenfalls die Frage von Akzenten und einer Native Speaker-Ori‐ entierung kritisch beleuchten - auch vor dem Hintergrund der Idee von kommuni‐ kativer Kompetenz, wie sie Piepho (1974) verfolgt hat. Was in fortgeschritteneren Jahrgangsstufen elementarer Bestandteil einer globalen Perspektive auf Sprache und Sprachverwendung sein sollte, ist eine historische Betrachtung der Sprachen im Zusammenhang mit Kolonialismus und Ausbeutung - und hier gehören nicht nur das Englische, sondern auch das Deutsche, Französische und Spanische als die insgesamt vier bedeutendsten (europäischen) Fremdsprachen dazu, die innerhalb des deutschen Schulsystems unterrichtet werden. Ausgehend von der Idee, dass man über Macht und Missbrauch von Sprache in einer globalen Perspektive gesprochen hat, muss man auch über den Gebrauch von Sprache(n) ganz lokal im eigenen Klassenzimmer reden: 5.10 Machtstrukturen im Fremdsprachenunterricht selbst thematisieren 207 <?page no="209"?> Machtstrukturen im Fremdsprachenunterricht: Die Rolle der Sprache für den Unterricht reflektieren • Jahrgangsstufe: Sekundarstufe I bis Oberstufe (mittlere bis fortgeschrittene Lernjahre) • Ziel: Lernende erleben den Einsatz der Sprachen im Fremdsprachenunter‐ richt und reflektieren über Partizipationsmöglichkeiten durch Sprache in ihrem Unterricht. • Inputmaterial: Erfahrungen und Beobachtungen der Lernenden, ggf. Hin‐ tergrundinformationen zur Machtförmigkeit von Sprache • Vorgehen und erwarteter Output: Durch protokollartiges Beobachten (oder Aufzeichnen von vorherigen Lehrperson-Schüler: innen-Interaktionen) erleben die Lernenden, wer sich wann und wie im Unterricht beteiligt und welche Sprache dabei zu welchem Zweck genutzt wird. Werden Nach‐ fragen zu Arbeitsaufträgen grundsätzlich auf Deutsch gestellt? Wie geht die Lehrperson mit Sprachwechseln um? Bezieht die Lehrperson andere lebensweltliche Sprachen produktiv in den Unterricht mit ein? Gemeinsam legen alle am Unterricht Beteiligten die Rolle(n) der Sprache(n) offen und erarbeiten gemeinsam Wünsche, wie und an welchen Stellen Sprache(n) und die vorhandene Sprachenvielfalt berücksichtigt werden können. • Sprachdidaktischer Fokus: Sprechen, (kritische) Sprachbewusstheit • Ursprüngliche Fremdsprache: - • Quelle: (selbst entwickeltes Beispiel) Partizipieren im eigenen Fremdsprachenunterricht wirklich alle - oder nur diejeni‐ gen, die ohnehin bereits eine überdurchschnittliche Sprachkompetenz aufweisen? Reduziere ich Sprechende anderer Sprachen als des Deutschen auf Übersetzungsleis‐ tungen à la „Und was heißt das in ‚deiner‘ Sprache? “ oder binde ich sie mit einem echten Interesse für sprachliche (und kulturelle) Phänomene ein? Wie gehe ich mit meiner Lehrer: innensprache um, d.h. ist sie inklusiv, differenziert sie, vollziehe ich nötige Sprachwechsel, um alle Lernenden auch kognitiv mitzunehmen? Oder bin ich weiterhin der Überzeugung, dass guter Fremdsprachenunterricht von Beginn an und durchgängig bis zum Abitur ausschließlich in der Fremdsprache zu funktionieren hat und damit einen exkludierenden Charakter einnimmt? Fragen wie diese offenzulegen und auch gemeinsam mit Lernenden auszuhandeln, wäre Teil dieser Unterrichtsidee. Sie stellt unbequeme Fragen, ist aber auch von einer Offenheit geprägt, die - wie wir selbst erleben durften - auf einer persönlichen Ebene mit Lernenden ein hohes Maß an Verbindlichkeit und Motivation fördert - und damit letztlich auch guten Fremdsprachenunterricht. 208 5 Unterrichtsbeispiele und Reflexionsanlässe <?page no="210"?> 5.11 Zusammenfassende Betrachtung der Unterrichtsbeispiele Die Beispiele in den letzten zehn Unterkapiteln sollten Ihnen zum einen dazu dienen, Einblicke zu bekommen, welche Bandbreite an Themen in einem kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht möglich ist - und natürlich kann dies an keiner Stelle vollkommen erschöpfend dargestellt werden. Zum anderen sollten die Beispiele Refle‐ xionsmomente sein, um herauszustellen, an welchen Stellen die Themenstellungen möglicherweise krisenhafte Momente im Unterricht induzieren und Sie als Lehrperson gefragt sind, mit diesen umzugehen, sowie Lernende zu unterstützen bzw. zu entlasten. Bei besonders sensiblen Themen wie Gewalt, Tod oder solchen, die Lernende unmittel‐ bar betreffen, kann es sinnvoll sein, mit Trigger-Warnungen zu arbeiten. Wie in Kapitel 3 bereits dargestellt, kann das Verhandeln der Themen in der Fremdsprache zwar auch einen sicheren Raum (Safe Space) erschaffen. Wenn Lernenden aber die sprachlichen Mittel fehlen, um Gefühle oder bestimmte Werte auszudrücken und dies im Moment der Aushandlung nicht durch die Lehrperson sprachlich entlastet werden kann, müssen selbstverständlich Gelegenheiten geschaffen werden, um den besonderen Punkt in dem Moment in der Schulsprache (in der Regel wahrscheinlich Deutsch) zu besprechen. Für die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen ist das Vermitteln (seitens der Lehrperson) und das Erlernen (seitens der Lernenden) von jeweils domänenspezi‐ fischem Wissen nötig. Ohne ein solches Wissen ist es nicht möglich, sich kritisch mit einer Thematik auseinanderzusetzen (vgl. Willingham 2007). Damit einher geht die Thematisierung und Kontextualisierung der sprachlichen Mittel, die für die jeweiligen Aufgaben und Übungen nötig sind. Gleichwohl könnte man sagen: Alle Beispiele, die oben aufgeführt wurden, lassen sich auch vollkommen unkritisch unterrichten und gleichsam „runterrattern“, ohne dass sie bildende oder pädagogische Implikationen hätten. Wenn die Themen nur um ihrer selbst willen oder nur aus dem Grund gelehrt werden, weil z.B. Gender Awareness laut Lehrplan umzusetzen ist, hat dies noch nichts mit einem kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht zu tun. Ein solcher Zugang zweckentfremdet die Themen und instrumentalisiert sie. Lernende entwickeln dann wahrscheinlich kein kritisches Bewusstsein, welches transformatives Potenzial für die je individuelle Identität und das Umfeld haben kann. Denn dann sind die Themen reine Gegenstände, die von Lehrenden und Lernenden lediglich abgearbeitet werden. Daher ist Freire (1996, vgl. auch Gerlach 2020a) so wichtig, dass die Themen stärker von den Lernenden aus gesteuert und in den Unterricht eingebracht werden. Das ist in einem institutionalisierten System wie der Schule natürlich schwieriger, aber nicht unmöglich. Gleichzeitig können Themen, die wir als Lehrpersonen relevant finden, für einzelne Lernende einer Gruppe spannend sein, für andere wiederum nicht. Einige mögen sehr engagiert am Fremdsprachenunterricht teilnehmen, andere wiederum nicht. Auch das ist in Ordnung. Ein großes Potenzial eines kritisch orientie‐ rten Fremdsprachenunterrichts ist es gleichwohl, höchst motivierend für eine breite Schüler: innenschaft zu sein, da er - gemäß seiner Prinzipien - für sie relevante Gegenstände zum Thema macht. 5.11 Zusammenfassende Betrachtung der Unterrichtsbeispiele 209 <?page no="212"?> 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht Looking at the past must only be a means of understanding more clearly what and who they are so that they can more wisely build the future. Paulo Freire (1996: 84) In diesem Kapitel Dieses Kapitel verfolgt das Ziel, sich den eigenen Orientierungen und des eigenen Umgangs mit Normen im Fremdsprachenunterricht bewusst zu werden. Hierzu werden zum einen Typen von Fremdsprachenlehrpersonen anhand von Trans‐ kripten beschrieben und diskutiert. Zum anderen werden Handlungsspielräume ausgelotet, um mit unterrichtlichen Veränderungen, wie z.B. der Umsetzung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, umzugehen. Bevor Sie weiterlesen, beantworten Sie bitte die folgenden Reflexionsfragen: Reflexionsaufgabe • Denken Sie an eine konkrete und beispielhafte Unterrichtssituation in Ihrem Alltag (oder Ihrer Vergangenheit), in der Prüfungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Beschreiben Sie diese Situation für sich stichwortartig. • Denken Sie zurück an das Kapitel 2.4 zu Normen im Fremdsprachenunterricht. Welche Normen nehmen Sie aus der heutigen Perspektive in der beschriebenen Unterrichtssituation wahr? Schreiben Sie diese auf. • Inwiefern haben sich die wahrgenommenen Normen widersprochen? • Wie sind Sie mit Widersprüchen umgegangen? Haben Sie bestimmte Normen in Ihrer Praxis als relevanter wahrgenommen als andere? Wenn ja, warum? • Wenn Sie heute auf Ihren Umgang mit den Normen blicken: Würden Sie Ihren Umgang oder auch die Relevanzsetzung bestimmter Normen verändern? Wenn ja, warum? Seit über 20 Jahren nehmen rekonstruktive Arbeiten einen wichtigen Platz in der Fremdsprachenforschung ein, der zunehmend größer wird. Anders als im quantitati‐ ven Forschungsparadigma versuchen rekonstruktive Arbeiten soziale Strukturen zu verstehen, indem rekonstruiert wird, wie Akteur: innen in der Praxis handeln bzw. über ihr Handeln sprechen. Daher geht es weniger darum, was beispielsweise Lernende oder Lehrende über sich und ihr Handeln sagen, sondern vielmehr darum, wie sie <?page no="213"?> es beschreiben, erzählen oder darstellen (siehe weiterführend Gerlach 2022b). Die Grundannahme ist, dass durch die Analyse des „Wie“ des Gesagten implizites Wissen rekonstruierbar wird, dass wir also erfahren, wie das implizite Wissen unser Han‐ deln anleitet und steuert (siehe Kapitel 2.3.1). Rekonstruktiv Forschende interessiert damit also weniger das explizite und explizierbare, reflexive (Prüfungs-)Wissen, das nichtsdestotrotz natürlich für die Professionalisierung eine Rolle spielt: Sie möchten eher erfahren, wie z.B. Lehrpersonen über ihren Unterricht sprechen, wie Normen (unbewusst) Einfluss nehmen auf die Unterrichtsgestaltung, wie (unbewusst) über Lernende oder Themen gesprochen wird oder wie (unbewusst) curriculare Vorgaben (nicht) umgesetzt werden. Die Datenquellen für rekonstruktive Ansätze sind also häufig Interviews, d.h. (retrospektive) Erzählungen über das eigene Handeln, aber auch Unterrichtsbeobachtungen oder videographierte Unterrichtsstunden. Literaturempfehlung: Die notwendige Zumutung der Komplexität und welche Früchte sie trägt - Prinzipien, Gegenstände und ausgewählte Befunde Rekonstruk‐ tiver Fremdsprachenforschung (Bonnet 2020) Der Beitrag von Andreas Bonnet in der Zeitschrift für Rekonstruktive Fremd‐ sprachenforschung (www.rekonstruktive-fremdsprachenforschung.de/ zeitschrift) untersucht die Komplexität und Bedeutung der rekonstruktiven Fremdsprachen‐ forschung. Der Artikel erläutert methodologische Grundlagen von rekonstruktiver Forschung, den Beitrag dieses Forschungsansatzes zur Fremdsprachendidaktik, präsentiert exemplarische Studien und identifiziert zukünftige Forschungsfragen. Hauptthemen sind die methodische Vielfalt, die Bedeutung sozialer Praxis im Unterricht und die Integration qualitativer und quantitativer Ansätze. Sie fragen sich vielleicht, warum wir hier noch einmal über rekonstruktive Forschung schreiben und warum dies an einer Stelle wichtig wird, an der Sie schon viel zu Professionalisierung und zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik gelesen haben. Nun, wir würden ganz platt sagen: Sie sind jetzt so weit, dass wir Sie mit der Realität konfrontieren können! In den Kästen mit den „Stimmen von Lehrpersonen“ haben Sie nämlich schon vereinzelt Einblicke dazu bekommen, wie Lehrpersonen über ihre Unterrichtspraxis oder über Schüler: innen sprechen. In diesem Kapitel stellen wir das stärker gebündelt heraus und möchten Ihnen zeigen, wie Fremdsprachenlehrpersonen die Normen des Fremdsprachenunterrichts (siehe Kapitel 2.4) quasi unreflektiert übernehmen oder wie sie damit umgehen. Das soll in keiner Weise dazu führen, dass wir Lehrpersonen bloßstellen möchten (zumal alle Datenauszüge, die wir präsen‐ tieren, vollkommen anonymisiert bzw. pseudonymisiert sind). Wie wir weiter oben bereits gezeigt haben, handeln Lehrpersonen (bzw. allgemein Professionelle) gemäß internalisierter Praktiken und Orientierungen. Entlang dieser Praktiken übernehmen sie Normen oder gehen mit ihnen in einer gewissen Art und Weise um. Das ist der 212 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="214"?