Staging Differences: Orientierungen, Kategorisierungen und Identitätspolitiken in Theater und Performance
1125
2024
978-3-3811-1782-6
978-3-3811-1781-9
Gunter Narr Verlag
Friedemann Kreuder
Benjamin Wihstutz
10.24053/9783381117826
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Das Theater der Gegenwart ist seit ca. einem Jahrzehnt immer wieder von identitätspolitischen Debatten, Konflikten und Diskursen geprägt. Dabei thematisiert Theater jene Diskurse nicht nur spielerisch, sondern wird selbst zu deren Austragungs- und Verhandlungsort. Fragen in Bezug auf Identität, Community und Humandifferenzierung betreffen sowohl Inszenierungspraktiken und -ästhetiken auf der Bühne, als auch Strukturen und Machtverhältnisse hinter den Kulissen sowie nicht zuletzt auch Performances und theatrale Darstellungsweisen auf den zahlreichen Bühnen von Politik, Fernsehen oder Sport.
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-11781-9 Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 61 Kreuder / Wihstutz (Hrsg.) Staging Differences Friedemann Kreuder / Benjamin Wihstutz (Hrsg.) Staging Differences Orientierungen, Kategorisierungen und Identitätspolitiken in Theater und Performance Das Theater der Gegenwart ist seit ungefähr einem Jahrzehnt immer wieder von identitätspolitischen Debatten, Konflikten und Diskursen geprägt. Dabei thematisiert Theater jene Diskurse nicht nur spielerisch, sondern wird selbst zu deren Austragungs- und Verhandlungsort. Fragen in Bezug auf Identität, Community und Humandifferenzierung betreffen sowohl Inszenierungspraktiken und -ästhetiken auf der Bühne als auch Strukturen und Machtverhältnisse hinter den Kulissen sowie nicht zuletzt auch Performances und theatrale Darstellungsweisen auf den zahlreichen Bühnen von Politik, Fernsehen oder Sport. <?page no="1"?> Staging Differences: Orientierungen, Kategorisierungen und Identitätspolitiken in Theater und Performance <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 61 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Friedemann Kreuder / Benjamin Wihstutz (Hrsg.) Staging Differences: Orientierungen, Kategorisie‐ rungen und Identitätspolitiken in Theater und Performance <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381117826 © 2024 · Friedemann Kreuder, Benjamin Wihstutz Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle or‐ dentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de · eMail: info@narr.de Druck und Bindung: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-381-11781-9 (Print) ISBN 978-3-381-11782-6 (ePDF) ISBN 978-3-381-11783-3 (ePub) Umschlagabbildung: Scores that shaped our friendship von Lucy Wilke, Paweł Duduś und Kim Twiddle, Foto von Martina Marini Misterioso Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 442261292 - SFB 1482. <?page no="5"?> 7 I 15 33 57 II 83 109 131 153 Inhalt Friedemann Kreuder / Benjamin Wihstutz Staging Differences. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historisierung und Aktualisierung Stefanie Hampel (Mainz) Zerteilung als zweite Natur. Über eine Ordnungsleistung zwischen Norm, Ästhetik und Natur in Goethes Regeln für Schauspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanna Voss (Mainz) „Produktion“ von Schauspielenden. Historisch kontingente Rahmungen und Konjunkturen von Humandifferenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Roth (Berlin) Abgrenzung und Überschreitung. Zur Aktualität des „Harlekin-Prinzips“ im Zeitalter der Identitätspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusion und Exklusion Friedemann Kreuder (Mainz) Un/ markiert? - Inklusive und exklusive Tendenzen im künstlerischen Aktivismus von Simone Dede Ayivis The Kids Are Alright (Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt 2024) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Azadeh Sharifi (Berlin) Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis - Lehre/ n für die deutschsprachige Theaterwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benjamin Wihstutz (Mainz) Un/ geteilte Räume. Dramaturgies of Access im Theater und an der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mirjam Kreuser (Mainz) Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Lucy Wilkes und Paweł Duduś’ Performance Scores that shaped our friendship. . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> III 179 201 229 249 Neuerfindung und Neujustierung Elena Backhausen (Mainz) Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Marina Oteros Fuck Me . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefanie Husel (Mainz) Wettstreit der Generationen? . Verhandlung, Nivellierung und Neujustierung von Differenz in (und um) She She Pops Dance Me! . . . . . . . Yana Prinsloo (Mainz) Performing Care. Zur Schnittstelle von Theater und Dienstleistung bei The Agency . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Vgl. Stefan Hirschauer: „Un/ Doing Differences. The Contingency of Social Affiliations“, in: Lisa Gaupp/ Giulia Gelillo-Hestermeyer (Ed.): Diversity and Otherness. Transcultural Insights into Norms, Practices, Negotiations, Berlin/ Munich/ Boston 2021, S.-62-95. Staging Differences Eine Einleitung Friedemann Kreuder / Benjamin Wihstutz Im Gegensatz zu naturgegebenen Unterschieden bestehen kulturelle Phäno‐ mene aus kontingenten, sinnhaften Unterscheidungen, die durch historisch und geografisch spezifische Kontexte geprägt sind. Diese sinnhaften Unter‐ scheidungen sind sozial konstruiert und werden auf verschiedene Dinge wie Pflanzen, Tiere, Artefakte oder Krankheiten angewandt. Viele Unterschei‐ dungen wie etwa Mensch, Tier oder Maschine, schwarz, weiß oder indigen, männlich, weiblich oder divers, sind dabei hochgradig soziopolitisch aufgeladen und prägen zahlreiche Debatten der Gegenwart. Die gesellschaftlich interessan‐ testen und häufig kontroversesten Unterscheidungen sind dabei diejenigen, durch die sich die Unterscheider*innen selbst voneinander unterscheiden. Dieser Prozess markiert die sozialen Zugehörigkeiten der Klassifizierer*innen, definiert die Zusammensetzung von Gruppen, schreibt Individuen Formen der Mitgliedschaft zu und subjektiviert sie durch spezifische kulturelle Kategorien. 1 Das Theater vermag diese Unterscheidungen zu verhandeln, indem es sie szenisch oder performativ verstärkt oder dekonstruiert, soziale Kategorien oder Zugehörigkeiten stereotypisiert oder die Doppelung von Präsenz und Repräsentation gezielt dazu nutzt, mit jenen Askriptionen von Identitäten und Klassifikationen zu spielen. Doch auf welche Weise werden Differenzen und soziale Kategorien im Theater durch ein solches Staging Differences verstärkt oder verflüssigt, reflektiert oder verworfen? Mit welchen Unterscheidungen und Kategorisierungen operieren Theaterschaffende auf, vor und hinter der Bühne und inwiefern spiegeln sich diese auch in Arbeitsverträgen, Infrastruk‐ turen, Dramaturgien und Schauspielkonventionen wider? Wo widersprechen <?page no="8"?> 2 Der Großteil der hier versammelten Beiträge gehen auf Forschungen des Mainzer DFG-Sonderforschungsbereich 1482 Humandifferenzierung und dessen Umfeld zurück. Friedemann Kreuder leitet darin das Teilprojekt Staging Differences und Benjamin Wihstutz leitet das Teilprojekt Disability Performance als Humandifferenzierung. Ent‐ sprechend gilt unser Dank an dieser Stelle auch der Förderung dieser Publikation durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Außerdem danken wir Clemens Brill als studentischer Hilfskraft für die hervorragende Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Buches. 3 Vgl. Hirschauer, Un/ Doing Differences, S.-66. sich sinnhafte Unterscheidungen in verschiedenen Kontexten und Bereichen des Theaters und inwieweit lassen sich historische Konjunkturen bestimmter Praktiken der Unterscheidung am Theater und seiner Geschichte identifizieren? Fragen wie diese werden in diesem Band diskutiert und theaterwissenschaftlich und performancetheoretisch anhand einzelner Fallbeispiele erörtert. Das Konzept der ‚Humandifferenzierung‘ 2 ist ein analytischer Rahmen, der für die Vielschichtigkeit und Kontingenz der Kategorisierung von Gesellschafts‐ mitgliedern offen ist. Dieser Rahmen verlagert den Fokus der soziologischen Aufmerksamkeit weg von der sozialen Position von Individuen und der Bildung von Gruppen mit bestimmten individuellen ‚Eigenschaften‘ hin zu denjenigen Unterscheidungen, die zwischen Individuen in sozialen Prozessen von unter‐ schiedlicher Dauer gemacht werden. Dieser Rahmen ermöglicht vergleichende Forschung im Hinblick auf die elementare Frage: Welcher Unterschied ist wann (ir)relevant? Nimmt man die Kontingenz der Unterscheidungen genauer in den Blick, ergibt sich, dass sie gemacht oder nicht gemacht, aufrechterhalten oder untergraben werden und, wenn sie auf andere Unterscheidungen treffen, verstärkt oder auch ganz ersetzt werden können. Forschungsdesiderat der ‚Humandifferenzierung‘ ist also nicht nur das Zusammentreffen bestimmter vorgegebener Differenzachsen (wie ‚Rasse‘, ‚Klasse‘ und ‚Geschlecht‘ in der Intersektionalitätsforschung) oder die individuelle Überschreitung bestimmter Binarismen (Hybridität), sondern ein komplexes empirisches Zusammenspiel sinnhafter Unterscheidungen: das ständige Verschieben mehrerer Kategorisie‐ rungen zwischen Verstärkung und Verdrängung, Stabilisierung und Vergessen, Thematisierung und De-Thematisierung. 3 Das heißt, Prozesse der Humandiffe‐ renzierung sind nicht nur diskursive Effekte, kognitive Schemata oder Fälle theoretischer Essentialisierung, wie oft in den kulturwissenschaftlichen Diszip‐ linen angenommen wird. Vielmehr handelt es sich um praktisch ausgeführte ‚Realwelt-Essentialisierungen‘, die sowohl körperlich als auch situativ mate‐ rialisiert sind und institutionell verfestigt werden. Und es ist diese sozial konstruierte Faktizität von Humandifferenzierungen in the making, die der 8 Friedemann Kreuder / Benjamin Wihstutz <?page no="9"?> 4 Vgl. ebd., S.-79. 5 Vgl. Steffen Mau/ Thomas Lux/ Linus Westheuser (Hg.): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht wurden identitätspolitische Debatten, die auf das Gegenwartstheater übergreifen, in unterschiedlichen Publikationen behandelt; erwähnt seien hier: Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute, Berlin 2020; Ulf Otto/ Johanna Zorn (Hg.), Ästhetiken der Intervention. Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters, Berlin 2022. 6 Zur Blackface-Debatte siehe etwa Joy Kristin Kalu, „Dein Blackface ist so langweilig! Was das deutsche Repräsentationstheater von den Nachbarkünsten lernen kann“, Vor‐ tragstext, veröffentlicht auf www.nachtkritik.de am 16.11.2014 sowie Azadeh Sharifi, „Institutioneller und struktureller Rassismus im Theater“, in: Onur Suzan Nobrega/ Mat‐ thias Quent/ Jonas Zipf (Hg.), Rassismus. Macht. Vergessen. Von München über den NSU bis Hanau: Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors, Bielefeld 2021, S.-331-341. 7 Am 5. Februar 2021 veröffentlichten 185 Schauspieler*innen im Magazin der Süddeut‐ schen Zeitung ein Coming Out, das mit dem Hashtag #Actout verknüpft wurde und in dem sich die Schauspieler*innen für mehr schwule, lesbische, queere, trans* und Inter- Rollen, Figuren und Texte im Theater, Film und Fernsehen aussprachen. 8 Zur Geschichte des Schauspiels als Spiel mit Identitäten siehe Friedemann Kreuder, Spielräume der Identität in Theaterformen des 18.-Jahrhunderts, Tübingen 2010. vorliegende Band als zukünftiges Forschungsgebiet von Theaterwissenschaft und Performance Studies vorzuschlagen sucht. 4 Nun ist das Theater der Gegenwart seit mehr als einem Jahrzehnt von identitätspolitischen Debatten, Konflikten und Diskursen geprägt. Dabei the‐ matisiert und erfasst Theater jene Diskurse nicht nur spielerisch, sondern wird selbst zum Austragungs- und Verhandlungsort von „Triggerpunkten“ 5 : Sei es die 2012 entfachte Blackfacing-Debatte 6 , die #MeToo- und Rassismus-Skandale verschiedener Regisseur*innen und Ensembles, Diskussionen über Inklusion und Barrierefreiheit, das #Actout bekannter Schauspieler*innen 7 oder die Frage, wer welche Rollen auf der Bühne verkörpern darf und soll. Die Beispiele zeigen: Fragen in Bezug auf Identität, Community und Humandifferenzierung betreffen Theater und Performance auf vielfache Weise: Sowohl Inszenierungspraktiken und -ästhetiken auf der Bühne, als auch Strukturen und Machtverhältnisse hinter den Kulissen sowie nicht zuletzt Performances auf Bühnen außerhalb des Kunsttheaters, wie z. B. Wettbewerbe, Fernsehshows oder Auftritte in sozialen Medien, haben mit einem Staging Differences zu tun. Zugleich ist Theater seit jeher durch Figuration und Schauspiel an Auseinandersetzungen und Reflexionen mit Identitäten und sozialen Rollen gebunden, weshalb gerade Fragen der Unterscheidung zwischen Menschen theatral verhandelt werden. 8 Ausgehend vom Theater als Ort und Praxis eines Staging Differences versam‐ melt der vorliegende Band die Analysen unterschiedlicher Fallbeispiele und fragt danach, auf welche Weise Identitäten und Praktiken sozialer Kategorisie‐ Staging Differences 9 <?page no="10"?> 9 Sara Ahmed hat im Rahmen ihrer Arbeiten zu einer kritischen Phänomenologie den Begriff der Des/ Orientierung in den phänomenologischen Diskurs eingebracht, um anthropologisch-philosophische Fragen von Raum- und Genderaufteilungen zu queeren. Vgl. Sara Ahmed, Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Duke University Press 2006, S. 25-108 sowie aus theaterwissenschaftlicher Sicht: Mirjam Kreuser, Crip-queere Körper. Eine kritische Phänomenologie des Theaters, Bielefeld 2023, S.-34-56. 10 Vgl. José Esteban Muñoz, Dis/ identifications. Queers of Color and Performance of Politics, University of Minnesota Press 1999. rung und Differenzierung in Theater und Performance verhandelt und erzeugt werden. Grundannahme ist, dass Theater nicht allein als Spiegel der Gesellschaft und kulturelle Organisation, sondern auch als Ort und Praxis kollektiver Erfahrung, Affektion und Orientierung 9 , der Dis/ identifikation 10 sowie eines utopischen Un/ Doings und World-Buildings fungieren kann. Staging Differences verweist somit sowohl auf vergangene und gegenwärtige als auch zukünftige Verhandlungen von normativen sowie nicht-normativen (z. B. feministischen, queeren, crip, neuroqueeren und BIPoC-) Positionierungen und Praktiken der Humandifferenzierung und vermag diese zu kritisieren, zu dekonstruieren oder zu reproduzieren. Bürgertum und Arbeit, Klasse und Herkunft, Behinderung und sexuelle Orientierung, Alter und Leistung sind Kategorien von Unterschei‐ dungen auf und hinter der Bühne, die es gilt, aus theaterwissenschaftlicher Sicht zu beleuchten. Der vorliegende Band gliedert sich in drei Sektionen: In einem ersten Teil (Kapitel 1-3) werden zentrale Motive eines Staging Differences historisiert und mit den Diskursen der Gegenwart verknüpft. So stellt sich die Frage nach der Geschichte des Schauspiels der darauf bezogenen kontingenten Rahmungen und Konjunkturen der Humandifferenzierung und der Konstruktion von Nor‐ malität (Kapitel 1 von Stefanie Hampel und Kapitel 2 von Hanna Voss) ebenso auf neue Weise, wie die Frage nach Relevanz und Bewertung des Harlekin-Prin‐ zips als grenzüberschreitendem Phänomen für die Theaterwissenschaft im Zeitalter der Identitätspolitik (Kapitel 3 von Hans Roth). Vor der Folie solcher Historisierungen und Genealogien können aktuelle Debatten um Identität und Diskriminierung mithilfe einer Theatergeschichte der Gegenwart aus kritischer Distanz betrachtet werden. Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit Fragen von In- und Exklusion in Theater und Theaterwissenschaft, dazu gehören etwa die Marginalisierung postmigrantischer und Romn*ja Stimmen im Theater (Kapitel 4 von Friedemann Kreuder und Kapitel 5 von Azadeh Sharifi), neue Dramaturgien im Zeichen von Barrierefreiheit (Kapitel 6 von Benjamin Wihstutz) oder das Verhältnis 10 Friedemann Kreuder / Benjamin Wihstutz <?page no="11"?> von Intimität und Behinderung als crip-queere Utopie (Kapitel 7 von Mirjam Kreuser). Die dritte Sektion „Neuerfindungen und Neujustierungen“ beginnt mit einem weiteren Beitrag über Behinderung und Sexualität, hier jedoch in Bezug auf die Temporalität von Beeinträchtigungen und kritische Potenziale des Cripping Up (Kapitel 8 von Elena Backhausen). In Kapitel 9 (Mita Banerjee und Ruth Gehrmann) geht es um die Neuausrichtung der Fernsehshow Germany’s Next Topmodel auf Diversität und Successful Aging, gefolgt von einem Beitrag über den inszenierten Wettstreit zwischen Jung und Alt bei She She Pop (Kapitel 10 von Stefanie Husel) und einer Neubewertung von Theater als Arbeit und Dienstleistung bei The Agency (Kapitel 11 von Yana Prinsloo). Insgesamt ergibt sich so ein vielschichtiges, komplexes Bild unterschiedlicher Praktiken, Prozesse und Konjunkturen der Humandifferenzierung in theatralen Kontexten, das hier erstmals als Neuperspektivierung theaterwissenschaftlicher Forschung in ihrer Vielseitigkeit vorgestellt werden soll. Staging Differences 11 <?page no="13"?> I Historisierung und Aktualisierung <?page no="15"?> Zerteilung als zweite Natur Über eine Ordnungsleistung zwischen Norm, Ästhetik und Natur in Goethes Regeln für Schauspieler Stefanie Hampel (Mainz) Dieser Beitrag befasst sich in einem historischen Rückgriff mit Goethes Regeln für Schauspieler (1803) als einem Begründungsversuch ästheti‐ scher Subjekte. Dabei ist das Weimarer Hoftheater auf Basis neuerer Forschungen zunächst als Disziplinierungsinstitution im Sinne Michel Foucaults zu lesen. Dass diese Kulturinstitution auch mit der Produk‐ tion eines bestimmten ‚Körpertypus‘ korrespondiert, wird anhand einer detaillierteren Untersuchung der Regeln im Hinblick auf ihre Ästhetik der Disziplin deutlich: Aufgrund der mit Vehemenz durchgesetzten Goethe’schen Regeln kommt es mit der Zerteilung des Schauspielkörpers in Raum und Zeit zur „Einverleibung“ der Regeln in die Körper. Damit jedoch der Schauspielkörper als „organisch“ lesbar werden kann, ist Fou‐ cault zufolge eine „Ablösung vom Mechanischen“ vonnöten. Anhand von Goethes Auffassung einer „zweiten Natur“ gilt es, diesen Ablösungsprozess nachzuvollziehen. In diesem Terminus der „zweiten Natur“ treten Natura‐ lisierung von Kulturellem, Disziplin und Ästhetik in Praxis zusammen und entwerfen so zum einen den Schauspielkörper als diszipliniertes wie ästhetisches Subjekt, zum anderen produziert er Differenz auf Basis eines Homogenitätsentwurfs. Aus einem Konglomerat heterogen erscheinender Menschen eine homogen wirkende Masse zu formen, schien auch für Johann Wolfgang von Goethe kein einfaches Unterfangen zu sein. Werden in älteren Forschungsarbeiten die Mittel Goethes noch als ein „unendliche[s] geduldige[s] Ringen mit den <?page no="16"?> 1 Tim Zumhof, Die Erziehung und Bildung der Schauspieler. Disziplinierung und Moralisie‐ rung zwischen 1690 und 1830, Wien/ Köln/ Weimar 2018, S. 428, an der Stelle (nicht weiter kommentierend) verweisend auf die Sicht von Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, Bd. 5, Salzburg 1962, S. 174, dessen Naturalisierung von Goethes Theaterarbeit im Lichte des ingeniösen Scheins typisch ist für die nationalsozialistische Härtung des Geniedispositivs in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft, ausführlicher dazu vgl. Birgit Peter/ Martina Payr (Hg.), „Wissenschaft nach der Mode“? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943, Wien 2008: Lit. 2 Jutta Linder, Ästhetische Erziehung. Goethe und das Weimarer Hoftheater, Bonn 1990, S.-34. 3 Birgit Wiens, ‚Grammatik‘ der Schauspielkunst. Die Inszenierung der Geschlechter in Goethes klassischem Theater, Tübingen 2000, S.-143f. 4 Ebd. 5 Klaus Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote. Über die schau‐ spielerischen Unkosten des autonomen Kunstbegriffs“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 21: 2 (1996), S.-66-112, hier S.-68. 6 Vgl. „Weimarer Theatergesetze vom 7. März 1793. Theater Gesetze für die Weimarsche Hof-SchauspielerGesellschaft“, in: Linder, Ästhetische Erziehung, S. 136-140. Weiterhin führt Linder auch die verschärften Theatergesetze von 1808/ 1812 auf, siehe dazu S.-149-153. 7 Denn auch beispielsweise in Mainz, Neuwied, Wien, Hamburg, Riga, Mannheim und Prag hatte es Theatergesetze gegeben, um z. B. die Probenabläufe zu regeln, vgl. Zumhof, Die Erziehung und Bildung der Schauspieler, S.-321, S.-425. 8 Schwind berichtet von Arrest, Geldstrafen und Tod durch Auszehrung, vgl. Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“, insbes. S. 78. Linder schließt von unwilligen Schauspielern“ 1 aufgefasst, betonen hingegen Publikationen ab den 1990er-Jahren den disziplinarischen Charakter des Weimarer Hoftheaters, wie es sich ab 1791 unter der Leitung Goethes entwickelte. So fasst Jutta Linder bei‐ spielsweise die Mittel Goethes als „drastische […] Disziplinarmaßnahmen“ 2 an den Schauspieler*innen auf. Auch Klaus Schwind wird expliziter: Er beschreibt das von Birgit Wiens als „Institution der umfassenden Kontrolle aller ästhe‐ tischen, ethischen und ökonomischen Gegebenheiten“ 3 und als „Gefängnis“ 4 bezeichnete Weimarer Hoftheater als ein „Überwachungs- und Strafsystem“ 5 . Dabei bezieht sich Schwind vor allem auf die drakonischen Strafen Goethes, die den Schauspieler*innen bei Übertretung der herrschenden Theatergesetze drohten bzw. die sie erfuhren. So verordneten die ab 1793 geltenden Gesetze für die Weimarsche Hof-SchauspielerGesellschaft beispielsweise Pünktlichkeit und Nüchternheit im Probenbetrieb, Vollständigkeit der Requisiten und Kostüme oder das Verbot zur Improvisation. Bei Nichteinhaltung drohten Geldstrafen oder gar Entlassungen. 6 Dabei sind solcherlei „Theatergesetze“ kein Einzelfall oder Novum des Weimarer Hofs, wie Tim Zumhof expliziert. 7 Und dennoch erschienen Goethes Maßnahmen auch seinen Zeitgenossen keineswegs als selbstverständlich. 8 Mit teilweise herrischsten Methoden suchte Goethe wohl 16 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="17"?> der Reaktion August Wilhelm Ifflands auf den Ausnahmecharakter der Maßnahmen, vgl. Linder, Ästhetische Erziehung, S.-34. 9 Herzog Carl August Ende März 1809, Goethe-Akten, 30/ 132 Stiftung Weimarer Klassik, Goethe- und Schiller-Archiv, zitiert nach Klaus Schwind, „‚No laughing! ‘ Autonomous Art and the Body of the Actor in Goethe’s Weimar“, in Theatre Survey 38: 2 (1997), Fußnote 17. 10 „Daß all diese Aufgaben Goethe zufielen und somit in einer Hand lagen, ist so selbstverständlich nicht, denn andernorts wie etwa in Mannheim und besonders in Wien wurde seinerzeit vieles von einem regulären Schauspielerausschuß übernommen“ (Linder, Ästhetische Erziehung, S.-29). 11 Vgl. W. Daniel Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991, S. 263; sowie Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“, S.-68. 12 Goethe zitiert nach Johann Peter Eckermann, „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, in: Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe (MA), Bd. 19, hg. Heinz Schlaffer, München/ Wien 1986, S.-505. 13 Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“, S.-66, Herv. im Original. 14 Annemarie Matzke, Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S.-134. 15 Ebd. seine Regeln durchzusetzen, sodass Carl August die Maßnahmen als „Göthe‐ schen Unsinn, u. die ethisch poetisch moralisch politisch Einkleidung seiner Herrschsucht, u. tirannei“ 9 bezeichnete. So zentrierte sich die Organisation des Hoftheaters in der einen Person Goethes, 10 dem als „Kulturminister“ in einem absolutistischen Kleinstaat die Verfügung über die Schauspieler*innen zukam. 11 Johann Peter Eckermann zufolge bekannte Goethe später, „daß der Großherzog mir die Hände durchaus frei ließ, und ich schalten und machen konnte, wie ich wollte.“ 12 Schwind konstatiert: „Im Dienste der ‚Kunst‘ fungieren Goethes ‚Theatergesetze‘ als paradigmatisches Disziplinierungsinstrument, dessen codi‐ fizierte Bewegungs- und Wahrnehmungsanleitungen über die Schriftsprache in den Körper-Ausdruck der Schauspieler mit ‚Gewalt‘ eingeschrieben werden sollen.“ 13 So ist das Weimarer Hoftheater als eine jener Disziplinierungsinstitutionen des 18. Jahrhunderts zu lesen, wie sie Michel Foucault in seiner 1975 erstmals erschienenen Monografie Überwachen und Strafen beschreibt. Auch Annemarie Matzke beispielsweise, die sich in ihrer Abhandlung über Arbeit am Theater u. a. auf den Probenbetrieb des Weimarer Hoftheaters in Form seiner panoptischen Topologie fokussiert, untersucht „die Probe als eine spezifische Beobachtungs‐ konstellation“ 14 mit „Goethe als Zentrum“ 15 . Nebst dem Panoptismus untersucht Foucault in seiner Arbeit eine neue Art von Maßnahmen, die sich tief in die zu disziplinierenden Subjekte und in deren Körper einschreiben. Diese Zerteilung als zweite Natur 17 <?page no="18"?> 16 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 2021, S.-178. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Dieter Borchmeyer, „Saat von Göthe gesäet… Die ‚Regeln für Schauspieler‘ - ein theatergeschichtliches Gerücht“, in: Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18.-Jahrhundert. Grundlagen - Praxis - Autoren, Stuttgart, S.-261-287, hier S.-263. 20 Anonymous [Carl Wilhelm Reinhold], Saat von Goethe gesäet dem Tage der Garben zu reifen. Ein Handbuch für Ästhetiker und junge Schauspieler, Weimar/ Leipzig 1808, S. 20. Maßnahmen definierten „eine bestimmte politische und detaillierte Besetzung des Körpers, eine neue ‚Mikrophysik der Macht‘“ 16 . Um sie zu beschreiben, müsse man bereit sein, „im Detail auf der Stelle zu treten“ 17 , denn „[d]ie Disziplin ist eine politische Anatomie des Details.“ 18 Über die Begründung einer „eyerhaften“ Homogenisierung Insbesondere die 1803 von Goethes Schüler Pius Alexander Wolff nach Goethes Vorträgen schriftlich fixierten Regeln für Schauspieler möchte ich in einem ersten Schritt als eines dieser Details der Körpereinschreibung untersuchen. Die Regeln fixieren insbesondere die ‚Ästhetik der Disziplin‘ und zeichnen dabei das Bild eines durch ‚Parzellierung von Zeit und Raum‘ vollkommen disziplinierten Schauspielkörpers, dessen Teile durch diese Regeln ‚besetzt‘, beinahe ‚zersetzt‘ und anschließend ‚neu zusammengesetzt‘ zu einem ästhetischen Ideal werden. In ihrer Kombination von Raum- und Zeitkomponenten zielen die Goethe’schen Regeln auf ein bestimmtes Bewegungs- und Körperbild ab, das über den Bühnenraum und die Aufführungsdauer hinausreicht. So wird die gesamte Institution des Weimarer Hoftheaters als ein Mikrokosmos der praktizierten Produktion eines ‚Typuskörpers‘ sichtbar. Ich möchte mich an dieser Stelle aber weniger auf das Hoftheater als Institu‐ tion beziehen, sondern vielmehr auf die Subjektentwürfe wie die Normierungs‐ prozesse von Körpern, die mit der (versuchten) Durchsetzung dieser Regeln stattfinden. Auch Goethes Zeitgenossen scheinen diese Homogenisierungsprak‐ tiken wahrgenommen zu haben. So kam es beispielsweise im Jahr 1808 zu einem anonymen Pamphlet der Regeln durch den zuvor entlassenen Schauspieler Carl Wilhelm Reinhold. 19 In ihrer Zuspitzung parodiert dessen „Dritte Regel“ ebenjene Normierung in Goethes Ästhetik: „Im hohen Trauerspiel muß sich alles, Vater und Sohn, Greis und Jüngling, Mann und Weib gleichförmig regen und bewegen. Die heterogensten Charaktere müssen sich so ähnlichen, wie ein Ey dem andern […].“ 20 18 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="19"?> 21 Goethe, „Regeln für Schauspieler“, in: Goethe, MA, Bd. 6.2, hg. Victor Lang et al., München/ Wien 1988, S. 703-745, §75. Auch im Folgenden beziehe ich mich auf die Eckermann’sche Paragraphierung. 22 Ebd, §63, §81. 23 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S.-251-294. 24 Vgl. Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“; sowie Schwind, „‚No laughing! ‘. 25 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S.-201. 26 Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §34. Dabei erstreckt sich diese „eyerhafte“ Homogenisierung den Regeln gemäß bis in das Alltagsleben der Schauspieler*innen: „Der Schauspieler soll auch im gemeinen Leben bedenken, daß er öffentlich zur Kunstschau stehen werde.“ 21 Damit ist der Schauspielkörper im Weimarer Hoftheater unter der Leitung Goethes ein Köper der besonderen Sichtbarkeit. Nicht nur das Publikum, die Öffentlichkeit und die Argusaugen Goethes sollen als Beobachtungsinstanz fun‐ gieren, sondern auch die Schauspieler*innen selbst bei sich und untereinander: Man stelle sich vor einen Spiegel und spreche dasjenige, was man zu declamieren hat […]. [ J]a selbst wenn er [der Schauspieler, S.H.] für sich oder mit Seinesgleichen bei’m Essen zu Tische sitzt, soll er immer suchen, ein Bild zu formieren, alles mit einer gewissen Grace anfassen, niederstellen etc. […] 22 , so heißt es in den Regeln. Goethe imaginiert also einen bereits internalisierten, automatisierten und von einer individuellen Person losgelösten Blick, ähnlich wie Foucault ihn in seinem Kapitel über den Panoptismus beschreibt. 23 De facto zentralisierte sich jedoch die Kontrollinstanz noch so sehr in Goethes Person, dass diese bei all ihrer Mühe mehrfach eingreifen und regulieren musste, um die Regeln durchzusetzen. 24 Zur Herstellung des ästhetisierten Schauspiel-‚Typuskörpers‘ greift Goethe, so der zweite Schritt meiner Überlegung, auf eine ihm bereits bestens bekannte Ordnungsleistung zurück: die Natur. Denn damit sich die Disziplinierung gänzlich in die Schauspielkörper einschreibe, wie Goethe es fordert, bedürfe es laut Foucault einer Ablösung vom Mechanischen, sodass der Körper als „na‐ türlich“ lesbar werde. 25 Zu diesem Zwecke greift Goethe auf die übergeordnete kosmologische Struktur der sogenannten „zweiten Natur“ 26 zurück, die ich in einem zweiten Schritt als eine ‚Naturalisierungsstrategie‘ der Ästhetisierung, Disziplinierung und Homogenisierung untersuchen möchte. Zerteilung als zweite Natur 19 <?page no="20"?> 27 Wiens, ‚Grammatik‘ der Schauspielkunst, S.-146. 28 Friedrich Schiller, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, in: Schiller - Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe (BA), Bd. 5, hg. Hans-Günther Thalheim, Berlin 2005, S.-7-15, hier S.-10. 29 Goethe an Schiller, am 4. Mai 1800. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Briefe. Histo‐ risch-kritische Ausgabe, 1799-1800, Bd. 14, hg. Johannes Barth/ Georg Kurscheidt, Berlin 2021, S.-232. 30 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/ Basel 1993, S. 147; zur weiteren Kontextualisierung insbesondere in Bezug zum Publikum vgl. auch Benjamin Wihstutz, „Urteilende Zuschauer. Über Geschmack und Öffentlichkeit um 1800“, in: Matthias Grotkopp/ Hermann Kappelhoff/ Benjamin Wihstutz (Hg.), Ge‐ schmack und Öffentlichkeit, Diaphanes 2019, S.-103-120, insbes. S.-105. 31 Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“, S.-66. 32 Foucault, Überwachen und Strafen, S.-173. 33 Vgl. Goethe, „Tag- und Jahres-Hefte“, in: Goethe, MA, Bd. 14, hg. Reiner Wild, München/ Wien 1986, S.-7-322, hier S.-102, meine Herv. 34 Matzke, Arbeit am Theater, S.-139. Parzellierung von Raum und Zeit Gebündelt bringen die Regeln für Schauspieler in der Eckermann’schen Fas‐ sung auf den Punkt, was Goethe ästhetisch anstrebte: die Etablierung des „Bildungs-/ Inszenierungsgestus der neuen Norm“ 27 , die sich dem bürgerlichen Illusionstheater, dem „Naturalism“ 28 in Schillers Diktion, entgegenstellt. Gering‐ schätzig äußerte auch Goethe sich beispielsweise bei einem Theaterbesuch in Leipzig: „Der Naturalismus und ein loses, unüberdachtes Betragen, im Ganzen wie im Einzelnen, kann so nicht weitergehen. Von Kunst und Anstand keine Spur.“ 29 Vielmehr sollte eine ästhetische Distanz zum Publikum geschaffen werden, wodurch Einfühlung verhindert, und eine symbolische Wirklichkeit kreiert würde. 30 Der Schauspielkörper diene dabei als eine Art „Probedurchlauf für die ‚höhere‘ Bildungsarbeit am zukünftigen ‚bürgerlichen‘ Menschen“ 31 , so Schwind. Der Nutzen der ästhetischen Umformung der Körper liegt somit in der humanistischen Bildung des Menschengeschlechts. Der Schauspielkörper wird zum ‚Typuskörper‘ Mensch. Als Grundlage für die Herausbildung eines gelehrigen Körpers dient Foucault zufolge zunächst der maschinelle Körper. Dazu beginne man mit „einem form‐ losen Teig, aus einem untauglichen Körper macht man die Maschine, deren man bedarf “ 32 . Als im Jahr 1803 also die beiden neuen und insbesondere „jungen“ 33 sowie „nicht vorgebildete[n]“ 34 Schauspielschüler Pius Alexander Wolff und Karl Franz Grüner nach Weimar kamen, begann Goethe die von ihm in seiner 20 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="21"?> 35 Goethe an Zelter, am 10. Oktober 1803. Vgl. Goethe, MA, Bd. 20.1, hg. Hans-Günter Ottenberg/ Edith Zehm, München/ Wien 1991, S.-57. 36 Vgl. Goethe, „Tag- und Jahres-Hefte“, in: Goethe, MA, Bd. 14, hg. Reiner Wild, München/ Wien 1986, S.-7-322, S.-102. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S.-181, S.-192. 40 Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §85. 41 Ebd., §80. 42 Ebd. §38. 43 Ebd., §37. 44 Ebd., §58. „Theaterschule“ 35 praktizierte „Grammatik“ 36 von Wolff protokollieren zu lassen, „so daß ich [Goethe, S.H.] selbst klärer über ein Geschäft ward, dem ich mich bisher instinktmäßig hingegeben hatte.“ 37 Auf Basis von Wolffs Notizen würden dann die Regeln für Schauspieler entstehen. Wolff, „bisher zum Handelsstande“, Grüner bis dahin „zum Militair zu rechnen“ 38 , begannen so ihre Ausbildung bei Goethe. Dabei ist anhand von Foucaults Überlegungen die Zerteilung von ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ als einer der zentralen Prozesse zur Produktion gelehriger Körper anzusehen. 39 Auf Basis der Modifikation dieser beiden Dimensionen schreibt sich die Disziplin tief in die zu konstituierenden Subjektkörper ein. Goethe sieht eine ‚Abteilung‘ des Körpers von seiner Umgebung sowie eine ‚Zerteilung seines Umraums‘ vor: Zum einen soll das Bühnengeschehen gemäldegleich in einem abgeschlossenen, ganzheitlichen Rahmen stattfinden. Ins Proszenium zu treten sei „der größte Mißstand; denn die Figur tritt aus dem Raume heraus, in‐ nerhalb dessen sie mit dem Scenengemählde und den Mitspielenden ein Ganzes macht.“ 40 Räumliche Kompositionen und Arrangements von Personengruppen gilt es laut den Regeln ebenso „außerhalb der Bühne […] zu erhalten“. 41 Zum anderen kommt es zu einer ‚zirkulären‘ Zerteilung des Umraums des einzelnen Schauspielkörpers. Damit das Publikum eine reflektierende Distanz zum Büh‐ nengeschehen halten kann, gilt es, dieses bei einer Aufführung permanent zu adressieren: „Der Schauspieler muß stets bedenken, daß er um des Publikums willen da ist.“ 42 Zu diesem Zwecke solle zudem beachtet sein, „daß immer dreiviertheil vom Gesicht gegen die Zuschauer gewendet ist.“ 43 Wenn Goethe sich eines Terminus des Balletts bedient („en face“ 44 ), liegt ebenso eine Zerteilung sowie eine Zentralisierung des zirkulären individuellen Umraums zu Grunde. Des Weiteren wird nicht nur der ‚zirkuläre‘ Körperumraum, sondern zudem der ‚Bühnenraum‘ selbst parzelliert: Der Schauspieler könne, so die Regeln, Zerteilung als zweite Natur 21 <?page no="22"?> 45 Ebd., §87. 46 Ebd. §87. 47 Foucault, Überwachen und Strafen, S.-183. 48 Ebd. 49 Vgl. dazu auch Wiens, ‚Grammatik‘ der Schauspielkunst, S.-148. 50 Foucault, Überwachen und Strafen, S.-262. 51 Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“, S.-110. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §3, §15, §19, §21. 54 Vgl. den Bericht von Julius Wahle, Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung, Weimar 1892, S.-166-f. in seinen Gedanken das Theater in verschiedene Räume theilen, welche man zum Versuch auf dem Papier durch rhombische Flächen vorstellen kann. Der Theaterboden wird alsdann eine Art von Damenbrett; denn der Schauspieler kann sich vornehmen, welche Casen er betreten will […]. 45 Durch das Vorzeichnen der rhombischen Flächen auf Papier könne sich der Schauspieler gewiss sein, „daß er bei leidenschaftlichen Stellen nicht kunstlos hin und wider stürmt“ 46 . Die Parzellierung des Raums gehe, so Foucault, „gegen die ungewissen Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen“ 47 . Jedem Spieler eine Case, „[j]edem Individuum seinen Platz und auf jedem Platz ein Individuum.“ 48 Durch diese Isolation und durch die Parzellierung des Bühnen- und körpereigenen Umraums kommt es zur Vergleich-, Modifizier- und Reproduzierbarkeit der Schauspieler*innen. 49 Dadurch wird der Bühnenraum zu einer Art Laborato‐ rium, das „zur Veränderung des Verhaltens, zur Dressur und Korrektur von Individuen“ 50 dient. Neben der Zerteilung des Raumes bot die Parzellierung der Zeit Goethe die Möglichkeit, die Bewegungen kontrolliert in die Körper der Schauspieler*innen einzuschreiben: Sprache und Bewegungsabfolgen werden zergliedert und legen so ein Zeitgitter über die Schauspielkörper. Aufgrund der fokussierten semi‐ otischen Bedeutungsschwere des Textes legte Goethe großen Wert auf eine deutliche Aussprache. Schwind schließt, das „eigentliche Disziplinierungsin‐ strument und zugleich Korsett dieses Theaters“ 51 sei die ‚Sprach-Form‘, oder noch expliziter: der Schiller’sche Jamben-Rhythmus der Verstragödie, der den Schauspielkörper überindividuell veredle. Er gebe gewissermaßen den Takt vor, er setze für das Menschliche eine Ordnung. 52 Auch in den Goethe’schen Regeln werden immer wieder Vergleiche zur Musik gezogen oder es werden Begriff‐ lichkeiten der Musik benutzt. 53 Julius Wahle berichtet gar, Goethe habe sich gerne während der Theaterproben eines Taktstocks bedient, damit die Schau‐ spieler*innen ihre zeitliche Regelmäßigkeit beibehielten. 54 Durch die zeitliche 22 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="23"?> 55 Foucault, Überwachen und Strafen, S.-195. 56 Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §51. 57 Foucault, Überwachen und Strafen, S.-194. 58 Ebd., S.-195. 59 Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §35. 60 Ebd., §20. 61 Ebd., §90. 62 Ebd., §34. 63 Ebd. Zergliederung anhand der Sprache hält Goethe die Individuen in einem „von außen auferlegten kollektiven und obligatorischen Rhythmus“ 55 , wie Foucault es formuliert. Dieser Rhythmus schlägt sich auch im physisch-räumlichen nieder, wenn die ‚Bewegung‘ selbst in ihre Einzelteile zerlegt wird. Goethe fordert: Die Bewegung der Arme geschehe immer theilweise. Zuerst hebe oder bewege sich die Hand, dann der Ellbogen, und so der ganze Arm. Nie werde er auf einmal, ohne die eben angeführte Folge, gehoben, weil die Bewegung sonst steif und häßlich herauskommen würde. 56 Diese auf die zeitliche Sukzession abzielende Disziplinierungsmaßnahme kann mit Foucault als die „zeitliche Durcharbeitung der Tätigkeit“ 57 beschrieben werden: „die Haltung des Körpers, der Glieder, der Gelenke wird festgelegt; jeder Bewegung wird eine Richtung, ein Ausschlag, eine Dauer zugeordnet; ihre Reihenfolge wird vorgeschrieben.“ 58 So wird der Schauspielkörper nach den Goethe’schen Regeln durch die Modifizierungen von Zeit und Raum in Einzelbestandteile parzelliert, um dann, neu zusammengesetzt, ein ästhetisches Ideal darzustellen. Der Körper wird zum imaginierten ‚Typus‘. In den Regeln wird konstatiert: „Zunächst bedenke der Schauspieler, daß er nicht allein die Natur nachahmen, sondern sie auch idealisch vorstellen solle“ 59 . Und: „Hier [bei der Deklamation] muß ich meinen angeborenen Charakter verlassen, mein Naturell verläugnen […]“ 60 . Der Leib der Schauspieler*innen soll hinter dem ästhetisch idealen, semiotisierten Körper zurücktreten oder gar gänzlich verschwinden - auch im Alltagsleben. Bei aller Zerteilung fordert Goethe dennoch eine gewisse Art der Harmonie und Natürlichkeit: „Das Steife muss verschwinden und die Regel nur die geheime Grundlinie des lebendigen Handelns werden.“ 61 Die Schauspieler*innen sollen sich die sogenannten „Grundregeln“ 62 nämlich so sehr ‚einverleiben‘, „daß sie zur zweiten Natur werden.“ 63 Goethes Auffassung der „zweiten Natur“ möchte ich also im Folgenden genauer nachspüren, um aufzuzeigen, dass jene „eyerhafte“ Homogenisierung auf der Naturalisierung dieses ‚Typuskörpers‘ fußt und so eine zunächst subjektbezogene Differenzierung nach sich zieht. Zerteilung als zweite Natur 23 <?page no="24"?> 64 Ebd., §39. 65 Foucault, Überwachen und Strafen, S.-201. 66 Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §29. Das Wort „Übung“ verwendet Goethe explizit in §78. 67 Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S.-69. 68 Ebd. 69 Ebd., S.-70. Vgl. zudem den Beitrag von Hans Roth in diesem Band. 70 Vgl. Gerhard Funke, „Natur, zweite (I.)“ [Art.], in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer/ Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 484. 71 Ebd., Herv. im Original. Die zweite Natur in Disziplinierung und Ästhetisierung So stehen die Regeln für Schauspieler zunächst im scheinbaren Widerspruch zwischen der Forderung nach einer gewissen Art von Natürlichkeit auf der einen (und zwar ganz und gar nicht im Sinne jener „‚mißverstandenen‘ Natür‐ lichkeit“ 64 ) - und reguliertem Ideal auf der anderen Seite. Hier tritt der Prozess hervor, den Foucault als die ‚Ablösung vom mechanischen Körper‘ beschreibt. Bei dieser Ablösung trete ein neuer Körper hervor, der von Foucault „natürlich“ genannte Körper: „Der Disziplinarmacht entspricht eine Individualität, die nicht nur analytisch und ‚zellenförmig‘ ist, sondern auch natürlich und ‚organisch‘.“ 65 Dieser Körper sei ein Körper der Übung und der Dressur und nicht der ration‐ ellen Mechanik. Auch Goethe scheint sich der Notwendigkeit des Übens bewusst zu sein: „Man kann aus diesem Wenigen leicht einsehen, welche unendliche Mühe und Zeit es kostet, Fortschritte in dieser schweren Kunst zu machen.“ 66 Die Produktion eines nicht nur mechanisch-zerteilten, sondern auch „orga‐ nischen“ Körpers spiegelt sich so auch in Goethes Regeln für Schauspieler, insbesondere wenn von einer „zweiten Natur“ die Rede ist. Die Natur ist so eine bereits etablierte Ordnungsleistung, die der Normierung vorausgeht. Dies stellt auch Rudolf Münz fest: Bei der Abhandlung über sein Theatralitätsgefüge schloss er, sowohl im Hinblick auf das Theater (als eine „wie auch immer geartete (‚reine‘) Theaterkunst im weitesten Sinne“ 67 ) als auch in Bezug auf das ‚Theater‘ (als „Selbstdarstellung im Alltag“ 68 ) „herrschte jahrhundertelang eine starke Tendenz zu ‚Normierungen‘ entsprechenden Verhaltens vor; das Haupturteilskriterium dafür bildete die ‚Natur‘.“ 69 In der griechischen Antike noch seien Natur und Gewohnheit bzw. Erziehung als etwas Ähnliches angesehen worden, erläutert Gerhard Funke. So sei es zu einer Ausdehnung des Naturbegriffs gekommen (φυσιοποιεῖ). 70 Zu einer „Gegenüberstellung ‚verschiedener‘ Naturen“ 71 sei es jedoch erst in lateinischen Texten gekommen (altera natura). Dabei bestehe diese „andere Natur“ der 24 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="25"?> 72 Ebd., Sp. 485. 73 Ebd., Sp. 486. 74 Vgl. ebd. Anders hingegen verwendet Rudolf Münz den Begriff der ersten bzw. zweiten Natur. Er versteht unter der „notwendigen Herausbildung der Sekundärprozesse (der ‚zweiten Natur‘)“ das Abdrängen der „primären Seinsweise“ in den „Hinter- oder Untergrund der Gesellschaft“ (Münz, Theatralität und Theater, S.-78). 75 Norbert Rath, „Natur, zweite (II.)“ [Art.], in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer/ Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.-6, Basel 1984, Sp. 489. 76 Dabei ist ‚die Natur‘ Gegenstand eines um 1800 breiten ästhetischen Diskurses. Insbe‐ sondere die Naturauffassungen Goethes würden jedoch eine gemeinsame Basis seiner naturwissenschaftlichen wie kunsttheoretischen Schriften bilden: die Natur als sein „Schlüsselwort, das abschlußhaft zu definieren er sich stets gehütet hat“ (Alfred Schmidt, Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung, München/ Wien 1984, S. 19, mit Verweis auf Christoph Gögelein, Zu Goethes Begriff von Wissenschaft auf dem Wege der Methodik seiner Farbstudien, München 1972, S.-15). Es lasse sich zudem nachvollziehen, dass der Naturbegriff Goethes im Laufe dessen Lebens eine große Wandlung vollziehe. Vom sinnlich wahrnehmbaren, religiös anmutenden Flucht- und Erfahrungsraum in den 1770er-Jahren trete ab den 1780er-Jahren die „Vorherrschaft des Gefühls“ (Schmidt, Goethes herrlich leuchtende Natur, S.-21) hinter einem eher vermes‐ senden, distanzierteren Beobachter der Dinge und der Gesamtheit zurück, wobei Goethe sich aber dennoch gegen eine rein quantitative Erfassung von Welt stelle (vgl. Alfred Schmidt, „Natur“ [Art.], in: Bernd Witte et al. (Hg.), Goethe-Handbuch, Bd. 4.2, Stuttgart/ Weimar 2004, S. 755-776, hier S. 766; sowie Schmidt, Goethes herrlich leuchtende Natur, S. 72). Die Beobachtung der Natur, nun als das Gesetzmäßige und Beständige aufgefasst, biete Goethe insbesondere nach dem Chaos der Revolutionsjahre ein Refugium politischer Abstinenz (vgl. Schmidt, Goethes herrlich leuchtende Natur, S. 21 f.; sowie Zumhof, Die Erziehung und Bildung der Schauspieler, S. 243). Goethes Arbeit Über den Zwischenkiefer der Menschen und Tiere (1784) sowie sein Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790) würden dabei als seine ersten Arbeiten gelten, anhand derer sich sein neuer Gewohnheit nicht „von Natur aus“, sie „ergibt sich jedoch aus ihr und wirkt wie Natur“ 72 . In der Neuzeit sei es durch Blaise Pascal zur Aufhebung der Differen‐ zierung zwischen erster und zweiter Natur gekommen. Damit sei „der Zweifel artikuliert, ob es überhaupt möglich sei, die reine (erste) Natur des Menschen begrifflich zu bestimmen oder gar historisch aufzufinden“ 73 , analysiert Funke. So sei der Begriff ein reflektierender Ausdruck eines latenten Konservatismus geworden. 74 Und dennoch scheint seine essentialisierende Bedeutungsebene nicht zu schwinden: Die zweite Natur werde ein umso zentralerer Begriff von Theoriebildungen, „je konsequenter sich die zumeist mit diesem Begriff verbun‐ dene kritische Intention von der Aufdeckung der scheinbaren Natürlichkeit individuellen Verhaltens auf die Analyse objektivierter Ergebnisse menschlicher Tätigkeit […] verlagert.“ 75 Auch die Argumentation in den Regeln scheint so erstens auf die Kulturalisie‐ rung von Natur abzuzielen und zweitens insbesondere auf die Naturalisierung von Kulturellem sowie auf die Ähnlichkeit von Gewohnheit/ Erziehung und Natur: 76 Zerteilung als zweite Natur 25 <?page no="26"?> Naturbegriff formte (vgl. Andreas B. Wachsmuth, Geeinte Zwienatur. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken, Berlin/ Weimar 1966, S. 15). Dabei suche Goethe zum einen die „Harmonie innerhalb der Gestalteinheit des Einzelgeschöpfs“ (Wachsmuth, Geeinte Zwienatur, S. 18) auszumachen, zum anderen stelle Goethe Überlegungen an, die „Harmonie als Gestaltverwandtschaft der Geschöpfe miteinander“ (ebd.) zu zeigen: „Und so ist wieder iede Creatur nur ein Ton, eine Schattirung [sic! ] einer grosen Harmonie“ (Goethe an Karl Ludwig Knebel im November 1784. Vgl. Gottschalk Eduard Guhrauer, Briefwechsel zwischen Goethe und Knebel (1774-1832), Bd.-1, Leipzig 1851, S.-55). 77 Vgl. Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §34. 78 Ebd., §90. 79 Goethe, „Diderots Versuch über die Malerei“, in: Goethe, MA, Bd. 7, hg. Norbert Miller/ John Neubauer, München/ Wien 1991, S. 517-567, zitiert aus Kapitel 1: „Meine wunderlichen Gedanken über die Zeichnung“, hier S.-527, meine Herv. 80 Vgl. Rath, „Natur, zweite (II.)“, Sp. 489. 81 Thomas Khurana: „Die Kunst der zweiten Natur und die andere Natur der Kunst“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66: 3 (2018), S. 339-361, hier S. 344, Herv. T.K., zitierend aus: Immanuel Kant, „Kritik der Urtheilskraft [1790]“, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Berlin 1908, S.-165-485, hier S.-344. Er fordert die „Einverleibung“ 77 der Regeln in den Schauspielkörper, auf dass diese „nur die geheime Grundlinie des lebendigen Handelns werden“ 78 . So steht die Naturalisierung ganz im Sinne der beständigen Disziplinierung in Form von Gewohnheit. Darüber hinaus hat Goethe eine weitere Auffassung von dem, was er als „zweite Natur“ bezeichnet, wie anhand seiner Kommentare zu seiner 1796 entstandenen Übersetzung von Denis Diderots Kunstkritiken Essais sur la peinture (1765) deutlich wird. Er schreibt: [S]o gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück. Soll dieses aber geschehen, so muß das Genie, der berufne Künstler, nach Gesetzen, nach Regeln handeln, ‚die ihm die Natur selbst vorschrieb‘ […]. 79 Ebendiese erweiterte Verwendung des Begriffs im Sinne der Auffassung von Kunst als zweiter Schöpfung bahne sich insbesondere verstärkt im 18. Jahr‐ hundert an, wie Norbert Rath feststellt. 80 So erhalte der Begriff der „zweiten Natur“ eine neue Dimension der Bedeutung. Thomas Khurana erläutert: „Kant bezweifelt, dass wahrhaft sittliches Tun ein Tun aus bloßer Gewohnheit sein kann und legt nahe, dass Sittlichkeit daher zweite Natur in einem ganz anderen Sinne sein muss: eine ‚zweite (‚übersinnliche‘) Natur‘“ 81 , die, im wahrsten Sinne, die Sinne verändert. Das heißt, wenn zweite Natur nicht (nur) Gewohnheit ist, sondern Kunst, so interpretiert Khurana, dann ist eine zweite Natur vielmehr „Resultat einer ästhetischen - also in irgendeinem Sinne spielerischen oder 26 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="27"?> 82 Thomas Khurana, „Die Kunst der zweiten Natur. Zu einem modernen Kulturbegriff nach Kant und Hegel“, in: WestEnd 13: 1 (2016), S.-41. 83 Ebd., S.-50. 84 Christoph Menke, „Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von ‚Überwachen und Strafen‘“, in: Gertrud Koch (Hg.), Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München 2003, S.-109-121, hier S.-110. 85 Menke, „Die Disziplin der Ästhetik“, S. 113, zitierend aus: Foucault, Überwachen und Strafen, S.-181. schöpferischen - Praxis.“ 82 So geht es nicht mehr allein um die Erweiterung einer ersten Natur, sondern um eine ‚praktizierte, kulturelle Erschaffung‘ von Natur durch das Individuum. Khurana erläutert: Der Kunstbegriff der zweiten Natur erschließt einen wesentlichen normativen Ho‐ rizont und eine zentrale Herausforderung des modernen kulturellen Selbstverständ‐ nisses: Kultur scheint mehr von uns zu verlangen als bloße Gewohnheit, als bloße Einübung in bestehende und zur Natur gewordene Regeln und Formen; die Idee der Kultur scheint uns mit der normativen Forderung der Selbsterschaffung und der laufenden Selbstveränderung zu konfrontieren. 83 Die kulturell-ästhetische Subjekterschaffung beschreibt Christoph Menke als den ‚aesthetic turn‘ des 18. Jahrhunderts: Kunst dient „nicht mehr als das Medium der Repräsentation von Souveränität, sondern der Produktion und Reproduktion von Subjektivität“ 84 . In Goethes Auffassung fußt diese kulturelle Subjekterschaffung aber wiederum in der Natur, wenn er fordert, der berufene Künstler müsse „nach Regeln handeln, die ihm die Natur selbst vorschrieb“ (s. o.). Somit treten in Goethes Regeln für Schauspieler mit der „zweiten Natur“ Ästhetisierung und Disziplinierung als Modi der Subjektivierung in der Natur zusammen. Menke analysiert mit den Worten Foucaults: „‚Aus diesen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten‘, den vielfältigen Übungen, Überwachungen, Prüfungen und Sanktionen, […] ‚ist der Mensch des modernen Humanismus geboren worden‘“. 85 Durch die Rückführung von Kultur auf Natur entspringt die Homogenisierung und Ästhetisierung in Goethes Regeln für Schauspieler einer Naturalisierung und Essentialisierung. Schwind zufolge kommt es durch diese Normierung zur Schaffung des Schauspielers als Bürger sowie als menschlicher Idealtypus. Auch Goethe schien sich diese Wirkung zu erhoffen, als er Eckermann mitteilt: […] ich suchte auch den ganzen Stand [der Schauspieler*innen] in der äußeren Achtung zu heben, indem ich die Besten und Hoffnungsvollsten in meine Kreise Zerteilung als zweite Natur 27 <?page no="28"?> 86 Goethe zitiert nach Eckermann, „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, in: MA, Bd.-19, hg. Heinz Schlaffer, München/ Wien 1986, S.-506. 87 Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“, S.-112. 88 Foucault, Überwachen und Strafen, S.-236. 89 Vgl. Wiens, ‚Grammatik‘ der Schauspielkunst. 90 Vgl. zudem den Beitrag von Yana Prinsloo in diesem Band. zog […] und daß Schauspieler und Schauspielerinnen in die besten Zirkel bald einen ehrenvollen Zutritt gewannen. 86 Schwind konstatiert folglich: Der Schauspieler im sozial abgesicherten ‚bürgerlichen‘ Künstlerstand stellt sich und seinesgleichen vorbildhaft dar, gesittet, genormt, beherrscht, um in den ‚höheren‘ Adel des ‚reinen‘ Menschlichen aufzusteigen. Theaterspiel wäre insofern auch eine Art Reinigungsprozeß und Übergangsritus. 87 Wie Foucault bemerkt, führt die Einführung einer Norm wiederum zur Distanz‐ messung von dieser Norm; und nicht nur zur (stufenweisen) Abstandsmessung, sondern auch zu einer Grenzziehung gegenüber den „Anormalen“. 88 Eine dieser „Distanzmessungen“ nimmt beispielsweise Wiens vor: Wird ‚der‘ Schauspieler in Goethes Doktrin als männliches, bürgerliches, ästhetisches wie natürliches Subjekt aufgefasst, führe u. a. dieser normative Phallogozentrismus zur Kon‐ struktion semiotischer Geschlechterdifferenzen. 89 Sara E. Jackson hingegen konstatiert, das vorherrschende theaterhistorische Narrativ der Verbürgerli‐ chung der Schauspieler*innen verzerre vielmehr den Blick darauf, dass Schau‐ spieler*innen von einer sozialen Subjektivität ausgegrenzt würden: 90 „[T]hose 28 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="29"?> 91 Sara E. Jackson, „The Paradox of the Obedient Actor“, in: Oxford German Studies 30: 3 (2021), S. 318-332, hier S. 331. Jackson betont das Paradoxon zwischen „Goethe’s reverence for the actor’s freedom in Wilhelm Meisters Lehrjahre and his demand for actors’ obedience in his ‚Regeln für Schauspieler‘“ (S. 318). Sie schließt, während der Bildungsroman auf die Erziehung eines bürgerlichen sozialen Subjekts abziele, werde durch die Regeln vielmehr der Schauspieler als ästhetisches Subjekt produziert. Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass insbesondere die Auffassung der Kunst als zweite Natur ebendiese Spannung zwischen Freiheit und Normativität aufgreift und zu lösen sucht: „Das verwirklichte Reich der Freiheit soll organische und nicht bloß mechanische Einheit besitzen, und das Medium durch das diese Einheit wesentlich hergestellt und gesichert wird, ist nach Schiller die schöne Kunst. […] Damit das gelingt, was Kant als Leistung der Kunst beschrieben hat, dass ein Produkt der Freiheit als Natur erscheine und Natur als Medium der Verwirklichung der Freiheit deutlich werde, muss der Geist riskieren, in unfreier Form zu existieren“ (Khurana, „Die Kunst der zweiten Natur“, S.-47f.). Eine weitere „Distanzmessung“ sucht auch Günther Lohr vorzunehmen (vgl. Günther Lohr, „Inskription des Szenischen. Zum Kontext von Goethes ‚Regeln für Schauspieler‘ (1803)“, in: Michel Corvin (Hg.), Goethe et les arts du spectacle, Bron 1985, S.-161-178). 92 Eviatar Zerubavel, Taken for Granted. The Remarkable Power of the Unremarkable, Princeton, NJ 2018, S.-60. 93 Ebd. 94 Ebd., S.-61. 95 Vgl. Goethe, „Regeln für Schauspieler“, §43. who are identified as aesthetic subjects […] become more absolutely codified as the other against which the social subject defines himself.“ 91 (Situative) Homogenisierung und Differenzierung Der der Norm inhärente Prozess des Vergleichens produziert so in zunächst semiotischer Überhöhung Abgrenzungen und Differenzen: Als Typuskörper markiert, sind die Schauspieler: innen zunächst also als solche ausgestellte Kunstkörper zu denken, ausgestattet mit hohem „semiotischem Gewicht“ 92 ; „[T]urning the proverbial spotlight on what we habitually ignore thereby making it an object of our explicit awareness.“ 93 In den Goethe’schen Regeln wird dieser Prozess des semiotischen „Foregroundings“ 94 , also der Markierung des bis dato Unmarkierten, bspw. anhand der ausführlichen Erläuterungen in Bezug auf die unbedingte deutliche Aussprache deutlich; oder anhand der Ausführung einer als solche markierten „nachdenklichen Stellung, z. B. für einen jungen Mann […]: wenn ich, die Brust und den ganzen Körper gerade herausgekehrt, in der vierten Tanzstellung verbleibe, meinen Kopf etwas auf die Seite neige, mit den Augen auf die Erde starre und beide Arme hängen lasse.“ 95 Der Homogenitätsentwurf des Typuskörpers ist dabei mitursächlich für Zerteilung als zweite Natur 29 <?page no="30"?> 96 Stefan Hirschauer, „Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Human‐ differenzierung“, in: Zeitschrift für Soziologie 50: 3-4 (2021), S.-155-174, hier S.-159. 97 Zerubavel, Taken for Granted, S.-4, Herv. im Original. 98 Schwind, „‚Man lache nicht! ‘ Goethes theatrale Spielverbote“, S.-84. 99 Vgl. ebd., S.-80f., insbesondere Fußnote 21. 100 Karoline Jagemann, „Erinnerungen“, in: Eduard von Bamberg (Hg.), Die Erinnerungen der Karoline Jagemann nebst zahlreichen unveröffentlichten Dokumenten aus der Goethe‐ zeit, Bd.-2, Dresden 1926, S.-464, meine Herv. 101 Vgl. Zerubavel, Taken for Granted, S.-26-28. die von ihm ausgehenden Distanzmessungen; denn Kategorien „behaupten die Homogenität des Getrennten“ 96 . Um eine Norm(alität) untersuchen zu können, ist sie nicht nur von ihren Ausschlüssen her zu denken. Denn, wie Eviatar Zerubavel erläutert, ist Un/ markiertheit sowohl eine Frage sozialer Dominanz normativen Anspruchs - wobei das Deviante als solches markiert wird - als auch eine Frage eines alltä‐ glichen Erfahrungsvorsprungs: „The taken-for-grantedness of the unmarked is thereby evidenced in its ‚semiotic superfluity‘, as manifested in the paucity of cultural labels denoting what is conventionally assumed by default.“ 97 Ge‐ rade der Versuch der Einpflegung der Regeln in das alltägliche Leben der Schauspieler: innen rückt in deskriptiver Hinsicht wiederum die Markiertheit der Körper in zeit-räumlicher Relationalität in den Hintergrund und sucht sie zu normalisieren, während die Markiertheit auf Basis der „zweiten Natur“ weiterhin naturalisiert wie ästhetisiert wird. Das Bemerkenswerte der Norm wie der „zweiten Natur“ ist also auch ihre Vermählung mit der alltäglichen Normalität. Diese kaschiert eine Rollenförmigkeit des Subjekts, das angehalten ist, das normative Allgemeine mit seinen immer wieder neuen Selbstentwürfen des Ästhetischen zu verbinden. Der Herstellungsversuch dieser „geadelte[n] ‚bürgerliche[n]‘ Ordnung“ 98 durch die Goethe’schen Regeln, wie Schwind es formuliert, fand beileibe nicht allerorts Anklang. Deutlich wird dies nicht nur anhand der Äußerungen Carl Augusts, sondern auch anhand von Reaktionen auf Gastspiele der Weimarer Truppe. 99 Ebenso der besagte entlassene Schauspieler Reinhold fasste die Amts‐ zeit Goethes als bemerkenswert auf; nach dessen Rücktritt konstatierte er: „Auch Goethes Institut ist von dem Geist der Zeit nicht unberührt geblieben und hat einen Schritt zum ‚normalen‘ Zustand zurückgelegt […].“ 100 Die körper‐ basierten Normerwartungen treten somit in Abhängigkeit von ihrer situativen Variabilität hervor - oder zurück. 101 Ihre Herstellung ist ein Prozess unter 30 Stefanie Hampel (Mainz) <?page no="31"?> 102 Bettina Heintz, „Ohne Ansehen der Person? De-Institutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung“, in: Sylvia Marlene Wilz (Hg.), Geschlechterdifferenzen - Geschlechterdifferenzierungen. Ein Überblick über gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische Positionen, Wiesbaden 2008, S. 231-252, hier S. 231; vgl. zudem Bettina Heintz, „Geschlecht und Kontext. De-Institutionalisierungsprozesse und geschlecht‐ liche Differenzierung“, in: Zeitschrift für Soziologie 27: 2 (1998), S.-75-93, hier S.-83. 103 Vgl. Stefanie Hampel, Staging Norma. Semiotische und performative Subversionsversuche von Normalität in Saar Magals 10 Odd Emotions, Baden-Baden 2024: Tectum. 104 Zerubavel, Taken for Granted, S.-97. 105 Goethe an Zelter, am 10. Oktober 1803. Vgl. Goethe, MA, Bd. 20.1, hg. Hans-Günter Ottenberg/ Edith Zehm, München/ Wien 1991, S.-57. 106 Vgl. auch den Beitrag von Hanna Voss in diesem Band. zahlreichen Voraussetzungen, geknüpft an spezifische „Bedingungskonstellati‐ onen“ 102 . So ist im Anschluss an Zerubavel ‚Normalität als eine Eigenschaft des Alltags‘ von einer ‚Politik der Normalität‘ grundsätzlich zu unterscheiden: In unterschiedlichen zeit-räumlichen Episoden entstehen zum einen in ihren Häu‐ figkeiten unumgängliche Normalitäten verschiedener Alltage. Zum anderen geht jedoch die Politik der Normalität über die alltägliche Prominenz von Häufigkeiten hinaus, indem sie Objekte über das statistische Maß der Häufig‐ keiten hinaus als un/ markiert festlegt. Die Spannung, die zwischen diesen beiden Normalitäten herrscht, 103 wirft die Frage noch deren Korrespondenz und historischem Wandel auf. Denn, wie Zerubavel bemerkt: Normalität ist fluide und veränderlich, und sie ist historisch kontingent. 104 In welchen Zeit-Räumen entstanden oder herrschten also welche Norm(alitäten)? Wie haben Subjekte Normalität praktiziert, welche Subjekte wurden produziert, und wie wurden sie durch Dispositive oder Institutionen hervorgebracht? Theaterhistoriographisch betrachtet stellt sich die Frage, wie „Theater‐ schule[n]“ 105 Typuskörper hervorzubringen versucht hat und unter welchen Prämissen Schauspielkörper produziert und entworfen wurden. 106 Zerteilung als zweite Natur 31 <?page no="33"?> „Produktion“ von Schauspielenden Historisch kontingente Rahmungen und Konjunkturen von Humandifferenzierungen Hanna Voss (Mainz) Dass seit Anfang der 2010er Jahre offensiv Kritik an den Strukturen, Macht- und Repräsentationsverhältnissen im Theater geübt wird, ist kein gänzlich neues Phänomen, sondern lässt sich für die Bundesrepublik in ähnlicher Weise bereits Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre beobachten. In beiden Fällen ging bzw. geht es dabei auch um Humandifferenzierungen: Während heute vor allem Ethnizität, aber auch Geschlecht / sexuelle Orientierung und Behinderung Gegenstand der Verhandlung sind, war es damals soziale Klasse. Doch inwiefern lässt sich dies beides tatsächlich vergleichen? Und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die ak‐ tuelle Konjunktur von Humandifferenzierungen und deren ‚Halbwertszeit‘ sowie mögliche Folgen ziehen? Mit Andreas Reckwitz davon ausgehend, dass sich die „Produktion“ von Schauspielenden im 20. und 21. Jahrhun‐ dert innerhalb jener historisch kontingenten Rahmungen vollzieht, die auch allgemein für die Produktion von Subjekten gelten, wird in diesem Beitrag anhand zwei nicht-kanonischer Beispiele - der Diskussion um den „Bühnennachweis“ gegen Ende der Weimarer Republik und jener auf dem „Theaterpädagogischen Kongreß“ im Juni 1973 in Berlin - eine mögliche Antwort auf diese Fragen entwickelt. Vier Jahrzehnte später - Dasselbe in Grün? „Große, kräftige Männer sind Mangelware, ebenso wie Schauspieler mit offen‐ sichtlichem Migrationshintergrund. Wie sollen wir im Theater gesellschaftliche Realität ausbilden, wenn wir keine Darsteller haben, die das von ihrer Biografie her könnten? “, kritisiert Harald Wolff, zu diesem Zeitpunkt Schauspieldrama‐ turg am Aachener Stadttheater, die Auswahl, welche die Schauspielschulen <?page no="34"?> 1 Vgl. Jutta-Eileen Radix, „Das große Vorsprechen“, in: Kölner Stadtanzeiger (03.12.2012), S.-8. 2 Vgl. ebd. Zur Entwicklung dieser Veranstaltung vgl. exempl. Hans-Christoph Zimmer‐ mann, „Testballon der Schauspielschulen. 1. Zentrales NRW-Vorsprechen der Schau‐ spielschulabsolventen vom 18. bis 20. November 2005 in Neuss“, in: Theater der Zeit 2 (2006), S. 71; Titus Georgi, „Die Reform der SKS“, in: Europäische Theaterakademie „Konrad Ekhof “ GmbH Hamburg (Hg.), 23. Theatertreffen deutschsprachiger Schauspiel‐ studierender und Wettbewerb zur Förderung des Schauspielnachwuchses. Dokumentation, Hamburg 2012 (verfügbar unter: https: / / www.schauspielschultreffen.de/ wp-content/ uploads/ 2017/ 05/ Theatertreffen_2012.pdf [Zugriff am 13.03.2024]), S. 90-91, hier S. 90f. 3 Zimmermann, „Testballon der Schauspielschulen“, S.-71. 4 Grundlage für diese Einschätzung ist die Berichterstattung in der lokalen und überre‐ gionalen Presse sowie in der Fachpresse in den Jahren 2005-2007 und 2012, die mir von der ehemaligen Intendantin des RLT Neuss und ‚Erfinderin‘ der Zentralen Vorspre‐ chen, Ulrike Schanko, in einem Gespräch Anfang Januar 2017 dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurde. Zum Begriff „Migrationshintergrund“ vgl. Deniz Utlu, „Migrationshintergrund. Ein metaphernkritischer Kommentar“, in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2019, S.-445-448. bereits bei der Aufnahme unter den sich Bewerbenden treffen. 1 Anlass für diese im Kölner Stadtanzeiger vom 3. Dezember 2012 enthaltene Aussage ist das achte Zentrale NRW-Vorsprechen, das in diesem Jahr erstmals nicht nur, wie bis dato üblich, am Rheinischen Landestheater Neuss stattfand, sondern auf Initiative der Ständigen Konferenz Schauspielausbildung (SKS) als Zentrale Absolventenvor‐ spiele parallel in Berlin und München: Innerhalb einer Woche präsentierten sich die Absolvent*innen der öffentlichen Schauspiel(hoch)schulen Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz auf der Neusser Studiobühne dem Fachpublikum, bestehend aus Dramaturg*innen, Intendant*innen, Regis‐ seur*innen, Vermittler*innen, Agent*innen und Caster*innen. 2 Während das Geschlecht der Absolvent*innen auch in der Berichterstattung über die ersten Jahre punktuell immer wieder eine Rolle spielt, meist im Kontext der Arbeits‐ chancen von weiblichen Schauspielenden („Sie (die Schulen) bilden pausenlos Frauen aus, die überhaupt nicht auf den Markt kommen können“ 3 ), tauchen ethnische Askriptionen („Schauspieler mit offensichtlichem Migrationshinter‐ grund“) in diesem Jahr zum ersten Mal auf. 4 Offenbar, so lässt sich hieraus schlussfolgern, war Migration bzw. Ethnizität Mitte der 2000er Jahre im Feld des deutschen Sprechtheaters in Bezug auf Schauspielende noch kein zentrales Thema. Eine Situation, die sich innerhalb nur weniger Jahre jedoch bekanntlich grundlegend ändern sollte - bereits zur Spielzeit 2007/ 2008 hat Karin Beier die Intendanz des Schauspiel Köln übernommen und ihr Ensemble gemäß dem migrantischen Anteil der Stadtbevölkerung von 30 Prozent zusammengestellt, 34 Hanna Voss (Mainz) <?page no="35"?> 5 Wolfgang Schneider, Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld 2011, Klappentext. 6 Zur „Blackfacing“-Debatte vgl. exempl. Hanna Voss, Reflexion von ethnischer Iden‐ tität(szuweisung) im deutschen Gegenwartstheater, Marburg 2014, S.-85-130. im Jahr 2008 wurde das Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg unter der Leitung Shermin Langhoffs als Spielstätte „postmigrantischen Theaters“ neu eröffnet. Die eingangs angeführte Aussage Wolffs (seit 2015 im Vorstand der Drama‐ turgischen Gesellschaft) kann somit als Teil bzw. Ausdruck dieses spätestens ab Beginn der 2010er Jahre zu beobachtenden konjunkturellen Aufschwungs von Humandifferenzierung nach Ethnizität bzw. ‚Rasse‘ gesehen werden, der sich zeitverzögert auch im Feld der Wissenschaft niedergeschlagen hat. Als einer der ersten umfangreicheren wissenschaftlichen Beiträge zu dieser Debatte gilt der von Wolfgang Schneider herausgegebene Sammelband Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis (2011). Folgender Auszug aus dessen Ankündigung vermittelt einen guten Eindruck von der damaligen Situation und dem Stand des gesamtgesellschaftlichen wie theaterspezifischen Diskurses: Fast ein Viertel der deutschen Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Und selbst in der Politik ist die Rede vom Einwanderungsland Deutschland inzwischen als offizielle Sprachregelung anerkannt. Im deutschen Theater allerdings findet Migration nach wie vor nur als Marginalie statt. Den Stadttheatern fehlt das Personal, die Ausbildungsstätten erreichen bei weitem nicht den repräsentativen Anteil an migrantischem Nachwuchs - und das Publikum wird weniger und älter, aber dabei nicht bunter. Lediglich die freie Thea‐ terszene widmet sich verstärkt der interkulturellen Wirklichkeit. 5 Zugleich zeigt sich in diesem Auszug exemplarisch, dass der für die „Produktion“ von Schauspielenden wichtige Bereich der Künstlervermittlung, anders als jener der Ausbildung, im Diskurs damals keinerlei Rolle spielte (und auch nach wie vor keine spielt). Mit der Ende 2011 bzw. Anfang 2012 einsetzenden „Blackfacing“-Debatte, die von Anfang an nicht nur auf ethnisch bzw. ‚rassisch‘ diskriminierend wahrgenommene Praktiken der Darstellung, sondern auch der Einstellung und Besetzung zielte, sowie der Übernahme des Berliner Maxim Gorki Theaters durch Shermin Langhoff und Jens Hillje zur Spielzeit 2013/ 2014 war der Diskurs dann auch in der Mitte des von mir untersuchten organisati‐ onalen Feldes angekommen; 6 gemäß meiner Annahme besteht dieses primär aus Schauspiel(hoch)schulen, Künstlervermittlungen, Theaterhäusern, profes‐ sionellen wie nicht-professionellen Zuschauenden und den entsprechenden „Produktion“ von Schauspielenden 35 <?page no="36"?> 7 Zu dem Anfang der 1980er Jahre von Paul DiMaggio und Walter Powell entwickelten Konzept des organisationalen Feldes und dessen Übertragung auf das deutsche Sprech‐ theater vgl. Hanna Voss, „Autonome Kunst? Legitimität und institutioneller Wandel im deutschen Sprechtheater“, in: Forum Modernes Theater 28: 2 (2018), S.-143-159, insb. S.-147-150. 8 Vgl. exempl. Elisa Liepsch / Julian Warner (Hg.), Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen, Bielefeld 2018; Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022. 9 Vgl. Stefan Hirschauer, „Un/ doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörig‐ keiten“, in: Zeitschrift für Soziologie 43: 3 (2014), S. 170-191, hier S. 172f. u. 188 (Herv. im Original). Der vorliegende Beitrag knüpft an die im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Projekte „Praktiken der ethnischen Ent/ Differenzierung im zeitgenössischen deutschen Sprechtheater“ (2014-2017, assoziiert an die DFG FOR 1939 „Un/ doing Differences“) und „Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen“ (2016-2021, Teilprojekt der DFG FOR 1939) erhobenen Befunde an. 10 Vgl. ebd., S.-181f. (Herv. im-Original). Berufsbzw. Fachverbänden. 7 Reflektiert, wenn nicht sogar vorangetrieben wurde diese Konjunktur durch die Vielzahl der seither erschienenen wissen‐ schaftlichen Publikationen, wobei die Grenze zur Praxis teilweise fließend ist. 8 Von Konjunktur bzw. konjunkturellem Aufschwung spreche ich dabei im Anschluss an den von Stefan Hirschauer entwickelten Un/ doing Differences-An‐ satz, der sich selbst in einer kultursoziologischen Forschungslinie verortet, die „das Kategorisieren selbst zum Gegenstand“ macht und mit ihrer „Kontingenz‐ perspektive“ auf soziale Phänomene, wie sie auch Andreas Reckwitz vertritt, „Kategorien der Humandifferenzierung zu entreifizieren“ sucht. 9 Neben der prinzipiellen Konkurrenz von Humandifferenzierungen geht dieser Ansatz nämlich von der Prozesshaftigkeit, mithin Temporalität aller kulturellen Un‐ terscheidungen aus. Allenthalben sei daher mit Varianz zu rechnen: „mit Mo‐ menten der Aktualisierung und Neutralisierung (Einsatz- und Wendepunkten, Abbrüchen und Unterbrechungen) sowie mit biografischen und historischen Konjunkturen (Auf- und Abschwüngen) von Unterscheidungen“. 10 Ausdruck eines solch historischen Aufschwungs ist auch das Referat, welches Hans-Peter Cloos und Egmont Elschner im Juni 1973 auf dem „Theaterpäda‐ gogischen Kongreß“ in Berlin gehalten haben. Ort der Veranstaltung war die Akademie der Künste in West-Berlin. Daran teilgenommen haben circa 250 Personen - vor allem Studierende und Dozierende der öffentlichen Schau‐ spiel(hoch)schulen des deutschsprachigen Raumes, aber auch Vertreter*innen privater Schulen, der Theater, der Zentralen Bühnen- und Fernsehvermittlung (ZBF) und nicht zuletzt der Wissenschaften -, das Ziel: eine Reform der Schauspielausbildung und (damit verbunden) des Theaters. Als Vertreter*innen 36 Hanna Voss (Mainz) <?page no="37"?> 11 Neben den im Archiv der Universität der Künste aufbewahrten Unterlagen des „Theaterpädagogischen Kongreß“, u. a. bestehend aus unzähligen Briefwechseln, Pro‐ grammentwürfen, Adress- und Teilnahmelisten, basiert meine Darstellung hier wie im Folgenden im Wesentlichen auf der Berichterstattung in den Fachzeitschriften, vgl. UdK-Archiv 11 - 120, 122, 217 u. 218 sowie insb. „Wie wird fürs Theater ausgebildet, wie sollte ausgebildet werden? Dokumentation über den ‚Theaterpädagogischen Kongreß‘ in Berlin“, in: Theater heute 7 (1973), S.-1-11. 12 Vgl. ebd., S.-9-11, hier S.-10. der sog. Freien Gruppen waren Cloos („Rote Rübe“, München) und Elschner („F.A.U.S.T.“, Frankfurt/ Main) zugleich Mitglied des den Kongress unter Leitung der Max-Reinhardt-Schule (Staatliche Hochschule für Musik und darstellende Kunst Berlin) über zwei Jahre vorbereitenden Programm- und Dokumentations‐ ausschusses. 11 Aus dezidiert sozialistischer bzw. marxistischer Perspektive üben sie in ihrem in der Theater heute-Dokumentation auszugsweise abgedruckten Referat zum Thema „Wie man in freien Gruppen lernt“ nicht nur Kritik am bürgerlichen Genie-Begriff („Es gibt kein Genie und kein Talent. Das sind bürgerliche Erfindungen“), sondern auch an „den herrschenden Theatern“, die als „Propagandainstrumente“ nicht für den politischen Kampf taugten. 