> Lehrer: innenhabitus (siehe Kapitel 2 und Kapitel 4.3), der auf implizitem Wissen basiert, dessen wir uns nur schwer bewusst werden können. Lehrpersonen per se kann man also für das Handeln gar keinen Vorwurf machen, sie agieren qua ihrer Natur. Warum die Ergebnisse aus der rekonstruktiven Forschung zu Lehrpersonen so spannend sind und warum wir sie hier nutzen wollen: Sie können als Reflexionsfolie für Ihre eigene Professionalisierung hin zu einer kritischen Fremdsprachenlehrkraft dienlich sein. So wie es Freire mit dem Eingangszitat zu diesem Kapitel für einen anderen Sachverhalt ausgedrückt hat, stimmt es aber so auch für uns: Nur wenn wir Vergangenheit, vergangene Unterrichtspraxis reflektieren und verstehen lernen, können wir darauf aufbauen und unsere eigene Praxis ändern und formen. Wenn Sie also erkennen und wissen, welche Normen z.B. in Ihrem eigenen Fremdsprachenun‐ terricht potentiell wirken, können Sie eine Language Teacher Identity (siehe Kapitel 4.3) entwickeln, die sich bewusst für oder gegen Normen einsetzt. Das heißt zwar noch nicht, dass Sie im Alltag keinen Zwängen ausgesetzt sind und widersprüchlich handeln (bzw. gegen die selbst gesetzten Ziele agieren). Unsere Idee ist, dass wir bei Ihnen ein kritisches Bewusstsein für die Normen wecken können und Sie im professionellen, kontinuierlichen Aushandeln mit diesen Normen eine kritische Fremdsprachenlehr‐ person werden (und bleiben). 6.1 Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung Wie gerade angedeutet, lag in den vergangenen zehn Jahren ein Fokus der rekonstruk‐ tiven Fremdsprachenforschung auf den Lehrpersonen und wie diese ihre Handlungsbzw. Unterrichtspraxis gestalten - insbesondere unter dem Zugzwang von Normen (siehe Kapitel 2.1.4 zum praxeologisch-wissenssoziologischen Ansatz). Genau deswe‐ gen interessieren uns die Forschungsergebnisse, wenn wir uns der Frage widmen möchten, was Lehrpersonen mit Normen im Fremdsprachenunterricht machen. Gut zu wissen: Wie funktioniert rekonstruktive Forschung zu Fremdsprachen‐ lehrpersonen? Rekonstruktive Forschung verfolgt das Ziel, sozialen Sinn zu rekonstruieren und zu verstehen, was tatsächlich in der Praxis passiert (vgl. Bonnet 2020). Hierzu werden in Bezug auf Schul- und Unterrichtskontexte häufig Interviews oder Gruppendiskussionen mit Lehrenden oder Lernenden, Unterrichtsvideographien oder Bildanalysen vorgenommen (vgl. Gerlach 2022a). Diese Daten (häufig als Transkripte anonymisiert und weiterverwendet) werden dann fallbezogen ana‐ lysiert und interpretiert: Eine der zentralen Grundannahmen ist, dass sich in eher erzählenden und beschreibenden Passagen in Interviews implizites Wissen zeigt, in eher bewertenden und reflektierenden Passagen explizites Wissen (siehe auch die Idee von „impliziter Reflexion“ in Kapitel 4.3). Der Habitus von Lehrpersonen 6.1 Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung 213 <?page no="215"?> lässt sich demnach über das implizite Wissen rekonstruieren, das explizite Wissen ist dennoch in den Daten vorhanden und zeigt sich nicht selten in einem Spannungsverhältnis zu dem, was Lehrpersonen „erzählen“. An dieser Stelle wird es für die rekonstruktive Forschung zu Fremdsprachenlehrpersonen spannend, denn hier zeigt sich in den Daten, wie Lehrpersonen trotz bestimmter Erwartun‐ gen (auch an sich selbst) unter Druck und im System Schule handeln. Das wäre über andere (z.B. quantitative) Forschungsverfahren nur schwer möglich. Über den Vergleich von Fällen, also indem betrachtet wird, wie unterschiedliche Lehr‐ personen mit z.B. ähnlichen Normen unterschiedlich umgehen, lassen sich Typen rekonstruieren. Die Typenbildung ist in qualitativ-rekonstruktiven Verfahren eine validierende Herangehensweise, da hier ein abstrahierender Vergleich mit anderen Fällen im Sample erfolgt. In rekonstruktiven Arbeiten finden sich häufig sehr ähnliche Typen von Lehrpersonen, die in der Summe eine höhere Generalisierbarkeit ermöglichen und daher auch uns hier im Folgenden die Möglichkeit geben, das „Typische“ am Handeln von Fremdsprachenlehrpersonen herauszuarbeiten. In den rekonstruktiven Arbeiten der vergangenen Jahre sind verschiedene Typenbil‐ dungen entstanden, die zentrale Typen von Fremdsprachenlehrpersonen abstrahieren und Einblicke geben, wie diese im Unterricht handeln und wodurch ihr Handeln maßgeblich beeinflusst wird. Wir orientieren uns hier schwerpunktmäßig an den weiter oben schon vorgestellten Arbeiten von • Wilken (2021), die zum Umgang von Englischlehrer: innen mit mehrsprachigen Lernenden geforscht hat, • Bonnet und Hericks (2020b), die Lehrpersonen begleiteten, die Formen kooperati‐ ven Lernens in ihren Englischunterricht integrieren, • Leonhardt (i.V.), die sich mit Englischlehrpersonen vor dem Hintergrund kulturel‐ ler und sprachlicher Heterogenität der Schüler: innenschaft beschäftigt, • Lüke (2024a), die den Umgang von Englischlehrer: innen mit den Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik rekonstruiert hat. Alle diese (und weitere rekonstruktiv angelegte Arbeiten, vgl. z.B. von Püster 2021 oder Tesch/ Grein 2023) eint, dass Lehrpersonen habituelle Muster oder Orientierungen offenbaren, nach denen sie handeln, die - bestimmt über das implizite Wissen, das in den Arbeiten rekonstruiert wird - in ein Spannungsverhältnis treten (können) mit Normen der Institution - oder eben nicht. Das bedeutet: Manche Fremdsprachen‐ lehrpersonen übernehmen durch ihr Handeln die Normen „einfach“. Da sie diese verinnerlicht haben, sind sie zu implizitem Wissen geworden und können damit auch nicht bearbeitet oder reflektiert werden. Andere Fremdsprachenlehrpersonen offen‐ baren in Erzählungen über ihre Unterrichtspraxis, dass sie sich bestimmter Normen bewusst(er) sind und potentiell in Aushandlung mit diesen und somit in einen gewissen 214 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="216"?> Professionalisierungsprozess eintreten könnten. Uns interessieren im Folgenden beide Typen: Diejenigen, die Normen übernehmen, weil sie nicht anders können, und die anderen, die mit den Normen umgehen. Wir möchten an jeweils drei Beispielen zeigen, wie diese Personen über ihren Fremdsprachenunterricht, Lernende und Gegenstände sprechen. Damit möchten wir Ihnen verdeutlichen, was eine verinnerlichte, habituelle Praxis zeigt und wie sie rekonstruiert werden kann. Im nachfolgenden Kapitel 6.2 zeigen wir, wie fremdsprachliche Lehrer: innenaus- und -fortbildung möglicherweise so strukturiert werden kann, dass die Bewusstmachung von Normen die „Normalität“ wird. Im Folgenden werden zur Veranschaulichung der Typen Transkripte und Analysen von Interviews genutzt, die die Strukturen des impliziten Wissens von Lehrpersonen aufzeigen. Diese können als Anregung für Ihren eigenen Reflexionsprozess dienen. Aus dem Blickwinkel der rekonstruktiven Forschung ist es eher unüblich, Typen mit will‐ kürlich ausgewählten, ja eher: „herausgepflückten“, Interviewausschnitten zu belegen; schließlich gehen wir im Folgenden sehr selektiv vor. Aus diesem Grund bedienen wir uns bei den oben genannten empirischen Arbeiten, die ihre eigenen Transkripte valide für ihr Projekt ausgewertet und Typen rekonstruiert haben, sodass die Transkripte in diesem Studienbuch weniger als Beleg, sondern vielmehr als Illustration und für Ihre Reflexion gedacht sind. Zwar verändern sich die Normen je nach Zielsetzung bzw. Forschungsfrage der entsprechenden fremdsprachendidaktischen Forschungsarbeiten leicht, dennoch bleiben die Umgangsweisen mit Normen bei den beiden „Obertypen“, die wir oben angedeutet haben, ähnlich. Die nachfolgenden Unterkapitel sind in einem engen Bezug zur Praxis des Fremd‐ sprachenunterrichts gedacht. In den Kapiteln 6.1.1 und 6.1.2 werden die unterschied‐ lichen Umgangsweisen von Lehrpersonen mit zentralen Normen anhand von Trans‐ kripten und Analysen dargestellt, jeweils flankiert von Reflexionsaufgaben. Die Transkripte haben wir weitgehend unverändert aus den Forschungsarbeiten übernom‐ men, d.h. die Transkriptregeln (also wie z.B. Brüche oder Pausen markiert werden) unterscheiden sich. Dies können Sie für Ihre Reflexion vernachlässigen. 6.1.1 Typ Fremdsprachenlehrperson „Übernahme von Normen“ Transkript 1: (Sprachliche) Korrektheit Reflexionsaufgabe vor dem Lesen: Unten finden Sie ein Transkript einer Lehrperson, die verschiedene Normen in ihrer unterrichtlichen Praxis übernimmt. Bevor Sie die darauffolgende Rekon‐ struktion von Wilken (2021: 127) lesen, beantworten Sie die folgenden Fragen: • Welche Normen nehmen Sie aus dem Transkript heraus wahr? Markieren Sie diese bzw. schreiben Sie sie auf. • Widersprechen sich die Normen? Wenn ja, inwiefern? 6.1 Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung 215 <?page no="217"?> • Wenn Sie in der Rolle der nachfolgenden Lehrkraft wären: Würden Sie Ihren Umgang oder auch die Relevanzsetzung bestimmter Normen verändern wollen? Wenn ja, warum? Transkript von Fall B aus Wilken (2021: 126-127): im Englischunterricht haben wir auch öfter mal Hörverstehensaufgaben […] Und da geht=s auch immer um einen Deutschen der halt auch einfach so=n katastrophales Englisch spricht (.) wo man denkt <D- D- Das sollen=die doch so nicht lernen> weil das klingt haltdas ist so dieses dieses stereotypisch Deutsche, so richtig äh abgehackt und hart und (.) einfach falsch ausgesprochen (.) und auf der anderen Seite hat man da sozusagen als die die Muttersprachler äh ne indische Familie, die dann @auch auf der Seite@ so den stereotypischsten indischen Akzent haben (.) den man überhaupt jemandem verpassen kann. Rekonstruktive Analyse der Passage von Fall B aus Wilken (2021: 127, Hervorhebungen im Original): Adjektive wie abgehackt, hart und falsch (425) markieren einen deutschen Akzent als nicht lernenswert (vgl. 423f). Zudem entfaltet sich über die Nennung von stereotypisch (424) eine andere Konzeptualisierung der Norm: Dadurch, dass den Figuren im Buch ein Akzent verpass[t] (429) wird, wird das Material als nicht authentisch gerahmt. Bestimmten Standardvarietäten wird damit abgesprochen, einen geeigneten Input für den Englischunterricht darzustellen, was mit dem Hinterfragen von Angemessenheit bei der Darstellung von Figuren und kulturellen Zugehörigkeitszuschreibungen einher geht. Die Formulierung sozusagen als Muttersprachler ne indische Familie (426f) zeigt aber, dass die dargestellte Familie lediglich als sozusagen […] Muttersprachler (ebd.) bezeichnet, implizit diese also auch nicht als native speaker anerkannt wird. In dieser normativen Dimension zeigt sich eine Vermischung von Sprache und ‚Kultur‘, sodass die Korrektheitsnorm hier um die Ebene der Angemessenheit erweitert wird. Reflexionsaufgabe nach dem Lesen: Nachdem Sie nun das Transkript mit der Rekonstruktion gelesen haben, beant‐ worten Sie die folgenden Fragen: • Welche Rolle spielt sprachliche Korrektheit für Ihren Unterricht? Und wa‐ rum? • Welche Erwartungen erfahren Sie von außen in Bezug zur Förderung sprach‐ licher Korrektheit in Ihrem Fremdsprachenunterricht? • Welche Rolle spielt in Ihrem Fremdsprachenunterricht „nativ-nahes Sprach‐ vermögen“? • Welche weiteren Anforderungen (z.B. Anforderung an einen inklusiven Fremdsprachenunterricht) stehen im Widerspruch zur Förderung sprachli‐ cher Korrektheit? Warum? 216 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="218"?> • Wie könnten Sie mit diesen Widersprüchen umgehen, ohne beide Anforde‐ rungen gänzlich abzulehnen oder gänzlich zu übernehmen? • Was könnte Ihnen dabei helfen? Transkript 2: Lehrwerke und Leistungsüberprüfungen Reflexionsaufgabe vor dem Lesen: Unten finden Sie ein Transkript einer Lehrperson, die Normen in ihre unterricht‐ liche Praxis übernimmt. Bevor Sie die darauffolgende Rekonstruktion von Lüke (2024a: n.a.) lesen, beantworten Sie für sich bitte die folgenden Fragen: • Welche Normen nehmen Sie aus dem Transkript heraus wahr? Schreiben Sie diese auf. • Widersprechen sich die Normen? Wenn ja, inwiefern? • Wenn Sie in der Rolle der nachfolgenden Lehrkraft wären: Würden Sie Ihren Umgang oder auch die Relevanzsetzung bestimmter Normen verändern wollen? Wenn ja, warum? Transkript des Falls Helga Korn aus Lüke (2024a: n.a.): Das heißt, ähm es ist zwar (.) nicht teaching to the test, so möchte ich es nicht verstanden haben, aber natürlich ist der Unterricht gegliedert in Abschnitte, die zueinander und zu der nächsten Klassenarbeit hinführen. SO ist das einfach, ja? Und ähm ich habe also Themen, in/ ein Themenblatt. […] Ähm (.) dort habe ich dann die einzelnen Kompetenzbereiche. Was kann ich am Ende eines bestimmten/ einer bestimmten Unterrichtseinheit und ähm (.) Übungshilfen, also exercises oder Recherchelinks an oder irgendwas, damit die Schüler sich selber auch einschätzen können. Kann ich das schon, ja? Und die Lehrwerke sind ja mittlerweile auch gut aufgebaut, dass am Ende immer so stop check goal, es gibt skills files, es gibt grammar files in diesen Lehrplänen, die baue ich auch in den Unterricht ein. Rekonstruktive Analyse der Passage von Helga Korn aus Lüke (2024: n.a.): Helga Korn schafft einen Gegenhorizont zwischen „teaching to the test“ (Z. 568) und ihrer Unterrichtspraxis, den sie aber durch das Adverb „zwar“ (Z. 567) einschränkt. Zunächst gibt Frau Korn hier an, das leistungsorientierte Unterrichten abzulehnen. Dies scheint jedoch auf soziale Erwünschtheit zurückführbar zu sein. In der anschließ‐ enden Beschreibung dokumentiert sich nämlich durch die Nutzung des Unterrichts als Subjekt des Satzes, dass der Englischunterricht zwangsläufig zu einer Leistungs‐ überprüfung in Form einer Klassenarbeit führt („[…] aber natürlich ist der Unterricht gegliedert in Abschnitte, die zueinander und zu der nächsten Klassenarbeit hinführen“, Z. 569‒570). Durch die Subjektwahl impliziert Korn, dass sie als Lehrperson, die die Verantwortung übernimmt und zur Klassenarbeit hin unterrichtet, hinter der 6.1 Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung 217 <?page no="219"?> Struktur des Unterrichts zurücktritt. Durch das Adverb „natürlich“ (Z. 569), der Betonung der Partikel „SO“ (Z. 570) und die rhetorische Frage („SO ist das einfach, ja? , Z. 570‒571) wird impliziert, dass das Unterrichten hin zu einer Klassenarbeit eine Selbstverständlichkeit ist, die Norm der Leistungsmessung also übernommen und normalisiert wird. Durch die Partikel „einfach“ (Z. 571) wird erneut die passive Rolle von Helga Korn hervorgehoben, in der sie sich in der Übernahme der Leistungsnorm sieht. Mit der Wiederholung des Personalpronomens „ich“ (Z. 571, 572, 573, 574) rahmt Helga Korn, wie schon in vorigen Passagen (vgl. Z. 21‒30), die Nutzung der methodischen Instrumente (z.B. Themenblatt) ausgehend von ihrer eigenen Planung. Dabei erscheint das Vorgehen im Unterricht, u.a. durch die Wahl der Verben („haben“ und „geben“, z.B. Z. 571, 573, 579), feststehend und nicht auf individuelle Lerngruppen oder Lernende angepasst. In der Nutzung der rhetorischen Fragen („Kann ich das schon, ja? “, Z. 577‒578) und der Übernahme der Schüler*innensicht durch die Nutzung des Personalpronomens „ich“ (Z. 574, 577) blickt sie aus der Sicht der Schüler*innen ausschließlich auf die selbstständige Leistungsüberprüfung anhand von Kompetenzen („Was kann ich am Ende eines bestimmten/ einer bestimmten Unterrichtseinheit und ähm (.) Übungshilfen, also exercises oder Recherchelinks an oder irgendwas, damit die Schüler sich selber auch einschätzen können. Kann ich das schon, ja? “, Z. 574‒578). Durch die Bewertung der Lehrwerke („Und die Lehrwerke sind ja mittlerweile auch gut aufgebaut, dass am Ende immer so stop check goal, es gibt skills files, es gibt grammar files in diesen Lehrplänen, die baue ich auch in den Unterricht ein.“, Z. 578‒581) wird die Norm offenbart, dass Lehrwerke gut strukturiert sind und genutzt werden. Reflexionsaufgabe nach dem Lesen: Nachdem Sie nun das Transkript mit der Rekonstruktion gelesen haben, beant‐ worten Sie die folgenden Fragen: • Welche Rolle spielen Lehrwerke und Leistungsüberprüfungen für Ihren Unterricht? Warum? • Welche Erwartungen erfahren Sie von außen in Bezug auf die Leistungsüber‐ prüfung und die Nutzung von Lehrwerken? • Welche weiteren Anforderungen (z.B. Kontextorientierung) stehen im Wi‐ derspruch zu Leistungsmessungen und Lehrwerken? Warum? • Wie könnten Sie mit diesen widersprüchlichen Anforderungen umgehen, ohne Normen gänzlich abzulehnen oder gänzlich zu übernehmen? • Was könnte Ihnen dabei helfen? Transkript 3: Umgang mit Lernenden Reflexionsaufgabe vor dem Lesen: Unten finden Sie ein Transkript einer Lehrperson, die Normen in ihrer unter‐ richtlichen Praxis übernimmt. Bevor Sie die darauffolgende Rekonstruktion von Leonhardt (i.V.) lesen, beantworten Sie die folgenden Fragen: 218 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="220"?> • Welche Normen nehmen Sie aus dem Transkript heraus wahr? Schreiben Sie diese auf. • Widersprechen sich die Normen? Wenn ja, inwiefern? • Wenn Sie in der Rolle der nachfolgenden Lehrkraft wären: Würden Sie Ihren Umgang oder auch die Relevanzsetzung bestimmter Normen verändern wollen? Wenn ja, warum? Transkript des Falls Hofmann aus Leonhardt (i.V.: n.a.): Okay, (.) die erste (.) Englischstunde, meine erste Prüfung (1) meine erste Prüfung, also das erste Modul, ähm (.) habe ich ich bin so ein Theatertyp (.) äh ich mache sehr viel theatralisch und ich liebe das Theaterspiel (.) und da habe ich gedacht, kurz vor Weihnachten (.) lädst du das ganze Seminar zu dir ein, ich meine das waren so 15 Leute, die kommen zu dir, du gibst ne Runde aus und dann machst du deine Show. (.) Ich habe die Weihnachtsgeschichte schön einfach geschrieben für eine dritte Klasse; (.) hello Mary, (.) hello Joseph, look at the baby, so ein bisschen ganz kindisch so ganz einfach (.) und habe wunderschön diese Geschichte nachgespielt. Rekonstruktive Analyse der Passage von dem Fall Hofmann aus Leon‐ hardt (i.V.: n.a.): Die Eingangspassage des Interviewgesprächs beginnt mit der Beschreibung einer Prüfungssituation aus dem Vorbereitungsdienst der befragten Lehrkraft, bei welcher der Fokus zunächst auf der Hervorhebung von Identitätsnormen und Charaktereigen‐ schaften liegt (vgl. Z. 5-7). Analog zum Fall Schneider fällt auch im Fall Hofmann die häufige Verwendung der ersten Person Singular auf. Indem die Lehrkraft erwähnt, dass sie „so ein Theatertyp“ sei und „sehr viel theatralisch“ mache (vgl. ebd.) wird die im weiteren Verlauf der Passage beschriebene Englischstunde nicht vor dem Hintergrund der Passung mit curricularen Vorgaben oder aber den Interessen der Schüler*innen gerahmt. Vielmehr ergibt sich die Auswahl des Themas sowie die methodisch-didak‐ tische Gestaltung der Stunde vor dem Hintergrund der persönlichen Vorlieben der Lehrkraft. Durch die Verwendung des Adjektivs „theatralisch“ (Z. 6), welches im alltäglichen Sprachgebrauch auf etwas Gekünsteltes, Aufgesetztes oder Affektiertes hinweist, deutet sich bereits an, dass die Lehrkraft die beschriebene Englischstunde als Inszenierung rahmt. Letzteres bestätigt sich in ihrer Äußerung „dann machst du deine Show. Wird dadurch deutlich, dass die Lehrkraft die Lernenden zunächst nicht erwähnt und nur indirekt auf diese durch die Nennung des Schwierigkeitsgrades der von ihr erstellten Weihnachtsgeschichte Bezug nimmt (vgl. Z. 10). Die Lehrkraft kon‐ zeptualisiert sich damit als einzige Akteurin in ihrer beschriebenen Stunde, denn sie ist diejenige, welche die Weihnachtsgeschichte schreibt und nachspielt (vgl. Z. 12). Auch durch den Ausdruck „deine Show“ (Z. 9) deutet sich an, dass der Englischunterricht ausgehend von der Lehrkraft gedacht und durchgeführt wird. Für diese Lesart spricht, dass Frau Hofmann den Englischunterricht durch ihre Äußerung „und da habe ich gedacht, kurz vor Weihnachten (.) lädst du das ganze Seminar zu dir ein, […] die 6.1 Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung 219 <?page no="221"?> kommen zu dir“ (Z. 6-9) zu einem privaten Raum macht, in welchem es weniger um das Vermitteln von fachlichen Inhalten oder aber die Lernprozesse der Schüler*innen geht. Vielmehr stehen die Inszenierung des Englischunterrichts und damit die ‚Show‘ der Lehrkraft im Mittelpunkt.