12 Ihr Vorwurf beruht dabei im Wesentlichen auf sozialer Distinktion, wie sie am Beispiel des Schauspiel Frankfurt und der Schaubühne am Halleschen Ufer als zwei der „fortschrittlichsten Bühnen“ demonstrieren. Angefangen bei der Kritik („Sprache und Stil schließen von vornherein nicht-bürgerliche Leser aus“) über die Verteilung von Leistungs- und Publikumsrollen bis hin zu ästhetischen Vorstellungen, Inhalten und Funktion: Natürlich ist es wichtig, sich mit bürgerlicher Geschichte auseinanderzusetzen, ganz besonders auch für uns, aber die Geschichte sieht mit Arbeiteraugen ganz anders aus. Da heißt es: Wer baut denn unsere Theaterhäuser, wer bedient die Bühnentechnik, wer stellt die Scheinwerfer und Kulissen her - und wer sitzt nachher im Zuschauerraum und genießt das alles, staatlich subventioniert. Auch wenn das bürgerliche Theater kritisiert, tut es das mit bürgerlichen Kriterien und Kategorien und es bleibt deswegen auch nur verständlich für Bürger. Deshalb entscheiden wir uns gegen diese Kategorien, gegen die Originalität, den Spaß im Detail, die besondere Konzeption, die außergewöhnliche Ausstattung. Geniale Leute sind uns ein Graus. Das Theater soll lustvoll sein, entspannen und Spaß machen, indem es zeigt, daß ein Boß kein Boß zu sein braucht, wenn man etwas dagegen tut. […] „Produktion“ von Schauspielenden 37 <?page no="38"?> 13 Vgl. ebd., S.-10. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. ebd. S.-1-3. 16 Diese Information stammt aus dem Bestand der Akademie der Künste (West) im Archiv der heutigen Akademie der Künste Berlin, vgl. AdK-Archiv AdK-W, Nr. 1489, „Fragenbogen zur Bestandsaufnahme staatlicher, städtischer und privater Schauspiel‐ schulen“ (undatiert, vmtl. Anfang 1972), S. 2. In der Schriftensammlung Darstellende Kunst ist hier auch die umfangreiche „Vordokumentation“ des Kongresses erhalten, vgl. AdK-Archiv Schriften-DK 143, Theaterpädagogischer Kongreß Berlin 1973, Redaktion: Peter Kock, Peter Simhandl und Jürgen Tamchina. 17 Vgl. „Wie wird fürs Theater ausgebildet“, S.-2f. Unsere Sensibilität steckt in unseren Produktionsverhältnissen. Wir arbeiten kol‐ lektiv, wohnen z. T. kollektiv; neue Formen und Inhalte entstehen aus dieser anderen Praxis. 13 Als einen Grund, warum das Theater der Freien Gruppen noch nicht „durch‐ schlagend“, die Vermittlung manchmal schwierig und die Arbeit so mühselig sei, führen sie - neben fehlenden Mitteln bzw. Subventionen - interessanterweise auch ihre eigene bürgerliche Herkunft an: Da gibt es noch ein anderes Problem. Wir haben alle nicht gelernt, kollektiv und in Gruppen zu arbeiten. […] Von Haus aus haben wir solidarisches Verhalten nicht gelernt, denn Streiks und gemeinsame Lohnkämpfe kannten unsere Eltern nicht. Die waren was Besseres! Wir wollten auch was Besseres werden. Im Abbau der bürgerlichen Vereinzelung liegt eine der Hauptaufgaben der pädagogischen Arbeit Freier Gruppen. 14 Dies deckt sich mit den ebenfalls in Theater heute abgedruckten Ergebnissen der „Fragebogenaktion“, wobei die von Jürgen Tamchina (Dozent, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Hamburg) für sein Referat zum Thema „Wie wird ausgebildet? “ getroffene Auswahl bereits Aufschluss über die Relevanzen der Feldteilnehmenden gibt; 15 erhoben wurde u. a. auch das Alter und die Nati‐ onalität („Wieviele Schüler stammen aus anderen Ländern (und aus welchen)? “) sowie Anzahl und Geschlecht der sich Bewerbenden und Aufgenommenen in den letzten drei Jahren (1969-1971). 16 Nicht nur hätten 48,1 % der befragten Schüler*innen Abitur (von den Lehrkräften dagegen nur 43,8-%, ohne jener für Theorie gar nur 32,2 %), sondern die Berufsstatistik der Eltern widerlege auch die These, dass „der Schauspielerstand […] sich aus sich selbst heraus“ regeneriere: „Nur 3,6 % der Schüler kommen aus Schauspielerfamilien, aber 83,4 % der Eltern haben selbstständige Berufe, sind Beamte oder Angestellte. 9,0 % der Schüler stammen aus Arbeiterfamilien.“ 17 38 Hanna Voss (Mainz) <?page no="39"?> 18 Zu den genannten Aktivitäten und Bestrebungen vgl. exempl. Joachim Fiebach, „‚Das entscheidende für uns […] ist das Theater in Paradoxis‘ - Zur Schaubühne am Halle‐ schen Ufer von 1970 bis 1980“, in: Erika Fischer-Lichte / Friedemann Kreuder / Isabelle Pflug (Hg.), Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde, Tübingen u. a. 1998, S.-235-315. 19 In Klammern angegeben ist jeweils das Jahr der Erstveröffentlichung, ich beziehe mich im Folgenden auf folgende Neubzw. Sonderausgaben: Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Berlin 2020; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2021. 20 Vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S.-12. 21 Vgl. ebd., S.-23. Obgleich hier also strukturelle Ein- und Ausschlüsse aufgrund der Zugehö‐ rigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse sichtbar gemacht und verhandelt werden, der Vorwurf des Klassismus im Raum steht, scheint der „Theaterpäda‐ gogische Kongreß“ wie auch die anderen ab Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre zu beobachtenden künstlerischen Aktivitäten und programmatischen Bestrebungen an der bürgerlichen bzw. bildungsbürgerlichen Ausrichtung des Sprechtheaters in Bezug auf Personal, Themen und Publikum langfristig nicht viel geändert zu haben. 18 Müsste man vor diesem Hintergrund eine Prognose bezüglich der ‚Halbwertszeit‘ der aktuellen Konjunktur von Humandifferenzie‐ rungen nach Ethnizität bzw. ‚Rasse‘ und deren Folgen abgeben, so würde man wohl maximal ein Jahrzehnt veranschlagen. Doch inwiefern lässt sich dies beides überhaupt vergleichen? Folgt man den Überlegungen Andreas Reckwitz’ zu einer Kultur- und Gesell‐ schaftstheorie der Moderne, wie er sie in Das hybride Subjekt (2006) und Die Gesellschaft der Singularitäten (2017) formuliert hat, findet in diesem Zeitraum ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel statt: von der durch die Logik des Allgemeinen gekennzeichneten organisierten, industriellen Moderne hin zu der durch die Logik des Besonderen gekennzeichneten Postbzw. Spätmoderne, was zugleich mit einem Wandel der Subjektordnungen einhergehe. 19 Unter „Subjektordnung“ versteht Reckwitz dabei eine spezifische „kulturelle Praxis, in der Subjekte definiert und produziert werden“. 20 Charakteristisch sei allerdings, dass diese Subjektordnungen bzw. -kulturen „ihren Ort als Fabrikationsweise des modernen Menschen […] regelmäßig unsichtbar“ machten und vorgäben, „das ‚wirkliche‘, eigentliche Subjekt freizulegen“. 21 Die „Produktion“ von Schau‐ spielenden mit der von Reckwitz vorgeschlagenen „Kontingenzperspektive auf die Moderne“ zu betrachten, verspricht nicht nur Erklärungsgehalt bezüglich der beobachteten Konjunkturen von Humandifferenzierungen, sondern ermöglicht zudem eine Einordnung der hierfür relevanten historiografischen Befunde in „Produktion“ von Schauspielenden 39 <?page no="40"?> 22 Vgl. ebd., S.-39. 23 Mit dem Begriffspaar Doing generality und Doing singularity beschreibt Reckwitz den Umstand, dass „[w]eder das Allgemeine noch das Besondere […] einfach vorhanden“ sind: „Beide werden sozial fabriziert“ und zwar durch soziale Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung, vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-11 u. 13 sowie grundlegend S.-27-110. 24 Vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S.-15, 18 u. 28. 25 Vgl. ebd., S.-11 u. 32 f. (Herv. im-Original). einen größeren kulturwissenschaftlichen Kontext. 22 Daher seien die grundle‐ genden Annahmen seiner Theorie zunächst überblickartig skizziert, wobei ein besonderer Fokus auf der Rolle der Kunst liegt, deren explizite Berücksichtigung, so viel sei vorausgeschickt, eine differenzierte Betrachtung erfordert bzw. Widerspruch provoziert. Doing singularity? Die Kunst als Teil der rationalistischen Moderne 23 Am Beginn von Reckwitz’ Untersuchung steht das bürgerliche Subjekt der bürgerlichen Moderne, deren Aufstieg und Erosion sich von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzogen habe bzw. spätestens ab den 1920er Jahren von der industriellen Moderne mit ihrem nach-bürgerlichen Angestelltensubjekt abgelöst worden sei. In den 1970er und 1980er Jahren wiederum habe sich die Postbzw. Spätmoderne mit ihrem ebenfalls nach-bürgerlichen konsumtorischen Kreativsubjekt langsam aus dem Rahmen der organisierten, industriellen Moderne herausgeschält. 24 Doch nicht nur das Subjekt der Postmoderne, sondern alle Subjektordnungen dieser drei „Versionen der Moderne“ ließen sich als „hybride Kombinationen“, als „Mi‐ schungsverhältnisse zwischen jeweils neuen und alten Sinnelementen“ dechiff‐ rieren, wodurch sich „langfristige, aber gebrochene kulturelle Effekte scheinbar überholter Subjekt- und Identitätsmuster“ ergäben: „Die Transformation von Subjektkulturen in der Moderne lässt sich so als ein Gewebe der Intertextualität entziffern.“ 25 Entgegen einem „sozialwissenschaftlichen Vorurteil“ schlägt Reckwitz dabei vor, die ästhetischen Bewegungen nicht „auf bloße Phänomene der Kunst als einer autonomen Sphäre zu reduzieren oder gar als anti-moderne Regressionen abzutun“, sondern diese vielmehr als „Subjekttransformationsbewegungen der gesellschaftlichen Moderne“ zu lesen: Zum einen brechen sie den scheinbar universalen Horizont der (post-)bürgerlichen Subjektkulturen auf und modellieren alternative Subjektivitäten, die gleich mit dem 40 Hanna Voss (Mainz) <?page no="41"?> 26 Vgl. ebd., S.-30 (Herv. im-Original). 27 Vgl. ebd., S.-29f. 28 Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 10-12 u. 15-19; als weitere Einflussfaktoren nennt er den Strukturwandel von der alten industriellen Ökonomie zum Kulturkapitalismus und die digitale Revolution. 29 Vgl. ebd., S.-17f. 30 Vgl. ebd. Kulturalisierung meint in diesem Zusammenhang die Aufladung von „Ob‐ jekte[n] und Praktiken mit einem Wert jenseits von Funktionalität“ bzw. eine „Verwand‐ lung des Zweckrationalen ins Wertrationale“, vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S.-14; Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-17. 31 Vgl. ebd., S.-18. Anspruch radikaler Modernität auftreten. Zum anderen stellen sie wichtige Sinnele‐ mente zur Verfügung, welche die Transformation der dominanten Subjektkulturen im 19. und 21. Jahrhundert erst ermöglichen. Sowohl im Umschlag von der bürgerlichen zur Angestelltenkultur als auch in jenem zur Postmoderne sickert die ästhetische Mo‐ derne mit ihren anti-bürgerlichen Subjektidealen so in die gesellschaftliche Moderne ein. 26 Aufgrund ihrer Wirkmächtigkeit relevant seien vor allem drei, zeitlich weit auseinander liegende kulturelle Gegenbewegungen, die er in Abgrenzung zu den historisch jeweils hegemonialen Subjektkulturen der bürgerlichen Moderne als minoritär bezeichnet: die Romantik um 1800 mit ihrem Subjekt der ex‐ pressiven Individualität, die Avantgarden um 1900 mit ihrem transgressiven, grenzüberschreitenden Subjekt sowie die kulturrevolutionäre Counter Culture um 1970 und ihr Subjekt des experimentellen Begehrens. 27 Die genannten ästhetischen Bewegungen tragen laut Reckwitz jedoch nicht nur zur Transformation von modernen Subjektordnungen bei, sondern sind zu‐ gleich Ursache für die Transformation von einer sozialen Logik des Allgemeinen hin zu einer sozialen Logik des Besonderen, die sämtliche Dimensionen des So‐ zialen gleichermaßen betreffe: Dinge, zeitliche Einheiten, räumliche Einheiten, Subjekte und Kollektive. 28 Zudem sieht er in diesen Bewegungen die andere, nicht-rationalistische Seite der Moderne, welche im soziologischen Diskurs, indem „Modernisierung mit den Prozessen der formalen Rationalisierung und Versachlichung in eins“ gesetzt werde, jedoch häufig ausgeblendet werde. 29 Und dies, obgleich sich die Moderne aus seiner Sicht von Anfang an aus diesen beiden gegenläufig organisierten Dimensionen zusammensetze: „aus der rationalisti‐ schen der Standardisierung und aus ebenjener kulturalistischen Dimension der Wertzuschreibungen, Affektintensitäten und Singularisierung“. 30 Ihren zentralen Impuls habe die nicht-rationalistische Moderne durch „die auf den ersten Blick lediglich marginale künstlerische Bewegung der Romantik“ erhalten. 31 Hinsichtlich der Ursachen, die zu diesem Primat der Logik der Sin‐ „Produktion“ von Schauspielenden 41 <?page no="42"?> 32 Vgl. ebd., S.-19, 22 u. 103 (Herv. im-Original). 33 Vgl. ebd., S.-10 (Herv. im-Original); Reckwitz, Das hybride Subjekt, S.-13f. 34 Vgl Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-17. 35 Vgl. ebd., S.-19 u. 24. 36 Vgl. ebd., S.-19 (Herv. im Original). 37 Vgl. ebd., S.-13 (Herv. im-Original) sowie S.-181-223 u. 371-428. gularitäten geführt hätten, spricht er daher auch von „der postromantische[n] Authentizitätsrevolution in der neuen Mittelklasse“ bzw. der „sozio-kulturelle[n] Authentizitätsrevolution, getragen vom Lebensstil der neuen Mittelklasse“. 32 Generell erweise sich die Spätmoderne als eine „Kultur des Authentischen“: Wo vorher standardisierte Industriegüter und austauschbare Industriestädte dominierten, strebten im kulturellen Kapitalismus auch Güter und Städte nach Authentizität bzw. Unverwechselbarkeit. 33 Weder sind, wie Reckwitz betont, die seit dem letzten Viertel des 20. Jahr‐ hunderts großflächig zu beobachtenden Prozesse der Singularisierung und Kulturalisierung somit völlig neu, noch werde - so seine zentrale These - „die alte Logik des Allgemeinen von der neuen Logik des Singulären komplett verdrängt“. 34 Vielmehr habe sich „das Verhältnis zwischen den sozialen Logiken des Allgemeinen und des Besonderen in den letzten 40 Jahren verändert“: Während in der klassischen, vor allem der industriellen Moderne, Prozesse der Singularisierung und Kulturalisierung Antipoden zur Herrschaft des Allgemeinen darstellten und dieser zugleich strukturell untergeordnet waren, werden sie in der Spätmoderne leitend und strukturbildend für die ganze Gesellschaft. Zugleich ändert die Rationalisierung ihre Form und verwandelt sie zu großen Teilen in eine Hinter‐ grundstruktur für Singularisierungsprozesse. 35 Anders formuliert bedeute dies, dass sich die Mechanismen der formalen Ratio‐ nalität in der Spätmoderne vielfach so umstellten, „dass sie ‚im Hintergrund‘ die Form von allgemeinen Infrastrukturen für die systematische Verfertigung von Besonderheiten“ annähmen. 36 Von den von ihm untersuchten „allgemeine[n] Praktiken und Strukturen […], die sich um die Verfertigung von Besonderheiten drehen“, interessieren im vorliegenden Zusammenhang, wenn auch aus unter‐ schiedlichen Gründen, vor allem jene einer Singularisierung der Arbeitswelt und eines Wandels des Politischen. 37 So dient das Theater bzw. dienen bestimmte Vorstellungen von Theatralität und Performativität Reckwitz nicht nur implizit als Modell für seine Überlegungen zu spätmoderner Subjektivierung („Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden. Nur wenn es authentisch ist, 42 Hanna Voss (Mainz) <?page no="43"?> 38 Vgl. ebd., S.-9 u. 195 (Herv. im Original). 39 Vgl. ebd., S.-196-200 u. 203-210 (Herv. im-Original). 40 So hat der Arbeitswissenschaftler Axel Haunschild die Situation von Schauspielenden am Theater gemeinsam mit Doris Eikof bereits Anfang der 2000er Jahre mithilfe des von Hans Pongratz und Günther Voß entwickelten Konzepts des „Arbeitskraftunter‐ nehmers“ beschrieben, das Reckwitz wie auch andere Analysen der postfordistischen Arbeitsformen zwar als zutreffend bewertet, jedoch zu bündeln und zuzuspitzen versucht, vgl. exempl. Axel Haunschild / Doris Eikof, „Arbeitskraftunternehmer in der Kulturindustrie. Ein Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater“, in: Hans J. Pongratz / Günther G. Voß (Hg.), Typisch Arbeitskraftunternehmer? Befunde der empirischen Arbeitsforschung, Berlin 2004, S. 93-113; Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-181f. 41 Hans Bodié, Die Arbeitsvermittlung in den künstlerischen Berufen, Freiburg i. Br. 1933, S.-50. ist es attraktiv“), sondern die für die Wissens- und Kulturökonomie typische Projektarbeit wird von ihm auch explizit „mit dem aus dem Theater entlehnten Begriff des Ensembles“ beschrieben. 38 Und eine solche Bezugnahme ist beileibe kein Einzelfall, vielmehr häufen sich in dem Kapitel zur Singularisierung der Arbeitswelt Begriffe aus diesem wie angrenzenden Bereichen („Talent“, „Casting“ „vor einem Publikum aufgeführt“, „Performanzarbeiter“). 39 Der Schauspieler bzw. Künstler als Prototyp des spätmodernen Arbeitssub‐ jekts? - Dass Sozialwissenschaftler*innen eine solche Lesart vertreten, ist keineswegs neu. 40 Doch gerät durch solch eine ‚romantische‘ Sichtweise, wie ich im Folgenden anhand von zwei für die Strukturation des Feldes wichtigen Entwicklungen bzw. Ereignissen in der Endphase der Weimarer Republik und zu Beginn der 1970er Jahre exemplarisch zeigen möchte, eines schnell aus dem Blick: nämlich dass auch die „Produktion“ von Schauspielenden über weite Teile des 20. Jahrhunderts primär der Logik des Allgemeinen folgt und die in diesem Zeitraum entstandenen Praktiken und Strukturen gegenwärtig, wenn vielleicht auch stärker im Hintergrund, nach wie vor am Werke sind. Der „Bühnennachweis“ (1930-1933): Ein „zentralisierte[r] Apparat“ 41 Ein besonders eindrückliches Zeugnis stellt in diesem Zusammenhang der „Büh‐ nennachweis“ (Paritätischer Stellennachweis der deutschen Bühnen G. m. b. H.) dar. Nachdem die privatgewerbliche Stellenvermittlung durch das 1927 ver‐ abschiedete „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ deutschlandweit verboten worden war und man sich auf eine Sonderlösung für „Bühnenkünstler“ geeinigt hatte, hat dieser zum 1. Oktober 1930 seinen Betrieb aufgenommen. Unter Aufsicht der in diesem Zuge gegründeten Reichsanstalt „Produktion“ von Schauspielenden 43 <?page no="44"?> 42 Vgl. ebd., insb. S.-46-53. 43 Vgl. Deutsches Bühnenjahrbuch Jg. 42 (1930/ 1931), S. 938; Deutsches Bühnenjahrbuch Jg. 43 (1931/ 1932), S. 155f.; Deutsches Bühnenjahrbuch Jg. 44 (1932/ 1933), S. 151f.; Der neue Weg Jg.-62, Heft-3 (1933), S.-65. für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung lag die Verantwortung für die neue Einrichtung in den Händen der beiden Berufsverbände, dem Deutschen Bühnen-Verein (gegr. 1846) und der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen (gegr. 1871). Unter paritätischer Leitung wurde der „Büh‐ nennachweis“, welcher - wie Hans Bodié es in seiner volkswirtschaftlichen Schrift Die Arbeitsvermittlung in den künstlerischen Berufen (1933) formuliert - über eine „einzigartige Monopolstellung“ verfügte, 42 während der ersten zweieinhalb Jahre seines Bestehens weiter ausgebaut: Unmittelbar vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten waren 16 „Disponenten“ für die Vermittlung u. a. in den Bereichen Oper, Operette, Schauspiel, Tonfilm, Technisches und Verwaltungspersonal zuständig; die Mehrheit davon in der Berliner Zentralstelle, zwei bzw. einer in den Zweigstellen in Mainz und München. In Berlin befand sich auch die „Kartothek und Registratur“, circa 16.200 Bühnenmitglieder waren hier erfasst (Stand: Ende 1932). 43 In einem bereits am 16. Dezember 1930 und somit nur kurz nach der Betriebsaufnahme in der Halbmonatsschrift Der neue Weg erschienenen Artikel mit dem schlichten Titel „Der Bühnennachweis“ betonen die beiden Leiter Wilhelm von Holthoff (Bühnen-Verein) und Hans Nerking (Genossenschaft) vor allem die Vorteile, welche sich für alle Beteiligten aus der Zentralisierung und Monopolisierung ergäben. In diesem Zusammenhang dient ihnen die vormalige privatgewerbliche Engagementsvermittlung zur positiven Abgrenzung: Es ist keine Frage, daß diese Lösung für die an den deutschen Bühnen tätigen künstlerischen und technischen Arbeitnehmer große Vorteile nach jeder Richtung mit sich bringt. Ganz abgesehen davon, daß eine zentrale Stelle einen viel größeren Ue‐ berblick über die Gesamtlage des Arbeitsmarktes hat, als die vielen Einzelagenten, die nach besonderen Interessensgebieten sich orientierten, entstehen auch wesentliche Ersparnisse durch eine zentrale Organisation. […] Für die Bühnenleiter bedeutet dieser Zusammenschluß eine Erleichterung gegen den bisherigen Zustand insofern als sie nicht mehr, wie früher, mehrere Agenten in langer Korrespondenz oder durch Besuche für die Besetzung ihrer Vakanzen in Anspruch nehmen müssen, sondern sich mit ihren Wünschen jetzt an einen Sachbe‐ arbeiter bzw. an die Zentrale wenden können […]. Durch diese Art der Vermittlung werden die Bühnenleiter davor verschont, mit unzähligen Angeboten verschiedener 44 Hanna Voss (Mainz) <?page no="45"?> 44 Der neue Weg Jg.-59, Heft-24 (1930), S.-438. 45 Zur Frankfurter Schauspielschule vgl. Zehn Jahre Frankfurter Schauspielschule. Eine Werbeschrift für die Schulidee, verfasst von der Leitung und Lehrkräften der Schule, zusammengestellt von Eberhard Beckmann, 1930. Zu den Prüfungsstellen vgl. exempl. Der neue Weg Jg.-60, Heft-9 (1931), S.-252. 46 Vgl. Der neue Weg Jg.-59, Heft-24 (1930), S.-438.. Agenten überhäuft zu werden, manches Mitglied doppelt oder dreifach angeboten zu bekommen […]. 44 Das Streben nach „Ueberblick“ ist dabei typisch bzw. geradezu paradigmatisch für die 1920er und frühen 1930er Jahre und zwar um auf diese Weise dem als großes Problem wahrgenommenen ‚Zustrom‘ zur Bühne zu begegnen - sowohl die vom Angestelltenausschuss des Solopersonals des Frankfurter Schauspielhauses als „Musterschule“ gegründete Frankfurter Schauspielschule (1919-1933) als auch die 1927 beschlossene Einrichtung paritätischer Prüfungs‐ stellen sind u. a. als Ausdruck dessen zu verstehen. 45 Des Weiteren fällt auf, wie selbstverständlich in dem Artikel nicht nur von dem „Angebot“ an und der „Nachfrage“ nach Arbeitskraft gesprochen wird, sondern der bzw. die Künstler*in in dem voranstehenden Auszug selbst zur gehandelten Ware wird („manches Mitglied doppelt oder dreifach angeboten zu bekommen“). 46 Die Organisationsstruktur und Vermittlungstätigkeit des „Bühnennachweis“ wird seitens von Holthoffs und Nerkings ferner wie folgt beschrieben: […] alle Mitarbeiter der Anstalt [sind] als Sachbearbeiter einzelnen bestimmten Thea‐ tern zugeteilt. Dieser Sachbearbeiter hält den Kontakt durch Reisen und Briefwechsel aufrecht. Er kennt jedes Theater genau und kann auf jeden Wunsch der Theaterleitung reagieren und steht seinerseits in immerwährender lebendiger Verbindung mit den übrigen Mitarbeitern und der zentralen Leitung. Er bekommt von diesen Anregungen und Hilfe; wird eine Vakanz durch einen Bühnenleiter aufgegeben, so erhält die Zent‐ rale durch den Sachbearbeiter sofort Nachricht. Die von diesem gemachten Angebote werden ergänzt durch die Vorschläge der übrigen Mitarbeiter. Der Bühnenleiter hat also eine Gewähr dafür, daß er zwar nur mit einem einzigen, zentral geleiteten Institut zusammenarbeitet, jedoch Angebote und wertvolle Hinweise von den verschiedenen, innerhalb der Anstalt gemeinsam arbeitenden Sachverständigen erhält. Das Mitglied seinerseits wird von allen Disponenten der Anstalt erfaßt. Auf Reisen und durch Orientierungen innerhalb des Mitarbeiterkollektivs werden die einzelnen Mitglieder, ihre Engagements, ihre künstlerische Tätigkeit jedem Mitarbeiter bekannt, das der Zentrale eingesandte Material und alle Wünsche der Mitglieder gehen über eine zentrale Kartothek umgehend an alle Mitarbeiter. Hier wird nun das Mitglied „Produktion“ von Schauspielenden 45 <?page no="46"?> 47 Vgl. Der neue Weg Jg.-59, Heft-24 (1930), S.-438f. 48 Vgl. Bodié, Die Arbeitsvermittlung, S. 30; Deutscher Theaterdienst, 3./ 4. Dezember Jg. 4, Nr.-106/ 107 (1931), S.-190. 49 Vgl. Der neue Weg Jg.-9, Heft-24 (1930), S.-438. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922 (Grundriss der Sozialöko‐ nomie 3), S.-124-130. 52 Der neue Weg Jg.-9, Heft-24 (1930), S.-438. nicht nur von einem einzigen Disponenten vertreten, sondern von jedem einzelnen innerhalb der Anstalt tätigen Sachverständigen. 47 Wie aber passt diese sehr schematische Beschreibung zu dem von Bodié sowohl auf allgemeiner Ebene als auch mit Blick auf den „Bühnennachweis“ thematisierten Sträuben von Künstlern „gegen alles Behördliche, Bürokratische, amtlich Regierende“ bzw. dem Hinwirken darauf, dass „die individuelle Arbeit, die persönliche Fühlung zwischen Bühnenleitung, Bühnenmitglieder [sic! ] und dem ‚Bühnennachweis‘ nicht gestört würde durch bürokratische Methoden, die keinen Platz haben in der künstlerischen Vermittlung“, wie es in einem ebenfalls von den beiden Leitern stammenden Artikel im Deutschen Theaterdienst vom 3./ 4. Dezember 1931 heißt? 48 Und in dem Der neue Weg-Artikel ist gar davon die Rede, dass „[j]ede bürokratische Schematisierung, jede bürokratische Ver‐ gewaltigung des Einzelnen […] unbedingt vermieden werden“ müsse. 49 Für die Zeitgenoss*innen stellte dies offenbar keinen Widerspruch dar. Dass die Feldteilnehmenden vielmehr selbst wie angehende Volkswirtschaftler*innen sprechen - aufgrund der nach heutigen Maßstäben unsauberen Arbeitsweise Bodiés sind direkte Wiedergaben aus den beiden Artikeln oftmals nicht als solche erkenntlich -, wird besonders augenfällig, wenn sie sinngemäß auf Synergieeffekte verweisen oder ihr eigenes Handeln an Effizienzmaßstäben ausrichten. So ist in dem Artikel im Kontext der sich für alle Beteiligten ergebenden Vorteile Folgendes zu lesen: „Wie auf jedem Wirtschaftszweig, und das Theater ist nichts anderes, durch Zusammenschluß erst die letzten Resultate zu erreichen sind, so auch hier“ bzw. „Die Zentrale in Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich so zu organisieren, daß der bestmögliche Nutzeffekt bei größter Sparsamkeit erzielt wird.“ 50 Es fällt daher nicht schwer, darin jene „Maschine“ wiederzuerkennen, als die Weber den voll entwickelten bürokrati‐ schen Mechanismus im Rahmen seiner Herrschaftssoziologie beschreibt. 51 Denn obgleich von Holthoff und Nerking wiederholt die Lebendigkeit betonen („Zum innersten Wesen dieses zentralen Institutes gehört sein lebendiger Kontakt mit allen Bühnen des Reiches und ihren Leitungen. Er soll nicht kalt und nüchtern vermitteln“ 52 ), erinnert ihre Beschreibung an den u. a. durch feste Amtshierar‐ 46 Hanna Voss (Mainz) <?page no="47"?> 53 Vgl. ebd., S.-126f. (Kursivstatt Sperrdruck im Original). 54 Vgl. Der neue Weg Jg.-9, Heft-24 (1930), S.-438. 55 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124 u. 126; Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-14f. u. 28f. 56 Vgl. Bodié, Die Arbeitsvermittlung, S.-49. 57 Vgl. Deutscher Theaterdienst, 3./ 4. Dezember Jg.-4, Nr.-106/ 107 (1931), S-89f. 58 Vgl. exempl. Der neue Weg Jg.-61, Heft-4 (1932), S.-87. 59 Vgl. Hanna Voss, „Schauspieler/ innen zwischen Institution und Profession. Zur Re‐ levanz ethnischer Kategorisierungen im deutschen Sprechtheater am Beispiel des Künstlervermittlungswesens“, in: Friedemann Kreuder / Ellen Koban / Hanna Voss (Hg.): Re/ produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten, Bielefeld 2017, S.-118-132. chie und -kompetenzen gekennzeichneten „bürokratischen Verwaltungsstab“; 53 insbesondere wenn sie von „Sachbearbeiter[n]“ oder an anderer Stelle gar von einem „Stab von Fachleuten“ sprechen. 54 Als Instrument legaler bzw. rationaler Herrschaft, mithin formaler Rationalisierung, stütze dieser Verwaltungsstab Reckwitz zufolge zugleich eine „Herrschaft des Allgemeinen“. 55 Insbesondere Bodiés die obige Beschreibung zusammenfassende Formulie‐ rung, dass „[s]ämtliche wichtige eingehende Post […] von allen Mitarbeitern gelesen“ wird, 56 das heißt inklusive Leitung und Verwaltung von um die zwanzig (! ) Personen, die noch dazu teils nicht vor Ort und/ oder ständig unterwegs und bestenfalls per Telefon oder Telegramm erreichbar sind, wie auch der im Original teils angeschlagene Ton („steht […] in immerwährender lebendiger Ver‐ bindung“) lassen jedoch Zweifel aufkommen: Inwiefern handelt es sich hierbei tatsächlich um die Realität oder nicht vielmehr um ein - zumindest in Teilen - idealisiertes bzw. (mit Weber formuliert) idealtypisches Bild? Auch wenn es vor allem zu Beginn zahlreiche Probleme bei der „praktischen Durchführung des Gedankens“ gab, 57 wie viele kleinere Meldungen in Der neue Weg aus dem Zeit‐ raum 1931 bis Anfang 1933 belegen, 58 lässt sich festhalten, dass die Akteur*innen durchaus gemäß dieser ‚Blaupause‘ agierten. Letztere weist zudem eine große Übereinstimmung mit der Organisationsstruktur und Tätigkeit der heutigen, zur Bundesagentur für Arbeit gehörenden ZAV-Künstlervermittlung im Bereich Schauspiel/ Bühne auf (vormals: ZBF), 59 deren Vermittler*innen 1973 auch an dem „Theaterpädagogischen Kongreß“ teilgenommen haben. „Theaterpädagogischer Kongreß“ (Berlin, 1973): Schauspielschulen als „warenproduzierende Institutionen“? Fünf Tage dauerte der unter Federführung von Moritz Milar, Leiter der Schauspielabteilung der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende „Produktion“ von Schauspielenden 47 <?page no="48"?> 60 Vgl. exempl. Werner Schulze-Reimpell, „Die Erneuerung des Theaters beginnt in der Schauspielschule“, in: Die Deutsche Bühne 6 (1972), S. 2-4; „Verändert die Schauspiel‐ schulen, denn sie verändern sich schon“, in: Theater heute 2 (1972), S. 1-7. Für einen Überblick vgl. Jakob Jenisch, „Furcht und Hoffnung des Nachwuchses (Schauspiel‐ schulen 1)“, in: Die deutsche Bühne, 8 (1985), S. 45-47; Jakob Jenisch, „Krisen sind Geburtswehen (Schauspielschulen 2)“, in: Die deutsche Bühne 9 (1985), S.-46-48. 61 Vgl. UdK-Archiv 11 - 122, Protokoll der Arbeitsgruppe zu „Vorsprech- und Vermitt‐ lungswesen - Weiterbildung von Berufsanfängern“ (Mittwoch, C); „Wie wird fürs Theater ausgebildet“, S.-3f. Kunst Berlin (heute: Universität der Künste, UdK) und Peter Simhandl, Dozent an der Max-Reinhardt-Schule, veranstaltete Kongress. Dem vorangegangen waren Studierendenproteste in Folge der 1968er-Bewegung, Leitungswechsel in einigen öffentlichen Schulen, bereits begonnene Reformen in einzelnen Einrichtungen (Hannover, Bochum u. a.) sowie eine breite Diskussion in den Theaterfachzeitschriften (Theater heute, Die deutsche Bühne), die sich teils ex‐ plizit als „Forum“ verstanden. 60 Zur Vielzahl der auf dem Kongress verhandelten Themen gehörte auch der Übergang vom Studium in den Beruf. Eröffnet wurde die diesbezügliche Diskussion vor Ort, folgt man dem Proto‐ koll der Arbeitsgruppe zu „Vorsprech- und Vermittlungswesen - Weiterbildung von Berufsanfängern“, mit dem ebenfalls gekürzt in Theater heute abgedruckten Referat zum Thema „Was nach der Ausbildung geschieht“ von Marianne Scheid‐ egger, Studentin an der Max-Reinhardt-Schule. Darin fasst sie die Befunde einer ergänzend zu der „Fragebogenaktion“ durchgeführten Umfrage unter jungen Schauspielenden zusammen. Neben Ergebnissen zu den Fragen „Wie bewertet der junge Schauspieler rückblickend seine Ausbildung? “ und „Wie sieht der Berufsanfänger seine Weiterbildung am Theater? “ präsentiert sie hier auch Ergebnisse zu der Frage „Wie erfährt der junge Schauspieler das Vorsprechen? “, wobei sie die aktuelle Situation jeweils nicht nur beschreibt bzw. problemati‐ siert, sondern auch konkrete Vorschläge zur Verbesserung einbringt. 61 Ihre Kritik am Vorsprechen zielt dabei weniger auf einzelne Details, wie z. B. die Wahl des Vorsprechrepertoires, als auf den Vorgang an sich, entsprechend allgemein fällt daher auch die Beschreibung aus: Beim Vorsprechen muß sich der Schauspieler als Ware zum Kauf anbieten; das wird dem Berufsanfänger meist erst bei der Suche nach dem ersten Engagement voll bewußt. Jetzt erkennt er, daß sein Marktwert, entsprechend dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, gering ist. Die altbekannte Vorsprechpraxis ist nicht nur eine psychische Belastung, sondern auch eine Erniedrigung für den Schauspieler. Ein Jungschauspieler formuliert das 48 Hanna Voss (Mainz) <?page no="49"?> 62 Ebd., S.-3. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. UdK-Archiv 11 - 122, Protokoll „Vorsprech- und Vermittlungswesen“. 66 Vgl. „Wie wird fürs Theater ausgebildet“, S.-4-7. 67 Vgl. ebd., S.-4 (Herv. im-Original). so: ‚Die Erkenntnis der Verantwortlichen ist notwendig, daß der Anfänger auch ein Mensch ist, wenn auch ein ganz kleiner.‘ 62 Bezüglich der Frage, wie „die üble Situation für den Berufsanfänger erträglicher gemacht werden“ könne, führt Scheidegger drei Forderungen an. Im Kern geht es darin um ein gegenseitiges, im besten Fall frühzeitiges „Kennenlernen“ , das heißt vor dem Vorsprechen bzw. bereits während der Ausbildung / des Studiums, und darum, dass nicht allein das Vorsprechen, sondern vor allem die anschließende „Arbeit mit dem Bewerber“ ausschlaggebend für ein Engagement sein soll. 63 Zugleich betont sie aber, dass es sich hierbei lediglich um „Minimal‐ forderungen“ handle: Generell höben diese wie auch die anderen zur Diskussion gestellten Verbesserungsvorschläge „vor allem auf Reformen im Detail“ ab, obgleich - wie sie einleitend zu bedenken gibt - „grundsätzliche Veränderungen der Produktionsbedingungen“ durch solche Reformen möglicherweise sogar hinausgezögert würden. 64 Laut dem Protokoll ist das Referat Scheideggers in der Arbeitsgruppe sowohl auf Widerspruch als auch auf Zustimmung gestoßen. Festgehalten wurde jedoch u. a. Folgendes: „Bestätigung der These, daß der Schauspieler sich als Ware verkaufen muß (sh. Referat Scheidegger)“. 65 Dass dieses Bild vom Schauspieler als Ware bzw. als sich notwendigerweise selbst zu Markte tragendes Individuum auf dem Kongress in der Diskussion so prominent vertreten war, lag sicherlich nicht unwesentlich an dem be‐ reits am Vortag gehaltenen, ebenfalls gekürzt in Theater heute abgedruckten Referat „Zur psychischen und sozialen Situation des Schauspielers“ von Ger‐ burg Treusch-Dieter (Technische Universität Hannover, vorher Ausbildung zur Schauspielerin an der Max-Reinhardt-Schule und Arbeit in diesem Beruf). 66 , Neben dem (nicht erhaltenen) Referat Chrysoulla Kambas’ habe Treusch-Die‐ ters zwar „die entschiedenste Zustimmung, aber auch die größte, nach Diskussion verlangende Betroffenheit“ ausgelöst. 67 Sich als Vertreterin der Kritischen The‐ orie bzw. der sog. Frankfurter Schule präsentierend, stellt sie darin nicht allein die bürgerliche Gesellschaft und deren Kunstverständnis, sondern die bürger‐ liche als eine kapitalistische, auf dem Prinzip des Tausches beruhende Gesell‐ schaft und deren ideologisch begründeten wie internalisierten Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen zur Disposition („die Herrschaft des Bürgertums [beruht] ökonomisch auf Unrecht […], nämlich auf Ausbeutung, auf Aneignung „Produktion“ von Schauspielenden 49 <?page no="50"?> 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. ebd., S.-4-7. 70 Vgl. ebd., S.-6. 71 Vgl. ebd., S.-1 u. 6 (Herv. im-Original). 72 Vgl. ebd., S.-6 (Herv. im Original). fremder Arbeitskraft, die die Werte schafft, die das Bürgertum akkumuliert und für die es nur scheinbar ein Äquivalent zurückzahlt“). 68 Damit geht sie argumentativ noch einen Schritt weiter bzw. tiefer als die beiden Vertreter der Freien Gruppen. Der „Leidensweg des Schauspielers von der erhofften Selbst‐ verwirklichung […] bis zur völligen Selbstentfremdung“ gliedert sich dabei laut ihr in vier Punkte: a) „Der utopische Anspruch des Schauspielers und was ihn verhindert“, b) „Der Schauspieler als bürgerlich sozialisiertes Individuum“, c) „Schauspielersein als Akt der inneren Naturbeherrschung. Der Schauspieler als der wahre Stellvertreter des Bürgers“ und d) „Der Schauspieler als Ware“. 69 So sucht sie u. a. Schritt für Schritt darzulegen, inwiefern sich Schauspielende von anderen Tauschhandelnden unterscheiden („Auch der Schauspieler tauscht ein Produkt, auch er produziert eine Ware, doch ist es eine eigen gearbeitete Ware, die von seiner physischen und psychischen Existenz nicht abzutrennen ist“) und welche spezifischen Probleme daraus resultieren. 70 Die Unterwerfung des von Schauspielenden hergestellten Produkts unter die allgemeinen, auf Ver‐ gleichbarkeit zielenden Bestimmungen des Marktes führe zu einer Typisierung bzw. Vorsortierung in Fächer (letzteres allerdings wurde durch die Umfrage Tamchinas nicht bestätigt bzw. negiert), was im Widerspruch zu den eigenen Ansprüchen, dem eigenen Selbstverständnis stehe: Das Produkt des Schauspielers verlangt in seinem künstlerischen Anspruch nach Einmaligkeit, nach Originalität - auf dem Markt muß er es jedoch Bestimmungen übergeben, die ihm eben den Charakter des Besonderen, des Einmaligen nehmen. Nun ist der Schauspieler sich selbst Produkt, die allgemeinen Merkmale, die seine be‐ sondere Ware kennzeichnen sollen, damit sie vergleichbar wird, treffen ihn selbst: der Schauspieler wird zum Typ gestempelt, obwohl er jede verfestigte Identität negieren wollte, er wird in Fächer vorsortiert, obwohl er sich außerhalb des gesellschaftlichen Rollensystems halten wollte. 71 Als Warenproduzierende unterlägen Schauspielende zudem den Bestimmungen des freien Marktes und damit dem „Konkurrenzprinzip“, wobei der Umstand, dass „das Angebot an Schauspielern größer ist als die Nachfrage“, zu einem „verschärften Konkurrenzdruck“ führe. 72 Kritik übt Treusch-Dieter insbeson‐ dere an der Tatsache, dass sich Schauspielende unter diesen Bedingungen nicht um die Entfaltung ihrer ästhetischen Mittel bemühen, sondern stattdessen 50 Hanna Voss (Mainz) <?page no="51"?> 73 Vgl. ebd. 74 Ebd. (Herv. im-Original). 75 Vgl. ebd., S.-3. 76 Vgl. ebd. „warenästhetische Bestimmungen“ annähmen. 73 So formuliert sie unter Bezug auf Karl Marx’ Überlegungen zu dem aufgrund des quasireligiösen Stellenwerts als „Fetisch“ bezeichneten Mensch-Produkt-Verhältnisses: […] nicht durch sein Können, sondern dadurch, daß er [der Schauspieler, H.V.] etwas ‚an sich hat‘ versucht er sich von den anderen zu unterscheiden. Die künstlerische Bemühung um das Originale verkürzt sich zum äußeren, unwägbaren Merkmal: Die Ausstrahlung, die der Schauspieler verkauft, mit der er ‚über die Rampe kommt‘, ent‐ spricht dem, was Marx den Fetischcharakter der Ware nennt: es ist der sinnlich-über‐ sinnliche Charakter, den die Ware über ihren Gebrauchswert hinaus annimmt, wenn sie sich in den Austauschprozeß begibt, wenn sie ihren Tauschwert realisiert. 74 Geradezu exemplarisch spiegelt sich in den voranstehenden Auszügen das romantische Ideal von „Einmaligkeit“ und „Originalität“ versus Standardisie‐ rung wider, zugleich aber auch eine Kritik an einem rein äußerlichen Doing singularity gemäß den Prinzipien des Marktes. Dass Scheidegger sich durchgängig, wenn auch oberflächlich an dem Referat Treusch-Dieters bzw. der Kritischen Theorie bedient, zeigt sich nicht nur in ihrer den Umfrageergebnissen vorangestellten Bemerkung, dass es nicht darum gehe, „die Situation des Berufsanfängers abzusetzen von der anderer Schauspieler und sie gesondert zu problematisieren“, denn: Die psychische und soziale Situation des Jungschauspielers ist prinzipiell die gleiche wie die älterer Kollegen. Der einzige Unterschied besteht darin, daß der Berufsan‐ fänger in der Regel auf der untersten Stufe der Schauspielerhierarchie steht. 75 Auch in der Zusammenfassung der Ergebnisse zu den Bereichen Ausbildung und Weiterbildung finden sich entsprechende Formulierungen. Etwa wenn sie im Zusammenhang mit dem fehlenden Publikumskontakt der Studierenden schreibt: „Trotzdem ist der Unterschied zwischen einer Schauspielschule und einem Theater kein grundsätzlicher. Beides sind warenproduzierende Instituti‐ onen. ‚Die Schauspielschulen bilden Kanonenfutter für das heutige Theater aus‘, sagt ein Berufsanfänger.“ 76 Oder wenn sie mit Blick auf die beiden von den Thea‐ tern gemeinhin als weitere Ausbildung angenommenen und daher schlechter bezahlten „Anfängerjahren“ nicht nur kritisch Bezug auf eine Naturalisierung von Leistung nimmt („Während der Proben kann meistens nicht näher auf den Anfänger eingegangen werden. Mit seinen Schwierigkeiten muß dieser zu „Produktion“ von Schauspielenden 51 <?page no="52"?> 77 Vgl. ebd., S.-3f. 78 Vgl. Henning Fülle, Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960-2010), Berlin 2016, S. 38f.; Martin Ankermann, „Die Ständige Konferenz der Schauspielschulen (SKS). Ein Bericht von Martin Ankermann“, in: Theaterpädagogik 1 (1980), S.-113-117, hier S.-113f. 79 Vgl. exempl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-15. Hause fertig werden, wenn er als ‚begabt‘ gelten will“), sondern als zwei der Hauptschwierigkeiten junger Schauspielender die „Konkurrenzsituation“ und die „Vereinzelung“ im Ensemble anführt. 77 Und im Abbau dieser (bürgerlichen) Vereinzelung wiederum liegt laut Cloos und Elschner ja eine der Hauptaufgaben der pädagogischen Arbeit Freier Gruppen. Während die Bewegung der Freien Gruppen kurz nach dem Kongress abbrach - die heutige sog. Freie Szene entwickelte sich Hennig Fülle zufolge seit Mitte der 1970er bzw. (im Sinne verfestigter Strukturen) seit Mitte der 1980er Jahre -, wurde im Februar 1974 als „wichtigste[s] Ergebnis dieses Kongresses“, so die rückblickende Einschätzung eines der beteiligten Dozierenden, die SKS als Zusammenschluss der staatlichen und städtischen Schauspiel(hoch)schulen gegründet. 78 Obgleich einen historischen Moment der Öffnung und Verhand‐ lung tradierter Grenzziehungen markierend (auch zwischen Wissenschaft bzw. Theorie und Praxis), hat dieses Ereignis somit langfristig zu einer Verfestigung der Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Ausbildungsangeboten und damit auch zwischen deren Absolvent*innen geführt. Deutlich spiegelt sich dies auch in dem Kreis der seit 2005 bzw. 2012 an den Zentralen Vorsprechen teilnehmenden Schulen wider. „Sie sind alle noch zu haben“: Doing Diversity! Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit meiner Re-Lektüre der Reckwitz’‐ schen Schriften und Veranschaulichung anhand von zwei jenseits tradierter historiografischer Narrative liegender Beispiele will ich keinesfalls behaupten, dass dessen Analysen nicht zutreffend wären, aber sie liefern ein unvollstän‐ diges Bild. In dem Bestreben, die in den Sozialwissenschaften überwiegend ausgeblendete nicht-rationalistische Seite der Moderne in den Fokus zu rücken bzw. eine solch einseitige Sicht zu revidieren, blendet er, indem er sich für seine Theoriebildung allein auf kulturelle Gegenbewegungen konzentriert, die jedoch auch und zuallererst ästhetische (im Sinne von gegen die Kunst gerichtete) Ge‐ genbewegungen sind, nämlich zugleich die rationalistische Seite der Kunst aus. 79 Doch nicht nur das Bild von der Kunst als nicht-rationalistisch, sondern auch 52 Hanna Voss (Mainz) <?page no="53"?> 80 Vgl. exempl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S.-30. 81 Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-41f. als anti-bürgerlich bedarf der Ergänzung. 80 So sind die Anfang der 1970er Jahre von den Theaterhäusern auf die Schauspielschulen überschwappenden und die Diskussion vor wie während des „Theaterpädagogischen Kongreß“ prägenden Proteste zwar Teil der von Reckwitz beschriebenen Counter Culture, erklärter ‚Gegner‘ ist aber das bürgerliche Theater und eine hierfür ‚produzierende‘ Schauspielausbildung. Die dem zugrunde liegenden Infrastrukturen stammen dabei, wie ich anhand des Vermittlungswesens exemplarisch zu zeigen versucht habe, alle aus den 1920er und frühen 1930er Jahren bzw. wurden hier die Weichen für die späteren Entwicklungen gestellt. Und diese Infrastrukturen sind, wie das Beispiel des „Bühnennachweis“ eindrücklich belegt und ich hier weitergehend behaupten möchte, Teil der von Reckwitz beschriebenen organisierten Moderne mit ihrem nach-bürgerlichen Angestellten-Subjekt. Obgleich er selbst einschränkend darauf hinweist, dass sich seine Analyse dieser zweiten Modernitätskultur der 1920 bis 1970er Jahre auf die von den USA ausgehende, ‚amerikanistische‘ Angestelltenkultur konzentriert, ist eine solche kulturhisto‐ rische Einordnung meines Erachtens auch mit Blick auf die nicht erst während der Zeit des Nationalsozialismus, sondern in Ansätzen bereits in der Weimarer Republik erfolgte Bürokratisierung der „Produktion“ von Schauspielenden bzw. Künstler*innen instruktiv. 81 Denn blendet man die Besonderheiten ein Stück weit aus, so vollzieht sich die „Produktion“ von Schauspielenden im 20. und 21. Jahrhundert, wie zuvor bereits als These in den Raum gestellt, innerhalb jener historisch kontingenten Rahmungen, die auch allgemein für die Produktion von Subjekten gelten. Doch was bedeutet dies mit Blick auf die Gegenwart? Zumal, wenn man mit Reckwitz davon ausgeht, dass Schauspielende eigentlich schon immer bzw. zumindest teilweise spätmoderne Subjekte waren? Zwei Antworten möchte ich vorschlagen. Zum einen liefert die Umstellung von einer Logik des Allgemeinen hin zu einer Logik des Besonderen aus meiner Sicht einen Erklärungsansatz für die gegenwärtig zu beobachtende Tendenz zur Verschleierung der ‚Produkti‐ onsverhältnisse‘: Um als einzigartiges, besonderes und vor allem ‚authentisches‘ Subjekt zu erscheinen - als singuläre Schauspielerpersönlichkeit -, dürfen die im Hintergrund für die systematische Verfertigung dieser Besonderheit verantwortlichen Infrastrukturen nicht sichtbar werden. Zum anderen, und damit knüpfe ich an meine Frage bezüglich der ‚Halbwertszeit‘ an, lässt sich die aktuelle Konjunktur von Humandifferenzierungen nach Ethnizität bzw. ‚Rasse‘ mit Reckwitz als Ausdruck einer Kulturalisierung des Politischen im „Produktion“ von Schauspielenden 53 <?page no="54"?> 82 Vgl. ebd., S.-371. 83 Vgl. Radix, „Sie sind alle noch zu haben“, diese titelgebende Aussage wurde von den Vertreter*innen des RLT Neuss auch im Rahmen der von mir teilnehmend beobachteten zwölften Ausgabe der Zentralen Vorsprechen (14.-18.11.2016) wiederholt zur Ankün‐ digung der einzelnen Schulen verwendet. 84 Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-371f. 85 Vgl. ebd., S.-10. 86 Vgl. ebd., S.-14 u. 16f. Sinne eines differenziellen Liberalismus lesen: Einerseits meint dies eine neo‐ liberale Orientierung, das heißt Stärkung und Ausbreitung von Markt- und Wettbewerbsstrukturen in allen gesellschaftlichen Bereichen, 82 wie es sich für die 2000er und frühen 2010er Jahre in der Entstehung und Entwicklung der Zentralen Vorsprechen exemplarisch widerspiegelt - nicht zufällig ist der ebenfalls am 3. Dezember 2012 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienene Artikel über die Veranstaltung in Neuss mit „Sie sind alle noch zu haben. Die beste Castingshow im ganzen Land“ überschrieben. 83 Anderer‐ seits ist damit vor allem eine Ausrichtung an kultureller Diversität gemeint; gemäß dieser differenziellen Logik würden soziale und kulturelle Unterschiede hervorgehoben und gefördert. 84 Oder, wie Reckwitz es an anderer Stelle pointiert formuliert: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts „ist ‚kulturelle Vielfalt‘ […] zum Leitprinzip einer liberalen Gesellschafts- und Kulturpolitik geworden“. 85 Wenn Wolff bezüglich des von ihm wahrgenommenen Mangels an Schauspielenden „mit offensichtlichem Migrationshintergrund“ im November 2012 die Frage stellt, wie „wir im Theater gesellschaftliche Realität ausbilden [sollen], wenn wir keine Darsteller haben, die das von ihrer Biografie her könnten“, und die Antwort darauf quasi schon mitliefert - nämlich gar nicht -, dann zeigt sich darin meines Erachtens nicht nur der Wunsch nach Authentizität, nach einer authentischen Performanz, sondern geht dies potenziell einher mit einer Aufwertung einer bestimmten Gruppe an dadurch singularisierten Subjekten (und zugleich Entsingularisierung/ Entwertung anderer). 86 Ansatzpunkt der Singularisierung und Valorisierung im Sinne einer kulturalistischen Wertzu‐ schreibung sind dabei - wie meine ethnografischen Befunde zeigen - sowohl die Körper von Schauspielenden bzw. von am Schauspielberuf Interessierten als auch ihre biografischen Erfahrungen: etwa wenn Absolvent*innen of colour für die Diversifizierung der Ensembles neuerdings dringend gesucht werden 54 Hanna Voss (Mainz) <?page no="55"?> 87 Vgl. ebd.; Hanna Voss, „Leistungskörper/ Körperleistung? - Die Aufnahmeprüfung an Schauspiel(hoch)schulen aus ethnographischer Perspektive“, in: Forum Modernes The‐ ater 33: 1-2 (2022), S. 120-134; Hanna Voss, „From Drama School to Stage: Young Actors of Color in German-Speaking Sprechtheater“, in: Priscilla Layne / Lily Tonger-Erk (Hg.), Staging Blackness: Representations of Race in German-Speaking Drama and Theater, Ann Arbor 2024, S.-277-299. 88 Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-371f. 89 Apertistisch steht hier für das permanente Streben nach „wirtschaftliche[r], soziale[r] und kulturelle[r] Öffnung und Grenzüberschreitung“, vgl. ebd., S. 371f. (Herv. im Ori‐ ginal). 90 Vgl. ebd., S.-394-428. 91 Vgl. ebd., S.-372f. oder solchen sich Bewerbenden im Rahmen der Aufnahmeprüfung per se eine potentiell ‚erzählenswerte‘ Biografie zugesprochen wird. 87 Die Grenzen zur Identitätspolitik sind in dem von mir erforschten Feld allerdings fließend, worin Reckwitz ebenfalls eine, wenn auch konträre Version der Kulturalisierung des Politischen sieht, die sich auf partikulare kulturelle Gemeinschaften und kollektive Identitäten berufe, entsprechend durch eine Tendenz der Abgrenzung statt Öffnung gekennzeichnet sei und von ihm als Kulturessenzialismus bezeichnet wird. 88 In beiden Fällen handle es sich jedoch „um eine Politik, die auf das Besondere statt auf das Allgemeine setzt: auf die Differenzen der Performanz und die Diversität der Kultur im apertistisch-diffe‐ renziellen Liberalismus, auf die Partikularität der kulturellen Gemeinschaften im Kulturessenzialismus“. 89 Auch wenn Reckwitz dabei vor allem ethnische, nationale und religiöse Gemeinschaften im Blick hat, ließe sich darüber disku‐ tieren, inwiefern es sich bei der spätestens seit Mitte der 2010er Jahre im Feld des deutschsprachigen Theaters wie auch in der darauf bezogenen Wissenschaft verstärkt zu beobachtenden identitätspolitischen Ausrichtung, vor allem in Bezug auf Ethnizität, Geschlecht / sexuelle Orientierung und Behinderung, ebenfalls um eine Variante des Kulturessentialismus im Reckwitz’schen Sinne handelt. 90 Entscheidend ist an dieser Stelle jedoch vor allem eines: Anders als die letztlich minoritär gebliebenen anti-bürgerlichen Strömungen der 1970er Jahre, handelt es sich bei dem differenziellen Liberalismus bzw. dieser Form der Singularisierung um das in der Gegenwart dominierende politische Paradigma, weshalb ein Ende der meine Forschung zu Theater als Institution (und die Forschung vieler anderer) leitenden Konjunktur derzeit nicht abzusehen ist. 91 „Produktion“ von Schauspielenden 55 <?page no="57"?> 1 Beim Schreiben dieses Aufsatzes habe ich viel von den kenntnisreichen Hinweisen und Kommentaren von Friedemann Kreuder und Benjamin Wihstutz sowie der beiden Gutachter*innen profitiert, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Herzlichen Dank auch an Clemens Brill und Charlotte Hennen für ihre Unterstützung bei der Einrichtung des Artikels! 2 Rudolf Münz, „Das Harlekin-Prinzip“, in: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baum‐ bach, hg. Gisbert Amm, Berlin 1988, S.-60-65. Abgrenzung und Überschreitung Zur Aktualität des „Harlekin-Prinzips“ im Zeitalter der Identitätspolitik 1 Hans Roth (Berlin) Der vorliegende Aufsatz befragt das von Rudolf Münz geprägte Konzept des „Harlekin-Prinzips“ vor dem Hintergrund aktueller Debatten um die vermeintlich ‚subversiven‘, grenzüberschreitenden Akte des Rechtspopu‐ lismus auf seine Aktualität und politische Trennschärfe. Während der Harlekin bei Münz in Rekurs auf Michail Bachtin als der prototypische Vertreter einer widerständigen Volks- und Gegenkultur beschrieben wird, der die Normen und Regeln der offiziellen Welt spielerisch entlarvt, ist die Missachtung, Aushöhlung und Verkehrung der Spielregeln einer demokratischen Öffentlichkeit heutzutage eher ein Signum rechter Identi‐ tätspolitiken. Diesbezüglich argumentiert der Beitrag, dass die spezifische Theatralität von rechten Strongmen-Figuren wie Trump und Putin nicht im isolierten Rückgriff auf das Harlekin-Prinzip, sondern nur in der Ver‐ knüpfung mit anderweitigen Repräsentations- und Authentifizierungsst‐ rategien zu verstehen ist. Die auf Rudolf Münz zurückgehende Denkfigur des „Harlekin-Prinzips“ 2 ist innerhalb der Theaterwissenschaft vielfach aufgegriffen worden und stößt <?page no="58"?> 3 Vgl. etwa Dieter Heimböckel, „Harlekin als interkulturelle Figur. Zu Rudolf Münz’ Essay Das Harlekin-Prinzip“, in: Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik, 10/ 1 (2019), S. 137- 139 (anlässlich des Wiederabdrucks von Münz‘ Harlekin-Aufsatz in der Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik). auch über die Fachgrenzen hinaus auf anhaltendes Interesse. 3 Vereinfacht gesagt, zielt Münz mit dem „Harlekin-Prinzip“ auf die Wiederentdeckung einer marginalisierten Form von anarchisch-subversiver Theatralität, deren Spur von den Anfängen der Theatergeschichte über die Commedia dell’arte bis in die Gegenwart hinein reicht. Die Träger*innen des Harlekin-Prinzips werden als Trickster-ähnliche Figuren beschrieben, die der Repräsentationslogik des dramatischen Theaters und den funktionalistischen Humandifferenzierungen der modernen Gesellschaft, die auf fortschreitender Spezialisierung und tech‐ nokratischem Kalkül beruhen, eine utopische Gegenwelt des spielerischen Exzesses und der lustvollen Überschreitung entgegenhalten. Während das Harlekin-Prinzip bzw. die mit dem Prinzip in Verbindung stehenden Phänomene bei Münz durchweg positiv konnotiert sind, geht der fol‐ gende Aufsatz von der Überlegung aus, dass dieses emphatische Verständnis aus heutiger Perspektive an einigen Stellen erklärungsbedürftig anmutet und unter dem Eindruck aktueller identitätspolitischer Debatten womöglich revidiert werden muss. Nach Münz besteht die subversive Kraft des Harlekin-Prinzips gerade darin, soziale und ästhetische Grenzziehungen zu überschreiten und als kontingent zu entlarven; demgegenüber lautet eine zentrale Forderung heutiger Identitätspolitiken, die Differenzen zwischen verschiedenen Identitäten und Positionierungen nicht einfach einzuebnen, sondern ihre soziale Wirksamkeit anzuerkennen und dies als eine Grundlage für Selbstermächtigung und solida‐ rische Bündnisse zu verstehen - der Typus des Grenzgängers, der sich lachend über bestehende Grenzen hinwegsetzt, erscheint heutzutage möglicherweise eher auf der Seite rechter Identitätspolitiken verortet. Aus diesem Grund versucht sich der vorliegende Aufsatz an einer theatralitätstheoretischen Neu‐ bestimmung des Harlekin-Prinzips, die seine destruktive, anmaßende Seite am 58 Hans Roth (Berlin) <?page no="59"?> 4 Wenn in diesem Beitrag von „autoritärem Rechtspopulismus“ die Rede ist, ist dies als Hilfsbegriff zu verstehen, der keinen Anspruch auf definitorische Genauigkeit erhebt, sondern auf eine Familienähnlichkeit zwischen den diversen reaktionären, rechtspopu‐ listischen, national-klerikalen, neurechten, nationalkonservativen, neofaschistischen Parteien und Politikformen abzielt, welche seit der Jahrtausendwende verstärkt Wahler‐ folge erzielen und sich spätestens seit den 2010er Jahren zu einem globalen Phänomen entwickelt haben. Das Prädikat „Autoritär“ bezieht sich dabei - im Sinne der älteren Kritischen Theorie - auf eine ausgeprägte Feindschaft gegen linke, bürgerlich-liberale Vorstellungen des privaten und/ oder gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie einer Neigung zu traditionalistischen, patriarchalen und kulturalistischen Gegenmodellen. „Rechtspopulismus“ verweist demgegenüber neben der Position im klassischen Par‐ teienspektrum auf die vielfältigen Ansätze zur Unterwanderung und Aushöhlung demokratischer Ordnungen mittels rassistischer, antifeministischer, homophober und/ oder ableistischer Programme, Maßnahmen und Gesetze, in denen die Nation und die Bevölkerung als eine von äußeren Feinden bedrohte, autochthon-homogene Schick‐ salsgemeinschaft dargestellt werden. Vgl. hierzu weiterführend Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen, Berlin 2018; Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2017; Volker Weiß, Die autoritäre Revolte: die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017. Beispiel des autoritären Rechtspopulismus 4 kritisch ins Verhältnis zu den ihm zugeschriebenen Potentialen der Entgrenzung und Subversion setzt. Der Aufsatz gliedert sich wie folgt: Der erste Teil des Textes rekapituliert die konzeptuellen Grundzüge des Harlekin-Prinzips, wobei neben der theatralitäts‐ theoretischen Fundierung der Denkfigur vor allem die Münz’schen Anleihen bei Michail Bachtins Karnevalstheorie diskutiert werden. Daran anschließend geht der zweite Abschnitt auf Sylvia Sasses Thesen zur Indienstnahme von Subversion als Machttechnik von ‚oben‘ sowie ergänzend auf Dorna Safaias Überlegungen zum Phänomen des komischen Strongman ein, um an diesen Beispielen mögliche Überschneidungen zwischen den Ausdrucksformen des au‐ toritären Rechtspopulismus und bestimmten harlekinesken bzw. karnevalesken Stilmerkmalen aufzuzeigen. Im letzten Abschnitt rückt demgegenüber die Frage nach alternativen theatralen Beschreibungsmodellen in den Vordergrund: Im Rückgriff auf die bei Münz angedeutete Unterscheidung von insgesamt drei Formprinzipien von Theatralität wird deutlich, dass die vermeintlich „subversiven“ Elemente rechter Identitätspolitik nicht als isoliertes Phänomen, sondern stets in ihrem Zusammenspiel mit autoritären Repräsentations- und Authentifizierungsstrategien zu betrachten sind. Abgrenzung und Überschreitung 59 <?page no="60"?> 5 Vgl. Rudolf Münz, Das „andere“ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin 1979, S.-101-197. 6 Rudolf Münz, „Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungs‐ projekt ‚Theatergeschichte‘“, in: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach, hg. Gisbert Amm, Berlin 1988, S.-66-81, hier: S.-70. 7 Vgl. ebd., S.-69-71. 8 Ebd. S.-77. 9 Vgl. Rudolf Münz, „Commedia italiana“, in: Ders.: Theatralität und Theater. Zur His‐ toriographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach, hg. Gisbert Amm, Berlin 1988, S.-141-153. 10 Vgl. Rudolf Münz, „Giullari nudi, Goliarden und ‚Freiheiter‘“ in: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach, hg. Gisbert Amm, Berlin 1988, S.-104-140. 11 Vgl. Rudolf Münz, „Nestroy und die Tradition des Volkstheaters“, in: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach, hg. Gisbert Amm, Berlin 1988, S.-196-272. Zwischen „anderem“ Theater und frühneuzeitlicher Lachkultur: Das Harlekin-Prinzip Das von Münz beschriebene Harlekin-Prinzip erkennt in der gleichnamigen Figur der Commedia dell’arte, die im Zuge der bürgerlichen Theaterre‐ formen zahlreiche Anfeindungen, einige fragwürdige Rettungsversuche, aber auch überraschende Aktualisierungen erfahren hat, 5 den idealtypischen Ver‐ treter eines theatralen Formprinzips, das sich durch Verwandlungslust, anar‐ chisch-groteske Körperlichkeit und ostentative Künstlichkeit auszeichnet. „Dieses ‚Theater‘ gibt sich betont und bewusst ‚unnatürlich‘, d. h. supra-artifi‐ ziell; sein Hauptrepräsentant, Harlekin, hatte ‚kein Vorbild in der Natur‘, avanc‐ ierte aber zum ‚Genius des Lebens‘“ 6 . Innerhalb des von Münz entwickelten Theatralitätskonzeptes, das zwischen vier einander bedingenden Ausprägungen von Theater unterscheidet 7 , fällt dem Harlekin-Prinzip eine Schlüsselrolle zu, um eine ahistorische Verengung des Theaterbegriffs auf dramatisches Kunsttheater zu überwinden: Die „Aktivitäten“ 8 des Harlekin-Prinzips sind der Inbegriff eines „anderen“ Theaters, das Münz u. a. in den Wandertruppen der Commedia dell’arte 9 , der Jahrmarkts- und Gauklerkultur der Frühen Neuzeit 10 und der Tradition des Volkstheaters 11 aufsucht. Im scharfen Gegensatz zu den Moralisierungen und Ästhetisierungen des bürgerlich-dramatischen Theaters zeichnet sich „anderes“ Theater durch spielerisch-reflexive Maskenhaftigkeit und hemmungslos ausgestellte Vitalität aus und richtet sich entschieden gegen eine nach kapitalistisch-instrumentellen Vernunftprinzipien geordnete Welt: 60 Hans Roth (Berlin) <?page no="61"?> 12 Münz, „Harlekin-Prinzip“, S.-63. 13 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Band I. MEW. Bd.-23, Berlin 1971, S.-741-791. 14 Münz‘ gleichnamiger Kurzaufsatz über das Harlekin-Prinzip geht auf das Programm‐ heft einer Dresdner Ariadne auf Naxos-Inszenierung zur Spielzeit 1984/ 85 zurück, was auch den thesenhaft-sprunghaften Charakter des Textes erklärt. 15 Münz, „Harlekin-Prinzip“, S.-60. 16 Ebd., S.-65. 17 Vgl. Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht, Zürich 2007, S.-320. 18 Ein genauerer Blick auf den Anteil weiblicher Positionen innerhalb der Theaterreform‐ bewegung sensibilisiert an dieser Stelle für die Ausschlüsse und inneren Widersprüche, die der Etablierung dieses tradierten Selbstbildes vorausgehen bzw. damit verknüpft sind. Vgl. hierzu Beate Hochholdinger-Reiterer, Kostümierung der Geschlechter: Schau‐ spielkunst als Erfindung der Aufklärung, Göttingen 2014. Dieses Theater widersetzte sich mit all seinen phantastisch-grotesken Mitteln, seinen ,kraftspendenden‘ Jenseitsbeziehungen oder karnevalistischen Verkehrungen dem Prozess, der zur „Disziplinierung des neuen Zustandes“ (Marx) führen sollte und zwar in allen entscheidenden Punkten. 12 Dieser Hinweis auf die gewaltsame Instituierung der kapitalistischen Gesell‐ schaft in der von Marx umrissenen Phase der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ 13 deutet - neben der DDR als zeitlichem Entstehungskontext 14 - auf einen weit gefassten Geltungsbereich hin, der sich von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert erstreckt. Tatsächlich deutet Münz wiederholt an, dass „an‐ deres“ Theater und Harlekin-Prinzip im Grunde als überzeitliche Phänomene zu verstehen seien, die es in jeder Phase der Theatergeschichte gegeben hat - und geben wird. In Münz’ manifestartigem Kurzaufsatz über das Harlekin-Prinzip wird es als „uralt“ und als „aus der Geselligkeit urgemeinschaftlich tätigen Lebens entstanden“ 15 bezeichnet; am Ende des Textes ist unter Verweis auf The‐ atergrößen wie Dario Fo, Ariane Mnouchkine, Benno Besson und Eugenio Barba von einer „ungebrochenen Lebendigkeit des Harlekin-Prinzips“ 16 die Rede, was den Eindruck eines unzerstörbaren, nicht totzukriegenden Wirkprinzips nährt, das allen anderweitigen Bestrebungen zum Trotz in jeder Epoche aufs Neue zu reüssieren vermag. Während Stefan Hulfeld in seiner Rekonstruktion des Münz’schen Ansatzes von einer „antinormativen“ Herangehensweise spricht 17 , verdeutlichen die überschwänglichen Formulierungen, die Münz für das Harlekin-Prinzip wählt, dass sich seine Position vornehmlich gegen eine bestimmte, lange Zeit über‐ mächtige Norm richtet: gegen die von bürgerlichen Theaterreformer*innen 18 ererbte Vorstellung eines nach aristotelischen Prinzipien strukturierten Nach‐ ahmungs- und Repräsentationstheaters, das auf literarischen Vorlagen basiert, Abgrenzung und Überschreitung 61 <?page no="62"?> 19 Vgl. Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung, S.-321-323. 20 Vgl. Münz, Das „andere“ Theater, S.-193f. u. S 198-205. 21 Vgl. hierzu das Einleitungskapitel in Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volks‐ kultur als Gegenkultur, Frankfurt/ M. 1995, S.-49-110. 22 Vgl. Münz, „Harlekin-Prinzip“, S.-61; Münz, „Theatralität und Theater“, S.-77. 23 Vgl. Münz, Das „andere“ Theater, S.-77-81. 24 Vgl. Münz, „Theatralität und Theater“, S.-77. 25 Vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S.-53-55, sowie S.-88f. an stehende Bühnen geknüpft ist und der Einübung bürgerlicher Wertvorstel‐ lungen verpflichtet ist. 19 Das Harlekin-Prinzip fungiert in diesem Zusammen‐ hang als normativer Gegenpol, durch den die von der Reformhistoriographie verdrängten und marginalisierten Anteile des Theatralen eine radikale Aufwer‐ tung erfahren. Das anti-illusionistische Stegreifspiel, das amoralische Gebaren und die nicht-individualistische Konzeption von Schauspiel und Bühnenfigur sind für Münz gerade kein Makel des Harlekin-Theaters, sondern Ausweis seiner ästhetischen Komplexität und Widerständigkeit. 20 Eine wichtige theoretische Referenz für Münz stellt Michail Bachtins Studie Rabelais und seine Welt dar, in der Bachtin den frühneuzeitlichen Karneval und François Rabelais’ Romanzyklus Gargantua und Pantagruel als Manifesta‐ tionen einer volkstümlichen Lachkultur deutet, welche eine vulgär-groteske Gegenwelt zur offiziellen Welt von Adel und Kirche gebildet habe. 21 Münz greift in seinen Texten ausgiebig auf diese Denkfigur einer verborgenen Volkskultur zurück und verwendet oftmals von Bachtin geprägte Begriffe wie Lachkultur 22 , karnevalistisches Weltempfinden 23 und Dialogizität 24 , um die ästhetischen Be‐ sonderheiten des „anderen“ Theaters zu umschreiben. Man könnte sagen, das Harlekin-Prinzip ist im Grunde eine theaterwissenschaftliche Aktualisie‐ rung (und Präzisierung) der bei Bachtin unter dem Schlagwort des „Lach-Prin‐ zips“ 25 zusammengefassten Merkmale der frühneuzeitlichen Lachkultur: die Verschränkung von schöpferischen und destruktiven, degradierenden und aufwertenden Akten; die Kreation einer archaisch-mythischen Sphäre des Dazwischen, in der Kunst und Alltag, Leben und Tod, Komik und Tragik noch als ursprüngliche Einheit erfahrbar sind; die genüssliche Aufkündigung eines auf Harmonie und Ganzheit zielenden Körper- und Sprachverständnisses durch Vulgarität und groteske Körperlichkeit - so gut wie alle Spezifika, die Bachtin der Karnevalszeit und dem damit verknüpften karnevalistischen Bewusstsein zuschreibt, werden von Münz im Topos des Harlekin-Prinzips wieder aufgegriffen und als genuin theatrale Verhaltensweisen lesbar. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Bachtins Analyse des frühneuzeitli‐ chen Karnevals und Münz’ Neudeutung der Harlekin-Figur besteht in der transhistorischen Ausrichtung beider Ansätze. In beiden Fällen wird die Be‐ 62 Hans Roth (Berlin) <?page no="63"?> 26 Vgl. hierzu Renate Lachmann: „Vorwort“, in: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt/ M. 1995, S. 7-46; Stuart Hall: „Metaphern der Transformation“, in: Ders.: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt, Hamburg 2000, S.-113-136. 27 Rudolf Münz, „,Ein Kadaver, den es noch zu töten gilt‘. Das Leipziger Theatralitäts‐ konzept als methodisches Prinzip der Historiographie älteren Theaters“, in: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach, hg. Gisbert Amm, Berlin 1988, S. 82-103, hier: S.-85. 28 Ebd. 29 Vgl. einschlägig Andreas Kotte, Theatralität im Mittelalter. Das Halberstädter Adams‐ spiel, Tübingen 1994; Gerda Baumbach, Seiltänzer und Betrüger? Parodie und kein Ende. Ein Beitrag zu Geschichte und Theorie von Theater, Tübingen u. Basel 1995; Stefan Hulfeld, Zähmung der Masken, Wahrung der Gesichter. Theater und Theatralität in Solothurn 1700-1798, Zürich 2000; Friedemann Kreuder, Spielräume der Identität in Theaterformen des 18.-Jahrhunderts, Tübingen 2010. 30 „Das Harlekin-Prinzip […] ist deshalb unabdingbarer, integraler, strukturierender Bestandteil des Theatralitätskonzepts und bisher vordringlich untersucht worden“ (Münz, „Leipziger Theatralitätskonzept“, S.-100). schreibung des jeweiligen Gegenstandes mit allgemeinen kulturtheoretischen respektive theatralitätstheoretischen Überlegungen verwoben, die nicht nur die Vergangenheit betreffen, sondern unverkennbar auch auf die Gegenwart zielen. So ist Bachtins Rabelais-Studie vielfach als eine versteckte Auseinander‐ setzung mit dem Stalinismus und seinen auf Eindeutigkeit und Endgültigkeit getrimmten Sprachregelungen gedeutet worden, die darüber hinaus avant la lettre eine modellhafte Auflistung von gegenkulturellen Praktiken der Verkeh‐ rung enthält, wie sie im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre verstärkt zu beobachten waren. 26 Auch der in der DDR entwickelte Theatralitätsansatz ist Münz zufolge maßgeblich auf einen systemkritischen Impuls zurückzuführen, nämlich „zur Erhellung angeblicher Veranstaltungen wie Parteitage, Gewerkschaftskongresse, Pädagogenkongresse als ‚Theater‘, als ‚Inszenierungen‘ beizutragen“ 27 und ein „sich politisch und kulturpolitisch bewusst isolierend[es] […] DDR-Theater“ 28 neu zu kontextualisieren. Hiervon ausgehend hat das Leipziger Theatralitätskonzept eine ganze Reihe von the‐ aterwissenschaftlichen Studien inspiriert 29 , die sich meist nicht nur an der von Münz formulierten Typologie orientieren, sondern mitunter auch den (the‐ orie-)politischen Subtext des Modells beibehalten und sich bevorzugt mit den Spielarten eines „anderen“ Theaters und den Aktivitäten des Harlekin-Prinzips auseinandersetzen. 30 Abgrenzung und Überschreitung 63 <?page no="64"?> 31 Nikolaus Müller-Schöll, „Der ‚Chor der Komödie‘. Zur Wiederkehr des Harlekins im Theater der Gegenwart, in: Ders. / André Schallenberg / Mayte Zimmermann (Hg.), Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert, Berlin 2012, S.-189-201. 32 Nicole Haitzinger / Franziska Kollinger (Hg.), Harlekinaden. Beiträge zum Aspekt des Polemischen in den Szenischen Künsten. Tanz & Archiv, Heft 9 (2020). 33 Maha El Hissy, Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler, Bielefeld 2012. 34 Vgl. El Hissy, Getürkte Türken, S. 10-22, sowie Hans Roth, Die komische Differenz. Zur Dialektik des Lächerlichen in Theater und Gesellschaft, Bielefeld 2022, S.-174-184. 35 Vgl. hierzu Roth, Die komische Differenz, S.-183-185. Harlekin- und Lachprinzip aus identitätspolitischer Perspektive In wissenschaftlichen Arbeiten, die nach der Aktualität der von Münz und Bachtin beschriebenen Phänomene fragen, überwiegt ebenfalls eine positive Lesart von Harlekin- und Lachprinzip. Wenn in theaterwissenschaftlichen Texten bisweilen von einer „Wiederkehr des Harlekins“ 31 und den „Harlekin‐ aden“ 32 des Gegenwartstheaters die Rede ist, geht es um eine progressive Gegenbewegung zum bürgerlich-dramatischen Theaterverständnis, die das immer noch vorherrschende Paradigma der identitätsstiftenden Darbietung von literarischen Texten durch harlekineske Tendenzen unterläuft. Ähnliches gilt für Versuche, Bachtin’sche Denkfiguren auf die Gegenwart zu übertragen. Die Kulturwissenschaftlerin Maha El Hissy konstatiert in ihrer Dissertations‐ schrift Getürkte Türken 33 eine zunehmende Karnevalisierung des deutsch-türki‐ schen Migrationskontextes, die sie am verstärkten Auftreten von trickster-ähn‐ lichen Figur(ation)en in Filmen, Kabarettprogrammen und Theaterstücken von deutsch-türkischen Künstler*innen festmacht. Diese Karnevalisierungsten‐ denzen deutet El Hissy als eine gezielte Verunreinigung von ethnischen, natio‐ nalen und kulturellen Grenzen, die sich für die zweite und dritte Generation von Migrant*innen als zunehmend obsolet erweisen würden. 34 Während El Hissy ausgehend von Bachtin zu einer wohlwollenden Einschät‐ zung von ethnocodierter Komik tendiert, die auch populärer Komik etwas abgewinnen kann, rücken die von ihr diskutierten Phänomene unter identitäts‐ politischen, rassismuskritischen Gesichtspunkten in einen anderen Kontext. 35 Denn die karnevaleske Überschreitung identitärer Grenzen, die mit Bachtin primär als etwas Befreiendes zu verstehen ist, kann sich auch als eine anma‐ ßende und potenziell verletzende Praxis erweisen, die lediglich die Denkmuster einer weißen Mehrheitsgesellschaft befriedigt und nur bedingt zur Aushandlung von kultureller Differenz beiträgt. In einer Zeit, in der nicht nur einschlägig rassistische Darstellungspraktiken wie Blackfacing, sondern auch solche Beset‐ 64 Hans Roth (Berlin) <?page no="65"?> 36 Zur Rekapitulation dieser Debatte vgl. Karina Rocktäschel / Theresa Schütz / Doris Kolesch (Hg.), Auf- und Umräumen im eigenen Haus: Beiträge zu einer Dezentrierung von Theater/ Wissenschaft. Sonderheft Forum Modernes Theater 34, Nr. 2 (2023); Azadeh Sha‐ rifi / Lisa Skwierblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022; Hanna Voss, Reflexion von ethnischer Identität(szu‐ weisung) im deutschen Gegenwartstheater, Marburg 2014. 37 Vgl. etwa Münz, Das andere Theater, S. 205f., sowie die Kritik an der neuzeitlichen Vorstellung eines von Natur aus harmonischen Körpers in Bachtin, Rabelais und seine Welt, S.-72-81. 38 Münz, Das „andere“ Theater, S.-198. 39 Zum utopischen Gehalt dieser jenseitigen Position vgl. Friedemann Kreuder, „Aldilà teatrale - Hamlet und die andere Welt“, in: Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, hg. von demselb. und Michael Bachmann, Bielefeld 2009, S.-123-137. zungsstrategien und Sehgewohnheiten, die ‚Weißsein‘ als Norm implizieren und perpetuieren, zunehmend in Verruf geraten sind 36 , ist die rhetorische Emphase, in der Münz und Bachtin über die permanenten Verwandlungen und identitären Entgrenzungen der Karnevalszeit und der Commedia dell’arte sprechen, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Zwar dürfte unstrittig sein, dass Lach- und Harlekinprinzip eine emanzipatorische Agenda verfolgen, dass sie sich auf Seiten der Unterdrückten positionieren und gegen essentialistische und natu‐ ralistische Konzeptionen von Identität richten. 37 Doch liegt der hier formulierten Kritik an den begrenzten Körper- und Subjektvorstellungen von Aufklärung und Humanismus nicht die Fiktion einer ganz und gar unmarkierten, von allen Identitätszuschreibungen unbelasteten Position zugrunde, die sich jederzeit über bestehende Ausschlüsse hinwegzusetzen vermag - im Sinne einer „Auf‐ forderung zur realen Glückseligkeit des Menschen“ 38 ? Denn obwohl Bachtin und Münz wiederholt auf die gesellschaftliche Codierung von Harlekin und Karneval hinweisen, resultiert das ihnen zugeschriebene Transgressionspotential nicht immanent aus der sozialen Stellung der entsprechenden Figuren und Feste; die (temporäre) Emanzipation, die von ihnen ausgeht, wird als das Resultat volun‐ taristischer Akte konzipiert, die ausdrücklich in keiner kausalen Beziehung zur Ordnung der normalen Welt stehen, sondern von außen in sie hereinbrechen - als Manifestation und Vorschein einer anderen, einer immer-schon befreiten Subjektivität, die im theatralen Maskenspiel und der körperlich-rauschhaften Enthemmung gleichsam zu sich selbst zurückfindet. 39 Während Münz und Bachtin auf die temporäre Überwindung von starren Dichotomien vertrauen, um kulturelle Identität als prinzipiell unabgeschlossen, fluide und kontingent kenntlich zu machen, verknüpfen heutige identitätspo‐ litische Ansätze dieses Ansinnen ungleich stärker mit einer strategischen Konsolidierung bzw. Neubestimmung von Identität unter emanzipatorischen Abgrenzung und Überschreitung 65 <?page no="66"?> 40 Vgl. Lea Susemichel / Jens Kastner, Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Ge‐ schichte und Gegenwart der Linken, Münster 2018, S.-7-11. 41 So etwa bei Bernd Stegemann, Identitätspolitik, Berlin 2023, S.-50-54. 42 Vgl. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S.-60-62. 43 Vgl. ebd., S.-88-90. Vorzeichen: Anstatt die soziale Wirkkraft von Differenzkategorien wie race, class und gender zu nivellieren und sie als hegemoniale Konstrukte zu „ent‐ larven“, gelte es ebenso, sich die oktroyierte Identität anzueignen und auf dieser Grundlage Sichtbarkeit und Teilhabe einzufordern. 40 Diese Strategie, die in der öffentlichen Debatte um Identitätspolitik von (links-)konservativer Seite verschiedentlich als „Opferdiskurs“ 41 gelabelt wird, weil sie die individuelle Verletzbarkeit und den persönlichen Erfahrungshorizont derjenigen in den Vordergrund rückt, die von hegemonialen Ausschlüssen betroffen sind, unter‐ scheidet sich gravierend von einer subversiv-karnevalesken Bezugnahme auf gesellschaftliche Hierarchien. Zwar wird in beiden Fällen um eine andere Form der Sichtbarkeit von randständigen Positionen gerungen, allerdings mit völlig entgegengesetzten Mitteln. So sind Awareness-Programme oder die temporäre Einrichtung von safe(r) spaces etwas kategorial anderes als der respektlose, betont unsensible Zugriff auf Identität, den harlekineske und karnevaleske Praktiken an den Tag legen, wenn sie den Status quo ins Gegenteil verkehren und überformen. Während in der heutigen Diskussion Fragen der Vulnerabilität und Deutungshoheit eine enorm hohe Bedeutung beigemessen wird, zielen Münz und Bachtin auf eine enthemmte, volkstümlich-derbe Spottlust ab, die wenig moralische Skrupel kennt und sich nicht an die Anstands- und Benimmregeln der offiziellen Welt und des tradierten Kunsttheaters gebunden fühlt. Subversion als Machttechnik: Die „andere“ Seite des Harlekin-Prinzips Obwohl die Frage der Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit von Identität bei Münz und Bachtin weitgehend ausgeklammert wird, wäre es nicht ganz richtig, ihnen deshalb eine einseitige Verklärung der von ihnen untersuchten Phäno‐ mene vorzuwerfen. So betont Bachtin an mehreren Stellen seiner Untersuchung, dass die volkstümliche Lach und- Karnevalskultur neben ihren schöpferischen und lebenbejahenden Zügen auch eine negative, zerstörerisch-gewaltvolle Seite gehabt habe. 42 Das Besondere, ja: Einzigartige des frühneuzeitlichen Lachprin‐ zips bestehe gerade darin, dass Wirkungsprinzipien, die aus heutiger Sicht als unvereinbare Gegensätze gelten würden, hier noch eine ursprüngliche Einheit gebildet hätten. 43 Münz weist ebenfalls darauf hin, dass vom Strukturtyp des 66 Hans Roth (Berlin) <?page no="67"?> 44 Vgl. Münz, Theatralität und Theater, S.-70. 45 Sylvia Sasse, Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik, Berlin 2023. 46 Ebd., S.-15. 47 Vgl. ebd., S.-9-11. 48 Vgl. ebd. S.-37-41. „anderen“ Theaters nicht nur ein konstruktiver, sondern auch ein destruktiver Impuls ausgehe, wobei er letzteren vor allem mit der Maske des Harlekins und Praktiken wie Entlarvung, Verstellung und Betrug in Verbindung bringt. 44 Angesichts dieser betont dialektischen Anlage, die nicht einfach auf Aufhe‐ bung zielt, sondern ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit feststellt, fällt freilich umso mehr auf, dass Harlekin- und Lachprinzip in den Arbeiten von Münz und Bachtin durchweg als ein Mittel der Unterdrückten behandelt werden, um sich den Zumutungen der offiziellen Welt zu entziehen und sie kurzzeitig auf den Kopf zu stellen. Doch worauf stützt sich diese Einordnung? Was ist mit den zahl‐ reichen, historisch belegten Erscheinungsformen des Karnevals, in denen eine konformistische und affirmative Einstellung zu den gegebenen Machtverhält‐ nissen überwiegt? Mit all jenen Harlekinaden und Hanswurstiaden, in denen die Ambivalenz und Doppelbödigkeit dieser Maske nicht aufrechterhalten wird, sondern eine strukturelle Nähe zu den Entlastungsritualen des bürgerlichen Lachtheaters erkennbar wird? Ist es wirklich zielführend, solche Phänomene zu Schwundformen eines nicht korrumpierbaren Ursprungs zu erklären, wie dies Bachtin und Münz wiederholt tun? In expliziter Abgrenzung von diesen Idealisierungstendenzen plädiert die Slavistin und Bachtin-Expertin Sylvia Sasse in ihrem kürzlich erschienenen Essay Verkehrungen ins Gegenteil 45 für eine umfängliche Neubewertung der für Bachtin so wichtigen Kategorie der Subversion. In ihrer unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine geschriebenen Streitschrift bestimmt sie Subversion als eine Machttechnik, die nicht nur von unten, sondern gerade auch „von ‚oben‘“ 46 instrumentalisiert werde, um reaktionäre Ziele zu verfolgen. Diese These formuliert Sasse zum einen mit Blick auf die verzerrte bzw. auf den Kopf gestellte Darstellung der Wirklichkeit in den russischen Medien, in denen der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Ziel einer „Entnazifizerung der Ukraine“ 47 begründet wurde, zum anderen im historischen Rückbezug auf die verkehrte Welt des stalinistischen Terrors mit ihren bizarr anmutenden Verpflichtungen zur innerparteilichen „Selbstkritik“ 48 . Als ein Paradebeispiel für diese autoritäre Form der Subversion verweist Sasse zudem auf den Fall von Donald Trump, der sich - als amtierender Präsident der USA einer der mächtigsten politischen Entscheidungsträger überhaupt - u.a. im Rahmen der Black-Lives-Matter-Proteste vor seinen Anhängern als Abgrenzung und Überschreitung 67 <?page no="68"?> 49 Vgl. ebd. S.-7f. 50 Ebd., S.-33f. 51 Für einen Überblick vgl. Silke van Dyck, „Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen. Für einen rebellischen Universalismus“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69, Nr. 9-11 (2019), S. 25-32; Robert Misik, Die falschen Freunde der einfachen Leute, Berlin 2019, S.-101-119. 52 Vgl. einschlägig Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016, S. 139-147, sowie S. 234f.; Mark Lilla, „Das Scheitern der Identitätspolitik“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 62, Nr. 1 (2017), S. 48-52; Nancy Fraser, „Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 62, Nr.-2 (2017), S.-71-76. Teil einer verfolgten und bedrohten Minderheit inszenierte, die sich nicht von „bad people“ einschüchtern lassen werde. 49 Mit dieser Politik der Verdrehung elementarer Fakten sei Trump stilbildend gewesen für die Entwicklung einer autoritär-populistischen Spielart der Subversion, die sich spätestens im Zuge der Corona-Krise zu einer veritablen Bedrohung der westlichen Demokratien entwickelt habe: Die Zeit von Trump hat gezeigt, dass die Verkehrung auch funktionieren kann, wenn nicht, wie im Putinregime, die Medien immer stärker kontrolliert und mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine jegliche Form von kritischer Meinungsäußerung krimina‐ lisiert wird. Demokratie erlaubt vielmehr, eine verkehrte Welt innerhalb ihres Systems zu installieren. Defekte demokratische Systeme können auch alternative, verkehrte Welten beinhalten, diese sind nicht einfach das ganz Andere der Demokratie, sie kippen sie auch nicht zwangsläufig in eine demokratisch legitimierte Autokratie, sondern sie dehnen die Möglichkeiten des Demokratischen für ihre eigenen antide‐ mokratischen Interessen immer mehr aus - sie sind ihr eigenes Anderes. 50 Indem Sasse die subversive Aushöhlung demokratischer Systeme als zentrale Strategie einer neuen Form des Autoritarismus wertet, berühren sich ihre Über‐ legungen mit der bereits seit längerem geführten Debatte um das Verhältnis von „linker“ und „rechter“ Identitätspolitik. 51 Im Kern geht es dabei um den Vorwurf, dass dem politischen Aufschwung rechtspopulistischer Kräfte eine identitäts‐ politische Kehrtwende der Linken vorausgegangen sei, die sich mehrheitlich nur noch für den Schutz von Minderheiten und Fragen symbolischer Anerkennung interessieren würde, während der Kampf gegen ökonomische Ungleichheit und proletarische Milieus immer mehr vernachlässigt worden sei. 52 Während sich diese Debatte auf inhaltlicher Ebene mit den Gegensätzen, Zusammenhängen und Berührungspunkten zwischen „links“ vs. „rechts“, bzw. zwischen „Klasse“ vs. „Identität“ befasst, nimmt Sasses Essay eine spezifische Form rechtspopulis‐ tischer Politik in den Blick: Die von ihr beschriebene autoritäre Verkehrung 68 Hans Roth (Berlin) <?page no="69"?> 53 Neben der Position Bachtins (Vgl. Sasse, Verkehrungen ins Gegenteil, S. 15-18) setzt Sasse sich diesbezüglich kritisch mit der gängigen Konzeption des performativen Sprechaktes und dem Anrufungsmodell bei Louis Althusser und Judith Butler auseinander. In beiden Fällen wird ihr zufolge die für den heutigen Autoritarismus zentrale Sprechform der inversiven Selbstadressierung vernachlässigt, in der nicht so sehr die Adressat*innen , sondern gerade auch die Absender als Subjekte konstituiert werden, und zwar „indem sie Andere als gegenteilige Andere anrufen, zum Beispiel kulturell als exotische Fremde und Barbaren oder politisch als Verräterinnen und Feinde“ (ebd, S.-142). 54 Dorna Safaian, „Clown, Buffoon, Troll. Der Strongman als komische Figur“, in: Mit‐ telweg 36 32, Nr.-3-4, S.-79-94. 55 Ebd., S.-79. 56 Ebd., S.-80. 57 Vgl. ebd. S.-81-85. der Wirklichkeit von ‚oben‘ sieht performativen Strategien der Inversion und Überschreitung, die traditionell als progressiv und emanzipatorisch galten, nicht nur erschreckend ähnlich, sondern lässt Sasse zufolge auch blinde Flecken in der bisherigen Theoretisierung dieser Phänomene hervortreten. 53 Der Strongman als Träger des Harlekin-Prinzip? Der karnevaleske Zug, den Sasse in der Rhetorik Putins und Trumps aufspürt, wird auch in anderen Beiträgen als ein Erkennungsmerkmal von gegenwärtiger rechtspopulistischer Politik beschrieben. So weist etwa Dorna Safaian 54 darauf hin, dass der von Trump in Reinform verkörperte Typus des rechtspopulisti‐ schen „Strongman“ - des starken politischen Anführers, der sich als Erlöser seiner Anhänger geriert und einem brachial-rücksichtslosen, ostentativ männ‐ lichen Politikstil frönt - deutliche Züge einer komischen Figur trägt: Die Titel ‚Clown‘ und ‚Buffoon‘ begleiteten Trumps gesamte Wahlkampf- und Amts‐ zeit. Anlässe dazu bot er zuhauf: von seiner Haartolle und den überdimensionierten Krawatten über unpassende Auftritte auf dem diplomatischen Parkett bis hin zu Nonsense-Tweets, in denen er sich beispielsweise über „covfefe“ beschwerte. 55 Für Safaian, die neben Trump unter anderem auch auf komische Tendenzen bei Jair Bolsonaro, Matteo Salvini sowie Silvio Berlusconi eingeht, sind die komischen Auftritts- und Kommunikationsformen des Rechtspopulismus auf das übergreifende Ziel zurückzuführen, die „symbolische Ordnung demokrati‐ scher Repräsentation zu unterminieren“ 56 . Da Komik eine Praxis der Transgres‐ sion ist, die sich an Rahmenbrüchen, Normabweichungen und Inkongruenzen entzündet, verweist das komische Wirkungspotential auf eine Krise des Prin‐ zips demokratischer Stellvertretung. 57 Der komische Körper des populistischen Strongman entzieht sich in seiner exzessiven Selbstreferenzialität den „Res‐ Abgrenzung und Überschreitung 69 <?page no="70"?> 58 Ebd., S.-93. ponsibilitätsanrufungen“ 58 demokratischer Politik und gibt diese mit seinen Auftritten letztlich der Lächerlichkeit preis. Abb. 1: Erinnert mehr an Pantalone als Harlekin: Das Grinsen von Silvio Berlusconi (Parti populaire européen, lizenziert unter CC BY 2.0) Während Safaian in ihrem Beitrag von einem weit gefassten Verständnis von Komik ausgeht, überschneiden sich die von ihr herausgearbeiteten Eigen‐ heiten der komischen Strongman-Figur in einigen Punkten insbesondere mit dem Münz’schen Harlekin-Prinzip. Neben den hyperbolischen Körperinszenie‐ rungen der populistischen Strongmen, die eine grotesk überspitzte Form von Virilität ausagieren (was mitunter in einem komischen Kontrast zu ihrem fort‐ geschrittenen Alter steht), erinnert insbesondere der Umgang mit den Routinen der offiziellen Politik an die Unstetigkeit und Inauthentizität, die Münz als 70 Hans Roth (Berlin) <?page no="71"?> 59 Münz, „Commedia Italiana“, S.-150. 60 Zu den vielfältigen Bezügen zwischen Fernsehkultur und dem politischen Imaginären des Rechtspopulismus vgl. Paula Diehl, „Interdisziplinarität, Politische Repräsentation und das Imaginäre: Plädoyer für eine neue Perspektive der politischen Kulturfor‐ schung“, in: Politische Kulturforschung Reloaded, hg. von Wolfgang Bergem, Paula Diehl und Hans Lietzmann. Bielefeld 2019, 39-57. 61 Vgl. Safaian, „Strongman“, S.-89-93. 62 Vgl. Bernhard Greiner, Die Komödie. Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Interpretationen, Tübingen 2006, 88-104; Roth, Die komische Differenz, S.-23f. 63 Safaian, „Strongman“, S.-79. 64 Vgl. ebd., S.-87-89. prägend für die Träger des Harlekin-Prinzips ansieht: „Sie waren Gestalten, von denen man nicht wusste, woher sie kommen, noch wohin sie gehen; oft gaben sie vor, besondere Beziehungen nach ‚Oben‘ oder ‚Unten‘ zu haben; offenbar gehörten sie zu einem ‚Außen‘, zu einer ‚anderen‘ Welt“ 59 . Dieses Herausfallen aus der gesellschaftlichen Ordnung lässt sich auch für den populistischen Strongman geltend machen, der in vielen Fällen als ein politischer Außenseiter auftritt, nicht dem Establishment entstammt, die Sprache des einfachen Volkes spricht, sich aber auch auf seine Verbindungen zur gesellschaftlichen Elite beruft und das System „von außen“ aufmischen will. So entstammen Donald Trump und Silvio Berlusconi in einem gewissen Sinn tatsächlich einer „anderen Welt“, nämlich der Scheinwelt des Fernsehens und des Reality-TV. Der eine mimte darin jahrelang einen erfolgreichen Unternehmer (The Apprentice, 2004-2017), während der andere sein Medienimperium auf der Verbreitung von Doku-Soaps aufbaute. 60 Neben weiteren Ähnlichkeiten wie der vulgären, ,ungekünstelten‘ Sprache und einem mitunter exzessiven Umgang mit Grundbedürfnissen wie Essen, Trinken und Sexualität 61 besteht die vielleicht markanteste Übereinstimmung mit dem Harlekin-Prinzip darin, dass für die Komik des Strongman die komik‐ theoretisch zentrale Unterscheidung zwischen Mit- und Auslachen, zwischen einer „Komik der Heraufsetzung“ und einer „Komik der Herabsetzung“ 62 , von nachgeordneter Bedeutung ist. Wie Safaian anmerkt, handelt es sich beim Strongman um „eine groteske Figur, die lacht und verlacht wird“ 63 . So sind rechtspopulistische Anführer auf der einen Seite ein beliebtes Spottobjekt ihrer politischen Gegner, da die Nicht-Erfüllung elementarer Verhaltensregeln des politischen Diskurses vielerlei komische Effekte herbeiführt; auf der anderen Seite greifen sie selbst auf satirische Ausdrucksmuster zurück, etwa wenn Trump seinen Widersacher Biden wegen dessen fortgeschrittenen Alters als senilen „Sleepy Joe“ attackiert. 64 Für den Strongman, so Safaian, ist es letztlich unerheblich, ob es sich um unfreiwillige oder um bewusst erzeugte Komik Abgrenzung und Überschreitung 71 <?page no="72"?> 65 Ebd., S.-94. 66 Vgl. Münz, „Tradition des Volkstheaters“, S.-264-267. 67 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S.-61. 68 Ebd. handelt, da das Ziel der Aufmerksamkeitsgenerierung in jedem Fall erreicht werde: „die Komik hat ihre Funktion als Machtpraxis selbst dann erfüllt, wenn der Strongman nicht für Erheiterung sorgt, sondern selbst verlacht und belächelt wird - kurzum: wenn er affiziert und polarisiert“ 65 . Diese Beobachtung schließt indirekt an eine zentrale Prämisse des Bachtin‘schen Lachprinzips an: In Rabelais und seine Welt argumentiert Bachtin (und Münz greift diese Überlegung explizit auf 66 ), dass die für das moderne Verständnis des Komischen so wichtige Differenzierung zwischen gutmütigen, inklusiven Spielarten von Komik und aggressiv-polemischen Varianten für die frühneuzeitliche Lachkultur (noch) keine Gültigkeit besitzt. Denn das Karnevalslachen ist für Bachtin vor allem „ambivalent: es ist heiter, jubelnd und zugleich spöttisch, es negiert und bestätigt, beerdigt und erweckt wieder zum Leben“ 67 . Dieses ambivalente, ja: ganzheitliche Lachen sei unbedingt abzu‐ grenzen von dem „rein satirischen Lachen der Neuzeit. Der Satiriker, der bloß das negierende Lachen kennt, stellt sich außerhalb der belachten Erscheinung, stellt sich ihr gegenüber und zerstört dadurch die Einheit des komischen Aspekts der Welt“ 68 . Diese Idee eines komischen Sowohl-als-auch lässt sich auch auf die Strongmen beziehen, deren Komik mit den herkömmlichen Wirkungsmecha‐ nismen satirischen Lachens meist nur schwer zu vereinbaren ist. Wie verschie‐ dentlich festgestellt wurde, scheint konventionelle Kritik an Strongman-Figuren wie Trump gleichsam abzuprallen. Selbst den Nachweis von Korruption und Amtsmissbrauch sowie größere Skandale um ihre Person überstehen sie in der Regel unbeschadet; zumindest tut es ihrer Popularität meist keinen Abbruch - ganz im Gegenteil. Diese scheinbare Immunität ist nicht nur als Ausdruck der fundamentalen Missachtung der Spielregeln der bürgerlich-aufgeklärten Öffentlichkeit zu verstehen, sondern legt nahe, dass es sich beim Strongman um eine andere Form des öffentlichen In-Erscheinung-Tretens handelt, die sich kategorisch vom Prinzip demokratischer Stellvertretung unterscheidet: um das Harlekin-Prinzip der karnevalesken Verkehrung. Dass reaktionäre Kräfte auf dieses Prinzip zurückgreifen, um die Spielregeln bürgerlicher Öffentlichkeiten zu unterlaufen und ins Gegenteil zu verkehren, ist freilich keine ganz neue Entwicklung. Bereits Charlie Chaplin hat in The Great Dictator (1940) herausgearbeitet, dass die bizarren Auftrittsformen, der waghal‐ sige Größenwahn und die groteske Sprache des Faschismus nicht nur potentiell 72 Hans Roth (Berlin) <?page no="73"?> 69 Dieser inhärent komisch-groteske Zug von autoritären Auftritts- und Inszenierungs‐ formen lässt freilich an der Sinnhaftigkeit einer satirischen Auseinandersetzung mit den in Rede stehenden Phänomen zweifeln; nicht erst seit Trump besteht hier die Gefahr, dass das Lachen über den politischen Gegner ins Leere zielt, weil es zum einen die populistische Logik der Aufmerksamkeitsgenerierung nicht bricht, sondern bestätigt, und zum anderen über die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit hinwegtäuscht. Vergleiche dahingehend die Vorbehalte gegen Brechts Arturo Ui in Theodor W. Adorno: „Ist die Kunst heiter? “, in: Ders.: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften Bd. 11, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno u. a. Frankfurt/ M. 2003, S.-599-606, hier S.-603f. 70 Karl Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Hg. und kommentiert von Hauke Brunkhorst, Berlin 2016, S.-69. 71 Ebd. 72 Ebd., S.-70. 73 In gewisser Weise schließt sich hier der Kreis zum Harlekin-Prinzip, da die Marxsche Analyse der von der bürgerlichen Gesellschaft fortlaufend produzierten „Charakter‐ masken“ eine zentrale Stellung in Münz‘ Studie über das „andere“ Theater einnimmt. Vgl. Münz, Das „andere“ Theater, S.-19-49. bzw. unfreiwillig komisch sind, sondern geradezu eine Familienähnlichkeit mit der von Chaplin selbst zelebrierten vitalen Körper-Komik aufweisen. Und auch Bertolt Brechts Versuch, die nationalsozialistische Machtergreifung in Der auf‐ haltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941) als eine fadenscheinige Gangsterkomödie kenntlich zu machen, fußt auf der Beobachtung, dass das autoritäre Charisma der faschistischen Führerfiguren etwas von der Aura einer grotesken Halbwelt der Aufschneider und Halunken an sich hat. 69 Als ein frühes Beispiel eines reaktionären Trägers des Harlekin-Prinzips, der die demokratische Ordnung unterwandert, um sie von innen zu zerstören, wäre zudem an Louis Bonaparte, den späteren Napoleon III., zu denken, dessen karnevaleske Züge Karl Marx in Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ausgiebig beschrieben hat. So verspottet Marx in seiner Analyse der gescheiterten Revolution von 1848 Bonaparte als „durchtriebene[n] Roué“ 70 , „Abenteurer“ 71 und „Hanswurst“ 72 , der die inhärente Theatralik der bürgerlichen Gesellschaft besser und früher als alle anderen politischen Akteure durchschaut und dadurch die Niederlage der Revolution besiegelt. 73 Repräsentation, Authentizität und Subversion: Ein „anderes“ Theatralitätsmodell? Unabhängig von der Frage, ob die autoritäre Vereinnahmung des Harlekin-Prin‐ zips ein neuartiges oder nicht doch ein sehr viel älteres Phänomen ist, scheinen die Überschneidungen zwischen rechtspopulistischen Subversionstechniken und den theoretischen Positionen von Münz und Bachtin eine Diagnose zu Abgrenzung und Überschreitung 73 <?page no="74"?> 74 Zu dieser Diagnose vgl. kritisch Silke van Dyck / Stefanie Graefe: „Wer ist schuld am Rechtspopulismus? Zur Vereinnahmung der Vereinnahmungsdiagnose: eine Kritik“, in: Leviathan 47, Nr.-4 (2019), S.-405-427. bestätigen, die in der gegenwärtigen Debatte um Identitätspolitik oft bemüht wird: Der anhaltende Erfolg von neurechten Parteien und Politiker*innen habe nicht zuletzt damit zu tun, dass zahlreiche Ausdrucks- und Protestformen, die früher ein Privileg der Ausgeschlossenen gewesen seien, mittlerweile verstärkt von rechtspopulistischen Akteuren vereinnahmt worden seien. Da weite Teile der Linken in ihrem verstärkten Kampf gegen Diskriminierung und für Minderheitenrechte auf eine (neo-)liberale, individualistische Reforma‐ genda eingeschwenkt seien und sich mit moralpädagogischen Belehrungen begnügen würden, sei die Artikulation von radikaler Unzufriedenheit mit den Verhältnissen nicht länger in linken Diskursen erfolgt, sondern zur Sache des Rechtspopulismus geworden. 74 Hiervon ausgehend wäre es naheliegend, dass auch die Indienstnahme von Subversion als „Machttechnik von oben“ und das Phänomen des rechtsau‐ toritären komischen Strongman in ähnlicher Weise als Folgen eines linken Desinteresses (wenn nicht sogar: Verrats) am Harlekin-Prinzip zu verstehen sind. Je mehr die Beschäftigung mit diskriminierungssensibler Sprache sowie die Zurückweisung von verletzenden Ausdrucksformen zu einem identitätspo‐ litischen Kernanliegen wird, umso mehr erscheint die karnevaleske Strategie, etablierte Hierarchien durch symbolische Verkehrung, Verunreinigung und Transgression destabilisieren zu wollen, als riskant und fehleranfällig. Die Gefahr, dass das individuelle Schutzbedürfnis der Einzelnen dem kollektiven Gelächter der Mehrheit anheimfällt, ist - gerade vor dem Hintergrund zuneh‐ mend fragmentierter und polarisierter Öffentlichkeiten - im Zweifel um einiges größer als die vage Aussicht auf eine (ohnehin nur temporäre) Befreiung aus identitären Zwängen. Mit anderen Worten: Ein strategischer Fokus auf die sym‐ bolisch-diskursive Aufwertung und Selbstbestimmung von marginalisierten Gruppen ist unvereinbar mit einer uneingeschränkt positiven Deutung des Harlekin-Prinzips, wie sie den Ausführungen von Bachtin und Münz zugrunde liegt - und vice versa. Aber: Trotz gewisser Vorbehalte gegen einige tradierte Formen von Subver‐ sion ist es keineswegs so, dass sich antirassistische und queer-feministische Diskurse heutzutage gar nicht mehr für die Überschreitung und Destabilisie‐ rung von Identität interessieren würden. Im Gegenteil ist die Kritik an fremd‐ bestimmter Subjektivierung und der hegemonialen Fixierung von Identität weiterhin eng mit dem Wunsch nach einer fluiden, vorläufigen, entgrenzten 74 Hans Roth (Berlin) <?page no="75"?> 75 Vgl. programmatisch Rosi Braidotti, Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Diffe‐ rence in Contemporary Feminist Theory, New York 2011. 76 Vgl. dahingehend etwa die Analyse von queer-aktivistischen Protestformen der Gegen‐ wart bei Gin Müller, Possen des Performativen. Theater, Aktivismus und queere Politiken. Wien 2015. 77 Vgl. Misik, Die falschen Freunde, S.-7-15. 78 Vgl. Veronica Stracqualursi: „Trump trashes Baldwin’s ‚terrible impersonation‘“, https : / / edition.cnn.com/ 2018/ 03/ 02/ politics/ trump-alec-baldwin-snl/ index.html [Zugriff am 10.11.2023]. 79 Vgl. Frank Nienhuysen, „Schwere Zeiten für Satiriker“ https: / / www.sueddeutsche.de/ p olitik/ russland-schwere-zeiten-fuer-satiriker-1.4798260 [Zugriff am 10.11.2023]. Neubestimmung der eigenen Identität verbunden. 75 Der vermeintliche Wider‐ spruch, der zwischen dem Unbehagen an hegemonialen Verzerrungen der eigenen Identität auf der einen und dem selbstbestimmten Unterlaufen von identitären Schablonen auf der anderen Seite zu bestehen scheint, verliert somit bei einem genaueren Blick auf die Praxis der Akteur*innen schlagartig an Brisanz. Auch der Harlekin lässt sich aus diesem Grund produktiv auf identitätspolitische Fragestellungen anwenden: Man könnte ihn etwa auch als Prototyp einer queeren Form des In-Erscheinung-Tretens verstehen, die sich anarchisch zwischen allen sozialen Differenzkategorien verortet, diese beständig neu definiert und so deren Begrenztheit und Engstirnigkeit sichtbar werden lässt. 76 Neben dem Umstand, dass die Dekonstruktion und Subversion äußerer Zu‐ schreibungen immer noch als Kernanliegen linker Identitätspolitik zu verstehen sind, sollte man nicht die Augen davor verschließen, dass auch der autoritäre Rechtspopulismus der Gegenwart keineswegs in seinen karnevalesken und (unfreiwillig) komischen Zügen aufgeht, sondern mit sehr verschiedenen Modi des öffentlichen Auftretens operiert. Neben dem Hang, sich entlang des Gegen‐ satzes von „Volk“ vs. „Elite“ als Rächer einer vermeintlich unterrepräsentierten, ausgebeuteten, schweigenden Mehrheit zu inszenieren sowie die Restauration vergangener Größe zu versprechen 77 - zwei genuin tragische Narrative - zählen auch klassisch autoritäre Manifestationen von Lachfeindlichkeit und Antitheat‐ ralität weiterhin zum Repertoire rechter Politik. So echauffierte sich Trump im Verlauf der Jahre mehrmals öffentlich über Parodien seiner Person 78 , und in Putins Russland drohte bereits vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine denen, die satirische Kritik an den politischen Zuständen üben, eine Gefängnisstrafe über mehrere Jahre. 79 Abgrenzung und Überschreitung 75 <?page no="76"?> 80 Münz, „Theatralität und Theater“. Hierbei handelt es sich um einen Zwischenbericht hinsichtlich eines Auftrages des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR, eine mehrbändige Geschichte des Theaters zu schreiben (Vgl. ebd., S.-66). Abb. 2: Groteske Überhöhung und autoritäre Machtbehauptung: Vladimir Putin und Emmanuel Macron am 7. Februar 2022 im Kreml (kremlin.ru, lizenziert unter CC BY 4.0). Insofern wäre es geradezu fatal, den heutigen Rechtspopulismus und seine Anführer ausschließlich auf ihre trickster-ähnlichen Züge zu reduzieren; viel‐ mehr ist von einer Verschränkung von subversiv-chaotischen, irreal-fiktiven und affirmativ-konservierenden Affektpolitiken auszugehen. Um allerdings dieses Wechselspiel zu untersuchen, erscheinen das von Münz formulierte Harlekin-Prinzip und das daran angeschlossene vierteilige Theatralitätskonzept nur bedingt hilfreich. Denn derartige Überlappungen zwischen unterschiedli‐ chen Modi des Theatralen werden zwar als eine wichtige historische Dynamik benannt, nicht aber als innere Widersprüche der einzelnen, allzu idealtypisch konzipierten Strukturbereiche in Betracht gezogen. Allerdings finden sich in Münz’ grundlegenden Ausführungen zum Theatralitätsbegriff, seinen „Konzep‐ tionellen Erwägungen zum Forschungsprojekt Theatergeschichte“ 80 aus dem Jahr 1989, einige wichtige Anknüpfungspunkte, die sich in diese Richtung weiterdenken lassen. Während im ersten Teil des Textes die einschlägige Unterscheidung von Theaterkunst, Lebenstheater, Theaterfeindlichkeit und 76 Hans Roth (Berlin) <?page no="77"?> 81 Vgl. ebd., S.-68-71. 82 Ebd., S.-80. 83 Ebd., S.-72. 84 Ebd., S.-71. 85 Ebd. S.-74. 86 Ebd. 87 Vgl. ebd. S. 75f., sowie die Darstellung in Hulfeld, Theatergeschichtschreibung als kulturelle Praxis, S.-328f. 88 Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, S.-329. 89 Münz, „Theatralität und Theater“, S.-76. 90 Ebd. 91 Ebd, S.-79. „anderem“ Theater eingeführt wird 81 , die im Zentrum des Leipziger Theatrali‐ tätsmodells steht, stellt Münz im zweiten Teil den Rohentwurf einer unvollendet gebliebenen Geschichte der vor- und frühkapitalistischen Theaterkultur vor. Interessanterweise plädiert Münz dabei für eine Aufteilung entlang dreier domi‐ nanter Formen von Theatralität: Während sich der erste Teil auf die Geschichte des Harlekin-Prinzips „von der Entstehung der Klassengesellschaft bis zur bürgerlichen Revolution“ 82 konzentrieren würde, könne im zweiten Schritt die höfisch-feudale „Theatralität der Repräsentation“ 83 behandelt werden, die auf einem Prinzip des „Mehr-Scheinen-als-Sein“ 84 basiert und ihren Höhepunkt im barocken Welttheater findet; der dritte Teil hingegen solle sich der „Theatralität der Individuation“ 85 widmen, die einem Prinzip des „Mehr-Sein-als-Scheinen“ 86 unterliege und von Münz in einem bürgerlich-kapitalistischen Kontext verortet wird. 87 An diesem „nach anthropo-soziogenetischen Gesichtspunkten gegliederte[n] Theatergeschichtsbild“ 88 bestätigt sich erneut, dass das Harlekin-Prinzip das theoretische Zentrum der Münz’schen Überlegungen bildet. Sowohl in zeitlicher als auch in sozial-funktionaler Hinsicht wird es hier zur primären Form von Theatralität aufgewertet, an der die beiden Formen der Repräsentation und der Individuation gemessen werden: Die „stilistische[n] Hauptausdrucksmittel“ 89 von beiden Formen bestehen für Münz in „Monologizität und Ernsthaftigkeit, begleitet von absoluter Lachfeindlichkeit und Desinteresse am ‚Erbe‘“ 90 ; beide werden somit ex negativo aus der Primärform des Harlekins-Prinzip abge‐ leitet. Abgesehen von dieser konzeptuellen Schieflage weist der Münz’sche Aufriss dieser drei Formen aber entschieden über ein politisch gleichförmiges Verständnis von Theatralität hinaus, insofern dem viergliedrigen Theatralitäts‐ konzept eine grundlegende Unterscheidung von drei gesellschaftlichen Anwen‐ dungsweisen des Theatralen hinzugefügt wird: Während das Harlekin-Prinzip „subversiv auf die […] Ordnung der ‚zweiten Natur‘ einwirkt“ 91 , übernehmen im Abgrenzung und Überschreitung 77 <?page no="78"?> 92 Ebd. S.-71. 93 Vgl. ebd. S.-74. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis, S.-329. Prinzip der Repräsentation einzelne Individuen eine kollektive Stellvertreter‐ funktion, um als Rollenspieler im weitesten Sinne „etwas fiktiv darzustellen, was sie real nicht sind“ 92 . Das komplementäre Prinzip der verborgenen Theatralität gründet für Münz auf der Notwendigkeit, die Auseinandersetzung mit der Natur durch utopische Identitätsbehauptung(en) zu bewältigen. 93 Mit Blick auf die heutigen Debatten um Identitätspolitik fällt auf, dass sich diese drei Grundformen von Theatralität, die von Münz nur flüchtig skizziert werden, bei genauerem Hinsehen als drei unterschiedliche theatrale Bezugnahmen auf Identität erweisen: (I) Im Modus der Subversion, der als nahezu deckungsgleich mit dem Harlekin-Prinzip erscheint, findet eine per‐ manente Verkehrung und Erneuerung von Identität statt; (II) im Modus der Repräsentation rücken Darstellungs- und Auftrittsformen wie höfische Feste, Zeremonien und öffentliche Manifestationen in den Fokus, in denen sich (als Effekt eines konsequenzverminderten Handelns-für) ein kollektiver Identitäts‐ zusammenhang materialisiert; (III) im Modus der Authentizität wird Identität hingegen durch den Einsatz von „defensiven Masken“ 94 ausagiert, die sich nicht als solche zu erkennen geben und eine Einheit von natürlichen und künstlichen Verhaltensweisen einfordern. Die Rede von „defensiven Masken“ verweist dabei auf eine Form des sozialen Rollenspiels, die zur Bewältigung des sozialen Alltags zusehends auf die Zuhilfenahme einer „Charaktermaske“ 95 angewiesen ist, dies aber mit der Ablehnung von offensiv zur Schau gestellter Theatralität mittels Schminke, Kostüm und Verstellung verknüpft. Während diese drei Formen bei Münz jeweils mit bestimmten theaterhisto‐ rischen Epochen bzw. mit „Dominanzen in konkreten Theatralitätsgefügen“ 96 verknüpft sind, lässt sich diese Unterscheidung auch für eine vertiefte Ausei‐ nandersetzung mit der Theatralität des autoritären Rechtspopulismus produktiv machen. Bemerkenswert daran ist, dass in diesem Fall alle drei Modi gleichzeitig auftreten und beständig ineinander wirken. So muten die komischen Strongmen bisweilen als Wiedergänger des Harlekin-Prinzips an, wenn sie die Routinen demokratischer Politik subvertieren und bloßstellen; der um sie veranstaltete Personenkult und die Neigung zu kollektiven Inszenierungen von ethnisch-na‐ tionaler Einheit und Größe ist hingegen eindeutig in der Tradition autoritärer Repräsentationsformen zu verorten; als theatrale Verhaltensweisen, die sich im Register der Authentizität bewegen, wäre etwa an den demonstrativen 78 Hans Roth (Berlin) <?page no="79"?> Anti-Elitarismus und Anti-Intellektualismus des Rechtpopulismus zu denken, oder an den erbitterten Kampf gegen „realitätsfremde“ Vorstellungen von einer multikulturellen Gesellschaft und gegen anderweitige Strategien, Differenzka‐ tegorien wie Geschlecht, Nationalität und Ethnizität als historisch veränderbare Konstrukte einsichtig zu machen. Der Hinweis, dass sich theatrale Strategien der Repräsentation, Authentizität und Subversion im Fall des autoritären Rechtpopulismus wechselseitig bedingen und durchdringen, erscheint aus mindestens zwei Gründen als lohnenswert. Zum einen wird deutlich, dass die harlekinesken und karnevalesken Züge der Strongmen lediglich einen Teil der theatralen Affektpolitik des Rechtspo‐ pulismus umfassen, der - entgegen der Überbetonung dieses Aspekts in der laufenden Debatte - keineswegs als dessen Kern oder eigentliche Wahrheit zu verstehen ist. Zum anderen hilft die konzeptuelle Verknüpfung mit den beiden Prinzipien der Authentizität und der Repräsentation, um der (von Bachtin ererbten) normativen Überhöhung des Harlekin-Prinzips entgegenzuwirken. Gerade wenn es stimmt, dass bestimmte Formelemente des Harlekin-Prinzips heute von rechter Seite gekapert worden sind, erlaubt der Rückbezug auf die Triade von Repräsentation, Authentizität und Subversion, diese Usurpation jenseits von bloßer Enttäuschung diskutierbar zu machen und sie in ihrer spezifischen Verschränkung mit autoritären Subjektivierungsformen in den Blick zu nehmen. Abgrenzung und Überschreitung 79 <?page no="81"?> II Inklusion und Exklusion <?page no="83"?> Un/ markiert? - Inklusive und exklusive Tendenzen im künstlerischen Aktivismus von Simone Dede Ayivis The Kids Are Alright (Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt 2024) Friedemann Kreuder (Mainz) Simone Dede Ayivis Performance The Kids Are Alright (Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt 2024) stellt für die Zuschauer*innen im Kontext der Anerkennungskämpfe der Gegenwart einen möglichen Gegen-Erin‐ nerungsraum einer migrantischen Geschichte aus re-inszenierten biogra‐ phischen Erinnerungs-Splittern bereit: Einerseits verweist er auf die Aus‐ tauschbarkeit der individuellen Auftritte in Video-Projektion, andererseits aber auch auf die soziale Konstruiertheit der Humandifferenzierungen, die als sistierende, fixierende Kategorisierungen deren flüchtige, ephemere Körperlichkeit zu umschreiben, aber auch umzuschreiben suchen. Ayivis Performance wird daher auf die Möglichkeit einer gesteigerten Reflexion auf das ‚Kategorisieren von Humandifferenzierungen‘ (Hirschauer) auf Produzentenwie Rezipientenebene hin untersucht. Der Beitrag analysiert die intrikate Ambiguität des künstlerischen Aktivismus von Ayivis Perfor‐ mance hinsichtlich ihrer Marker und Indizes, die auf ihrer rezeptiven Insze‐ nierungsebene mit Blick auf ihre Leistungsfähigkeit zur ‚Durchque(e)rung kulturellen Sinns‘, zugleich aber auch hinsichtlich der symptomatischen Tendenz ihres Personals zur Selbstüberschätzung der sozialen Signifikanz der Minoritäten zugeschriebenen Eigenschaften - mithin zwischen der operativ analytischen Begrifflichkeit der Queer Phenomenology (Ahmed) und den Selbstaufklärungsbedarf jeglicher identitätspolitisch investier‐ ender Studies problematisierenden Theorie der ‚Humandifferenzierung‘ (Hirschauer) - diskutiert werden. <?page no="84"?> 1 Vgl. Friedemann Kreuder, Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers, Berlin 2002, S. 106-109. Der Begriff ‚GeSchichte‘ bezeichnet hier ein alternatives Medium der Gedächtnisvermittlung - eigentlich: ein Medium der rezeptiven Gedächtnis-Insze‐ nierung, welches die geschmeidigen Gedächtnispotentiale der Besucher*innen nicht im Sinne eines einförmigen, im Bachtinschen Sinne monologischen Begriffs von Geschichte, sondern der Einsicht in deren Viel-Schichtigkeit formt. Ein ‚GeSchichte‘ wendet sich in der Regel gegen eine offizielle Konstruktion von Dauer, wie etwa das politisch affirmative historiographische Narrativ von einer ‚Stunde Null‘ in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. 1. Ein Theater der Stimmen Simone Dede Ayivis Performance The Kids Are Alright ist in erster Linie ein Theater der Stimmen. Die rund fünfzig Besucher*innen sitzen, stehen oder gehen großzügig in einem Ausstellungsraum verteilt, in dem Sitzblöcke, eine Drehscheibe, Schaukelspiralen und große Stoffplüschtiere wie auf einem Kinderspielplatz installiert sind, der allerdings - im Gegensatz zu seinen möglichen Vorbildern im Alltagsleben durchgehend im Dunkel liegend - die Konturen der einzelnen grauen Objekte tendenziell im umgebenden Raum gleichsam ‚aufgehen‘ lässt. Komplementär zur Gestaltung besagter weniger Dekorationselemente im visuellen Raum der Aufführung entfaltet sich über an die Besucher*innen verteilte Kopfhörer ein Hör-Raum aus verschiedenen Stimmen, die in der sprachlichen Gestalt von teils bruchstückhaften Episoden, teils ganzen Geschichten eines biographischen Erzählens den historischen Tiefenraum ihrer eigenen migrantischen Vergangenheit wie an einem Ort einer vorgehaltenen oder auch vorenthaltenen Kindheit und Jugend thematisch werden lassen. Überwiegend werden sie als klar durchhörbare Solo-Stimmen ge‐ führt, die aufgrund von Stimmhöhe, -timbre und -klangfarbe / des artikulierten Sinnzusammenhangs durchweg Menschen jüngeren Alters zwischen Dreißig und Vierzig, unterschiedlichen Geschlechts und vielfältiger regionaler Herkunft zugeordnet werden können. Teils sind sie aber auch als polyphones und polyrhythmisches Gewirr aus sich undurchdringlich überlagernden Stimmen komponiert. Der Hör-Raum der Performance mutet so wie ein ‚möglicher‘ Erinnerungsraum einer migrantischen Geschichte aus re-inszenierten biogra‐ phischen Erinnerungs-Splittern an: Diese lassen sich hinsichtlich der stimm‐ lich-akustischen Artikulation von Zeit beim erzählenden Sprechen imaginär einerseits zum linearen Verlauf einer Geschichte, andererseits aber auch zu den ineinander verschlungenen Clustern eines „GeSchichtes“ 1 gestalthaft zusam‐ menschließen. Mehr oder weniger stark entkoppelt von den sich artikulierenden Stimmen/ -Clustern, treten im visuellen Raum der Aufführung immer wieder in Wiederholungsschleifen, aber im jeweils individuellen Fall immer nur temporär 84 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="85"?> 2 Die hier von mir vorgenommenen Zuschreibungen sind Teil der im Folgenden be‐ handelten Problematik, die mit der Aufführung und ihren potenziellen rezeptiven Inszenierungsebenen thematisch wird. Die Askriptionen sind in jedem Fall als intensiv relationale Kategorisierungen gemeint, die durchweg auf sozialen Konstruktionen von Humandifferenzierungen beruhen. Sie werden mit Blick auf ihre spätere autoreflexive metasprachliche, ‚etische‘ Reflexion in einfache Anführungszeichen gesetzt - so auch die auf sie bezogenen ‚emischen‘ Feldstimmen, um besagten Konstruktionscharakter zu betonen. 3 Bruno Latour, „Von der Fabrikation zur Realität. Pasteur und sein Milchsäureferment“, in: ders., Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt-a.-M. 2015, S.-137-174. Der Begriff der ‚Artikulation‘ auf S.-141. auf in hexagonaler Anordnung im Raum verteilte, rechteckige weiße Leinwände projizierte Großaufnahmen von jungen Menschen in Alltagskleidung mit u. a. ‚asiatisch‘, ‚arabisch‘ oder auch ‚afro-amerikanisch‘ 2 anmutendem Äußeren auf. Hierbei wechseln die Kamerabildeinstellungen von ganzkörperlichen Auf‐ nahmen von einzeln oder in Kleingruppen Gehenden im Profil zu en face Stehenden und Sitzenden zu Teilausschnitten verschiedener Körperpartien, ins‐ besondere der Hände etc. Wenn die abgefilmten Personen, wie in einer Sequenz, nur kurzfristig mittels schneller Side Steps wie in den Bild-Rahmen ein- und sogleich wieder heraustreten, scheinen sie wie visuelle ‚Momentaufnahmen‘ eines buchstäblich rezipierbaren Lebens-Laufs den sprachlich-akustisch vermit‐ telten ‚Schlaglichtern‘ identitätsstiftender Selbst-Erzählung besonders intensiv zu korrespondieren. Somit lässt sich die theaterkünstlerische ‚Proposition‘ eines solchen Auseinandertretens von Seh- und Hör-Raum sowie Körperlichkeit und Stimmlichkeit seiner Akteur*innen als eine Art fluider Erinnerungsraum aus Bild- und Klangwerten ‚artikulieren‘. Ich beziehe mich mit dieser Begrifflichkeit auf Bruno Latours Aufsatz „Von der Fabrikation zur Realität. Pasteur und sein Milchsäureferment“ 3 , weil der Aufführungsraum durchaus etwas von einem Labor einer möglichen, anderen Schreibung von Geschichte hat: Einerseits verweist er auf die Austauschbarkeit der individuellen Auftritte in Video-Pro‐ jektion, andererseits aber auch auf die soziale Konstruiertheit der Humandiffe‐ renzierungen, die als sistierende, fixierende Kategorisierungen deren flüchtige, ephemere Körperlichkeit zu umschreiben, aber auch umzuschreiben suchen. Un/ markiert? 85 <?page no="86"?> 4 Stefan Hirschauer, „Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Human‐ differenzierung.“, in: Zeitschrift für Soziologie, Band 50 (2021), Heft 3-4, S. 155-174, hier S. 159. Hirschauer spricht hier „vom Ausmachen und Erkennen, nicht von dem oft als Identifikation oder Identität bezeichneten Selbstverständnis: eine sich wandelnde subjektive Assoziation mit Kategorien, die sich zum großen Teil unbewusst ereignet, zum Teil als Positionierung vollzogen wird.“ (Vgl. ebenfalls S. 159.) Die folgenden Ausführungen verdanken Hirschauer entscheidende Einsichten. Abb. 1: Blick in den Raum von Ayivis The Kids Are Alright mit Zuschauer*innen (SOPHIENSAELE, Berlin, 2020); ©Mayra Wallraff, www.mayrawallraff.de. 2. ‚Humandifferenzierung‘ durch ‚Indizes‘ und ‚Marker‘ Aufgrund ihrer Thematik um Identität, Migrationsgeschichte und Diskrimi‐ nierungserfahrung eröffnet Ayivis Performance die Möglichkeit einer gestei‐ gerten Reflexion auf das Kategorisieren von Humandifferenzierungen auf Produzentenwie Rezipientenebene, wie Stefan Hirschauer es als sprachliche Seite des Identifizierens theoretisiert. 4 Denn das Identifizieren verlangt sowohl Unterscheidbarkeiten als auch Bezeichnungsmöglichkeiten: Semiotische Markierung besteht aus einer sinnlich zugänglichen (oft visuellen) Kennzeichnung kultureller Objekte (gerade auch humaner). Diese haben ein Outfit, ein Display, ein Design und fordern insofern die Sinne mehr oder weniger dazu auf, 86 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="87"?> 5 Hirschauer, „Menschen unterscheiden“, S.-159-160. 6 Siehe hierzu: Friedemann Kreuder, „Theater zwischen Reproduktion und Transgres‐ sion. Theaterwissenschaft als sozialwissenschaftliche Differenzierungsforschung“, in: Christopher Balme / Berenika Szymanski-Düll (Hg.), Methoden der Theaterwissenschaft, Tübingen 2020, S.-257-277. sie als erkennbare Entitäten wahrzunehmen. Das Meiste, worauf wir sprachliche Kategorien anwenden, kommuniziert also längst, auch wenn es nicht spricht. In der Humandifferenzierung gehören zu diesen Zeichen etwa Körpermerkmale (wie Hautfarbe oder Dickleibigkeit), körperlich Performiertes (Haltung, Gestik, Mimik), Stimmführung und Sprachgebrauch (Wortwahl, Aussprache), das Outfit (Kleidung, Frisur, Kosmetik, Schmuck), Rufnamen und Ausweise. Menschen werden performativ so disponiert, dass sie sich für bestimmte Unterscheidungen unterscheidbar machen und so die Verwechslungsfestigkeit von Kategorien erhöhen. Zeichentheoretisch lassen sich dabei ‚Indizes’ - das sind Anzeichen (Anhaltspunkte) und Hinweise (Winke) im kommunikativen Handeln - und ‚Marker’ unterscheiden: etablierte Erkennungszeichen einer Kategorie. 5 Beim Kategorisieren greifen also sprachliche Bezeichnungen mit anderen Zeichensystemen ineinander, es interferieren Identifizierungs- und Indikati‐ onsprozesse. Ayivis Theaterarbeit kann nun als reiches Studienobjekt gelten gerade für die hier in Rede stehenden Zwischentöne und Abstufungen, für Stil, Rahmen, Winke/ Indizes und das momenthafte Spiel einer Teilnehmerrolle als Akteur*in oder Besucher*in der künstlerisch arrangierten Situation ihres Theaters der Stimmen. Lässt sich bereits in traditionellen Theateraufführungen das situative und performative (sowie äußerst komplexe) ‚Wie‘ der Humandif‐ ferenzierung vor Augen führen 6 , sind die Stimmlagen und Affektpräsentationen sowie Körperhaltungen, Bewegungen, Gesten und Mimik, die Humandifferen‐ zierungen allererst in Szene setzen, das eigentliche ästhetische Material von Ayivis Inszenierung. Dies schließt auf deren rezeptiver Ebene den auch für traditionelle Aufführungen post/ dramatischen Theaters bedeutsamen Aspekt in besonderer Weise ein, welche Darstellungsweise und/ oder Reflexion von Humandifferenzierung durch Zuschauer*innen angenommen und bereitwillig nachvollzogen werden, wer unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte Figur/ ation verkörpern kann, und wer nicht. Im Folgenden möchte ich mög‐ liche rezeptive Inszenierungsebenen der Aufführung daraufhin untersuchen, inwieweit die hier auf Darstellungsebene mobilisierten Zeichen inklusive, aber auch exklusive Wirkungen zu entfalten vermögen und in dieser Gestaltung mit Blick auf die aktivistischen Zielsetzungen postmigrantischen Theaters einem De/ konstruktionsparadox unterliegen. Un/ markiert? 87 <?page no="88"?> Unter den visuellen Zeichen der äußeren Erscheinung der Personen in Groß‐ bildaufnahmen stechen neben ihren reich facettierten Hautfarben beispiels‐ weise ‚Dreadlocks‘ oder auch ein ‚Kopftuch‘ als Marker ethnischer und/ oder religiöser Zugehörigkeit heraus. Vor Allem aber auf der Ebene der Vermittlung von Welt durch Sprechen finden sich in Ayivis Theater der inszenierten Stimmen Kategorisierungen, die sich als weitere Marker lesen lassen: Vornamen wie ‚Nabila‘, ‚Fatma‘, ‚Lenssa‘, ‚Thy‘ und ‚Kadir‘ verweisen auf mögliche ethnisierte Herkunft zurück. Stärker dem Bereich der ‚Indizierung‘ lassen sich in der Sinnschicht der inszenierten Fragmente einer Sprache des ‚migrantischen Erbes‘ Redeweisen von der ‚Dienstbarkeit‘ und ‚Dankbarkeit‘ der Eltern ge‐ genüber dem Immigrationsland der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung zuordnen, auch ist in diesem Sinne häufig die Rede von dem Bedürfnis nach gesteigerter Aufenthalts- und später Daseinslegitimation, wie es sich etwa im notorischen Bemühen um ein normgerecht konformistisches ‚Richtigmachen‘ oder auch in Strategien der Selbstoptimierung mittels eines ‚härter Arbeitens‘ nach der ‚Familienzusammenführung‘ zeigt. Ein bedeutender Aspekt migrantischer Selbster/ lebensbeschreibung sind aber auch die damit ver‐ bundenen Aporien angesichts persistenter und ubiquitärer Deklassierung des eigenen Tuns, bzw. der Diskriminierung der eigenen Person durch alltägliche Rassifizierungen, die in den Eltern das deprimierende Lebensgefühl verfestigten, ‚nicht dazuzugehören‘. In diesem Zusammenhang ergeben sich besonders inten‐ sive Momente eines mehr oder weniger abständigen Nacherlebens potenzieller Besucher*innen immer dann, wenn die Reinszenierung in sich abgeschlossener Episoden biographischen Erzählens im Hör-Raum der Aufführung mit den Video-Großaufnahmen auf den Leinwänden im Schau-Raum unter Herstellung starker gegenbildlicher Verweisungsbezüge in rhythmischer Fusion komposito‐ risch gleichsam enggeführt wird. 3. ‚GeSchichte‘ und ‚Geschichte/ n‘ Aus dieser Perspektive lässt sich Ayivis Performance in sieben Kapitel mit signifikanten Motti unterteilen, was durch entsprechende Ansagen der Stimme der Regisseurin selbst sowie die einzelnen einschlägigen Sequenzen szenisch gliederndes Herunterdimmen der Beleuchtung von Leinwänden und umge‐ bendem Raum in blauem, rosa, gelblich gleißendem etc. Dämmerlicht visuell und akustisch mit deren Unterlegung mit Vogelstimmen akzentuiert wird. So wird unter hochmodulierter, durchgängiger sprachlicher Indizierung von ‚Ethnizität‘ nach einer ironischen Wendung der alltäglich begegnenden - und dezidiert als indirekte Fremddiskriminierung verstandenen - Frage nach 88 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="89"?> 7 Die Stimme Ayivis leitet diese Exposition wortwörtlich - in deutlich ausgestellter sprachlicher Oppositionsbildung von eher stereotypisierender, indirekt fremddiskrimi‐ nierender und stärker individualisierender, diskriminierungsfreier Sprachgestaltung - folgendermaßen ein: „Wir werden so oft gefragt, wo wir herkommen, dass wir manchmal vergessen darüber zu sprechen, woher wir kommen.“ Mir liegt zum Abgleich der Stimmführung auf den Tapes in der Frankfurter Aufführung eine Aufzeichnung der Generalprobe von The Kids Are Alright in den SOPHIENSAELEN, Berlin, Premiere: 21. Oktober 2020, vor (die Sprechpassage erstreckt sich von Laufzeitmarkierung 02: 37 bis 02: 47). der eigenen Herkunft in der kurzen Exposition (‚wo wir herkommen‘) 7 im sich direkt anschließenden ersten Kapitel - begleitet von weitgehend von der Stimmlichkeit entkoppelten Video-Sitzporträts / beim Betrachten eines weiter gereichten Familienfotos - das Unbehagen im Immigrationsland der BRD während der eigenen Kindheit und Jugend vor dem Hintergrund der Gewalterfahrungen von Außen, aber auch im häuslich-familiären Innen von Seiten der häufig kriegstraumatisierten, ‚gestrandeten‘ und von daher vom neuen kulturellen Kontext zutiefst existenziell befremdeten ‚Gastarbeiter‘-Väter thematisch. Lautete das übergreifende Motto hier ‚Eltern‘, wird die synchron zu den Großaufnahmen kurz intonierte paradoxale Problematik des eigenen affektiven Erlebens der elterlich ausgelösten Beschützerinstinkte und Scham zugleich - synchron mit Rundkamerafahrten mit Ein- und Ausblicken in und auf einen Kinderspielplatz auf den Leinwänden - in den Redebeiträgen des zweiten Kapitels zu einer pathologischen Familienpsychologie der Verdrängung zugespitzt (Motto: ‚wie wir werden‘). In positiver biographischer Variation des intonierten Themas wird zu Ausschnitten der visuell von den Stimmen entkop‐ pelten Körper - insbesondere der gestikulierenden Hände - in Großaufnahmen auf den Leinwänden der metaphorisch formulierte historische Tiefenraum des eigenen ‚Stehens auf den Schultern der Eltern‘ als sensitivitäts-, aber auch sensi‐ bilitätssteigernd kulminierender, post-/ kolonialer Diskursraum mit generation‐ ellen Abstufungen reformuliert (Kapitel 3). Dessen vergleichsweise schwächste Ausprägung wird im vierten Kapitel mit autobiographischen Erzählungen vom fingierten Geschenkemachen zu ‚Weihnachten‘ oder an ‚Geburtstagen‘ akzentuiert, indem letzteres ‚Mitfeiern‘ - so auch das einschlägige Motto - rein aus Gruppenzwang der sich auf Kindergartengruppe und Schulklasse ab‐ bildenden Mehrheitsgesellschaft ohne jegliches eigenes, beispielsweise religiös motivierbares Ritual Commitment erfolgen musste - auf den Leinwänden sind synchron Videobilder von geschlossenen und dann wie erwartungsvoll einen Spalt wie zur ‚Bescherung‘ geöffneten Türen zu sehen. Sukzessive schlägt dann die gesamte Tonalität der Inszenierung um, wenn zu Videobildern eines grünen Waldes, einer der dicht befahrenen Straßenkreuzungen in der Nähe des Berliner Un/ markiert? 89 <?page no="90"?> 8 Am 29. Mai 1993 verübten vier junge Solinger einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen, bei dem zwei junge Frauen und drei Kinder qualvoll ihr Leben verloren. Dieser Brandanschlag stand in einer Reihe mit anderen rassistisch motivierten Brandanschlägen zuvor in Hoyerswerda 1991 sowie Rostock-Lichtenhagen und Mölln 1992. Siehe hierzu: Birgül Demirtaş u. a. (Hg.): Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag. Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung, Bielefeld 2023. U-Bahnhofs ‚Kottbusser Tor‘ an einem verregneten Tag und einer Gartenkolonie in einer städtischen Peripherie - im Klang-Raum unterlegt vom zunächst intervallartigen, dann persistenten monotonen Brummen lauter elektronischer Basstöne, im Schau-Raum von Stroboskoplicht unterschiedlicher Position und Farbe durchschossen - unter sprachlicher Reprise des ‚Herkunft‘-Mottos im fünften und sechsten Kapitel eindringliche Erzählungen von ‚Kriegsflucht‘, politischem / ‚kurdischen‘ ‚Flüchtlingsschicksal‘ und angstvoll erlebten ‚Brand‐ anschlägen‘ - in der traurigen, doch weniger medienöffentlichen Fortsetzungs‐ täterschaft derjenigen von ‚Solingen‘ und ‚Hoyerswerda‘ 8 - auf das eigene Leben, Partner*innen, Kinder, Haus und Besitz erfolgen. Während der visuelle Raum zum siebten Kapitel hin nach und nach zunehmend in ein nahezu völliges Dunkel sinkt und die Videoscreens lediglich noch in einem weißen Rauschen der Kamerabilder flackern, handeln die biographischen Episoden in den Schlusspassagen dieses Finales der Aufführung von der Übertragung von Traumata - auch und gerade hinsichtlich der übergenerationellen Delegation von Rache- und Schuldgefühlen angesichts aktueller Erfahrungen rassistischer Diskriminierung und psychischer und physischer Gewalt (Motto: ‚Niemand beleidigt unsere Kinder‘). Dann fallen nach politischen Commitments der Spre‐ cher*innen einzeln nacheinander zum Kampf gegen Rassismus - wobei ihre Stimmen zum ersten und einzigen Mal in der Inszenierung von ihren eigenen Video-Großaufnahmen en face akkordiert und durch eine technische Finesse der Kameraführung durch die Bildwerte des Weiterreichens / Passens eines Balles untereinander szenisch zu einer Gruppe verbunden werden - Ausstel‐ lungsraum und Videoscreens ganz am Schluss in ein totales Black und auch der akustische Raum verstummt vollständig. Die damit waltende Steigerungs‐ dramaturgie einer zunehmenden Hoffnungslosigkeit der Realitätseinschätzung im Schau- und Hör-Raum gleichermaßen findet sich am Ende pointiert durch die Reintonation eines bereits im fünften Kapitel zentral gesetzten elterlichen sprachlichen Mantras ‚Damit ihr es einmal besser habt‘ mittels Ayivis Stimme - als sinn(en)fällig symptomatischer Ausdruck einer über Generationen hinweg gleichsam leerlaufenden Migrationsgeschichte aus Übertragung von Traumata und Delegation sinnentleerter Selbstoptimierung angesichts persistenter, über‐ 90 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="91"?> 9 In Abwandlung eines Begriffs von Roland Barthes (1975): Roland BARTHES par roland barthes, S.-78. 10 Im Zuge der Rückgängigmachung des symbolischen Betrugs eines puren Handelns ‚als ob‘ im sog. post-dramatischen Theater. Vgl. hierzu: Hans-Thies Lehmann, Postdrama‐ tisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 162-167 u. 274-77; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 129-160, bes. S. 157; Matthias Warstat, Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft, Paderborn 2018, S.-227-242, bes. S.-237. generationell erfahrener rassistischer Diskriminierung und vorenthaltener zwi‐ schenmenschlicher Solidarität im Immigrationsland ‚BRD‘. Die hier thematische Erfahrung von misslingender Identitätsstiftung durch Inklusion scheint auf der rezeptiven Inszenierungsebene außerdem durchgängig in der Anordnung der durchweg mehr oder weniger abständig zueinander positionierten/ sich positi‐ onierenden Besucher*innen abgebildet, die räumlich isoliert über Kopfhörer den zugehörigen Körpern entfremdeten Stimmen lauschen. In gegenbildlichem Verweisungsbezug zu den Zeichen des Mangels in diesem Verdichtungsraum zwischenmenschlicher Ent-Solidarisierung durchziehen die Inszenierung aber auch in der Sinnschicht der sprachlichen Vermittlung von Welt Indizes, die - neben dem die Sprecher*innen vereinenden ‚Migrationserbe‘ - auf deren gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Leistungs-/ Klasse zeugen: Berufsbezeichnungen bei ihrer Selbstvorstellung als ‚Erzieherin, Sozialarbei‐ terin und PostDoc an der Uni Bielefeld‘, ‚freier Theaterregisseur und Autor‘, ‚Mitglied in der politischen Erwachsenenbildung sowie einer kollektiven mi‐ grantischen Selbstorganisation‘, ‚Sozialpsychologin und Familientherapeutin‘ und ‚Mitglied des antifaschistischen und antirassistischen Netzwerks Polylux‘ markieren durchweg den berufsbiographischen Hintergrund von ‚Bildungsauf‐ steiger*innen‘ hinter den einzelnen Stimmen. Dies indiziert hinsichtlich ihrer Wortwahl auch der geläufige Gebrauch von Begriffen, die - teils der universitär fachsprachlichen operativ-analytischen Terminologie der identitätspolitisch investierenden Postcolonial, Critical Race und Critical Whiteness Studies entlehnt - aktuelle identitätspolitische Diskurse in der Stimmlichkeit der Inszenierung wie in einer „Echokammer“ 9 widerhallen lassen: ‚Othering‘, ‚empowerment‘, ‚rec‐ laim‘, ‚white middle class‘ oder auch als Grundton der gesamten Aufführung ‚Mi‐ grationserbe‘. Diese aktivistische Tendenz im akustischen Raum der Aufführung findet sich auch programmatisch p/ r/ a/ e-intoniert in deren Untertitel, wo die Regisseurin Simone Dede Ayivi - in ironischer Wendung der im experimentellen Gegenwartstheater ubiquitären ‚Expert*innen‘ als emischem wie auch etischem Begriff für Akteur*innen mit höchster biographischer Evidenzbeglaubigung für die von ihnen dargestellten Rollen 10 - die an der Inszenierung akustisch und visuell beteiligten Darsteller*innen explizit als ‚Kompliz*innen‘ ausweist, bzw. Un/ markiert? 91 <?page no="92"?> 11 Zu diesem Begriff vgl. Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023, S. 160-167, bes. S. 165. 12 Erol Yıldız, „Postmigrantische Visionen jenseits des Migrantismus“, in: Jara Schmidt / Jule Thiemann (Hg.): Reclaim! Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung, Berlin 2022, S.-17-30, hier S.-26. 13 Vgl. hierzu und zum Folgenden: ebd., S.-28-29. 14 Ebd., S.-28. 15 Mittels je historisch spezifischer ‚Subjektformen‘ bringen Einzelne sich im Rahmen einer körperbasiert performativ gedachten Prozessualität der ‚Subjektivation‘ mit den jeweils zeitgenössisch bestehenden Repertoires von Sprach-/ Praktiken mit sich selbst zur Deckung in der dynamischen Gestalt einer ‚Identität‘. Vgl. hierzu Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. deren Theater der Stimmen als ‚Stimmenzusammenführung‘ zum Zweck des ‚Kampfes‘ - so Ayivis Diktum zu Beginn im Hör-Raum der Exposition. 4. Reclaim oder: Arbeit am Kulturbegriff Ayivis Äußerung lässt ihre Inszenierung somit als Teil der Praktiken jener neuen „Anerkennungskämpfe“ 11 verorten, im Rahmen derer sich Angehörige der postmigrantischen Generation mit dem etablierten Migrantismus auseinander‐ setzen, „der die ‚Anderen‘ permanent reproduziert und sie zu integrierenden de‐ fizitären Objekten macht“ 12 , und an dessen Stelle Migrationserfahrung diametral gegenläufig als extraordinäres Wissen und kulturelles Kapital behaupten. Im Gegensatz zu einem öffentlichen Diskurs, der nach Ansicht der Betroffenen der puren Degradation zum Integrationsobjekt dient - indem er durch Herkunfts‐ dialoge vermeintlich ausschließlich auf einen anderen Ort verweist, betreiben Jugendliche und Erwachsene der zweiten und dritten Generation dezidiert das Erzählen neuer Geschichten und die Umdeutung fremd / selbst zugeschriebener negativer Eigenschaften. 13 Dadurch sollen Machtverhältnisse aufgedeckt und die Anerkennung gleichzeitiger und widersprüchlicher Lebensrealitäten gefor‐ dert werden. Als Herrschaftskritik soll das Postmigrantische „politisch provo‐ kant und irritierend auf nationale Narrative und Deutungsmuster“ 14 wirken. Als widerständige Praxis der Wissensproduktion soll es neue Möglichkeitsräume für neue Verortungen und anti-hegemoniale „Subjektformen“ 15 eröffnen. The‐ aterarbeiten wie die Ayivis lassen sich also mit einem Begriff von ‚Kultur‘ übereindenken, in dem letztere mit dem Soziologen Andreas Reckwitz nicht totalisierend mit Gesellschaft identifiziert, sondern eher bedeutungsorientiert als ‚Kulturelles‘ in mannigfaltige Wissensordnungen aufgelöst verstanden wird, die in routinisierte wie deviante Praktiken implementiert und an individuelle 92 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="93"?> 16 Vgl. Andreas Reckwitz, „Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Ho‐ mogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen“, in: ders. (Hg.), Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S.-69-93. 17 Reckwitz, „Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff “, S.-82-83. 18 Siehe den Begriff bei Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007. 19 Siehe Reckwitz, „Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff “, S. 69-93. Der Begriff ‚background languages‘ liefert das Komplementärkonzept zu dem der ‚Interpre‐ tation‘: Interpretationen sind situative und notwendig von einem Individuum vollzo‐ gene Akte der Sinnzuschreibung. Hintergrundwissen liefert hingegen im Sinne eines Systems von Unterscheidungen jene übersubjektiven Sinnmuster, aus denen der*die einzelne Akteur*in in seinen*ihren Sinnzuschreibungen schöpft. Als Sinnelemente mit teils starken Wertungen ermöglichen Background Languages den Akteur*innen nicht allein eine konstruktive Kognition ihrer Handlungsumwelt, sondern gleichzeitig eine Motivierung bestimmten Handelns. (Vgl. Reckwitz, „Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff “, S. 72.) Ein*e gläubige*r Christ*in beispielsweise sieht in der ‚Oblate‘ einer ‚Hostie‘ nicht den unverarbeiteten Boden eines ‚Lebkuchens‘, sondern die sym‐ bolische Materialisierung des ‚Brotes‘ beim letzten Abendmahl des Glaubensgründers. 20 In dieser Hinsicht ist allen Kategorisierungsprozessen ein theatraler Rahmen aufgrund der hier immer mit involvierten Sozialkompetenz der Darstellung implizit. Vgl. hierzu den Theaterbegriff in: Helmar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17.-Jahrhunderts, Berlin 1996. Körper gebunden sind. 16 Aus der Perspektive eines solchen Kulturbegriffs betrachtet, sind sämtliche sinnhaften Unterscheidungen, die Menschen unterei‐ nander in Form von Selbst- und Fremdkategorisierungen wie Alter, Geschlecht, Leistungs-/ Klasse, Nationalität, Ethnizität etc. treffen, nicht nur als imaginierte oder körperlich evidente historische Spuren und Einschreibungen einer als produkthaft-abgeschlossen vermeinten Identität begreifbar, sondern müssen in erster Linie als performativ hervorgebracht und damit als prinzipiell kontingent gedacht werden. Mithin sind es die Sinnkollision, die Sinnkonvergenz und die Sinndivergenz sowie die Sinnmischung der die Lebensformen der Akteur*innen anleitenden kognitiv-evaluativen Background Languages, welche das Kulturelle als Prozessuales mit unscharfen Grenzverläufen in der zwischenmenschlichen Begegnung allererst emergieren lassen - anstatt dass es als homogene Entität der Kultur mit festen Sinngrenzen einfach vorausgesetzt wird. 17 Ohne den ‚Territorialismus‘ oder auch ‚Gruppismus‘, 18 der traditionellen Begriffen von ‚Kultur‘ latent zu Grunde liegt, können sich Background Languages also immer nur in der konkreten zwischenmenschlichen Begegnung als solche einlösen bzw. entfalten. 19 Dies führt im alltäglichen Leben gegenwärtig immer wieder zu ‚Krisensituationen‘ der auf den/ die/ das ‚Fremde/ n‘ bezogenen und ‚dieses Fremde‘ als solches konstituierenden kulturellen Nah- und Fern-Bewegungen, Wahrnehmungen und Sprachen. 20 Un/ markiert? 93 <?page no="94"?> 21 Sara Ahmed, Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London, New York 2000. Der vorliegende Beitrag verdankt der kritischen Lektüre von Ahmeds Schrift entscheidende Einsichten. Ihre Seitenzahlen erscheinen in Klammern im Text. 22 Ahmed bezieht sich hier auf das einschlägige Konzept der ‚Materialisierung‘ / „materi‐ alisation“ von Körpern bei Judith Butler, Bodies that Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘, London 1993, S.-9. 23 Vgl. diese triadische Relation im Theaterbegriff Helmar Schramms in: Schramm, Karneval des Denkens. 5. Strange Encounters Aus der heuristischen Perspektive der kritischen Phänomenologie Sara Ahmeds in Strange Encounters 21 bleiben Krisensituationen - wie auch die im Rahmen der Zuschreibungsprozesse auf der rezeptiven Inszenierungsebene von The Kids Are Alright aufkommenden - in erster Linie im Körper des weißen, männlichen Subjekts befangen. Denn in der zwischenmenschlichen Begegnung bestehen ‚Marker‘ - aufgrund derer im Zusammenspiel von Gegebenem, Imagination und Background Languages Zugehörigkeit zu Einheimischen oder Fremden zugeschrieben werden könnte - laut Ahmed nicht als solche: Primordiale Größe der Verkörperung auf der rezeptiven Ebene ist vielmehr der Körper des weißen, männlichen Subjekts, von dem aus ‚fremde‘ Körper als das schlicht ‚Unassimilierbare‘ assimiliert zu werden vermögen (S. 53). Mithin werden (Human-)Differenzierungen „not simply found in the body, but […] established as a relation between bodies: this suggests that the particular body carries traces of the difference that are registered in the body of others.“ (S. 44, Hv. Ahmed) Ausgehend von einem intensiv relationalen Konzept von ‚Körper‘ begreift Ahmed die Haut nicht als einfach gegebene obere Härte des Ich-Raums, sondern als Ort einer permanenten Prozessualität einer „boundary formation“ (S. 45), im Rahmen derer die Körperkonturen herausgehoben werden und der Körper sich gleichsam ‚materialisiert‘ (S.-45). 22 Hierbei ist eine beständige grenzüberschrei‐ tende Affektivität involviert, weil die Haut ja eine ‚fühlende Grenze‘ („a border that feels“) (S. 45) ist und sich anderen Körpern gegenüber gleichsam öffnet oder verschließt. Die Haut markiert damit den Unterschied zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘. Sie ist die Grenze, die gegebenenfalls Separation gewährleistet, indem sie ‚den Anderen‘ heraushält und ‚das Selbst‘ beschützt. Die Haut konstituiert das ‚In-dividuum‘, das ‚in‘ der Welt und doch anderer Körper und Dinge ‚nicht-teilhaftig‘ ist, und macht aus der ‚Binnenperspektive‘ den Unterschied zwischen ‚Ego‘ und ‚Alter‘ (S. 46). Die mit der äußeren Hüllform der Haut gegebene Körperlichkeit bringt im Zusammenspiel mit der auf sie bezogenen Fremdwahrnehmung, Bewegung und Sprache 23 im Horizont gesellschaftlicher Normerwartung je nach ihrem Devianzgrad variierende ‚Markierungen‘ mit 94 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="95"?> 24 Ich gebrauche die beiden Begriffe des ‚Symbolischen‘ und ‚Imaginären‘ hier nach: Jacques Lacan, Schriften II, Weinheim - Berlin 1986. Vgl. Fußnote 42. 25 Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London, New York 1996. 26 Ahmed zitiert hier Gail Weiss, Body Images: Embodiment as Intercorporeality, London 1999, S.-162. sich. Fluchtpunkt der diese mit hervorbringenden äußeren Perspektivik ist der weiße, männliche, heterosexuelle Mittelklasse-Körper, wie er im ‚Symbo‐ lischen‘ 24 nahezu aller kultureller Sinnschichten - etwa in der sprachlichen Vermittlung von Welt oder auch den Bildwerten ihrer medialen Darstellung - und dem ‚Imaginären‘ damit kongruenter habitualisierter Wahrnehmungs- und Vorstellungsweisen als hegemonial gesetzt wird. Die exakt auf diese Weise kategorisierbare Körperlichkeit kann - mit der stark von der Psychologie La‐ cans her denkenden - feministischen Performance-Theoretikerin Peggy Phelan als ‚unmarkiert‘ („unmarked“) 25 gelten, wohingegen die Körper von „slaves, foreigners, women, the conquered, children and the working class“ (S. 46) im Horizont heteronormativer Erwartungsnorm als ‚markiert‘ erscheinen. Vice versa sind deren Körper ‚nicht durch Privilegien markiert‘, wie im Gegensatz dazu der Weißheitsnorm entsprechende Körperlichkeit privilegiert und aus Ahmeds Sicht als sogenannter „body at-home“, bzw. „body in-place“ (S. 46) in seiner Positionalität auch zentralisiert ist. Insofern nun - aus der heuristischen Perspektive der Phänomenologie Mer‐ leau-Pontys - jede Prozessualität der Verkörperung als körperliches Sich-Er‐ gießen in den Raum beschrieben werden kann, ist diese Positionalität - so Ahmed in kritischer Auslegung Merleau-Pontys weiter - als affektive Disposi‐ tion bei jeder zwischenmenschlichen Begegnung mit involviert. Jeder Vorgang von ‚Verkörperung‘ ist für Ahmed daher “inter-embodiment” (S. 47): „To be embodied is to be capable of being affected by other bodies.“ 26 Hierbei öffnet sich der Körper für andere Körper in der Wechselseitigkeit von Sehen und Gesehen-Werden, Berühren und Berührt-Werden. Es ist also ‚Verkörperung‘, was die ‚Intimität‘ des ‚Selbst‘ für ‚Andere‘ öffnet. Ahmeds prozessuales Konzept von ‚inter-embodiment‘ - das im Deutschen wohl am ehesten mit ‚Zwischen-Ver‐ körperung‘ zu übersetzen wäre - bestimmt eben diese bereits als Ort der (Human-)Differenzierung, also ‚nicht‘ erst den kognitiven Rahmen des Lesens und Dekodierens von ‚Markern‘ auf Basis des Vor-Wissens bestimmter Back‐ ground Languages. Zudem definiert sie sie als grundsätzlich in gesellschaftliche Kontexte asymmetrischer Zuschreibung, Machtgefälle und potentieller Gewalt‐ tätigkeit eingebettet: „I want to consider inter-embodiment as a site of differenti‐ ation rather than inclusion: in such an approach ‚my body‘ and ‚the other’s body‘ would not be structurally equivalent (even as impossible bodies), but in a relation Un/ markiert? 95 <?page no="96"?> 27 Stefan Hirschauer, „Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs“, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel. Bd. II, Kassel 2008, S. 974- 984. 28 Paul Schilder, The Image and Appearance of the Human Body, New York 1970, S.-210. 29 Julia Kristeva, The Powers of Horror: An Essay on Abjection, trans. L.S. Roudiez, New York 1982, S.-1. 30 Siehe deren philosophische Grundlegung in Sara Ahmed, Queer Phenomenology. Orien‐ tations, Objects, Others, Durham 2006. 31 Vgl. Fußnote 2. of asymmetry and potential violence.“ (S. 48) In Ahmeds kritischer Phänomeno‐ logie ist es also bereits der intensiv relationale Prozess der Verkörperung selbst, der als Ort eines situierten ‚Körper-Wissens‘ 27 aufgrund der von ihm ausgeh‐ enden und auf ihn bezogenen ‚Ökonomien der Berührung‘ („economies of touch“, S. 49) Andere subordiniert, bzw. vulnerabel und angsterfüllt macht (S. 49). Diese Prozessualität konstituiert ‚Humandifferenzierung‘ allererst auf dem Wege der affektiv disponierten ‚Permeabilität‘ / ‚Durchlässigkeit‘ von ‚Körper-Grenzen‘, indem ‚Einverleibung‘/ “incorporation“ und ‚Ausstoßung‘/ “expulsion“ mehr oder weniger assimilierbare andere Körper mit hervorbringen (S. 49-50). Ahmed führt Paul Schilders Konzept des ‚Körperschemas‘ - wo Körperkonturen sich in der körperlichen Begegnung mit anderen Körpern ausdehnen und zusam‐ menziehen 28 - sowie Kristevas Theoriebildung zum ‚Abjekten‘ - in der die Körperlichkeit von Emotionen, die die Körpergrenzen zu überschreiten und die Integrität des Subjekts zu unterminieren drohen, von diesem ausgestoßen werden und zugleich dessen Aufmerksamkeit und Begehren herausfordern 29 - zur Erhärtung ihrer Thesen an. 6. Allyship oder: das erzwungene Glück Im Falle einer Lektüre von Ayivis Inszenierung, die von Ahmeds Queer Pheno‐ menology 30 angeleitet wird - wo bei der dekonstruktiven Durch-Que(e)rung der kulturellen Sinnzuschreibung jeglicher Kategorisierungen von Humandif‐ ferenzierungen letztere primordial in der Körperlichkeit des ‚weißen‘ ‚Ober‐ klasse-Cis-Mannes‘ verortet sind, wäre der Schreiber dieser Zeilen bei deren Rezeption also in erster Linie permanent auf eben diese eigene Positionalität zurückgeworfen. Von der Aufführung evozierte, darauf bezogene autoreflexive Prozesse - wie sie bereits in der typographischen Hervorhebung sämtlicher von mir vorgenommenen oder in der einfachen ‚Reprise‘ von Feldstimmen der In‐ szenierung wiedergegebenen Attributionen durch einfache Anführungszeichen schon in der dichten Beschreibung kritisch distanziert zum Ausdruck kommen 31 96 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="97"?> 32 Vgl. Latour, „Von der Fabrikation zur Realität“, die einschlägigen heuristischen Begriffe ‚Proposition‘ und ‚Artikulation‘ auf S. 141. Bruno Latour diskutiert hier die Entdeckung der Milchsäuregärung durch Louis Pasteur Mitte des 19. Jahrhunderts. Latour zeigt auf, wie die hierfür ursächlichen Mikroben (einer Hefe) im Verlauf der Forschungsdiskurse Pasteurs zunehmend an Sichtbarkeit als Aktanten gewinnen. ‚Artikulation‘ stellt sich hier als enges Wechselspiel von Dingen (des Gegebenen, der sogenannten ‚Proposition‘) und (darauf bezogenen) Zeichen dar. Vgl. hierzu auch Ulf Ottos Diskussion der Arti‐ kulation des eingelagerten ‚Weißseins‘ von Infrastruktur und diskursiver Außenseite des deutschen Sprechtheaters am Fallbeispiel von Anta Helena Reckes Inszenierung Mittelreich (Münchner Kammerspiele 2017) in: ders. u. Johanna Zorn (Hg.): Ästhetiken der Intervention. Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters. Berlin 2022, S. 202-225, bes. S.-206-207. Vgl. ferner Fußnote 3. 33 Vgl. hierzu: Georg Breidenstein et al., Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung, Kon‐ stanz, München 2013. ‚Emisches‘ Sprechen bezeichnet hier die Sprache von Stimmen eines untersuchten Feldes, ‚etisches‘ hingegen deren ethnographische Abstraktion und sozialwissenschaftliche Theoretisierung (vgl. S.