“ (Z. 9). Reflexionsaufgabe nach dem Lesen: Nachdem Sie nun das Transkript mit der Rekonstruktion gelesen haben, beant‐ worten Sie die folgenden Fragen: • Welche Rolle spielen die Interessen der Schüler: innen für Ihren Unterricht? Warum? • Inwiefern lassen sich Ihre Anforderungen an den Unterricht, die curricularen Vorgaben und die Interessen der Schüler: innen im Fremdsprachenunterricht vereinen? • Welche Erwartungen erfahren Sie von außen in Bezug auf die Integration der Interessen der Lernenden? • Welche weiteren Anforderungen stehen im Widerspruch zu der Orientierung an den Bedürfnissen der Lernenden? Warum? • Wie könnten Sie mit diesen widersprüchlichen Anforderungen umgehen, ohne Normen gänzlich abzulehnen oder gänzlich zu übernehmen? • Was könnte Ihnen dabei helfen? Insgesamt zeigt sich anhand dieser Transkripte, dass dieser Typ von Fremdsprachen‐ lehrperson Normen, insbesondere Normen der Institution, in die unterrichtliche Praxis ganz häufig unbewusst (implizit) übernimmt. Wir haben oben angesprochen, dass Professionalität sich dadurch auszeichnet, dass Normen gerade nicht „einfach übernommen“ werden, sondern in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen zu dem, wie Lehrpersonen handeln oder was als implizites Wissen für die Forschenden rekonstruierbar wird. Bei den gerade dargestellten Beispielen wird die Spannung durch die widersprüchlichen Normen aufgehoben, sodass die Aushandlung der Normen mit Blick auf die Kontexte (z.B. Schüler: innen) nicht stattfindet. Dies scheint den Lehrpersonen zwar eine gewisse Sicherheit in der Unterrichtsgestaltung zu geben. Gleichzeitig läuft dieses Nicht-Aushandeln aber auch Gefahr, der Komplexität der pädagogischen Praxis im Fremdsprachenunterricht und dem Anspruch an Mitsprache von Lernenden im Sinne einer Kritischen Fremdsprachendidaktik nicht gerecht zu werden (siehe Kapitel 2.1). Die Ursache hiervon ist im Wesentlichen die verinnerlichte Orientierung an Lehrwerken, Leistungsorientierung sowie sprachlicher Korrektheit (bzw. Einsprachigkeit). Im Folgenden werden nun Beispiele für Typen von Fremdsprachenlehrpersonen aufgeführt, die die Normen stärker aus- und verhandeln, wenn sie über ihre Unter‐ richtspraxis sprechen. In diesen Beispielen wird im direkten Vergleich zu den Beispielen oben deutlich werden, dass zum einen die Spannungen und Widersprüche aufrechter‐ halten werden und zum anderen, dass eine Öffnung des Unterrichts ermöglicht wird, 220 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="222"?> sodass neue Normen, wie z.B. die einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, potenziell Eingang finden könn(t)en. 6.1.2 Typ Fremdsprachenlehrperson „Aushandlung von Normen“ Transkript 1: (Sprachliche) Korrektheit Reflexionsaufgabe vor dem Lesen: Unten finden Sie ein Transkript einer Lehrperson, die verschiedene Normen in ihrer unterrichtlichen Praxis aushandelt. Bevor Sie die darauffolgende Rekon‐ struktion von Wilken (2021: 131) lesen, beantworten Sie die folgenden Fragen: • Welche Normen nehmen Sie aus dem Transkript heraus wahr? Schreiben Sie diese auf. • Widersprechen sich die Normen? Wenn ja, inwiefern? • Wenn Sie in der Rolle der nachfolgenden Lehrkraft wären: Würden Sie Ihren Umgang oder auch die Relevanzsetzung bestimmter Normen verändern wollen? Wenn ja, warum? Einleitende Passage und Transkript von Fall K aus Wilken (2021: 131): Die Lehrerin im Fall K wird von ihren Ausbilder*innen mit einer weiteren Dimension von Korrektheit konfrontiert: der Norm der Einsprachigkeit. Die folgende Passage zeigt ihren relativierenden Umgang damit: verstehen. Und es immer hieß ähm von der Seminarleitung Sie dürfen also Sie müssen konsequent Englisch sprechen. Alles mit Gesten und Mimik noch mal unterstreichen damit die Kinder das verstehen und wiederholen, und aber ich hab immer noch die Momente wo ich denke, nee ich muss das jetzt das Spiel noch mal auf Deutsch erklären, sonst verstehen sie=s nicht. Rekonstruktive Analyse der Passage von Fall K aus Wilken (2021: 131): Sowohl in der Einschränkung aber als auch im Tempuswechsel (es hieß (181); ich muss das jetzt (185)) zeigt sich Ks Positionierung: Sie macht Ausnahmen, wo sie abweichendes Handeln als sinnvoll für das Verstehen der Schüler*innen einschätzt (vgl. homolog zu Fall T zum spelling, S. 141). Trotzdem ist die Nennung der Norm, vermittelt über die wörtliche Rede ihrer Seminarleitung, ein Hinweis auf einen implizi‐ ten Legitimationsdruck bzw. eine Begründungspflicht für ihr professionelles Handeln (hier darauf bezogen, korrekt und konsequent Englisch zu sprechen). Dies zeigt sich pointiert in ihrer Äußerung: „Bloß nichts falsches @sagen es ist ganz wichtig dass du dass du irgendwie so=n Sprachvorbild bist.“ (K 244f) Über diese Formulierung wird nicht Sprachperfektion in den Fokus gerückt, sondern ein unbestimmtes (irgendwie), aber anzustrebendes Ideal vorbildlichen Sprachinputs. 6.1 Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung 221 <?page no="223"?> Reflexionsaufgabe nach dem Lesen: Nachdem Sie nun das Transkript mit der Rekonstruktion gelesen haben, beant‐ worten Sie die folgenden Fragen: • Wie handeln Sie selbst die Norm der sprachlichen Korrektheit in Ihrem Unterricht aus? Warum? • Welche Personengruppen beziehen Sie in die Aushandlung der Norm der sprachlichen Korrektheit mit ein? • Zu welchen Gefühlen führt die Aushandlung von Normen bei Ihnen? • Die Aushandlung von Normen kann dazu führen, dass Sie den widersprüch‐ lichen Normen (z.B. Korrektheit und Kritische Fremdsprachendidaktik) nicht gerecht werden. Wie gehen Sie damit um? Transkript 2: Lehrwerke und Leistungsüberprüfungen Reflexionsaufgabe vor dem Lesen: Unten finden Sie ein Transkript einer Lehrperson, die Normen vor dem Hinter‐ grund ihrer unterrichtlichen Praxis aushandelt. Bevor Sie die darauffolgende Rekonstruktion von Lüke (2024a: n.a.) lesen, beantworten Sie die folgenden Fragen: • Welche Normen nehmen Sie aus dem Transkript heraus wahr? Schreiben Sie diese auf. • Widersprechen sich die Normen? Wenn ja, inwiefern? • Wie geht diese Lehrperson mit dem Widerspruch um? • Welche Personen werden mit in die Aushandlung der Normen eingeschlos‐ sen? • Wenn Sie in der Rolle der nachfolgenden Lehrkraft wären: Würden Sie Ihren Umgang mit den Normen verändern wollen? Wenn ja, warum und wie? Transkript des Falls Peter Singer aus Lüke (2024a: n.a.): Und sagen ähm wir/ (..) wir versuchen hier gemeinsam für euch das Bestmögliche rauszuholen. Das heißt, wir sind natürlich hier, um selbst irgendwie uns weiterzuent‐ wickeln und so weiterzubilden. Aber am Ende des Tages müssen wir alle vor diesem/ vor diesem Zettel sitzen und dann zählt/ (..) und leider ist halt das System so, wie es ist. Dann zählt nur, was für eine Zahl am Ende steht. Und da gucken wir, dass wir das Beste davon rausholen können. Rekonstruktive Analyse der Passage von Peter Singer aus Lüke (2024a: n.a.): In dieser Passage grenzt sich Peter Singer auf expliziter Ebene durch Argumentationen und Bewertungen von der Orientierung an Leistungsüberprüfungen ab, was durch das Adjektiv „leider“ (Z. 918) deutlich wird. Durch das inkludierende Pronomen „wir“ (Z. 222 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="224"?> 914, 915, 920) wird wiederholt impliziert, dass Peter Singer die Leistungsüberprüfung gemeinsam mit den Lernenden schaffen will, sodass er die institutionelle Norm, dass Leistungsmessungen stattfinden müssen, mit Perspektive auf die Lernenden aushandelt („Aber am Ende des Tages müssen wir alle vor diesem/ vor diesem Zettel sitzen und dann zählt/ (..) und leider ist halt das System so, wie es ist. Dann zählt nur, was für eine Zahl am Ende steht.“, Z. 916‒920). Die Norm wird besonders sichtbar durch das Modalverb „müssen“ (Z. 917). In der abschließenden Beschreibung zeigt sich, dass der Rahmen der institutionellen Vorgaben zur Leistungsmessung wahrgenommen, jedoch auch gemeinsam mit den Lernenden ausgedehnt wird („Und da gucken wir, dass wir das Beste davon rausholen können.“, Z. 920‒921). Anders als bei dem Typus „geschlossener“ werden hier die Vorgaben nicht unter Druck verfolgt, sondern es wird ein gemeinsamer Umgang damit proponiert. Reflexionsaufgabe nach dem Lesen: Nachdem Sie nun das Transkript mit der Rekonstruktion gelesen haben, beant‐ worten Sie die folgenden Fragen: • Wie handeln Sie selbst die Norm von Leistungsüberprüfungen in Ihrem Unterricht aus? Warum? • Welche Personengruppen beziehen Sie in die Aushandlung von Leistungs‐ messungen mit ein? • Zu welchen Gefühlen führt die Aushandlung von Normen bei Ihnen? • Die Aushandlung von Normen kann dazu führen, dass Sie den widersprüch‐ lichen Normen (z.B. Leistungsmessung und Orientierung an Bedürfnissen der Schüler: innen) nicht gerecht werden. Wie gehen Sie damit um? Transkript 3: Umgang mit Lernenden Reflexionsaufgabe vor dem Lesen: Unten finden Sie ein Transkript mit einer Lehrperson, die Normen vor dem Hin‐ tergrund ihrer unterrichtlichen Praxis aushandelt. Bevor Sie die darauffolgende Rekonstruktion von Leonhardt (i.V.: n.a.) lesen, beantworten Sie die folgenden Fragen: • Welche Normen nehmen Sie aus dem Transkript heraus wahr? Schreiben Sie diese auf. • Widersprechen sich die Normen? Wenn ja, inwiefern? • Wenn Sie in der Rolle der nachfolgenden Lehrkraft wären: Würden Sie Ihren Umgang oder auch die Relevanzsetzung bestimmter Normen verändern wollen? Wenn ja, warum? 6.1 Einblicke in die rekonstruktive Fremdsprachenprofessionsforschung 223 <?page no="225"?> Transkript des Falls Altay aus Leonhardt (i.V.: n.a.): ähm (4) genau ja also das (.) also das äh ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, […] in *Name der Stadt* gab es ja auch […] dieses (.) Attentat (.) ja (.) und äh wir haben auch in den Englischstunden ganz, ganz viel über ähm also über diesediese Geschichte, also (unv.) was passiert ist gesprochen, also das war jetzt haltals ichich konnte ja nicht einfach den Unterricht mit so einem Signal weiterführen als sei nichts gewesen, sondern (.) die Schüler hatten ganz viel Bedarf Rekonstruktive Analyse der Passage des Falls Altay aus Leonhardt (i.V.: n.a.): In dieser Passage beschreibt Frau Altay Situationen aus ihrem Englischunterricht, die ihr in Erinnerung geblieben sind. Hierbei bezieht sie sich auf eine Englischstunde, die im Anschluss an ein Attentat, welches sich in Deutschland ereignete, stattgefunden hat. Den Fokus dieser Passage bildet das gemeinsame Sprechen mit den Schüler*innen über dieses Ereignis, was durch ihren Ausdruck „ganz, ganz viel“ (Z. 351-352) hervor‐ gehoben wird. Frau Altay nimmt weiterhin die Bedürfnisse ihrer Schüler*innen wahr und leitet hieraus Konsequenzen für ihre Unterrichtsgestaltung ab. Das Bedürfnis der Schüler*innen, über das Ereignis zu sprechen wird gegenüber dem ‚Weiterführen‘ des Englischunterrichts priorisiert (vgl. Z. 354ff.). Damit macht Frau Altay einen Teil der außerschulischen Lebenswelt der Lernenden zum Unterrichtsgegenstand und verdeut‐ licht damit, dass sie den Relevanzsetzungen ihrer Schüler*innen Bedeutung beimisst. Dass Frau Altay ihren Englischunterricht ausgehend von den Lernenden gestaltet, zeigt sich nicht zuletzt anhand ihres Ausdrucks „als ichich konnte ja nicht einfach den Unterricht mit so einem Signal weiterführen als sei nichts gewesen“ (Z. 353-355). Hier nimmt Frau Altay ein Spannungsverhältnis zwischen der Norm der Abarbeitung eines hier nicht näher explizierten Curriculums sowie ihrer Orientierung an den Lernenden wahr, was sich anhand ihrer Suchbewegung verdeutlicht. Dieses Spannungsverhältnis löst sie für sich jedoch auf, indem sie ihrer habituellen Orientierung nachkommt und diese als Selbstverständlichkeit rahmt. Letzteres zeigt sich durch die Verwendung des Selbstverständlichkeitsmarkers „ja“ (Z. 353). Reflexionsaufgabe nach dem Lesen: Nachdem Sie nun das Transkript mit der Rekonstruktion gelesen haben, beant‐ worten Sie die folgenden Fragen: • Wie handeln Sie Inhalte mit Ihren Schüler: innen in Ihrem Unterricht aus? Warum? • Wie beziehen Sie Schüler: innen in die Aushandlung von Inhalten mit ein? • Wie gehen Sie mit Widersprüchen bei der Auswahl der Inhalte um, wenn Schüler: innen andere Inhalte relevant setzen als Sie? 224 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="226"?