-45-46). - bleiben dann auf die ‚Artikulation‘ dieser im Horizont gesellschaftlicher Normerwartung ‚unmarkierten‘ und quasi ‚unsichtbaren‘ Betrachterposition, ausgehend von der ‚Proposition‘ der Inszenierung/ selemente, beschränkt. Diese Betrachterposition wird als eigentlicher Aktant der rezeptiven Inszenierungs‐ ebene ins Feld der Sichtbarkeit gehoben, diesbezüglich vergleichbar den Mikro‐ organismen von Pasteurs naturwissenschaftlichen Experimentalanordnungen in dem einschlägigen Fallbeispiel Latours. 32 Als metasprachliche Markierungen der kritischen Reflexion der eigenen Positionalität im Sinne der ethnographisch geforderten Autoreflexion meines ‚etischen‘ Sprechens über die Aufführung als Beobachter zweiter Ordnung wären besagte typographische Hervorhebungen in einer von Ahmed inspirierten Lesart allerdings schon erste Sprechakte auf dem Weg eines paternalistischen intellektuellen Aneignungsprozesses. Denn mittels solcher metasprachlicher Autoreflexionen werden üblicherweise in der Beschreibung der Sachverhalte ‚Konzeptmetaphern‘ vorbereitet, die als respekt‐ volle Demarkierungen der intellektuellen Höhe des untersuchten Feldes doch in the long run des ethnographischen Prozesses sozialwissenschaftliche Schlüsse vorbereiten, die eben über besagtes Niveau des Feldes hinauszugelangen su‐ chen. 33 In einer Lektüre der Aufführung á la Ahmed geht es also allererst nicht um ‚Marker‘ und ihre Evokationen in einem möglichen theaterkünstlerischen Gedächtnisraum, sondern vielmehr um die als solche ‚unmarkierten‘, ‚unsicht‐ baren‘ Background Languages weißer, elitärer, akademischer Cis-Männer mit ihrer notorisch unreflektierten Appropriierungswut. Letzteren bleibt ein Trans‐ formationsprozess vorbehalten, wie ihn etwa Yaël Koutouan im Anschluss an die afrikanische Philosophin Grada Kilomba als fünfstufiges Verlaufsmodell der psychischen Überwindung ‚weißer‘ Abwehrmechanismen gegen Rassismus - Un/ markiert? 97 <?page no="98"?> 34 Diese Aspekte der psychosozialen Kosten von Rassismus bei Koutouan, Machtspiele im Theater, nach Jule Bönkost, „Weiße Emotionen. Wenn Hochschullehre Rassismus thematisiert.“, in: Antirassistisch-Interkulturelles Informationszentrum ARiC Berlin e.V., 2016. 35 Koutouan, Machtspiele im Theater, S.-88-89. 36 Böhnkost, „Weiße Emotionen“, 2016. 37 Koutouan, Machtspiele im Theater, mit Böhnkost, S.-90. 38 Allerdings sind Reckes Inszenierungen stärker in der Tradition der institutional critique, Ayivis hingegen eher in derjenigen Brechtscher Didaxe zu verorten. Ich danke Benjamin Wihstutz für diese signifikante Differenzierung. Vgl. hierzu Ayivi in einem Interview mit Aidan Riebensahm unter dem Titel: „Schwarzes Wissen, weiße Sehgewohnheit. Oder ‚Ich würde mich auch mal über einen fundierten Verriss freuen‘“, in: Azadeh Sha‐ rifi / Lisa Skwirblies (2022): Theaterwissenschaft postkolonial / dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld 2022, S.-89-93, bes. S.-91. 39 Koutouan, Machtspiele im Theater, S.-90. 40 Ebd., mit Kilomba, S.-90-91. für den Gegenstandsbereich der Dekonstruktion angestammter Blick-Regime im deutschen Sprechtheater durch die gesteigerte Präsentifizierung von People of Colour als Darsteller*innen in den Inszenierungen Anta Helena Reckes - theoretisiert hat: ‚Weiße‘ Angst, Privilegien zu verlieren, ‚weiße‘ Wut, ‚weiße‘ Traurigkeit oder auch ‚weiße‘ Hilflosigkeit als Reaktionen auf die Wahrneh‐ mung rassistischer Vorfälle, bzw. Strukturen 34 - wie sie auch als mein gegen‐ wärtiger Affektzustand in Erinnerung an die Re-Inszenierung der geschilderten einschlägigen biographischen Selbsterzählungen von Migrant*innen bei Ayivi im Ton der Sprache dieses Artikels zum Ausdruck kommen mögen - werden hier über die Stadien von ‚Denial‘, ‚Guilt‘, ‚Shame‘ und ‚Recognition‘ schließlich in ‚Reparation‘ überführt. 35 Am Ende dieser Stufenleiter steht das Ausbilden einer „rassismuskritischen Identität“ 36 im Sinne eines/ r ‚Verbündet-Seins‘ / „all‐ yship“ 37 . Komplementär zu diesem Transformationsprozess der Abwehrreak‐ tionen ‚weißer‘ Menschen entfaltet Koutouan für die rezeptive Ebene der Inszenierungen ihres Gegenstandsbereichs - wobei Reckes Theaterarbeiten mit denjenigen Ayivis zweifellos den Black Feminism Audre Lordes, Kimberly Crenshaws und bell hooks als intellektuellen Ausgangspunkt teilen und von daher sehr gut vergleichbar sind 38 - ein Fünf-Stufen-Modell zur Überwindung der affektiven „Selbstschutzmechanismen Schwarzer Menschen“ 39 , die in der Auseinandersetzung mit re/ traumatisierenden Rassifizierungen ihrer Person von ‚Negation‘ über ‚Frustration‘ und ‚Ambivalence‘ hin zu heilsamer, identitäts‐ stiftender ‚Identification‘ und ‚Decolonization‘ verlaufen. 40 Als erstrebenswerte Endstufe wird hier eine ‚Dekolonisierung‘ im Sinne einer ‚Subjektwerdung‘ erreicht: „In dem anhaltenden Prozess der Dekolonisation (Decolonization) beg‐ reif[t] sich die Schwarze Person als Subjekt und identifizier[t] sich nicht länger 98 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="99"?> 41 Ebd., zitiert hier Kilomba, Plantation Memories, S.-144-145. 42 Koutouan, Machtspiele im Theater, S.-91-92. 43 Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, trans C.L. Markmann, London 1975. 44 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lacan, Schriften II; Slavoj Žižek, Lacan. Eine Einführung, aus d. Engl. von Karen Genschow und Alexander Roesler, Frankfurt a. M. 2008, S. 61-83. als die*der Andere.“ 41 Es macht nun sicherlich eine extravagante theoretische Qualität und vor allem eine große Stärke im von ihr bereicherten Diskurs aus, dass Koutouan beide fünfstufigen Transfomationsmodelle zur Überwindung der psychosozialen Kosten von Rassismus grundsätzlich aufeinander bezogen denkt, so dass es bei deren komplementärer Verschränkung und intensiven Relationalität auf der Ebene der zwischenmenschlichen Begegnung spätestens im Prozess der Decolonization beziehungsweise der Reparation möglich und notwendig ist, sich über die eigenen weißen und Schwarzen Emotionen im Zu‐ sammenhang mit Rassismus auszutauschen. Auf dieser Basis können auch Allianzen geschlossen und Bündnisse eingegangen werden. 42 7. Un/ markiert? Allerdings basiert besagter Diskurs grundsätzlich auf einem Bias, wie ich ihn exemplarisch anhand zweier nicht vollkommen unproblematischer philosophi‐ scher Präsuppositionen hinsichtlich ihrer Entwicklung im zuvor referierten Argumentationsgang Ahmeds aufzeigen möchte: 1. Ahmeds theoretisch-begriffliche Rahmung des für sie zentralen Konzepts der zwischenmenschlichen Begegnung - als ihrerseits nicht selten selbst be‐ fremdliche Begegnung mit dem Fremden (‚strange encounter‘) - lebt geradezu von der - gerade im historisch-politischen Kontext - in jeder Hinsicht nachvoll‐ ziehbaren und doch ihr Denkmodell ideologisch interessegeleitet aktivistisch engführenden Lektüre der Lacanschen Psychologie durch Frantz Fanon 43 - wie die postkoloniale Theoriebildung Fanons überhaupt als Common Ground von theaterkünstlerischem Aktivismus á la Ayivi und darauf bezogener möglicher aktivistischer Theoretisierungen von deren rezeptiver Inszenierungsebene á la Ahmed oder auch Kilomba gelten kann. Zur Erhärtung dieser These erlaube ich mir einen kurzen Exkurs. Die Psychoanalyse Jacques Lacans geht von einer Dreiteilung des psychi‐ schen Geschehens in ‚Symbolisches‘, ‚Imaginäres‘ und ‚Reales‘ aus. 44 Dies bedeutet erstens, dass das menschliche Begehren durch den dezentrierten ‚großen Anderen‘, die ‚symbolische Ordnung‘, strukturiert ist. Um der damit gegebenen potenziellen Bedrohlichkeit des Anderen willen überträgt Lacan Un/ markiert? 99 <?page no="100"?> den Freudschen Begriff ,das Ding‘ auf den Nächsten, um das äußerste Objekt unseres Begehrens in seiner - auch - unerträglichen Intensität und Undurch‐ dringlichkeit zu bezeichnen. Von diesem Abgrund des Anderen als Ding aus ist allererst zu verstehen, was Lacan mit dem begründenden Wort meint, d. h. mit Aussagen, die einer Person einen gewissen symbolischen Titel verleihen, sie damit zu dem machen, wozu sie erklärt wird, mit denen also ihre symbolische Identität konstituiert wird. Solche Performativa sind auf ihrer grundlegenden Ebene Akte symbolischer Verantwortung und Verpflichtung, die wir aber auch genau deshalb brauchen, weil der andere, mit dem wir konfrontiert sind, nicht nur mein ‚Spiegelbild‘ ist, jemand wie ich, sondern auch der schwer fassbare ‚absolute Andere‘, der letztendlich ein unergründliches Geheimnis bleibt. Die Hauptfunktion der symbolischen Ordnung mit ihren Gesetzen und Pflichten besteht überhaupt darin, unsere Koexistenz mit anderen minimal erträglich zu machen. Und noch ein Zweites tritt zwischen mich und meinen Nächsten, das Lacan als ‚phantasmatischen Schirm‘ bezeichnet. Jeder Kontakt mit einem ‚realen Anderen‘ aus Fleisch und Blut, jede sexuelle Lust, die wir beim Berühren eines anderen Menschen empfinden, ist für Lacan nichts Evidentes, sondern von Natur aus Traumatisches und kann nur insoweit ertragen werden, als dieser andere in den Rahmen der ‚Phantasie des Subjekts‘ - des sogenannten ‚Imaginären‘ - eintritt. Das ontologische Paradoxon, ja der Skandal der Phan‐ tasie beruht aber wiederum auf ihrem objektiv subjektiven Charakter. Lacans Subjekt-Begriff läuft also jener Standardauffassung des Subjekts vollständig zuwider, nach der es sich selbst direkt durch seine inneren Zustände erfährt. Vielmehr beschreibt dieser Begriff eine seltsame Beziehung zwischen dem - im eigentlichen Sinne - leeren, un-phänomenalen Subjekt und den Phänomenen, die dem Subjekt unzugänglich bleiben. Lacan formuliert eine paradoxe Phäno‐ menologie ohne ein Subjekt: Phänomene entstehen, die keine Phänomene ‚von‘ einem Subjekt sind, sondern die ‚für‘ ein Subjekt erscheinen. Das bedeutet nicht, dass das Subjekt hier nicht involviert ist - das ist es, aber genau im Modus des ‚Ausschlusses‘, als geteiltes Subjekt, als Agent, der nicht in der Lage ist, sich den ‚Kern seiner inneren Erfahrung‘ anzueignen. Es besteht damit eine Kluft, die den ‚phantasmatischen Kern des Wesens des Subjektes‘ für immer von den künstlicheren Modi seiner ‚symbolischen‘ oder ‚imaginären Identifikationen‘ trennt. Es ist eben diese ‚Phantasie‘, die laut Lacan nicht nur das, was wir als ‚Realität erfahren‘, allererst strukturiert, sondern uns auch als ‚Schirm‘ dient, der uns vor der ‚direkten Überwältigung durch das Reale‘ beschützt. Ende des Lacan-Exkurses. Das heißt, wenn für Ahmed jeder Vorgang von ‚Verkörperung‘ zugleich ‚inter-embodiment‘ ist, dann wird davon ausgegangen, 100 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="101"?> 45 Fanon, Black Skin, White Masks, S. 114. Das Zitat bei Ahmed, Strange Encounters, auf S.-43. 46 Vgl. hierzu auch Ahmeds (Strange Encounters) Faszination für die Außengrenze des Humanen in Gestalt von in der Science Fiction ubiquitären ‚Aliens‘ in der Einleitung auf S.-1-3. 47 Kristeva, The Powers of Horror, S.-4. 48 Fanon, Black Skin, White Masks, S.-77. 49 Donna Haraway, „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Carmen Hammer / Immanuel Stieß (Hg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M. 1995, S. 73-97. Vgl. hierzu auch Koutouan, Machtspiele im Theater, S.-25-28. that the real Other for the white man is and will continue to be the black man. And conversely. Only for the white man The Other is perceived on the level of the body image, absolutely as not-self, that is - the unidentifiable, the unassimilable. 45 Die in der Lacanschen Psychoanalyse bei der zwischenmenschlichen Begeg‐ nung jenseits der Haut bestehende - mit mehr oder weniger positiven/ negativen Res/ sentiments aufgeladene - zweite äußere Hüllform des Anderen in Gestalt des ‚Schirms‘ - der den/ die Einzelne/ n vor dem ‚Realen‘ seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse, aber auch die eigene Verletzlichkeit beschützt, bekommt so eine konkrete spezifische Hautfarbe, die schwarze, zugeordnet - wo gelbe, rote oder sogar grüne, gemäß der hochgradig imaginären Größe des in der Science Fiction-Kunst längst etablierten Stereotyps unserer zukünftigen Erstbegegnung mit Marsianern, ebenso ins Feld der Betrachtung gezogen werden müssten. 46 Ich habe zugunsten ihrer heuristischen Reichweite eine solche Farbenblindheit bereits bei der Anwendung der Theoreme Ahmeds und Kilombas auf Ayivis Aufführung unterstellt, was von Seiten der Autor*innen keinesfalls auf Zustim‐ mung stoßen dürfte. 2. In analoger Weise wird von Ahmed auch Kristevas Psychologie des ‚Abjekten‘ - das exakt die Außengrenze des Humanen zu jeglichem Objekt demarkiert 47 - mit Frantz Fanons Befund gekreuzt, die Verkörperung von Schwarzen sei „sealed into that crushing objecthood“ 48 - mit vergleichbaren, aktivistisch motivierten Reichweiteverlusten im Spektrum der Anwendbarkeit von Kristeva auf andere, vergleichbare Fälle. Was somit wiederum hinsicht‐ lich Ahmeds Denkstil befundet werden kann, ist die nicht sachlich, sondern ideologisch interessegeleitete, gezielte Re-Appropriierung der Phänomenologie Merlau-Pontys, wie auch der Psychologie Lacans und Kristevas durch die aktivistisch motivierte Engführung des Diskurses unter den theoretischen Vorzeichen von Donna Haraways Konzept des „situierten Wissens“ 49 . Bei einer ethnographisch erweiterten Inszenierungsanalyse von Ayivis Performance nach deren Denkmodell müsste jegliche Feldlogik transzendierende ‚Reflexion‘ Un/ markiert? 101 <?page no="102"?> 50 Haraway, „Situiertes Wissen“, S.-87. 51 Tobias Boll, „Soziale Praktiken mit Haut und Haaren. Alltagssemiotik und praktische Ontologie körperlicher Randbereiche“, in: sozialmagazin 1-2 (2017), S.-21-27. 52 Ebd., S.-22. 53 Ebd. Boll zitiert in diesem Zusammenhang Stefan Hirschauer, „Un/ doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten“, in: Zeitschrift für Soziologie 43, H. 3 (2014), S.-170-191. 54 Tobias Boll, „Soziale Praktiken mit Haut und Haaren“, S. 23, unter Rekurs auf Eva Bonn et al., Was machen Marker? Logik, Materialität und Politik von Differenzierungsprozessen, Bielefeld 2013. 55 Tobias Boll, „Soziale Praktiken mit Haut und Haaren“, S.-23. 56 Vgl. ebd., S.-22. Boll bezieht sich auf den originären Begriff Erving Goffmans, in: ders., The Presentation of Self in Everyday Life. Garden City, New York 1959. ebenfalls der ‚Positionalität‘ des/ r Forschenden als „entscheidende[r] wissens‐ begündende[r] Praktik“ 50 weichen, indem auch hier die Verantwortung des/ r Forschenden für die Wissensproduktion vor dem Hintergrund der ihr zu Grunde liegenden asymmetrischen Machtgefälle ins Zentrum gerückt wird. Hingegen geht eine Ethnographie der Haut, wie der Soziologe Tobias Boll sie vorschlägt 51 , in ihrem Denkstil etwas weniger dekonstruktiv verhuscht davon aus, dass „Haut und Haare im sozialen Alltag meist wie Medien [funk‐ tionieren], die uns Dinge anzeigen, dabei aber selbst in ihrer Materialität im Hintergrund bleiben.“ 52 Unter dezidierter Durchquerung der sozialen Sinnge‐ bung im Sehen und Übersehen von Haut und Haaren elaboriert er letztere praxistheoretisch als soziale Konstruktionen, die in semiotischen sozialen Prak‐ tiken hervorgebracht werden. Damit sind sie Teil der Aushandlung kultureller Grenzmarkierungen zwischen sozialen Gruppen und der Herstellung von Hu‐ mandifferenzierungen. 53 Sie werden dann als (An-)zeichen und Anzeigen für Dinge jenseits ihres konzeptionellen So-Seins gelesen, d. h. beispielsweise als „Insignien von Individualität und als Marker für individuelle Eigenschaften wie ‚Geschlecht‘, ‚Ethnizität‘, ‚Alter‘ oder auch ‚Attraktivität‘“ 54 . Zugleich sind sie in die kulturelle Prozessualität der Einsortierung von Menschen in Humankategorien eingebettet, wodurch sie als Marker und Zeichen für die Kategorisierung nach ‚Geschlecht‘, ‚Rasse‘, ‚Alter‘ etc. emergieren. 55 Aus einer aus Bolls soziologischer Sicht auf Haut und Haare ableitbaren heuristischen Perspektive zählen letztere als kommunikative Oberflächen zusammen mit dem nach außen wahrnehmbaren Verhalten von Körpern - wie sie auch auf den Video-Screens von Ayivis Inszenierung zu sehen sind - zu den verschiedenen, die Aufführung konstituierenden visuellen und akustischen ‚Displays‘ 56 . 102 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="103"?> 57 Vgl. den Begriff bei Adela C. Licona, Zines in Third Space: Radical Cooperation and Borderlands Rhetoric. Albany 2012, S.-12-15. 58 Vgl. hierzu: „Theater ist immer politisch! “, Simone Dede Ayivi im Gespräch mit Lara-Sophie Milagro in der Internet-Talkshow DECOLONIZED GLAMOUR TALKS, http s: / / www.youtube.com/ watch? app=desktop&v=Y7NSNnSLaO4 [Zugriff am 12.01.2024]. 59 Vgl. hierzu Friedemann Kreuder, Oliver Scheiding: „Rasse und Ethnizität im künst‐ lerischen Aktivismus nordamerikanischer indigener Zeitschriften und im deutschen postmigrantischen Theater“, in: Anne Friedrichs / Stefan Hirschauer / Peter Hof‐ mann / Gabriele Schabacher (Hg.): Humandifferenzierung im Vergleich, Unveröffent‐ lichte Anthologie i.E., Weilerswist 2025. 8. ‚Dekolonisation‘, ‚Reclaim‘ und ‚Empowerment‘ Diese Displays schließen sich im möglichen Erinnerungsraum der Aufführung im Rahmen einer multimedialen Collage aus reinszenierten biographischen Er‐ zählung/ sfragment/ en, Klängen und Video-Bildern in sich zeitweise clusterartig überlagernden Informationsschienen zu einem theaterkünstlerischen Ort der ‚Artikulation‘ von ‚GeSchichte‘ zusammen. Ayivis Performance bildet mithin ein synästhetisch erfahrbares, bild- und klangräumlich entfaltetes Pendant zum linearen Narrativ geläufiger Geschichtsschreibung, dessen möglicher Sinn‐ horizont einer Revision von ‚Geschichte‘ gleichkommt - gerade auf seinen vielfältigen rezeptiven Inszenierungsebenen im Sinne von „third-space subjecti‐ vities“ 57 . Als ‚Gegen-Erinnerungsraum‘ lassen sich Ayivis Inszenierung zusam‐ menfassend drei ästhetische Funktionen - auch im Kontext programmatischer Äußerungen ihrer Macherin 58 - zuschreiben: 1. der ‚Dekolonisation‘/ decoloni‐ sation, etwa durch Rezeptionslenkung im Sinne einer Umkehrung kolonialer Blick-Regimes, 2. der/ m ‚Re-Appropriierung‘, Reclaim von Geschichte - als mögliche Erinnerungsorte des Widerstandes in Form der Dekonstruktion von hegemonialen ‚weißen‘ Narrativen, beispielsweise des bundesrepublikanischen ‚Migrantismus‘, sowie 3. des Empowerments der betroffenen Minoritäten - beispielsweise durch differenzierte Artikulation von lokalem und traditionellem Wissen oder auch schlicht von Begriffen von ‚Migration‘. 59 Bei ‚weißen‘ Re‐ zipient*innen soll durch die Konfrontation mit besagten Gegen-Erinnerungs‐ räumen die sukzessive Ausbildung einer rassismuskritischen Identität evoziert Un/ markiert? 103 <?page no="104"?> 60 Vgl. hierzu nochmals Ayivi im Interview mit Aidan Riebensahm unter dem Titel: „Schwarzes Wissen, weiße Sehgewohnheit. Oder ‚Ich würde mich auch mal über einen fundierten Verriss freuen‘“, in: Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (2022): Theater‐ wissenschaft postkolonial / dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld 2022, S. 89-93, bes. S. 93: „Und ich vertraue darauf, dass meine Generation von Schwarzen Akademiker*innen und Kulturschaffenden weitere ‚Diskurs-Türen‘ aufstößt, die das, was sie untersuchen, attraktiv für Menschen macht, die unsere Perspektiven teilen. […] Und ich glaube auch, dass weiße Theaterwissenschaftler*innen der Zukunft es dann gewohnt sind, in einem Feld zu arbeiten, in dem sie nicht die Mehrheit bilden, sondern dass sie ein Theater, das von Schwarzen Künstler*innen gemacht wird, dechiffrieren können. […] Aber hauptsächlich glaube ich eben daran, dass wir mehr werden und dadurch die bestehende Hegemonie aufgelöst werden kann. Punkt.“ 61 Vgl. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht, Production of Presence. What Meaning Cannot Convey, Stanford, California 2004, S.-81-82. 62 Simone Dede Ayivi: „Esmalbesserhabenin.de. Eine audiovisuelle Stimmenzusammen‐ führung“, https: / / www.simonededeayivi.com/ projekte/ esmalbesserhabenin-de/ [Zu‐ griff am 08.03.2024]. 63 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S.-371-396. 64 Vgl. hierzu Gesa Ziemer, Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität. Bielefeld 2013, bes. S.-106-118. und eine neue Haltung reflektierter Allyship als Bereitschaft und Befähigung zu innovativen ‚Bündnissen‘ angebahnt werden. 60 Hierbei ist die gewählte Form der Produktion und ihrer Verbreitung eben nicht nur als reine Form - etwa im Sinne der aristotelisch gedachten Emergenz von künstlerischer Substanz 61 , sondern - ebenso wie die künstlerischen Ver‐ fahren ihrer Gestaltung - als bedeutender Inhalt zu begreifen: The Kids Are Alright findet seine öffentliche Verbreitung offline in Gestalt von Aufführungs‐ serien an einschlägigen Off-Theatern (SOPHIENSAELE, Berlin, 2020; Theater im Pavillon, Hannover, 2022; Lichthof Theater, Hamburg, 2023; Schwankhalle, Bremen, 2024), wie auch online als Videodokumentation und als Hörspiel unter dem Titel Esmalbesserhabenin.de 62 . Die Inszenierung ist damit im übergeord‐ neten Rahmen der dezidierten Proliferation eines Kunst-‚Aktivismus‘ mit seinen neuen, häufig ‚intersektionalen‘ Kategorienbildungen - etwa den genannten third-space subjectivities - zu sehen, wie sie als Formen auf kommerziellen ‚Valorisierungsprozessen‘ 63 basierender neuer sozialer Zugehörigkeit auch auf internationalen Festivals (Impulse Theater Festival, Mühlheim an der Ruhr, 2021 und 2022; Flora Festival, Olomouc, 2023) kommodifiziert werden - wobei aktu‐ ellen Theaterproduktionen hier in der Regel innovative Netzwerkstrukturen und Arbeitsformen zu Grunde liegen, wie etwa die sog. ‚Kompliz*innenschaft‘ im Falle Ayivis. 64 104 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="105"?> 65 Vgl. Annika Wehrle, Passagenräume. Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart, Bielefeld 2015, S.-16. 66 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-371-396. 67 Vgl. ebd., S.-397. 68 Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1991. 69 Eric Hobsbawm / Terence Ranger, The Invention of Tradition, Cambridge 1984. 70 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-396-442. 71 Ebd., S.-397. Ihre Inszenierung bildet damit - insbesondere auf ihren möglichen rezept‐ iven Ebenen - als eine Art theatraler „Verdichtungsraum“ 65 gesellschaftlicher Dynamik jene beiden globalen Spielarten bei der sozialen Herstellung indivi‐ dueller Wertigkeit ab, wie Andreas Reckwitz sie quer liegend zu jeglichem rein territorialen Verständnis von ‚Kultur‘ auf die Weltgesellschaft aufteilt. Im Hintergrund steht hier seine Grundüberzeugung von einer weltweiten kapital‐ istischen Kommodifizierung aller Dinge und Praktiken und der damit einher‐ gehenden Prozesse von deren ideeller Valorisierung (und De-Valorisierung), d. h. des Zu- und Absprechens von Wertigkeit jenseits des rein ökonomischen Werts. Hier gibt es zum einen eine von ihm begrifflich geprägte ‚Hyperkultur‘, d. h. eine weltweit geistig wie faktisch mobile Groß- und Geldbürgerschaft, bestehend aus hochgradig individualisierten Subjekten, die Kultur als Vehikel zu Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung erachten und die kulturalisierten Objekte und Praktiken ihrer einschlägigen Märkte zur ideellen Aufwertung einer (radikal) individualistischen Lebensform nutzen. 66 Gleichzeitig markiert diese kulturelle Gemeinschaft eine schwache Differenz nach ‚außen‘, indem sie sich auf die Kultivierung ihrer Binnenwelt konzentriert 67 : Begriffe wie ‚empowerment‘ und ‚reclaim‘ werden dann schlicht zu sprachlichen Lifestylee‐ lementen. Dieser ‚Hyperkultur‘ steht der sogenannte ‚Kulturessentialismus‘ gegenüber, der einschlägige Praktiken und Objekte in erster Linie als Merkmal einer tendenziell autochthonen Imagined Community (Anderson) 68 betrachtet, die häufig mit Invented Traditions (Hobsbawm) 69 zur Durchsetzung und Aufrecht‐ erhaltung Gleichgesinnte vergemeinschaftender/ Andersartige exkludierender äußerst rigider Moralvorstellungen gegen die Angriffe der Post/ moderne vertei‐ digt werden muss. 70 Im Gegensatz zum Valorisierungsregime der ‚Hyperkultur‘ setzt die ‚kulturessentialistische‘ Identität des Innen im Extrem eine scharfe Abgrenzung vom dämonisierten Außen voraus 71 : Hier kann ein Imperativ wie ‚Decolonize! ‘ zum Auslöser gewalttätiger Abreaktion fundamentalistischer politischer Überzeugungen werden. Un/ markiert? 105 <?page no="106"?> 72 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom. Berlin 1977. 73 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, S.-371-442. 74 Ebd., S.-371-442. 75 John Mc Whorter, Woke Racism. How a New Religion Has Betrayed Black America, London 2022, S.-5. 76 Ebd., S.-5. 77 Ebd., S. 6. McWhorter bezieht sich hier auf die soziale Theatralität des „virtue signaling“, S. xii. Trotz aller vorstellbaren möglichen und partiell auch realisierten ökono‐ mischen, medialen und sozialen ‚rhizomatisch‘ 72 unübersichtlichen Verknüp‐ fungen des Individuums mit Anderen über eine der beiden Reckwitzschen Spielarten in ihrer globalen Verbreitung - jenseits der Grenzen von Nationalität, Religion, Ethnizität und Geschlecht, wirft die Zugehörigkeit zu einer der beiden Wertgemeinschaften das Individuum doch in erster Linie lokal auf sich selbst zurück. Denn beide Wertgemeinschaften dienen doch in erster Linie der sozialen Herstellung seiner individuell besonderen Wertigkeit - seiner sog. ‚Singularität‘, die sich aus der größtmöglichen Extraordinarität seiner sich überschneidenden Lebenskreise ergibt. 73 Dies bedeutet: besagte Gemeinschaften zerfallen letztlich in viele Vereinzelte mit ihren individuellen Perspektiven. Auch tendieren be‐ sagte Kulturalisierungsprozesse 74 zur Herstellung sozialer Wertigkeit in der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten schon seit Jahren dazu, dass indi‐ vidualisierende ‚Hyperkultur’ in vergemeinschaftenden ‚Kulturessentialismus’ umschlägt. Das heißt, dass besagte individuelle Einzelperspektiven sich auch quer zu Reckwitz’ - letztlich idealtypischer - Zweiteilung zusammenfinden können: So beobachtet der New Yorker Linguist John McWhorter in der US-amerikanischen Gesellschaft einen seit den 2010er Jahren bestehenden und spätestens im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung 2020 im Mainstream erstmals aufgipfelnden „Third Wave Antiracism“ 75 , der lehre, that because racism is baked into the structure of society, whites’ „complicity“ in living within it constitutes racism itself, while for black people, grappling with the racism surrounding them is the totality of experience and must condition exquisite sensitivity toward them, including a suspension of standards of achievement and conduct. 76 Ausgehend von dem Befund, dass die dritte Welle des Anti-Rassismus dazu zwinge, „that performance art is politics“ 77 , konstatiert McWhorter, dass unter die durchaus paradoxalen zehn Gebote dieser Bewegung etwa die folgenden zählen: […] Don’t expect black people to assimilate to „white“ social norms, because black people have a culture of their own. 106 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="107"?> 78 Ebd., S.-8-9. 79 Ebd., S.-11. 80 Vgl. ebd., S.-11 u. 22. […] Elevate the voices of the oppressed over your own. […] You must strive eternally to understand the experiences of black people. […] Do not culturally appropriate. What is not your culture is not for you, and you may not try it or do it. […] […] All whites must acknowledge their personal complicitness in the perfidy of „whiteness“ throughout history. 78 Im Sinne einer von ihm kritisch hinterfragten pseudo-religiösen Predigt des Third-Wave-Antirassismus pointiert McWhorter schließlich folgende Maximen: Battling power relations and their discriminatory effects must be the central focus of all human endeavor, be it intellectual, moral, civic, or artistic. Those who resist this focus, or even evidence insufficient adherence to it, must be sharply condemned, deprived of influence, and ostracized. 79 Mit der Elaboration der Eliminierung von Machtungleichheit als Zentrum aller nur denkbaren Aktivitäten desavouiert McWhorter überzeugend das Umschlagen hyperkulturellen, originär dem US-amerikanischen Liberal Move‐ ment der 1960er Jahre zuzurechnenden Gedankenguts in kulturessentialistische Tendenzen, die sich nicht zuletzt auch in einer verhältnismäßigen Hoffnungslo‐ sigkeit der Realitätseinschätzung hinsichtlich eines generationellen Fortschritts beim Thema Rassismus manifestiere. 80 9. De/ konstruktionsparadox im künstlerischen Aktivismus postmigrantischen Theaters Unter Wiederaufnahme meiner eingangs gestellten Forschungsfrage nach möglichen in-/ exklusiven Reichweiten von Ayivis Performance lassen sich McWhorters bedenkenswerte Beobachtungen und Hypothesen durchaus auf den gesellschaftlichen ‚Verdichtungsraum‘ von Ayivis Inszenierung abbilden - wenn hier auch gleich, diesen Ansatz in seiner Passungsfähigkeit relativierend, eingeräumt werden muss, dass vergleichbare gesellschaftliche Anerkennungs‐ kämpfe und darauf bezogene identitätspolitische Diskurse in der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland (noch) nicht derart heißgelaufen sind, wie in den heutigen USA, und das McWhorter beschäftigende Feld sicherlich nicht bruchlos von Black People of Colour auf People of Coulour und ihre jeweils unterschiedlichen historischen Erinnerungsräume ausgedehnt werden kann. Un/ markiert? 107 <?page no="108"?> 81 Hirschauer, „Menschen unterscheiden“, S.-160. 82 Vgl. ebd. Die von Hirschauer zitierte Goffman-Passage in: Erving Goffman, Gender Advertisements, Cambridge 1976. 83 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008. 84 Schlussstimme der Stimmenzusammenführung am Ende der Performance von Ayivi selbst. Vgl. die Laufzeitmarkierung der Aufzeichnung besagter Generalprobe in den SOPHIENSAELEn, 35: 18-35: 28. Dennoch dürften die ‚sozial Deklassierten‘ aus den bei Ayivi thematischen Migrationsfamilien sich in den gelehrten Stimmen der ihnen ursprünglich entstammenden ‚Bildungsaufsteiger*innen‘ zu ‚Postcolonial‘, ‚Critical Race‘ und ‚Critical Whiteness Studies‘, ‚Othering‘, ‚Empowerment‘, ‚Reclaim‘, ‚White middle class‘ oder auch ‚Migrationserbe‘ doch wohl kaum als Gemeinte erkennen. Schon allein hinsichtlich ihres unterreflektierten ‚Leistungs-/ Klassismus‘ trägt Ayivis Performance mehr oder weniger freiwillig zu einer Art ‚Hyperkultu‐ ressentialismus‘ bei, wie er etwa in der die Aufführungsästhetik zweifellos dramaturgisch anleitenden Vorstellung virulent ist, dass „etwas Indiziertes ‚sich‘ im Sprechen, Kleiden, Gebaren ‚ausdrückt‘ (Goffman sprach von einer ‚doctrin of natural expression‘, 1976: 8)“ 81 . Dies kommt allerdings der ideologisch inte‐ ressegeleiteten ‚Re-Essenzialisierung‘ einer Unterscheidung gleich. 82 Das kann des Weiteren auch für die mehr oder weniger intentionalen Exklusionseffekte gelten, die sich aus ihrer selbst zugeschriebenen und zugleich hochgespielten Dringlichkeit als programmatischem Beitrag zu einem theater/ künstlerisch prozessierten kulturellen Sinn des sog. ‚Migrationserbes‘ unter den politischen Vorzeichen eines Black Feminism als Andersartige exkludierende, tendenziell vergemeinschaftende Praxis ergeben: So scheinen in der Aufführung die poli‐ tisch diskursiven Kräfte jenes „strategischen Essentialismus“ 83 zu walten, gemäß dem laut Gayatri Spivak die unterdrückte Gruppe zunächst ihre eigene Identität stärken muss, um überhaupt zu einer eigenen Sprechfähigkeit zu gelangen. Wird die selbstbewusste Behauptung einer besonderen Identität allerdings nicht nur als Zwischenschritt verstanden, sondern die so gewonnene neue Selbstbehauptung zum Ziel aller Bemühungen, verdrängt eben dieser persistent zu erneuernde Kampf um Anerkennung auch jede potentiell hoffnungsträchtige Realitätseinschätzung hinsichtlich möglicher generationeller Fortschritte: „Ihr sollt es einmal besser haben, sagten sie. Ihr sollt es einmal besser haben, sagen wir.“ 84 108 Friedemann Kreuder (Mainz) <?page no="109"?> 1 Vgl. Jelena Luzina, „A unique theatre miracle: Thirty five years of the Romany Pralipe Theatre (1971-2006)“, in: Identities. Journal for Politics, Gender and Culture Vol. 4, Nr. 8/ 9 (2005), S.-279-299, hier S.-279. Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis - Lehre/ n für die deutschsprachige Theaterwissenschaft Azadeh Sharifi (Berlin) Das Theater Pralipe zählt zu den bedeutendsten Roma Theatergruppen in Europa. Zumindest ist es eines, das sich als eines der wenigen in die europäische Theaterlandschaft einschreiben konnte. Die lange Geschichte und verschiedenen Etappen erstrecken sich über drei Dekaden und ganz Europa. Das Theater Pralipe, unter der künstlerischen Leitung von Rahim Burhan, hat von Anfang an Romanes als Bühnensprache sowie kulturelle, soziale und politische Referenzen zu Romn*ja Communities fokussiert. Pralipes Theaterarbeit hatte das Potential, als transeuropäisches Theater eine neue Perspektive auf Europa und europäisches Theater zu eröffnen. Dieser Beitrag möchte das Theater Pralipe historisch einordnen. Die Ge‐ schichte, die Ästhetik und die kulturpolitischen Bedingungen des Theaters Pralipe werden dabei anhand von Selbstbeschreibungen der Künstler*innen nachskizziert. Zudem wird anhand einer Seminarsitzung über die Möglichkeit eines diskursiven Raums nachgedacht, der uns nicht-Rom*nja Theaterwissen‐ schaftler*innen in die Verantwortung nimmt, das Erfahrungswissen von Rom*ja zu zentrieren und aus diesem heraus eine theaterwissenschaftliche Auseinan‐ dersetzung zu entwickeln. Theater Pralipe - Ein transeuropäisches Theater Die Geschichte des Theaters Pralipe beginnt 1971 in Skopje, dem heutigen Nord-Mazedonien und endet in Köln-Ehrenfeld 2004. Theater Pralipe ist ver‐ mutlich das erste europäische Rom*nja Theater. 1 Und hier beginnen die histo‐ <?page no="110"?> 2 Vgl. Luzina, „A unique theatre miracle“ sowie Anita Rácz-Romsics, „Pralipe. Zigeuner‐ theater in Deutschland.“, in: Germanistisches Magazin. Studentenzeitung des Instituts für Germanistik an der Universität Szeged 2 (2006), S. 279-299, hier S. 279f. Als Gegenargument zu der Behauptung, dass das Theater Pralipe das erste europäische Rom*nja Theater wäre, sei hier u.-a. auf das Teatr Romen in Moskau hingewiesen, das 1931 gegründet wurde und welches zum Beispiel Traditionen der Rom*nja Chöre aus dem 18. und 19. Jahrhundert sowie eine Operette in Romanes als Repertoire nutzte (Gelbart). 3 Ann Laura Stoler, „Colonial Archives and the Arts of Governance“, in: Archival Science 2 (2002), S.-87-109, hier S.-87. 4 Vgl. Fatima El-Tayeb, European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis 2011, S. XV. rischen Ungenauigkeiten zur Geschichte des Rom*nja Theaters in Europa, denn es liegen nur wenige (internationale) Forschungsbeiträge zum Theater Pralipe vor und darüber hinaus gibt es kaum theaterwissenschaftliche Bearbeitungen zu anderen Rom*nja Theatern. Einerseits gibt es keine Quellen, die auf ein anderes Theater verweisen, andererseits kann auch nicht belegt werden, dass das Theater Pralipe faktisch das erste und bis dahin einzige europäische Rom*nja Theater war. Rahim Burhan, der Begründer des Theaters Pralipe, hat diese These nie verifiziert, sie wurde von nicht-Rom*nja Forscher*innen aufgestellt. 2 Gerade weil die Fachliteratur große Lücken aufweist und die meisten Wis‐ senschaftler*innen, inklusive der Verfasserin dieses Beitrages, nicht-Rom*nja sind, gilt es auf die disparate Forschungslage hinzuweisen. Nach Ann-Laura Stoler wird hier nicht von „archive-as-source“, sondern „archive-as-subject“ 3 ausgegangen, einer Auseinandersetzung mit der Geschichtsproduktion und der Frage, welche Dokumentationen ihren Weg ins Archiv finden, welche Verfahren erforderlich waren und was damit über die Vergangenheit erfahren werden kann. Damit wird die Subjektivität der Bearbeitung und des Bestandes in den Mittelpunkt gerückt und ihre Faktualität in Frage gestellt. Dieser Beitrag möchte das Theater Pralipe historisch einordnen, gerade ange‐ sichts der fehlenden Forschungslage in der deutschen Theaterwissenschaft. Die Geschichte, die Ästhetik und die kulturpolitischen Bedingungen des Theaters Pralipe werden dabei anhand von Selbstbeschreibungen der Künstler*innen nachskizziert, dessen ästhetische Praxis einen transeuropäischen Theaterraum manifestiert. Rom*nja (und Sinti*zze) Bevölkerung bilden offiziell eine europä‐ ische Minderheit - oder wie Fatima El-Tayeb vorschlägt eine postnationale europäische Minderheit 4 -, die in der Council of Europe Resolution 1203 im Jahre 1993 als „a true European minority“ anerkannt wurde. Diametral sind al‐ lerdings die dominierenden medialen und politischen Diskurse, in denen neben ver-andernden und stereotypisierenden Zuschreibungen auch immer wieder 110 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="111"?> Migrationsgeschichten konstruiert und Rom*nja als Migrant*innen außerhalb Europas positioniert werden. Schließlich wird anhand einer Seminarsitzung, in der das Theater Pralipe und seine ästhetische Praxis Gegenstand waren, über die Möglichkeit eines diskursiven Raums nachgedacht, der uns nicht-Rom*nja Theaterpraktiker*innen, Theaterwissenschaftler*innen und Studierende der Theaterwissenschaft in die Verantwortung nimmt, das Erfahrungswissen von Rom*ja zu zentrieren und aus diesem heraus eine theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung zu begründen. Mit Bezug auf das übergreifende Thema der Publikation Staging Differences stellt sich hinsichtlich des Theaters Pralipe die Frage, welche Bedeutung ein institutionalisiertes Theater für minorisierte Subjekte und Gruppen hat und inwieweit dieses Staging Differences, wenn es um Aushandlungsprozesse in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext geht, auch eine eigene Institution benötigt. Zudem geht es darum, inwiefern Theatergeschichtsschreibung und die dominante Erzählung von den Rändern befragt werden muss, um zu diskutieren, dass Differenzen vom Kanon oft überdeckt oder an den Rand gedrängt werden. Zugleich wird problematisiert, inwiefern das Theater Pralipe als ein transeuropäisches Theater betrachtet werden kann und damit neben dem Staging Differences umgekehrt auch kulturelle, geografische, nationale Grenzen und Differenzen überwunden werden. Schließlich geht es im Sinne von Staging Differences auch um Wege, wie theaterwissenschaftliche Lehre modifiziert werden muss, um in Lehrveranstaltungen eine kritische, dekoloniale Perspektive einbringen zu können. Theater Pralipe - eine ästhetische und historische Einordnung entlang der eigenen Darstellung Im einleitenden Beitrag zur Aufarbeitung des Rom*nja und Sinti*zze Theater in Europa schreiben Miguel Ángel Vargas und Dragan Ristić: Die offizielle Geschichtsschreibung mag es zwar anders lehren, und doch waren die Sinti und Roma seit dessen Gründung an der Entwicklung des europäischen Theaters beteiligt. Auf unterschiedlichste Art und Weise - als Dramaturg_innen oder Regisseur_innen, als Schauspieler_innen, Tänzer_innen, Akrobat_innen, Tier‐ Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 111 <?page no="112"?> 5 Hier sei noch mal auf die Aussage der Kuratoren, dass Rom*nja und Sinti*zze seit der Gründung des europäischen Theaters an dessen Entwicklung beteiligt waren, eingegangen. (Vgl. Miguel Ángel Vargas, Dragan Ristić, „Vorhang auf für das Theater der Sinti und Roma.“, https: / / www.romarchive.eu/ de/ theatre-and-drama/ ) [Zugriff am 31.01.2024]). Ob hier auf die Antike verwiesen wird oder auf die Renaissance, kann nur spekuliert werden. Die Kunsthistorikerin Timea Junghaus weist zumindest nach, dass seit dem 15. Jahrhundert Darstellungen von Rom*nja in der europäischen Malerei vorzufinden sind. (Vgl. Timea Junghaus, „Auf dem Weg zu einer neuen Kunstgeschichte. Das Bild der Sinti und Roma in der westlichen Kunst.“,) https: / / www.romarchive.eu/ de / visual-arts/ roma-in-art-history/ towards-a-new-art-history/ [Zugriff am 31.01.2024]). Domnica Radulescu weist nach, dass die Repräsentation von Romnja („female gypsy“) seit dem 16. Jahrhundert auf europäischen Bühnen existierten. Mit Verweis auf die commedia dell’arte Darstellerinnen, u. a. Isabella Andreini, zeigt Radulescu Paralleli‐ täten zwischen den commedia Charakteren und dem Leben von Romnja zu dieser Zeit auf. Ob nur als Inspiration oder auch als reale Darsteller*innen: Es kann davon ausgegangen werden, dass Rom*nja zumindest seit der Renaissance im europäischen Theater eine Rolle spielen. (Vgl. Domnica Radulescu, „Performing the Female ‚Gypsy‘: Commedia dell’arte’s ‚Tricks‘ for Finding Freedom“, in: Valentina Glajar / , dies. (Hg.), „Gypsies“ in European Literature and Culture, New York 2008, S.-193-216.) 6 Vargas, Ristić, „Vorhang auf “. 7 Vgl. Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022, S.-61-76. bändiger_innen oder Drehbuchautor_innen - haben die Sinti und Roma die großartige Kunst des Theaters mitgeschaffen und weiterentwickelt. 5 Das Hinterfragen der kanonischen Geschichtsschreibung, die auf die Unsicht‐ barmachung und Marginalisierung von Rom*nja und Sinti*zze Künstler*innen verweist, wird hier einer eigenen Geschichte entgegengesetzt. Eine, die zum Ziel hat, Prozesse der Dekonstruktion und Rekonstruktion der Geschichte, Künste und Kulturen von Rom*nja und Sinti*zze durch Perspektiven und Darstellungen von Rom*nja und Sinti*zze selbst zu stärken. Das digitale Archiv wird nicht als „vollständige und repräsentative Forschungsarbeit“ verstanden, sondern als eine kuratierte Ansammlung, die „neue Erzählungen über die Vergangenheit und Gegenwart“ schafft. 6 Wenn also auf die epistemische Gewalt der Hegemonie verwiesen wird, möchte ich als nicht-Rom*nja Theaterwissenschaftlerin eine mögliche Heran‐ gehensweise vorschlagen, bei der die Darstellung der Geschichte aus der Per‐ spektive der Rom*nja und Sinti*zze Geschichte zentriert wird. Zudem möchte ich die dominante Geschichtsschreibung als eine subjektive und nicht objek‐ tive Auslegung lesen, worin sich vielmehr die Marginalisierung von Rom*nja Theatermachenden und damit die epistemische Gewalt manifestiert. 7 Anstelle dessen wird der diskursive Raum für die Perspektiven von marginalisierten Betroffenen bzw. Beteiligten geöffnet. Im Fall des Theaters Pralipe ist es der 112 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="113"?> 8 Lucie Fremlova, „Non-Romani Researcher Positionality and Reflexivity: Queer(y)ing One’s Own Privilege“, Critical Romani Studies Vol. 1, Nr.-2 (2018), 98-123. 9 Gayatri Chakravorty Spivak, The Spivak Reader, hg. Donna Landry und Gerald Maclean, New York/ London 1996, S.-4-5. 10 Vgl. Alisha Heinemann, María Do Mar Castro Varela, „Ambivalente Erbschaften. Verlernen erlernen! “, in: trafo K. (Hg.), Strategien für Zwischenräume. Ver_Lernen in der Migrationsgesellschaft, Schulhefte 1 (2017), S.-28-37. 11 Vgl. María Do Mar Castro-Varela, „Verlernen und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns. Bildung und Postkoloniale Kritik“, in: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst Herbst (2007), S.-22-25. 12 Nora Sternfeld, Verlernen vermitteln, Hamburg 2014, S.-10. Versuch, die Geschichte entlang der eigenen Darstellung zu historisieren. Das Augenmerk liegt damit weniger auf der Forschungsliteratur, sondern auf dem gelebten Wissen der Theaterschaffenden selbst. Darin ergibt sich auch die Möglichkeit, gerade als nicht-Rom*nja Theaterwissenschaftlerin immer wieder die eigene Position und Relation als „ally-identified researcher“ 8 zu überprüfen. Denn das Erlernte, die dominierende Geschichtsschreibung, bleibt immer Ausgangspunkt und Referenzrahmen. Diesem bewusst den Akt des „Verlernens“ 9 im Sinne von Gayatri Spivak entgegenzustellen, kann als eine methodische Herangehensweise bei der Wissensgenerierung und -produktion im theaterwissenschaftlichen Kontext hilfreich sein. Verlernen wird hier als Prozess verstanden, der uns als historisch gewordene Subjekte abbildet, die Teil gesellschaftlicher Verhältnisse sind und in diesen distinkte Positionen einnehmen. 10 Verlernen beinhaltet eine dekonstruktive Perspektive, die den Lernenden dazu nötigt, sowohl die Gewalt von Lernprozessen als auch die Unmöglichkeit des Verlernens anzuerkennen. 11 Im Kontext des Schreibens dieses Artikels soll der von Nora Sternfeld vorgeschlagene Umgang mit der Mächtigkeit des Wissens aufgegriffen werden, „um sich mitten in der Struktur der Wissensproduktion mit dem Apparat der Wertekodierung anlegen zu können“. 12 Der mögliche Dissens soll hier auch mit der Reflexion der eigenen Positionalität im Schreibprozess aufgegriffen werden. Denn einerseits ist durch fehlendes Wissen durch erlebte Erfahrung auch meine Perspektive weiterhin Teil epistemischer Gewalt. Andererseits offenbaren sich aus der Sicht einer ally-identified Wissenschaftlerin Korrelationen zwischen der Marginalisierung des Rom*nja Theaters mit anderen Geschichten der Diskriminierung und Marginalisierung im deutschsprachigen Theater. Eine in diesem Kontext sinnvoll erscheinende Methode ist die der Oral History, in der die Erzählungen von Zeitzeug*innen im Mittelpunkt stehen. Die entstandenen Narrationen geben Auskunft über einen historischen Sachverhalt oder bestimmte Zusammenhänge und Deutungen durch subjektive Einsichten. Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 113 <?page no="114"?> 13 Vgl. Lutz Niethammer, Wozu taugt Oral History? Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Berlin 1985, S.-105-124. 14 Romedia Foundation, „MRE39 Rahim Burhan Portrait HD Eng Sub“, https: / / www.yo utube.com/ watch? v=sI5W_HTzsx0 [Zugriff am 31.01.2024]. Bei beiden Videoaufzeich‐ nungen wird die englische Untertitelung, die zur Verfügung gestellt wurde, verwendet. In beiden Videos spricht Rahim Burhan Romanes. 15 Romedia Foundation, „Burhan Portrait“. Es geht weniger um die Frage, was wirklich geschah, als darum, wie eine Person über bestimmte Dinge Auskunft gibt. 13 Oral History scheint besonders sinnvoll, wenn es um Perspektiven geht, die in der Geschichtsschreibung marginalisiert werden. Die subjektive Sprecher*innenposition legt ein Narrativ offen, das möglicherweise bis dahin unsichtbar war. Die folgenden Aussagen zur historischen und ästhetischen Theaterarbeit des Theaters Pralipe beruhen daher mehrheitlich auf Aussagen und Ausführungen der Theatermacher*innen, vor allem Rahim Burhan und Nedjo Osman, die in Interviews und Beiträgen zur künstlerischen Arbeit getätigt wurden. Als primäre Quellen werden insbe‐ sondere zwei Videoaufzeichnungen verwendet: Das erste Video ist auf dem YouTube-Kanal von Romedia Foundation und das zweite Video, ein Gespräch zwischen Rahim Burhan und Dragan Ristić, auf der Seite von RomArchive zu finden. Theater Pralipe: Seine Geschichte und Entwicklung zu einem transeuropäischen Theater Rahim Burhan ist 1949 in Skopje im heutigen Nord-Mazedonien geboren. Nach seinen eigenen Erzählungen gegenüber Romedia Foundation, begann Rahim Burhan mit 19 Jahren Poesie in Romanes zu schreiben: „My Roma identity caused my a real dilemma because at home my mother and I spoke Turkish […]. I felt as I am Roma, I have to learn to speak Romanes and about who we are as Roma“ 14 Da er das Wissen um die Rom*nja-Geschichte nicht bei älteren Generationen/ „the elders“ vorfinden konnte, begann er dieses in der Bibliothek zu suchen und fand dort Anhaltspunkte für eine historische Aufar‐ beitung. Gleichzeitig begann er sich für klassische Literatur zu interessieren und wurde von Freund*innen angeregt, eigene Theaterstücke zu schreiben und mit Theaterschaffenden zusammenzuarbeiten, die keine Rom*nja waren. Seine Liebe zum Theater mit seinen vielfältigen Möglichkeiten wurde so geweckt: „In the theater, you can say whatever you want, the way you want to say it. You can create a dream.“ 15 Im autodidaktischen Studium, in dem ihm seine Freund*innen Bücher über die Regieführung gaben, erlernte er Grundbegriffe des Theaters. 114 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="115"?> 16 Vgl. Luzina, „A unique theatre miracle“ sowie Moritz Parnok, „Das Roma-Theater Pralipe“, https: / / www.romarchive.eu/ de/ theatre-and-drama/ institutional-theatre/ roma -theatre-pralipe/ [Zugriff am 31.1.2024]. 17 Vgl. Nedjo Osman, „A fairy tale called Roma Theatre Pralipe“, in: Johanna-Yasirra Kluhs / Aurora Rodonò / Fabian Saavedra-Lara / Nesrin Tanç (Hg.), What we can relate to, Interkultur Ruhr 2016-2021, Köln 2021, S.-66-71. 18 Vgl. ebd., S.-69. 19 Ebd., S.-68. 20 Ebd. 21 Romedia Foundation, „Burhan Portrait“. Und obwohl es, wie er ausführt, besser für ihn gewesen wäre, an die Universität zu gehen und ein Studium zu beginnen, entschied er sich nach Shuto Orizari zu gehen und dort Rom*nja Theater zu machen. In Skopje existierte für mehrere Jahrzehnte ab ca. 1963 der Bezirk Shuto Orizari, in dem mehrheitlich Menschen mit Rom*nja-Zugehörigkeit lebten, welcher allerdings in dieser Form nicht mehr existiert. 16 Die ersten Proben begannen zunächst auf der Straße, wurden dann in Aufführungen in den Aulas von Grundschulen und den Kulturzentren in Skopje abgehalten und erreichten später Deutschland. 17 Neben Rahim Burhan als Begründer des Theaters Pralipe waren Sami Osman, Rejan Šaban-Šulc, Šaban Bajram, Muharem Jonuz, Umer Djemail und Skender Ramo beteiligt. 18 Nedjo Osman, ein ehemaliger Schauspieler und Mitbegründer des Theaters Pralipe, beschreibt es in seinen eigenen Worten folgendermaßen: The founding company was made up of a group of young Roma enthusiasts, a handful of actors and their first and last director Rahim Burhan. He gave the theatre direction and form. No one had any idea at the time that one day the whole of Europe would be talking about this theatre, a classical Roma theatre, in which the performers only spoke and acted, and didn’t dance or make music, as was expected of Roma. 19 Die Theatermachenden wollten gegen Diskriminierung einen neuen Weg für die Anerkennung von Rom*nja Kultur, Identität und Sprache finden. Das Theater Pralipe, was in Romanes ‚Bruderschaft‘ bedeutet, war „the magic box“, die diese Herausforderung ermöglichen sollte. 20 Auch Rahim Burhan äußert sich folgendermaßen: „We thought about ways to change everything in Europe for Europe, to start thinking about us Roma differently, about ways to eliminate this complex [Anti-Roma racism, Anm. d. Verf.].“ 21 Die erste Produktion war Ne, ne (Nein, Nein, 1970), eine Performance gegen den Vietnam-Krieg und damit die erste international-intendierte solidarische Geste. Danach folgten Mautije (1973), ein Stück über die Göttin der Violinen, die Teil der Rom*nja-Mythologie ist. Soske (Warum, 1975), die sich mit der jahrtausendelangen Verfolgung von Rom*nja anhand des Holocaust bzw. Po‐ Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 115 <?page no="116"?> 22 Vgl. Osman, „A fairy tale“, S. 69 sowie David Loosley, „The World Theatre Festival, Nancy, 1963-88: a Critique and a Retrospective“, in: New Theatre Quarterly Volume 6, Issue 22 (1990), S.-141-153. 23 Vgl. Romedia Foundation, „Burhan Portrait“. 24 Vgl. Osman, „A fairy tale“, S.-69. 25 Romedia Foundation, „Burhan Portrait“. rajmos beschäftigt und von den Rom*nja und Sinti*zze-Opfern erzählt, führte zu einem ersten großen Erfolg im damaligen Jugoslawien. Erste Einladung zu internationalen Festivals folgten bald, z. B. wurde das Theater Pralipe 1977 zum Festival mondial in Nancy eingeladen, welches zwischen 1963 bis 1988 existierte und insbesondere Avantgarde-Theater förderte. 22 Auch die Einladung zur 17. Ausgabe des Bitef Festival in Belgrad, wo sowohl Mautije als auch Soske gezeigt wurden, war von besonderer Bedeutung. Burhan betont, dass sich aufgrund der besonderen politischen Situation des ehemaligen Jugoslawiens unter Tito, das nicht Teil des Warschauer Pakts war, das Festival Bitef offen für das restliche Europa bzw. die internationale Theaterlandschaft zeigte. Damit erhielt das Theater Pralipe die erste internationale Aufmerksamkeit. 23 Während in den Anfangsjahren zunächst vor allem rituelles, von Artaud inspiriertes, Theater produziert wurde, begann Theater Praline, wie Nedjo Osman betont, ab den 1980er Jahren auch Sprechtheater zu produzieren, insbesondere griechi‐ sche Tragödien, Shakespeare Dramen sowie Theatertexte von jugoslawischen Autor*innen. 1982 übersetzten sie König Ödipus von Sophokles ins Romanes und Burhan inszenierte ihn mit einer Riege neuer Rom*nja-Schauspieler*innen wie Nedjo Osman und Baki Hasan. Das Stück wurde unter anderem beim Theaterfestival in Delphi, Griechenland aufgeführt. Das Repertoire des Theater Pralipe beinhaltete zu dem Zeitpunkt König Ödipus, Ljudi i golubovi (Menschen und Tauben), Nepušači (Nichtraucher), Beskonačno pitanje (Eine unendliche Frage), Sieben gegen Theben, Marat/ Sade, Jedjupka und Die Orestie. 24 Es folgten zahlreiche Auszeichnungen in ganz Europa und Rahim Burhan beschreibt seine Entscheidung, nach Deutschland zu migrieren, folgendermaßen: „Then I decided to see how we could to more in Germany, because we had already been there twenty times and had a lot of success, newspapers had written about us.“ 25 So gibt Rahim Burhan an, dass der damalige Kulturminister von Nord‐ rhein-Westfalen dem Theater Pralipe ein „Pilot-Projekt“ angeboten hatte, das die Theatergruppe voll finanzieren würde. Nedjo Osman stellt es ein wenig anders dar: Im Januar 1991 entstand mit dem Theater an der Ruhr eine Ko-Produktion, die als Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit diente. Roberto Cuilli 116 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="117"?> 26 Vgl. Osman, „A fairy tale“, S.-68. 27 Vgl. Azadeh Sharifi, „Theater und Migration. Dokumentation, Einflüsse und Perspek‐ tiven im europäischen Theater“, in: Manfred Brauneck, Das Freie Theater im Europa der Gegenwart. Strukturen---Ästhetik - Kulturpolitik, Bielefeld 2016, S.-335-440. 28 Vgl. auch Jonas Tinius, State of the Arts. An Ethnography of German Theatre and Migration, Cambridge 2023. 29 Hier sei erwähnt, dass Lorenz Aggermann sich in dem DFG-Projekt „minor aesthetics“ (2019-2021) mit der Selbst- und Fremdrepräsentation von Roma in der (darstellenden) Kunst beschäftigt hat und seine Forschung einen wichtigen Beitrag in dieser Auseinan‐ dersetzung liefert, Ergebnisse sind bislang unveröffentlicht. 30 Vgl. Sharifi, „Theater und Migration“, S.-385-387. 31 Vgl. Osman, „A fairy tale“, S.-70. 32 Vgl. Moritz Pankok, „Das Roma Theater ‚Pralipe‘“ https: / / www.romarchive.eu/ de/ thea tre-and-drama/ institutional-theatre/ roma-theatre-pralipe/ [Zugriff am 31.01.2024]. konnte dann mit der Unterstützung in Nordrhein-Westfalen das Theater Pralipe in sein Haus als ein permanentes und eigenständiges Ensemble integrieren. 26 In der offiziellen Geschichtsschreibung - zu der auch meine eigene Forschung gehört - wird einseitig behauptet, dass Roberto Cuilli das Theater Pralipe nach Deutschland geholt habe, da deren Mitglieder vor rassistischer Verfolgung während der Jugoslawienkriege fliehen mussten. 27 An dieser Stelle erlaubt eine kritische Selbstpositionierung nicht nur, diese Geschichtsschreibung zu hinterfragen, sondern auch die eigene Verwobenheit darin zu entlarven. Dabei geht es nicht darum, die Bedeutung des Theaters an der Ruhr als einen wichtigen Ort, in der migrantisierte Theaterschaffende eine Bühne erhalten haben, oder die Bedeutung von Roberto Cuilli als international wie auch regional wichtigen Theaterleiter zu hinterfragen. 28 Vielmehr gilt es, die Macht-entlar‐ vende Geste der offiziellen Erzählung, in der das Theater Pralipe „entdeckt“ und ihm „geholfen“ wurde, zu hinterfragen. In der Darstellung von Rahim Burhan wird die Entscheidung nach Deutschland zu gehen in der finanziellen Stabilität und künstlerischen Anerkennung begründet. Darin bleibt die Hand‐ lungsmacht bei den beteiligten Rom*nja Theaterschaffenden und genau dieser Unterschied macht sichtbar, ob die Perspektiven und Stimmen der marginali‐ sierten Künstler*innen gehört und in die Geschichte aufgenommen werden. 29 Ich bin in einer früheren Forschung über Rom*nja Theater und insbesondere Theater Pralipe der dominanten Geschichtsschreibung gefolgt. 30 Die Produktion Ratvale Bijava (Bluthochzeit von Federico Garica Lorca) wurde zu einem der erfolgreichsten Theaterstücke des Theaters Pralipe, welches über 400 Mal Deutschlandweit und in Europa gespielt wurde. 31 1992 erhielt das Theater Pralipe den deutschen Kritikerpreis für das beste Theater in Deutschland. 32 Weitere Stücke wie Othello (1991-1992) und Romeo und Julia (1994), O Baro Phani (1993), Das große Wasser von Zivko Cingo und Tetovirime Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 117 <?page no="118"?> 33 Vgl. Sven Sappelt, „Theater der Migrant/ innen“, in: Carmine Chiellino (Hg.), Interkul‐ turelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2000, S.-275-293, hier S.-289. 34 Neue Heimat, „Theaterhaus Europa - ‚Für eine bessere Zukunft‘. Interview mit Pralipe Theaterleiter Rahim Burhan“, http: / / new.heimat.de/ home/ onstage/ gazette_april04/ int erview_burhan.html [Zugriff am 31.01.2024]. 35 Vgl. Peter Ortmann, „Roma-Theater am Ende“, https: / / taz.de/ Roma-Theater-am-Ende/ ! 716223/ [Zugriff am 31.01.2024]. 36 Romarchive, „Interview with Rahim Burhan“, https: / / www.romarchive.eu/ de/ collectio n/ interview-with-rahim-burhan/ [Zugriff am 31.01.2024]. 37 Vgl. Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 38 Trevor Laurence Jockims, „Shakespeare in Bosnia: Staging Hamlet and Othello in Sarajevo“, Shakespeare Bulletin, Summer 2008, Vol. 26, No. 2, S.-166-174, S.-171f. 39 Romedia Foundation, „Burhan Portrait“. Vogja (1996), Tätowierte Seelen von Goran Stefanovski, Die Bakchen (1997) von Euripides oder Yerma (1998) von Federico Garcia Lorca folgten. 33 2001 kam es allerdings zu einem Bruch mit dem Theater an der Ruhr. Das Theater Pralipe suchte zunächst in Düsseldorf und später in Köln eine eigene Spielstätte, ein eigenes Haus. Das Theaterhaus Europa, wie die Spielstätte in Köln-Ehrenfeld genannt wurde, bestand nur für eine kurze Zeit (2004). In einem Interview über die Gründung des Hauses gab Rahim Burhan an: „Bis jetzt waren wir immer Gast, aber jetzt wollen wir auch Gastgeber sein.“ 34 Das Projekt scheiterte schließlich an den hohen laufenden Kosten, die nach einem Jahr in die Insolvenz führten. 35 Es scheiterte aber auch an der fehlenden institutionellen Förderung. Im Interview mit Dragan Ristic erläutert Rahim Burhan es folgendermaßen: Look, in the first 20 years in Skopje, we were a theatrical group; however, we called ourselves Teatro Roma Pralipe, since we started doing serious things, even when we were young, serious plays, serious aesthetics. We did research, copied no one, we were original, had our own ideas, our own aesthetics, and so on. When we came here, we already became a theater, an official theater as a part of the Theater an der Ruhr, Roma Theater Pralipe. […] That was the official state of the affairs, and it should have stayed that way and continued evolving. [They, Anm. d. Verf.] promised that. If it hadn’t been that way, I probably wouldn’t even come to Germany, I would only come to do projects, and then I would go back and fight for the idea of founding a theater in Skopje. 36 Der Versuch eines eigenen Theaterhauses mit dem Schwerpunkt der Rom*nja Kultur, Sprache und Geschichte scheiterte in Deutschland und führte 2004 dann auch zum Ende des Theaters Pralipe. 37 Rahim Burhan war noch lange Zeit als freischaffender Theatermacher aktiv, u. a. mit Othello (2007) im Chamber Theater 55 in Sarajevo 38 , oder Matica von Goran Petrovic im Atelje 212 (2011) in Belgrad. 39 Auch Nedjo Osman hat eine 118 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="119"?> 40 Romedia Foundation, „Burhan Portrait“. 41 Osman, „A fairy tale“, S.-68. eigene weitergehende Theaterlaufbahn. Seit 1995 ist er zusammen mit Nada Kokotovic künstlerischer Leiter des Theaters TKO Köln / Theater Kokotovic - Osman. Zudem ist er als freier Schauspieler, Regisseur, Dichter und Journalist tätig. Die ästhetischen Elemente der Theaterarbeit Rahim Burhan hat immer wieder über das Theater Pralipe als eine Institution gesprochen, die alle essentiellen Elemente eines Theaters aufwies, jedoch bis zum Schluss keine eigene Spielstätte hatte: „The Roma theater Pralipe is a theater, it functioned as a real institution, it had a repertoire, a fund, everything a theater should have.“ 40 Das Theater Pralipe war aber nicht nur eine wichtige Institution, sondern kann ästhetisch als ein transeuropäisches Theater gedeutet werden, welches nicht nur die Perspektive einer europäischen Minderheit auf der Bühne verhandelt, sondern europäisches Theater von seinen Grenzen neu formuliert. Rahim Burhan führte aus, dass er die eigene Sprache - Romanes -, Rom*nja Kultur und Identität weder zu Hause (mit seiner Mutter) noch in der Gemein‐ schaft der Rom*nja vorfinden konnte. Er machte sich deshalb selbst auf die Suche, durch Archivarbeit in beispielsweise Bibliotheken, aber auch im Rahmen künstlerischer Forschung. Nedjo Osman, der dem Theater Pralipe nach eigenen Angaben erst in den 1980er Jahren beigetreten ist, beschreibt die Anfangszeit folgendermaßen: In the beginning it was important to find the theatre’s form and style, its face and language. Rahim Burhan gave Pralipe its own style - he created a physical, ritualized theatre. In this he took inspiration from the work, aesthetic and formal language of the French theatre actor, director and theorist Antonin Artaud, as well as the Polish theatre director and theorist Jerzy Grotowski, but he also oriented it towards Indian modes of performance such as Kathakali theatre. 41 Auch Rahim Burhan verweist in seinen Ausführungen auf die Inspiration durch zeitgenössische Performance-Kunst und indische Theater. So beschreibt er im Gespräch mit Dragan Ristić die Ästhetik eines möglichen zukünftigen Rom*nja Theaters, das sich allerdings aus der Arbeit des Theaters Pralipe speist, folgendermaßen: Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 119 <?page no="120"?> 42 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 43 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 44 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 45 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neuerfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, Wien 1999, S 34-35. We created a connection between the Old Indian and contemporary European theatre movement. Even when we joined the plays from the antique Greece we have shortened them to seem more like performances, than the narratives of mythology. The aesthetics, the dramaturgy and that thematic would be performed through the Roma emotion. What we would get is a Roma theater, Roma symbol, Roma metaphor. If it is performed with a shift, and what, and if it is thrown in the end, if a ritual is made, all of that is taken from our ritual, Roma ritual, but it is recognizable in every other nation. 42 Im geschaffenen Theaterraum werden die Symbolik, Metaphorik und die Rituale bzw. kulturellen Tradierungen von Rom*nja Communities zentriert. Auf die Frage, was die Symbole der Rom*nja sind, antwortet Rahim Burhan: „Our culture is, in fact, vast, it resembles uncultivated soil. The individuals have to start researching their culture, their people, they would find a million ideas, all of them universally applicable.“ 43 Die Metapher eines „unbewirtschafteten Bodens“, der aber Grundlage für Inspiration ist, universell auf die Menschheit oder menschliche Geschichte/ n anwendbar ist, treibt die Theaterarbeit des Theaters Pralipe an. Theaterstücke wie Ne, Ne (Nein Nein) gegen den Vietnam‐ krieg sind als solidarische Arbeiten produziert, die sich mit asymmetrischen Machtverhältnissen auseinandersetzen. Rahim Burhan sagte auch: „[T]he issue of Roma people is the human issue of the 21st century.“ 44 In diesem Zusam‐ menhang soll dieser Verweis auf den menschlichen Zustand als eine planeta‐ rische Verantwortung im Sinne von Gayatri Spivak verstanden werden, als die Notwendigkeit, der Globalisierung ein anderes Denken entgegenzusetzen. Das „planetarische“ Denken ist für Spivak eine Form, die eine Trennung von Recht und Verantwortung wieder aufzuheben sucht und Verantwortung als Menschenrecht versteht. 45 Der ästhetische Ansatz des Theaters Pralipe und auch das, was sich Rahim Burhan als ein zukünftiges Rom*nja Theater vorstellt, ist einem solchen planetarischen Denken verpflichtet. Die Verortung ist aber eine transeuropäische, die eben sehr spezifisch aus der Mitte von Europa, aber an die Ränder und Peripherien gedrängt performt wird. So betont Ian Hancock (Romanes: Yanko le Redžosko), Sprachwissenschaftler und Professor für Creole Studies, dass Rom*nja als eine politische Entität in Europa anzusehen seien, 120 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="121"?> 46 Vgl. Ian Hancock, „Standardization and Ethnic Defence in Emergent Non-Literate Societies“, in: Thomas Acton / Morgan Dalphinis (Hg.), Language, Blacks and Gypsies, London 1999, S.-9-23. 47 Osman, „A fairy tale“, S.-69. 48 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 49 Vgl. Ian Hancock, „The development of Romani linguistic“, in: Mohammad Ali Ja‐ zayery / Werner Winter (Hg.), Languages and Cultures, Berlin 1988, S. 183-224, hier S.-199. 50 Osman, „A fairy tale“, S.-71. 51 Vgl. Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. aber zugleich auch die Diversität dieser in Europa und ihre jeweils spezifischen Umstände berücksichtigt werden müssen. 46 Während die rituell geprägten Anfänge des Theaters Pralipe aufgrund von möglichen Sprachbarrieren Nonverbalität bewusst als Stilmittel einsetzten, wurde in den späteren Phasen des Theaters gerade auf das Sprechtheater als ästhetische Form gesetzt, wobei das Rituelle weiterhin beibehalten wurde. So beschreibt Nedjo Osman das Spielen auf der Bühne als eine Mischung aus Bewegung, Klang und Geräusch sowie Geschrei: „It was the person, the identity that was the focus, and the emotions and energy were in the foreground.“ 47 Die Themen, Traditionen und Rituale wurden nun in einer klassischen Art und Weise ästhetisch übersetzt. So ginge es auch darum zu zeigen, dass Rom*nja auch klassisches europäisches Repertoire bzw. Kanon spielen können, aber eben in Romanes. Rahim Burhan betont dabei: „Everybody was saying ‚there is no such language‘ and I answered that there is.“ 48 Ian Hancock hat herausgearbeitet, dass es ca. 60 Romanes Dialekte gibt, die nicht alle gegenseitig verständlich sind. 49 Trotzdem steht Romanes als Sprache auf der Bühne, als eine europäische Sprache der Minderheiten, die eingebunden in die Symbole, kulturellen Tradie‐ rungen und Metaphern der Rom*nja, einen ästhetischen Referenzraum schafft. Ein weiterer Aspekt des Theaters Pralipe ist die Präsenz von Rom*nja Performenden und Schauspielenden auf der Bühne und als Figuren in den Produktionen. Nedjo Osman beschreibt seine eigene Position darin: „My role as a Roma actor, translator and cultural mediator has two goals - an artistic one, but also that of a human, a Rom, who is striving to change the image of the Roma people.“ 50 Und dies gelang dem Theater Pralipe, zumindest in Bezug auf die Rezeption. So wurde das Publikum als aktiver Teil beschrieben: Theater Pralipe habe immer vor einem vollen Zuschauer*innenraum gespielt. 51 Die Resonanz, die sich zwischen dem Theater und dem Publikum in ganz Europa wiederfinden ließ, konnte allerdings nicht in den kulturpolitischen Entscheidungen wieder‐ Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 121 <?page no="122"?> 52 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 53 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 54 Vgl. Frank Reuter / Daniela Gress / Radmila Mladenova (Hg.): Visuelle Dimensionen des Antiziganismus, Heidelberg 2021, S.-3-34. 55 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. gefunden werden. Rahim Burhan forderte daher: „Europe has to realize that we, the Roma people, are part of it. […] The Roma issue is now a European issue.“ 52 Kulturpolitische und gesellschaftspolitische Bedingungen der Theaterarbeit Neben der eigenen Geschichte und den ästhetischen Mitteln, anhand denen sich das transeuropäische Theater manifestiert, wird hier auch die gesellschafts‐ politische Dimension des Antiromanismus oder Anti-Rom*nja Rassismus als kulturpolitischer Faktor einbezogen, der eine kontinuierliche Arbeit des Thea‐ ters Pralipe erschwerte und bis heute ein eigenständiges (europäisches) Rom*nja Theater verunmöglichte. Die Einschränkungen und physischen und psychischen Belastungen be‐ ginnen bereits bei den einzelnen Subjekten. Den Effekt von Stereotypisierung und rassistischer Zuschreibung beschreibt Rahim Burhan folgendermaßen: Although I am an old man now, I am still fighting to prove something, and to show my competence, that I can do something. […] Even when I was young, I did my best not to be exotic, not to participate in an exotic [exoticising, Anm. d. Verf.] theater. […] We [Theater Pralipe, Anm. d. Verf.] dealt with the biggest European aesthetical works, the ones in which the biggest directors, and famous theaters took interest in. While I was trying to do something [found a Roma theater institution, Anm. d. Verf.], I’ve always heard stories about us not having that kind of quality. When we showed we do have the quality, they said we don’t have the educated professionals, people with art degrees. When we accomplished that, it still wasn’t enough. 53 Was Rahim Burhan hier als beständige Verteidigung seiner Person und seiner künstlerischen Praxis, gepaart mit dem Versuch des Sich-Entziehens einer „Exotisierung“ bzw. Ver-Anderung beschreibt, ist keine individuelle Erfahrung, sondern eingebettet in eine Struktur der Erfahrung von Marginalisierung. 54 Aus dieser Marginalisierierung entsteht eine diskontinuierliche Geschichte von Rom*nja Künstler*innen und Kulturschaffenden: „They start doing something, showed us it is possible, and then disappeared. Simply disappeared“ 55 Das Ver‐ schwinden und die Unsichtbarkeit von Rom*nja und ihren Erfahrungen spiegelt 122 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="123"?> 56 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 57 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 58 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 59 Peter Ortmann, „Roma-Theater am Ende“, https: / / taz.de/ Roma-Theater-am-Ende/ ! 716 223/ [Zugriff am 31.01.2024]. sich in der politischen Dimension wider, die beispielsweise eine staatliche Anerkennung von Rom*nja als Staatsbürger*innen gewähren würde: We tried getting the Roma people the status of a nationality in Germany. Allegedly, Sinti and Roma people do have that status. However, Roma people do not have that position from which that can be realized. We tried achieving that through Romani Rose, we visited him, performed a wonderful play called Zweitausend, the story of people who were victims of the concentration camps. 56 Die Aussage beschränkt sich nicht nur darauf, dass Theater und künstlerische Praktiken eingesetzt werden, um die kollektive Erinnerungskultur von Rom*nja auch als integralen Teil deutscher, aber auch europäischer Geschichte zu begründen. Sondern sie verweist auf die permanente Negierung oder das Nicht-Ausreichen der individuellen und kollektiven Erfahrung und Existenz. Rahim Burhan stellte fest, dass in den meisten europäischen Ländern nur temporäre Projekte mit Rom*nja Künstler*innen durchgeführt werden, aber: „Nowhere do they work towards an institution“ 57 Die Schaffung solcher In‐ stitutionen werden weder auf nationaler noch europäischer Ebene gewollt oder gefördert. Diese Erkenntnis resultiert aus der eigenen Erfahrung einer Gründung eines eigenständigen Theaterhauses: We were a part of a project that lasted as long as the government wanted it to last, and then it ended. I tried to fight for it, I went to Cologne, rented a huge space, we renovated it, spend the money, and after all of that we stopped getting subventions, and had to bid farewell. 58 Die tatsächliche monetäre Verschuldung, die zum Ende des Theaters Pralipe führte, kann als ein pragmatischer Moment angesehen werden, in dem die Hoffnung für ein eigenständiges Rom*nja Theater, welches staatlich gefördert würde, auf den jahrzehntelang erarbeiteten Beweis der künstlerischen Qualität des Theaters Pralipe aufbaute. Dass anstelle einer schnellen Lösung bzw. Unter‐ stützung eine Insolvenz angeleitet wurde und zugesagte Förderung eingefroren wurde, 59 verdeutlicht eindrücklich die strukturelle Ebene des permanenten Anzweifelns. In beiden Interviews kommt Rahim Burhan zu vernichtenden Folgerungen, in denen es um die Zukunft des Rom*nja Theaters geht: Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 123 <?page no="124"?> 60 Romarchive, „Interview Rahim Burhan“. 61 Romedia Foundation, „Burhan Portrait“. 62 Vgl. Petronela-Ramona Iacobute, „Independent Theatre as a Manifestation of Identity. Study Case: Minorities’ Theatre“, in: Theatrical Colloquia (2019), S. 221-234, DOI 10.2478/ tco-2019-0008. 63 Im Grünen Salon der Volksbühne finden regelmäßig Veranstaltungen - szenische Lesungen, Diskussionen, Filmvorführungen und Konzerte - von und mit Rom*nja und Sinti*zze Künstler*innen und Aktivist*innen statt. So hat beispielsweise das Rom*nja in Power Theaterkollektiv ihr Theaterstück Niemand sieht mich im März 2023 präsentiert. Auch die Jugendtheatergruppe „Wir sind hier“ hat die Premiere ihres gleichnamigen Theaterstücks im Frühjahr 2022 dort gefeiert. Auch werden dort Romaday (6. April 2024) gefeiert, wie aus dem aktuellen Spielplan hervorgeht. There is no place for Roma culture. You are not given the right opportunities to explore […]. 60 I am a pessimist […] about the possibility that there can be a theater which works well and which is not about Roma being just there to make people laugh, to show their folklore, to be exotic etc. We need really high aesthetics so we can be better than the non-Roma, just like the Pralipe theater was. 61 Sicherlich lassen sich diese Aussagen mittlerweile durch Theatergruppen wie den feministischen Rom*nja Giuvlipen 62 , die sowohl in Rumänien als auch in Deutschland tätig sind, etwas relativieren. Auch die immer größere Präsenz von Rom*nja und Sint*izze Theatermachenden und Theaterproduktionen - beispielsweise im Maxim-Gorki Theater unter der künstlerischen Leitung von Shermin Langhoff sowie an der Volksbühne Berlin unter der Intendanz von René Pollesch 63 - deutet auf eine größere Sensibilisierung und Solidarität hin. Gleichzeitig gibt es tatsächlich immer noch in ganz Europa keine Bühne oder Produktionshaus für Rom*nja Theatermachende, in der Romanes als Bühnen‐ sprache und Rom*nja Tradierungen, Kultur und Geschichte im Fokus stehen. Erkenntnisse aus der theaterwissenschaftlichen Praxis: Lehren und (Ver-)Lernen Die Einordnung der Geschichte, Ästhetik und der kulturellen und gesell‐ schaftlichen Bedingungen des Theaters Pralipe durch eine Zentrierung der Darstellungen der marginalisierten Theaterkünstler*innen und ihrer eigenen Kontextualisierungen ist nicht nur ein Ansatz, den ich für den theaterwis‐ senschaftlichen Diskurs über Rom*nja Theater und Theaterproduktionen vor‐ schlage, sondern den ich auch in der Lehre anwende. Sruti Balas Überlegungen, wie in der akademischen Lehre eine Auseinandersetzung mit Kolonialismus 124 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="125"?> 64 Sruti Bala, „Dekolonisierung der Theaterwissenschaft und Performance Studies Ge‐ schichten aus dem Seminarraum“, in: Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (Hg.), Theater‐ wissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022. S.-61-76, hier S.-67f. 65 Vgl. Encarnación Gutiérrez Rodríguez, „Fallstricke des Feminismus. Das Denken ‚kriti‐ scher Differenzen‘ ohne geopolitische Kontextualisierung“, http: / / them.polylog.org/ 2/ age-de.htm [Zugriff am 31.01.2024]. 66 Vgl. Donna Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies Vol. 14, No. 3 (1988), S. 575-599. und seinen Spuren sowie postkoloniale Überlegungen und dekoloniale An‐ sätze in der europäischen Theaterwissenschaft eingesetzt werden, erprobe ich mit Studierenden meiner Seminare auf unterschiedliche Art und Weise. Die Theaterwissenschaftlerin Sruti Bala berichtet von ähnlichen Versuchen einer dekolonialen Lehre an der Universität Amsterdam: Dekolonisierung in der akademischen Lehre bedeutet demnach „sich selbst hartnäckig darin zu trainieren, die Arten und Weisen, in denen epistemische Privilegien in unserer Fachgeschichte verankert sind, zu erkennen und herauszufordern.“ 64 Bala geht es hierbei nicht allein um die Vermittlung von bestimmten Kenntnissen an die Studierenden, sondern vor allem auch um die Weiterentwicklung und das Hinterfragen der eigenen Herangehensweise als Lehrende und Lernende respektive Verlernende. „Verlernen“, wie zu Anfang dieses Beitrags eingeführt, bedeutet im Sinne Spivaks, zunächst den eigene Referenzrahmen kritisch zu überprüfen. 65 Diesen gilt es in Seminaren mit den Studierenden zu er- und verlernen, um sich gemeinsam auf die Spurensuche eigener Verstrickungen zu begeben und das Nachdenken über machtkritische und dekoloniale Aufarbei‐ tungen zu ermöglichen. In der akademischen Lehre ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Perspektive („Situiertes Wissen“) 66 sowie die Einbeziehung von Race als sozi‐ aler Kategorie in der Analyse von Aufführungen ein integraler Bestandteil meiner didaktischen Vermittlung. In einem aktuellen Seminar „Theater und Race“ widmete ich eine Sitzung dem Theater Pralipe und einer Videoaufzeich‐ nung der Aufführung von Soske aus dem Jahre 1975. Das Seminar ist in der Lehre für Bachelorstudierende angesiedelt. Während die ersten Sitzungen einer theoretischen Annäherung an Race als soziale, diskursive und in der theatralen Aufführung eingesetzte Kategorie gewidmet waren, wurde in den darauffolgenden Sitzungen anhand von beispielhaften Theatertexten (Drama und Performance), Performances und Aufführungen Race als Kategorie für die theaterwissenschaftliche Analyse erprobt. Bereits in der ersten Sitzung, in der der Seminarplan vorgestellt wurde, gab es kritische Anmerkungen zur Relevanz einer Auseinandersetzung mit dem Theater Pralipe, insbesondere Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 125 <?page no="126"?> 67 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Die Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 2007, S.-7-20. 68 Für eine produktive Auseinandersetzung in der Aufführungsanalyse mit ziehe ich Race der Ethnizität vor. Ethnizität verstehe ich als Konzept der Selbst- und Fremdzu‐ schreibung für Gruppen von Menschen auf der Grundlage soziokultureller Merkmale. Während Ethnizität erlauben würde beispielsweise soziokulturelle Merkmale wie kulturelle Tradierungen, Sprache mitzubetrachten, sehe ich auch mögliche Schwie‐ rigkeiten. Im Falle von Einwanderungs- und Migrationsgesellschaften, wie es auf den deutschsprachigen Raum zutrifft, können Verflechtungen und Überschneidungen sowie neue Formen von Tradierungen im Gegensatz zu essentialistischen Formen der soziokulturellen Merkmale stehen. Race als soziale Kategorie macht den Prozess der Rassifizierung sichtbar und erlaubt auch eine kritische Auseinandersetzung mit Formen historischer Wissensgenerierung, wie beispielsweise das ‚Projekt‘ Kolonialismus und dessen strukturelle Umsetzung auch in akademischen Diskursen. Abschließend plä‐ diere ich, Ethnizität und Race auch als fruchtbare, auf unterschiedliche soziale Ebenen verweisende Kategorien zu verstehen, die zusammen eine nuancierte Analyse erlauben. 69 Hier sei auf die Interviews mit Joy Kristin Kalu und Simone Dede Ayivi verwiesen, die auf die Notwendigkeit einer rassismuskritischen Analyse hinweisen. Vgl. Joy Kristin Kalu, „Das implizierte Publikum. Ein Plädoyer für eine postkoloniale, rassismuskritische Aufführungsanalyse“, in: Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial, Bielefeld 2022, S.-77-88. Vgl. Simone Dede Ayivi, „Schwarzes Wissen, weiße Sehgewohnheit. Oder ‚Ich würde mich auch mal über einen fundierten Verriss freuen‘“ , in: Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial, Bielefeld 2022, S.-89-94. weil die Bühnensprache Romanes sei und niemand im Seminar diese Sprache beherrsche. Es wurde die Sorge vor Exotisierung geäußert. Auf diese erste Reaktion hin habe ich die Studierenden aufgefordert, offen dafür zu sein, wie viel sich durch die Semiotik des Theaters 67 für nicht-Rom*nja und Sinti*zze Publikum doch erschließen lasse, ohne rassistische Stereotypen bedienen zu müssen. Das Theater Pralipe und das Theaterstück Soske als Lehrmaterial im Seminarplan aufzunehmen, unterlag nicht nur dem Anspruch, ‚etwas‘ über das Theater Pralipe zu vermitteln, sondern Race 68 als Werkzeug in der Aufführungsanalyse zu etablieren und somit den Studierenden eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gesehenen zu ermöglichen, in der eben nicht die vermeintliche Rassifizierung des Anderen und dessen Kategorisierung im Vordergrund stand, sondern vielmehr der Vorgang der Rassifizierung als soziale Dimension des kolonialen Raums - der deutschen Theaterwissenschaft - freigelegt werden konnte. Dazu gehörte auch zu verstehen, dass die gesprochene Sprache nur ein Aspekt der ästhetischen Verhandlungen auf der Bühne ist, die möglicherweise ohne explizites Wissen und/ oder gelebte Erfahrung nicht zugänglich wird. 69 126 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="127"?> 70 Vgl. Osman, „A fairy tale“, S.-69. Die Entscheidung für das Theaterstück Soske lag einerseits darin begründet, dass es ein Durchbruch für das Theater Pralipe im Ex-Jugoslawien darstellte 70 sowie als Dokumentation im RomArchive öffentlich zugänglich war. Auch kann anhand von Soske die transeuropäische Theaterpraxis des Theaters Pra‐ lipe vermittelt werden. Zudem ist es ein physisches Theater, bei dem die Performer*innen verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten ihres Körpers für die Erzählung einsetzen und linguistische Sprache eine untergeordnete Rolle spielt. Soske ist in 16 Szenen aufgeteilt, die im Sinne des epischen Theaters aneinan‐ dergereiht sind, aber keiner chronologischen Kontinuität folgen. Historische und mythologische Figuren europäischer Geschichte wie Sisyphos werden mit beispielsweise Pogromen und der Verfolgung von Rom*nja in Europa verknüpft. Sprache kommt spärlich zum Einsatz, und dann gezielt in repetitiven Formen, die erlebte Gewalt sichtbar machen. In der Szene zum Porajmos (Holocaust) wird beispielsweise der Ruf und spätere Schrei „Eins, Zwei, Eins, Zwei“ zum Symbol der sprachlichen Gewalt und körperlicher Vernichtung. Als Vorbereitung für die Seminarstunde hatten die Studierenden sowohl Zugang zu den zwei Interviews mit Rahim Burhan, die auch hier im Beitrag verwendet wurden, sowie das RomArchive, welches als Dokumentations- und Materialsammlung zu Rom*nja und Sinti*zze in drei Sprachen (Romanes, Englisch und Deutsch) öffentlich zugänglich ist. In der Sitzung haben wir ge‐ meinsam die Videoaufzeichnung von Soske angeschaut und uns in der restlichen Zeit einer Aufführungsanalyse gewidmet. Ich möchte an dieser Stelle einige Beobachtungen, didaktische Strategien sowie Feststellungen aus dem Seminar‐ raum teilen. Diese können für andere Lehrende hilfreich sein, da ein möglicher gemeinsamer Erfahrungsraum eröffnet wird, aus dem wichtige und gemeinsame Erkenntnisse für die Didaktik in der Auseinandersetzung mit marginalisierten und rassifizierten Theatermachenden und Theaterkontexten gewonnen werden können. Meine sehr knappe Darstellung erhebt weder Vollständigkeit noch Korrektheit, sondern ist als ein Beitrag dieses Erfahrungsraumes gedacht. Die Sitzung verlief mehrheitlich spannungsfrei, aber mit sichtbarem Unwohl‐ sein bzw. möglichem Desinteresse. Der Großteil der Seminarteilnehmenden blieb insgesamt aufmerksam und folgte dem Geschehen der Inszenierung, einige machten, wie zuvor aufgefordert, Notizen. Ein kleiner Teil des Seminars begann allerdings nach kurzer Zeit das Interesse an der Aufführung zu verlieren. Ein Student, der sehr zentral im Raum saß, begann sich mit seinem iPad zu beschäftigen, ohne das Geschehen eines Blickes zu würdigen; andere einzelne Studierende waren immer wieder durch ihre Mobiltelefone abgelenkt. Ein Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 127 <?page no="128"?> Studierender war zum Schluss eingeschlafen. Die Person, die zu Anfang des Seminars ihr Unbehagen geäußert hatte, verließ mitten in der Sitzung und wäh‐ rend der Videoaufzeichnung den Seminarraum, eine Erläuterung der Handlung folgte nicht. Die Mehrheit der Studierenden hat sich tatsächlich damit beschäftigt, die ästhetische Erfahrung einzuordnen. Durch eine fehlerfreundliche Diskurskultur konnte beispielsweise der Beitrag einer Studierenden, die das Gesehene an Improvisationstheater und dessen spezifische Übungen erinnerte, trotzdem genutzt werden, um die Studierenden über physisches Theater als ein theatrales Format zu informieren. Auch der Verweis, dass es sich um eine professionelle Theatergruppe mit ausgebildeten Theatermachenden handelte, wurde aufge‐ griffen, um mit bereits erlernten theaterwissenschaftlichen Terminologien und dem spezifischen Blick auf Race die ästhetische Erfahrung zu kontextualisieren. Die Studierenden waren mit dem eigenen ‚trainierten‘ Blick beschäftigt, der durch die Selbstpositionierung und das aktive Ver-lernen in Frage gestellt wurde. Insbesondere das Wissen über das Theater Pralipe, welches in den Interviews mit Rahim Burhan zur Verfügung gestellt wurde, konnte eingesetzt werden, um spezifische Elemente des Theaterraumes herauszuarbeiten. Die Seminarteilnehmenden haben aber auch Fragen gestellt, auf die wir - gemeinsam als Lernende über Rom*nja Theater - keine Antworten finden konnten. Gemeinsam stellten wir fest, dass unser Wissen als nicht-Rom*nja und Sinti*zze hegemonial geformt ist und gerade angesichts einer kritischen Auseinandersetzung mit der Theaterpraxis nur ein Fragment von dem darstellt, was eigentlich in der Aufführung verhandelt wird. Es gab Konsens, dass es auch einen Raum für das geben muss, was nicht zugänglich ist, gerade weil sich das Theater Pralipe in erster Instanz an ein Rom*nja Publikum richtet und dem hegemonialen Blick entzieht. In der Sitzung konnte ich mein Bestreben eines didaktischen Ansatzes umsetzen, bei dem ich nicht über das absolute Wissen im Seminarraum verfügen muss, sondern den akademischen Raum, gerade in der Lehre, als einen gemeinsamen Lernraum etablieren kann. Das Theater Pralipe und seine Theaterpraxis erlaubte eine solche Selbstpositionierung in einer Deutlichkeit und Vehemenz, die auch für Seminarteilnehmende als Teil des Lernprozesses, gerade im Kontext von marginalisierten Theatermachenden und Theaterarbeiten, erfahren werden konnte. Mit der kurzen Darstellung der Sitzung geht es mir auch um das Produktiv‐ machen von Staging Differences in der theaterwissenschaftlichen Lehre: Das Hinterfragen der eigenen Positionalität und das Erproben des Prozesses des Verlernens, in dem nicht nur kanonisiertes Theater, sondern auch die eigene Prägung in Frage gestellt wird und die dadurch entstehenden Differenzen 128 Azadeh Sharifi (Berlin) <?page no="129"?> in der Geschichte, im Kanon und in der eigenen Perspektive als produktive Umstände angesehen werden, die Universität als Ort der Wissensproduktion und -generierung auf eine neue Weise erdenken. Theater Pralipe und seine transeuropäische Theaterpraxis 129 <?page no="131"?> 1 Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser sprechen von „Trig‐ gerpunkten“ als „jenen neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen“. (Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Frankfurt am Main 2023, S. 245f.) Belegt und analysiert wird von der Studie mittels (vor allem) quantitativer Daten, wie eine relative Un/ geteilte Räume Dramaturgies of Access im Theater und an der Universität Benjamin Wihstutz (Mainz) Der Artikel widmet sich einem Kulturwandel im Theater und an der Universität unter dem Aspekt der Barrierefreiheit. Es wird untersucht, welche Maßnahmen zur raumzeitlichen Umgestaltung und Neustrukturie‐ rung von Aufführungssituationen - sei es im Theatersaal oder bei einer akademischen Tagung - in Bezug auf Accessibility aktuell diskutiert und umgesetzt werden. Dramaturgies of Access zielen somit auf den Abbau von Barrieren, können aber auch auf Widerstände in kulturellen Kontakt‐ zonen treffen, wenn sich unterschiedliche performative Situationen in und außerhalb des Theaters als un/ geteilte Räume (Margaret Price) erweisen. In Kultur- und Bildungsinstitutionen findet ein Wandel statt. Seit einigen Jahren wird von Kulturschaffenden und Studierenden auf diskriminierende Strukturen der Institutionen und auf die Problematik privilegierter Sichtweisen in den vermittelten Inhalten hingewiesen. Der Bildungskanon wird offen hinterfragt und dessen Dekolonialisierung propagiert. Für den Abbau von Diskriminie‐ rung und Barrieren werden neue Konventionen eingeführt wie etwa Content Warnings, Pronomenrunden, Safe Spaces oder visuelle Selbstbeschreibungen. Dieser Kulturwandel trifft zugleich bei nicht wenigen Theaterregisseur*innen, Kurator*innen und Hochschullehrenden auf Unverständnis. Die teils hitzig geführten Diskussionen um solche Praktiken reichen weit über die Theater- und Hörsäle hinaus, sind sie doch Teil einer politischen Debatte 1 um Identitäten <?page no="132"?> Einigkeit bei Themen wie Gleichstellung, Migration und Klimawandel in der deutschen Gegenwartsgesellschaft bei bestimmten Reizwörtern plötzlich affektiv in artikulierten Dissens kippt. Zum diesbezüglichen Generationen-Konflikt siehe auch den Beitrag von Stefanie Husel in diesem Band. 2 Zum Begriff der Humandifferenzierung siehe ausführlich: Stefan Hirschauer, „Men‐ schen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung“, in: Zeit‐ schrift für Soziologie 50/ 3-4 (2021), S. 155-174. Während der Begriff der Humandiffe‐ renzierung als etischer Begriff im Zentrum der Arbeit des gleichnamigen Mainzer Sonderforschungsbereichs steht, ist mit ‚Identitäten‘ hier sowohl ein etischer als auch emischer Begriff gemeint, denn in den politischen Debatten wird explizit der Identi‐ tätsbegriff ins Feld geführt, der häufig auf Kategorien von Gender, Race, Class und ‚Her‐ kunft‘ rekurriert, wohingegen dabei nur selten thematisiert und reflektiert wird, dass Identität grundsätzlich fragil und als „Passungsarbeit“ (Keupp) im Werden begriffen bleibt. Vgl. etwa Heiner Keupp, „Identitätsarbeit in spätmodernen Gesellschaften“, in: Jochen Sautermeister (Hg.), Moralpsychologie. Transdisziplinäre Perspektiven, Stuttgart 2017, S.-199-213, hier S.-201. 3 In der Theaterwissenschaft siehe dazu Yaël Koutouan, Machtspiele im Theater. Rassismus als Believe-System, Baden-Baden 2022, Mirjam Kreuser, Crip-queere Körper. Eine kritische Phänomenologie des Theaters, Bielefeld 2023, der Sammelband Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, hg. von Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies, Bielefeld 2022 und Benjamin Wihstutz, „The Future is accessible. Über Theater, Inklusion und Aufführungsanalyse“ in: Friedemann Kreuder/ Matthias Warstat (Hg.): Die Zukunft der Aufführung. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Tübingen 2023, S.-147-164. 4 Mau/ Lux/ Westheuser, Triggerpunkte, S.-160f. 5 Unabhängig der im Artikel genannten Barrieren darf nicht unerwähnt bleiben, dass ‚Kontaktzonen‘ in Bezug auf den sozialen Raum unterschiedlich niedrig- oder hoch‐ schwellig bzw. in Bezug auf die Durchmischung sozialer Milieus mehr oder weniger und Humandifferenzierungen, d. h. um die Art und Weise, wie Menschen sich und andere unterscheiden. 2 Die Versprechen von universeller Gleichheit und Autonomie, so scheint es, haben sowohl in der Bildung als auch in der Kunst aktuell einen schweren Stand. Statt von ‚dem‘ Publikum oder ‚den‘ Studierenden auszugehen, wird heute auf Differenzen diverser Identitäten und der damit verknüpften Wahrnehmungsweisen und Diskriminierungserfahrungen hinge‐ wiesen. 3 Nicht nur Identitäten und Genres, auch Räume und Zeiten von Kultur und Bildung werden im Zuge dieser Entwicklung zunehmend diversifiziert. Theater, Museen und Universitäten werden so zu Kontaktzonen, in denen un‐ terschiedliche Arten der Kategorisierung, Dispositionen und Wahrnehmungen kollidieren und „Anerkennungskämpfe“ 4 teils offen ausgetragen werden. Dabei betrifft der angestrebte Wandel, wie die wenigen o. g. Beispiele zeigen, nicht allein politische Inhalte, sondern die Organisation, Durchführung und raum‐ zeitliche Ordnung von Veranstaltungen insgesamt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Vorlesungsreihe, eine akademische Tagung, eine Ausstellung oder eine Theateraufführung handelt. 5 Aus theaterwissenschaftlicher Sicht 132 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="133"?> durchlässig sein können. So sind Zulassungsbeschränkungen für ein Hochschulstudium ebenso von Relevanz wie ästhetische Bildung in Bezug auf die grundsätzliche Bereit‐ schaft, eine Ausstellung oder ein Theater zu besuchen. Auch soziale Distinktion über kulturelles Kapital und Geschmack müssen bei einem solchen Thema entsprechend mitgedacht werden. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main 1974 sowie den Artikel von Friedemann Kreuder in diesem Band. 6 Der Grund, den englischen Begriff accessible dem deutschen ‚barrierefrei‘ vorzuziehen, ist erstens, dass er nicht von einer Negation ausgeht, sondern positiv formuliert und damit auch deutlich macht, dass Access für alle Menschen, nicht nur Menschen mit Behinderung, einen Gewinn darstellen kann und zweitens, dass Access nicht allein räumlich konnotiert ist, sondern beispielsweise auch einen kognitiven oder kommunikativen Zugang einschließt. bietet es sich an, diesen konfliktreichen Kulturwandel auf seine dramaturgische Dimension hin zu untersuchen und danach zu fragen, wie sich die Struktu‐ rierung von Handlung, Raum und Zeit in jenen Kontaktzonen verschiebt, wenn nicht mehr von ‚einer‘ Wahrnehmung oder einem homogenen Publikum ausgegangen wird, sondern Raum und Zeit diversifiziert werden. Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen konzentrieren sich auf Dra‐ maturgies of Access, d. h. auf Dramaturgien, die einen Barriereabbau anstreben und darauf zielen, Veranstaltungen im Theater und an der Universität möglichst accessible 6 zu gestalten. Mein Aufsatz gliedert sich in sieben Schritte: Erstens skizziere ich ausgehend vom Begriff der Kontaktzone das politische Potenzial der ins Visier genommenen Dramaturgien. Anschließend gehe ich näher auf den Begriff der Dramaturgie ein, den ich als Strukturierung von Raum, Zeit und Handlung fasse und mit Bezug auf eine Verantwortung für das Publikum bestimme und drittens erläutere ich spezifischer, was unter Dramaturgies of Access zu verstehen ist. Viertens führe ich in Anknüpfung an Margaret Price die Frage der Un/ teilbarkeit von Raumzeit ein, um die relationale und situative Dimension von Access in den Blick zu nehmen. Während ich beispielhaft an einer Performance von Claire Cunningham und Jess Curtis zeige, wie konkrete dramaturgische Konzepte von Access im Theater aussehen können, erläutere ich sechstens anhand der Konzeption einer wissenschaftlichen Tagung vergleichbare raumzeitliche Maßnahmen in akademischen Kontexten. Und schließlich komme ich am Ende auf einige Widersprüche und Widerstände solch dramaturgischer Konzeptionen zu sprechen. 1. Kontaktzonen des Kulturwandels Der Begriff Kontaktzone kommt ursprünglich aus der postkolonialen Theorie von Marie-Louise Pratt und beschreibt „social spaces where cultures meet, Un/ geteilte Räume 133 <?page no="134"?> 7 Marie-Louise Pratt, „Arts of the Contact Zone“, in: Profession (1991), S. 33-40, hier S. 34. 8 Ich möchte mich an dieser Stelle bei Sarah Neelsen, Lars Koch und Julia Prager für die Einladung zum Symposium Unfassbare Eingriffe in die Kontaktzone. Inklusion an Bildungsinstitutionen in Dresden im November 2023 bedanken, zu der auch Siegfried Saerberg eingeladen war. Ohne diese Veranstaltung wäre ich selbst nicht darauf gekommen, den Begriff der Kontaktzone auf Kulturinstitutionen wie das Theater anzuwenden. 9 Taub und Blind werden in den Tauben- und Blinden- Communities häufig groß geschrieben, um sie als Selbstbezeichnung, Identitätskategorie und spezifische Kultur mit eigener Sprache, Schrift und Medien auszuweisen. 10 Siegfried Saerberg, „Disability Culture - Disability Arts - Behinderung als Thema und Hintergrund“, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Behinderung ohne Behinderte? ! Perspektiven der Disability Studies, Universität Hamburg, 08.11.2010, nur online veröf‐ fentlicht unter https: / / www.zedis-hamburg.de/ wp-content/ download-pdfs/ saerberg_0 8112010.pdf [Zugriff am 19.01.2024]. clash, and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power“ 7 . Kontaktzonen sind in diesem Sinne Räume der Begegnung, die Kollisionen unterschiedlicher asymmetrischer historischer und kultureller Perspektiven begünstigen. Der Blinde Disability-Theoretiker Siegfried Saerberg 8 hat vorgeschlagen, den Begriff der Kontaktzone auf inklusive Settings der Kulturlandschaft zu übertragen, in denen ebenfalls Machtasymmetrien verhan‐ delt werden, etwa auf Ausstellungen oder Theaterprojekte, die den Anspruch formulieren, Orte der Begegnung zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen, zwischen sehenden und Blinden oder hörenden und Tauben Men‐ schen 9 zu schaffen: Bindet man blinde Kunst zurück an die sich entfaltende Sozialgeschichte von Blind‐ heit, so ergeben sich strukturelle Ähnlichkeiten zum postkolonialistischen Begriff der „Kontaktzone“. […] Werden Ausstellungen über vom westlichen Kulturmuster differente Sinneswelten konzipiert und präsentiert, so steht das Gesamt des Prozesses künstlerischen Handelns in einem Aushandlungs- und Austauschprozess zwischen der ausstellenden und der ausgestellten Kultur. Da dieser Prozess mit zumeist sehr starken Machtasymmetrien zurecht kommen [sic] muss, ist er historischen, politischen und moralischen Argumentationen unterworfen. Solche aushandelnden Interaktionen nun öffnen ein Handlungsfeld, in dem etwa via die [sic] Mobilisierung von moralischen Öffentlichkeiten Machtasymmetrien modifiziert werden können. 10 Indem Saerberg über Inklusion mithilfe des Begriffs der Kontaktzone als inter‐ kulturelles Phänomen spricht, knüpft er an das sogenannte ‚kulturelle Modell von Behinderung‘ aus den Disability Studies an. Demnach genügt es nicht, Behinderung als soziale Konstruktion in den Blick zu nehmen, vielmehr gilt es auch, kulturelle Normen, Bilder und Narrative, mithin Repräsentationen 134 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="135"?> 11 Beispielsweise kann hier auf Cafés der Deaf Community verwiesen werden, in denen sich Menschen treffen, die der Gebärdensprache mächtig sind. 12 Anne Waldschmidt, „Disability Studies: individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell von Behinderung? “, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 29/ 1 (2005), S. 9-31, hier S.-25. 13 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006, S.-25. 14 Ich beziehe mich hier vor allem auf das, was Rancière die „ursprüngliche Ästhetik“ nennt. Ebd., S.-27. von Normalität und Behinderung zu hinterfragen, um die Konstruktion von Behinderung und die kulturelle Marginalisierung behinderter Perspektiven zu verstehen. Darüber hinaus offenbaren Blinde und Taube Communities auf anschauliche Weise, inwiefern Behinderung als Disability Culture verstanden werden kann: Es bilden sich eigene kulturelle Praktiken, Kommunikations‐ weisen und Institutionen heraus, etwa Cafés, in denen Gebärdensprache gespro‐ chen wird, oder sogenannte Touch Tours für Blinde in Ausstellungen oder im Theater. 11 Diese kulturwissenschaftliche Sichtweise auf Behinderung, so Anne Waldschmidt lässt die Relativität und Historizität von Ausgrenzung und Stigmatisierungsprozessen zum Vorschein kommen. Sie führt vor Augen, dass die Identität (nicht)behinderter Menschen kulturell geprägt ist und von Deutungsmustern des Eigenen und des Fremden bestimmt wird. 12 Mit Saerberg kann entsprechend konstatiert werden, dass Kontaktzonen immer dann entstehen, wenn solche Deutungsmuster des Eigenen und des Fremden und deren Machtasymmetrien neu ausgehandelt werden; somit ein un/ geteilter Raum entsteht, der jene kulturellen Asymmetrien und Differenzen etwa in der Sinneswahrnehmung sichtbar (oder besser: spürbar) werden lässt. Dies bedeutet keineswegs, dass diese Räume und deren zeitliche Strukturierung vor dem ‚Kontakt‘ leere, apolitische Container sind. Vielmehr ist die Frage der Auf- und Einteilung von Raum und Zeit per se bereits politisch. Jacques Rancière hat diese grundlegend politische Dimension einer aisthetischen Strukturierung von Raum und Zeit „die Aufteilung des Sinnlichen“ 13 genannt: Was sichtbar ist und was unsichtbar bleibt, wie sich Gleichheit und Ungleichheit verteilen, welche Rhythmen und Dynamiken zugelassen werden, wer Zugang zu einer Bühne oder eine (politische) Stimme hat oder wessen Sprache überhaupt als Sprache und nicht als Lärm wahrgenommen wird: all das sind grundlegende politische Fragen, die unmittelbar mit ästhetischen Praktiken raumzeitlicher Aufteilungen zusammenhängen. 14 Wenn im Folgenden von Dramaturgies of Access die Rede ist, so zeugen meine Beobachtung zur Dramaturgie von einem Kulturwandel, der sich aktuell Un/ geteilte Räume 135 <?page no="136"?> 15 Ebd., S. 28. Zum Begriff Gleichgültigkeit und dessen Kritik, siehe auch Sandra Umathum, „Keine Gleich-Gültigkeit! Über Grenzverläufe im zeitgenössischen Theater“, in: polar. Zeitschrift für politische Philosophie und Kultur Ausgabe #15: Grenzen (2013), S. 157-160. 16 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S.-36. 17 Vgl. hierzu Hans-Walter Schmuhl, „Schwer behindert, schwerbehindert, schwerstbe‐ hindert. Begriffsgeschichtliche Betrachtungen zu den feinen Unterschieden in der Benennung von Menschen mit Behinderung.“, in: Markus Dederich/ Katrin Grüber (Hg.), Herausforderungen: mit schwerer Behinderung leben, Frankfurt am Main 2007, S. 23-37. 18 Vgl. Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007, S.-18. in den Kontaktzonen des Theaters und der Universität gleichermaßen als Um‐ strukturierung von Raum und Zeit abzeichnet und damit sowohl kulturelle Deu‐ tungsmuster des Eigenen und Fremden verhandelt als auch Neuaufteilungen des Sinnlichen betrifft. Anders als bei Rancière sind jene Neuaufteilungen des Sinnlichen allerdings nicht an eine idealistische Vorstellung ästhetischer Gleich‐ heit und Autonomie geknüpft. Im Gegenteil entlarven sie vielmehr Konzepte ästhetischer Gleichheit oder „Gleichgültigkeit“ 15 als normative Konstrukte eines eurozentrischen Universalismus und weisen auf grundlegende Differenzen unterschiedlicher Weltwahrnehmungen und kultureller Deutungsmuster hin. Anstelle eines ästhetischen Regimes propagieren die hier untersuchten Drama‐ turgien eher eine Rückkehr zu einer Art „ethischem Regime“ 16 , das im Zeichen der Achtsamkeit, Fürsorge und Rücksichtnahme auf die Positionen diverser marginalisierter Communities steht. Kontaktzonen sind damit Orte, an denen nicht nur unterschiedliche Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Iden‐ titäten und Diskriminierungserfahrungen aufeinandertreffen, es sind Orte, an denen unterschiedliche Arten der Humandifferenzierung und deren historische Variablen kollidieren. Auch Behinderung kann entsprechend nicht gleichgesetzt werden mit einer stabilen, ahistorisch gefassten Identität. Behinderung ist vielmehr eine im 20. Jahrhundert historisch entstandene Kategorie 17 , die sich einerseits als soziokulturelle Konstruktion und Begriff stetig gewandelt hat und sich auch weiterhin wandelt, und andererseits als konkretes Phänomen der Behinderung im Alltag situativ und relational durch Barrieren, ableistische Normen und Bilder hervorgebracht wird. Im Gegensatz zu einem essentialisti‐ schen Verständnis von Behinderung kann die Betrachtung von Accessibility unter Gesichtspunkten der Dramaturgie insofern jenseits von „Gruppismen“ 18 helfen, jene raumzeitlich bedingte, relationale und situative Behinderung von Menschen anhand der raumzeitlichen Organisation von Kontaktzonen wie dem Theater- oder Hörsaal in den Blick zu nehmen. 136 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="137"?> 19 Marianne van Kerkhoven, „Looking Without Pencil in the Hand.“, Theaterschrift 5,6 (On Dramaturgy), 8-34, Brüssel 1994, S. 8-34, hier S. 11, hier zit. nach Maike Bleeker, Doing Dramaturgy. Thinking Through Practice, Palgrave 2023, S.-25. 20 Bleeker, Doing Dramaturgy, S.-2. 21 Christel Weiler, „Dramaturgie“, in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2014, S.-84-87, hier S.-86. 2. Dramaturgie als Strukturierung von Raum und Zeit und die Verantwortung für das Publikum In ihrem Artikel Looking Without Pencil in Hand von 1994 fragte die flämische Dramaturgin und Tanztheoretikerin Marianne van Kerkhoven: Is it only possible to think of dramaturgy in terms of spoken theatre, or is there a dramaturgy of movements, sound, light, and so on, as well? Is dramaturgy the thing that connects all the various elements of a play together? Or is it about the soul, the internal structure, of a production? Or does dramaturgy determine the way space and time are handled in a performance, and so the context and the audience, too? 19 Maaike Bleeker greift diese Passage in ihrem Buch Doing Dramaturgy (2023) wieder auf und weist darauf hin, dass die belgische Tanz- und Performanceszene seit den 1990er-Jahren Wegbereiterin eines neuen, zeitgenössischen Dramatur‐ gieverständnisses wurde. Sie argumentiert, dass insbesondere auch die relatio‐ nale, infrastrukturelle Dimension von Dramaturgie mit beachtet werden müsse, wenn dramaturgische Arbeitsweisen der Gegenwart analysiert werden. Damit, so merkt Bleeker mit Bezug auf Adrian Heathfield und Donna Haraway an, offenbare sich auch eine ethische Dimension dramaturgischer Praxis, die sich mit dem Haraway’schen Begriff response-ability umschreiben lasse: Such being response-able is not limited to what is created. It also involves a praxis of attending to how creation processes are organized, who is involved and in what role, where performances are shown, how and to whom, how performances are produced, in what context, and with whom, the setting up of working conditions and taking responsibility for their implications. 20 Dramaturgische Praxis hat dementsprechend mindestens eine doppelte Funk‐ tion: Zum einen geht es um eine Strukturierung von Raum, Zeit und Handlung - wobei hier nicht allein Handlungen dramatischer Figuren im konventionellen Sinne gemeint sind, sondern, wie Christel Weiler schreibt, „ebenso das Licht, die Klänge und somit das Performative als maßgebende Akteure.“ 21 Zum anderen ist mit der Strukturierung von Raum und Zeit aber auch eine Ver-antwortung Un/ geteilte Räume 137 <?page no="138"?> 22 Zum Begriff ‚Dramaturgie der Fürsorge‘ vgl. Jan Deck, „Dramaturg*innen als Ama‐ teur*innen zwischen Nicht-Perfektem und Fürsorge“, in: Umathum/ Deck (Hg.), Post‐ dramaturgien, Berlin 2020, S.-119-142. 23 Bleeker, Doing Dramaturgy, S.-1. 24 Patrice Pavis, „Dramaturgy and Postdramaturgy“, in: Katharina Pewny/ Johan Cal‐ lens/ Jeroen Coppens (Hg.), Dramaturgies in the New Millennium. Relationality, Perfor‐ mativity and Potentiality, Tübingen 2014, S.-14-36, hier S.-14. 25 Sandra Umathum/ Jan Deck, „Nachwort“, in: Sandra Umathum/ Jan Deck (Hg.), Postdra‐ maturgien, S.-367. (Response-ability) verbunden, eine „Dramaturgie der Fürsorge“ 22 , die sich auf Akteur*innen und Aktanten sowie das Publikum gleichermaßen bezieht und sich ihrer Wirkung und Nachhaltigkeit bewusst ist. Dramaturgie reagiere damit in zeitgenössischen Kontexten, so Bleeker, sowohl auf soziale als auch ökologische Anforderungen unserer Zeit und integriere nicht selten eine „praxis of care that involves the capacity to attend to and respond within the messy worlds we inhabit and participate in“ 23 . Dass die dramaturgische Verantwortung dabei nicht nur die Bühne, sondern auch das Auditorium betrifft, merkt auch Patrice Pavis in einem Artikel an, in dem er in Anlehnung an Hans-Thies Lehmann erstmals den Begriff ‚Postdramaturgie‘ einführt, d. h. einer Drama‐ turgie nach dem Primat des Dramas: „[Post]Dramaturgy consists in producing and later, for the spectators, in noticing the compositions of the different rhythms, tensions, changes of positions or attitudes.“ 24 Gerade diese Erweiterung des Dramaturgiebegriffs auf das Publikum und die Strukturierung von Raum und Zeit sowie die Haltungen und Einstellungen im Saal sind ein geeigneter Ausgangspunkt, um über Access und Barrieren im Theater nachzudenken. An Pavis anknüpfend, verstehen Sandra Umathum und Jan Deck entsprechend Postdramaturgien als ein offenes Feld von Dramaturgien, „die sich nicht (mehr) am Paradigma des Dramas abarbeiten, nicht (mehr) an der Zentralposition des Individuums, des Dialogs, der in Intersubjektivität gründenden Handlung“, sondern vielmehr „Explorationen anderer Vorstellungen und Möglichkeiten von Dramaturgie“ 25 bilden. Einige dieser Postdramaturgien zielen darauf, die raumzeitliche Struktur der Aufführung sowie die Verantwortung für das Pub‐ likum hinsichtlich eines Abbaus von Barrieren grundsätzlich zugänglicher und diversifizierter zu gestalten. Es sind diese dramaturgischen Konzepte und Praktiken, die ich Dramaturgies of Access nenne. 3. Dramaturgies of Access Traditionell beziehen sich die Begriffe Access und Accessibility in den Disability Studies auf ein soziales Modell von Behinderung. Menschen sind nach diesem 138 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="139"?> 26 Christine Kelly, „Building Bridges with accessible care“, in: Hypatia Volume 28 Issue 4 Fall (2013), S.-784-800, hier S.-789. 27 Siehe dazu Jenny Sealey/ Carissa Hope Lynch, „An Aesthetics of Access. (De)Cluttering the Clutter.“, in: Palgrave Susan Broadhurst/ Josephine Machon (Hg.), Identity, Perfor‐ mance and Technology. Practices of Empowerment, Embodiment and Technicity, New York 2012, S.-60-73. 28 Rafael Ugarte Chacón, Theater und Taubheit, Bielefeld 2015. 29 Vgl. ebd. S.-54f. 30 Vgl. Tobin Siebers, Disability Aesthetics, Ann Arbor 2010 und Tobin Siebers, „Un/ sichtbar. Observationen über Behinderung auf der Bühne“, in: Imanuel Schipper (Hg.), Modell nicht behindert, weil sie Blind oder Taub oder gelähmt sind oder ihnen eine bestimmte medizinische Diagnose wie Tourette oder das Down-Syndrom bescheinigt wurde. Vielmehr werden Menschen durch Barrieren behindert, die von gesellschaftlichen, architektonischen und kulturellen Bedingungen abhängen und damit konstruiert werden. Wie Christine Kelly betont hat, ist jedoch Access und damit die Beseitigung von Barrieren keine rein logistische Angelegenheit („not mere logistics“), sondern vielmehr „an interpretative rela‐ tion between bodies“ und eine „unstable tension among emotions, actions and values“. 26 Barrierefreiheit bleibt somit ein vages und stets fragiles Ziel, weshalb Kelly anstelle von Accessibility auch den Begriff Accessible Care vorschlägt, der die Wechselbeziehungen zwischen Menschen, ihren Handlungen, Affekten und Umgebungen und die damit verbundenen Spannungen und kulturellen Deutungsmuster einschließt. In den darstellenden Künsten hat sich der Begriff Aesthetics of Access weitaus stärker etabliert als Dramaturgies of Access, was vermutlich auch damit zu tun hat, dass der Dramaturgiebegriff im Englischen weniger geläufig als im Deutschen ist. Der Begriff Aesthetics of Access wurde zuerst von der Graeae (graeeye) Theatre Company und ihrer gehörlosen Regisseurin Jenny Sealey in London entwickelt 27 und später von Rafael Ugarte Chacón in der Dissertation Theater und Taubheit 28 theoretisiert. Nach Ugarte Chacóns Definition zielt die Ästhetik des Zugangs - Aesthe‐ tics of Access - darauf ab, dem Publikum auf vielfältige Weise Zugang zu verschaffen, zum Beispiel durch die Verwendung von Gebärdensprache und Audiodeskription, die jedoch nicht als zusätzliche Hilfsmittel, sondern als äs‐ thetisches Element in die Aufführung integriert werden. 29 Der Begriff Aesthetics of Access greift somit nicht allein auf das soziale Modell, sondern auch auf das kulturelle Modell von Behinderung zurück, indem neue kulturelle Praktiken und Konventionen sowie mittels der eingesetzten Accessibility Tools auch Ästhetiken der Behinderung 30 propagiert und integriert werden. Dramaturgies of Access tun dies auch, der Begriff geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er auf Un/ geteilte Räume 139 <?page no="140"?> Ästhetik versus Authentizität: Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung, Berlin 2012, S.-16-33. 31 Sandra Umathum, „Theater ohne Zuspätgekommene. Überlegungen zum Verhältnis von Dramaturgie und Zerstreuung“, in: dies./ Jan Deck, Postdramaturgien, S. 287-305, hier S.-287. 32 Wie oben bereits angedeutet, geht Bleeker darauf ein, dass sich ein zeitgenössischer Dramaturgiebegriff auch auf die Produktionsbedingungen und Infrastrukturen von Theater und Performance bezieht, indem diese teilweise mitgestaltet oder hinterfragt werden. Vgl. Bleeker, Doing Dramaturgy. Zu einer (medien)kulturwissenschaftlichen Betrachtung von Infrastrukturen siehe auch Gabriele Schabacher, Infrastruktur-Arbeit, Berlin 2022. 33 Das relationale Modell von Behinderung wurde ursprünglich vor allem im skandina‐ vischen Kontext diskutiert. So weist Jan Tøssebrø daraufhin, dass in Norwegen Behin‐ derung weder als rein soziale Konstruktion (Disability) noch als physisch oder kognitiv bedingte Beeinträchtigung (Impairment) gefasst wird, sondern als ein „mismatch between the person’s capabilities and the functional demands of the environment. […] Disability is thus a relationship, and it is relative to the environment. It is also situational rather than an always present essence of the person.“ Jan Tøssebrø, „Introduction to the Special issue: Understanding disability“, in: SJDR Vol. 6, 1 (2004), S. 3-7, hier 4. Auch der Soziologe Michael Schillmeier macht in seinen Texten über Blindheit deutlich, dass es in erster Linie „Dis/ abling practices“ sind, die Menschen im Alltag mehr oder weniger in einer Umgebung behindern. Vgl. Michael Schillmeier, „Dis/ abling Practices: Rethinking Disability.“, in: Human Affairs 17 no. 2 (2007), S.-195-208. die grundlegende Infragestellung und Veränderung raumzeitlicher Strukturen einer Aufführung und ihrer Relationen zielt. Sandra Umathum schlägt etwa die Konzeption alinearer Dramaturgien für ein „Theater ohne Zuspätgekommene“ 31 vor, das mit offenen Türen und Möglichkeiten des Hinein- und Heraustretens eher an den offenen und flächigen Raum-Zeit-Strukturen von Gertrude Steins Landscape Plays orientiert ist als an der linearen Erzählung einer dramatischen Handlung. Umathum verknüpft ihre Überlegungen mit dem in den Disability Studies verbreiteten Begriff von Crip Time - d. h. mit Erfahrungen von Zeit‐ lichkeit, die sich einer normativen Zeitstruktur widersetzen - also nicht den Standards eines pünktlichen, linearen Lebens entsprechen. Der dramaturgische Wandel setzt somit nicht nur an den ästhetischen Ausdrucksmitteln an, sondern an der Konzeption performativer Raumzeit. Nimmt man den von Bleeker vorgeschlagenen Infrastructural Turn 32 in der Dramaturgie ernst, so geht es andererseits in der dramaturgischen Praxis zugleich um mehr als ‚nur‘ die Gestaltung von Raumzeit. Die Zusammenarbeit zwischen allen Akteur*innen und Aktanten verändert sich, wenn Access für eine Produktion zum Leitmotiv erklärt wird. Dramaturgies of Access verweisen in diesem Sinne auf ein relationales Modell von Behinderung 33 , Behinderung wird also als Ergebnis von Beziehungen und situativen Bedingungen zwischen 140 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="141"?> 34 Zum Begriff des Aktanten als handelndes Objekt im Zusammenspiel mit menschlichen Akteuren, siehe Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklich‐ keit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S.-219. 35 http: / / angelaalves.de/ access-rider/ , Fassung von Oktober 2023, [Zugriff am 19.01.2024]. 36 Vgl. ebd. S.-5. Menschen und Infrastrukturen, zwischen Akteur*innen und Aktanten 34 gefasst. Dies betrifft insofern sowohl die Organisation, Planung und Inszenierung einer Performance und damit Prozesse, die bereits ohne Publikum (räumlich gewissermaßen hinter der Bühne, zeitlich vor der Premiere) stattfinden, als auch die Strukturierung der Raumzeit der Aufführung (und damit auf der Bühne und im Zuschauersaal). Ich möchte zunächst auf den ersten Punkt anhand eines beispielhaften Dokuments eingehen und komme später (im Abschnitt 5) auf den zweiten Punkt anhand der Aufführung von Claire Cunningham zu sprechen. Wenn Access den gesamten Planungsprozess einer Veranstaltung und die Beziehungen zwischen den Beteiligten bestimmt, so müssen zunächst die Bedürfnisse und Bedingungen der Zusammenarbeit geklärt werden. Auf der Produktionsebene werden diese von Künstler*innen mittels sogenannter Access Awareness-Dokumente (auch Access Rider genannt) formuliert, eine Praxis, die auch im akademischen Umfeld der Disability Studies üblich geworden ist. Dabei geht es darum, sich bereits vor einer Kooperation über Access Needs der einzuladenden Person zu verständigen und entsprechend auch die Konditionen festzulegen, unter denen der Auftritt (sei es auf einem Festival, auf einer wissenschaftlichen Tagung oder in einer Vorlesungsreihe) zustande kommen kann. Access Needs können dabei sehr vielfältig sein, sie reichen von der Barrierefreiheit der Unterkunft über die angemessene Bezahlung von Assistenzdiensten bis hin zu Pausen und Rückzugsmöglichkeiten. Der Access Rider der deutschen Choreografin und Tänzerin Angela Alves ist ein offen über ihre Website zugängliches Online-Dokument 35 , der hier Aufschluss geben kann. So weist die Künstlerin gleich zu Beginn des Riders darauf hin, dass ihre Verfassung und Beeinträchtigung aufgrund ihrer Multiplen Sklerose stark schwanken können. Zudem legt sie detailliert fest, welche Art der Anreise und Unterkunft für sie akzeptabel sind, wie Arbeitszeiten („Keine Überstunden“) und Pausen zu handhaben sind. Unter Arbeitszeiten macht die Künstlerin genaue räumliche und zeitliche Vorgaben, unter anderem benötige sie einen „nahegelegene[n] Ruheraum mit Liegemöglichkeit für eine Pause“ und bei digitalem Arbeiten wie Videokonferenzen „15 Minuten Pause auf zwei Stunden Arbeitszeit“ 36 . Bei einigen Punkten wie etwa „Keine E-Mails am Wo‐ chenende“ fällt auf, dass womöglich ebenso nichtbehinderte Künstler*innen von Un/ geteilte Räume 141 <?page no="142"?> 37 Alves schreibt ebd. (S. 5): „Ich weiß, dass diese Punkte auch auf andere (gesunde) Menschen zutreffen und ich weiß auch, dass Überstunden, Wochenendarbeit und Überarbeitung für keinen Menschen gesund sind. Der einzige Unterschied ist, dass ich durch die Vermeidung von Überarbeitung etc. mein Nervensystem ruhig halte und umgekehrt bei Nichteinhaltung meiner Grenzen das Aufflammen von Entzündungen in Hirn und Rückenmark riskiere. Ich habe die Wahl, mich komplett aus dem Arbeitsleben zurückzuziehen oder mich ihm zuzumuten. Im Moment versuche ich Letzteres.“ 38 Es handelt sich um das SFB-Teilprojekt „Disability Performance als Humandifferenzie‐ rung“. Zum Team gehörten zu dem Zeitpunkt neben den Teilprojekt-Mitarbeiterinnen Elena Backhausen und Mirjam Kreuser auch die wissenschaftlichen Hilfskräfte Jannik Cas Kunkel, Merle Thoma, Max Zehentbauer und später auch Charlotte Hennen. Ihnen gilt mein Dank - nicht nur für eine äußerst gelungene Tagung, sondern auch für das Feedback zu diesem Artikel - außerdem bedanke ich mich bei Clemens Brill für das hervorragende Korrektorat. solch einem Dokument profitieren könnten, was Alves auch explizit anmerkt 37 . In jedem Fall zeigt das Dokument, dass es die Künstlerin selbst ist, die die Bedingungen einer Zusammenarbeit von Vornherein definiert. Kann sich eine Organisation oder ein Veranstalter nicht an die Vorgaben halten, braucht man gar nicht erst anzufragen. Auffällig ähnlich verlief für uns als Team eines Forschungsprojekts 38 die Einladung einiger bekannter Vertreter*innen der Di‐ sability Studies auf unsere Tagung Independence and Collectivity. Configurations of Dis/ ability Performance, die im Mai 2023 an der Universität Mainz stattfand und auf die ich später noch ausführlicher eingehen werde. Hier wurde uns ebenfalls eine Auflistung verschiedener Access Needs zugeschickt, die mehr oder weniger als Bedingungen für die Teilnahme definiert wurden. Dazu gehörte etwa die Bitte um Einrichtung eines Ruheraums in Nähe des Tagungsraumes, keine Vorträge und Podien nach 18 Uhr sowie bestimmte Vorgaben für die Größe und Barrierefreiheit des Hotelzimmers. Die Vorgaben waren für uns als Organisator*innen einer möglichst barrierefreien Tagung äußerst wertvoll, wären wir doch auf einige dieser Maßnahmen nicht gekommen. Zugleich passierte mittels jenes Access Rider etwas in der akademischen Welt äußerst Ungewöhnliches, nämlich dass die Vortragenden über ihre Access Needs direkten Einfluss auf den Ablauf und die raumzeitliche Struktur der Tagung nahmen, in einem Wort: auf deren Dramaturgie. Die Vorgaben sorgten dafür, das Programm zu entzerren und mehr Zeit für Pausen, Diskussionen, informelle Gespräche und Auszeiten einzuplanen. 142 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="143"?> 39 Alison Kafer, Feminist, Queer, Crip, Bloomington 2013, S.-27. 40 Ebd. S.-27. 41 Zu Crip Time in den performativen Künsten siehe auch den Band: Elena Back‐ hausen/ Benjamin Wihstutz/ Noa Winter (Hg.), Out of Time? Temporality in Disability Performance, London/ New York 2023. 42 Margaret Price hat den Begriff in verschiedenen Publikationen entwickelt. Zuletzt in der gleichnamigen Monografie: Crip Spacetime. Access, Failure, and Accountability in Academic Life, Durham/ London 2024. 43 Margaret Price, „Un/ shared Space. The dilemma of inclusive architecture“, in: Jos Boys (Hg.), Disability, Space, Architecture: A Reader, London/ New York 2017, S. 155-172, hier S.-171. 4. Crip Time und Crip Spacetime In den Worten Alison Kafers stellt Crip Time „a challenge to normative and normalizing expectations“ 39 dar. Crip Time beziehe sich nicht allein auf die „extra-time“, die aufgrund von Barrieren für das Erledigen einer Aufgabe, einen Weg oder eine Handlung benötigt wird, sondern auch auf die ‚flexible Zeit‘, die im Hinblick auf eine Unvorhersehbarkeit sowie auch auf unvorhersehbare oder nicht-normative Lebenszyklen und -rhythmen benötigt wird, d. h. Zeit, die von bestimmten zeitlichen Normen, Entwicklungsstufen und sogenannten Milestones abweichen. Kafer schreibt: „Rather than bend disabled bodies and minds to meet the clock, crip time bends the clock to meet disabled bodies and minds.“ 40 Für die Dramaturgie bedeutet Crip Time, sich auf andere Tempi und Rhythmen einzulassen, etwa die zusätzliche Zeit einzuplanen, die es braucht, um mit Audiodeskription ein Bühnenbild zu beschreiben sowie Möglichkeiten für das Publikum zu schaffen, die Aufführung auf zeitlich flexible Weise wahrzu‐ nehmen und somit von der Vorstellung einer allzu linearen und voraussehbaren Rezeption abzurücken. 41 Margaret Price unterstreicht mit ihrem auf Raum-Zeit-Konstellationen er‐ weiterten Begriff Сrip Spacetime die Unvorhersehbarkeit von Behinderung. 42 Im Gegensatz zu einem eher statisch gedachten sozialen Modell von Behinderung präferiert sie ein relationales Modell, das Behinderung ähnlich wie Kelly als „essentially unpredictable“ 43 und situationsabhängig begreift. Price beschreibt in ihrem Text Un/ shared Space, auf den sich auch der Titel dieses Aufsatzes bezieht, Situationen, in denen plötzlich und unerwartet Barrieren auftreten, die sich intersubjektiv und materiell bedingt in bestimmten Raum-Zeit-Konstellationen ergeben. So schildert sie unter anderem eine Situation aus ihrer eigenen Erfahrung auf einer akademischen Tagung, bei der sie von einem Moment auf den anderen aufgrund einer Panikattacke unfähig war, irgendetwas kognitiv aufzunehmen, ohne dass sie deren Ursache oder Trigger eindeutig identifizieren Un/ geteilte Räume 143 <?page no="144"?> 44 Margaret Price, Mad at School. Rhetorics of Mental Disability and Academic Life, Ann Arbor 2011, S.-20. 45 Price, Un/ shared Spaces, S.-164. konnte. Price beschreibt, dass für sie als „neuroatypical, mentally disabled“ 44 Akademikerin diese nicht voraussehbaren und unsichtbaren Barrieren oder Unzugänglichkeiten vorwiegend in Kairotic Spaces auftreten. Mit Kairotic Spaces - von griechisch kairos - bezeichnet Price Räume und Situationen, die von Präsenz, spontaner Kommunikation und hohen Ansprüchen geprägt sind, etwa Uni-Seminare oder Diskussionsformate bei Konferenzen. Es handelt sich um Situationen, die von der unausgesprochenen Regel geprägt sind, im richtigen Moment (kairos) das Passende sagen zu müssen. Dieser Kairotic Space verwan‐ delt sich in dem beschriebenen Moment in einen Un/ shared Space - einen Raum, der geteilt und nicht geteilt wird - in den Worten Prices sind es diese Ungeteilten Räume, „what it means to gather in spaces together but radically not together“ 45 , sich im selben Raum und doch zugleich in einem radikal anderen Raum als der oder die Sitznachbar*in zu befinden, die häufig bei der Diskussion um Barrieren übersehen werden. Prices Konzepte von Crip Spacetime und des Un/ shared Space erweisen sich in mehrfacher Hinsicht für meine hier angestellten Überlegungen zu Dramaturgies of Access in Kontaktzonen als relevant: Erstens weist Price daraufhin, dass Barrieren nicht allein physisch und statisch, sondern auch situationsbedingt und relational gedacht werden müssen. Zweitens ermöglicht insbesondere ihre Hervorhebung der Unvorhersehbarkeit, dass sich Barrierefreiheit niemals gänzlich realisieren lässt, sondern bis zu einem gewissen Grad immer ein utopisches Ziel bleibt. Und drittens deutet ihr Verweis auf die raumzeitliche Struktur einer akademischen Tagung erneut an, dass sich Barrieren und Dramaturgies of Access womöglich im Theater und der Universität tatsächlich vergleichen lassen, also auch im akademischen Kontext dramaturgische Überlegungen für den Abbau von Barrieren eine zentrale Rolle spielen können. Ich möchte nun auf konkrete Beispiele von Dramaturgies of Access aus den beiden genannten Kontexten zurückkommen und sie in Bezug auf die ‚Aufführungssituation‘ erläutern - zunächst mit Claire Cunningham und Jess Curtis ein Beispiel aus den Disability Arts und anschließend einige Access-Maßnahmen, die wir auf der bereits erwähnten Konferenz im Mai 2023 selbst umgesetzt haben. 144 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="145"?> 46 Jess Curtis ist im März 2024 unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben. 5. Dramaturgies of Access im Theater am Beispiel von Claire Cunningham und Jess Curtis Die schottische Choreografin, Tänzerin und Sängerin Claire Cunningham hat mit ihren Krücken einen eigenen choreografischen Stil entwickelt, der als Di‐ sability Aesthetics Normen tänzerischer Virtuosität und Perfektion verhandelt. Auffällig ist zudem die von ihr auf besondere Weise gepflegte Beziehung zum Publikum - so begrüßt sie jede Zuschauer*in persönlich beim Eintritt in den Saal, läuft zwischen den Plätzen herum und erkundigt sich nach ihrem Wohl‐ befinden. Sie kündigt zudem in jeder Aufführung an, nach ihrer Performance im Saal zu bleiben und für persönliche informelle Gespräche zur Verfügung zu stehen. Der dramaturgische Rahmen der Aufführung wird damit von Beginn an flexibilisiert - es gibt nicht mehr einen klar erkennbaren Beginn und ein eindeutiges Ende, die Konturen der Aufführungen werden aufgeweicht. Somit ist es den Zuschauenden selbst überlassen, inwiefern sie nach dem Schlussapplaus im Saal bleiben und das Gespräch suchen oder direkt nach Hause gehen. In den meisten von Cunninghams Performances zeigt sich die flexible Dramaturgie auch räumlich. In Abb. 1 ist ein Foto von Cunninghams Arbeit The Way You Look (At Me) Tonight zu sehen, die sie gemeinsam mit dem (inzwischen verstorbenen) Choreographen und Tänzer Jess Curtis 46 entwickelt und performt hat. Cunningham sitzt erhöht auf einer aufgestellten roten Klappleiter im hinteren Teil einer schwarzen Bühne mit großen Leinwänden an allen drei Sei‐ tenwänden, darauf sind Übertitel projiziert. Ein Lichtkegel ist auf Cunningham gerichtet, ihre stehenden Krücken hat sie am Boden zurückgelassen, von der Decke hängen bunte Schlingen als Teil des Bühnenbilds herunter. Jess Curtis ist im Vordergrund mittig mit dem Rücken zur Kamera im Dunklen zu sehen, den Blick hat er auf Cunningham gerichtet. Erkennbar ist im Bild auch, dass die Zuschauenden auf kreuz und quer verteilten Stühlen auf der Bühne sitzen. Außerdem gibt es Sitzkissen, die man sich nehmen kann und darüber hinaus die Möglichkeit, weiter hinten auf einen der üblichen Plätze im Saal Platz zu nehmen. Cunningham und Curtis bewegen sich in der Performance um die Zuschauenden herum, was die Bevorzugung einer Zentralperspektive des Publikums auflöst und in unzählige unterschiedliche partielle Perspektiven verwandelt. Die Zuschauenden haben freie Platzwahl, können also beim Eintritt in den Saal selbst entscheiden, ob sie gern auf der Bühne oder im Auditorium, auf einem Stuhl oder Sitzkissen Platz nehmen möchten. Zudem wird auch auf die Möglichkeit verwiesen, während der Vorstellung den Platz zu wechseln oder Un/ geteilte Räume 145 <?page no="146"?> 47 Siehe auch Ben Fletcher-Watson, „Relaxed performances: audiences with autism in mainstream theatre“, in: SJoP Volume 2 Issue 2 (2015), S.-61-89. eine Pause einzulegen. Die Performance ist damit als „relaxed performance“ 47 gerahmt, d. h. als Aufführungssetting, das bewusst Normen und Konventionen des disziplinierten Zuschauens außer Kraft setzt - in dem Zuschauende explizit rein- und rausgehen, Geräusche machen oder auch stehen, sitzen oder liegen dürfen. Abb. 1: The Way You Look (At Me) Tonight von Claire Cunningham und Jess Curtis; Copyright: Robbie Sweeny, Photograph courtesy of the artists. Barriereärmer ist die Performance außerdem durch die Projektion von Über‐ titeln auf den Leinwänden und einer, die Bewegungen beschreibenden, integ‐ rierten Audiodeskription, die teils vom Band, teils von den Performer*innen selbst gesprochen wird. Der Aufführungsraum und die Aufführungszeit werden somit personalisiert und flexibilisiert, - es ist ein ‚Theater ohne Zuspätgekom‐ mene‘, um noch einmal auf den Begriff von Umathum zurückzukommen. Un‐ vorhersehbare Barrieren können, so zumindest der dramaturgische Anspruch des Settings, vorgebeugt werden, zudem soll die intime Atmosphäre der beiden Performer*innen - das persönliche Begrüßen und der vermeintlich improvi‐ sierte, jederzeit für Unterbrechungen offene Ablauf der Performance - für einen 146 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="147"?> 48 Vgl. Kelly, „Building Bridges with accessible care“, a.a.O. 49 Ebd., S.-789. 50 Mia Mingus, „Access Intimacy: The Missing Link.“ https: / / leavingevidence.wordpress. com/ 2011/ 05/ 05/ access-intimacy-the-missing-link/ [Zugriff am: 31.01.2024] möglichst inklusiven Raum sorgen. Für die Accessibility der Aufführung geht es Cunningham daher nicht nur um die Beseitigung von physischen Barrieren, sondern auch um die Beziehung zwischen den Körpern im Raum und damit um das, was Kelly als Accessible Care 48 bezeichnet hat. Die Fragilität der Situation ist den Performer*innen bewusst, sie bewegen sich mit Achtsamkeit durch die Reihen, suchen Blickkontakt zu den Zuschauenden und beachten somit die „unstable tension“ 49 im Raum als Kontaktzone. Im Idealfall stellt sich dabei eine Atmosphäre und Verantwortung ein, die die Disability-Aktivistin und Bloggerin Mia Mingus „access intimacy“ genannt hat, nämlich: „that elusive, hard to describe feeling when someone else ‚gets‘ your access needs. The kind of eerie comfort that your disabled self feels with someone on a purely access level.“ 50 Auf der anderen Seite wird durch die spezifische Adressierung und Einbe‐ ziehung des Publikums mittels Accessible Care jedoch auch deutlich, dass Aufführungen wie diese eine spezifische Community ansprechen - es wird angenommen, „that they get it“, also dass das Publikum den Sinn dieser Drama‐ turgy of Access begreift und akzeptiert. Die geteilte Access Intimacy generiert damit zugleich die affektiv geteilte Raumzeit des Publikums. Hier versammelt sich aber nicht irgendein Publikum, sondern ein Publikum, das bestimmte Interessen und Ansprüche von Achtsamkeit und Fürsorge, von Accessible Care teilt und sich über diese geteilte Vorstellung als Community in situ konstituiert. Fürsorge und Achtsamkeit spiegeln sich in der konkreten Adressierung der Zuschauenden wider. So ist in der von mir verwendeten Videoaufzeichnung beispielsweise zu sehen, wie Claire Cunningham zur Begrüßung sacht die Hand auf die Schulter eines sitzenden Zuschauers legt, Jess Curtis steht ebenfalls sehr nahe an den Zuschauenden. Es sind diese kleinen Gesten und Kontakte, die die Atmosphäre von Achtsamkeit und Fürsorge, von Accessible Care inszenieren. Doch ist dieser Raum auch notwendigerweise inklusiv? Zumindest kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein inklusives Setting für einige auch in eine Art Exklusion umschlagen kann, etwa wenn sich einige Zuschauende gerade nicht mit angesprochen oder sogar unangenehm bedrängt fühlen. Der un/ geteilte Raum würde dann von einem irritierenden Gefühl ausgelöst, gerade nicht mit angesprochen zu sein, bzw. trotz oder vielleicht sogar gerade ‚aufgrund‘ der betont zugänglichen und intimen Adressierung nicht zur Community dazuzugehören. Un/ geteilte Räume 147 <?page no="148"?> 6. Dramaturgies of Access an der Universität Was bedeutet eine Dramaturgy of Access oder Accessible Care nun für den universitären Kontext und inwiefern lassen sich die dramaturgischen Überle‐ gungen auch auf akademische Veranstaltungen übertragen? Ich hatte oben bereits erwähnt, auf welche Weise Access Needs bzw. ein Access Rider auch in Bezug auf akademische Veranstaltungen relevant sein können und sich dramaturgisch auf die Strukturierung von Raum und Zeit einer Veranstaltung auswirken. Nach Price sind es dabei nicht allein die physisch-materiellen und architektonischen Bedingungen, die Barrieren für Menschen mit Behinderung darstellen, sondern insbesondere auch unsichtbare, situative Aspekte wie der hohe Anspruch akademischer, insbesondere auch spontaner Kommunikation an der Universität. Der Kairotic Space ist für nicht wenige Menschen, ob behindert oder nicht, eine Herausforderung, deren Stressfaktoren mit drama‐ turgischen Mitteln abgemildert werden kann. So macht es etwa in einem Hochschulseminar einen Unterschied, ob Diskussionen in der großen Runde oder in Kleingruppen durchführt werden; ob bei einer Vorlesung am Ende Fragen gestellt werden können oder bereits zwischendurch immer wieder Zeit für Verständnisfragen und Diskussionen eingeräumt wird. Auf der oben bereits erwähnten Tagung Independence and Collectivity haben wir uns aus diesem Grund dazu entschlossen, den Studierenden und Tagungsteilnehmenden die Möglichkeit zu geben, Fragen nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich über ein Online-Tool (Padlet) zu stellen, wobei dies ggf. auch anonym möglich war. Dies wurde besonders von Studierenden gelobt, von denen sich einige ansonsten nicht getraut hätten, in solch einem Tagungskontext überhaupt eine Frage zu stellen. Diese ‚dramaturgische‘ Maßnahme eines alternativen Q-and-A-Formats zeigt nebenbei, auf welche Weise Access nicht allein Menschen mit Behinderung zugutekommt, sondern insgesamt die Niedrigschwelligkeit und Zugänglichkeit erhöht. Ähnliches ließe sich auch von dem von uns neben dem Tagungsraum extra eingerichteten, und mit Liege- und Sitzmöglichkeiten ausgestatteten Ru‐ heraum sagen: Auch hier stellte sich heraus, dass der Raum bei weitem nicht nur von Teilnehmenden mit Behinderung aufgesucht wurde. So bekamen wir dies‐ bezüglich positives Feedback von unterschiedlichen Tagungsteilnehmer*innen mit und ohne Behinderung. Viele von ihnen begrüßten die Möglichkeit, sich in einer Pause für ein paar Minuten ausruhen zu können oder während der Veranstaltung eine kurze Auszeit zu nehmen. Der Tagungsraum selbst war, der Performance von Cunningham und Curtis nicht ganz unähnlich, mit Sitzsäcken und im Raum verteilten Stühlen und Tischen ausgestattet und ließ damit flexible Sitzmöglichkeiten zu. Zudem konnte man sich beim Empfangstisch 148 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="149"?> 51 Ein Stimming Toy ist nach dem englischsprachigen Wikpedia-Eintrag „typically a small object used for pleasant but purposeless activity with the hands (manual fidge‐ ting or stimming).“ https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Fidget_toy. [Zugriff am: 26.01.2023]. Stimming Toys können helfen Angstzustände, Frustration, Reizüberflutung, Zwänge oder Tics zu kontrollieren. Stimming Toys 51 aussuchen, die man während der Veranstaltung nutzen konnte. In Bezug auf den zeitlichen Ablauf der Tagung achteten wir, nicht zuletzt angeregt durch die Access Needs der Teilnehmenden, auf ausreichend lange Pausen - Kaffeepausen waren eine halbe Stunde, Mittagspausen zwei Stunden bemessen. Als Organisator*innen begannen wir die Einleitung der Tagung mit einer kurzen visuellen Selbstbeschreibung, was die meisten Vortragenden unaufgefordert übernahmen, zudem wurden von den meisten Vortragenden auch die verwendeten Abbildungen auf Folien beschrieben. Obschon womöglich keine einzige Blinde Person der Tagung beiwohnte, konnten die Zuhörenden von der ausführlichen Beschreibung profitieren, indem sich Vortragende und Publikum mehr Zeit für die Abbildungen nahmen. Anstelle von Untertiteln oder Gebärdensprache entschieden wir uns dazu, uns alle Vorträge bereits eine Woche vor der Tagung zuschicken zu lassen, um sie online über einen passwortgeschützten Bereich auf unserer Website zugänglich zu machen, sodass die Texte entweder vorher oder auch während der Veranstaltung (mit)gelesen werden konnten. Zudem wurden auch Fotos und Beschreibungen aller rele‐ vanten Orte und Wege der Tagung bereits vor der Tagung über einen auf der Website zugänglichen Access Guide bereitgestellt. Die Tagung wurde außerdem hybrid veranstaltet, sodass auch Interessierte und Teilnehmende, die nicht anreisen konnten, teilnehmen und sich an der Diskussion beteiligen konnten. Der Zoom-Zugang erfolgte ebenfalls niedrigschwellig über die Website. Die raumzeitliche Strukturierung der Tagung wurde damit insgesamt fle‐ xibilisiert gestaltet und im Hinblick auf diverse Möglichkeiten der Teilhabe und Partizipation diversifiziert. Das, was zur Aufführung gelangte - die Vor‐ träge und Diskussionen - konnte über die bereitgestellten Texte und das Online-Tool vorbereitet oder mitgelesen werden und war dadurch für die Rezeption des Publikums niedrigschwelliger. Durch die langen Pausen und Bildbeschreibungen wurde der Kairotic Space zudem insgesamt entschleunigt und dadurch barriereärmer gemacht. Die wenigen Beispiele der akademischen Tagung zeigen, dass Dramaturgies of Access durchaus in der Universität von Relevanz sein können und in vergleichbarer Weise auch für die universitäre Lehre in Betracht kommen. Diese Neuaufteilung und Umstrukturierung von Raum und Zeit ist insofern ‚dramaturgisch‘, als sie die räumliche Ordnung und zeitliche Spannungsbögen, die Rhythmen und Dynamiken institutionalisierter Un/ geteilte Räume 149 <?page no="150"?> 52 Bleeker, Doing Dramaturgy, S.-2. Handlungen (Vorträge halten, Q-and-A) in bewusster Weise und unter Berück‐ sichtigung von Accessible Care (Bleeker würde sagen einer Response-ability 52 ) neu komponiert. 7. Widerstände und Widersprüche Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen den Begriff der Kontaktzone ein‐ geführt, um darauf hinzuweisen, dass der sich vollziehende Kulturwandel nicht ohne Friktionen verläuft und gerade Institutionen wie Theater und Universitäten in dieser Hinsicht als Kontaktzonen betrachtet werden können, an denen Kulturen und Deutungsmuster miteinander in Konflikt geraten und neu ausgehandelt werden. In diesem Sinne sind auch Dramaturgies of Access als kul‐ turelle Praktiken zu betrachten, die mit einem ‚alten‘ Kanon an Konventionen, zeitlichen Abläufen und räumlichen Strukturen in Konflikt geraten. Nicht jeder Mensch nimmt gerne auf einem Bean Bag Platz und nicht jede*r Zuschauer*in ist gern im Rampenlicht auf der Bühne, statt im Dunkeln das Geschehen aus der Distanz zu betrachten. Die geschilderten Relaxed Performance-Settings haben den Vorteil, beide Positionen zuzulassen, denn es gibt ja nach wie vor die üblichen Stuhlreihen, auf denen man ebenso Platz nehmen kann. Trotzdem sorgen Relaxed Performances und die Möglichkeit sich umzusetzen, oder zwischendurch den Ruheraum aufzusuchen tendenziell für eine gewisse Unruhe, die zweifellos wenig mit jenem andächtigen abgedunkelten Auditorium einer Guckkastenbühne gemein hat. Gerade weil Gewohnheiten inkorporiert sind und sich die institutionalisierten Verhaltensweisen nur sehr langsam wandeln, kann bereits eine Flexibilisierung von Möglichkeiten für Menschen eine Herausforderung sein, zumal, wenn sie aufgrund von Privilegien nicht gewöhnt sind, sich einer neuen Umgebung anpassen zu müssen. Aber es gibt auch Widerstände und Widersprüche, die von den konkreten Maßnahmen selbst ausgehen, und dies möchte ich zum Abschluss kurz an drei Beispielen der genannten Tagung erläutern: Ein erster unerwarteter Kritikpunkt unserer Tagung kam von außen, und zwar von einigen Menschen mit Behinderung, die in Mainz wohnen und sich lokal für Barrierefreiheit engagieren: Sie waren am Thema des Symposiums interessiert, doch die Sprache hielt sie davon ab, zu unserer Veranstaltung zu kommen - die Tagung war auf Englisch. Eine Simultandolmetschkabine mit Dolmetscher*innen hätte mehrere tausend Euro gekostet und ließ sich auch in dem von uns gewählten Raum nur schwer installieren, was dazu führte, dass 150 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="151"?> wir Englischkenntnisse voraussetzen mussten. In der Welt wissenschaftlicher Konferenzen ist Englisch als Vortragssprache nichts Außergewöhnliches, doch mit einem sozialen Thema, das Interesse der lokalen Community weckte, hatten wir plötzlich ein potenziell nichtakademisches Publikum, bei dem man das Beherrschen einer Fremdsprache gerade nicht voraussetzen konnte. Es ist vielleicht bezeichnend, dass eine Veranstaltung, die international mit Spitzen‐ vertreter*innen der Disability Studies besetzt ist und sich um Barrierearmut bemüht, für eine der naheliegendsten Barrieren - zumindest für Menschen außerhalb des akademischen Betriebs - keine geeignete Lösung bereitstellte. Die Sprachbarriere ist aber auch das vielleicht offensichtlichste Beispiel dafür, dass sich eine Veranstaltung, sei es an der Universität oder im Theater, niemals für alle gleichermaßen zugänglich gestalten lässt, was sich im Theater und im Kino etwa an der schwierigen Frage zeigt, in welchen und wie vielen Sprachen etwa eine Untertitelung für den bestmöglichen Access angebracht sei. Ein zweites Problem unserer Tagungsdramaturgie betraf die zeitliche Anfor‐ derung der Einsendung von Vortragstexten eine Woche vor ihrer Premiere: Zwar kam die frühe Bereitstellung dem Publikum eindeutig entgegen, da so die Texte vorbereitet oder synchron mitgelesen werden konnten und damit auch die Sprachbarriere etwas gemindert werden konnte, andererseits stehen strenge Deadlines im Widerspruch zu den oben angestellten Überlegungen zu Crip Time und Crip Spacetime, nach denen die hier vorgestellten Dramaturgies of Access eigentlich zu einer zeitlichen Entzerrung und Entschleunigung führen sollen. Die Zurverfügungstellung der Texte mag so für die Rezipient*innen die Zugänglichkeit zwar erhöhen, für die Vortragenden erhöht sie indes den Zeit- und Leistungsdruck und nimmt ihnen damit auch eine zeitliche Flexibilität bei der Vorbereitung. Insbesondere die Unveränderbarkeit der Texte eine Woche vor der Tagung stellt dabei eine ungewohnte Herausforderung und damit auch eine zeitliche Barriere dar, die einen nicht unerheblichen Stress verursachen kann. Drittens führt die Vorgabe, die Texte auszuformulieren und die Bilder in den Präsentationen zu beschreiben in der Regel dazu, dass die Vorträge insgesamt textlastiger und damit insbesondere für ein sehendes Publikum nicht unbedingt zugänglicher werden. Gerade weil die Bildbeschreibungen erhebliche Zeit in Anspruch nehmen und tatsächlich auch das Potenzial haben, die Aufmerksam‐ keit auf manche ansonsten übersehene Details zu lenken, verzichten viele Vortragende, die sich an diese neue Konvention halten, eher auf Bilder und Visualisierungen, um mehr Inhalt in der vorgegebenen Zeit unterzubringen. Der Barriereabbau führt dann paradoxerweise zu einer tendenziell altmodischeren Un/ geteilte Räume 151 <?page no="152"?> 53 Umathum/ Deck, „Nachwort“, in: dies. (Hg.), Postdramaturgien, S.-367. Vortragsweise, einer Vorlesung im buchstäblichen Sinne, der sich unter Um‐ ständen auch schwerer folgen lässt. Die drei Beispiele sollen keine abschließende Kritik an den dramaturgischen Überlegungen darstellen, sondern vielmehr aufzeigen, dass bei einer Umstruk‐ turierung im Zeichen des Kulturwandels zwangsläufig auch neue Barrieren oder Widersprüche entstehen können. Insofern handelt es sich bei Dramaturgies of Access immer auch um „Explorationen anderer Möglichkeiten und Vorstel‐ lungen von Dramaturgie“ 53 , die erst in den Kontaktzonen unserer Gesellschaft erprobt und ausgehandelt werden müssen. 152 Benjamin Wihstutz (Mainz) <?page no="153"?> Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Lucy Wilkes und Paweł Duduś’ Performance Scores that shaped our friendship. Mirjam Kreuser (Mainz) Die 2021 zum Theatertreffen eingeladene Performance Scores that shaped our friendship ist die theatrale Fühlbar-Machung der Freundschaft der drei Performer*innen: der behinderten Schauspielerin und Tänzerin Lucy Wilke, dem queer-feministisch-migrantischen Performer Paweł Duduś und der Musikerin Kim Ramona Ranalter alias Kim Twiddle. Der Artikel untersucht in zwei Schritten, wie die Performance sich gängiger Narrative zu Queerness und Behinderung annimmt. Zu Beginn werden affektive Po‐ tenziale von Stereotypisierung und Marginalisierung herausgearbeitet und ihre Relevanz für gesellschaftliche Differenzierungsprozesse beleuchtet. Im Anschluss nimmt sich der Artikel der spezifischen Affekte des Theater‐ abends an und zeichnet nach, wie diese diametral zu sozialen normativen Skripten aufgebaut werden. Zentrale Themen sind die fluiden Grenzbe‐ reiche von Freundschaft und Erotik sowie das Spiel mit Zärtlichkeit und Zeitlichkeit als ‚crip time‘ und als utopisches Potenzial. 1. Einleitung „Paweł, bist du gemütlich? “, fragt die behinderte Performerin Lucy Wilke ihren Bühnenpartner. Der queere Tänzer Paweł Duduś hat den Kopf in Wilkes Schoß gebettet. Die beiden ruhen sich vor dem schwarzen Bühnenpodest aus, an dem auch Musikkünstlerin Kim Ramona Ranalter alias Kim Twiddle mit ihrem Musikequipment sitzt. Duduś atmet noch schwer von der körperlichen Anstrengung einer athletischen Tanzeinlage, die er gerade gezeigt hat, und hält Wilkes schmale Hand umschlossen, die auf seiner Brust ruht. Sein beherztes „Ja“ ist von einem loslassenden Ausatmen begleitet. Das Einfühlen und Einfinden in den Raum und in und mit dem Körper des jeweils anderen ist zentrales Thema der Performance Scores that shaped our friendship. <?page no="154"?