> Anders als der Typus, der Normen der Institution in seine Praxis übernimmt (siehe Kapitel 6.1.1), handeln die Lehrpersonen dieses Typs die von außen herangetragenen Normen individuell, ganz häufig auch in Interaktion mit den involvierten Personen (den Lernenden) aus. Hierdurch erleben die Lehrpersonen zwar eine Ungewissheit in ihrer pädagogischen Arbeit, weil sie je nach Kontexten (z.B. gegenüber Lernenden, Kolleg: innen oder Inhalten) aushandeln müssen, welche Normen sie als Lehrpersonen relevanter setzen. Gleichzeitig ist es ein Kennzeichen von Professionalität im struktur‐ theoretischen Sinne (siehe Kapitel 2.1.1) Ungewissheiten im Unterricht aushalten und reflektieren zu können. Überhaupt scheinen sich die Lehrpersonen dieses Typs der widersprüchlichen Normen bewusst zu sein, mit denen sie in ihrem Alltag konfrontiert sind. Hierdurch zeigt sich insgesamt eine höhere Toleranz für Unsicherheit und Ungewissheit, die es zum einen eher ermöglicht, neue Normen, wie z.B. die einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, in die Struktur der Praxis zu integrieren (vgl. Lüke 2024a). Zum anderen besteht durch die Ungewissheit die Möglichkeit, andere Personen (also z.B. Kolleg: innen oder Lernende) mit in den eigenen Reflexionsprozess über die Normen (und die Spannungen) zu involvieren. Ein gemeinsames Aushandeln innerhalb des Unterrichts und/ oder der Schule hilft möglicherweise eine Unterrichts- und Schulentwicklung anzustoßen, die Normen adressiert, bewusst macht oder gar transformiert. Welche Rolle dabei die Lehrer: innenaus- und -fortbildung sowie die ganz individuelle Professionalisierung spielen könnten, möchten wir im nächsten Kapitel exemplarisch zeigen. 6.2 Perspektiven für die Aus- und Fortbildung: Reflexionsebenen Es ist wirklich zum Teil ein teaching to the test. Wir sind ja angehalten, bestimmte Lehrpläne einzuhalten, (.) äh die Kinder zu befähigen, Prüf‐ ungen vor allem zu bestehen. Aussage einer Englischlehrerin aus Lüke (2024a) Dieses Zitat stammt aus einem Forschungsprojekt zu einer kritischen Fremdsprachen‐ lehrer: innenbildung, in dem die teilnehmenden Lehrpersonen in Interviews nach Situationen aus ihrem alltäglichen Englischunterricht befragt wurden (vgl. Lüke 2024a). Es wird sehr deutlich, wie sich die Lehrkraft im Kollektiv mit ihren Kolleg: innen gezwungen sieht, die Leistungslogik von Schule in Form von Prüfungen im Fremd‐ sprachenunterricht umzusetzen, obwohl sie durch die Teilnahme an der Fortbildung eigentlich willens ist, eine Kritische Fremdsprachendidaktik, die diese Leistungslogik kritisiert, in ihrem Unterricht umzusetzen. Hier zeigt sich jedoch Folgendes: Lehrpersonen können eine Kritische Fremdspra‐ chendidaktik als wichtig ansehen, indem sie z.B. dieses Studienbuch als sinnvoll 6.2 Perspektiven für die Aus- und Fortbildung: Reflexionsebenen 225 <?page no="227"?> bewerten oder an einer Fortbildung zu kritisch orientierten Themen oder Ansätzen teil‐ nehmen. Dennoch bedeutet diese an sich positive Bewertung nicht, dass die Lehrkräfte dann nach den Grundsätzen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik im Fremdspra‐ chenunterricht handeln (vgl. Kapitel 2.4 zu Normen im Fremdsprachenunterricht). Und dies ist gar nicht verwerflich: Vielmehr wirkt eine Vielzahl von Anforderungen und Erwartungen (Normen) auf Fremdsprachenlehrpersonen ein, die ihr Handeln bisher strukturieren, sodass die routinierte Struktur nur schwerlich durch neue Erwartungen und Anforderungen, wie z.B. die einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, zu durch‐ brechen ist. Um im nächsten Unterkapitel, Kapitel 6.3, praktische Anregungen für die Fort- und Weiterbildung von primär berufserfahrenen Fremdsprachenlehrpersonen aufzuzeigen, sollen zunächst verschiedene Ebenen (Gesellschaft, Schulsystem und Fremdsprachenunterricht) und deren Verwobenheiten kurz erläutert werden, weil ebendiese Verwobenheiten Einfluss auf Fort- und Weiterbildungen nehmen. Diese Darstellungsart auf Mikro-, Meso- und Makroebene mag vielleicht an die Abbildung in Kapitel 3.1 im Kontext einer Kritischen Fremdsprachendidaktik erinnern. Hier soll es aber nicht um die Ebenen der Kritik einer Kritischen Fremdsprachendidaktik gehen, sondern um zu bedenkende Dimensionen für das Lernen von Fremdsprachen in der Schule, die für die professionelle Weiterentwicklung von kritischen Fremdsprachen‐ lehrpersonen wichtig ist. Zur Konkretisierung der Dimensionen bzw. Ebenen nutzen wir das Modell der Douglas Fir Group (2016), das als transdisziplinäres Rahmenwerk genutzt werden kann, um Fremdsprachenlernen und -lehren in einer multilingualen und globalisierten Welt in den verschiedenen Dimensionen zu begreifen (siehe Abbildung 15). (Auch Helsper (2024) nutzt aus einer schulpädagogischen Perspektive Mikro-, Meso- und Makroebene, um pädagogische Professionalität auf mehreren sozialen Ebenen zu differenzieren. Damit sind beide Grundkonzeptionen durchaus miteinander verschränkbar.) Literaturempfehlung: A transdisciplinary framework for SLA in a multilingual world (The Douglas Fir Group 2016) Der Beitrag beschreibt ein transdisziplinäres Rahmenwerk für das Fremdsprachen‐ lernen in einer globalisierten, mehrsprachigen Welt. Er betont die Notwendigkeit, (Fremd-)Spracherwerb bzw. (Fremd-)Sprachenlernen über disziplinäre Grenzen hinweg zu betrachten, um die komplexen sozialen, kognitiven und ideologischen Prozesse, die das Fremdsprachenlernen beeinflussen, vollständig zu verstehen. Dabei wird die Bedeutung von Globalisierung, Technologisierung und Mobilität hervorgehoben, die das Lernen und die Nutzung von Sprachen in neuen sozialen Kontexten prägen. Auch die Rolle von ideologischen Einflüssen (politisch und gesellschaftlich) hinsichtlich der Erforschung und des Lernens von Sprachen wird kritisch diskutiert. 226 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="228"?> Der vorgeschlagene Rahmen integriert Erkenntnisse aus verschiedenen wissen‐ schaftlichen Disziplinen und zielt damit darauf ab, sowohl die Forschung als auch die Praxis im Fremdsprachenunterricht zu verbessern. Das Modell der Douglas Fir Group (2016: 25) gliedert den Prozess des Fremdsprachen‐ lehrens und -lernens in drei miteinander verbundene Ebenen: die Mikro-, Meso- und Makroebene, die jeweils eine spezifische Dimension des Fremdsprachenlernens und -lehrens beleuchten. MACRO LEVEL OF IDEOLOGICAL STRUCTURES MESO LEVEL OF SOCIOCULTURAL INSTITUTIONS AND COMMUNITIES MICRO LEVEL OF SOCIAL ACTIVITY Families Schools Neighborhood Places of Work Places of Worship Social Organizations Social Identities Belief Systems Cultural Values Political Values Religious Values Economic Values Semiotic Resources Linguistic Prosodic Interactional Nonverbal Graphic Pictorial Auditory Artifactual Abbildung 15: The multifaceted nature of language learning and teaching (The Douglas Fir Group 2016: 25). Die Mikroebene stellt die unmittelbare Ebene dar, auf der individuelles Lernen statt‐ findet. Hier interagieren Lernende direkt mit ihrer Umwelt, indem sie ihre kognitiven und emotionalen Fähigkeiten nutzen. Diese Ebene umfasst die sozialen Aktivitäten, in denen die Lernenden ihre sprachlichen und semiotischen Ressourcen einsetzen und entwickeln. In diesen Kontexten, die durch Interaktionen geprägt sind, entstehen und 6.2 Perspektiven für die Aus- und Fortbildung: Reflexionsebenen 227 <?page no="229"?> festigen sich die multilingualen Repertoires der Lernenden. Die Mesoebene beschreibt den Einfluss von soziokulturellen Institutionen und Gemeinschaften auf das Lernen von Fremdsprachen (der Kontext im weiteren Sinne). Diese Institutionen, wie Schulen und andere soziale Organisationen, prägen und formen die Lernumgebung der Indivi‐ duen. Die Mesoebene ist stark von den sozialen Bedingungen der jeweiligen Gemein‐ schaften geprägt, einschließlich wirtschaftlicher, kultureller, religiöser und politischer Faktoren. Diese Bedingungen beeinflussen, wie und in welchem Ausmaß Lernende Zu‐ gang zu verschiedenen sozialen Erfahrungen und Identitäten haben. Die Makroebene umfasst die breiter gefassten gesellschaftlichen und ideologischen Strukturen, die die Rahmenbedingungen für Sprache und Lernen auf einer globalen oder nationalen Ebene bestimmen. Diese Ebene schließt kulturelle, politische, wirtschaftliche und religiöse Überzeugungen ein, die sowohl die soziokulturellen Institutionen und Gemeinschaften als auch die individuellen Lernenden auf den unteren Ebenen beeinflussen. Gleichzeitig werden diese großen ideologischen Strukturen (als Normen) durch die Interaktionen auf der Mikro- und Mesoebene stark bestimmt und ausgehandelt. Alle drei Ebenen stehen in ständiger Wechselwirkung: Die Mikroebene wird durch die Meso- und Makroebene beeinflusst, während die Mesoebene von den makrogesellschaftlichen Strukturen und den individuellen Handlungen auf der Mikroebene geprägt wird. Diese dynamische Interaktion zwischen den Ebenen ist entscheidend für ein tiefes Verständnis des Fremdsprachenlernens. Das Modell betont, dass das Verständnis dieser komplexen, sich gegenseitig beeinflussenden Ebenen für Fremdsprachenlernen und -lehren unerlässlich ist. Da dieses Modell insbesondere das Fremdsprachenlernen aus dem Blickwinkel der Lernenden betrachtet, wurde das Modell durch De Costa/ Norton (2017) erweitert mit Blick auf die Weiterentwicklung der Language Teacher Identity, die im Modell auf der Mesoebene verortet ist, aber im unmittelbaren Zusammenhang mit Mikro- und Makroebene steht (siehe Kapitel 4.3). Hierzu wurden Kernthesen der Douglas Fir Group (2016) für das Fremdsprachenlernen von De Costa/ Norton (2017) auf das Unterrichten der Fremdsprache übertragen. Alle diese Thesen sind vereinbar mit den nachfolgenden Ideen zur Fort- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrpersonen und werden berücksichtigt. 10 Fundamental Themes and Their Implications for Language Learning and Teaching 10 Fundamental Themes Related To Learning (The Douglas Fir Group) 10 Fundamental Themes Related To Teaching (Special Issue) 1. Language competencies are complex, dyna‐ mic, and holistic 1. Language competencies are complex, dyna‐ mic, and holistic 2. Language learning is semiotic learning 2. Language teaching is semiotic teaching 3. Language learning is situated and attentio‐ nally and socially gated 3. Language teaching is situated and attentio‐ nally and socially gated 228 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="230"?