> 1 Nachdem einen Monat später das Coronavirus auch Deutschland erreichte, wurde die Performance als Digitalaufführung zum Berliner Theatertreffen 2021 eingeladen und begab sich nach der Wiedereröffnung der deutschen Theater- und Festivalszene auf Live-Tour. Ich habe die Produktion sowohl digital beim Theatertreffen als auch zu einem späteren Zeitpunkt live auf dem Grenzenlos Kultur-Festival in Mainz gesehen. Der Mitschnitt, der auch beim Theatertreffen gezeigt wurde, wurde mir bei der Produktion dieses Textes dankenswerterweise von den Performer*innen zur erneuten Ansicht zur Verfügung gestellt. Ich danke Lucy Wilke und Paweł Duduś an dieser Stelle herzlich für ihre Arbeit und ihre Kooperation. 2 Kulturbüro Rat&Tat, „SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP. Team ‚Scores that shaped our friendship‘“, https: / / www.ratundtat-kulturbuero.de/ projekte/ scores-that-s haped-our-friendship-2/ [Zugriff am 19.12.2023]. 3 Vgl. Carrie Sandahl, „Queering the Crip or Cripping the Queer? Intersections of Queer and Crip Identities in Solo Autobiographical Performance“, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies Volume 9, Nummer-1-2 (2003), S.-25-56, hier S.-26f. Uraufgeführt wurde sie im Februar 2020 1 im freien Theater Schwere Reiter in München. Das Duo Wilke-Duduś lernte sich aber bereits 2017 bei der Pro‐ duktion Fucking Disabled unter der Leitung von David von Westfalen kennen. Nachdem Fucking Disabled bereits die intimen Themen von Sex und Begehren verhandelt hatte, gingen Wilke und Duduś in diesem ebenfalls intimen Abend ihrer persönlichen Beziehung auf den Grund. In der Selbstbeschreibung des Abends referieren die beiden implizit auf das Thema dieses Bandes, Staging Differences: Ihr Ziel sei es, in der Arbeit mit ihren Körpern und Biografien „auch die Stereotypen und normativen Wahrnehmungen in der Gesellschaft und Kultur heraus[zufordern], die alles, was anders ist, eifrig kennzeichnen, marginalisieren und diskriminieren.“ 2 Ein Staging von Differenzen vollzieht sich also in Ansicht der Performance zweifach. Die Gesellschaft stellt gerne als ‚anders‘ gekennzeichnete Körper aus, und die Performance setzt sich mit dieser Ausstellung kritisch auseinander und fordert diese Setzungen durch ein alternatives Staging ihrer Körper heraus. Die Kritik des Abends soll im Anschluss an Carrie Sandahl als ‚crip‘ und ‚queer‘ bezeichnet werden. Bei beiden Begriffen handelt es sich ursprünglich um pejorative Bezeichnungen für behinderte und nicht-heterosexuelle und -cisgeschlechtliche Personen - ‚cripple‘, zu dt. ‚Krüppel‘, und ‚queer‘, was ursprünglich so viel wie ‚schräg‘ meint -, die sich von kritischen Bewegungen wiederangeeignet und durch diese Selbstbestimmung aufgewertet wurden. 3 Des Weiteren liegt beiden Begriffen ein konstruktivistisches und nicht-essenti‐ alistisches Verständnis von Behinderung und Queerness zugrunde. Für Queer‐ ness hat Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter (1991) eindringlich gezeigt, dass unsere binäre Form des Geschlechtsverständnisses in gegensei‐ tigem erotischem und romantischem Bezug nur intelligibel wird, wenn es ein 154 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="155"?> 4 Siehe Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991. 5 Vgl. Dan Goodley, Disability Studies. An Interdisciplinary Introduction, Los Angeles u. a. 2011, S.-11f. 6 Vgl. Anne Waldschmidt, „Disability Studies: individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell von Behinderung? “, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 29, 1 (2005), S.-9-31, hier S.-27. abjektes Außen gibt, auf dessen Hintergrund die von ihr als Heteronormativität beschriebene ‚Normalität‘ erst konstituiert werden kann. 4 Für Behinderung bedeutet dieser Ansatz, dass diese keine inhärente Eigenschaft eines beein‐ trächtigten Körpers ist, sondern Lebensgemeinschaften ihrem Habitus, ihrer Infrastruktur etc. einen ‚normalisierten‘ nicht-behinderten Körper zugrunde legen, sodass infolgedessen beeinträchtigte Körper in ihrer Teilhabe behindert werden. Dieses sogenannte soziale Modell von Behinderung grenzt sich damit scharf von den Prämissen eines medizinischen Modells ab, das Behinderung als individuellen medizinischen Defizit-Zustand eines Körpers beschreibt. 5 Die deutsche Soziologin Anne Waldschmidt verweist im Rückbezug auf die oben genannte kennzeichnende und marginalisierende Gesellschaft darauf hin, dass Behinderung nicht nur Ausschluss aus der sozialen Sphäre, sondern auch aus der selbstbestimmten kulturellen Repräsentation bedeutet. 6 Ein Staging Differences kann also aktiv in die Behinderung bestimmter und die Normalisierung anderer Körper hineinspielen oder diese Prozesse offenlegen und konterkarieren. Für diesen Text möchte ich mich auf die Argumentation des Staging Diffe‐ rences von Scores that shaped our friendship einlassen und im ersten Schritt verschiedene ‚Scores‘ im Sinne von kulturellen Partituren beschreiben, die die Normalität bestimmter Körper prägen und die Darstellung anderer verhindern oder zwanghaft mit Stereotypen überziehen. Unter Rückbezug auf Arbeiten von Sara Ahmed und Ann Chetkovich zum Archiv und Affekten bzw. Emotionen entspinnt sich die Argumentation in der Kombination mit der Disability Scholar Alison Kafer auch als im Foucaultschen Sinne archivalisch, indem sie Denk‐ strukturen und Figurensätze beleuchtet, in denen Behinderung und Queerness in unserer Gesellschaft primär als Stereotype denkbar werden. In der anschließenden Analyse von Scores verfolge ich die Partituren, die das Stück diesen Grundannahmen entgegensetzt. Dabei wird der Fokus zunächst auf der Erzählung und Darstellung von Lust liegen und darauf, wie durch diesen Fokus soziale Beziehungen im Stück verwischt und veruneindeutigt werden. Daran anschließend folgt eine Reflexion, wie die Performance neben den Körpern auf der Bühne auch ihre Zeitlichkeit verhandelt. Final wird ein performativ-imaginatives Schlaglicht auf Formen der utopischen Potenzialität der Zukunft geworfen, wie es bei José Esteban Muñoz zu finden ist. Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 155 <?page no="156"?> 7 Zur Einbeziehung der Affekttheorie in die Aufführungsanalyse siehe Matthias Warstat, „Affekttheorie und das Subjektivismus-Problem in der Aufführungsanalyse“, in: Chris‐ topher Balme, Berenice Szymanski-Düll (Hg.): Methoden der Theaterwissenschaft, Tü‐ bingen 2020, S.-117-130. 8 Zum Einbezug qualitativer Sozialforschung als Ergänzung von phänomenologischer Aufführungsanalyse entwickelten Doris Kolesch und Theresa Schütz den Begriff der polyperspektivischen Wahrnehmung, siehe Doris Kolesch, Theresa Schütz, „Polyper‐ spektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse am Beispiel von SIGNAs Söhne & Söhne“, in: Benjamin Hoesch, Benjamin Wihstutz (Hg.): Neue Methoden der Theater‐ wissenschaft, Bielefeld 2020, S. 25-46. sowie Theresa Schütz, Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater, Berlin 2022. 9 Zur kritischen Reflexion des gängigen phänomenologischen Zugriffs auf die Auffüh‐ rung sind aus dem Kontext des Mainzer Instituts in den vergangenen zwei Jahren mehrere Publikationen hervorgegangen, siehe Yaël Koutouan, Machtspiele im Theater. Rassismus als Belief System, Baden-Baden 2022; Mirjam Kreuser, Crip-queere Körper. Eine kritische Phänomenologie des Theaters, Bielefeld 2023; Benjamin Wihstutz, „The future is accessible. Über Theater, Inklusion und Aufführungsanalyse“, in: Friedemann Kreuder, Matthias Warstat (Hg.), Zukunft der Aufführung. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Tübingen 2023, S.-147-164. 2. Scores that shape our normality - Partituren von Normalität und Devianz Der Abend begrüßt das Publikum in einem in warmes Licht getauchten Raum, der das Publikum zum Sitzen und Liegen auf gepolsterten Podesten einlädt. Im Zentrum des Bühnenraums, den sich Zuschauende und Performer*innen für die nächste Stunde teilen werden, räkeln sich die drei Performer*innen, Lucy Wilke, Paweł Duduś und Kim Twiddle gemeinsam auf ebenso weichen rosa Matratzen und weißem Kunstfell, die Blicke offen und erwartungsvoll auf die eintrudelnden Personen gerichtet. Die Performance nimmt das Publikum mit auf einen Ritt durch sieben Kapitel, die unterschiedliche Themenkomplexe von Wilkes und Duduś’ Beziehung zueinander und der ihrer Körper mit Raum- und Zeitkonstruktionen verhandeln. Soziale Skripte und ihre affektive Aufladung Das situationsspezifische Verhältnis von Körper, Raum und Zeit ist der theater‐ wissenschaftlichen Untersuchung insbesondere durch die phänomenologische Aufführungsanalyse zugänglich, die statt der Dechiffrierung von kulturellen Zeichen eher auf Wahrnehmung im und Wirkmächtigkeit von Theater als sozialem Körpergefüge abzielt. Diese bedient sich zunehmend auch an Ansätzen aus den Affect Studies 7 und der qualitativen sozialwissenschaftlichen Forschung 8 oder kritischen Reformulierungen der klassischen Phänomenologie. 9 156 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="157"?> 10 Sara Ahmed, Queer Phenomenology. Orientations, objects, others. Durham, London 2006, S.-9. 11 Vgl. ebd., S.-58 12 Siehe Adrienne Rich, „Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence“, in: Signs. Women: Sex and Sexuality, Vol. 5, No. 4 (1980), S.-631-660. 13 Vgl. Robert McRuer, Crip Theory. Cultural Signs of Queerness and Disability, New York, London 2006, S.-7-10. „Bodies do not dwell in spaces that are exterior but rather shaped by their dwellings and take shape by dwelling.“ 10 , schreibt die britische feministische Wissenschaftlerin Sara Ahmed in ihrer Queer Phenomenology (2006). Dieses relationale Verständnis der Raum-Körper-Beziehung, dem die klassische Phä‐ nomenologie Maurice Merleau-Pontys zugrunde liegt, dekonstruiert den Raum als Container und den Körper als materiell abgeschlossene Entität. Sie knüpft damit an die klassisch phänomenologische Unterscheidung des Körpers als Objekt und des Leibes als subjektivierende Einheit an. Ahmed verortet das Agens dieses Leibes jedoch nicht in dessen Subjekthaftigkeit, sondern in seiner Subjektivierung durch eine bereits bestehende Orientierung von Raum und Zeit. Körper und Umwelt konstituieren sich performativ und reziprok. Schwerpunkt von Ahmeds Ansatz ist der differenztheoretische Umgang mit dem zentralen Begriff der Orientierung. Wiederholte Orientierung hin auf bestimmte Objekte (hier lose als materielle Objekte, Personen, Lebensentwürfe etc. zu verstehen) bringen durch kulturelle (Re-)Produktion soziale Skripte hervor, die sich als körperlich-materielle und affektive Praxis am Körper ausagieren. 11 Gleich der Butlerschen Geschlechterperformanz verstehen sich Personen innerhalb dieser Skripte sowohl bereits als sozial differenzierte Menschen und werden durch die differenzierenden sozialen Skripte (re-)produktiv zeitgleich erst als differenziert hervorgebracht. Als Queer-Theoretikerin bezieht sich Ahmed hier insbesondere auf das von Adrienne Rich vorgebrachte Konzept der ‚compulsory heterosexua‐ lity‘ 12 . Es besagt, dass Körper, die sich anders als an den vorgegebenen hete‐ ronormativen Beziehungsmustern orientieren, ihre Subjekthaftigkeit und den dahingeworfenen Leib zwangsläufig als desorientiert und in Reibung mit der materiellen und affektiven Umgebung empfinden. Ähnliche Schlussfolgerungen lassen sich mittels des Parallelkonzepts der ‚compulsory abled-bodiedness‘ von Robert McRuer ziehen. Es meint, dass nicht-behinderte Körper als ‚normal‘ und behinderte Körper als ‚deviant‘ markiert würden und in dieser Markierung erst als soziale Kategorien entstünden. Die Markierung des nicht-behinderten Körpers wird im Zuge seines Normalisierungs- und Naturalisierungsprozesses unsichtbar gemacht. 13 Daraus resultiert, dass normative Skripts manchen Kör‐ pern unbewusste Entfaltung erlauben und andere in der Kollision mit den Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 157 <?page no="158"?> 14 Vgl. Lisa Guenther, „Critical Phenomenology“, in: Gail Weiss, Ann V. Murphy, Gayle Salamon (Hg.), 50 Concepts for a Critical Phenomenology, Illinois 2020, S. 11-16, hier S.-12. 15 Vgl. Waldschmidt, Disability Studies, S.-25-27. 16 Vgl. Rosemarie Garland Thomson, „Misfitting“, in: Gail Weiss, Ann V. Murphy, Gayle Salamon (Hg.), 50 Concepts for a Critical Phenomenology, Illinois 2020, S.-225-230, hier S.-226 17 Vgl. Jan Slaby, „Drei Haltungen der Affect Studies“, in: Larissa Pfaller, Basil Wiesse (Hg.), Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2018, S. 53-81, hier S.-73. 18 Ebd., S.-73f. 19 Zu einer Kritik an dieser trennscharfen Begriffsdifferenzierung siehe Matthew Ratcliffe, Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford 2008. 20 Vgl. Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh 2004, S.-44. 21 Ebd., S.-45. 22 Vgl. Sara Ahmed, The Promise of Happiness, Durham, London 2010, 17f. vorgegebenen Orientierungen auf ihre Leiblichkeit zurückwerfen. Behinderte und queere Körper werden durch normative Orientierungen damit als der ‚de‐ viante‘ Gegenpol eines naturalisierenden ‚Normalzustands‘ ausgelegt. Nicht nur ihre phänomenologische Behandlung wird als marginal vernachlässigt 14 , son‐ dern auch ihre kulturellen Auftritts- und Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt. 15 Diese konstitutive Differenzierung von ‚Normalität‘ und ‚Devianz‘ agiert sich phänomenal am Körper aus und kreiert je nach ‚Einpassung‘ des Körpers in normative Skripte einen positiven Affekt des Wohlfühlens oder einen negativen des Deplatziertseins. 16 In The Cultural Politics of Emotion (2004) beschreibt Ahmed, dass Affekte im performativen Vollzugsmoment von materiell-sozialer Differenzierung affektiv erfahrbar und als Emotionen und Orientierungen in Körpern und den sie umgebenden sozialen Skripten sedimentiert werden. 17 Damit entwickelt sie eine „geschickte differentielle Bestimmung von Affekt und Emotion“ 18 , wie Jan Slaby bemerkt: Ahmed reiht sich damit in die philosophische Denkrichtung ein, die dem Affekt eher die leibliche Erfahrung und der Emotion die kognitive Bewertung derselben zuordnet. 19 Während Affekte zunächst einmal die phäno‐ menale Erfahrung von Umwelt beschreiben, zirkulieren Emotionen als Attribute für bestimmte Objekte und Orientierungen in der affektiven Ökonomie der Sozialität, „whereby feelings take us across different levels of signification, not all of which can be admitted in the present“ 20 . Die kulturelle Signifikanz - hier von ‚normal‘ und ‚deviant‘ - wird in den Worten Ahmeds „sticky“ 21 , sie verhaftet bestimmte Emotionen als Wertung mit bestimmten Körpern und ihrer Proximität und Orientierung zu bestimmten Objekten. Dadurch entstehen unter anderem kulturelle Figuren bzw. Stereotype 22 , deren Analyse als Marker 158 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="159"?> 23 Vgl. Waldschmidt, Disability Studies, S.-25. 24 Vgl. Ahmed, The Promise of Happiness, S.-89, 91-95. 25 Jack Halberstam, In a ‚Queer Time‘ and Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York, London 2005, S. 5f., vgl. Alison Kafer, Feminist, Queer, Crip, Bloomington 2013, S.-34f. 26 Ebd., S.-2, 43. 27 Vgl. Robert McRuer, Crip times. Disability, Globalization, and Resistance, New York 2018, S.-58. von Kategorisierungsprozessen Konstrukte von ‚Normalität‘ durch Eigen- und Fremdmarkierung offenlegen kann. 23 „A vast archive of feelings“: Affektive Begrenzungen und Potenziale Scores spielt mit diesen kulturellen Figuren und Stereotypen, die den auf der Bühne präsenten Körpern zugeschrieben werden, insbesondere durch ihre Abwesenheit. Ein bekannter Stereotyp ist laut Sara Ahmed bspw. die Figur des ‚unhappy queers‘: die nicht-heterosexuelle Person, die in einem nach normativen Set‐ zungen geleiteten Leben nicht glücklich sein kann, da ihre Queerness dort nicht ohne Abwertung ausgelebt werden kann. Glück wird hierbei an der Akquise von festem Lebens- oder Ehepartner, familiärer Reproduktion und ökonomischem Erfolg gemessen 24 innerhalb dessen, was man angelehnt an Jack Halberstams Konzept der ‚queer time‘ als ‚straight time‘ bezeichnen könnte. ‚Straight time‘ meint den als normal angenommenen Zeitrahmen, biografische Meilensteine zu erreichen. 25 Wie Alison Kafer in ihrem Buch Feminist Queer Crip (2013) zeigt, schließt ‚straight time‘ nicht nur queere Personen aus und zwingt ihre Repräsentation in eine negativ behaftete Figur. Auch behinderte Personen, die nicht normativen Leistungs- und Akquisemustern entsprechen können, werden ausgeschlossen. Eine typische kulturelle Imagination des behinderten Individuums ist daher die des bemitleidenswerten, nostalgischen Körpers, der leidvoll seiner Erlösung entgegenschaut („better dead than disabled“ 26 ) oder heroisch die Behinderung überwindet und so wieder in einem ‚straight time and place‘ (Halberstam) Platz findet. 27 Diese Figuren gelten in den Systemen der ‚compulsory heterosexuality‘ und ‚abled bodiedness‘ als intelligibel, weil sie sich als Abjektes oder Transformierbares den Dominanzpositionen einfügen lassen, die Normalität und positive Affekte mit der dominanten Position verbinden und andere zwangsläufig mit der negativen. Diese Zwangssysteme sind archivalisch im Foucaultschen Sinne: eine Architektur des diskursiven Rahmens und eine Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 159 <?page no="160"?> 28 Vgl. Michel Foucault, „Das historische Apriori und das Archiv“, in: Knut Ebling, Stefan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S.-107-112, hier S.-110f. 29 Vgl. Ahmed, The Promise of Happiness, S.-106. Auch für Deutschland darf Gewalt gegen queere und behinderte Menschen neben positiven Auswirkungen von Repräsentationspolitiken in den Medien nicht unerwähnt bleiben. So verzeichnete das Bundeskriminalamt für das Jahr 2022 einen Anstieg von queerfeindlichen Hasstaten um mehr als 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. (vgl. Bundesinnenministerium, Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022. Bundesweite Fallzahlen, Berlin 2023, S. 10). Die Anzahl behindertenfeindlicher Straftaten sank in diesem Jahr zwar, jedoch arbeitet seit demselben Jahr die journalistische Initiative #Ableismustoetet, gefördert von der deutschen Behindertenrechtsorganisation Abili‐ tyWatch e. V., Gewalttaten gegen behinderte Personen, insbesondere in Fürsorgekon‐ texten auf. Ausgelöst wurde dieses Projekt durch den Vierfachmord einer Pflegerin in einem Wohnheim in Brandenburg. (Vgl. https: / / ableismus.de/ toetet/ de [Zugriff am 22.12.2023]). 30 Vgl. Waldschmidt, Disability Studies, S.-27. 31 Kafer, Feminist, Queer, Crip, S.-45. 32 Siehe Ann Chetkovich, An Archive of Feelings. Trauma, Sexuality, and Lesbian Public Cultures, Durham, London 2003. Begrenzung des darin Sag- und Denkbaren. 28 Ein crip-queeres Archiv versucht sich in einer Sammlung von Ideen und Artefakten, zu denen auch Theater und Performance gehören, aus diesen archivalischen Zwangssystemen zu lösen und selbstbestimmte Archive aufzubauen. Inwiefern negative Affekte darin Platz finden, die an Stereotype und Marginalisierungserfahrung gekoppelt sind, wird heftig diskutiert. Ahmed verteidigt die Überpräsenz der unglücklichen Figuren in ihrer Arbeit mit Verweis auf reale Problematiken, mit denen die empirischen Personen, die sich mit diesen Figuren (dis-)identifizieren können, weiterhin im Alltag konfrontiert würden. 29 Dass die einfältige Repräsentation von behinderten und queeren Menschen jedoch auch problematisch ist, insinu‐ iert Anne Waldschmidt als Wirkungsmechanismus eines kulturellen Modells von Behinderung, das besonders den Ausschluss von kultureller Repräsentation als behindernden Mechanismus ausweist. 30 Folglich kann weder Ziel sein, unglückliche queere oder behinderte Figuren völlig zu negieren, noch ihren Narrativen gänzlich das Feld zu überlassen und diese zu den einzig intelligiblen Figuren verkommen zu lassen, die „supported by the drive toward normalcy and normalization“ 31 sind. Zentrales Werk über queere Archivalien ist Ann Chetkovichs An Archive of Feelings (2003). 32 Chetkovich negiert den negativen Affekt nicht, sie bejaht ihn sogar im Trauma, dem Thema des Buches. Negative Affekte sollen dabei aber keine normalisierende Funktion übernehmen, wie Chetkovich schreibt, sondern als Einstieg dienen in ein „vast archive of feelings, 160 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="161"?> 33 Ebd., S.-7. 34 Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, S.-165. 35 Tobin Siebers, „A Sexual Culture for Disabled People“, in Robert McRuer, Anna Mollow (Hg.), Sex and Disability, Durham, London 2012, S.-37-53, hier S.-38f. the many forms of love, rage, intimacy, grief, shame, and more that are part of the vibrancy of queer [and crip] cultures.“ 33 Scores kann als kulturelles Produkt betrachtet werden, das sich der Zwangs‐ systeme annimmt, sich ihrer bedient und sie aber auch abstößt. Es baut ein eigenes affektives und affizierendes Archiv, zum einen durch die Präsenz behinderter und queerer Körper auf der Bühne, zum anderen durch die ‚vibrancy‘ des Spiels mit diesen repräsentativen Stereotypen, die vor allen Dingen durch ihre Abwesenheit glänzen. Ihre Leerstelle zeigt zunächst die Erwartungshaltungen auf, die oftmals behinderten und nicht-heterosexuellen Performer*innen entgegengebracht werden, sich innerhalb der ‚compulsory heterosexuality‘ und ‚abled bodiedness‘ zu identifizieren und subjektiviert zu werden. In Scores entsteht ein utopisches Potenzial in der Leerstelle, die die Stereotype hinterlassen. Die Performance präsentiert behinderte und queere Körper, wie in der nachfolgenden Analyse gezeigt werden soll, als crip und queer: affektiv vielfältig in ihrer Selbstwahrnehmung und in ihrer Orientierung zueinander hin. Obwohl der Abend auch Raum für schmerzhafte Erfahrungen lässt, begegnen sich Wilke und Duduś doch primär als liebe- und lustvolle Körper. Die damit hier geschilderten unglücklichen kulturellen Figuren werden konterkariert von einer Vielfalt an affektivem Potenzial und emotionalem Ausdruck zweier präsent erfahrbarer crip-queerer Körper. 3. My body, our pleasure - Queere Lust in Scores Werden Räume so gestaltet, dass sich Körper, die von sozialen Skripten ei‐ gentlich getrennt werden, zueinander hin öffnen können, entsteht in deren nicht-normativer Orientierung eine Form der Lust, die Ahmed als dezidiert queer bezeichnet: „Queer pleasure puts bodies into contact that have been kept apart by the scripts of compulsory heterosexuality.“ 34 Auch behinderte Körper werden von diesen Skripten zur Sexualität ausgeschlossen, denn „the ability to have sex and […] the ideology of ability determines the value of some sexual practices and ideas over others.“ 35 Für die Realisierung von solchen Räumen innerhalb einer nach sozialen Skripten organisierten Gesellschaft bietet sich das Theater, wie Benjamin Wihstutz es nennt, in seiner paradoxen Topologie an: Das Theater kann als Außerhalb innerhalb der Gesellschaft fungieren, ein Ort, den Wihstutz mit Michel Foucault als Heterotopie bezeichnet. Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 161 <?page no="162"?> 36 Benjamin Wihstutz, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegen‐ wartstheater, Zürich, Berlin 2012, S.-86. 37 Vgl. Sandahl, „Queering the Crip“, S.-39, 44f. Als ‚tatsächlich verwirklichte Utopie‘ markiert der Raum der Heterotopie einen ‚Ort außerhalb aller Orte‘, der dennoch lokalisierbar und begehbar bleibt, der aufgrund seines paradoxen Außen innerhalb einer Gesellschaft andere Gesetzmäßigkeiten einführt und damit gewissermaßen ein diesseitiges Jenseits konstruiert. 36 In crip-queeren Performances werden Darstellungen realisiert, die sich an Formen der Normativität und Normalität abarbeiten und die spielerische Bloß‐ stellung dieser Konstrukte zurück in den tatsächlich von ihnen organisierten öffentlichen Raum zurückspielen, wie Carrie Sandahl feststellt. In Performances von behinderten und queeren Künstler*innen besteht deshalb die Parallele in Bezug auf Sexualität, sodass in beiden Fällen die Subjektivität des lustvollen und Lust bereitenden Subjekts zentrale Themen sind. 37 Diese Form des crip-queeren Kontakts wäre dann nicht im Ahmedschen Sinne ‚sticky‘, mit zirkulierender kul‐ tureller Signifikanz beladen, sondern ‚sticky‘ im Sinne der zu Beginn erwähnten erschöpfenden Tanzeinlage von Duduś für Wilke aus Kapitel 6 der Performance, die er „sweet and sticky lullaby“ nennt, klebrig, süß und lustvoll. Touch is a language we both speak very well: Berührung und Intimität Insbesondere Kapitel 1: My Body und Kapitel 2: Survival of the fittest sind von dieser queeren Lust geprägt. Lucy Wilke und Paweł Duduś sitzen zu Beginn des Abends beide in unmittelbarer Nähe im Schneidersitz, nachdem Kim Ramona Ranalter sich an ihr DJ*-Podium verabschiedet hat. In die Stille des Raumes hinein ertönen die Stimmen der Performer*innen als Einspieler: Sie beschreiben die Bewegungen ihrer Körper, während sie diese dazu synchron ausführen. Langsam bewegen sie Köpfe und Nacken, streicheln mit den Händen langsam und sanft ihre Extremitäten. Im Moment des Zusammenfindens ihrer Hände setzt die ätherische Soundscape ein. Nach der Liebkosung ihrer eigenen Stirn fällt Wilkes Hand zurück auf den Untergrund - die Einspieler sind plötzlich nicht mehr synchron mit den Bewegungen, sondern beschreiben nachträglich: „Meine linke Hand ist runtergefallen.“ Ihre eigenen Stimmen in der Vergangenheit zurücklassend, widmen sich die beiden nun dem Körper der*des jeweils anderen. Nachdem sie sich gegenseitig Gewicht gebend voneinander weg haben fallen lassen, streckt Duduś seine Beine parallel aus und zieht Wilke auf Augenhöhe zu sich heran. Die beiden liebkosen Haar und Gesicht des jeweils anderen, ihre Blicke fest ineinander verschränkt. Der Tanzwissenschaftler Gerko Egert kontextualisiert Berührung als ein reaching-towards, als körperliche Handlung 162 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="163"?> 38 Vgl. Gerko Egert, Berührungen. Bewegung, Relation und Affekt im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2016, S.-45. 39 Vgl. Ahmed, Queer Phenomenology, S.-53. voller Potenzialität, die während ihres gesamten Vollzuges die Potenzialität eines Noch-nicht-Gewordenen und Werdenden des Kontakts beschreibt. 38 Da‐ durch kann Berührung in ihrem performativen Vollzug erst vollständig ihr intimes, potenziell grenzüberschreitendes Potenzial ins Leben rufen: Egert stellt dabei die Frage, ob es ein Streicheln ohne ein Schlagen gibt und ob nicht durch ihre gemeinsame Anlage unterschiedlich codierte Berührung möglich wird. In Falle von Scores spielt die Performance im ersten Kapitel besonders mit diesem Potenzial als Kommunikationsform. Duduś sagt im Voice-Over während des zärtlichen Pas de deux: „Touch is a language we both speak very well. But in German, I make mistakes.“ Ihre Bewegungen realisieren also nicht nur ein affektives, sondern auch ein kommunikatives Beisammensein, das sich über trennscharf differenzierende Grenzen wie eine gemeinsame Sprache in der Kommunikation hinwegsetzt und vorsprachlich ihre Zuneigung zueinander ohne Worte auszudrücken vermag. Wilke ordnet das präsente, kommunikative Potenzial ihres Körpers in der Soundscape folgendermaßen ein: I can feel my body from the inside. It’s a vibrant, iridescent feeling. As if the boundaries of my body were not clearly defined but cloudily defused. Sometimes a part of me is less present than the rest. For example, I forget that I have a right hand. Then I like it when you press or pinch it. Ihre Worte in Verbindung mit der zur Schau gestellten Zärtlichkeit der beiden Performer*innen illustrieren, dass die beiden Körper auf der Bühne keine von‐ einander unabhängigen Entitäten sind, sondern in ihrer körperlichen Relation zu Raum, Zeit und anderen erst entstehen. 39 Sie kommunizieren mit Blicken und mit Berührungen ihrer Körper und werden zeitgleich auch erst durch die Berührung Körper - Lucy Wilke vergisst, dass sie eine Hand hat, Paweł Duduś bringt sie durch Druck oder Zwicken in ihre körperliche Wahrnehmung zurück, durch die Berührung wird der Körper zum Leib. Liegend verschmelzen die beiden Körper zu einer Einheit. Duduś hebt vorsichtig Wilkes Beine und verschränkt sie seitlich mit seinen eigenen, während er ihren Oberkörper und ihr Gesicht an seinen Brustkorb heranzieht. Mit einer Hand um ihre Schulter und eine um ihre Knie geschlungen, stemmt und verschiebt der Tänzer ihre Körper mit langsamen Bewegungen. Ihre Bewegung werde zu einer „independent creature, a breathing animal with many arms and legs“, sagt Wilkes Stimme aus dem Off. Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 163 <?page no="164"?> 40 Vgl. Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, S. 165. Ahmeds Beispiel ist hier beispiels‐ weise die Anhängerschaft eines lokalen Fußballvereins, die durch ihre Stimmung in den Straßen eine ganze Stadt affizieren kann. 41 Ebd., S.-165. 42 Zur Zeugenschaft des Publikums im Theater siehe Benjamin Wihstutz, „Zeuge des Unsichtbaren: Tim Etchells’ Theater der Einbildung“, in: Gertrud Koch, Kirsten Maar, Abb. 1: „A living, breathing animal“, Wilke und Duduś im ersten Kapitel „My Body“. ©Theresa Scheitzenhammer Doch nicht nur der Bewegungskörper dieser Kreatur, sondern auch ihr eigener gebe ihr „pleasure“, in der Hinöffnung zu Duduś’ Körper. In der Bewegung lasse sie sich fallen, jedoch nicht in die Passivität, sondern in die Präsenz. Während Paweł sie beide bewegt, blickt Wilke offen nach vorne, in Richtung des ebenfalls sitzenden oder liegenden Publikums. Als Duduś sie auf seinen Brustkorb bettet und sanft mit den Händen ihre Füße führt, ist sie es, die den Raum durch die Präsenz ihrer Blicke einnimmt, während Duduś nur Augen für sie hat. Wilkes Beschreibung der Verknüpfung von Lust und Präsenz findet sich auch bei Ahmed wieder, die festhält, dass Lust und Freude in besonderer Art und Weise den Körper zum Raum hin öffnen und so affektives Potenzial für andere Körper entfalten. 40 Dabei ermögliche Lust nicht nur die Beanspruchung eines Raumes, sondern auch das Einfordern einer Zugehörigkeit in diesen Raum: „Spaces are claimed through enjoyment, an enjoyment that is returned by being witnessed by others.“ 41 , in diesem Fall auf der Bühne durch Duduś’ Zugewandt‐ heit und durch das Bezeugen der theatralen Zuschauer*innengemeinschaft. 42 164 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="165"?> Fiona McGovern (Hg.), Imaginäre Medialität, Immaterielle Medien, München 2012, S.-203-216. 43 Vgl. Mirjam Kreuser, Crip-queere Körper. Eine kritische Phänomenologie des Theaters, Bielefeld 2023, S.-96-98. 44 Vgl. Ben Fletcher-Watson, „Relaxed Performance: Audiences with Autism in Main‐ stream Theatre“, in: The Scottish Journal of Performance, Volume 2, Issue 2 (2015), S.-61-89, hier S.-62-64. Diese bezeugt die Intimität von Wilke und Duduś nicht nur durch ihre Anwe‐ senheit, sondern nimmt auch aktiv daran teil. Der Zuschauerraum ist wie die Bühne mit rosafarbenen Matratzen ausgelegt, sodass die Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum gleichermaßen fließend ist. Diese Ausstattung erlaubt es den Zuschauer*innen, sich selbst auf weichen Sitzmöglichkeiten zu fläzen und bequeme - auch liegende - Positionen einzunehmen. Die Präsenz der Bühnenkörper wird dadurch insbesondere kommunikativ verstärkt, da die Performer*innen die vierte Wand überschreiten, indem sie beispielsweise Blickkontakt nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Publikum zulassen. Diese intime Form des Kontakts überträgt sich vom Geschehen zwischen den Darsteller*innen auf die Begegnung mit dem Publikum. Die Anordnung trennt auch die Zuschauer*innen weniger strikt voneinander als ein traditionell angeordneter Theaterraum, sodass auch Bekannte und Freund*innen durch Nähe in Kontakt gehen können oder sich durch Distanz anderweitig zueinander verhalten. Ziel dieser Kontrastierung von normativen Skripten und Darstellungen ist aber nicht der Schock oder die Provokation des Publikums. 43 Vielmehr lädt Scores dazu ein, das Wohlfühlen und die Intimität in einem öffentlichen Raum wie dem Live-Theater zu reflektieren und zu spüren, sowie die Affekte und Emotionen, die unser soziales Miteinander regulieren, auf ihre Funktionalität für unsere spezifischen Körper hin zu prüfen und zugunsten unseres eigenen Lustprinzips auszusetzen. Scores ist als ‚relaxed performance‘ ausgewiesen, ein Stil der Aufführung, der Rearrangement der Körper im Raum zulässt und begrüßt, um das raum-zeitliche Arrangement des Theaters den Körpern anzupassen, die es besuchen, und nicht andersherum. 44 Scores zwischen Freundschaft und Erotik: Unschärfe der Beziehungskonstellationen Diese Lust an der präsenten Verschmelzung mit dem Körper des anderen ist trotz der Möglichkeit, den als männlich gelesenen Tänzer und die als weiblich gelesene Tänzerin als gegengeschlechtliche Teile einer Sexualbeziehung zu interpretieren, als queere Beziehung lesbar. Zum einen steht ihre gemeinsame Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 165 <?page no="166"?> 45 Zur genaueren Einordnung des philosophischen Freundschaftskonzept in Relation zu Erotik und Platonik und dessen Auflösung im zeitgenössischen Kontext siehe Svenja Wirtz, Freundschaft, Berlin, Boston 2020. 46 Robinou, Queer Communal Kinship Now! , Goleta 2023, S.-30. 47 Vgl. ebd., 44f. 48 Vgl. ebd., S.-55-58. 49 Vgl. ebd., 66 f. 50 Vgl. Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha, Care Work. Dreaming Disability Justice, Vancouver 2018, 33f. körperliche Auseinandersetzung diametral zum im Titel erwähnten, eigentlich alltäglich als nicht-sexuell verstandenen Freundschaftskonzept. 45 Zum anderen spielen die beiden mit verschiedenen Gesten, die unterschiedlichen sozialen Beziehungsformen zugeordnet werden könnten. Während das vierte Kapitel des Abends mit leidenschaftlichen Küssen von Lucy Wilke und Paweł Duduś beschlossen wird, befragt er sie im fünften, A Tribute to Tinder, nach ihrem jetzigen Datingleben, das sich auf diversen Online-Plattformen abzuspielen scheint. Ihre Beziehung wandelt auf einem Pfad, der nicht eindeutig sexuell oder freundschaftlich-platonisch ist, sondern zeichnet sich primär durch unter‐ schiedlich codierte Intimität aus. In seiner*ihrer Streitschrift Queer Communal Kinship Now! (2023) weist der*die Wissenschaftler*in Robinou in Berufung auf David M. Halperin darauf hin, dass Sexualität jedoch ebenfalls ein kulturelles Konstrukt ist. Dieses ist „the appropriation of the human body and of it’s physiological capacities by an ideological discourse“ 46 und dementsprechend ebenso mit sozialen Skripten zum ‚glücklichen‘ heteronormativen Leben und der sexuellen Reproduktion durch die westliche Kleinfamilie beladen. 47 Das dyadische gegengeschlechtliche Paar sei zwar inzwischen als einziger Nukleus der Intimität ins Wanken geraten, bleibe aber in seiner vorgegebenen Orientie‐ rung für viele Lebenswelten erhalten. 48 Eine Erotisierung von Freundschaft, die gerade nicht der sexuellen Reproduktion dient, ist deshalb ein queerer politischer Akt, der in Scores als heterotopem Raum ausgelebt wird und befähigt, soziale Rollen und ihre Orientierung nicht nur zu hinterfragen, sondern auch neue Netze und Distributionsysteme von Affekt, Fürsorge und Zeit zu schaffen. 49 Diese Wegorientierung von der Kernfamilie als Reorientierung auf neue Für‐ sorgenetzwerke hin sind nicht nur ein queeres, sondern auch ein crippes Anliegen, denn auch für behinderte Personen kann eine Neugestaltung von Zuneigungs- und Carebeziehungen relevant sein, um sich von medizinischer Betreuungssituation und Abhängigkeit von einer wie auch immer gearteten Kernfamilie zu befreien. 50 Scores sieht abseits des Titels nie die Notwendigkeit, die privaten Beziehungen von Wilke, Duduś und Ranalter als soziale Rollen näher zu definieren. Statt‐ 166 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="167"?> dessen spielen sie mit der Uneindeutigkeit ihrer intimen Beziehung und manöv‐ rieren so soziale Rollenbilder aus. Im zweiten Kapitel werden figurative Skripte auf metaphorische Weise mit einer Wildtieranalogie umgedeutet. Gerade der Gedanke der Passivität wird in diesem Kapitel als etwas sehr Lustvolles inten‐ siviert. Paweł Duduś hat eines der rosa gepolsterten Podeste zu majestätischer Orchestermusik erklommen und räkelt sich in raubtierhafter Manier auf seiner erhöhten Position. Lucy Wilke, nun durch ein bereits vorher präpariertes Mikrofon live sprechend, beschreibt ihn als Puma, auf der Jagd nach einer - „weak, physically immobilized and cute“ - Antilope. Der Puma stürzt sich von seinem Aussichtspunkt herab und fragt: „How do you want me to rip you apart? “ Wilke als die Antilope möchte jedoch nur überrascht werden und hofft auf eine wilde, aufregende Jagd. Duduś beugt sich über sie und beißt sie in Beine und Ober‐ körper, schüttelt ihren Körper in seinem Biss und hinterlässt sogar Abdrücke mit seinem Speichel auf ihrem Körper. Wilke quittiert diese Bisse mit vorsichtigen Ausrufen und scharfem Ausatmen und Stöhnen. Die Bewegungskonstellation ist auch hier wieder die des Bewegens und Bewegtwerdens, jedoch nun mit einer eindeutig erotischen Komponente des Besitzens und Einverleibens, das aber sowohl von Jäger als auch Opfer genossen wird. Die Berührung realisiert hier zugleich ihr intimes und grenzüberschreitendes, gewaltsames Potenzial, das aber in konsensuellem Konsum von beiden Partner*innen genossen wird. Das Lustprinzip dieses animalischen Spiels steht im Vordergrund, seine Erotik liegt aber gerade darin, dass hier zwei imaginierte Tierkörper aufeinandertreffen, die eigentlich von keiner reziproken Lust verbunden werden sollten - der Jäger und seine Beute. Durch die Uminterpretation dieses Narrativs werden die Figuren in queerer Weise umgedeutet, anstatt dass Angst sie voneinander wegorientiert, zieht die gemeinsame Lust an Destruktion sie entgegen dem figurativen Skript an. 4. ‚Crip time‘ und utopische Imagination: Zeit und Utopie in Scores Scores arbeitet sich jedoch nicht nur an heteronormativen Beziehungskonstel‐ lationen ab, sondern reflektiert auch normative Formen der Zeitlichkeit, die von einem nicht-behinderten Leistungsparadigma geprägt sind. Im Anschluss an Jack Halberstams Dichotomie der ‚straight time‘ und ‚queer time‘ entwickelt Alison Kafer die Idee der ‚crip time‘. ‚Crip time‘ meint dabei allerdings nicht nur die Zeit, die behinderte Personen (länger als nicht-behinderte) benötigen, um ihren Alltag zu bewältigen, sondern die Reimagination normativer Zeit als flexible, verschiedene Körper und Geisteszustände berücksichtigende und Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 167 <?page no="168"?> 51 Kafer, Feminist, Queer, Crip, S.-27. 52 Elena Backhausen, Benjamin Wihstutz, Noa Winter, „Introduction: Out of Time or the Unpredictability of Disability“, in: dies. (Hg.), Out of Time? Temporality in Disability Performance, London, New York 2023, S.-1-10, hier S.-6. 53 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004, S.-240. integrierende Zeit und Zeitorganisation, „a challenge to normative and normal‐ izing expectations of pace and scheduling.“ 51 Zeit und Zeitlichkeit sind Teil der Materialität der Theateraufführung. Auch Scores nutzt zeitliche Einheiten zur Gliederung des Abends, besonders präsent in der Einteilung in Kapitel, die mit bestimmten Bewegungsabläufen und inhaltlichen Auseinandersetzungen gekoppelt sind. Theater ist als Kunstform besonders affin für das Konzept der ‚crip time‘, denn the performing arts are especially connected to temporal structures and temporal dramaturgies because they happen in real time and are usually presented live. Performing in crip time can undermine temporal norms and structures of theatre as well as it can be perceived as a performance ‚out of time‘ - for both performers and spectators, 52 so schreiben Elena Backhausen, Benjamin Wihstutz und Noa Winter in der Einleitung zum Sammelband Out of Time. Temporality of Disability Perfor‐ mance. (2023), der Beiträge zur Zeitlichkeit und Zukünftigkeit von Disability Performances sammelt. Erika Fischer-Lichte spricht im Kontext von Zeit und Rhythmus in der Aufführung von einem „wechselseitigen ‚Einschwingen‘ in den Rhythmus anderer“ 53 , sowohl durch die Performer*innen als auch die Zuschauer*innen, was die Entstehung von Zeitlichkeit durch die reziproken Einwirkungen von Körpern und Objekten aufeinander ebenfalls betont. Scores bringt mittels seiner eingängigen musikalischen Gestaltung, die die Kapitel durch Musik in sich abschließt, und der räumlichen Nähe zu den Performer*innen und ihren Bewegungen einen affizierenden Rhythmus hervor. Zeit wird aber nicht nur in ihrem Erleben, sondern auch in ihrer inhaltlichen Verhandlung präsent. Cripping time, enjoying your patience Mit der Setzung, lieber die Zeit aus den Fugen zu bringen, anstatt Körper ihr an- und einzupassen, spielt die Performance am deutlichsten in Chapter 4: Stretching time, testing your patience. Nachdem Kim Ramona Ranalter das Kapitel angesagt hat, spielt sie das unerbittlich forttickende Geräusch einer Uhr oder eines Metronomzeigers ein. Lucy Wilke beginnt, laut zu zählen, kümmert sich jedoch weder um den Schlag noch zählt sie in temporalen Messeinheiten. 168 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="169"?> 54 Vgl. Kafer, Feminist, Queer, Crip, S.-39. 55 Ellen Samuels, „Six Ways of Looking at ‚crip time‘“, in: Disability Studies Quarterly, Vol. 37 No. 3 (2017), o.A. Sie wirft ihre Zahlen in unterschiedlichen Frequenzen ein und verweigert sich der Einfügung in den Rhythmus der Uhr und gibt stattdessen ihren eigenen vor. Zwischen dem stetigen Ticken und Wilkes spontaneren Zählausbrüchen zieht Paweł Duduś die auf dem Boden liegende Lucy Wilke um und trägt sie zu ihrem elektrischen Rollstuhl, der am Bühnenrand neben einer Kleiderstange mit weiteren Outfits wartet. Er schwingt sich ebenfalls in Wilkes Rhythmus ein und übergeht den Soundeinspieler ebenfalls: Am Rollstuhl angekommen, folgt er Wilkes Anweisungen, beispielsweise sie anzuschnallen oder die Ellbogenstütze ihres Rollstuhls herunterzuklappen, während sie ihn, mit der Hand auf den Kopf gestützt, dabei beobachtet. Eine der Anweisungen fordert ihn dazu auf, ihre rechte Hand zu massieren, mit der sie den Schalthebel des Rollstuhls bedient. Er kommt der Bitte nach, und das ‚Vergessen und Wiederbeleben‘ der Hand als lustvolle Erfahrung hängt in der Luft. Alison Kafer betont, dass das Ziel der ‚crip time‘ nicht sein könne, behinderte Körper wieder möglichst schnell möglichst produktiv zu machen. Sie fragt, wie man Raum dafür schaffen könne, behinderte Praktiken der (Selbst-)Fürsorge nicht als Präservation eines leistungsfähigen Körpers zu verstehen, sondern Lust im ‚bending the clock‘ zu finden. 54 Lucy Wilke und Paweł Duduś reaktivieren nicht nur die Erinnerung an ihr lustvolles Beisammensein im ersten Kapitel, sondern beginnen, sich auf den Mund zu küssen, plötzlich wieder synchronisiert mit dem drakonischen Ticken im Hintergrund. Plötzlich, scheinbar ‚on time‘, nutzen sie die Zeit aber für Zärtlichkeit, wodurch die Zeit davor nicht etwa ein Vorbereiten von Lucy Wilkes behindertem Körper für die nächste Szene ist, die sich unmittelbar anschließt, sondern ein Akt der Intimität. Durch das erneute Zusammenwirken der Performer*innen-Körper produziert die Performance zwei konkurrierende Zeitlichkeiten, eine rigide Rhythmisierung im Sound und eine flexible in der Bühneninteraktion - eine ‚straight time‘ und eine ‚crip time‘. ‚Crip time‘ wird in der Literatur oftmals als das positive, lustbereitende Phänomen besprochen, an dem meine Darstellung sich hier zunächst auch orientiert hat. Ellen Samuels, prominente Figur der Disability Studies, trägt in ihrem non-fiktionalen Essay „Six Ways of Looking at Crip Time“ (2017) jedoch auch andere Gedanken vor, „the less appealing aspects of ‚crip time‘, that are harder to see as liberatory, more challenging to find a way to celebrate.“ 55 . Dazu gehören gebrochene zeitliche Rhythmen durch Trauer oder Krankheit. Chapter 5: A Tribute to Tinder lässt neben ‚crip time as grief time‘, wie Samuels es nennt, auch die Option von ‚crip time as angry time‘ entstehen. Nachdem Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 169 <?page no="170"?> 56 Vgl. Anna Mollow, „Is Sex Disability? Queer Theory and the Disability Drive“, in: Robert McRuer, Anna Mollow (Hg.), Sex and Disability, Durham, London 2012, S. 285-312, hier S.-286. Paweł Lucy nach ihrem Datingleben gefragt hat, berichtet sie zunächst von den Online-Singlebörsen, die sie frequentiert. Sie beschließt diese Erzählung über ihr Single-Leben jedoch mit dem Satz, den sie besonders häufig in Datingkontexten zu hören bekomme: „You have such a pretty face. But…“ Nachdem der Abend die erotische Fähigkeit der beiden Körper auf der Bühne immer wieder auf affektive Weise demonstriert hat, wird Wilke durch dieses Zitat wieder auf das soziale Skript zurückgeworfen, das die Performance unterläuft und das bis dahin nur indirekt in seiner Ablehnung thematisiert hatte: die Desexualisierung (und zeitgleiche Übersexualisierung) von insbesondere behinderten Frauen. 56 Kim Twiddle greift den Satz unmittelbar in der Soundscape auf, unterlegt mit einem pulsierenden Beat, der das „but…but…but“ immer wieder wiederholt und den Satz verzerrt. Zu diesem aufwühlenden Score überzieht Paweł Duduś Lucy Wilkes ‚pretty face‘ mit einem Nylonstrumpf und zeichnet mit dicker Schminke ihre Gesichtszüge wie Augen und Mund nach. Er beginnt den Strumpf zu be‐ wegen, sodass sich die aufgemalten Gesichtszüge verziehen und die Assoziation entsteht, er würde Lucy Wilkes Haut und nicht das Nylongewebe verzerren. Als der musikalische Höhepunkt erreicht ist, zieht er den Strumpf ruckartig herunter - die Schminke hat auf Wilkes Gesicht zarte farbige Schimmer wie verlaufenes Make-up hinterlassen, der aber zugleich ihre Augen betont und deren Blauton hervorhebt. In dieser Sequenz hat die Musik einen mitreißenden Rhythmus aufgebaut, dem sich die Körper auf der Bühne diesmal nicht entziehen können und in dem sie sogar in gewaltsamer Weise mitschwingen, wie es das Bild des verzerrten Gesichts durch den Strumpf hervorruft. 170 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="171"?> Abb. 2: „You have such a pretty face… but“. ©Martina Marini Misterioso Die Entscheidung, den eigentlich intimen und lustvollen Abend mit dieser ableistischen Erfahrung zu füllen, kann aber im Anschluss an Ellen Samuels ebenso als Form der ‚crip time‘ verstanden werden. ‚Crip time‘ kann auch bedeuten, der Be- und Verarbeitung einer behindertenfeindlichen Aussage Zeit und Raum zu geben, weil sie Teil der behinderten Erfahrung ist und es damit zu einer affektiven Verhandlung von Behinderung gehört, sie an sich fressen zu lassen und darüber zu toben. Szenisch wird auch hier das Verhältnis von zeitlichem und musikalischem Rhythmus verknüpft, doch im Gegensatz zu Kapitel 4 kontrastiert die Taktung der Bühnenhandlung nicht den musikalischen Rhythmus. Vielmehr wird die Handlung von ihm und dem immer wiederhallenden Satz getrieben, der durch seine Wiederholung - sowohl im Bühnengeschehen als auch, wie erzählt wird, in Wilkes Erfahrung - aus der Vergangenheit in das präsente Geschehen auf der Bühne eingreift. Wenn auch ihr Abschluss nicht unbedingt als zelebrierend und feiernd gelten kann, wie Samuels es andeutet, so bringt Lucy Wilkes geschminktes Gesicht, das unter der Strumpfmaske wieder auftaucht, doch zumindest eine veränderte Version ihrer Selbst zurück. Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 171 <?page no="172"?> 57 Wihstutz, Der andere Raum, S.-88. 58 Jose Esteban Muñoz, Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York 2009, S.-1. 59 Ebd., S.-22. 60 Ebd., S.-21. 61 Vgl. ebd., S.-28. The house on the horizon: Utopische Horizonte und Zukünftigkeit Dass der Satz „You have such a pretty face, but…“ aus der erzählten vergan‐ genen Zeit in das präsentische Bühnengeschehen eingreift, ist Ergebnis der Verflechtung von verschiedenen Zeitlichkeiten im Theater. Benjamin Wihstutz attribuiert diese Verflechtung als Spezifikum des Theaters als Heterotopie, das in der Parallelisierung von verschiedenen Zeitlichkeiten - der Realzeit des Theaterbesuchs, jener der Bühnenhandlung, der Erinnerung an vergangene Ereignisse bzw. ihre Reimagination etc. - Erfahrungen von Sprunghaftigkeit und Reibung in der zeitlichen Erfahrung bringen kann. Er resümiert, dass die Heterotopie des Theaters auch als eine Art Resonanzraum beschrieben werden [kann], der imstande ist, ganz unterschiedliche Zeiten des subjektiven und kulturellen Gedächtnisses mitschwingen und nachhallen zu lassen. 57 Diese Lesart des Theaters als Heterotopie fügt sich gut zusammen mit den Gedanken des Queertheoretikers José Esteban Muñoz zur queeren Utopie und deren Performativität. Muñoz reflektiert über Queerness als „not yet there“. 58 Diese, wie er selbst feststellt, etwas polemische Aussage negiert nicht die Exis‐ tenz von nicht-heterosexuellen oder nicht-cisgeschlechtlichen Personen, son‐ dern entwirft Queerness als Konzept, dessen Existenz am Horizont utopisches Potenzial in die Gegenwart zurückstrahlt, sodass in präsentischen Handlungen nach seiner Realisierung gestrebt wird. Die Imagination von Queerness am phänomenologischen Horizont erfordere eine Ausrichtung der Wahrnehmung auf dieses Potenzial, „we may need to squint, to strain our vision and force it to see otherwise, beyond the limited vista of the here and now.“ 59 Queerness kann sich folglich nicht nur mit „the pragmatic sphere of the here and now, the hollow nature of the present“ 60 beschäftigen, sondern erfordert eine ontologische Konstruktion von Raum und Zeit, die verschiedene Zeitlichkeiten - Vergangen‐ heit wie Zukünftigkeit - mit einschließt und so, insbesondere künstlerisch, Arbeit entwickeln kann, deren Verlauf und Ausrichtung von einem utopischen Potenzial einer angestrebten queeren Zukunft motiviert wird. 61 Alison Kafer beschreibt ihre Vorstellungen für eine ‚crip future‘ in Verweis auf Muñoz ebenfalls als queer, als Zukünftigkeit, die nach utopischem Potenzial strebe, nach „possibility, unpredictability, promise: the promise of recognizing crip where 172 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="173"?> 62 Kafer, Feminist, Queer, Crip, S.-46. 63 Vgl. Sandahl, „Queering the Crip“, S.-37. 64 Vgl. Muñoz, Cruising Utopia, S.-28. 65 Kafer, Feminist, Queer, Crip, S.-43. I did not expect to find it, the possibility of watching ‚crip‘ change meanings before my eyes“. 62 Queere und crippe Utopien bedeuten also zum einen die Imagination einer Zukunft, in der Queerness und Behinderung abseits der so‐ zialen Skripte gelebt und abseits von stereotypen Figuren repräsentiert werden können, doch das Streben nach dieser Potenzialität kann sich im Alltag bereits durch Konterkarierung und Ausstellung von Normen zeigen. 63 So werden in der utopischen Imagination des heterotopischen Theaters vergangene und zukünftige Potenziale reaktiviert und imaginiert, um die Gegenwart auf der einen Seite zu kritisieren und sie auf der anderen Seite aktiv umzuschreiben. 64 Daraus ergibt sich das von Wihstutz beschriebene komplexe Zusammenspiel von Zeitlichkeiten, das genau diese Potenziale realisiert. Die Performance wird mit der sehr konkreten Imagination eines utopischen Horizonts beschlossen. Die Performer*innen sind in der Position angekommen, mit der dieser Text begonnen wurde: Paweł Duduś’ Kopf ruht auf Lucy Wilkes Oberkörper, er hält ihre Hand. In dieser Position werden sie auch für das gesamte Kapitel verbleiben, denn die Szene entfaltet sich zur Gänze in ihrer imaginierenden Erzählung. Sie imaginieren, gemeinsam aufzustehen, den Saal zu verlassen und über ein großes Haus am Ende der Straße zu springen. Man müsse sich dazu nur leichte Gedanken machen und sich nach einem langen Anlauf kräftig vom Boden abstoßen. Sie zählen laut die Schritte bis zum Absprung: „1…2…3! “ Das Licht erlischt. In dieser Imagination der unmittelbaren Zukunft wird ein utopisches Ver‐ sprechen durch die Erzählung eingelöst. Eine neue Welt wird imaginiert, stellvertretend durch das große Haus am Ende der Straße, zu dem man sich aber „mit leichten Gedanken“ hinaufschwingen kann. Lucy Wilkes Narration, aufzustehen und ihren Rollstuhl zurückzulassen, wirkt durch dieses utopische, vielmehr unrealistische Szenario für egal welchen menschlichen Körper, nicht wie der Ausdruck eines nostalgischen Verlangens nach einem Körper, der aufstehen kann. Diese Projektion einer Nostalgie gehört für Alison Kafer zu der Trope des Behindertenkörpers, der in der Trauer um den „lost and longed-for body“ 65 eigentlich eine Form der Hypernormativität performt. Stattdessen bedient Scores in den verschiedenen Kapiteln weiterhin das Spiel mit verschie‐ denen Zeitlichkeiten, die sowohl Vergangenheit als auch Zukunft verwenden, um die Gegenwart zu verfremden und die Zukunft zu imaginieren. José Esteban Muñoz schreibt: Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 173 <?page no="174"?> 66 Muñoz, Cruising Utopia, S.-129. Utopian performativity is often fueled by the past. The past, or at least narratives of the past, enable utopian imaginings of another time and place that is not yet here but nonetheless functions as a doing for futurity, a conjuring of both future and past to critique presentness. 66 In ihrem Gedankenspiel entwerfen die beiden eine Zukunft, in der Unmögliches - wie über ein Haus zu springen - möglich wird, indem man es (durch leichte Gedanken) denkt. Diese Zukunft ist nicht mehr geleitet von Normalisierungs- und Stigmatisierungsprozessen. Sie ist von der Denkbarkeit von etwas bisher Nicht-Imaginiertem motiviert, das am Horizont wartet, wenn man seine Wahr‐ nehmung nur darauf ausrichtet. 5. Fazit: Wir sind schön Aus einer Sozialität, die durch die Systeme der ‚compulsory heterosexuality‘ und ‚abled-bodiedness‘ durchwirkt ist, ergeben sich verschiedene (ästhetische) Partituren und Figuren von behinderten und nicht-heterosexuellen Personen, die sich des Intelligibitätsmechanismus dieser Systeme bedienen und so ihre Normalisierung aufrechterhalten. Mit diesen wird in Scores gespielt. Das Staging Differences, das Lucy Wilke und Paweł Duduś betreiben, wirft gängige affektive Zuordnungen über den Haufen. Durch die Betonung von Lust und flexibler Zeit‐ lichkeit auf der einen Seite und das Zulassen von schmerzhaften Erfahrungen auf der anderen Seite kreieren sie eine vibrierende (Selbst-)Darstellung, die sich sozialen Rollen entzieht und emotional stabilisierte Grenzen affektiv verwischt. Durch die Destabilisierung normativer Konzepte entdecken die beiden neuen Wege, ‚difference zu stagen‘, indem sie mit der Materialität des Theaters, insbesondere dem Körper und der Zeitlichkeit, spielen und das imaginative Potenzial zur Entwicklung utopischer Ideen nutzen. Dass ihr Ziel dabei nicht Provokation des Publikums, sondern die Explora‐ tion des eigenen und des anderen Körpers ist, zeigt sich in der radikalen Intimität, die der Abend vertritt: Das Publikum begegnet den Darsteller*innen im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe, auf den rosa Matratzen liegend im öffentlichen Theaterraum (oder während des pandemischen Streams im privaten Zuhause). Die Performer*innen erschaffen einen Raum, in dem sich ihre und Zuschauer*innen-Körper auf ungewohnte Art und Weise zueinander hin öffnen können. Sie schreiben: „Gemeinsam legen wir den Schwerpunkt auf die Verkörperung - die atypische Verkörperung. Wir verkörpern unsere 174 Mirjam Kreuser (Mainz) <?page no="175"?> 67 Lucy Wilke, Paweł Duduś, Kim Ramona Ranalter, zit. nach Kulturbüro Rat&Tat, „SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP. Team ‚Scores that shaped our friend‐ ship‘“, https: / / www.ratundtat-kulturbuero.de/ projekte/ scores-that-shaped-our-friends hip-2/ [Zugriff am 19.12.2023]. Erinnerungen, unsere Träume und Wünsche. Wir verkörpern Schönheit. Wir sind schön.“ 67 Crip-queere Affekte, Zeitlichkeit und Utopie in Scores that shaped our friendship. 175 <?page no="177"?> III Neuerfindung und Neujustierung <?page no="179"?> Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Marina Oteros Fuck Me Elena Backhausen (Mainz) Der Artikel analysiert anhand der Tanz-Performance Fuck Me die Potenz‐ iale des Spiels mit der eigenen Identität und der Ambivalenz zwischen Authentizität und Illusion. In Fuck Me simuliert Marina Otero eine lang‐ anhaltende körperliche Behinderung, die auf einen Tanzunfall zurückzu‐ führen sei, und enthüllt erst am Ende der Performance die Inszenierung ihrer Versehrtheit, die in Wirklichkeit einige Jahre zurückliegt und schon länger nicht mehr besteht. Die (Selbst)-Darstellung von identitätspolitisch sensiblen Themen wie Behinderung, die im Rollenspiel des Theaters als Cripping Up verurteilt wird, erlaubt es im Kontext der Performance, Vergänglichkeit, Konstruktion, Nicht-Linearität und den Glauben an die Fiktion zu verhandeln. Fuck Me schafft durch ein vorübergehendes Crip‐ ping Up des Selbst Identität als Differenzerfahrung und ermöglicht einen Blick auf deren Konstruktionscharakter. Vor dem Hintergrund der Kritik an Repräsentationen marginalisierter Gruppen sollen die Potenziale des Biodramas herausgestellt werden, indem das Spiel mit dem Eigenen auf die Konstruktion von Identität und Glauben verweisen kann, ohne durch Imitation anderer Identitäten Praktiken der Aneignung zu vollziehen. Die argentinische Tänzerin und Choreografin Marina Otero befasst sich in der Performance Fuck Me mit dem Verlust von Attraktivität, Jugend, sexuellem Begehren und der für ihre Arbeit als Tänzerin notwendigen Beweglichkeit ihres eigenen Körpers. In der autobiografischen Arbeit erzählt sie die Geschichte ihres Tanzunfalls, dessen Folgen einer Wirbelsäulenverletzung zu einem steifen Körper führten, mit dem Otero nun auf der Bühne steht. Die dokumentarische Tanz-Performance spielt hierbei bewusst mit den Ambivalenzen zwischen Authentizität und Dokumentation und ihren antagonistischen Dimensionen der Illusion und Fiktion. Fragen nach Identität und deren Konstruktionscharakter entstehen in Fuck Me vor allem durch das überraschende Ende, als Otero nach einer 70-minütigen Darbietung eines steifen Körpers plötzlich agil und <?page no="180"?> 1 Begleittext Fuck Me. 2 Dazu zählen beispielsweise Praktiken wie das Black Facing oder Cripping Up und entsprechendes Queering Up. Obschon letzteres bisher nicht als fester Begriff etabliert ist, spiegelt es im Wesentlichen den Begriff des Cripping Ups entsprechend einer ausdauernd über die Bühne rennt. Differenz wird somit über das bewusste Spiel mit der eigenen Identität hergestellt, indem die bereits vergangene Behinderung des eigenen Körpers aufrechterhalten und in die Selbstnarration des — von Otero selbst bezeichneten — Biodramas verstrickt bleibt. Die entrückte Temporalität, das ‚Nicht-Mehr‘ der körperlichen Behinderung und die erst im Nachhinein offenbarte Illusion einer - durch das Genre der Tanz-Performance erwarteten - Authentizität, ermöglichen, auf die Konstruktion von Identität und den Glauben an diese hinzuweisen, ohne durch ein Rollenspiel in die Fallen identitätspoliti‐ scher Kritik an falscher Repräsentation zu tappen. Otero beschreibt in einem Begleittext zu Fuck Me ihren künstlerischen Umgang mit eigenen Verletzungen als Möglichkeit notwendiger Distanzierung: Sergio Blanco, Franco-Uruguayan dramaturgist, whom I admire, says ‚del trauma a la trama‘ (from trauma to plot). I could warp the quote: ‚From trauma to plot and from drama to transformation.‘ I don't think the work heals us, but when we write we name, so in the search to poetize the pain we distance ourselves, therefore, that pain becomes more bearable. Rimbaud said ‚I is another one‘; to understand the world you need to know yourself, and to know oneself it is necessary to assume an outside vision. 1 Oteros choreografische Arbeit zielt somit in doppelter Weise auf eine (Selbst)-Betrachtung ihres Lebens, die zum einen im Prozess des Schreibens eine Distanz bemüht, zum anderen in dem konkreten Blick von außen statt‐ findet, weshalb sie die meiste Zeit der Performance vom vorderen Rand der Bühne aus die Performance, die von fünf Tänzern aufgeführt wird, betrachtet und kommentiert. Doch wieviel Distanz, wieviel (temporales) Entrücken, Be‐ trachten, Umschreiben und Verändern des Eigenen, mithin wieviel künstlerische Umformung ist im Rahmen welcher konkreten Narrationen über das Selbst angesichts allgegenwärtiger performativer Selbstinszenierungen und identitäts‐ politischer Debatten überhaupt noch zeitgemäß? Welche Erwartungen und Authentizitätsansprüche haben wir als Zuschauende an Performances, die mit autobiografischem Material arbeiten? Konkret gesprochen: Inwiefern ist das Vortäuschen, das Rollenspiel margi‐ nalisierter Identitäten von selbst nicht (mehr) betroffenen Schauspieler*innen so in Verruf geraten, 2 dass eine nicht authentische Darstellung von Behinderung in einer auf Dokumentation basierten Tanz-Performance überraschen kann? 180 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="181"?> begriffsimmanenten kritischen Perspektive auf das Rollenspiel nicht-queerer Schau‐ spieler*innen in queeren Figuren wider. 3 Cripping Up beschreibt die Praxis nicht-behinderter Schauspieler*innen, Rollen von Menschen mit Behinderung zu spielen (und oftmals dafür besondere Anerkennung und Würdigung zu erhalten) und ist im letzten Jahrzehnt zunehmend in die Kritik geraten. Gerade vor der sich gegenwärtig spannenden Folie identitätspolitischer Debatten verdichtet sich die Kritik an mangelnder Diversität und einer nicht authentischen, marginalisierte Gruppen exkludierenden Repräsentation der Gesellschaft sowie an der Homogenität von Schauspielensembles. 4 Die Möglichkeit der Überraschung möchte ich nicht allein der im Verlauf des Arti‐ kels herausgestellten Fähigkeit des Glaubens allein zuschreiben, sondern auch einer kontingenten Diskursivität, in der ich mich als Theaterwissenschaftlerin mit einem Forschungsschwerpunkt in den Disability Studies verorte. 5 Eine Kritik am Cripping Up verübt beispielsweise der Theaterkritiker Georg Kasch in seinem Artikel Bloß nicht auffallen! auf dem Internetportal Nachtkritik. https: / / nachtkr itik.de/ recherche-debatte/ cripping-up-was-problematisch-daran-ist-wenn-schauspiele r-ohne-behinderung-rollen-mit-behinderung-spielen. 2018, [Zugriff am 29.01.2024]. 6 Marina Otero, Fuck Me (UA: 2020, Produktion: Marina Otero. Koproduktion: Internati‐ onal Festival of Buenos Aires, R: Marina Otero, besucht am 15.06.2023). Inwiefern trug gerade die Enthüllung der Illusion dazu bei, die eigenen Vorstel‐ lungen und normativen Zuschreibungen von Behinderung zu hinterfragen, ohne dass durch ein Rollenspiel und die damit verbundene Praxis des Cripping Ups stereotype Annahmen reproduziert werden? 3 Welche affektiven Reaktionen erzeugte Fuck Me, als meine durch Sehgewohnheiten und Diskurse entstan‐ denen kontingenten Erwartungen irritiert wurden? 4 Diesen Fragen folgend soll der Beitrag im Gegensatz zu einer undifferenzierten Verurteilung des Cripping Ups verhandeln, 5 auf welche Weise das Spiel mit Authentizität und Illusion im Kontext von Identitäten die Möglichkeiten des theatralen Raums nutzen kann, um deren stetige Ambivalenz spürbar werden zu lassen und das Theater als Ort des Glaubens auszuweisen. Anhand der Performance Fuck Me möchte ich mithin analysieren, inwiefern die Vermischung von Fiktion und realen Einflüssen bei identitätspolitisch sensiblen Themen - wie im Falle von Fuck Me Behinderung - ermöglicht, an die Konstruktion, Prozessualität, Temporalität und entsprechende Situativität von Behinderung zu erinnern. What will I be able to provide now? A dancer with a rigid, tired body tolerating the tragedy of living. What the fuck am I going to do to be interesting? A biodrama? 6 Mit diesen konfliktweisenden Fragen, die den Kern eines Narzissmus treffend existentiell erscheinen, sieht sich Otero nach einer langwierigen Wirbelsäulen‐ verletzung scheinbar gegenwärtig - und explizit in Fuck Me - konfrontiert: Was kann sie nun, im Angesicht der von ihr deklarierten Tragödie des Lebens, dem körperlichen Verfall, als körperlich behinderte Tänzerin noch bieten, um Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 181 <?page no="182"?> 7 Die Verwendung des Begriffs Narzissmus erfolgt unter Berücksichtigung seiner ubi‐ quitären Präsenz in der Alltagssprache. Es sei darauf hingewiesen, dass der Terminus eine weite Bandbreite semantischer Nuancen aufweist und im gesellschaftlichen Dis‐ kurs divergente Konnotationen erfahren hat. Ich habe den Begriff von Otero selbst übernommen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Antipsychiatrie-Bewegung, die eine kritische Reflexion über psychopathologische Konzepte befürwortet, sollte der Begriff Narzissmus als Teil dieser Untersuchung mit Bedacht verwendet werden und eine Sensibilität gegenüber divergierenden Perspektiven wahren. 8 Fuck Me. interessant zu sein? Dass sich Otero hierbei nicht primär um die Befriedigung rezeptiver Schaulust sorgt, sondern um das Versiegen ihrer persönlichen Quelle der Gefallsucht sowie um den Bühnenraum als Ort ostentativer Selbstdarstel‐ lung bangt, wird im Laufe der Performance unter anderem durch Oteros Selbst‐ bezeichnungen als narzisstische Person deutlich spürbar; 7 spätestens als Otero verlauten lässt, dass sie anderen Menschen nicht nur gefallen will, sondern vor allem auf deren Liebe, die sie sich selbst nicht geben kann, angewiesen ist: „Look at me! I’m stiff. And not because I’m stoned. This is pure tension due to the effort of wanting to please. All I want is to be loved, because I don’t love myself.“ 8 Fuck Me bietet sich dabei selbst als Antwort auf die von der Tänzerin im Laufe der Performance gestellte Frage an: „What the fuck am I going to do to be interesting? A biodrama? “ sollte hier nicht Oteros anschließend zynische Frage, sondern - wie ich in diesem Artikel begründen möchte - bereits ihre tatsächliche Antwort sein. Biodrama: ein Spiel mit Authentizität und Illusion Fuck Me kann als Biodrama bezeichnet werden, als dokumentarische Erzäh‐ lung eigener Traumata im gleichzeitigen Versuch deren Transformation. Mit Fuck Me baut Otero eine Choreografie um zwei zentrale Erzählstränge ihres Lebens, die sich dezidiert mit Körperlichkeit auseinandersetzen: das physische Zugrunderichten ihres Tänzerinnenkörpers und die Tücken ihres dominanten Geltungsdrangs, der Otero bislang von inniger Verbundenheit abseits körperli‐ chen Begehrens abhielt. Ihre Arbeiten im Allgemeinen subsumiert Otero unter dem Genre der Autofiktion, dem diese Performance in Form eines Biodramas entsprechend Ausdruck verleiht: ‚If I try to remember myself I make up‘ said Serge Doubrosky [sic! ], a French writer who coined the term Autofiction in the late 70s, to define a type of narrative that proposes a cross between the real story of the author's life and a fictional story. Although my works start from the biography, there is no truth pact with the biography 182 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="183"?> 9 Begleittext Fuck Me. 10 Zu den Verschränkungen von Autobiografie und Fiktion siehe: Paul de Man, „Autobi‐ ographie als Maskenspiel“, in: Christoph Menke (Hg.), Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt-a.-M. 1993, S.-131-146. 11 Nikolaus Müller-Schöll, „(Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illusion“, in: Henri Schoenma‐ kers et al. (Hg.), Theater und Medien. Grundlagen-Analysen-Perspektiven. Eine Bestands‐ aufnahme, Bielefeld 2008, S.-453. 12 Die Begriffe der Autofiktion und des Biodramas haben zwar andere semantische Facetten, erstrecken sich aber in einem allgemeinen Panorama, das die Mischung aus Authentizität und Fiktion einfängt. since in some way ‚to remembering is to retouch‘. But there is a pact with my memory, the images eroded by time poeticize and deform ‚the real‘. 9 Gerade die sich in der Autofiktion vereinende paradoxal anmutende Kraft der dokumentarischen ‚Poetisierung‘ des Selbst nutzt ihre Uneindeutigkeit zur Vergegenwärtigung der Konstruktion, eines möglichen Wandelns und der Diskursivität von Identität. 10 Otero streift mit ihren Worten ein zentrales Span‐ nungsverhältnis von Theater, das zwischen Illusion und Realität oszillierend immer auf die Konstruktion ihres Gegenspielers verweist. Diese Gedanken finden sich bei Kant präzisiert, denen zufolge Illusion den einzigen Zugang zur Wirklichkeit bilde und somit zu der Erkenntnis, Wirklichkeit nie ohne ihre simultane Verkennung erkennen zu können. Nikolaus Müller-Schöll schreibt hierzu: „Illusion kann paradox als ‚notwendiger‘ oder ‚objektiver Schein‘ begriffen werden, als Verkennung der Wirklichkeit, die zugleich den einzig möglichen Zugang zu ihr darstellt.“ 11 Das Biodrama, als eine Form der Autofiktion, 12 und dessen immanente Ver‐ flechtung von Dokumentation und Fiktion, ohne dabei eine Rolle zu spielen oder je von jemand anderem zu erzählen als von sich selbst, regt zu einem kritischen Nachdenken über die Glaubwürdigkeit von Identitäten und Performances an. Wann ist das mir Präsentierte wahr und authentisch und wann nur ‚Theater‘, nur Fiktion? Und inwiefern wird etwas unauthentisch, nur weil es situativ nicht wahr, aber in der Vergangenheit einmal wahr gewesen ist? Die Stärke des Bezeugens von Vergangenem liegt ja gerade in der Fähigkeit, „Geschichte und Wirklichkeit zu fiktionalisieren sowie Verstellungen und Lügen des Alltags zu Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 183 <?page no="184"?> 13 Benjamin Wihstutz, „Bezeugen, verstellen, lügen, entlarven. Über Theater, Politik und Zeugenschaft“, in: Zeynep Tuna et al. (Hg.), Bezeugen. Mediale, forensische und kulturelle Praktiken der Zeugenschaft, Berlin 2022, S.-83. 14 In Bezug auf Fuck Me lässt sich konstatieren, dass Otero den Anspruch erhebt, ihre eigene, vergangene Geschichte ihres Tanzunfalls zu bezeugen. Deswegen lässt sich mit dem Konzept der Zeugenschaft als Bestandteil des künstlerischen Ausdrucks vor allem die zeitliche Dimension der Performance beleuchten. Insbesondere die ‚entrückte Temporalität‘ ihrer Behinderung im Sinne eines ‚historischen Reenactments‘ wird durch das Konzept der Zeugenschaft greifbar. Wihstutz erkennt Zeugenschaft als eine theatrale Ausdrucksform, die er als Verwandlungsbetrieb charakterisiert. Dabei passiert Zeugenschaft nach Wihstutz „immer dann, wenn jemand einem Publikum eine beobachtete Situation dar- oder nachstellt“ (Wihstutz, „Bezeugen“, S. 71) und demnach Vergangenes durch Darstellung erneut Realität wird. 15 Wihstutz, „Bezeugen“, S.-83. 16 Der Doppelpunkt in der Schreibweise Dis: ability soll die Konstruktion von Behinderung auch im Schriftbild markieren und die beiden vermeintlich binären Zustände behindert (disabled) und nicht-behindert (abled) als durchlässig verbildlichen. entlarven.“ 13 Benjamin Wihstutz erkennt in den theatralen Dimensionen von Zeugenschaft die Ambivalenz, 14 dass auch historische […] Wahrheiten jederzeit kippen können und nicht selten ex post ein historisches Ereignis […] aufgrund neuer Perspektivierungen […] plötzlich auch in neuem Licht erscheint. Zeugenschaft im Theater und als Theater zu betrachten, bedeutet, diese Möglichkeit des Kippens ernst zu nehmen und stets in Erwägung zu ziehen. 15 Diese Perspektivierungen, die Wihstutz als mögliche Kippmomente der Betrach‐ tung von Vergangenem beschreibt, sind gerade dann von Spannungen geprägt, wenn es um das Bezeugen von politisch und diskursiv unterrepräsentierten Identitäten geht, mit denen im politisch korrekten Theater doch eigentlich längst nicht mehr ‚gespielt‘ werden sollte. Doch wie es in erster Linie überhaupt zu der körperlichen Steifheit kam, ist eine Frage, die Otero durch ihre Aufforderung sie anzuschauen, „Look at me! “ implizit provoziert. Die Disability Studies-Theoretikerin Rosemarie Garland-Thomson stellt im Kontext von Dis: ability Performances 16 die durch die Aufforderung explizit herausgeforderte Dynamik des Starrens heraus, denn by presenting her body before a viewer, the visibly disabled performance artist generates the dynamic of staring, the arrested attentiveness that registers difference on the part of the viewer. In the social context of an ablist [sic! ] society, the disabled 184 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="185"?> 17 Rosemarie Garland-Thomson, „Staring Back: Self-Representations of Disabled Perfor‐ mance Artists“, in: American Quarterly 52, 2 (2000), S.-335. 18 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt-a.-M. 2004, S.-129. 19 Mit dem Dualismus ‚Leib-Sein‘ und ‚Körper-Haben‘ verweist Helmuth Plessner auf die Doppeldeutigkeit des Körpers. Während der Leib die phänomenale Ebene des Spürens und affektiven ‚In-der-Welt-Seins‘ bezeichnet, bezieht sich das ‚Körper-Haben‘ auf den Körper als Objekt, kulturelles Konstrukt, Metapher und Projektion, der im Theater lange vorranging als Zeichenträger in den Vordergrund trat. Vgl. Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt-a.-M. 1970, S.-43. 20 Garland-Thomson, „Staring Back“, S.-334. body summons the stare, and the stare mandates the story. The stare, in other words, evokes the question, ‚What happened to you? ‘ 17 Behinderung und deren erklärende Narration sind in der rezeptiven Wahr‐ nehmung des behinderten Körpers und der Erwartung an diesen nach Gar‐ land-Thomson eng miteinander verflochten. In der Dis: ability Performance Art trifft man auf Performer*innen mit Behinderung, die nicht länger von nicht-be‐ hinderten Schauspieler*innen repräsentiert werden, sondern ohne Rollenspiel für sich selbst (auf der Bühne) ‚stehend‘ autobiografische Arbeiten präsentieren. Besonders da der von Tobin Siebers attestierte metaphorische und zeichenhafte Einsatz von Behinderung durch identitätspolitische Widersetzungen kritisiert wird, wird Behinderung nicht mehr an den Körper (als Zeichenträger), sondern an den Leib verortet. Zwar hat der „Mensch […] einen Körper, den er wie andere Objekte manipulieren und instrumentalisieren kann“, so Fischer-Lichte in Rekurs auf Plessner, „[z]ugleich aber ist er dieser Leib, ist Leib-Subjekt.“ 18 Den Körper, den man ‚hat‘, zur Darstellung eines behinderten Körpers zu instrumentalisieren, erfährt vor allem dann scharfe Kritik, wenn damit eine andere als die eigene Identität verkörpert werden soll. Somit bewegt sich Be‐ hinderung in der Dis: ability Performance Art auf der Ebene des Leib-Seins, bleibt somit authentisch, phänomenal erfahrbar. 19 Unter anderem aufgrund dieser dominant einfältigen Funktion des behinderten Körpers als Zeichen im Theater etabliert sich vor dem Hintergrund identitätspolitischer Diskurse zunehmend eine Dis: ability Performance Art, die Behinderung nicht mehr durch Illusion und falsche Repräsentation darstellt, sondern durch authentische Selbsterzählungen, die die Frage nach dem Grund der Behinderung auch getrost ignorieren können. All forms of self-representation are inherently relational in that they presume that the representation one creates will be apprehended by someone else. Disability performance art is a genre of self-representation, a form of autobiography, that merges the visual with the narrative. 20 Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 185 <?page no="186"?> 21 Fuck Me. 22 Es ist anzunehmen, dass Otero zum Zeitpunkt der Entstehung der Performance im Jahr 2020 tatsächlich von der Wirbelsäulenverletzung beeinträchtigt war, ihre Geschichte somit authentisch ist und das Moment der Auflösung erst nachträglich in die Perfor‐ mance integriert wurde, als Otero wieder laufen konnte. Für die im Jahr 2012 produzierte Performance Andrea hatte Otero ihren Körper wiederholt auf harten Boden fallen lassen und dabei jede einzelne Bandscheibe ihrer Wirbelsäule zerstört. Obwohl Otero dieser Szene überdrüssig geworden sei, greift sie in ihrer aktuellen Performance Fuck Me auf das Videomaterial zurück und präsentiert die gefilmte Szene ihrem heutigen Publikum: „I revisit it because it has to do with all this. […] I hit myself against the floor time and again. With each blow I broke each disc of my spine. Now I can’t dance anymore, so, they’ll dance for me.“ 21 Diese ausschlaggebende Szene gründet das fatale Initialmoment einer Auseinandersetzung mit der für Otero ‚realen‘ Tragödie des Lebens, der allgemeinen Degeneration des Körpers, die auf der Bühne in Fuck Me Form annimmt. So steht Otero nun mit ihrer angeblich an‐ haltenden körperlichen Versehrung inmitten von fünf nackten, sich tänzerisch verausgabenden Männerkörpern auf einer leeren Bühne und lässt das Publikum an ihrer Abrechnung mit dem Leben teilhaben und mit jenen Körpern, die noch tanzen können. Fünf bewegliche Körper vertreten Otero heute im Ram‐ penlicht, repräsentieren sie und ihr vergangenes künstlerisches Schaffen und folgen ihren Anweisungen, während Otero ihrer Frustration über das Altern, die Verwundbarkeit des Körpers und der damit vermeintlich schwindenden sexuellen Attraktion Gehör verschafft. Verfall des Körperlichen: in Angst um das Tanzen und den Sex Es ist der 15. Juni 2023, ein Donnerstagabend in der dänischen Küstenstadt Aarhus, an dem das ILT-Festival (International performing arts festival) die 2020 entstandene Performance Fuck me präsentiert; 22 ein verzweifelter Imperativ, mit dem die Künstlerin als scheinbar promiske Person sowohl wortwörtlich als auch im sprachlichen Übertrag eines Fluchens auf das Leben ihre Performance versieht. Ich nahm am Rand des Zuschauer*innenraumes Platz. Noch während sich die meisten Zuschauenden auf ihren Plätzen einrichteten, begann ein junger Mann sich auf dem Platz neben mir zu entkleiden, der sich bald darauf als einer der fünf Tänzer zu erkennen gab. Meine intuitive Aversion gegen die ausgereizte Ausstellung des nackten Körpers in der modernen Performancelandschaft als Versuch einer Überbetonung des phänomenalen Leibes wich schnell dem 186 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="187"?> 23 Blickregime bezeichnen visuelle Ordnungen, die gesellschaftliche Dominanzverhält‐ nisse durch kontingente und vorbewusste Wahrnehmungsstrukturen stabilisieren. Dabei werden Subjekte sowohl durch den rezeptiv empfangenden Blick als auch durch die reproduzierenden eigenen Blicke reziprok konstituiert. 24 Judith Butler, „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt-a.-M. 2002, S.-308. 25 Begleittext Fuck Me. Bewusstsein, dass Nacktheit hier nicht nur die Ausstellung des trainierten Männerkörpers forcierte sondern durch den Repräsentationscharakter der Männer Otero selbst in ihrer Verwundbarkeit exponierend darstellt. Zugleich wird durch diese choreografische Entscheidung ein dominierendes Blickregime körperlichen Begehrens erfahrbar, das kulturell anerzogen, an Otero vollzogen, nun reproduzierend auch ihr eigenes ist. 23 Laut Judith Butler unterliegt der Körper des Subjekts sowohl einer aktiven und bewussten als auch einer passiven und unbewussten visuell dominierten Zurichtung, indem er eine bestimmte kulturelle Konstruktion erfährt, und zwar nicht nur durch Konventi‐ onen, die vorschreiben und sanktionieren, wie man den Körper […] agiert, […] sondern auch durch die stillschweigenden Konventionen, die die Wahrnehmung des Körpers strukturieren. 24 Demnach unterstreicht Nacktheit in Fuck Me eben nicht ausschließlich das phänomenal individuelle Leib-Sein und dessen vermeintliche Zeichenlosigkeit, sondern reifiziert sich als das semiotische Zeichen des Abends schlechthin: nacktes Fleisch als Opfergabe, schutzlos und entwaffnend. Otero sieht in der Ausstellung des Fleisches in Assoziation mit der Opfergabe griechischen Theaters die Dialektik simultaner Vernichtung und Erlösung, wobei letztere in ihrem individuellem Falle mit Formen der Enthüllung und des Gesehenwerdens korreliert: In the Greek theatre […] there was an altar where a lamb was sacrificed […]. The sacrifice offers two faces: destruction & salvation, in a single act. […] But in my works there are no real lambs, […] performers are the lambs, since our meat is offered most of the time in exchange for nothing, or rather in exchange for an act of faith. What is theatre but an act of faith? A pact with an invisible God to make us visible. Perhaps the only justification for the sacrifice is that: to become visible to another. 25 Otero vergleicht Performer*innen auf der Bühne mit einem Lamm, deren Fleisch dem Publikum angeboten wird, wobei den Performer*innen selbst nur der Akt des Glaubens und der Hoffnung, wahrgenommen zu werden, bleibt, den Otero eng mit Theater assoziiert: Eine Verknüpfung, die Derrida auch für die Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 187 <?page no="188"?> 26 Jacques Derrida nach Müller-Schöll, „(Un-)Glauben“, S.-454. 27 Jacques Derrida, „Above All, No Journalists! “, in: Hent de Vries, Samuel Weber (Hg.), Religion and Media, Stanford 2001, S.-86. 28 Vgl. Müller-Schöll, „(Un-)Glauben“, S.-453. 29 Hierbei verkehrt die von Müller-Schöll im Raum des Theaters explizit ausgewiesene Illusion den ‚autobiografischen Pakt‘ von Philippe Lejeune, mit dem er in seinem gleichnamigen Buch eine Art des Pakts zwischen Leser*in und Autor*in vorschlägt, durch den sich Autor*innen einer wahrhaften Nacherzählung ihres Lebens verpflichten. Siehe hierzu: Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt-a.-M. 1994. 30 Ebd., S.-454. rezipierende Seite des Theaters herstellt, ohne selbst Antwort zu finden. „Was ist ein Akt des Glaubens im Theater? Warum muss man ans Theater glauben? Man muss. Aber warum muss man? “ 26 Vielleicht - und diese Vermutung möchte dieser Artikel nahelegen - weil die im Theater bewusst aufgezeigte Illusion nichts weiter ist als eine Facette der Realität und der Glaube ans Theater somit konsequenterweise verhilft, mit der Vorstellung einer „transzendentalen Illusion“ 27 zu brechen, indem auch das narrative Prinzip einer kausalen und linearen Wirklichkeit aufgekündigt wird. 28 In Rekurs auf das Bildnis des Essay‐ isten Mesguich verteidigt Müller-Schöll das Theater als Ort des Glaubens an die Illusion, denn man müsse an sie glauben und darin werde sie als zeitgleicher und notwendiger Un-Glaube zum Paradox: 29 ‚Eine Wolfsmaske ängstigt uns nicht nach Art eines Wolfs, sondern nach Art des Wolfsbildes, das wir in uns tragen.‘ Mesguich bemerkt dazu, dass man im Theater weder glaube, noch nicht glaube, weder je direkt schaue, noch direkt höre. Man sehe und höre vielmehr das Kind oder den Idioten in uns, der glaubt. 30 Der Glaube, so Müller-Schöll weiter, sage vielmehr über die eigene Fähigkeit des Glaubens aus, als über das Geglaubte, weswegen auch die eigene Seherfahrung und Positionalität den Glauben an die Illusion stark beeinflussen. Woran glaubte ich in Fuck Me? Was hatte Otero mir glauben gemacht? Es betreten vier weitere männlich gelesene Tänzer, die sich auf ihren Plätzen unter den Zuschauenden entkleidet hatten, langsam die leere Bühne. Jetzt übernehmen sie den Bühnenraum und beginnen sich mit unterschiedlichen Bewegungsabfolgen auf den Abend einzustimmen. Dabei springt ein Tänzer wiederholt aus dem Stand in den Spagat, ein anderer bewegt sich lasziv auf dem Boden, ein weiterer wirft sein Bein in die Höhe und hält es nahezu senkrecht neben seinem Kopf. Auf einem Stuhl am Rand der Bühne sitzt Otero und blickt auf das Geschehen. Parallel beginnt eine Präsentation dokumentarischen Ma‐ terials. Auf der Leinwand hinter der Bühne laufen Videomitschnitte von Tanz‐ aufführungen aus Oteros Jugend, von Proben mit Cousinen im Wohnzimmer 188 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="189"?> 31 Fuck Me. 32 Der Einbruch des Fiktiven ist hier zugleich als Neuerung und Rückkehr gedacht. In Anklang ans Hans-Thies Lehmanns Attestierung eines Einbruchs des Realen, der im postdramatischen Theater das Als-Ob durchkreuzt und irritiert und längst erwartet wird, erscheint die fiktive Ebene nun vor dem Hintergrund als das Alte in neuem Gewand. Siehe hierzu: Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2011. der Großeltern. Otero stellt sich nach dieser ersten Sequenz als Regisseurin der Tanz-Performance vor und eröffnet die Erzählung über ihre körperliche Verfassung mit dem Satz: „Before I start I would like to tell you that I just left an operating room and I still don’t know how I’m alive today. And it ends with a spinal surgery.“ 31 Erstmals wird die Materialität der Zeitlichkeit dieser Performance spürbar, die durch anachronistische Momente erste Hinweise auf das Brüchige des Authentischen erlaubt. Die Behauptung, Otero hätte gerade einen Operationssaal verlassen, ließ mich skeptisch werden, inwieweit das dokumentarische Material lediglich Ausgang zur Schaffung einer Fiktion lieferte. Der Einbruch des Fiktiven, 32 in Form einer Überlagerung von Zeitlich‐ keit, von realer und fiktiver Chronologie ihres Krankheitsverlaufes schuf ein erstes Bewusstsein für den Zusammenfall von Fiktion und Dokumentation und irritierte den Glauben an eine lineare und authentische Erzählung. Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 189 <?page no="190"?> 33 Ebd. Abb 1: Das Foto zeigt vier Performer auf leerem Bühnenboden stehend. Drei der Männer tragen weiße Achselshirts und eine Offiziersmütze, während der vierte lediglich mit einem gelben Slip und roten Stiefeln mit Absätzen bekleidet ist. Er verkörpert Marina Otero. Die anderen drei Männer stehen dicht um das Marina-Double, das sich nach hinten lehnt und von einem der Männer mit dem Arm gehalten wird. Ein anderer Performer simuliert dabei das Filmen des Gesichts mit einer Handykamera, während das echte Gesicht der Künstlerin in Nahaufnahme auf einer großen Leinwand im Hintergrund erscheint. Der Blick ist lusterfüllt und der Mund leicht geöffnet. ©Ale Carmona Otero präsentiert Ausschnitte aus vergangenen Performances und lässt die fünf von ihr genannten Pablos das gezeigte Material nachstellen. Die normierende Namensgebung der Tänzer erklärt Otero damit, dass sie zur Zeit der Entstehung der Performance drei Männer namens Pablo gedatet habe. Mit dieser Assozia‐ tionskette verleiht sie ihrem an die Tänzer gerichteten weiblichen Begehren Ausdruck. Pablo 3 komplettiert diesen Eindruck: „I’m Pablo 3, the Brazilian, whom the director wants to fuck.“ 33 Doch das Begehren ist nicht von Oteros narzisstischer Neigung befreit und im psychoanalytischen Sinne nach Lacan sowieso immer ein Begehren des Anderen in seiner Dualität: Ich begehre den 190 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="191"?> 34 Mit Lacans das Dilemma des Subjekts beschreibendem Satz, „[d]as Begehren des Menschen [ist] das Begehren des Anderen“, schließt sich ein bewusstes und direktes Begehren eines anderen Menschen aus. Vielmehr sind es dahinterliegende unbewusste Wünsche, die uns ein bewusstes Begehren simulieren. Das Begehren des Subjekts richtet sich nicht teleologisch auf ein anderes Objekt, sondern auf die Beziehung zu einem anderen Begehren, das von diesem Objekt ausgeht. Jacques Lacan, „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten“, in Schriften II, Olten; Freiburg 1975, S.-190. 35 Fuck Me. 36 Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt-a.-M. 1980, S.-297. Anderen in seinem spezifischen Begehren, das an mich gerichtet ist. Mein Begehren ist eigentlich das Begehren des großen Anderen. 34 Die Männerkörper zeigen sich gleich mehrfach in ihrer für Otero dialektischen Funktion: als begehrte Objekte sowie als Subjekte, von denen sie begehrt werden will. Im Chor verschreiben sich die Tänzer den Anweisungen der Regisseurin und markieren durch die Erweiterung ihrer potenziellen Namen als Marinos abermals eine Doppelfunktion. „We will be Pablos and Marinos. We will not have a god. We will have many goddesses. They will enlighten us as strong and fragile men. Our fragility will be our power. Our power will be that of submission.“ 35 Die Männer dienen zum einen als Projektion ihres sexuellen Begehrens (Pablos) und zum anderen als Repräsentation von Otero selbst (Marinos als männliche Versionen von Marina). Dabei zeigt sich die Spiegelfunktion des Begehrens, das einmal mehr Oteros Narzissmus enthüllt, indem sie sich in den Objekten ihrer Begierde auch selbst sieht und begehrt. Das Bildnis der Spiegelung, ein zentrales Motiv der griechischen Mythologie um den Jüngling Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, greift auch Luce Irigaray in ihren Abhandlungen zu den Defiziten der Erforschung weiblichen Begehrens auf. Irigaray zufolge sind die binären Geschlechter immer aufeinander bezogen, indem die Frau hierbei als das ‚Andere des Gleichen‘, als Spiegel des Männlichen fungiert. Das andere [das Weibliche, Anmerk. d. Verf.] muß also dazu dienen, das eine zu spiegeln, das zu verdoppeln, was der Mann schon immer als Ort seiner Produktion, der Produktion erkannt hat. ‚Sie‘ soll nichts anderes sein, als der Weg, die Methode der Spiegel, die durch einen Prozeß der Wiederholung bewirken, daß das ‚Subjekt‘ die Einheit seines Ursprungs, des Ursprungs wiedererkennt. 36 Die Künstlerin verdreht in Fuck Me den von Irigaray als männlich markierten Blick in einen weiblichen und stellt mit dieser chiastischen Verkehrung zum einen die hegemonial patriarchalen Blickachsen verdeutlichend heraus, zum an‐ deren birgt sie auch das feministische Potenzial, die Spiegelfunktion des Mannes durch Reproduktion zu dekonstruieren. Nach der Aufwärmphase beginnt das Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 191 <?page no="192"?> 37 Fuck Me. 38 Garland-Thomson, „Staring Back“, S.-334. 39 Fuck Me. 40 Fuck Me. bewusste Spiel der Repräsentation und Otero kündigt sich erstmals selbst an: „I present to you: Marina Otero.“ Dargestellt durch einen Tänzer in pinkem Kleid und mit Perücke, die Oteros Frisur nachbildet, springt eine Otero-Kopie nun mit Mikrofon in der Hand über den Bühnenboden. Im Hintergrund laufen währenddessen weitere Tanzvideos aus ihrer Jugend. Der Performer singt: I’m Marina, the little whore […] I’m your bitch, your kitty cat. I’m a ballerina, a baby doll. I’m good, I’m your little girl. Play me! I’ll mess around. All night long, I’m cheap. I’m Marina, the slutest. 37 In dieser eröffnenden Tanzszene wird Otero als Person dargestellt, die sich über ihre körperliche Wirkung als Verführerin definiert. Dieser in sich verstrickte Komplex von Körperlichkeit und dessen Verwundbarkeit, der sowohl das eigene Agieren beeinflusst als auch von der Wahrnehmung als Objekt in einer Gesellschaft der Dominanz des Visuellen stark geprägt ist, wird erneut als vielschichtiges Thema des Abends etabliert. Damit unweigerlich verbunden ist die Anerkennung als Subjekt, das Definieren des Selbst über die körperliche Wirkung bei anderen, denn „the meaning of the body, thus the meaning of the self, emerges through social relations. We learn who we are by the responses we elicit from others.“ 38 Hierbei ist der Blick nach Garland-Thomson für die Bedeutung des Selbst konstituierend. Relativ früh wird in Fuck Me offensichtlich, dass Oteros körperliche Einschränkung nicht lediglich ihre körperliche Arbeit als Tänzerin beeinflusst, sondern diese auch ihre Sexualität verändert. Sie kann nicht nur nicht mehr tanzen, sondern auch nicht mehr ficken: eine Frustration, die sich in der gegebenen Erklärung des Titels ihrer Arbeit breitmacht: „It is titled Fuck me because during this process I never fucked.“ 39 In Otero herrscht nicht nur Bitterkeit über den Verlust der Jugend und ihrer eigenen sexuellen Lust, die Otero nun spottend über die Bühne schleichen lässt, sondern auch eine mit dem Wunsch nach Rückeroberung der Zeit idealisierte Hoffnung auf Liebe: I wish I could turn back time to start all over. To tour all the festivals in the world, and fuck the dancers, programmers, technicians, you…everyone. But no, I didn’t. […] It’s too late. In this body, there is no more story to be told. There is no more desire, there is nothing more. I’m dry. […] I feel like crap. […] I’m already losing my youth, its leaving, its leaving. Bye. And I’m never going to get to Belgium to find my true love. 40 192 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="193"?> 41 Ebd. 42 Ankündigungstext Fuck Me. 43 Fuck Me. 44 Ebd. Von der Notwendigkeit, fünf Tänzern nun schweren Herzens den Platz auf der Bühne zu überlassen, zeugen die auf die Leinwand projizierten Bilder von Krankenhausbetten und Operationssälen. Die Leinwand zeigt ein MRT ihres Rückens und dessen Wirbelkörper. „I became stiff, unable to walk, due to three herniated discs. With that diagnosis, my mobility becomes very limited. I decided to cast six interpreters to continue with the play.“ 41 Eigentlich möchte sie selbst dort stehen, im Rampenlicht, um dort unter den Augen anderer Rache zu üben, so gesteht die Choreografin schamlos ihre Selbsterkenntnis: I have always imagined myself in the middle of the stage, as a heroine, taking revenge on everything. But my body couldn’t take so much fighting. Today I leave my space to the performers. I’m going to see how they lend their body to my narcissistic cause. 42 Während im Hintergrund weiterhin Aufnahmen von Otero im Krankenhausbett laufen, erzählt sie von ihrer erlebten Ignoranz dem eigenen Körpergefühl und der Intuition gegenüber und behauptet, wir sähen nun eine Szene, in der sie sich das letzte Mal bewegt habe: What you are going to see now is the last attempt to [sic! ] my stubbornness to continue working on a project in which my body didn’t want to get involved. This is the scene where I moved for the last time. 43 Auch hier benennt Otero eine Zeitlichkeit, die eine Finalität und Linearität vertritt, die sich später als Illusion entpuppt. Höhepunkt der Performance bildet einige Zeit später Oteros Auflistung diverser Selbstdiagnosen, deren Besonderheit in der Symbiose körperlich-phy‐ sischer und emotional-psychischer Selbstzuschreibungen besteht. Zunächst verdunkelt sich die Bühne. Otero, nun nackt auf der Bühne, greift ein Megafon und listet schreiend ihre Diagnosen auf: I have the skull in the tibia, […] airless vertebrae, a sick liver, […] the mount of Venus on another planet, a self-destructive anus, […] a sceptical heart, a killer sphincter, […] a faithless ureter, the iliac crests wanting to cry. 44 Der poetische Zusammenfall einer medizinischen Fachsprache und der im Volksmund oftmals damit assoziierten Funktion (Herz steht nicht einzig für die Blutversorgung des Körpers, sondern symbolisch für Liebe) fügt hier plakativ zusammen, was die Performance als zwei miteinander in Bezug stehende Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 193 <?page no="194"?> 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. Themen präsentiert: Körper als medizinisches und nüchtern betrachtetes Objekt des biologischen Verfalls sowie Körper als Ort der Lust, des Empfindens, des Fühlens. Dabei schlägt sich Otero mehrfach auf Brust und Venushügel und schreit aus Leibeskräften „Fuck Me“ etliche Male durch das Megafon. Die tatsächliche Tragödie liegt hierbei womöglich in ihrer Unfähigkeit, Verhalten zu ändern. Denn die Äußerung des Wunsches, 20 Jahre jünger zu sein, um wahre Liebe abseits oberflächlicher Befriedigung zu suchen, geschieht in einem Atemzug mit dem Wunsch nach sexueller Nähe und Begehren und relativiert damit ihre scheinbare Erkenntnis: I wish I was 20 years younger. That way I could start over. So, I could go out looking for true love. […] That looks me in the eye and tells me he wants me as I am. I wish I could go anywhere without feeling shame in my body asking to be fucked. Directly. Like this: shall we fuck? […] The death of youth if irreversible. Death is death only if it is irreversible. 45 Sätze wie „beautiful people do better in life“ sowie die Abwertung anderer Werte betonen den von Otero idealisierten Körper bzw. seinen ihm zugewiesenen Wert. Nur der Körper ist sichtbar und das Sichtbare das Einzige, was zählt: Nor do I believe in what they call ‚inner beauty‘ […] And I still don’t feel even close to understanding that there’s something more valuable than youth and beauty. […] Here intelligence doesn’t count, prizes don’t count. […] The only thing that counts is that which is tangible, obvious. The body is the only obvious thing. 46 Während Otero ihren Unglauben an innere Werte verlauten lässt, sehe ich Otero als behinderte und verzweifelte Frau, die aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen keine Freude an sexuellen Erfahrungen mehr erfährt: „When you feel pain in your body, you don’t want to fuck anymore. You don’t care about festivals, plays, feminism, revolutions or anything else. The only thing that matters to you is your own pain.“ 47 Zum Finale der Performance ist Otero zu einer schwarzen Witwe, einer Man-Eaterin geworden, die ihre Männer nun, nach dem symbolischen Akt gefressen, einzeln von der Bühne dirigiert. Im Saal greift langsam aber steigend Applaus um sich. Die Männer rennen zurück auf die Bühne und stellen sich mit Otero an den Bühnenrand. Sie selbst bleibt steif, verbeugt sich nur zaghaft, einer der Tänzer legt kümmernd den Arm um sie. Sie gehen gemeinsam ab. Dann er‐ tönt Musik und die Bühne verdunkelt sich. Nun kommt Otero entkleidet auf die 194 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="195"?> 48 Ebd. Bühne zurück und rennt energisch einen großen Kreis über den Bühnenraum. Sie greift zum Mikrofon: „Stop the music. Stop it. Turn off the lights.“ Zu hören ist jetzt nur noch ihr Atem in der totalen Dunkelheit. „This is the present. I’ll keep running, you can leave whenever you want.“ 48 Damit verabschiedet sich Otero und lässt mich verärgert, verwundert und berührt zurück. Im Publikum ist Erstaunen wahrzunehmen und der Aufforderung, den Raum nun verlassen zu können, folgen die Zuschauenden nur zögerlich. Es dauerte sicherlich eine Viertelstunde, bis so langsam auch die letzten verwunderten Zuschauer*innen den Saal verlassen hatten, denn im Foyer war ein Nachgespräch mit Otero angekündigt, das dazu führte, sie aus der Dauerschleife des Laufens durch Verlassen des Raumes zu befreien. Nicht mehr: Vorübergehendes Cripping Up des Selbst als Darstellungsmodus prozessualer Dis: ability Das Ende von Fuck Me hatte überrascht. Das autobiografische Material, Oteros detaillierte Dokumentation über ihren Unfall und das Klagen über die daraus resultierende Unfähigkeit als Tänzerin zu agieren, ja, ihre gesamte radikale (ver‐ meintliche) Ehrlichkeit hatte Authentizität vermittelt und Mitgefühl erweckt. Ich glaubte ihr, da ich in einer Tanz-Performance, die von der individuellen Geschichte ihres Leidens gerahmt war, kein Schauspiel erwartet hatte. Zudem erfuhr ich die Enthüllung, als Otero plötzlich zu laufen begann, dahingehend als irritierend, da die unauthentische Darstellung von Behinderung in einer politisch reflektierten freien Performanceszene mittlerweile derart kritisiert wird, dass dieses Spiel zusätzlich ein politisches Moment enthielt. Ich war mit meiner konsolidierten Erwartungshaltung an Performances mit Menschen mit Behinderung konfrontiert, die eine Art des - so möchte ich es nun nennen - ‚vorübergehenden Cripping Ups des Selbst‘ gedanklich nicht eingeschlossen hatte. Ich bin der Meinung, dass Auseinandersetzungen mit Behinderung auf der Bühne zwar nicht länger dazu führen dürfen, Behinderung einzig als Symbol, als Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 195 <?page no="196"?> 49 Der Begriff der ‚narrativen Prothese‘ wurde von den Disability Scholars David T. Mitchell und Sharon Snyder geprägt. Er beschreibt, dass Behinderung in den Künsten als Metapher, als stereotype Trope eingesetzt wird, wodurch diese für Regisseur*innen beispielsweise zweckgebunden einsetzbar und somit in einer heuristischen Vorstellung kontrollierbar werden. Siehe hierzu: David T. Mitchell, Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Michigan 2001. 50 Folgt man Tobin Siebers, löst der behinderte Körper immer stark affektiv aufgeladene Reaktionen hervor. Das Publikum übersetzt die Behinderung in ein semiotisches Zeichen, ein Symbol, eine Metapher. Um diese Affekte kontrollieren zu können, führt der*die Betrachtende Behinderung in die vermeintlich sicheren Bahnen der Semiotik und somit auch unausweichlich in den unerwünschten Repräsentationsrahmen zurück, in dem er*sie weniger stark mit den eigenen Gefühlen konfrontiert ist. Vgl. Tobin Siebers, „Un/ Sichtbar. Observationen über Behinderung auf der Bühne“, in: Imanuel Schipper (Hg.), Ästhetik versus Authentizität? Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung, Berlin 2012, S.-20-21. 51 Garland-Thomson, „Staring Back“, S.-335. sogenannte „narrative Prothese“ 49 zu übersetzen, 50 zum anderen sollten sie aber nicht die Kraft der Illusion und des Glaubens sowie das Mitleiden im Dienste einer kathartischen Erfahrung verunmöglichen, um durch Affekte Reflexionen des Selbst anzustoßen, die herrschende Blickregime und Handlungsweisen im Prozess des Erkennens überhaupt erst verändern können. Im Zuge der Expansion eines Theaters des Realen haben identitätspolitische Diskurse, so meine These, die Seherwartungen insoweit verändert, als dass Verhandlungen von Identitätskonstruktionen nur noch im Rahmen der Performativität, selten aber auf der Ebene des Spiels erwartet werden. Das Gefühl des Mitleids, das gerade in der Dis: ability Performance Art unerwünscht ist, wurde bei Otero bewusst provoziert, da sie ihre körperliche Einschränkung dezidiert als Quelle eines realen Leidens benennt. Anstelle des tradierten Mitleidsgestus, den Performer*innen mit Behinderung zurecht als degradierend empfinden und sie auf ein vermeintliches Leid reduzierend vehement ablehnen, fordern deren Arbeiten vielmehr heraus, diese Blickdynamiken zu durchbrechen, wie Garland-Thomson schreibt: Disabled performance artists manipulate the stare-and-tell dynamic. I would argue, in fact, that disability performance art is a genre of autobiography particularly appropriate to representing the social experience of disability precisely because it allows for creating both visual and narrative self-representations simultaneously and because it traffics in the two realms of representation fundamental to the social construction of disability identity. 51 Nicht erst in den gegenwärtigen Zeiten identitätspolitischer Diskurse ist das Illusionstheater zugunsten eines postdramatischen Theaters des Realen 196 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="197"?> 52 Schon seit der Jahrtausendwende versuchen Darstellung- und Partizipationsformen jenseits der Fiktion das Theater nicht ausschließlich als Spiegel der Gesellschaft zu betrachten, sondern ihm als realen Aushandlungsort kollektiver Erfahrungen das Potenzial zuzusprechen, herrschenden Repräsentationsdefiziten beizukommen und sie neu zu verhandeln. 53 Der Begriff der Heterotopie geht auf Michel Foucault zurück und bezieht sich auf reale oder imaginierte Orte, die außerhalb der normalen sozialen Strukturen stehen und alternative Realitäten oder soziale Dynamiken ermöglichen. Siehe hierzu: Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M. 2013. Heterotopien können dazu dienen, gesellschaftliche Normen zu reflektieren, zu kritisieren oder zu brechen. Theater kann als soziale Heterotopie gedeutet werden. Siehe hierzu: Benjamin Wihstutz, Der andere Raum: Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich 2012. 54 Wihstutz, Raum, S.-17. 55 Ebd. 56 Unter ‚ästhetische Illusion‘ wird eine Erfahrung beschrieben, die „im Unterschied zur rein epistemischen Illusion (Täuschung) gerade die willentliche Suspension von Wahrheitsorientierung und Wirklichkeitsüberprüfung angesichts der Wahrnehmung eines Kunstwerks […] bezeichnend ist.“ Diese Bedeutung hat sich in den Diskursen zum zeitgenössischen Theater jedoch kaum etabliert. André Eiermann, „To do as if - Realitäten der Illusion im zeitgenössischen Theater“, in ders. (Hg.), To do as if - Realitäten der Illusion im zeitgenössischen Theater, Frankfurt a. M. 2018, S. 7-28, hier S.-11. 57 Müller-Schöll, „(Un-)Glauben“, S.-445. zunehmend in den Hintergrund gerückt, aber gerade in ihnen als möglicher Ausweg aus den Repräsentationsfallen und -unmöglichkeiten als Widerstand und Reaktion auf jene verklärend expandiert. 52 Als soziale Heterotopie, 53 als „anderer Raum der Gesellschaft“ 54 ermöglicht der theatrale Raum, „Utopisches zu repräsentieren und dieses zugleich an ihr Hier und Jetzt rückzubinden.“ 55 Diese Heterotopien entstehen im gegenwärtigen Theaterkontext unter anderem durch Veränderungen von tradierten Raum- und Zeitnormativitäten sowie ableistischen Grundannahmen und konkretisieren sich bspw. in Form von Safe Spaces, Relaxed Performances oder Trigger Warnings. André Eiermann skizziert divergente Auseinandersetzungen mit dem Illusionsbegriff und konstatiert, dass im zeitgenössischen Theater sehr wohl mit Formen des Als-obs gespielt werde und der theaterwissenschaftliche Diskurs sich aktuell vor allem um jene Aufführungen zentriere, die die Uneindeutigkeiten des Als-obs verhandeln. 56 Das angebliche Wirklichkeitstheater, so Müller-Schöll, entdecke nämlich auf der Suche nach dem Realen die unauflösbare Ambivalenz des Glaubens an die Illusion wieder: „Kalkuliert oder im eigenen Kalkül gestört, enthüllen gerade die besonders an der Realität oder am Realen interessierten Theatermacher, was es heißt, im Medium von Theater und Sprache gleichsam verstrickt zu sein.“ 57 Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 197 <?page no="198"?> 58 Ebd. S.-453. 59 Gerald Siegmund, Theater- und Tanzperformance zur Einführung, Hamburg 2020, S. 25. 60 Homepage Marina Otero, deutsche Übersetzung. https: / / www.marinaotero.com.ar/ fuc k-me. [Zugriff am 2.12.2023]. Potenziale entrückter Temporalität Im Repräsentationstheater vermittelt die Praxis des Cripping Ups, gemäß deren eine Möglichkeit des Wechsels zwischen zwei scheinbar eindeutigen Zuständen existiert, die Zuweisung eines vermeintlich binären Entweder-Oders und un‐ terstützt somit eine klar voneinander abzugrenzende normative Opposition von behindert und nicht-behindert. Eine changierende Selbst(re)präsentation jedoch, wie sie in Fuck Me zwischen Illusion und Dokumentarischem geschieht, stellt den fließenden Übergang, die Konstruktion und Nicht-Linearität von Behinderung performativ zur Schau und vermeidet damit die Aufrechterhaltung eindeutiger Attribuierungen. Behinderung und Nicht-Behinderung korrelieren in Fuck Me, werden intrasubjektiv vereint und implizieren damit das Konzept temporärer Able-bodiedness. Wenn das zurecht kritisierte Cripping Up hingegen nur noch die (Selbst-)Darstellung von Menschen mit gegenwärtiger Behinde‐ rung erlauben würde, stünde die Illusion des Theaters und die damit verbundene Möglichkeit, auf die Brüchigkeit der Wirklichkeit zu verweisen, vor einem grundlegenden Konflikt. Otero hatte en passant Behinderung als soziales, situatives, kontingentes und zeitlich sich veränderndes Konstrukt gefasst und damit trotz Selbstdarstellung aus den Potenzialen des Theaters geschöpft. Die Performance hatte das rezip‐ roke Verhältnis der Fiktion von Realem und der Realität von Fiktivem enthüllt. Durch das vor Augen führen des Kontingenten, Konstruierten, Nicht-Linearen und des Unentscheidbaren, ja, all dieser ambigen Illusionen, nehmen wir wahr, dass sich daraus unsere ‚Wahrheit‘ spinnt. Denn „[a]ls notwendige Täuschung behält die Illusion insofern ein Recht, als sie selbst eine Realität ist, auch wenn das Illudierte keiner Realität entspricht, ja qua Definition das Reale verfehlt.“ 58 Auf der Homepage von Otero findet sich ebendiese von Gerald Siegmund beschriebene „Grauzone zwischen Fiktion und Authentizität“ verschriftlicht, „die die Konstruktion von Subjektivität und Identität einsehbar und beobach‐ tbar macht“ 59 : „Fuck Me erforscht den Lauf der Zeit und die Spuren, die ein Körper hinterlässt. Es überschreitet die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion, Tanz und Performance, Zufall und Darstellung.“ 60 Und - so möchte ich hinzufügen - Fuck Me überschreitet sogar die zeitlichen Ebenen, bringt Brüche in Linearitäten und Chronologien und zeigt sich als Fragment, das, aus der Jetzt-Zeit gefallen, die Konstruktion und den Irrglauben linearer Verläufe 198 Elena Backhausen (Mainz) <?page no="199"?> 61 Siehe hierzu: Lea-Sophie Schiel, Sex als Performance. Theaterwissenschaftliche Perspek‐ tiven auf die Inszenierung des Obszönen, Bielefeld 2020. offenbart. Darüber hinaus lässt die von der Künstlerin angestoßene Auseinan‐ dersetzung mit Sexualität diese als Performance denken. 61 Um auf Oteros anfänglich zitierte Frage zurückzukommen, möchte ich schließend auf den produktiven Spielraum des Biodramas verweisen, dessen Wirkkraft Fuck Me durch das Spiel mit Authentizität und Illusion exemplarisch demonstriert. Biodramen — stellvertretend für theatrale Formen der bewussten Verschränkung von Realem und Fiktivem — lassen Platz für Utopien, für Überraschungen, Hoffnung und den Glauben an Veränderbarkeit und stellen die eigene Biografie als Konstrukt aus, ohne dabei gerade bei identitätspolitisch relevanten Kategorien wie Behinderung Gefahr zu laufen, diese durch falsche Repräsentation in falschem Licht erscheinen zu lassen. Das vorübergehende Cripping Up des Selbst verleiht Dis: ability Performances eine weitere Dimension: Es verkehrt authentische Selbstdarstellungen in ambige und uneindeutige Fa‐ cetten des Selbst und schafft durch den bewussten Bruch mit der vermeintlichen Realität, Behinderung als Konstrukt und somit wandelbar zu denken; eine gedankliche Leistung, die durch die prinzipielle Verurteilung von Cripping Up im Theater nicht mehr angestoßen wird. Ein Bruch, wie er am Ende von Fuck Me passierte, erinnert an die intelligible Konstruktion von Normativität, Able-bodiedness und vor allem an die unseres Glaubens. Entrückte Temporalität im Spiel mit Behinderung - Potenziale der Illusion in Fuck Me 199 <?page no="201"?> 1 Für weitere Informationen zur Darstellung von Attraktivität im Bereich des Schönheits‐ wettbewerbs siehe: Sarah Banet-Weiser, The Most Beautiful Girl in the World. Beauty Pageants and National Identity, Berkeley 1999. 2 Von nun an GNTM. Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) Der vorliegende Beitrag untersucht die Casting-Show Germany's Next Topmodel by Heidi Klum, die seit 2006 bei ProSieben ausgestrahlt wird, an der Schnittstelle zwischen Schönheitswettbewerb, Model-Contest und Reality TV. Er nimmt vor allem die Inszenierung von Differenz in der 17., der sogenannten „Diversity-Staffel“ (2022), in den Blick. Hier betont die Gastgeberin, dass es ihr um den Abbau gegebener Schönheitsstandards geht, eine Annahme, die dieser Aufsatz in ein Spannungsverhältnis zu den gegebenen Wettbewerbsregeln der Sendung setzt. Unter Bezugnahme auf die Critical Diversity Studies fokussiert der Beitrag dabei vor allem die Rolle des Alters und untersucht, wie die Sendung Alter „staged“ und die Kategorie in das Wettbewerbsformat einpasst. Welche Differenzen kommen bei einem Schönheitswettbewerb zur Aufführung? Die grundlegende Differenz, die hier zur Aufführung kommt, scheint zunächst in der Unterscheidung des Schönen von dem zu liegen, was nicht als schön gilt. In dieser Unterscheidung jedoch schwingen eine Reihe von anderen Differenzen teils implizit mit: So geht es bei Schönheitswettbewerben ‚traditioneller‘ Art um eine Unterscheidung innerhalb der Kategorie von ‚Weiblichkeit‘, die Kandi‐ datinnen sind meist jung, nicht behindert, schlank und weisen eine Vielzahl anderer Attribute auf, die gemeinhin als ‚attraktiv‘ gelten. 1 Der vorliegende Beitrag fragt im Hinblick auf Staging Difference, inwieweit die Diversity-Staffel von Heidi Klums Germany’s Next Topmodel 2 diese Kategorien aufbricht. Wenn Heidi Klum im Casting-Aufruf zur 17. Staffel von Germany’s Next Topmodel <?page no="202"?> 3 „Auftakt in Athen“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 1, 03.02.2022, ProSieben, https: / / video.prosieben.de/ serien/ germanys-next-topmodel-by-heidi-klum/ videos/ staf fel-17-episode-1-auftakt-in-athen. 4 Zur Genese des Leistungsbegriffs und dessen Geschichte siehe Nina Verheyen, Die Erfindung der Leistung, Berlin 2018. (2022) erklärt: „Für mich zählt nur, wer du bist“, 3 könnte man sich fragen, ob nun die oben genannten Parameter, anhand derer Schönheit bislang gemessen wurde, generell obsolet geworden sind. Gleichzeitig könnte man aber fragen, ob es sich bei GNTM überhaupt um einen Schönheitswettbewerb handelt: Ein Model-Wettbewerb, so könnte man anführen, ist kein Schönheitswettbewerb im eigentlichen Sinne, geht es dabei doch nicht nur um Aussehen, sondern auch um Wandelbarkeit und Mimik, den Walk auf dem Laufsteg, um Körpermaße und Ha‐ bitus. Im vorliegenden Beitrag soll GNTM dennoch zum Schönheitswettbewerb in Beziehung gesetzt werden; genauer: in das Verhältnis zwischen Schönheit und Performanz. Schönheit, Modeling (als Beruf und Karriere) und GNTM als eine Fernsehshow und eine Form des Reality TV stehen in einem komplexen Wechselverhältnis, das in diesem Beitrag näher beleuchtet werden soll. Dabei soll auch die Beziehung zwischen Schönheitsideal bzw. Schönheitsstandard und Differenz (im Sinne einer sichtbaren Abweichung von diesem Ideal) näher betrachtet werden. Der vorliegende Beitrag untersucht so das implizite Spannungsverhältnis zwischen dem Staging von Differenzen einerseits - es treten in dieser Staffel etwa ältere Models, nicht-weiße Models und Plus-Size-Models auf - und dem Schönheits- und Leistungsbegriff andererseits. 4 Auch wenn diese Staffel, die explizit als Diversitäts-Staffel gerahmt wird, Normen scheinbar aufgeben will (es „zählt nur, wer du bist“), dann muss es dennoch eine Gewinnerin geben, denn anders wäre die Maßgabe des Model-Wettbewerbs nicht erfüllt. Unter Be‐ zugnahme auf Sara Ahmeds kritische Phänomenologie betrachtet dieser Beitrag die Rolle von Diversität in der Aufführung von Schönheit im Casting-Format von Germany’s Next Topmodel. Er fragt, wie die Inklusion von Differenz in den normativen Rahmen eingepasst wird und wie Alter so zur Aufführung kommt. Methodisch liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Inszenierung von Differenz in GNTM; dennoch wird auch deren Rezeption bzw. der sie umgebende ‚Paratext‘ betrachtet werden. 1. Schönheitswettbewerbe: Schönheit und Wettbewerb Die Performance von Schönheit in Casting-Formaten wie Germany’s Next Top‐ model steht in enger Verbindung mit dem Leistungsbegriff. Schönheit wird nicht 202 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="203"?> 5 Vgl. Friedemann Kreuder und Stefanie Husel, „Staging Differences. Interferenzen von Teilnehmerrollen und Humandifferenzierungen im Gegenwartstheater“, in: Dilek Dizdar et al. (Hg.), Humandifferenzierung, Weilerswist-Metternich 2021, S. 183-200, hier S.-183. 6 Laurie Ouellette und Susan Murray. „Introduction“, in: Susan Murray und Laurie Ouellette (Hg.), Reality TV: Remaking Television Culture, New York 2009, S. 1-20, hier S.-3. 7 Dies entspricht durchaus dem zeitgenössischen Performancetheater. So schreibt Ben‐ jamin Wihstutz in seiner Monographie Der andere Raum, Zürich 2012, über Ak‐ teur*innen: „sie spielen sich selbst“, treten als „sie selbst“ auf. Hier geht es etwa um „echte“ Arbeitslose, Migrant*innen und behinderte Menschen auf der Bühne. Eine solche Darstellungsform stellt seit ca. 2000 ein Phänomen des Gegenwartstheaters dar. GNTM könnte also auch in dieser Theatertradition verortet werden bzw. zumindest im Dialog mit ihr. nur ausgestellt oder ‚performt‘, sondern sie wird immer auch bewertet. Damit ergibt sich für das Staging von Differenzen eine Besonderheit, die wiederum mit dem Theaterbegriff in Verbindung gebracht werden kann. Denn wie Friedemann Kreuder und Stefanie Husel beschrieben haben, basiert das Theater seit dem 16. Jahrhundert auf einer Spaltung zwischen Darsteller*innen und Publikum: Das Publikum betrachtet das, was auf der Bühne aufgeführt wird. 5 Dieses Framing von Theater wiederum ist in Shows wie Germany’s Next Topmodel in zweifacher Weise verändert. Zum ersten handelt es sich um eine Form des Reality TV, die die Idee des Staging ihrerseits herausfordert, schließlich wird hier auch „a self-conscious claim to the discourse of the real“ 6 vorgestellt. Dies impliziert für die auf der ‚Bühne‘ bzw. dem Bildschirm dargestellten Differenzen, dass sie den Anschein erwecken sollen, die Teilnehmer*innen stellten lediglich ‚sich selbst‘ dar. 7 Zweitens bringt der Rahmen von GNTM es mit sich, dass das Dargestellte auf der Bühne bewertet wird, sowohl von Gastgeberin Heidi Klum als auch von den ihr zur Seite gestellten Juror*innen. Damit, so könnte man behaupten, hat das Staging von Schönheit ein explizites Ziel: Die Performanz will das Publikum nicht nur ‚affizieren‘, wie es generell dem Theater eigen ist, sondern sie will es auch überzeugen. Schönheit wird eben nicht nur performt, sondern sie wird bewertet; diese Wertung wiederum unterliegt einem Ranking: Man ist vielleicht schön, aber eben nicht so schön wie andere. Damit aber wird im Grunde, so könnte hier angeführt werden, die Spaltung zwischen Dar‐ steller*innen auf der Bühne und dem Publikum vor der Bühne aufgehoben: Heidi Klum und ‚ihre‘ Juror*innen, so könnte man behaupten, geben dem Publikum eine bestimmte ‚Lesart‘ der Performance auf der Bühne vor. Als Bewertende sind die Juror*innen und Heidi Klum auf der Bühne und im Publikum zugleich. Auch, wenn das Publikum im Saal und vor dem Bildschirm andere Möglichkeiten der Partizipation hat, etwa durch das öffentlichkeitswirksame Kommentieren der Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 203 <?page no="204"?> 8 Hier ließe sich eine enge Verbindung herstellen zu einem leistungsakzentuierenden Performanzbegriff. Siehe etwa John McKenzie’s Perform - or Else: From Discipline to Performance, London 2001. 9 Die Rolle des Ehestatus in Miss Wahlen ist im Wandel begriffen, so sind seit 2023 auch Mütter und verheiratete Frauen zum Wettbewerb „Miss Universe“ zugelassen, siehe „Miss Universe Beauty Pageant to Allow Married Women and Mothers to Participate from 2023“, CNBCTV, 22.08.2022, https: / / www.cnbctv18.com/ world/ mmiss -universe-2023-now-participate-married-women-and-mothers-14551452.htm [Zugriff am 23.01.2024]. Das Alter ist allerdings auf 18-28 Jahre festgelegt, siehe „How to Apply“ Miss Universe, https: / / www.missuniverse.com/ copy-of-apply [Zugriff am 23.01.2024]. Sendung in sozialen Medien, so sind diese für den Moment der Aufführung bzw. der Ausstrahlung der Show zweitranging. Diese Überlegungen implizieren, dass der Leistungs-, der Schönheits- und der Performanzbegriff in Castingformaten wie GNTM untrennbar verbunden sind: Die Teilnehmer*innen treten an, um ihre Schönheit im bestmöglichen Licht zu performen. Hier soll zunächst der Leistungsbegriff im Zusammenhang mit Schönheit näher beleuchtet werden. Im Zusammenhang mit dem Leistungsbegriff stellt der Schönheitswettbe‐ werb im Grunde eine Anomalie dar. Denn Schönheit, so könnte man anführen, scheint zunächst etwas ‚Gottgegebenes‘ zu sein; wie könnte man also Schönheit mit Leistung verbinden? Insofern liegt im Konzept, in der Anlage des Schön‐ heitswettbewerbs bereits eine Spannung zwischen Schönheit auf der einen und Leistung auf der anderen Seite. Diese Spannung, so könnte man weiter argumentieren, wird zumindest teilweise überbrückt durch die Idee, die dem Schönheitswettbewerb in all seinen Facetten oder ‚Challenges‘ eingeschrieben ist: die Idee, dass Schönheit nicht nur einfach ‚ist‘, sondern, dass sie, damit sie wirklich sichtbar und durch Juror*innen oder Preisrichter*innen bewertbar ist, erst ausgestellt werden muss. Performance liegt somit im Kern des Schönheits‐ wettbewerbs. 8 Bemerkenswert ist die ‚Aufführung‘ von Schönheit, aber gleichzeitig die Frage, welche Form von Identität genau es ist, die aufgeführt werden soll. So haben Caroline Amann und Hans J. Wulff darauf hingewiesen, dass historisch Misswahlen mit normativen Ansprüchen verbunden waren. Um als ‚schön‘ zu gelten, mussten Teilnehmerinnen auch eine bestimmte soziale Rolle innehaben. So musste die Miss World etwa unverheiratet sein 9 und durfte nicht in Nackt‐ aufnahmen erscheinen. Amann und Wulff erklären: [Dem] Regime von Regeln gegenüber steht das Bekunden, dass in das Miss-Urteil die Wahrnehmung des Aussehens, der Posen, der Ausstrahlung, des Lächelns, der 204 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="205"?> 10 Caroline Amann und Hans J. Wulff, „Misswahlen und Schönheitswettbewerbe: Ein Filmographisches Dossier“, in: Medienwissenschaft: Berichte und Papiere 165 (2015), S.-1-20, hier S.-2. 11 Kreuder hat die grundlegende Rolle des Castings auch in Bezug auf Diversität im Bereich des Theaters betont, er konstatiert: „Damit ist für das Theater ein paradoxales Spannungsverhältnis zwischen der Transgression und der Reproduktion körperba‐ sierter Humandifferenzierungen umrissen […]“, siehe Friedemann Kreuder, „Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen“, in: Stefan Hirschauer (Hg.), Un/ doing Differences, Weilerswist-Metternich 2017, S. 234- 58, hier S.-234. 12 Banet-Weiser, The Most Beautiful Girl in the World, S.-31. 13 Amann und Wulff, „Misswahlen und Schönheitswettbewerbe“, S.-2. 14 „Der erste große Auftritt“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 2 Folge 1, 01.03.2007, Joyn, https: / / www.joyn.de/ play/ serien/ germanys-next-topmodel/ 2-1-der-erste-grosse-auftri tt. 17: 25. Fähigkeit, sich zu artikulieren, der Makellosigkeit von Haut und Körper, der Haare in das Urteil einfließe. 10 Damit, so könnte man anführen, besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Aufgeführten (on stage) und dem, das sich hinter der Bühne vollzieht. Um zur Performanz überhaupt zugelassen zu werden, mussten die contestants der Miss-World-Wettbewerbe bereits bestimmte soziale Rollen erfüllen bzw. unter Beweis stellen, etwa den Status der ledigen Frau und das Ideal der Schicklichkeit. Die Erfüllung dieser sozialen Rolle geht so der eigentlichen Performance voraus; erst, wenn man dieses „Casting“ 11 absolviert hat, darf man überhaupt auf die Bühne. In der Fähigkeit sich auszustellen, die Sarah Banet-Weiser als „ever so elu‐ sive‚ poise“ 12 bezeichnet hat, liegt dann die eigentliche Leistung begründet. Die Gewinner*innen eines Schönheitswettbewerbs, so wird vor allem im ‚Talentteil‘ des Wettbewerbs deutlich, sind so nicht nur schöne Körper. Hier werden Parallelen zwischen Schönheitswettbewerben und dem Beruf des Modelns deutlich. Wie Amann und Wulff weiter ausführen: „Oft wird den Modellen zu alledem noch ein persönlicher Slogan abgefordert, an dem man das persönliche Ich der Bewerberinnen erkennen können soll.“ 13 Die Betonung des ‚Ichs‘ und somit der persönlichen Identität bzw. individuellen Persönlichkeit wird hier direkt mit Leistungserbringung verknüpft, eine Verbindung, die GNTM betont, wenn Jurorin und Gastgeberin Heidi Klum bereits in Staffel 2 erklärt: „Man sucht auch immer so ein bisschen Persönlichkeit von jemandem.“ 14 Hier wiederum mag man gleichzeitig eine Spaltung zwischen Körper und Geist erkennen; denn um sich ausstellen oder posen zu können, muss man zunächst eine Choreografie entwerfen, in deren Rahmen man in seinem besten Licht erscheint. Sind also Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 205 <?page no="206"?> 15 „Bootcamp Edition“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 2, 10.02.2022, ProSieben, https: / / video.prosieben.de/ serien/ germanys-next-topmodel-by-heidi-klum/ videos/ staf fel-17-episode-2-bootcamp-edition. 01: 47: 54. 16 Verheyen, Die Erfindung der Leistung, S.-11-12. 17 Marion Müller und Christian Steuerwald, „Gender, race und disability. Einführende überlegungen zur Bedeutung sozialer Zugehörigkeiten im Sport und in der (Sport-)So‐ ziologie“, in: Marion Müller und Christian Steuerwald (Hg.), „Gender“, „Race“ und „Disability“ im Sport. Von Muhammad Ali über Oscar Pistorius bis Caster Semenya, Bielefeld 2017, S.-7-21, hier S.-8. 18 Diesem Gleichheitsverspechen kann auch durch die Verwendung von Handicaps oder Ähnlichem Rechnung getragen werden. Schönheit und Dummheit, so könnte man provokativ fragen, vereinbar? Wie beispielsweise Gastjuror Yu Tsai in Staffel 17 von GNTM bemerkt, meistert die 50-jährige Kandidatin Martina ihre Aufgabe deshalb so bravourös, weil sie „smart” ist: Sie geht eine Treppe schräg herunter, während ihre Konkurrenz gerade voranschreitet; durch diesen ‚Kunstgriff ‘ in der Selbstinszenierung stolpert Martina nicht und setzt sich dadurch gekonnt in Szene. 15 Die eigentliche Leistung besteht somit darin, perfekt zu performen. Der Leis‐ tungs- und der Wettbewerbsbegriff wiederum sind in der Annahme verwoben, dass alle Teilnehmenden formal unter den gleichen Bedingungen antreten. Nina Verheyen hat den Leistungsbegriff wie folgt beschrieben: In Debatten über soziale Gerechtigkeit verweist die Kategorie auf ein aus den Anstren‐ gungen oder dem Aufwand einer einzelnen Person resultierendes Handlungsergebnis, das unter den Bedingungen formaler Chancengleichheit erbracht und von anderen erwünscht wird, der Gesellschaft also nützt und von ihr entsprechend belohnt werden sollte. 16 Verheyen setzt so Anstrengung, Ertrag und Belohnung in Verbindung und bezieht sich auf eine angenommene Chancengleichheit. Dieses Gleichheitsver‐ sprechen bildet die Grundlage für Leistungserbringung im Rahmen von Wett‐ bewerben; dies gilt für den Schönheitswettbewerb ebenso wie für sportlichen Wettkampf. Marion Müller und Christian Steuerwald stellen in Bezug auf sportliche Wettbewerbe fest: „Um aber überhaupt Unterschiede feststellen zu können, setzt jeder Vergleich in einem ersten Schritt die Behauptung von Kommensurabilität zwischen den miteinander verglichenen Einheiten voraus.“ 17 Alle Teilnehmer*innen, so ist das Grundversprechen eines jeden Wettbewerbs, starten unter den gleichen Bedingungen; 18 dieses Gleichheitsprinzip macht den Wettbewerb erst zum Wettbewerb. Bei Schönheitswettbewerben jedoch stellt, wie Amann und Wulff anmerken, die Idee der Bewertung eine grundsätzliche Herausforderung dar. Sie führen 206 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="207"?> 19 Amann und Wulff, „Misswahlen und Schönheitswettbewerbe“, S.-2. 20 Die „Reise“ kann hier sowohl metaphorisch als auch wörtlich verstanden werden, geht es doch um die individuelle, innere „Reise“ ebenso wie die Teilnahme an weiteren Veranstaltungen, wie etwa dem „Miss Germany Camp“. an: „Weil es bei den Schönheitswettbewerben nicht um eine wie auch immer erreichte Leistung geht, sondern um ein Geschmacksurteil, handelt es sich nicht eigentlich um Wettbewerbe.“ 19 Die Komplexität der ‚Leistungsmessung‘ bei Schönheitswettbewerben wie GNTM liegt also daran, dass ‚Schönheit‘ nicht ‚messbar‘ sein kann; sie ist allenfalls bewertbar, liegt jedoch gleichzeitig sprich‐ wörtlich im Auge der Betrachtenden. Dieses Spannungsverhältnis ist letztlich nicht auflösbar und liegt als Ambivalenz im Kern des Schönheitswettbewerbs. Hier kann jedoch wie eingangs bereits beschrieben auch angemerkt werden, dass der Rahmen des Schönheitswettbewerbs eben nicht mit Model-Wettbe‐ werben wie GNTM deckungsgleich ist. Um ein erfolgreiches Model zu sein, braucht es nicht nur Schönheit, sondern auch Wandelbarkeit; diese ist zentral für Werbekampagnen, für die es zu modeln gilt. Deshalb, so könnte man weiter ausführen, werden zwar Models oft Schauspielerinnen, aber selten Schönheits‐ königinnen. Dennoch wird versucht, Gleichheit im Falle des Schönheitswett‐ bewerbs zunächst durch die ihm zugrunde liegenden Statuten zu erzielen. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass es in vielen Fällen keinen ‚Standard‘ für Größe und Gewicht von Teilnehmenden mehr gibt; sozialer Wandel und somit auch ein Wandel der Vorstellung darüber, was als ‚schön‘ gelten kann, hat somit auch Einzug in das Format der Schönheitswettbewerbe gehalten. Damit, so könnte man anführen, hat die Feststellung von Amann und Wulff über Schönheit als ‚Geschmacksurteil‘ letztlich Einzug in die Rahmung von Schönheitswettbewerben gehalten: Denn wenn die Feststellung bzw. die Bewertung von Schönheit subjektiv ist, dann liegt es nahe, Teilnehmer*innen ungeachtet von normativ festgelegten Bezugsgrößen zum Wettbewerb zuzu‐ lassen. Gleichzeitig, so könnte man behaupten, mögen hier sozialer Wandel und politische Korrektheit bzw. Anti-Diskriminierungsbewegungen Eingang in die Welt der Schönheitswettbewerbe gefunden haben. Für die Wahl zur Miss Germany stellt sich dieser Sachverhalt so dar: Bewerben kann sich jede Frau zwischen 18 und 39 Jahren, die in Deutschland gemeldet ist. Auf unserer Reise 20 geben wir jeder, die ihre Geschichte erzählen möchte, das Megafon in die Hand. Dabei verzichten wir auf Beschränkungen wie Größe, Konfektion, Glaube oder stigmatisierte und klein gedachte Hürden. Wir feiern die Vielfältigkeit des Seins und freuen uns auf Bewerberinnen, die uns und die Menschen Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 207 <?page no="208"?> 21 „FAQ - Fragen und Antworten“, Miss Germany Studios, 23.02.2023, https: / / missgerman y.com/ awards/ faq/ [Zugriff am 23.01.2024]. 22 Verblüffend hierbei ist, dass nicht nur äußere Merkmale wie „Konfektion“ oder „Größe“ angesprochen werden, sondern auch Aspekte der persönlichen Überzeugung: Was hätte „Glaube“ mit Schönheit zu tun? 23 Es handelt sich hier um eine Art von „Diffusion“ einer Differenz, die auch in anderen Kontexten diskutiert worden ist. So spricht etwa Bettina Heintz von einer „De-insti‐ tutionalisierung der Geschlechterverhältnisse“, siehe: „Geschlecht und Kontext. De-In‐ stitutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung“, in: Zeitschrift für Soziologie 27. 2 (1998), S.-75-93, hier S.-75. 24 Patricia Kämpf, „Diversity bei GNTM: Darum ist die Rolle von Heidi Klum nicht zu unterschätzen“, WEB.DE News, 28.02.2023, https: / / web.de/ magazine/ unterhaltung/ tv-s hows/ germanys-next-topmodel/ diversity-gntm-rolle-heidi-klum-unterschaetzen-3784 8868 [Zugriff am 23.01.2024]. um sie herum mit ihrer Persönlichkeit begeistern und mitreißen. MISS GERMANY steht für Vielfalt! 21 Diese Lesart von „Vielfalt“ schließt hier jede Teilnehmerin ein, „die ihre Ge‐ schichte erzählen will“; Stigmatisierung, so wird signalisiert, ist hier fehl am Platz. Dennoch aber beginnt das Zitat mit einem Ausschluss: Mit 39 Jahren endet die Möglichkeit einer Teilnahme am Miss Germany-Wettbewerb. Während der Abbau von manchen Hürden in den Fokus genommen wird („Größe, Konfektion, Glaube“ 22 ), bleibt Alter unsichtbar und wird, so scheint es, nicht als exkludierendes Kriterium verstanden. So legt bereits das Konzept der ‚Miss‘ Jugendlichkeit nahe, wodurch ein Ausschluss älterer Menschen aus der Kategorie des ‚Schönen‘ bereits implizit ist. Die Voraussetzungen für eine Teilnahme am Wettbewerb suggerieren so Gleichheit; damit dieses Gleichheitsprinzip im Schönheitswettbewerb aber haltbar ist, müssen zunächst alle systemischen Betrachtungen systematisch ausgeblendet werden. So mag es schlichtweg leichter sein, schön zu sein, wenn man Zugang zu gesunder Ernährung oder die Möglichkeit und die Zeit dazu hat, regelmäßig Sport zu treiben. Schönheit, so könnte man hier anführen, ist eben gerade nicht unabhängig von sozialem Hintergrund oder ökonomischen Möglichkeiten. Gerade diese Hintergründe aber macht das Gleichheitsversprechen, dem Schönheitswettbewerbe unterliegen, auf kuriose Weise unsichtbar oder vielmehr, es erklärt sie für irrelevant. 23 Diese Maxime lässt sich auch auf Germany’s Next Topmodel anwenden. Wie die Kommuni‐ kationswissenschaftlerin Kathrin Karsay in einem Interview erklärt: „Diese Sendungen vermitteln die neo-liberale Idee, dass man alle biologischen und gesellschaftlichen Ungleichheiten überwinden kann, wenn man nur hart genug und mit viel Entschlossenheit und Fleiß an sich arbeitet.“ 24 - 208 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="209"?> 25 Stefan Hirschauer verdeutlicht diese Relationalität, siehe Stefan Hirschauer, „Un/ doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten“, in: Zeitschrift für Soziologie 43.3 (2014), S.-170-191, hier S.-173. 26 Müller und Steuerwald, „Gender, race und disability“, S.-9. 27 „Auftakt in Athen“, 03: 50. 28 Verschiedene Vertreter*innen der Modebranche haben betont, dass die gestellten Aufgaben wenig mit dem Modelalltag zu tun haben und Kandidatinnen nur in sehr geringem Maße auf diesen vorbereiten. So etwa Ex-Kandidatin Louisa Mazzurana im Interview mit Promiflash, siehe „Ex-Kandidatin packt aus: GNTM bereitet nicht auf Das Gleichheitsprinzip steht gleichzeitig in einem weiteren Spannungsfeld, nämlich zur Frage der Segregation. Gleichheit ist nämlich nicht einfach da, viel‐ mehr beschreibt sie immer auch eine Relation: Man ist im Verhältnis zu anderen gleich oder verschieden. 25 Damit aber eine solche Gleichheit hergestellt werden kann, so haben Müller und Steuerwald in Bezug auf sportlichen Wettkampf argumentiert, muss zunächst segregiert werden. Sie erklären: Nur wenn SportlerInnen derselben Kategorie angehören und damit überhaupt als miteinander vergleichbar gelten, werden je nach Sportart entlang eines ausgewählten Kriteriums Unterschiede zwischen ihnen beobachtet […]. 26 Erst diese Segregation - im Sport etwa nach Altersgruppen oder Geschlecht - macht es möglich, dass die Teilnehmer*innen dann als vermeintlich Gleiche unter den gleichen Bedingungen starten. In anderen Worten, um Gleichheit zu erreichen, ist zunächst Ungleichheit von Nöten; man muss zunächst von Ungleichheit ausgehen beziehungsweise Menschen ungleich machen - man muss sie sortieren nach Alter, Geschlecht oder Behinderung -, um dann diejenigen herauszufiltern, die man als Gleiche im Wettbewerb antreten lässt. Humandifferenzierung, so könnte man hier behaupten, liegt also im Kern des Wettbewerbs. Diese Sortierung wiederum, die das Herstellen von Gleichheit erst möglich macht, kann durch Regeln etabliert werden (etwa beim Wettkampf im Sport), sie kann aber auch ungeschriebenen Gesetzen folgen, d. h. Segre‐ gation kann explizit oder implizit vollzogen werden. In der 17. Staffel von Germany’s Next Topmodel findet die Segregation zwischen Kandidatinnen und Nicht-Kandidatinnen im Verborgenen statt. So erklärt Klum im Voiceover, dass sich 9000 für eine Teilnahme beworben hätten, und sie selbst dann 31 von ihnen ausgewählt habe. 27 Die Grundlagen für diese Entscheidung, so ist offensichtlich, werden nicht formalisiert; die Idee des Casting gleicht daher einer ‚Blackbox‘. Ist diese Entscheidung getroffen, treffen in Germany’s Next Topmodel nun Schönheitswettbewerb und Castingsendung aufeinander. Das seit 2006 auf dem Privatsender ProSieben ausgestrahlte Format richtet sich an seiner US-ameri‐ kanischen Vorlage aus; in teils skurril anmutenden 28 „Challenges“ sucht Heidi Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 209 <?page no="210"?> Alltag vor“, Promiflash, 16.02.2020, https: / / www.promiflash.de/ news/ 2020/ 02/ 16/ ex-k andidatin-packt-aus-gntm-bereitet-nicht-auf-alltag-vor.html. [Zugriff am 23.01.2024]. Auch der Vorstand der Modelagentur MGM Marco Sinervo betont eine ähnliche Sicht via Buzzfeed, siehe Seitler, „‚Shitshow‘: Modelagentur-Chef rechnet mit GNTM ab - Teilnahme ‚massiv hinderlich für Karriere‘“, Buzzfeed, 29.04.2022, https: / / www.buzz feed.de/ news/ gntm-2022-abrechnung-mode-agentur-heidi-klum-pro-sieben-91493943. html [Zugriff am 23.01.2024]. 29 Marie von den Benken, „Plötzlich divers statt sexistisch? “, FAZ.NET, 04.02.2022, https: / / www.faz.net/ aktuell/ stil/ trends-nischen/ neue-gntm-staffel-macht-ploetzlich-statt-se xismus-auf-diversity-17776365.html [Zugriff am 23.01.2024]. 30 „Studie sieht in ‚Germany‘s next Topmodel‘ Gefahr für junge Mädchen“, in: Hamburger Abendblatt, 24.04.2015, https: / / www.abendblatt.de/ nachrichten/ article205274605/ Studi e-sieht-in-Germany-s-next-Topmodel-Gefahr-fuer-junge-Maedchen.html [Zugriff am 23.01.2024]. Die hier als eindeutig dargestellte Beziehung zwischen Essstörungen und Castingsendungen erscheint potenziell vereinfacht, wie Christian Schemer anmerkt: „Im Lichte der bisherigen Forschungsergebnisse ist dieser Schluss jedoch zu vereinfacht und wird der Vielschichtigkeit der Ursachen von Körperbildstörungen nicht gerecht“, siehe Christian Schemer, „Schlank und krank durch Medienschönheiten? Zur Wirkung attraktiver weiblicher Medienakteure auf das Körperbild von Frauen“, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 51. 3-4 (2003), S.-523-540, hier S.-534. 31 „Der erste große Auftritt“, 18: 35. 32 Sarah Maaß, „Normativierung, Normalisierung und Hypernormalismus: Technologien des Körpers und des Selbst in der Castingshow Germany’s Next Topmodel“, in: Matthias Uecker and Dirk Goettsche (Hg.), Norms, Normality and Normalization. Papers from the Postgraduate Summer School in German Studies, Nottingham 2013, S.-51-64, hier S.-54. 33 Maaß, „Normativierung, Normalisierung und Hypernormalismus“, S.-55. 34 So erklärt Laura Mulvey: „In a world ordered by sexual imbalance, pleasure in looking has been split between active male and passive/ female. The determining male gaze Klum mit unterschiedlichen Gastjuror*innen das nächste Topmodel. Seit ihrer Erstausstrahlung bleibt die Sendung medialer Kritik ausgesetzt und wurde für ihre Rahmung der Kandidatinnen getadelt. So bezichtigen zahlreiche Beiträge die Sendung des Sexismus; die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwa sprach von ihr als dem „Sexismus-Flaggschiff von ProSieben“ 29 . Gerade der Einfluss auf junge Zuschauer*innen wurde in solchen Kritiken betont; so berichtete das Hamburger Abendblatt über eine Studie, die einen direkten Zusammenhang zwischen Magersucht und der Sendung herstelle. 30 In der Kritik steht hier auch die wahrgenommene Objektifizierung des weiblichen Körpers, die gerade in den ersten Staffeln des Castingformats deutlich wird. Hier wurden Kandidatinnen auf der Bühne vermessen, gewogen, mussten über etwaige Tattoos und Hautpro‐ bleme Rede und Antwort stehen. 31 Sarah Maaß spricht 2014 daher davon, dass die Sendung „Normalisierungsarbeit“ 32 leistet, etwa, indem die Models gezielt in der richtigen Diät unterrichtet werden. 33 Auch qualvolle Laufbandtrainings auf High Heels vor männlichen Juroren können hier angesprochen werden, die als eine Form von Unterwerfung unter den male gaze gesehen werden können. 34 210 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="211"?> projects its phantasy on to the female figure which is styled accordingly“, siehe „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16.3 (1975), S.-6-18, hier S.-11. 35 „GNTM: Zahlen und Fakten“, Rhein-Zeitung, 01.06.2013, https: / / www.rhein-zeitu ng.de/ artikelarchiv_artikel,-gntm-zahlen-und-fakten-_arid,604223.html [Zugriff am 23.01.2024]. 36 „GNTM 2024: Das Casting ist offiziell Beendet“, ProSieben, 15.06.2023, https: / / www.p rosieben.de/ serien/ germanys-next-topmodel-by-heidi-klum/ news/ gntm2024-das-casti ng-ist-offiziell-beendet-60638 [Zugriff am 23.01.2024]. 37 „So bewirbst du dich für ‚Germany’s Next Topmodel‘“, ProSieben, 21.12.2022, https: / / www.prosieben.de/ serien/ germanys-next-topmodel-by-heidi-klum/ news/ so-bewirbs t-du-dich-fur-gntm-60638. [Zugriff am 23.01.2024]. Die Festlegung einer Altersunter‐ grenze von 18 Jahren steht dabei auch in einem Spannungsfeld mit dem Modelmarkt, so empfiehlt beispielsweise die Modelagentur CM Models eine Bewerbung mit 15 oder 16 Jahren, siehe „Model werden mit 13 Jahren: Kinder Model“, CM Models, https: / / cmmod els.de/ model-werden-mit-13-jahren-kinder-model/ [Zugriff am 05.03.2024] und MGM gibt neben Gewicht und Größe auch eine Altersrahmen von 16-25 vor, siehe „Become a Model“, MGM Models, https: / / www.mgm-models.de/ become_a_model [Zugriff am 05.03.2024]. 38 Germany’s Next Topmodel, „So vielfältig wie nie - Die Staffel 2022 stand unter dem Motto ‚Diversity‘ | GNTM 2022 ProSieben“, YouTube, 30.05.2022, https: / / www.youtube .com/ watch? v=dF4-7NPVzo0. 00: 16 [Zugriff am 23.01.2024]. Hier wird die Idee des Models - und daher implizit auch der Schönheit - mit einer spezifischen Körperform verbunden, die durch Messbarkeit nachweisbar und durch Diät herstellbar ist. Diese an die Kandidatinnen angelegten Maßstäbe sind jedoch fluide und haben sich im Laufe der bisher 19 Staffeln stark verändert, wie die Teilnahme‐ bedingungen deutlich machen: Anfangs lag die Mindestgröße bei 1,72 m, wurde dann 2013 auf 1,76 m gehoben, 35 aktuell gibt es keinen Standard mehr. 36 Diese Verschiebung schließt auch das Alter der Bewerberinnen mit ein: Während ursprünglich Models ab 16 Jahren teilnehmen durften, liegt das Mindestalter gegenwärtig bei 18, eine Obergrenze gibt es nicht. Schließlich, so erklärt ProSieben auf der Bewerbungsseite für die 18. Staffel der Sendung, die 2023 ausgestrahlt wurde: „Wie schon im vergangenen Jahr gilt: Bewerben kann sich jede Frau, mit jeder Größe, in jedem Alter, mit jeder Konfektionsgröße. Die einzige Einschränkung: Mindestalter 18 Jahre.“ 37 Hier werden zwei Aspekte deutlich: Bis auf das eindeutig festgelegte Geschlecht scheinen alle anderen Maßstäbe - also solche Differenzen, die eine Teilnahme zuvor unmöglich gemacht hätten - weggefallen zu sein. In dieser Entwicklung erscheint die vorhergegangene Staffel, Staffel 17, die 2022 ausgestrahlt wurde, als ein Wendepunkt. Diese Staffel, die primär mit Bezug auf Diversity vermarktet wurde, 38 warb mit der Vielfalt ihrer Kandida‐ tinnen, die in vielerlei Hinsicht von einem vermeintlichen Schönheitsideal Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 211 <?page no="212"?> 39 „Heidi Klum wendet sich zum GNTM-Auftakt an ihre Kritiker.“ FOCUS on‐ line, 17.02.2023, https: / / www.focus.de/ kultur/ kino_tv/ keine-schuhe-angesaegt-zum-g ntm-auftakt-wendet-sich-heidi-klum-an-ihre-kritiker_id_186050608.html [Zugriff am 23.01.2024]. 40 „Auftakt in Athen“, 05: 54. 41 Dieser Fokus auf das Anderssein lässt sich auch mit der Überschneidung von Leis‐ tungserbringung und Devianz in Verbindung bringen. Benjamin Wihstutz erklärt in diesem Zusammenhang: „Devianz wird dabei zunächst als statistisch geprägte Normabweichung verstanden, die sowohl am oberen als auch am unteren Ende der Leistungsmessung auftritt, als außergewöhnliche Leistung einerseits, als Leistungsun‐ fähigkeit andererseits.“ Siehe Benjamin Wihstutz, „Leistung und Devianz um 1900. Über abwichen, etwa durch Gewicht, auffällige Zähne oder höheres Alter. Hier sollte, so könnte man anführen, die Idee der ‚Schönheit‘, wie sie einem Schön‐ heitswettbewerb zu Grunde liegt, neu gedacht werden. Diesen Punkt betonte Klum explizit, indem sie erklärte: „Ich will das Schönheitsideal nicht nur verändern, sondern abschaffen, aber ich suche immer noch nach einem Model mit dem gewissen Etwas.“ 39 Das betonte „Abschaffen“ des Ideals steht hier im Spannungsfeld mit dem angekündigten Wettbewerb - Maße werden durch das „gewisse Etwas“ in nicht-messbare Ideale überführt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll im Folgenden die 17. Staffel - die ‚Diversity Staffel‘ von Germany’s Next Topmodel - näher untersucht werden. Dabei soll die die Darstellung von Diversität ebenso in Erwägung gezogen werden wie speziell die Rahmung von Alter. Schließlich wurde Diversität zum ersten Mal auch über Alter präsentiert: Drei der Kandidatinnen waren über 50 Jahre alt. Während bei der oben bereits beschriebenen Wahl zur Miss Germany das Höchstalter für Bewerberinnen noch bei 39 Jahren lag, wird in Germany’s Next Topmodel nun der Schönheit keine Altersgrenze mehr gesetzt. 2. Die Performanz der Leistung in Germany’s Next Topmodel Zum Auftakt der 17. Staffel von Germany’s Next Topmodel konstatiert Heidi Klum: „Denn egal, wie groß oder klein du bist, wen du liebst, woher du kommst, wie alt du bist, für mich gibt es keine Grenzen. Für mich zählt nur, wer du bist.“ 40 Dieser Prämisse folgend, wird neben dem Alter das Thema Diversity auf unterschiedliche Weise angesprochen: So ist Noella schwarz, im Kongo geboren und hat eine deutlich sichtbare Narbe am Bein, Lou-Anne hat millimeterkurze Haare, ist eine Plus-Size-Kandidatin und tritt in Begleitung ihrer Mutter Martina beim Wettbewerb an. Das Motto der Diversität, so scheint es, markiert alle Abweichungen vom gängigen Modelideal als gleich: Das Anderssein wird so zum gemeinsamen Nenner. 41 212 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="213"?> Performances als Praktiken der Humandifferenzierung“, in: Dilek Dizdar et al. (Hg.), Humandifferenzierung, Weilerswist-Metternich 2021, S.-230-59, hier S.-231. 42 Im englischen Original lautet das Zitat wie folgt: „Beauty contests play a significant part in the making and sustaining of a modern version of settler feminity that codes white, heterosexual, female bodies as racially superior and exemplars of the healthy, prosperous, and strong settler nation.“ Siehe Patrizia Gentile, Queen of the Maple Leaf: Beauty Contests and Settler Femininity, Vancouver 2020, S.-3. 43 Für weitere Informationen zur sich verändernden Rolle von Diversität im Bereich des Modelns, siehe Robin Givhan, „Diversity in Modeling Is No Longer Simply a Matter of Race and Ethnicity, Size and Age. It’s Everything and Anything“, Washington Post, 12.05.2021, https: / / www.washingtonpost.com/ magazine/ interactive/ 2021/ diversity-mo dels-fashion/ . [Zugriff am 01.02.2024]. Der Fokus auf das Individuum, den Klum dennoch suggeriert, steht dabei im Gegensatz zum Wettbewerbsgedanken, schließlich braucht jeder Wettbewerb nicht nur ein Gleichheitsversprechen, sondern auch ein Ideal: So impliziert der Model-Wettbewerb eine Idealvorstellung darüber, was ein ‚Topmodel‘ ist; dies impliziert neben der Performance als Model zweifellos auch ein Schönheitsideal und nicht nur das Kriterium einer gelungenen Performanz. Diese Vorstellung wiederum ist in kulturelle Rahmen eingebettet und hat politische Implikationen, wie Patrizia Gentile in Queen of the Maple Leaf: Beauty Contests and Settler Feminity deutlich macht: Schönheitswettbewerbe spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrecht‐ erhaltung einer modernen Version von Siedlerweiblichkeit, die weiße, heterosexuelle, weibliche Körper als rassisch überlegen und als Beispiel für eine gesunde, wohlha‐ bende und starke Siedlernation kodiert. 42 Schönheit, so hebt Gentile hervor, war historisch in den USA eng mit einer politischen Ideologie verbunden, ebenso wie mit dem Ideal des ‚Weißseins‘. Obwohl wir uns hier auf ein dem US-Amerikanischen entlehntes, deutsches TV-Format beziehen, ist Gentiles Einschätzung von zentraler Bedeutung, ver‐ deutlicht sie doch eine enge Verzahnung der in Wettbewerben ausgestellten Schönheit mit eurozentrischen und heteronormativen Perspektiven. Lange galt auch in europäischen Schönheitswettbewerben die Maxime, dass, wer schön sein will beziehungsweise wer als schön gelten will, eben nicht alt, Schwarz oder behindert sein darf. Die Diversity-Staffel positioniert sich nun bewusst im Gegensatz zu exklu‐ dierenden Praktiken und folgt so einer größeren Verschiebung auf dem Model‐ markt, der bereits am Beispiel der Miss Germany, aber auch darüber hinaus deutlich wird. 43 Hier könnte man die Diversity-Staffel von Germany’s Next Topmodel mit Hilfe der Methode der Critical Diversity Studies analysieren. Diese Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 213 <?page no="214"?> 44 Im Original heißt es: „It is the very use of black bodies as signs of diversity that confirms such whiteness, premised on a conversion of having to being: as if by having us, the organization can ‚be‘ diverse.“ Siehe Ahmed, „A Phenomenology of Whiteness“, S. 164. 