> 4. Language learning is multimodal, embo‐ died, and mediated 4. Language teaching is multimodal, embo‐ died, and mediated 5. Variability and change are at the heart of language learning 5. Variability and change are at the heart of language teaching 6. Literacy and instruction mediate language learning 6. Literacy and instruction mediate language teaching 7. Language learning is identity work 7. Language teaching is identity work 8. Agency and transformative power are means and goals for language learning 8. Agency and transformative power are means and goals for language teaching 9. Ideologies permeate all levels 9. Ideologies permeate all levels of language teaching 10. Emotion and affect matter at all levels 10. Emotion and affect matter at all levels of language teaching Tabelle 5: 10 Fundamental themes and their implications for language learning and teaching (De Costa/ Norton 2017: 8). Sowohl diese Thesen als auch ganz besonders das Modell in Abbildung 15 zeigen, dass institutionalisiertes Fremdsprachenlernen verschiedene Ebenen von der des Unter‐ richts bis hin zur ideologisch-gesellschaftlichen Ebene abdecken muss, die in Fort- und Weiterbildungen zu einer kritischen Fremdsprachenlehrperson berücksichtigt werden sollten. Jedoch reicht allein ein Bewusstsein für diese Ebenen des Fremdsprachenun‐ terrichts nicht aus: Vielmehr müssen die Wechselwirkungen der Ebenen reflektiert werden, weil diese den Fremdsprachenunterricht strukturieren und damit jederzeit wirksam sind - selbst auf der Mikroebene unterrichtlicher Interaktion. Besonders dort wird die Verbundenheit der unterschiedlichen Ebenen deutlich, wenn wir Fremd‐ sprachenunterricht kontextsensibel gestalten: Wenn ich auf der Mikroebene des Un‐ terrichts beispielsweise die fehlende Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in Unterrichtsmaterialien reflektiere und hierzu in einer Fort- und Weiterbildung bestehende Materialien verändern oder entwickeln soll, so muss ich z.B. auch auf der Makroebene reflektieren, warum Menschen mit Behinderung gesamtgesellschaftlich bisher kaum repräsentiert sind (auch nicht in Lehrmaterialien) und falls doch, in ste‐ reotypisierender Weise in Bildmaterialien und mit einer Beschränkung auf sichtbare, körperliche Behinderungen (vgl. z.B. Alter et al. 2021, siehe auch Beispiele in Kapitel 3). Der Fremdsprachenunterricht mit seinen Interaktionen und Gegenständen (Themen) ist grundsätzlich ein Abbild der Gesellschaft und der Institution; gleichzeitig kann aber auch die Veränderung des Fremdsprachenunterrichts die Ebene der Institution und der Gesellschaft beeinflussen, wenn wir transformatorische Bildung als relevantes Konzept für den Fremdsprachenunterricht anerkennen (siehe Kapitel 1.3 und Kapitel 3). Tabelle 6 stellt mögliche Themen für die einzelnen Ebenen vor, welche mithilfe der Ansätze und Methoden, die wir in Kapitel 6.3 noch grob umreißen werden, zum 6.2 Perspektiven für die Aus- und Fortbildung: Reflexionsebenen 229 <?page no="231"?> Gegenstand gemacht werden könnten. Genauso wie die Themen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik (siehe Kapitel 3.4) ist die fast kanonartige Zusammenstellung solcher Ideen natürlich schwierig und sollte optimalerweise unter Kolleg: innen oder in Seminargruppen gemeinsam ausgehandelt werden. Möglicherweise dient diese Sammlung zur ersten Inspiration, vor allem aber verdeutlicht sie noch einmal die unterschiedlichen Ebenen der Douglas Fir Group (2016). Mikroebene Mesoebene Makroebene • Sprache • Materialien • Unterrichtsmedien • Interaktionen zwi‐ schen Schüler: innen, Lehrperson oder Eltern • Auswahl von Inhalten • Teilhabe von Lernen‐ den • eigene Positionen zu Inhalten • … • schulische Lehrpläne • Kooperation unter Kol‐ leg: innen • Strukturen von schuli‐ schen Fort- und Weiter‐ bildungen • Interdisziplinarität • schulischer Kontext (z.B. Standort, Schul‐ form, Einzugsgebiet, zeitliche Rahmenbe‐ dingungen) • … • politische und historische Ideologien • Bildungspolitik • Ursachen von Diskriminie‐ rungen und sozialen Un‐ gleichheiten • neoliberalistische Tenden‐ zen im Bildungssystem • Strukturen der Lehrkräfte‐ bildung • gesellschaftliche Rolle von Fremdsprachenunterricht • … Tabelle 6: Dimensionen des Fremdsprachenunterrichts zur Reflexion in Fort- und Weiterbildungen insbesondere zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. Reflexionsaufgabe Nehmen Sie sich aus jeder Spalte einen „Baustein“, sodass Sie drei Begriffe haben. Suchen Sie dann den Zusammenhang zwischen diesen. Ein Beispiel: „Medien - Interdisziplinarität - Ursachen von Diskriminierungen“ - wie hängen diese drei zusammen? 6.3 Perspektiven für Aus- und Fortbildung: Methodische Anregungen zusammengefasst Nachdem die Dimensionen des Fremdsprachenunterrichts auf Mikro-, Meso- und Makroebene sowie ihr Zusammenspiel aufgezeigt wurden, sollen nun praktisch-me‐ thodische Ideen für Fort- und Weiterbildungen im Sinne einer kritischen Fremdspra‐ chenlehrer: innenbildung skizziert werden. In diesen praktischen Ideen sollen die in Kapitel 6.2 angesprochenen vielschichtigen Dimensionen berücksichtigt werden. Teilweise wiederholen sich diese Anregungen mit Blick auf die vorherigen Kapitel (insbesondere Kapitel 4.5), jedoch werden sie hier zusammenfassend präsentiert als mögliche Grundlage einer praxisorientierten Fort- und Weiterbildung von (kri‐ tischen) Fremdsprachenlehrpersonen. Die Ideen sind als Anregungen zu verstehen, als Startpunkt für die Konzeption von Fort- und Weiterbildungen zu einer Kritischen 230 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="232"?> Fremdsprachendidaktik. Die Bezeichnung „Startpunkt“ wählen wir hier bewusst, denn es ist zum einen notwendig, die Kontexte der teilnehmenden Lehrpersonen in die methodische Konzeption der Fort- und Weiterbildung zu integrieren, und zum anderen die hier nur angerissenen Methoden und Ansätze tiefergehend zu beleuchten. Im Hinblick auf soziale Interaktionen im Fremdsprachenunterricht oder auch in der Schule sollte es im Hinblick auf die Fortbildung und Weiterentwicklung von Fremdsprachenlehrpersonen besonders um die Struktur und die Inhalte des Fremdspra‐ chenunterrichts oder der Institution gehen (Mikro- und Mesoebene). Hinsichtlich der Inhalte können verschiedene Aspekte wie Machtgefüge in der Fremdsprache und die inhaltlichen Themen reflektiert und verändert werden. In der Struktur des Unterrichts wiederum können Interaktionen zwischen Lehrpersonen, Schüler: innen und Eltern auf Machtstrukturen und Normen hinterfragt und ggf. transformiert werden. Um dies zu erreichen, braucht es jedoch in erster Linie eine Distanzierung von den etablierten Routinen im Unterricht. Da eine zeitliche und räumliche Distanzierung aus den all‐ täglichen Strukturen des Fremdsprachenunterrichts für Fremdsprachenlehrpersonen schwerlich möglich ist, kann dies besonders durch langfristig angelegte Reflexi‐ onsgelegenheiten geschaffen werden, die alleine oder in der unterrichtsfreien Zeit gemeinsam mit Kolleg: innen genutzt werden (siehe Kapitel 2.3.4 und Kapitel 4.5). Diese Reflexionen können zum einen eigene Positionierungen zu Inhalten und Strukturen im Fremdsprachenunterricht im Sinne der Reflexion der eigenen Language Teacher Iden‐ tity bewusst machen (vgl. Gerlach/ Fasching-Varner 2020: 227; siehe Kapitel 4.3). Zum anderen können die Reflexionen aber auch entgegen der eigenen Positionierungen auf die inhaltlichen und strukturellen Normen des Fremdsprachenunterrichts abzielen, sodass Diskrepanzen zwischen der eigenen Language Teacher Identity und den äußeren Normen des Fremdsprachenunterrichts (z.B. Inhalte des Lehrplans) sichtbar werden (siehe Kapitel 2.4). Neben den folgenden Reflexionsfragen können selbstverständlich ebenfalls viele Reflexionsfragen aus diesem Studienbuch als Reflexions- und ggf. anschließendem Diskussionsanlass (auch mit Kolleg: innen) genutzt werden. Gut zu wissen: Reflexionsfragen zu Language Teacher Identity und Positionie‐ rungen • Wie möchte ich die Interaktion zwischen mir als Lehrperson, Schüler: innen und Eltern gestalten? Warum? • Welche Inhalte erachte ich als grundlegend wichtig für den Fremdsprachen‐ unterricht? Warum? • Welche sprachlichen Ressourcen der Schüler: innen möchte ich wie nutzen? • Inwiefern möchte ich Schüler: innen kontextorientiert fördern? (Und wie mache ich das? ) • Inwiefern möchte ich sensibel mit Machtgefügen im Unterricht umgehen? (Und wie mache ich das? ) • Wie möchte ich mit Diskriminierung im Gegenstand Sprache umgehen? 6.3 Perspektiven für Aus- und Fortbildung: Methodische Anregungen zusammengefasst 231 <?page no="233"?> • Welche Erwartungen gibt es von außen an die Interaktion mit Schüler: innen und Eltern? Inwiefern gibt es hier Spannungen zu meinen eigenen Position‐ ierungen? • Welche Inhalte sind im Fremdsprachenunterricht verpflichtend? Inwiefern widersprechen diese meinen eigenen inhaltlichen Relevanzsetzungen? • Inwiefern widersprechen die Anforderungen an den Fremdsprachenunter‐ richt einer Orientierung an den Kontexten meiner Schüler: innen? • Welche Diskriminierungen und Machtgefüge entstehen durch die Anforde‐ rungen von außen (z.B. mit Blick auf Prüfungen)? Gut zu wissen: Phasenübergreifende Portfolioarbeit Burwitz-Melzer (2018) schlägt für die fremdsprachliche Lehrer: innenbildung ein phasenübergreifendes Portfolio vor, das die Lehramtsstudierenden im Studium anlegen und das sie dann langfristig begleitet. Teil dieses Portfolios können Selbsteinschätzungen zu zentralen Aufgaben als Fremdsprachenlehrperson sein (z.B. angelehnt an das EPOSA, siehe Kapitel 1.2), aber im Sinne von Language Teacher Identity und der Reflexion ebenjener könnten auch autobiographische bzw. autoethnographische Essays gesammelt werden, welche zu späteren Zeit‐ punkten helfen zu reflektieren, wie der: die Schreibende sich in der Vergangenheit positioniert hat und wie diese: r sich heute positioniert. Ebenso die Antworten auf die Reflexionsfragen aus dem Kasten oben (und weitere aus diesem Buch, auch zum Reflexionszwiebelmodell aus Kapitel 2.3.4) ändern sich vielleicht im Verlauf der eigenen Berufskarriere: Denn wenn Sie mit bestimmten Überzeugungen aus der Universität in den Vorbereitungsdienst einsteigen und danach die Be‐ rufseingangsphase absolvieren, sind zunächst einmal zahlreiche andere Aspekte relevant. Darüber hinaus können vielleicht einige Überzeugungen und Ideen verloren gehen, die ihnen vorher noch wichtig waren. Das Portfolio hilft Ihnen, sich diese Überzeugungen wieder ins Gedächtnis zu rufen, sich zu positionieren und Normen von Schule und Fremdsprachenunterricht zu reflektieren, die ihnen vorher vielleicht nicht in dem Maße bewusst waren. Ein Portfolio kann, muss aber übrigens nicht analog im Papierformat angelegt werden. Es kann auch ein Ordner auf Ihrem Computer sein, in dem Sie Dateien mit Datum versehen ablegen, oder ein digitales Notizbuch auf Ihrem Tablet, das die Inhalte sicher in einer Cloud speichert, damit Sie auch in 20 Jahren noch darauf zugreifen können. Ziel der Reflexionen ist es, dass Differenzen oder Spannungen zwischen den Normen von außen und den eigenen Positionierungen zum Fremdsprachenunterricht sichtbar werden. Dadurch werden kontextspezifisch die Widersprüche im eigenen pädagogi‐ 232 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="234"?> schen Handeln klar, wie sie theoretisch auch der strukturtheoretische Ansatz zu Professionalität und Professionalisierung verdeutlicht (vgl. Helsper 2001, 2004; siehe Kapitel 2.1.1). Wie schon im Kapitel zu Professionalität und Professionalisierung (Kapitel 2) deut‐ lich gemacht wurde, sollten im Sinne einer professionellen Praxis diese Spannungen nicht aufgelöst werden, weil dadurch entweder 1) ausschließlich die Anforderungen von außen übernommen werden und eigene Positionierungen oder die der Schüler: in‐ nen außer Acht gelassen werden oder 2) die Anforderungen der Institution abgelehnt werden und man dadurch letztlich formal nicht mehr „seinem Job nachkommen“ würde. Dennoch braucht es professionelle Entscheidungen, wie mit diesen Spannun‐ gen umgegangen werden kann. Möglichkeiten sind hier sowohl Beratungen, Super‐ visionen oder Coachings, weil dadurch gemeinsam mit Kolleg: innen oder externen beratenden Personen Herausforderungen in der Praxis kontextspezifisch ausgehandelt werden können. Besonders geeignet ist hier die kollegiale Fallberatung, in der Kol‐ leg: innen jeweils eigene Fälle, d.h. Spannungen und Probleme aus der Praxis, mit in die Beratung geben und gemeinsam mit weiteren Kolleg: innen lösungsorientiert beraten. Die kollegiale Fallberatung ist gerade deswegen geeignet, weil keine externe beratende Person notwendig ist und ein klares Ablaufschema existiert, das die Umsetzung der Beratung in der Praxis vereinfacht. Auch werden Rollen und zeitliche Phasen der Beratung vorstrukturiert, die je nach Grundlagenlektüre teilweise abweichen können, dennoch in der logischen Struktur ähnlich sind (siehe Kasten). Gut zu wissen: Kollegiale Fallberatung Die kollegiale Fallberatung ist ein strukturiertes Beratungsverfahren, das ins‐ besondere im pädagogischen und sozialen Bereich Anwendung findet. Nach Franz/ Kopp (2010) zielt die Methode darauf ab, Lehrkräften in Gruppen durch systematische Reflexion und kollegiale Unterstützung eine fundierte Problemlö‐ sung zu ermöglichen. Die Methode folgt einem klar definierten Ablauf, der in mehreren Phasen erfolgt: 1. Problemstellung: Ein: e Teilnehmer: in stellt einen konkreten Fall vor, der ihm: ihr Schwierigkeiten bereitet. 2. Fragephase: Die Gruppe stellt offene, klärende Fragen zum Fall, um ein tieferes Verständnis zu erlangen. 3. Hypothesenbildung: Die Gruppe entwickelt verschiedene Hypothesen zur Situation und möglichen Ursachen des Problems. 4. Beratungsphase: Basierend auf den Hypothesen geben die Kolleg: innen konkrete Ratschläge und Lösungsvorschläge. 5. Entscheidungsphase: Der: die Fallbringer: in wählt aus den Vorschlägen die für ihn: sie stimmigsten Ansätze aus. 6. Auswertung: Die Gruppe reflektiert den Beratungsprozess und zieht Schluss‐ folgerungen für künftige Beratungen. 6.3 Perspektiven für Aus- und Fortbildung: Methodische Anregungen zusammengefasst 233 <?page no="235"?> Die kollegiale Fallberatung zeichnet sich durch einen ressourcenorientierten Ansatz aus, bei dem das Wissen und die Erfahrungen aller Teilnehmer: innen genutzt werden, um Lösungen zu finden. Nach einer solchen Beratung, aber selbstverständlich auch losgelöst davon, können z.B. zur Prüfung von Beratungsergebnissen Aktionsforschungsprojekte (z.B. in Form von Praxiserkundungsprojekten) mit gemeinsamen Unterrichtshospitationen durchgeführt werden (siehe Kapitel 4.5.3). In diesen Projekten (oder unabhängig davon) können gemeinsame Unterrichtsmaterialien entwickelt werden, um diese zu erproben. Besonders bei der Entwicklung der Unterrichtsmaterialien, aber auch bei Aktionsforschungsprojekten ist sowohl die Mikro-, Mesoals auch die Makroebene zu reflektieren, um gesellschaftspolitische Ideologien oder die Kontexte der Schule und der Schüler: innen anzusprechen (siehe Kapitel 4.5.2). Ebenso braucht es ein breites Wissen über Schule und Fremdsprachenunterricht und -didaktik, um die Unterrichtsmaterialien zu entwickeln und Aktionsforschungsprojekte durchzuführen (vgl. Gerlach/ Fasching-Varner 2020). Hier erscheint es daher sinnvoll, sich zusammen‐ zuschließen und in der gemeinsamen Aktionsforschung oder Materialentwicklung langfristig Communities of Practice zu bilden, die einerseits Sicherheit geben können bei Spannungen zwischen Normen und eigenen Positionierungen, aber auch Probleme im Unterricht multiperspektivisch reflektieren lassen (vgl. für Praxiserkundungspro‐ jekte: Legutke 2012; siehe Kapitel 4.5.3). Außer diesen kurz zusammengefassten praktischen Anregungen, die in den aus‐ gewiesenen Kapiteln dieses Studienbuchs ausführlicher dargelegt werden, sollten zusätzlich allgemeine Prinzipien von Fort- und Weiterbildung beachtet werden. Denn ein essentieller Aspekt für den Erfolg von Fort- und Weiterbildungen ist der Faktor Zeit: Fortbildungsforschung zeigt ganz deutlich (vgl. z.B. Lipowsky 2020: 54), dass besonders langfristig angelegte Maßnahmen Wirkung entfalten können. Literaturempfehlung: Merkmale wirksamer Fortbildungen (Lipowsky 2020) Der Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Merkmale, die Fortbil‐ dungen für Lehrkräfte besonders effektiv machen. Der Autor hebt hervor, dass die Wirksamkeit von Fortbildungen sich auf verschiedenen Ebenen messen lässt, wobei die wichtigste Ebene die nachhaltige Verbesserung des Unterrichts und des Lernens der Schüler: innen ist. Zu den zentralen Merkmalen wirksamer Fortbildun‐ gen gehören: 1. Verknüpfung von Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen: Effektive Fort‐ bildungen ermöglichen es Lehrkräften, neu erworbenes Wissen direkt im Unterricht auszuprobieren und anschließend zu reflektieren. 234 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="236"?> 2. Inhaltliche Tiefe: Fortbildungen sollten sich auf spezifische fachliche Inhalte konzentrieren und tief in die Materie eindringen, anstatt oberflächliche oder zu breite Themen zu behandeln. 3. Fokus auf das Lernen der Schüler: innen: Erfolgreiche Fortbildungen unterstüt‐ zen Lehrkräfte darin, die Lernprozesse ihrer Schüler: innen besser zu verstehen und zu antizipieren. 4. Beteiligung der Unterrichtsforschung: Fortbildungen, die Erkenntnisse aus der Unterrichtsforschung integrieren, haben positive Effekte auf den Unterricht und das Lernen der Schüler: innen. 5. Anwendung konkreter Handlungspraktiken: Es ist wirkungsvoll, wenn Fort‐ bildungen auf konkrete, im Unterricht häufig vorkommende Praktiken fokus‐ sieren, wie z.B. das Erteilen von Feedback oder die Gestaltung von Aufgaben. 6. Feedback an Lehrkräfte: Fortbildungen, die Lehrkräften gezieltes Feedback geben, fördern eine nachhaltige Veränderung ihres Unterrichtshandelns. 7. Erleben der Wirksamkeit: Lehrkräfte sollten in der Lage sein, die positiven Effekte ihres veränderten Unterrichtshandelns direkt zu erleben, um die Motivation und die Bereitschaft zur weiteren Verbesserung zu stärken. 8. Kooperative Unterrichtsentwicklung: Die Zusammenarbeit in professionellen Lerngemeinschaften (Communities of Practice) unterstützt die nachhaltige Umsetzung von Fortbildungsinhalten in die Unterrichtspraxis. Diese Merkmale zeigen, dass Fortbildungen, die gut geplant und durchdacht sind, einen signifikanten positiven Einfluss auf den Unterricht haben können. Gleich‐ zeitig wird betont, dass herkömmliche kurze und oberflächliche Fortbildungen in der Regel wenig wirksam sind. Wir würden uns sogar dafür aussprechen, dass Fort- und Weiterbildungen als Selbst‐ verständlichkeit in den Berufsalltag dauerhaft und regelmäßig integriert werden müssten, sodass die oben angesprochenen Spannungen, Normen und daraus resul‐ tierenden Herausforderungen kontinuierlich reflektiert und beraten werden können. Insbesondere die regelmäßige Durchführung von Fort- und Weiterbildungseinheiten könnte eine Community of Practice unter Kolleg: innen stärken und Sicherheit in der Abwägung und Aushandlung von widersprüchlichen Normen bieten. Strukturell gesehen erscheint das aktuell (noch) wie eine Utopie. Wo sollen Zeit, Raum und Geld für einen solchen Austausch herkommen? Um dies im Berufsalltag zu ermöglichen und gleichzeitig Raum für die Umsetzung von z.B. in Beratungen neu gewachsenen Ideen zu geben (hier bewegen wir uns nun auf der Meso- und Makroebene, siehe Kapitel 6.2), braucht es weniger strukturelle Zwänge (z.B. in Form von zunehmenden Verwaltungsaufgaben, Prüfungen und Testungen) sowie eine stärkere Autonomie der Lehrperson, ohne stetig wachsende Anforderungen, die charakteristisch für eine Ökonomisierung im Bildungssystem sind (vgl. Helsper 2021). Was in anderen Ländern für die professionelle Weiterentwicklung selbstverständlich ist (bei gleichzeitiger Re‐ 6.3 Perspektiven für Aus- und Fortbildung: Methodische Anregungen zusammengefasst 235 <?page no="237"?> duktion von Unterrichtsdeputat und Verwaltungsaufgaben), sollte auch an deutschen Schulen zum Zwecke der Qualitätsentwicklung und Professionalisierung ermöglicht werden. Mit Blick auf Kapitel 6.1 und wie Lehrpersonen mit bestimmten Normen des Fremdsprachenunterrichts unterschiedlich (oder überhaupt) umgehen, möchten wir nochmal hervorheben, dass verschiedene Typen von Lehrpersonen ihren Unterricht unterschiedlich gestalten und sich dieser Unterrichtsstruktur mehr oder weniger bewusst sind (vgl. Lüke 2024a). Das hat möglicherweise auch Einfluss darauf, wie kol‐ legiale Beratung funktionieren kann oder auch wie Lehrkräftebildner: innen Aus- und Fortbildung gestalten (können). So ist es für eine Lehrperson, die tendenziell eher die Normen von außen übernimmt, notwendig, die Ungewissheit, die mit der Aushandlung von Normen und Positionierungen einhergeht, auszuhalten. Hier könnte argumentiert werden, dass diese Lehrpersonen an ihrer Toleranz für Ungewissheit arbeiten könnten, z.B. durch Auslandsaufenthalte. Da solche Maßnahmen bei berufstätigen Lehrpersonen aber schwerlich umzusetzen sind, könnte das stärkere Bedürfnis nach Gewissheit z.B. durch Reflexionsanlässe bewusst gemacht und danach durch gemeinsame Bera‐ tungen mit Kolleg: innen adressiert werden. Denn wenn beispielsweise Probleme in Beratungen in einer Community of Practice thematisiert und gemeinsam Lösungsideen erarbeitet oder Aktionsforschungsprojekte mit Blick auf Spannungen geplant und durchgeführt werden, können diese Prozesse zu mehr Gewissheit für die Praxis führen. Bei Lehrpersonen, die Normen schon stärker aushandeln, braucht es eine weniger starke Förderung des Aushaltens von Ungewissheit, dafür aber eine tiefgehende Reflexion der eigenen Positionierung. Diese Typen könnten auch solche Lehrkräfte unterstützen, die Normen stärker übernehmen, um hier gemeinsam eine Distanzierung und Aushandlung von Normen z.B. auch in Form von Aktionsforschungsprojekten zu erreichen. Beratungsgespräche oder Diskussionen in Communities of Practice könnten mehr darauf setzen, dass vom Unterricht „erzählt“ wird. So bestünde die Chance, dass implizite Reflexion (siehe Kapitel 4.3), angeleitet durch Lehrkräftebildner: innen oder Kolleg: innen, möglich wird, welche die Spannungen zwischen Lehrer: innenha‐ bitus und Norm offenbart. Langfristiger Austausch, gepaart mit Reflexionen zur je individuellen Language Teacher Identity und gemeinsame Unterrichtsentwicklung scheinen der Schlüssel zu sein für einen nachhaltigen Professionalisierungsprozess und einen qualitativ gehaltvollen, bildungsorientierten Fremdsprachenunterricht, der alle Beteiligten ernst nimmt und den Lehrpersonen selbst Freude und Zufriedenheit bringt. 236 6 Der (kritische) Umgang mit Normen im (un-)kritischen Fremdsprachenunterricht <?page no="238"?> Ausblick If the structure does not permit dialogue, the structure must be changed. Paulo Freire (1996: 126) Reflexionsaufgabe In Kapitel 1 dieses Buches haben wir Sie gebeten, sich selbst in Ihrem Fremdspra‐ chenunterricht zu zeichnen - ganz so, wie Sie sich vorstellen. Erinnern Sie sich? Nehmen Sie sich diese Zeichnung nochmal vor. • Was sehen Sie? • Was fällt Ihnen auf ? • Was würden Sie - nun, nach der Lektüre dieses Studienbuches - ändern oder ergänzen? • Welche „Rollen“ spielen die Lernenden in Ihrer Zeichnung? Welche Rolle spielen Sie? • Welche Normen existieren in Ihrer Zeichnung? Wir sind in dieses Studienbuch eingestiegen mit der Kritik am US-amerikanischen Bildungssystem. Wir haben kurz die Herausforderungen thematisiert, denen das Bildungssystem im Zuge von neoliberalen Steuerungsversuchen, Standardisierung und Ökonomisierung ausgesetzt war (bzw. immer noch ist) und was das auch für potentielle Auswirkungen auf Bildungschancen und die Arbeit von Lehrpersonen haben kann. Im weiteren Verlauf haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie sich Professionalität von (Fremdsprachen-)Lehrpersonen (überhaupt) zeigen kann, welche unterschiedlichen Arten und Deutungsansätze es von Professionalität gibt und wie versucht wird, Professionalisierung zu begreifen und zu fördern. Deutlich geworden sein sollte, dass die Normen, die ganz auf Schule, Lernende und Lehrende wirken, Normen sind, die nicht selten unpädagogisch sind und nicht mit Prinzipien von Bildung in Einklang stehen, gerade wenn ökonomisierende Tendenzen und Interessen dahinterstehen. Die Praktiken, die sich daraus ergeben, sind jedoch häufig internalisiert, sie sind implizites Wissen - die Handelnden (also Lehrpersonen und Lernende) sind sich dieser Normen und Wertvorstellungen in der Regel gar nicht bewusst. Wenn ein solches Bildungssystem dann de facto Ungleichheit und Ungerechtigkeit reproduziert, sind nicht die Lehrpersonen oder die Lernenden Schuld daran - es ist das System und die Art und Weise, wie das System strukturiert ist. Leistungsorientierung ist offensichtlich eine dominante Norm sowohl in unserer Gesellschaft wie auch in unserer Schule. Allerdings produziert sie auch Ungleichheit, bedroht damit Partizipationsmöglichkeiten und verhindert potenziell Bildungsgele‐ <?page no="239"?> genheiten für die Breite der Schüler: innenschaft. Kritische Fremdsprachendidaktik haben wir als eine Idee für unsere Fächer, die modernen Fremdsprachen, vorgestellt, um auf einer inhaltlichen Ebene gegen soziale Ungleichheit und für soziale Gerechtigkeit einzustehen und Lernende in die Lage zu versetzen, Missstände zu erkennen, zu benennen und gegen sie anzugehen. Wir haben den Sprachunterricht als zentral angesehen, um durch Sprache sowohl die Analyseals auch Handlungsmächtigkeit von Heranwachsenden in diesem Sinne fördern zu können. Aber: Das System, in dem der Unterricht funktioniert, ist damit noch nicht geändert. Wir glauben jedoch daran, dass Sie als (angehende) Fremdsprachenlehrperson durchaus eine gewichtige Rolle dabei spielen können, ob Schule sich für mehr Gerechtigkeit einsetzt und Heranwachsende einen Fremdsprachenunterricht erleben, der dann im besten Fall bildend ist. Auch hierzu haben wir Ihnen einige Reflexionsmöglichkeiten im Verlauf des Buches angeboten (insbesondere in den Kapiteln 4 und 6). Denn wir glauben, dass es zum einen darauf ankommt, sich der gesellschaftlichen, bildungspolitischen und systemischen Normen bewusst zu werden, denen Sie in Ihrer Lehrer: innenbildung und der Schulpraxis „ausgesetzt“ werden. Und zum anderen, dass Sie einen Umgang mit diesen Normen finden. Das bedeutet nicht, dass Sie alle Normen von Leistungs-, Lehrwerkorientierung oder Einsprachigkeit ablehnen müssen - vielleicht gibt es Lerngruppen, die Sie unterrichten (werden), die selbst sehr leistungsorientiert sind, ein hervorragendes Lehrwerk haben und nach dem Prinzip der Einsprachigkeit geradezu „lechzen“. Es ist aber im Sinne von Kontextsensibilität unbedingt wichtig, dass Sie diese Norm nicht unreflektiert übernehmen oder - noch schlimmer - sich ihrer Macht in Ihrer eigenen Unterrichtspraxis nicht bewusst sind. Vielmehr können Sie dann gemeinsam mit Ihren Lernenden die Normen und damit verbundenen Ansprüche gemeinsam aushandeln und Fremdsprachenunterricht pädagogisch entwickeln. Die Ideen, Prinzipien und Inhalte, die wir in diesem Buch präsentiert haben, sind mit angehenden Lehrpersonen praxiserprobt und mit Englischlehrpersonen im Schuldienst in weiten Teilen empirisch untersucht. Gleichzeitig geht die Arbeit an der Idee einer kri‐ tischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung weiter und ist nie abgeschlossen. Weitere Ideen und Konzepte werden auftauchen und dieses Feld ergänzen. Daher freuen wir uns auch ganz persönlich über Ihre Erkenntnisse aus diesem Buch und Ihre Erfahrungen bei der Implementation der Prinzipien in Ihrem Studien- und Unterrichtsalltag. Wir wünschen Ihnen dabei alles Gute - und Ihren Schüler: innen viel Freude! David Gerlach & Mareen Lüke Wuppertal und Celle im August 2024 238 Ausblick <?page no="240"?> Literaturverzeichnis Abednia, A. (2012). Teachers’ professional identity: Contributions of a critical EFL teacher education course in Iran. Teaching and Teacher Education, 28(5), 706-717. Abendroth-Timmer, D. (2006). Dramapädagogik im Fremdsprachenunterricht. In C. Surkamp (Hrsg.), Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik (S. 85-87). Metzler. Abendroth-Timmer, D. (2017). 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Literaturverzeichnis 257 <?page no="259"?> Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Primäre Perspektiven und sekundäre/ meta-reflexive Perspektiven auf Lehrer: innenbildung (Cramer 2023: 17). . . . . . 45 Abbildung 2: The Widening Gyre of Second Language Teacher Education (Freeman 2009: 14). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Abbildung 3: Modell von Handlungsorientierung (Abendroth-Timmer/ Gerlach 2021: 248). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Abbildung 4: Lehrerwissen nach Neuweg (2014: 585). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Abbildung 5: Reflexiver Zyklus im ALACT-Modell (Korthagen/ Vasalos 2005: 49). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Abbildung 6: Zwiebelmodelle der Reflexionsebenen (oben: Korthagen/ Vasalos 2005, unten: Burwitz-Melzer 2018). . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Abbildung 7: Modell zur Definition und Rahmung von Reflexion (Abendroth-Timmer 2017: 111). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Abbildung 8: Modell der Transformation von Kompetenz in Performanz, vermittelt über situationsbezogene Fähigkeiten der Wahrnehmung (Blömeke et al. 2015: 312). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Abbildung 9: Elemente einer Kritischen Fremdsprachendidaktik (Gerlach 2020a: 26). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Abbildung 10: Ebenen der Kritik einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. . . 106 Abbildung 11: Tabuthemen im Fremdsprachenunterricht (Ludwig/ Summer 2023: 10). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Abbildung 12: Modell zur Förderung von Critical Literacy adaptiert nach McLaughlin/ DeVoogd (2004: 41) in Gerlach/ Lüke (2023b: 217). . 123 Abbildung 13: Prinzipien für mögliche Maßnahmen zu einer kritischen Fremdsprachenlehrer: innenbildung nach Gerlach/ Lüke (2023a: 44). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Abbildung 14: Aufgabenbeispiel aus English G 21 (Schwarz 2017: 84). . . . . . . . . 167 Abbildung 15: The multifaceted nature of language learning and teaching (The Douglas Fir Group 2016: 25). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 <?page no="260"?> Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Dimensionen professionellen Handelns von Fremdsprachenlehrpersonen (übersetzt und adaptiert nach Viebrock 2018: 44 auf Basis von Richards 2010). . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Tabelle 2: Verschiebungen im Diskurs rund um die Gestaltung von Fremdsprachenunterricht und Fremdsprachenlehrer: innenbildung am Beispiel von Englischlehrpersonen und Englischunterricht (Viebrock 2018: 53). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Tabelle 3: Beschreibung der Reflexionsniveaus (Reflexionstiefe) von Lehrpersonen im heterogenen und inklusiven Englischunterricht (aus Blume et al. 2019: 311). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Tabelle 4: Tabelle zu pädagogischen Prinzipien für die unterrichtspraktische Thematisierung von Tabuthemen nach Ludwig/ Summer (2023: 25). 125 Tabelle 5: 10 Fundamental themes and their implications for language learning and teaching (De Costa/ Norton 2017: 8). . . . . . . . . . . . . . . 228 Tabelle 6: Dimensionen des Fremdsprachenunterrichts zur Reflexion in Fort- und Weiterbildungen insbesondere zu einer Kritischen Fremdsprachendidaktik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 <?page no="261"?> BUCHTIPP “If ever there was a time to reconsider the nature and purposes of education and schooling in society - it is now.” - Allan Luke (2017) Das Ziel des Sammelbandes besteht darin, die Fremdsprachendidaktik und (angehende) Lehrkräfte dafür zu gewinnen, eine kritischere Perspektive auf ihren Unterricht einzunehmen. Lernende sollen mit ihren Bedürfnissen und Problemen in ihren lokalen Kontexten ernst genommen und im Fremdsprachenunterricht adressiert werden. Eine kritische Fremdsprachendidaktik geht damit über die Forderung nach multikultureller Bildung hinaus und versteht sich in dem Anspruch, Werte und ein soziales Bewusstsein zu vermitteln. Die Beiträger: innen beschäftigen sich in ihrer Lehre und Forschung in verschiedenen Fremdsprachen mit unterschiedlichen Gegenständen und Praktiken, die von ihnen auf ihr kritisches Potential abgeklopft werden. David Gerlach (Hrsg.) Kritische Fremdsprachendidaktik Grundlagen, Ziele, Beispiele 1. Au age 2020, 236 Seiten €[D] 29,99 ISBN 978-3-8233-8328-4 eISBN 978-3-8233-9328-3 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="262"?> ZEITSCHRIFT Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Herausgegeben von Birgit Schädlich, Karen Schramm und Britta Viebrock Mehr Informationen unter narr.de/ linguistik/ zeitschriften/ ul Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) publiziert Beiträge zu Forschung und Lehre aus allen für den Fremdsprachenunterricht relevanten Bereichen. Die Zeitschrift ist ein unverzichtbares Informationsmittel und Diskussionsforum für alle, die das Lehren und Lernen von Zweit-/ Fremdsprachen untersuchen und/ oder an Beiträgen zu dessen Verbesserung interessiert sind. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich mit einem Gesamtumfang von 288 Seiten. Die Zeitschrift ist im Abonnement sowohl für Bibliotheken als auch für Privatkunden beziehbar in den Varianten: print-only / e-only / print + online. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="263"?> ISBN 978-3-381-11671-3 Dieses Studienbuch ermutigt, den eigenen Fremdsprachenunterricht und seine Praktiken zu hinterfragen. Es führt in zentrale Aspekte einer Kritischen Fremdsprachendidaktik ein, welche zum Ziel hat, gesellschaftlich relevante Themen in einen Unterricht zu bringen, der Lernende motiviert und zum aktiven Handeln gegen soziale Ungerechtigkeit ermutigt. (Angehende) Lehrpersonen entwickeln eine kritische Distanz zu den traditionellen Gegenständen des Fremdsprachenunterrichts, reflektieren ihren eigenen Professionalisierungsprozess und entwickeln Innovationen für ihren Unterricht.