45 Die Gala etwa titelte bereits Monate vor der Erstausstrahlung: „Die älteste Kandi‐ datin ist 68 Jahre alt! “, gala.de, 17.11.2021, https: / / www.gala.de/ lifestyle/ film-tv-mu sik/ -gntm--2022--die-aelteste-kandidatin-ist-68-jahre-alt--22548358.html [Zugriff am 01.02.2024]. Stylebook präsentierte „Barbara, Lieselotte und Martina - Heidis älteste GNTM-Kandidatinnen im Check“, Stylebook, 03.02.2022, https: / / www.stylebook.de/ life / aelteste-gntm-kandidatinnen [Zugriff am 01.02.2024]. Très Click veröffentlichte einen eigenen Artikel zum Thema: „Bei GNTM machen zum ersten Mal ältere Frauen mit - Warum sich darüber im Netz so viele aufregen“, Très Click, 18.01.2022, http: / / www.tre s-click.com/ gntm-2022-aeltere-frauen-reaktionen/ . [Zugriff am 01.02.2024]. machen es sich zur Aufgabe, Diversität als ein letztlich neoliberales Modell zu entlarven. Wie Sarah Ahmed verdeutlicht: Gerade die Verwendung schwarzer Körper als Zeichen der Diversität bestätigt dieses Weißsein, das auf einer Umwandlung des Habens in ein Sein beruht: als ob die Organisation, indem sie uns hat, divers ‚sein‘ kann. 44 Im Kern dieser Kritik liegt die These, dass im Rahmen von Diversitätspolitiken zwar ‚neue‘ Gesichter beziehungsweise ‚andere‘ Körper inkludiert werden, der Rahmen selbst sich jedoch durch diese Inklusion nicht verändert. Der Rahmen - das Korsett dessen, was als schön gelten kann, der Status Quo - wird vielleicht dehnbar, er bleibt aber dennoch intakt. Angewandt auf Germany’s Next Topmodel würde dies unter anderem bedeuten, dass die dargestellte Diversität auf einer grundsätzlich binär gegenderten Grundannahme fußt - diese wird auch dadurch nicht angetastet, dass sich nun ältere, größere Größen tragende, oder behinderte Frauen ‚ausstellen‘ dürfen. Wie nun lässt sich die Diversity-Staffel mit dem Leistungsbegriff zusammen‐ denken? Dieser Frage folgend sollen nun zwei Aspekte näher beleuchtet werden, die gleichzeitig in Beziehung zueinander gesetzt werden sollen: Es soll die Inklusion von Alter(n) ebenso betrachtet werden wie die Frage, wie und von wem Leistung überhaupt erbracht werden kann und dann zur Aufführung kommt. Die Teilnahme dreier Kandidatinnen über 50, Martina (50), Lieselotte (66) und Barbara (68), die das Castingformat auch als „Best Ager“ bezeichnet, sorgte bereits vor Staffelstart für Interesse. 45 Besonders interessant ist hier, dass die älteren Kandidatinnen häufig im generationalen Unterschied dargestellt werden, etwa, wenn User unter einer vor Beginn der Staffel auf Instagram veröffentlichten Aufnahme kommentieren: „Nach Männern gewinnen jetzt also 214 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="215"?> 46 Artminimalistica, Kommentar zu „Natürlich. Pur. Schön. So inszeniert Starfotograf Rankin @heidiklum und ihre Kandidatinnen für die Kampagne der 17. Staffel #GNTM auf Mykonos. ✨ ‚Germany’s Next Topmodel - by Heidi Klum‘ - ab 3. Februar, immer donnerstags, um 20: 15 Uhr auf ProSieben. #prosieben 📸 Rankin“, Instagram, 19.01.2022, https: / / www.instagram.com/ p/ CYn2xpJqQJs/ [Zugriff am 12.05.2023]. 47 nitaazkl, Kommentar zu „Natürlich. Pur. Schön. So inszeniert Starfotograf Rankin @hei‐ diklum und ihre Kandidatinnen für die Kampagne der 17. Staffel #GNTM auf Mykonos. ✨ ‚Germany’s Next Topmodel - by Heidi Klum‘ - ab 3. Februar, immer donnerstags, um 20: 15 Uhr auf ProSieben. #prosieben 📸 Rankin“, Instagram, 19.01.2022, https: / / ww w.instagram.com/ p/ CYn2xpJqQJs/ [Zugriff am 12.05.2023]. 48 Abel.dmtr, Kommentar zu „Natürlich. Pur. Schön. So inszeniert Starfotograf Rankin @heidiklum und ihre Kandidatinnen für die Kampagne der 17. Staffel #GNTM auf Mykonos. ✨‚Germany’s Next Topmodel - by Heidi Klum‘ - ab 3. Februar, immer don‐ nerstags, um 20: 15 Uhr auf ProSieben. #prosieben 📸 Rankin“, Instagram, 19.01.2022, h ttps: / / www.instagram.com/ p/ CYn2xpJqQJs/ [Zugriff am 12.05.2023]. 49 „Auftakt in Athen“, 20: 35. Omis? “ 46 , „oma bist du jz bei gntm“ 47 , oder „2 davon könnten einfach meine Oma sein“ 48 . Zunächst exkludiert die Lesart der älteren Teilnehmerinnen als „Oma“ diese rhetorisch vom Wettbewerb, schließlich wird die Rolle der Großmutter mit Häuslichkeit verbunden und ist von der des sexualisierten Models deutlich abgegrenzt. Ebenso wie der erste Kommentar als beleidigende Anspielung auf das Transmodel Alex Mariah Peter erscheint, die das Format im Jahre 2021 gewann, soll so vom Publikum deutlich gemacht werden, dass die älteren Kandidatinnen nicht der Kategorie des gesuchten Models entsprechen. Dass sie nun als ‚Oma‘ erscheinen, setzt ihr Alter zudem in Relation, sowohl zu den jüngeren Kandidatinnen als auch zu den Kommentierenden selbst. Hier wird bereits deutlich, dass die Kandidatinnen über 50 für viele als für das Format unerwartet erscheinen und sie die Rahmung des gesuchten Models ‚dehnen‘ oder zumindest herausfordern. Diese Dehnung beginnt bereits auf der sprachlichen Ebene. 16 Staffeln hindurch hatte Heidi Klum stets von „meinen Mädchen“ gesprochen - eine Be‐ grifflichkeit, die nun nicht mehr recht zu allen Kandidatinnen zu passen scheint. So erklärt sie beim ersten Aufeinandertreffen mit Lieselotte und Barbara: „Ich kann ja jetzt nicht mehr so wirklich Mädchen sagen, wir sind ja alle keine Mädchen mehr. Soll ich einfach ‚Models‘ sagen? … Ihr seid ja jetzt Models, oder nicht? “ 49 Hier findet eine deutliche Verschiebung statt, da der Begriff des Mädchens, gerade in Verbindung mit dem von Klum häufig verwendeten Possessivpronomen, auch einen Alters- und Erfahrungsunterschied impliziert. Aus „meinen Mädchen“ werden so „meine Models“ - eine Verschiebung hin zu einer Berufsbezeichnung, die auch Leistungserbringung suggeriert. Zu betonen ist auch, dass Klum sich hier in die Gruppe der beiden einschreibt, sie seien Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 215 <?page no="216"?> 50 Maaß, „Normativierung, Normalisierung und Hypernormalismus“, S.-54. 51 Riccardo Schmidlin, „Nach Mega-Shitstorm: Jetzt kontert Heidi Klum Kritik an Model‐ show“, PilatusToday, 16.02.2023, https: / / www.pilatustoday.ch/ unterhaltung/ people/ na ch-mega-shitstorm-jetzt-kontert-heidi-klum-kritik-an-modelshow-150149677 [Zugriff am 01.02.2024]. 52 Germany’s Next Topmodel, „Heftige Aussage von Heidi: ‚Ein Model ohne Job ist kein Model! ‘ | GNTM 2020 | ProSieben.“, 11.08.2020. YouTube, https: / / www.youtube.com/ wa tch? v=pHXHNMyc7pk [Zugriff am 01.02.2024]. 53 „Promo Edition“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 3, 17.02.2022, Joyn, https: / / www.joyn.de/ serien/ germanys-next-topmodel/ 17-3-promo-edition. 01: 40: 53. „ja alle keine Mädchen mehr.“ Klum und die Kandidatinnen werden so in Bezug auf ihr Alter gleichgesetzt, sie sind nun alle keine Mädchen, sie sind alle Models. Wie Maaß am Beispiel von Staffel 6 zeigt, fungierte Klum in früheren Staffeln oft als „mütterliche Ratgeberin“ 50 ; passenderweise wird sie auch gerne als „Modelmama“ 51 bezeichnet. Dieser generationale Unterschied hat nun keinen Bestand mehr. Zudem ist die Zuschreibung des Modelbegriffs entscheidend, da Klums Credo, „Ein Model ohne Job ist kein Model“ 52 aufgegeben wird: Allein ihre Anwesenheit macht die Kandidatinnen bereits zu Models. Die Leistungser‐ bringung, die in früheren Staffeln durch den Erhalt eines Auftrags suggeriert wurde, ist nicht mehr entscheidend für diese Bezeichnung. Gleichzeitig deutet die sprachliche Veränderung auch an, dass die „Best Ager“ bereits eine Leistung erbracht haben: Beim Wettbewerb mitzumachen macht sie bereits zu Models. Hier zeigt sich, wie die Anwesenheit der älteren Models die Aufführung von „Schönheit“ in der Sendung verschiebt: Die Rahmung dieser älteren Bewerbe‐ rinnen als „Mädchen“ führt zu „Rissen“ oder Inkongruenzen der Rahmung; die älteren „Gecasteten“ scheinen hier nicht ganz zum bisher etablierten Format zu passen, in dessen Rahmen schlichtweg alle Bewerberinnen zu „Heidis Mädchen“ wurden. Durch das Auftauchen der älteren Models muss es hier also zu einer Anpassung der Inszenierung kommen. In der Not spricht die Chefredakteurin der Gala, Hendrikje Kopp, in Bezug auf die älteren Teilnehmerinnen schließlich von „older Mädchen“ 53 und macht dadurch deutlich, dass die Teilnahme der älteren Kandidatinnen nicht zum gewohnten (sprachlichen) Umgang mit den Teilnehmerinnen passen will. Die Darstellung von Barbara, Lieselotte und Martina folgt deshalb nicht den gleichen Strategien, die auf die jüngeren Teilnehmenden angewandt werden. Dies wird exemplarisch deutlich, als die Kandidatinnen Athen erreichen und die Autofahrt zum Treffen mit Klum dargestellt wird. Eine Gruppe besteht dabei jeweils aus sechs jüngeren Kandidatinnen; die Zuschauer*innen erleben, wie diese lautstark schreien, als ihnen klar wird, dass sie gleich Klum entge‐ 216 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="217"?> 54 „Auftakt in Athen“, 09: 44. 55 „Auftakt in Athen“, 19: 46. 56 Dies entspricht dem „Sich-Batteln“ bestimmter Gruppen, das auch im Beitrag von Stefanie Husel untersucht wird. 57 „Bootcamp Edition“, 09: 01. gentreten werden. 54 Die Inszenierung folgt dabei bekannten Mustern, die die Teilnehmerinnen infantil und aufgeregt wirken lassen. Im Gegensatz hierzu werden die älteren Lieselotte und Barbara zunächst nur sprachlich, nämlich durch die Beschreibung der jüngeren Kandidatinnen, eingeführt; ihre Präsenz wird dadurch bereits als Grund für Diskussionen vorgestellt. Als sie schließlich vor der Kamera erscheinen - zunächst sind nur ihre Stimmen hörbar - unter‐ scheidet sich ihre Präsentation maßgeblich von der der jüngeren Kandidatinnen. Denn, als Barbara schließlich ins Bild kommt, schreit sie in Anbetracht des bevorstehenden Treffens mit Heidi Klum nicht laut auf; stattdessen wird gezeigt, wie sie eine Brille aufsetzt und kommentiert: „Die älteren Damen brauchen ihre Brille“. 55 Hier wird die Kandidatin auf eine bestimmte Weise inszeniert, bevor sie überhaupt beginnt, zu performen. Das Verhalten beider Gruppen scheint hier klischiert „alt“ und „jung“ 56 : Die jüngeren Teilnehmerinnen schreien, die älteren sind gefasst. Zudem steigert die Einführung der älteren Kandidatinnen über ihre Stimmen und durch die Beschreibung anderer die Spannung: Ihre Anwesenheit, so macht die Erzählung deutlich, weicht von der Norm ab und ihr Aussehen wird für das Publikum möglichst spät enthüllt. Das Aussteigen der älteren Kandidatinnen aus dem Auto wird schließlich mit Diana Ross‘ I’m Coming Out unterlegt, ein Lied aus dem Jahre 1980, während die Ankunft der jüngeren Kandidatinnen mit The Weeknd’s Take My Breath von 2021 begleitet wird und somit weitaus zeitgemäßer erscheint. Diese Unterschiede unterstreichen, dass das Ältersein als zentrales Element der Charakterisierung von Lieselotte und Barbara fungiert und die narrative Rahmung dementsprechend angepasst werden muss. Das Skript, das die jüngeren Kandidatinnen rahmte - ihre Dar‐ stellung als schnatternder Hühnerhaufen - funktioniert nicht mehr: Die älteren Kandidatinnen sitzen zu zweit im Auto und suchen zunächst ihre Sehhilfe. Hier folgt das Format bekannten Darstellungen von Alter: Die beiden Kandi‐ datinnen erscheinen nicht nur gemäßigter als die junge Konkurrenz, sondern auch als körperlich weniger fit. Inszenierungen dieser Art häufen sich auch im weiteren Verlauf, etwa, wenn gezeigt wird, wie Lieselotte über ihre Physiothe‐ rapeutin spricht oder sich beschwert, dass die Toiletten zu niedrig für ältere Menschen seien. 57 Dementgegen steht jedoch gleichzeitig eine Präsentation der älteren Teilnehmerinnen als ‚jung‘, die im Speziellen dann verwendet wird, wenn diese etwas besonders gut machen oder sie körperliche Attribute Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 217 <?page no="218"?> 58 „Sedcard Shooting“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 7, 17.03.2022, ProSieben, https: / / video.prosieben.de/ serien/ germanys-next-topmodel-by-heidi-klum/ videos/ staf fel-17-episode-7-sedcard-shooting. 03: 50. 59 Susan Sontag betont, dass gerade ältere Frauen als asexuell gelesen werden und erklärt, dass „for most women, aging means a humiliating process of gradual sexual disqualification“, siehe Susan Sontag, „The Double Standard of Aging“, in: The Saturday Review (Sept. 1972), S.-29-38, hier S.-32. 60 „Castingmarathon in L.A.“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 10, 07.04.2022, Joyn, www.joyn.de, https: / / www.joyn.de/ play/ serien/ germanys-next-topmodel/ 17-10 -castingmarathon-in-la. 01: 38: 17. 61 „Promo Edition“, 01: 17: 13. 62 „Promo Edition“, 01: 20: 02. aufweisen, die besonders wünschenswert sind. So betont Klum mehrfach aner‐ kennend, Lieselotte habe die Beine einer 20-Jährigen. 58 In diesen Momenten wird bewusst mit Annahmen über ‚alte‘ Menschen gebrochen, indem der Verweis auf ein chronologisch junges Alter als Kompliment verwendet wird. Es wird deutlich: Falten gelten nicht als schön, die Beine einer 20-Jährigen durchaus. In diesem Moment wird auch die Entsexualisierung, die häufig mit dem Altern verbunden wird 59 und die dem Ideal des Modelns diametral entgegensteht, aufgegeben. So bezeichnet Klum nach einem erfolgreichen Lauf Lieselottes Blick als „horny“. Da diese die Referenz nicht versteht, muss sie sich von Martina, die mit 50 Jahren ebenfalls als Best Ager geführt wird und die des Englischen mächtiger ist, bei der Übersetzung helfen und sich als „liebesbereit“ 60 betiteln lassen. Hier wird deutlich, dass Klum mit den älteren Teilnehmerinnen ganz anders umgehen kann als mit deren Konkurrentinnen: eine jüngere Kandidatin derart zu rahmen erschiene undenkbar. Gleichzeitig wird hier eine 66-Jährige als sexuelles Wesen und als sexuell attraktiv inszeniert. Wenn ihr Alter also eine unterschiedliche narrative Rahmung mit sich bringt, wie kann dann von den älteren Kandidatinnen Leistung in einem Rahmen erbracht werden, der auf einer klischierten Idee von jugendlicher Weiblichkeit fußt? Die Sprengkraft, die die älteren Models in diesem Zusammenhang für den Rahmen des Schönheitswettbewerbs selbst bergen, wird durch die Darstellung von Lieselotte besonders deutlich. Lieselotte, die 66-jährige Teilnehmerin, fällt gleich mehrfach aus dem von GNTM vorgegebenen Rahmen. So wird betont, dass sie sowohl auf kognitiver als auch auf körperlicher Ebene Probleme mit verschiedenen Aufgaben oder Chal‐ lenges hat. Kognitiv fehlt ihr primär ein Verständnis der englischen Sprache, was wiederholt betont wird. Bereits in der zweiten Folge wird gezeigt, dass Lieselotte einen namhaften Designer nicht nur nicht kennt, 61 sondern auch nicht verstehen kann; 62 in Folge 9 schließlich missversteht sie eine Aufgabe: 218 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="219"?> 63 „Fantasy Edition“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 9, 31.03.2022, ProSieben, https: / / video.prosieben.de/ serien/ germanys-next-topmodel-by-heidi-klum/ videos/ staf fel-17-episode-9-fantasy-edition. 04: 00. 64 „Promo Edition“, 11: 30. 65 „Castingmarathon in L.A.“, 03: 08. Anstatt selbst eine Außerirdische darzustellen und auf dem Wüstencatwalk entlangzuschreiten, sucht sie (vergeblich) nach Aliens. Ihr Auftritt sorgt für großen Unmut bei der Jury, deren Mitglieder das Gefühl haben, Lieselotte nähme die Aufgabe nicht ernst. Sie kommentiert: „Ich weiß, ich bin jetzt kein Talent zum Laufen oder so, aber für meine Verhältnisse - mein Gott - bin ich stolz und … [weint] das ärgert mich, dass die sich veräppelt fühlten, veralbert fühlten“. 63 Lieselotte erscheint unhöflich, schlicht, weil sie sich nicht mit den ‚Jungen‘ in ihrer Sprache, Englisch, unterhalten kann. Dass sie aber kein Englisch kann, hat nur auf indirekte Weise mit ihrem Alter zu tun; im Sinne eines intersektionalen Ansatzes könnte hier auch auf etwas wie Bildung oder beruflichen Hintergrund verwiesen werden. Gleichzeitig offenbart sich hier ein zentrales Problem der Rahmung von Lieselotte, nämlich der Verdacht, sie könne den Wettbewerb nicht ernst genug nehmen. Dies wird auch in Bezug auf körperliche Einschränkungen deutlich, wenn sie Aufgaben teilweise aufgrund eines vorherigen Unfalls und eines versteiften Rückens nicht ausführen kann. So etwa bei der Tanzchallenge: „Das mit dem Po kann ich nicht machen, weil das hier steif ist, also versteift, die Lende … man kann ja auch mal drüber lachen, aber das gibt dann schlechte Einschaltquoten“. 64 Lieselottes Kommentar verweist hier auf eines der größten Probleme für die Erbringung von Leistung im Castingformat: Sie nimmt an vielen Stellen den Wettbewerb, der Germany’s Next Topmodel sein möchte, nicht ernst. So kommt es auch zum Streitgespräch mit den jüngeren Kandidatinnen, die mit den Challenges ganz anders umgehen als ihre sehr viel ältere Konkur‐ rentin. Lieselotte selbst spricht diesen Unterschied explizit an: „Für einen jungen Menschen bricht eine Welt zusammen, aber ich habe schon so viel erleben dürfen“. 65 Diese Relativierung des Wettbewerbs hingegen erscheint für die Logik der Sendung fatal, schließlich muss es für die Kandidatinnen um viel gehen, denn die Sehnsucht der Teilnehmerinnen nach dem Gewinn macht den Wettbewerb erst relevant. Wie wird also die Leistungserbringung für ältere Kandidatinnen möglich und welche Rolle spielt ihr Alter im Rahmen der beanspruchten Diversität? Der Beantwortung dieser Frage folgend erscheint die neunte Folge der Staffel, die „Fantasy Edition“, als exemplarisches Beispiel, da in ihr die Performanz von Alter ins Zentrum rückt. Die Darstellung von Alter wird bereits in der Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 219 <?page no="220"?> Fotoaufgabe dieser Folge suggeriert: Hier müssen die Kandidatinnen in mit Kuscheltieren besetzten Kostümen durch den Himmel schweben - der neben ihnen hängende Regenbogen betont weiter das Thema der Diversität. Dass die Kostüme der Kandidatinnen eindeutig bewusst infantil-verspielt wirken schreibt dieser Darstellung auch in eine Form von Erotik ein, in der weibliche Körper dann als besonders erotisch inszeniert gelten, wenn sie mit kindlichen Symbolen assoziiert werden. Die 17. Staffel ist auch darin transgressiv, dass sie mit dem Tabu der Pädophilie spielt. Die ‚Verkindlichung‘ der Kandidatinnen erscheint besonders auffällig, wenn diese strukturell als ‚alt‘ markiert worden sind - hier, so wird deutlich, spielt die Sendung auch mit der Performance von Alter. Denn, so könnte man fragen, unterliegt das erotische Posieren mit Kuscheltieren vielleicht doch einer Altersgrenze? Die Kuscheltiererotik wirkt schließlich nur dann, wenn die so Angezogene noch mit dem Tabu der Minderjährigkeit kokettieren kann; und kann das bei der 66-jährigen Lieselotte und der 50-jährigen Martina überhaupt der Fall sein? Abb. 1: Martina im Kuscheltierkostüm (2022), Screenshot aus „Fantasy Edition“, 14: 50. 220 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="221"?> 66 „Fantasy Edition“, 38: 36. 67 „Fantasy Edition“, 11: 55. 68 „Fantasy Edition“, 34: 40. 69 „Fantasy Edition“, 35: 05. Die 50-Jährige Martina, so wird betont, erfüllt diese Aufgabe mit Bravour und Klum merkt an: „Ich bin einfach immer und immer wieder beeindruckt, wie Martina mitzieht, einfach. Das macht sie richtig toll.“ 66 Die Idee des ‚Mitziehens‘ ist entscheidend, denn Martina hängt nicht alleine in kindlicher Kleidung am überdimensionierten Mobile, sondern wird von zwei der jüngeren Kandi‐ datinnen gerahmt. Es ist eindeutig: Leistung erbringt hier diejenige, die auch unter den widrigsten Bedingungen noch gut aussieht und die gleichzeitig neben ihren Konkurrentinnen heraussticht, denn, wie Fotograf und Klum einstimmig festhalten: „It’s a competition.“ 67 Martina befindet sich so in direkter Konkurrenz und ihr Mitziehen zeigt, dass sie die Aufgabe ebenso erfüllen kann wie die jün‐ geren Kandidatinnen. Ihre Fitness, so wirkt es, lässt Martina ‚jung‘ erscheinen, jung genug, um im Kuscheltierkostüm zu funktionieren und um neben der jungen Konkurrenz nicht unterzugehen. Im Gegensatz zu ihr scheitert Lieselotte in diesem Vergleich: Aufgrund von Schwindelgefühlen muss sie die Aufgabe abbrechen. Lieselottes Perfomance bricht so die als spielerisch-kindlich inszenierte Sexualität der Folge. Der Abbruch der Challenge zieht somit auch ein Aufgeben der Performance des Jung-Seins nach sich. Klum ruft nicht nur nach einem Stuhl, auf den sich die von der Challenge erschöpfte Lieselotte setzen kann, sondern sie merkt auch an: „Be careful because she might fall.“ 68 Der Abbruch des Shootings ist bewusst dramatisch inszeniert, langsame Musik wird eingespielt, als Lieselotte, umgeben von der jungen Konkurrenz, auf dem Boden kniet. 69 Im Gegensatz zu Martina erscheint Lieselotte als alte, letztlich nur als Kind verkleidete, Frau. So werden im Grunde ‚gute‘ gegen ‚schlechte‘ Alte ausgespielt. Während Martina noch in den Rahmen der Challenge und des GNTM-Formats generell ‚eingepasst‘ werden kann, fällt Lieselotte buchstäblich aus dem Rahmen. Damit einher geht eine bestimmte Wertung innerhalb des Alters: Es geht nicht nur darum, so könnte man anführen, dass Lieselotte 66, Martina aber erst 50 ist, sondern beide ‚performen‘ ihr eigenes Alter grundlegend anders: Während Martina beweist, dass sie mit ihren sehr viel jüngeren Konkurrentinnen durchaus noch mithalten kann, verweist Lieselotte auf ihre Sehhilfe und ihren versteiften Rücken. Liese‐ lotte, indem sie den Wettbewerb nicht immer ernst nimmt und gewissermaßen die vierte Wand bricht und mit dem Publikum über den absurden Rahmen von GNTM lacht, bricht auch die Illusion von GNTM: die Idee eines Wettbewerbs, bei dem alle unter den gleichen Bedingungen starten und bei dem es allen um Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 221 <?page no="222"?> 70 „Fantasy Edition“, 01: 57: 19. 71 „Fantasy Edition“, 02: 00: 47. 72 Helena Zacher, „,Vorgeführt wie Paradepferd‘: GNTM-Fans außer sich, weil 66-jährige Lieselotte erneut weiter ist“, tz, 09.04.2022, https: / / www.tz.de/ tv/ prosieben-66-jaehrig das Gewinnen geht. Gerade gegen diesen ‚Stilbruch‘ wiederum muss die Show sich wehren; Lieselotte muss auch in der Inszenierung diszipliniert werden. Der Abbruch des Shootings stellt so auch ein Problem für den Wettbewerb dar und ist Grund für weitere Diskussion. Das wird in einem Gespräch zweier Kandidatinnen deutlich: Vivien: Ich glaube tatsächlich, dass es für Lieselotte langsam knapp wird, weil das mit dem Fotoshooting… sie konnte nichts dafür, aber trotzdem, das ist dann was, was abgebrochen wurde. Anita: Es ist aber halt einfach eine Gerechtigkeitssache, so zu sagen. Anita [voice-over]: Ich fände es natürlich gerecht, wenn derjenige, der nicht durchhält im Shooting, in dem Fall Lieselotte, gehen müsste, weil sie die Einzige war, die die Aufgabe nicht bewältigt hat. 70 Hier wird die Sprengkraft der älteren Kandidatinnen deutlich: Denn hier kommt das Gleichheitsversprechen des Wettbewerbs zum Tragen. Starten alle Kandidatinnen unter den gleichen Prämissen und schafft eine die Aufgabe nicht, hat sie im Wettbewerb keine Leistung erbracht und fällt daher zurück. Hier aber werden die unterschiedlichen Startbedingungen deutlich: Konnte Lieselotte die Aufgabe aufgrund ihres Alters nicht zu Ende führen? Diese Antwort bleibt die Sendung schuldig und muss sie letztlich auch schuldig bleiben, denn dadurch würde das Gleichheitsversprechen aufgegeben und der Wettbewerb gefährdet. In der finalen Kritik schließlich werden Lieselottes Auftritte als „skurril“ 71 be‐ titelt - dennoch aber, und dies mag überraschend erscheinen, bleibt sie weiter im Wettbewerb und wird nicht ‚aussortiert‘. Anstatt sich jedoch in ihrer Entschei‐ dung auf die beiden Aufgaben zu beziehen, nämlich das Mobile-Foto und die Catwalk-Aufgabe, in denen Lieselotte nicht gut abgeschnitten hat, erklärt Klum, Lieselotte habe eine Einladung für ein Casting erhalten. Das Einbeziehen des Castings stellt einen ungewöhnlichen Vorgang in der Entscheidungsfindung dar und ermöglicht es, die Leistungsbeurteilung zu externalisieren. Im Vergleich zur 21-jährigen Annalotta, gegen die sich Lieselotte durchsetzt, wird hier Leistung außerhalb der Sendung erbracht. Trotz dieser Erklärung sorgt Lieselottes Erfolg jedoch für gemischte Reaktionen: Nach Ausstrahlung der Sendung verweist die Münchner TZ gleich im Titel auf die Empörung der Fans und präsentiert eine Zusammenstellung von Tweets, die Entrüstung ausdrücken. 72 Diese Entrüstung deutet bereits an, dass Lieselotte Gefahr läuft, den zugrundeliegenden Wettbe‐ 222 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="223"?> e-lieselotte-vorgefuehrt-paradepferd-gntm-fans-heidi-klum-zr-91452493.html [Zugriff 14.03.2024]. 73 Carolin West, „Unfair: Annalotta fliegt bei GNTM raus - Casting-Einladung rettet Lieselotte“, Ruhr Nachrichten, 01.04.2022, https: / / www.ruhrnachrichten.de/ schwerte/ a nnalotta-fliegt-bei-gntm-raus-w1741540-p-2000493250/ [Zugriff am 23.01.2024]. 74 „Shitstorm gegen GNTM: Heidi Klum muss ordentlich einstecken.“, klatsch-tratsch.de, 18.04.2022, https: / / www.klatsch-tratsch.de/ entertainment/ shitstorm-gegen-gntm-heid i-klum-muss-ordentlich-einstecken-1405514/ [Zugriff am 23.01.2024]. werb, den die Sendung suggeriert, zu bedrohen. Carolin West erklärt für die Ruhr Nachrichten: „Unfair: Annalotta fliegt bei GNTM raus - Casting-Einladung rettet Lieselotte“ 73 und bezieht sich auf Fairness und, so lässt sich ableiten, auf mangelnde Leistungserbringung. Dies wird in einem Beitrag bei Klatsch und Tratsch ausbuchstabiert, wo es heißt: Besonders regt die Fans auf, dass statt Lieselotte immer mehr gute Models gehen müssen, weil ihre Leistungen nicht 100 Prozent, sondern nur 80 Prozent waren, während Liese mit ihren 20 Prozent in den Himmel gelobt wird. Favoritinnen wie Inka, Amaya und Viola verlassen die Show trotz Top-Leistungen. 74 Hier wird, dem Wettbewerbsgedanken folgend, Lieselottes Leistung in den direkten Vergleich mit den jüngeren Kandidatinnen gesetzt. Man könnte hier durchaus von einer Form von ‚affirmative action‘ sprechen: Lieselotte, so meinen diese empörten Zuschauer*innen, darf eben nur deshalb ‚bleiben‘, weil sie ‚alt‘ ist und deshalb eine Sonderbehandlung genießt. Am Ende jedoch und im weiteren Verlauf der Staffel fällt Lieselotte doch aus dem Wettbewerb; Martina aber bleibt bis zur letzten Folge, nur, um dann gegen ihre eigene Tochter zu verlieren. 3. Schlussbemerkung: Leistung, Schönheit, Alter In diesem Artikel haben wir uns mit der Frage befasst, wie die Kategorien von Leistung, Schönheit und Alter in der 17., der ‚Diversity Staffel‘, von Germany’s Next Topmodel verzahnt werden und welche Relevanz unterschiedliche Formen von Inszenierung hierbei mit sich bringen. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass sich die 17. Staffel bewusst durch ihr Diversity-Thema von früheren Versionen distanziert und unter Beweis stellen will, dass Germany’s Next Topmodel scheinbar unbegrenzt wandelbar ist. Während in den ersten Staffeln das Vermessen und Wiegen ein zentraler Teil des Castings war, wird davon nun Abstand genommen. Im Zusammenhang mit der Sendung als Wettbewerb stellt sich hierdurch die Frage des Maßstabs: Nach welcher Leistung werden die Models, in all ihrer Unterschiedlichkeit, bewertet? Die Rücksichtnahme auf Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 223 <?page no="224"?> 75 „Exklusives Casting-Teaching“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 5, 03.03.2022, Joyn, https: / / www.joyn.de/ play/ serien/ germanys-next-topmodel/ 17-5-exklusives-casti ng-teaching. 39: 30. 76 Ariane Bemmer, „,GNTM‘ und die Alten: Die Entgrenzung des Jungseinsollens“, Der Ta‐ gesspiegel Online, 22.05.2022, https: / / www.tagesspiegel.de/ meinung/ gntm-und-die-alte n-ist-lieselotte-ein-vorbild-und-wenn-ja-fur-was-483924.html [Zugriff am 23.01.2024]. 77 „Das große GNTM Umstyling“, Germany’s Next Topmodel, Staffel 17 Folge 6, 10.03.2022, ProSieben, https: / / video.prosieben.de/ serien/ germanys-next-topmodel-by-heidi-klum/ videos/ staffel-17-episode-6-das-grosse-gntm-umstyling. 01: 52: 04. 78 „Das große GNTM Umstyling“, 01: 52: 51. 79 „Exklusives Casting-Teaching“, 20: 11. Lieselottes versteifte Hüfte etwa impliziert, dass ihr steiferer Gang nicht mit dem der anderen Models gleichgesetzt werden kann oder - in der Prämisse der Staffel - sogar darf. Im Gegensatz zu Martina, die, wie oben beschrieben, mit den jüngeren Kandidatinnen ‚mitzieht‘, erbringt Lieselotte, wie von ihrer Konkurrenz als auch vom Publikum moniert, nicht genug Leistung im Wettbe‐ werbsformat. Die Tatsache, dass sie trotzdem in der Show verbleiben darf, liegt so an den veränderten Statuten der Sendung und in der Logik der präsentierten Diversity. Wie eine Kundin in einem Casting über Barbara, eine weitere ältere, aber früh ausgeschiedene Kandidatin sagt, „für einen Best Ager fand ich es Wahnsinn.“ 75 Die Rolle der Diversität bleibt so weiterhin unklar, da die Staffel sich nie eindeutig dazu positioniert, wie sie Leistung definiert. So bleibt das Spannungsfeld erhalten, ob es darum geht, gut ‚für‘ eine spezifische Gruppe - etwa die der Best Ager - zu performen oder aber, ob die Leistung des Modelns absolut gesetzt wird und so die Grenzen der Individualität der Einzelnen überschreiten soll. Darüber hinaus aber, so machen Kommentare zur Sendung deutlich, er‐ bringen die älteren Models eine Leistung, die nichts mit den Statuten des Wettbewerbs per se zu tun hat: Sie werden zu Vorbildern. Ariane Bemmer bemerkt im Tagesspiegel: „Das Wort ‚Vorbild‘ ist wohl in keiner Castingshow auf der ganzen Welt jemals so oft gefallen wie im Verlauf der 17. Staffel von ‚Germany’s Next Top Model [sic].“ 76 Diese von Bemmer beschriebene Tendenz lässt sich im Verlauf der gesamten Staffel und in Bezug auf alle drei ältere Kandidatinnen beobachten: Als Barbara die Sendung verlassen muss, erklärt Klum: „Ich muss fair sein,“ 77 fügt aber per Voiceover hinzu: „Barbara ist mit 68 die Älteste und ein echtes Vorbild.“ 78 Die Vorbildfunktion, so scheint es, stellt die entscheidende Leistung dar, wie die Einschätzung einer Kundin im Casting verdeutlicht: „I was very impressed with Martina. I think that she decided to do this at her age is very inspiring and she also looks fabulous.“ 79 Martinas Aussehen, ein zentraler Aspekt des Modelns, so könnte man meinen, 224 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="225"?> 80 „Bootcamp Edition“, 01: 49: 15. 81 „Sedcard Shooting“, 01: 52: 33. 82 Wir sind Lisa Brau-Weglinski dankbar für die Referenz zu Sally Chivers, die sie in ihrem Vortrag: „Who Is Old? The Imagination of Age in Young Adults in Margaret Morganroth Gullette‘s Aged by Culture Meets the Construction of Age at the U.S. National Senior Game“ an der Universität Trier am 17.01.2024 vorgestellt hat. Chivers’ Podcast Wrinkle Radio hat die Tagline „Don’t panic. It’s just aging“ und Episode 2 befasst sich ausschließlich mit dem Thema der „age panic“, siehe Sally Chivers, „Episode 2: Age Panic.“ Sally Chivers, 13.01.2023, https: / / sallychivers.ca/ episode-2-age-panic/ . erscheint hier zweitrangig zu ihrer Rolle als inspiring. Gerade hier werden aber auch Vorannahmen über die älteren Kandidatinnen deutlich, denn Martinas Alter muss im Speziellen betont werden, um ihre Leistung zu etablieren. Dementsprechend wird auch die Tatsache, dass Martina den besten Auftritt auf dem Laufsteg absolviert, vom Gastjuror Yu Tsai als „surprising, shocking“ 80 empfunden. Ganz offensichtlich wendet sich diese Vorbildfunktion gegen Kritik der Sendung, die, wie bereits angemerkt, für ihre Darstellung junger Frauen kritisiert wird. Die ‚gute‘ Darstellung älterer Frauen, so könnte man anmerken, soll hier dazu dienen, das Publikum die problematischen Aspekte der bislang für GNTM typischen Darstellung jüngerer Frauen (etwa der Tendenz des Body shaming und die Verbreitung normativer Schönheitsideale) vergessen zu lassen. Auch dieser Vorbildfunktion der ‚Älteren‘ jedoch wohnt durchaus eine normative Qualität inne. Dies wird an einem abschließenden Beispiel deutlich: Coco Rocha: You are a huge example to women in an age group that women sometimes feel like they should give up. But the fact that she is outperforming the younger ones is just also benefitting all those other women. Heidi Klum: Es sind so viele Frauen da draußen, die werden dich gerade angucken und sagen: „Wow, die Lieselotte kann das, das gibt mir auch Mut, ich möchte vielleicht auch ein bisschen mehr aus mir machen und mal von der Couch hoch.“ Ich geb‘ ihr recht. Lieselotte: Das machen wir! Die älteren Frauen mal ein bisschen in Gange bringen. 81 Hier wird höheres Alter als inaktiv („von der Couch hoch“), unattraktiv („mehr aus sich machen“) und potenziell sozial isolierend gerahmt. Die Tatsache, dass Lieselotte mit den jüngeren Kandidatinnen mithalten, sie sogar „outper‐ form[en]“ kann, stellt das Gegenmittel zu diesem Angstbild des Alters („age panic“ 82 ) dar. Hier wird deutlich, dass Alter, wie hier als Verfallsprozess gerahmt, ein selbstbestimmter Prozess ist, der auf das Individuum zurückzuführen und mit Willensstärke überwunden werden kann. Gleichzeitig könnte man hier noch einmal darauf verweisen, dass es sich bei GNTM eben nicht (oder nicht nur) um einen Schönheitswettbewerb handelt, sondern um einen Modelwettbewerb, Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 225 <?page no="226"?> 83 Mike Powelz, „Ein Prinz aus Afrika bei ‚GNTM‘ - Heidi Klum verrät Details zur 19. Staffel“, TV Digital, 31.01.2024, https: / / www.tvdigital.de/ aktuelles/ fernsehen/ gntm-202 4-19-staffel-heidi-klum-verraet-details-zur-ersten-ausgabe-mit-maennern [Zugriff am 01.07.2024]. und um einen Modelwettbewerb, der im Fernsehen übertragen wird und somit auch Unterhaltungswert haben muss, um erfolgreich zu sein. Die Aufführung von Leistung in der „Diversity Staffel“zeigt so, dass Leis‐ tung von den älteren Kandidatinnen nicht nur im altbekannten Rahmen der bewältigten Aufgaben erbracht werden muss. Die Vorbildfunktion der älteren Kandidatinnen - und das lässt sich auch für die Rahmung von Diversität in anderen Richtungen attestieren - verdeutlicht, dass Leistung eng mit einer Idee der Performanz verbunden ist. Am Ende gibt die ‚Diversity Staffel‘ von Germany’s Next Topmodel so der Skepsis der Critical Diversity Studies recht: Ältere Models werden in die Show inkludiert, ohne den Rahmen selbst zu verändern. Und das Alter ist demnach, gerade bei Frauen, nur bedingt noch schön. Was aber bleibt, wenn scheinbar alle Schranken gefallen sind und alle Normen - in Bezug auf das, was als „schön“ gelten kann“ - vermeintlich aufgehoben wurde? In anderen Worten, was kann nach der Diversity-Staffel von Germany’s Next Topmodel kommen? Die Frage, die sich am Ende der 17. Staffel der Sendung stellte, war, ob nach diesem von Heidi Klum selbst proklamierten „anything goes“ eine Steigerung überhaupt noch möglich sein würde. Würde nach diesem Höhepunkt die Sendung in ihr altbewährtes Format zurückfallen und weniger „divers“ sein? In der auf die „Diversity-Staffel“ folgenden 18. Staffel (2023) gewann das Plus-Size Model Vivien Blotzki; gegen sie traten mehrere ältere Models an, die dann aber im Laufe der Staffel ausschieden. In der darauffolgenden 19. Staffel (2024) wiederum konnten erstmals Personen unabhängig ihres Geschlechts antreten. Interessant ist aber, dass Segregation nach Gender weiter Bestand hatte: Am Ende gewannen ein männliches und ein weibliches Model. Trotz der Teilnahme unabhängig von Gender blieb so eine binäre Aufteilung bestehen. Bemerkenswert ist hierbei zudem, dass in dieser Staffel ältere Models erneut fehlten. Klum erklärte im Interview mit TV Digital: Obwohl sich viele Menschen beworben haben, konnte ich keinen Best Ager und keine Best Agerin finden. Sowas kann man eben nicht erzwingen. Und nur, weil jemand alt ist, will ich die jetzt auch nicht mitnehmen, sondern wirklich nur die besten, die in meinen Augen das Zeug dazu haben, die Show zu gewinnen. 83 Hier wird der Fokus auf Leistung und den Wettbewerbsgedanken bekräftigt, denn „nur, weil jemand alt ist“, wie Klum betont, ist eine Teilnahme nicht mög‐ 226 Mita Banerjee (Mainz) und Ruth Gehrmann (Mainz) <?page no="227"?> lich. Hier wird dem Verdacht entgegengearbeitet, dass ein Marker wie höheres Alter, der auf Diversität schließen lässt, für die Sendung ausreichen könnte. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, wie viel Unterschied die Sendung aushalten kann und in den Rahmen des Wettbewerbs einpassen möchte. Wenn Gender fällt, so liegt nahe, muss wenigstens das Alter an altbekannten Idealen festhalten. Die „older Mädchen“ Lieselotte, Martina und Barbara der „Diversity-Staffel,“ so könnte man behaupten, bahnten so den Weg zur Aufhebung der Gender-Seg‐ regation, die bislang vor allem für Schönheitswettbewerbe grundlegend war; sie selbst aber blieben buchstäblich auf der Strecke. Damit wiederum wird „Diversität“ - und das ist bei einem auf Einschaltquoten aufgebauten Format wie Germany’s Next Topmodel wenig verwunderlich - einfach zu einem wei‐ teren Label. Die Inklusion älterer Models läuft hierbei Gefahr, nur skurrile Effekthascherei zu sein; die älteren Models, wie man im Englischen sagen würde, „had their day,“ nur um dann erneut abtreten zu müssen. Alter würde dann in der Entwicklung der Casting-Serie möglicherweise dazu dienen, die Gendersegregation abzuschaffen. Können also Alters- und Gendersegregation gleichzeitig aufgehoben werden? Dies bleibt abzuwarten. Performing Difference: Die „Diversity-Staffel“ von-Germany’s Next Topmodel 227 <?page no="229"?> Wettstreit der Generationen? Verhandlung, Nivellierung und Neujustierung von Differenz in (und um) She She Pops Dance Me! Stefanie Husel (Mainz) In der Inszenierung Dance Me! (She She Pop & Gäste, 2022) wird ein Tanzwettbewerb live aufgeführt, bei dem ein ‚Team jung‘ gegen ein ‚Team alt‘ antritt. Auf diese Weise wird ein Generationenkonflikt zwischen der Generation 50plus und der Generation 20plus auf die Bühne gebracht. Der Artikel geht der Frage nach, welche Differenzen neben der Alters‐ unterscheidung bei der Inszenierung des generationellen Wettkampfes betont wurden, auf welche Weise Differenzen verstärkt, gewissermaßen ‚hochgespielt‘ wurden, und in welchen Momenten sowie in welcher Art versöhnliche Gemeinsamkeit performt wurde. In einem gemischt metho‐ dischen Ansatz wird hierbei nicht nur die von der Verfasserin besuchte Aufführung untersucht, sondern es wird auch konversationsanalytisch auf ein konflikthaftes Publikumsgespräch sowie eine Nachbesprechung mit den an diesem Publikumsgespräch beteiligten Künstler*innen zugegriffen. Die als streckenweise live improvisierter Tanzwettbewerb zwischen einem ‚Team alt‘ und einem ‚Team jung‘ strukturierte Aufführung von Dance Me! (She She Pop und Gäste, 2022, gesehen Feb. 2023 am FFT Düsseldorf) hinterlässt mich amüsiert und in changierender Stimmung - angesiedelt irgendwo zwischen sar‐ kastisch grinsend und hoffnungsfroh. Im anschließenden Publikumsgespräch erklingen aber auch unerwartet aggressive Töne, die nicht zuletzt auf das Engagement einzelner Publikumsteilnehmer*innen zurückzuführen sind. In Fokussierung auf die in der Inszenierung ausgestellte Differenz zwischen ‚alt‘ versus ‚jung‘ und die hierin hinterfragte Unterscheidung nach Generationen lässt sich der Abend folgendermaßen zusammenfassen: Die Angriffe der ‚alten‘ Performer*innen im Wettbewerb auf der Bühne wirken inszeniert und verspielt, die ‚Jungen‘ scheinen hier manchmal einen ‚tatsächlich‘ verletzenden bzw. <?page no="230"?> 1 Vgl. Erving Goffman, Rede-Weisen. Formen der Kommunikation in sozialen Situationen, Hg. Hubert Knoblauch, Christine Leuenberger und Bernt Schnettler, Köln 2017. Eine Zusammenfassung zur hier zitierten Begrifflichkeit findet sich auf S.-61. grenzüberschreitenden Ton anzuschlagen; im Publikumsgespräch aber wirken sie stellenweise vorgeführt, und sind genötigt, unqualifizierte Äußerungen von (‚alten‘) Publikumsteilnehmer*innen aus dem Saal zu parieren, wohingegen die ‚alten‘ Performer*innen eine vermittelnde Rolle einnehmen. Der Abend hinter‐ lässt mich damit seltsam aufgerüttelt. Zahlreiche aktuelle Diskurse scheinen nun lesbar durch die Generationenbrille, zugleich aber wirkt die - derzeit besonders aktuelle - Thematisierung von Identitätspolitik, die sich vor allem im Publikumsgespräch Bahn brach, ebenso verkürzt wie überhitzt. Ausgehend von der bis hier geschilderten Erfahrung, möchte mein Beitrag reflektieren, inwieweit die performative Verarbeitung von Differenzen (hier die Unterschei‐ dung nach Generationen) nur auf Basis weiterer Grenzziehungen situativ und szenisch machbar wird: Benötigt die Reflexion generationeller Unterscheidung eine Mitinszenierung anderer Differenzen als der grundlegenden Altersdiffe‐ renz - und falls ja: welcher? Werden in diesem Zug unterschwellig weitere, u. U. auch marginalisierende, Unterscheidungen relevant gemacht (z. B. Klassen- und Bildungsdifferenzen), was die angespannte, ja kampfeslustige Stimmung aus dem Publikumsgespräch erklären könnte? Treten hierbei möglicherweise auch Kategorisierungen in den Vordergrund, die eher etwas mit unterschiedlicher medialer bzw. Theater-Sozialisierung zu tun haben als mit ‚Humandifferenzie‐ rung‘? Und in welchen Momenten werden Differenzen versöhnlich nivelliert und Gemeinsamkeiten wahrnehmbar? Um mich dem Feld der geschilderten Produktion und ihren Resonanzen zu nähern, habe ich flankierend zu meiner Erfahrung aus Aufführung und Publikumsgespräch ein narratives Interview mit denjenigen Mitgliedern der Kompanie und ihren Gästen geführt, die im fraglichen Publikumsgespräch auf dem Podium saßen. In diesem Rahmen kristallisierten sich zusätzliche Fragen zum Format der Inszenierung heraus, die sich auch als Ausformung eines generationellen Künstler*innen-Konflikts lesen lassen. In meiner Reflexion von Inszenierung, Aufführung, Publikumsgespräch und narrativer Erhebung greife ich insofern auf einen gemischt methodischen Ansatz zurück, der nicht nur aufführungssondern auch und konversationsanalytisches Handwerkszeug nutzt. Das zentrale Augenmerk liegt hierbei insbesondere auf den in Aufführung und Publikumsgespräch hervorgebrachten Aussagen und ihren „Produktions‐ formaten“ sowie „Teilnahmerahmen“ 1 , die Humandifferenzierungen hervor‐ bringen, aufrufen und/ oder modulieren. 230 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="231"?> 2 Diese Beschreibung entstand nach einem Aufführungsbesuch der Verfasserin am 11. Februar 2023 in Düsseldorf, Forum Freies Theater (FFT). 1. Battle In einem ersten Schritt möchte ich zunächst meine Aufführungserfahrung nachvollziehbar machen, die ich im FFT Düsseldorf im Februar 2023 im Rahmen von Dance Me! gesammelt habe: In dieser Inszenierung ‚battelt‘ Alt gegen Jung, wobei als ‚Alte‘ die Mitglieder der bekannten Off-Theater-Kompanie She She Pop auftreten; diese zählen im Schnitt etwa fünfzig Jahre - ‚alt‘ beginnt hier insofern recht jung, finde zumindest ich, im Publikum sitzend, selbst Mitte vierzig. Die ‚Jungen‘ scheinen Anfang bis Mitte 20 zu sein und sich, abgesehen von ihrem Alter, vor allem durch stärker sichtbar werdende Diversität von der Gruppe der Alten zu unterscheiden, v. a. in Bezug auf Ethnizität und Geschlechtsdarstellung. Beide Gruppen treten während der Aufführung in einem Tanzwettstreit gegeneinander an, wobei jeweils die nicht tanzende Gruppe die Musik erklingen lässt - zum Teil selbst musizierend, zum Teil auflegend - und hierbei offenbar versucht, es den jeweiligen Konkurrent*innen einigermaßen schwer zu machen. Nach jeder Runde wird gewertet, wobei wie bei einem Computerspiel verbleibende ‚Lebensenergie‘ berechnet und durch einen Leuchtbalken auf einem großen Bildschirm dargestellt wird - wie diese Berechnung zustande kommt, bleibt allerdings schleierhaft, sie wirkt willkürlich und ungerecht. Dasselbe gilt für die Ansprachen, zum Teil gar Anfeindungen, die die beiden Gruppen zwischen den Battle-Runden halten bzw. sich an den Kopf werfen, wobei Willkür und Ungerechtig‐ keit hier augenzwinkernd gesetzt scheinen, und so vor allem Belustigung bei der Zuschauerin und ihren Umsitzenden auslösen. Konturiert wird der so präsentierte Generationskonflikt inhaltlich v. a. als ein Machtkampf, der mit Haltung und Habitus Hand in Hand geht: Wer wirkt sympathisch, wer scheint im Recht, wer hat die kulturelle Deutungshoheit? Was nach einigen anstrengenden Battle-Runden bleibt, ist neben dem Amüsement und der automatischen Versöhnlichkeit, die das häufig produ‐ zierte Gelächter mit sich bringt, lediglich das leise Gefühl eines möglicherweise auch realiter vorhandenen Konflikts. Diese nur hintergründig wahrnehmbar werdende Unversöhnlichkeit zwischen den Generationen 20 und 50 plus wirkt zurückgehalten, implizit, hinter sehr viel theatraler (Selbst)ironie und komischen Posen in Schach gehalten; zentral auffällig dabei scheint mir, dass es vor allem die „Alten“ sind, deren Äußerungen leichtfüßig und verspielt wirken - „Generation jung“ hingegen scheint manches Mal ernsthaft betroffen und nimmt die performten Angriffe stellenweise offenbar recht ernst. 2 Wettstreit der Generationen? 231 <?page no="232"?> 3 Von „Rekrutierung“ spricht in einem solchen Zusammenhang Stefan Hirschauer in seinem Aufsatz „Menschen unterscheiden“: „Humane Objekte nehmen an ihrer eigenen Kategorisierung teil. So können sie das Angebot von Kategorien aufgreifen, sich nicht nur als Exemplare, sondern als Mitglieder der mit ihnen imaginierten Klassen zu verstehen. Die Gruppierung mithilfe von Kategorien lädt zur Personalrekrutierung durch Kategorien ein: Menschen finden sich unter Leitbegriffen (z. B. medizinischen, politischen, sportlichen) zusammen, die ihrerseits jene Menschen zusammenführen, die sich durch sie mobilisieren lassen.“ Stefan Hirschauer, „Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung“, in: Zeitschrift für Soziologie Band-50, Heft 3-4 (2021), S.-155-174, hier S.-161. 4 Zum Begriff der Marker bzw. der Markierung siehe ebd., S. 159: „Semiotische Markie‐ rung besteht aus einer sinnlich zugänglichen (oft visuellen) Kennzeichnung kultureller Objekte (gerade auch humaner). Diese haben ein Outfit, ein Display, ein Design und fordern insofern die Sinne mehr oder weniger dazu auf, sie als erkennbare Entitäten wahrzunehmen. Das Meiste, worauf wir sprachliche Kategorien anwenden, kommuniziert also längst, auch wenn es nicht spricht. In der Humandifferenzierung gehören zu diesen Zeichen etwa Körpermerkmale (wie Hautfarbe oder Dickleibigkeit), körperlich Performiertes (Haltung, Gestik, Mimik), Stimmführung und Sprachgebrauch (Wortwahl, Aussprache), das Outfit (Kleidung, Frisur, Kosmetik, Schmuck), Rufnamen und Ausweise.“ Im Nachhinein fällt mir - also der Zuschauerin aus dem kurzen Bericht - insbesondere auf, dass auch die Darstellung weiterer und anderer Unterschiede zur Betonung der eigentlich thematischen Altersdifferenz diente, z. B. rassisti‐ sche und klassistische Differenzierungen. Weiterhin sehr bemerkenswert ist die „Rekrutierung“ 3 , die die Ansprachen/ Aussagen des Bühnengeschehens auf mich ausübte - im Sinne eines intensiven Appells, der für mich spürbar wurde, mich innerlich mit einer der beiden Wettkampfgruppen zu solidarisieren; in Anbetracht der erwähnten eskalierenden Stimmung im Publikumsgespräch lässt sich mutmaßen, dass dies wohl nicht nur für meine Person galt. Schließlich wird die zum Schluss erwähnte Ungleichheit der Battle-Parteien auffällig. Zur Illustration und für einen analytischen Zugriff auf genannte Aspekte - das Aufrufen weiterer Differenzen, die ‚Rekrutierung‘ der Zuschauenden sowie die wahrnehmbar werdende auch schauspielerisch-formale Ungleichheit zwischen Team ‚alt‘ und Team ‚jung‘ - fasse ich im Folgenden einige für die Inszenierung typische Äußerungen zusammen, die in einem Video-Trailer zur Inszenierung hörbar werden, und die ich so ähnlich auch aus der von mir besuchten Auffüh‐ rung erinnere; zum Verständnis der zum Teil brisanten Zwischentöne, die hier bemerkbar werden, füge ich auch diejenigen Beobachtungen zu humandifferen‐ zierenden Markern ein, die mit dem Gesagten interferieren. 4 In dem Trailer sind kurze Momente aus einer Art Eröffnungs-Sequenz aneinandergeschnitten: Es umkreisen sich jeweils zwei Personen, eine aus ‚Team alt‘, eine aus ‚Team jung‘. Unter Nutzung eines Mikrophons stellen sie sich 232 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="233"?> gegenseitig vor bzw. präsentieren den*die Gegner*in dem Publikum, wobei sie ebenso klischeehaft wie witzig wirkende Stereotypen verlauten lassen; die ersten beiden Präsentationen sind als Rede und Gegenrede im Trailer hörbar, bei den beiden Äußerungen dazwischen wird im Trailer nur eine der beiden Sprecher*innen-Seiten hörbar: Vertreterin Team alt (korpulent, weiß) über Vertreter Team jung (groß, schlank, PoC): „Das ist Jan! Und wir wissen nicht, ob Jan lesen und schreiben kann. Wir wissen nicht, ob Jan gerade an seiner Dissertation arbeitet.“ Vertreter Team jung (groß, schlank, PoC) über Vertreterin Team alt (korpulent, weiß): „Das ist Lisa, und wir wissen nicht, ob sie Angst vor mir hat. Das ist Lisa, und wir wissen nicht, ob sie heute in Grund und Boden getanzt wird von mir. Das ist Lisa, und wir wissen nicht, ob sie gern so aussehen würde wie ich! “ Vertreter Team alt (sehr groß, Glatze, Brille, Sportklamotten) über Vertreter Team jung (sehr groß, langes Haar, weiblich wirkende Kleidung): „Das ist Nicolas. Und wir wissen nicht, was Nicolas einmal werden will, wenn er groß ist.“ Vertreter Team jung (sehr groß, langes Haar, weiblich wirkende Kleidung) über Vertreter Team alt (sehr groß, Glatze, Brille, Sportklamotten): „Das ist Sebastian, und wir wissen nicht, warum er sich für das Pronomen ‚er‘ entschieden hat.“ Vertreterin Team jung über Vertreter aus Team alt: „Das ist Santi - und wir wissen nicht, ob er sich schon einmal mit seinen Privilegien auseinandergesetzt hat.“ Vertreter Team jung über Vertreterin aus Team alt: „Das ist Berit und wir wissen nicht, ob sie mehr verdient als ich heute Abend.“ Schon der im Trailer hörbar werdende Sprechtext führt vor, wie sehr auch die Verhandlung weiterer Unterschiede neben der primären Differenz von ‚alt‘ und ‚jung‘ beim Unterscheiden der Generationen herangezogen wird. Die launig zum Einsatz gebrachten Zuschreibungen, von denen die sich vor‐ stellenden Figuren Gebrauch machen, wirken fast schon überladen durch potentielle Klischees, die der ‚alten‘ beziehungsweise ‚jungen‘ Generation zusätzlich beigelegt werden könnten bzw. die mit der Kategorisierung nach Alter interferieren: Es treten hier offenbar nicht nur ‚alt‘ gegen ‚jung‘ an, sondern auch arrogante Bildungsbürger gegen coole Underdogs, Dicke gegen Dünne, Attraktive gegen Unattraktive, fit gegen unfit, Frauen gegen Männer, geschlechtlich binär unterschiedene Personen gegen nicht-binäre, rassistisch markierbare PoCs gegen Weiße, Mainstream gegen Newcomer, Macht gegen Ohnmacht, Awareness gegen Ignoranz, usf. Neben einer zum Teil brisanten Anreicherung der recht schlichten Unterscheidung ‚alt versus jung‘ führt dies auch zu deren Verunklarung und Verkomplizierung: So lassen sich die weiteren aufgerufenen Differenzen eben nicht ohne weiteres in die Generationen-‚Schub‐ Wettstreit der Generationen? 233 <?page no="234"?> 5 In Goffman: Rede-Weisen, S.-37-72. 6 Siehe ebd., S.-61. 7 Die Gruppe Forced Entertainment hat dieser Äußerungsform sogar einen eigenen Namen gegeben - „Catalogues“. Mehr zur Wirkung „Catalogue“-artiger Sprechweisen bei Forced Entertainment vgl. Stefanie Husel, Grenzwerte im Spiel. Die Aufführungs‐ praxis der britischen Kompanie ‚Forced Entertainment‘. Eine Ethnografie, Bielefeld 2014, S. 174-175. Von einer „Ablösung“ des gesprochenen Textes von den äußernden Figuren in entsprechenden Äußerungsformen berichtet beispielsweise Hans-Thies Lehmann in seiner Arbeit Postdramatisches Theater, und kennzeichnet das entstehende Auseinan‐ derdriften von Figur und Äußerung als typisches Stilmittel nicht mehr traditionell lade‘ einsortieren und problematisieren auf diese Weise deren zunächst so offensichtlich scheinende Erkennbarkeit und Nutzbarkeit. Es lohnt sich also, die transkribierten Äußerungen mit konversationsanalytischen Mitteln genauer unter die Lupe zu nehmen: Zurückgreifend auf Erving Goffmans Thesen und die Begrifflichkeit aus seinem späten Aufsatz „Redestatus“ 5 lassen sich Äußerungen nach Ihrem „Produktionsformat“ beschreiben (wer ist es, der*die sich durch eine Äußerung präsentiert, und welche Äußerungs-Situation wird hierbei auf‐ gerufen bzw. suggeriert), zudem lässt sich der „Teilnehmer*innenstatus“ bzw. „Teilnahmerahmen“ beschreiben, der durch Äußerungen für Adressat*innen der Äußerung aktualisiert wird, schließlich sollten die zahlreichen und häufig ephemeren „Einbettungen“ berücksichtigt werden, mit denen Äußerungen nicht-situative Kontexte in die aktuelle Situation hereinholen und diese ggf. neu interpretieren. 6 Die kurze, für den Trailer besonders wirkungsvoll zusammengeschnittene Sequenz bestätigt in ihrer Darstellungsweise zunächst das schon in Programm‐ heften und Flyern zur Inszenierung angekündigte Format: Anscheinend geht es hier um einen live stattfindenden ‚Battle‘, einen Schaukampf mit wirkungs‐ voll präsentierter Kampfeslust. Gegner*innen haben offenbar das Ziel, sich gegenseitig auszustechen, vor allem im Hinblick auf ihre Gunst beim Publikum. Dem entspricht das „Produktionsformat“ der Äußerungen: Es handelt sich hier sichtlich nicht um gutwillige Einführungen geschätzter Darstellerkolleg*innen, sondern um möglichst konfrontativ hervorgebrachte Zuschreibungen. Aller‐ dings sind dem hier zitierten Schaukampf-Format noch ein paar besonders interessante stilistische Details beigemischt: So sind die Äußerungen aus der Präsentationsrunde, egal um welche*n der Kontrahent*innen es gerade geht, in immer gleicher Art und Weise formuliert: „Das ist X… Wir wissen nicht, ob X…, wir wissen nicht, ob X…“ Sprechweisen, die sich solcherart wie auf einer Liste aufgezählt präsentieren, bewirken eine Vereinheitlichung und Gleichma‐ chung der geäußerten Inhalte, und damit eine Ästhetisierung - im Sinne einer Hervorhebung und situativen Reflexion - des Gesagten. 7 Die unterschiedlichen 234 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="235"?> dramatischer Theaterspielweisen (vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.-M. 2001, S.-271). Zuschreibungen, mit denen die Battle-Gegner*innen sich in Dance Me! belegen, stehen so gewissermaßen im Raum, werden auf die Bühne gehoben und als eine Kategorisierungspraxis neben anderen wahrnehmbar, sie werden damit reflek‐ tierbar als kulturelle Praxis auch jenseits der äußernden Figuren. Verstärkt wird das ästhetisierende, auf die Bühne hebende Moment der Äußerungen inhaltlich durch die wiederkehrende Formel, man ‚wisse nicht‘, welche Zuschreibung hier zutreffen könnte - eine ganze Reihe offener Fragen werden auf diese Weise schon nach kürzester Aufführungszeit zum thematischen Hintergrund des vorgeführten ‚Battle‘. Eine diesem Effekt fast schon zuwiderlaufende Wirkung der ‚gelisteten‘ Äußerungen entfaltet dabei deren Formulierung in der ersten Person Plural. Denn anders als das ästhetisierende und gewissermaßen in-der-Schwebe-hal‐ tende Moment des Aufzählens, produziert eine solche Ansprache eine rekrutie‐ rende, eingemeindende Wirkung: Die Zuschauerin kann sich jeweils fragen, ob Sie sich durch das geäußerte „Wir“ angesprochen und damit in eines der ‚battlenden‘ Teams eingeschlossen fühlen möchte - oder ob sie sich innerlich gegen diese vergemeinschaftende Formel verwehren möchte. Insofern ist der im Produktionsformat aktualisierte Teilnahmerahmen seinerseits hervorgehoben, ästhetisiert, ja problematisiert: Zuhörer*innen der beschriebenen Äußerungen - seien es diejenigen auf der Bühne oder das Publikum im Saal - bleiben ebenfalls undefiniert und ‚in der Schwebe‘. Die in der geäußerten Zuschreibungsliste verlauteten Ideen, die Zuschauer*innen teilen oder ablehnen können, wenn sie die battelnden Figuren beobachten, bedienen dabei gleichermaßen bekannte, teils sogar aggressiv klischeehafte Muster wie unerwartete oder an „falscher Stelle“ aufgegriffene Assoziationen, die häufig auf deutlich wahrnehmbare, auch im Alltag wirksame Marker zugreifen, z. B. wenn implizit oder explizit auf den Körper oder das Outfit der Präsentierten Bezug genommen wird - es geschieht insofern eine sehr breite „Einbettung“ zahlreicher wohlbekannter sozio-kultureller Kontexte, zum Teil gar rassistischer bzw. bodyistischer Kon‐ notation, z. B. wenn ein Performer, PoC, aus ‚Team jung‘ auf seinen gemutmaßt prekären Bildungsstand angesprochen wird oder einer Person aus Team alt zugeschrieben wird, sie sähe lieber so aus wie der junge Sprecher. Auch diese grenzwertigen Konnotationen wirken allerdings, durch die Art ihrer spieler‐ ischen Hervorbringung, ‚vorgeführt‘ bzw. ästhetisiert, sie entfalten insofern niemals ihr spürbar verletzendes Potential. Insofern wird das kategorisierende Zuschreiben von Generation und angrenzender Humandifferenzierungen (bzw. Wettstreit der Generationen? 235 <?page no="236"?> 8 Welches Team als siegreich galt, war letzten Endes nur den ‚Energie-Balken‘ der Anzeigetafeln geschuldet, die schwanden, je länger ein Team tanzte; da große Anteile der musikalischen Auswahl jeweils improvisiert entschieden wurden, war es also vor den Aufführungen von Dance Me! nicht gänzlich klar, wer zum Ende ‚gewonnen‘ hätte - allerdings hatte das Ende, vgl. Aufführungsbeschreibung oben, ohnehin keinen sehr großen Einfluss auf die geschilderte Wirkung. 9 Der Begriff des „Stereotypen-Judo“, der hier anklingt, wurde von Friedemann Kreuder und der Verfasserin genutzt, um an anderer Stelle das explizite und konfrontative sogar Marginalisierung) in Dance Me! - dies lässt sich schon anhand dieser kurzen Sequenz verdeutlichen - als exkludierende, ‚ver-andernde‘ Praxis wahr‐ nehmbar (und möglicherweise auch reflektierbar), die jedoch im selben Zug auch vergemeinschaftend wirken kann - zumindest für die Gruppe, aus der exkludiert wird. Die Zuschauerin kann sich dabei nie sicher sein, ob auf der Bühne Geäußertes, bzw. auffällig werdende Haltungen und Verhaltensweisen den äußernden Per‐ sonen zugeschrieben werden können, auch wenn diese anscheinend als ‚sie selbst‘ auftreten. Vielmehr scheint hier das (Macht-)Spiel, das einer Zuordnung zu Generationen und anderen möglichen Identitäten zugrunde liegt, vorgeführt und ausgestellt, zwar unter ganzem Einsatz der Spieler*innen, doch nie mit vollem Ernst. Die Inszenierung ergreift insofern nie klar Partei für eines der ‚battelnden‘ Teams. Auch scheint das Ende des Schaukampfes nur wenig mit den jeweils erspielten Sympathien zu tun zu haben und eher einem ‚natürlichen‘ Lauf der Dinge zu entsprechen: Zum Schluss der Aufführung ‚sterben‘ die Alten - sie sind schwächer, ihre ‚Lebensenergie‘ ist verbraucht. Die Spielre‐ geln waren offenbar viel weniger komplex, als es die zahlreichen möglichen Zuschreibungen hätten denken lassen: Letzten Endes reicht die (nun doch lediglich dem biologischen Alter entsprechende) Fitness von ‚Team alt‘ in der durch mich besuchten Aufführung offenbar nicht aus, seine Mitspieler*innen sinken zum Schluss langsam und sichtlich erschöpft zu Boden. 8 Strahlende junge Sieger*innen hinterlassen sie trotzdem nicht, nur allzu oft mussten „die Jungen“ im Verlauf der Aufführung einstecken, wirkten vorgeführt als ‚zu ungeduldig‘, ‚zu unerfahren‘, ‚zu viel wollend‘, ‚machtlos‘, als niemals die allei‐ nigen Sympathieträger*innen. So unernst und ambivalent das Bühnenspiel sich zeigt, lassen sich viele der Statements von ‚Team jung‘ eben doch immer auch als recht ernstgemeinte Aussagen zu konkreter Machtlosigkeit und geringerer Etabliertheit lesen, insbesondere, wenn der möglicherweise geringere Verdienst ‚der Jungen‘ zur Sprache kommt, oder die Privilegien-Blindheit der ‚Alten‘. Das demonstrativ verspielte Setting des nicht so ganz durchschaubaren Tanzwettbewerbs macht das aus dem alltäglichen Leben nur zu bekannte „Zuschreibungs-Judo“ 9 also einerseits durchsichtig, lässt es gerade hierdurch 236 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="237"?> Heranziehen von Stereotypisierung im zeitgenössischen Theater zu umschreiben (siehe Stefanie Husel, Friedemann Kreuder, „Staging Differences - Interferenzen von Teilneh‐ merrollen und Humandifferenzierungen im Gegenwartstheater“, in: Stefan Hirschauer et al, Humandifferenzierung, Weilerswirst 2022. S. 183-200, hier S. 193) - allerdings scheint mir ein ähnlich demonstrativ kämpferischer Umgang mit Zuschreibungen auch im nicht als Theater gerahmten Alltag, gerade in der Verhandlung von Identitätskon‐ struktion, äußerst üblich. aber in seiner Komplexität und Kontingenz wahrnehmbar werden - sofern die Zuschauerin sich nicht zu sehr von einzelnen Zuschreibungsund/ oder Identifikationsangeboten rekrutieren lässt, und humorvoll distanziert bleibt. Dabei bleibt ein Abstand zwischen den auftretenden ‚Teams‘ wahrnehmbar, der - zumindest mir, als mittelalter Zuschauerin - dennoch als humorvoll überbrückbar und verhandelbar erscheint. 2. Publikumsgespräch Im Folgenden füge ich den zweiten Teil meines oben schon zitierten Erinne‐ rungsprotokolls ein: Ganz anders sieht es aus im Publikumsgespräch, das ich ein wenig verspätet besuche, nachdem ich zunächst mit meinem Begleiter im Foyer darüber gesprochen hatte, dass uns die ‚Jungen‘ im Battle agitierter, angegriffener und auch ein wenig aggressiver vorgekommen waren. Erschrocken feststellend, dass das Publikumsgespräch schon im vollen Gange ist, kommen wir ganz hinten zu sitzen. Neben mir, in derselben Stuhlreihe befinden sich einige der Performer*innen der Generation 20, die zuvor auf der Bühne standen. Ich freue mich über die plötzliche Nähe, und beobachte sie inte‐ ressiert. Dabei bemerke ich allerdings, dass sie alles andere als glücklich wirken, eher ernsthaft aufgebracht; da ich noch nicht genau weiß weshalb, ziehe ich den Kopf ein und setze mich möglichst unauffällig. Auf dem Podium befinden sich zwei Mitglieder der ‚Generation alt‘ aus dem vorangegangenen Battle - also Vertreter*innen der Gruppe She She Pop - und zwei der ‚jungen‘ Gastdarsteller*innen. Die Atmosphäre im Raum scheint angespannt, es liegen offenbar zahlreiche Anklagen in der Luft, die sich in zwei Richtungen entladen, wie ich allmählich entschlüsseln kann: ‚Junge‘ Performer*innen und vor allem ‚junge‘ Zuschauer*innen machen eine Front aus, einige ‚alte‘ Zuschauer*innen die andere. Dazwischen, fast verloren die beiden ‚alten‘ Vertreter*innen She She Pops, die sich in beide Richtungen zu rechtfertigen scheinen, dabei vor allem ‚die Jungen‘ verteidigend. In einigermaßen aufgeheizter Stimmung wird hierbei von Seite des Publikums offenbar versucht herauszufinden, wie viel von den im Spiel bzw. im Battle vertretenen Positionen ernsthaft auf die äußernden Generationen und ihre Vertreter*innen zugeschrieben werden konnten (i. S. v. „Meint Wettstreit der Generationen? 237 <?page no="238"?> ihr ehrlich, dass…“, „ist XY nicht ein bisschen übertrieben…“ etc.) Es artikulierte sich insofern eine große Sehnsucht nach Konkretisierung und nach einem Festzurren des zuvor in der Schwebe gehaltenen Konflikts - auf diese Weise entstand zunächst eine Form ‚ernstgemeinter‘ (i. S. v. nicht ästhetisierter, nicht theatral gesetzter) Neuauflage der zuvor gesehenen Performance: Eine ganze Reihe der Inhalte des Battles wurden ein weiteres Mal durchgekämpft. Klimax und zugleich Kipppunkt dieses Schlagabtausches war erreicht, als sich eine im Sinne der zuvor performten Grenzlinie ‚alte‘ Publikumsvertreterin - also eine Frau um die 60 - zu Wort meldete. Nachdem es zunächst um die möglicherweise größere Awareness der jüngeren Gene‐ ration gegenüber Rassismen gegangen war, fragte sie aggressiv-ignorant einen der ‚jungen‘ Performer, PoC, der auf dem Podium saß, ob er denn wirklich ernsthaft behaupten würde, im heutigen deutschen Alltag rassistische Angriffe zu erleben - und falls ja, solle er doch bitteschön entsprechende (persönliche) Erfahrungen schildern. Dieser Anspruch wurde - noch bevor der so angegangene Performer reagieren konnte - zunächst durch ‚junge‘ Publikumsteilnehmer*innen wütend pariert, durch Zischen, Wispern, lautes Aufstöhnen und Zurufe in Richtung des angesprochenen Performers, er möge diese Frage bloß nicht beantworten. Die spontane Reaktion von Publikumsteilnehmer*innen verschaffte diesem ein wenig Zeit und er gab die Diskussionsfrage ins Publikum zurück, indem er etwas äußerte, wie: „Sagt gerne ihr im Publikum etwas dazu“, woraufhin die Diskussion für einige Momente zwischen Publikumsteilnehmer*innen geführt wurde und sich eine Reihe ‚alter‘ Personen aus dem Publikum mit der zunächst v. a. durch die ‚Jungen‘ vertretenen antirassistischen Position solidarisierten. Grundsätzlich bot das Publikumsgespräch also ein Ping-Pong aus Positionen, die sich an moralischer Deutungshoheit abarbeiteten - einem Aspekt des Generationenkonfliktes also, der auch in der Inszenierung relevant gemacht worden war - dort allerdings nicht so hitzig wie zum Ende der Publikums‐ diskussion, sondern immer in spielerischer Relativierung. Die geschilderten, besonders konfliktgeladenen Äußerungen aus dem Publikumsgespräch sollen im Folgenden ebenfalls kurz in konversationsanalytischer Manier genauer untersucht werden, analog zu den Äußerungen aus der Aufführung, indem auf Produktionsformat, Teilnahmerahmen und die Einbettung des Geäußerten rekurriert wird: Produktionsformat und Teilnahmerahmen lassen sich ähnlich wie bei Podiumsdiskussionen beschreiben: In Publikumsgesprächen sitzen Vertreter*innen der Künstler*innen erhöht und exponiert - Sie diskutieren untereinander, häufig flankiert von Dramaturg*innen o. a. Vertreter*innen des Aufführungsortes, und beantworten Fragen aus dem Publikum. Es handelt 238 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="239"?> 10 Als „zentrierte Interaktionen“ bezeichnet Erving Goffman in seinem Essay „Spaß am Spiel“ all jene Situationen, bei denen Teilnehmer*innen stillschweigend darüber einig sind, dass sich ihre Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Fokus beziehen sollte: „Eine zentrierte Interaktion tritt ein, wenn Menschen effektiv darin übereinstimmen, für eine gewisse Zeit einen einzigen Brennpunkt der kognitiven und visuellen Auf‐ merksamkeit aufrechtzuerhalten, wie etwa in einem Gespräch, bei einem Brettspiel oder bei einer gemeinsamen Aufgabe, die durch einen kleinen Teil von Teilnehmern ausgeführt wird.“ (Erving Goffman, „Spaß am Spiel“, in: ders., Interaktion. Spaß am Spiel, Rollendistanz, München 1973, S.-17-89, hier S.-7). sich bei Äußerungen im Rahmen einer entsprechend „zentrierten Interaktion“ 10 also nicht um Gesprächsbeiträge auf Augenhöhe - Künstler*innen sprechen nicht zur Gänze als ‚sie selbst‘ sondern als Vertreter*innen eines gemeinsamen Projekts, während Publikumsteilnehmer*innen sich gewöhnlich durchaus ‚für sich‘ bzw. ‚als sie selbst‘ äußern. Es stellt insofern einen - wenn auch nicht unüblichen, und häufig nur kleinen - Rahmenbruch dar, wenn Vertreter*innen auf der Bühne nach persönlichen Erfahrungen jenseits der besprochenen künst‐ lerischen Produktion befragt werden. Häufig dienen solche kurzen Ausflüge ins Private der von allen Teilnehmenden goutierten Auflockerung eines Gesprächs. Im vorliegenden Fall aber wirkte diese Form der Ansprache in mehrfacher Weise grenzverletzend: So wurde eine exponiert sitzende ‚Person of Colour‘ zum Spre‐ cher für anderen PoCs genötigt und darüber hinaus noch in die Pflicht gerufen, rassistische Vorfälle in Deutschland mit privat erlebten Verletzungen zu belegen. Das zuvor auf der Bühne - im Rahmen der Aufführung - kunstvoll verunklarte Verhältnis von präsentierter Figur und tatsächlichem Darsteller, ebenso aber die im Podiumsgespräch üblicherweise aufrechterhaltende Unterscheidbarkeit von professionellen Sprecher*innen und Privatpersonen, wurde auf diese Weise zum Einsturz gebracht, ein Sprecher auf seine Körperlichkeit, seine Verletzlichkeit und seine persönliche Geschichte festzulegen versucht. Geäußert im Rahmen der Debatte um typisch generationelle Themen, regte diese Form der grenzver‐ letzenden Ansprache durch eine Vertreterin der ‚Alten‘ letztlich zahlreiche Vertreter*innen der ‚älteren‘ Generation im Publikum dazu an, sich zu erklären, es folgten Äußerungen wie: „Zwar gehöre ich zur selben Generation wie meine Vorrednerin, aber ich lehne ihre Frage ab…“ etc. Die provokante Einbettung der rassifizierenden Ansprache führt insofern zumindest zum Teil zu einer Klärung von Positionen und (Selbst-)Kategorisierungen. Im Erkennen einer für viele Anwesenden auch über-generationell abgelehnten Position, in einer gemeinsam empfundenen Abgrenzung, werden Gemeinsamkeiten wahrnehmbar - und dies scheinen im geschilderten Fall besonders Gemeinsamkeiten im Denkstil und der damit einhergehenden Bereitschaft zum Perspektivwechsel und hiermit verbundener Ambiguitätstoleranz zu sein. Die Äußerungen der unempathischen Wettstreit der Generationen? 239 <?page no="240"?> 11 Möglich wurde dies in einer Nachbesprechung, die ich via Zoom am 30.06.2023 mit Jan Nwattu und Hiyam Biary (Gastperformer*innen aus Dance Me! , ‚Team jung‘) sowie Berit Stumpf und Sebastian Bark (She She Pop / ‚Team alt‘ in Dance Me! ) führen konnte. und ignoranten ‚alten‘ Sprecherin im Publikumsgespräch waren offenbar so tief ‚unter der Gürtellinie‘, dass die zuvor hergestellte Ferne zwischen den debattierenden ‚Generationen‘ im Konsens der Ablehnung dieser Position überbrückt wurde. Es zeigte sich, dass die meisten der geäußerten und gezeigten Unterschiede vermutlich doch - selbst ‚im Ernstfall‘ eines tatsächlichen Wort‐ gefechts - verhandelbar blieben. Insofern führte das Publikumsgespräch zu einer ähnlichen, wenngleich noch intensiveren Erfahrung wie der aufgeführte ‚Battle‘. 3. Reflexion / Künstler*innen-Gespräch Das große Engagement, das erneute Aufrollen des ‚Battles‘ und die hierbei entstandene konflikthafte Klimax im Publikumsgespräch schienen mir unge‐ wöhnlich. Aus diesem Grund bat ich die damaligen Podiumsteilnehmer*innen, mir die Situation aus ihrer Sicht zu schildern. 11 Dabei wurde zunächst - und dies schon bei meiner Anfrage zum Gespräch - deutlich, dass auch She She Pop und die Gastperformer*innen das genannte Publikumsgespräch lebhaft erinnerten und ebenfalls als auffällig emotionalisiert wahrgenommen hatten. Da die Aufführungen von Dance Me! tatsächlich - zu‐ mindest in Teilen - live und zum Teil improvisiert entstehen, interessierte mich zu hören, ob sich in der Aufführung, die dem fraglichen Publikumsgespräch voran ging, schon besonders konflikthaft gespielt worden wäre - also ob es in der Aufführung eine Art Anlass oder Vorlage für die spätere Emotionalisierung gegeben habe. Dies wurde - eigentlich zu meinem Erstaunen - direkt bejaht: Berit Stumpf (She She Pop): „Gerade die Widmungen, die [in Dance Me! ] den Songs vorausgehen, die sind oft sehr unterschiedlich von Abend zu Abend, von Aufführung zu Aufführung. Und wir wissen […] nicht unbedingt, mit was wir dann in dem Moment konfrontiert werden, live. Und natürlich schaut uns das Publikum dabei zu, wie wir damit umgehen… mit dieser Konfrontation. Und das kann mal auch wirklich so sein - und ich glaube, in Düsseldorf war es […] so - dass wir selbst ein bisschen mit den Zähnen geknirscht haben, als bestimmte Sachen gesagt wurden.“ Sebastian Bark (She She Pop): „Ich würde sagen, es hatte sich durchaus hochgeschau‐ kelt. Und das ging nicht nur mir so… zumindest wir von ‚Team alt‘ haben es auf der Bühne schon gespürt [Berit Stumpf nickt]; wir dachten: Spielt ihr das gerade, oder meint ihr das echt so … so angefasst, aufgewühlt? […] Und ich habe auch 240 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="241"?> wahrgenommen bei ‚Team jung‘, dass es eine gewisse Unzufriedenheit oder eine Ungeduld gab, die ich schon vorher beobachtet habe… Gegenüber unseren ewig gleichen oder sich nur ganz langsam verändernden Texten[.]“ Die ‚ältere Generation‘ im Projekt Dance Me! , d.-h. die Vertreter*innen She She Pops, führten im Nachgespräch also eine deutlich spürbar werdende und auch ernstgemeinte Unzufriedenheit der ‚jüngeren Generation‘, sprich, der Gastper‐ former*innen als mögliche Grundlage des später aufkommenden Konfliktes im Publikumsgespräch an. Eine Unzufriedenheit, die offenbar mit den „ewig gleichen“ bzw. sich nur „langsam verändernden Texten“ der älteren Generation zu tun gehabt habe. Diese für mich zunächst ein wenig kryptisch erscheinende Erläuterung wurde klarer, als auch die Vertreter*innen von ‚Team jung‘ eine ähnliche Sicht der Dinge ansprachen, hier bezogen auf Konflikte, die schon während der Proben zu Dance Me! auftauchten und sich insbesondere auf die Struktur der geplanten Aufführung bezogen: Hiyam Biary (Gastperformerin): „Wir haben richtig viel […] über das Spielregeln-Bre‐ chen gesprochen. Das war ein wichtiges Thema von unserer Seite: Wie können wir die Regeln brechen? Fast schon klischeehaft eigentlich. Die Teenie-Generation, die versucht, irgendwie aus der Reihe zu tanzen und die Älteren, die sagen: ‚Ja. Guckt mal, so und so sieht die Struktur aus.‘ Und darauf sagten wir: ‚Aber was ist, wenn wir das nicht machen wollen? Was passiert dann mit dem Spiel? ‘ […] Je mehr ich darüber nachdenke, […] ich glaube ganz viel ging es um diese Spielregeln, die wir dann versucht haben zu verändern.“ Jan Nwattu (Gastperformer): „She She Pop gibt es seit so und so vielen Jahren. Die wissen, wie man arbeitet. Die haben Erfahrung… Und wir halt gar nicht. Wir sind einfach irgendwelche Leute, die sich nicht mal richtig kennen [lacht verzweifelt]. Also, wie sollen wir das hinkriegen? […] Ich hab’ noch nie irgendwas ‚Performance‐ theater‘-haftes gemacht. Ich wusste gar nichts, so: ‚Häh? Ja, wie? Ich bin jetzt ich auf der Bühne? Versteh ich nicht. Wieso hab’ ich keine Rolle? ‘ [lacht] Also es war in dem Punkt auch noch mal ein krasses Learning für uns und eine bereichernde Erfahrung, einfach mal was ganz anderes zu machen.“ Im Verlauf des Künstler*innengesprächs wurde also deutlich, dass es die ‚post‐ dramatische‘ Inszenierungsweise war, die den Gastperformer*innen fremd und fragwürdig erschien - herkommend aus Hintergründen im Tanz, in der Ball‐ roomszene, zum Teil noch frisch aus der Schule, brachten sie keine Erfahrung mit Probenarbeit mit, wie sie für Gruppen wie She She Pop typisch und über Wettstreit der Generationen? 241 <?page no="242"?> 12 Im Künstler*innengespräch erfragte ich auch, wie die beiden ‚Teams‘ eigentlich zu‐ sammengefunden hätten; es stellte sich heraus, dass dieser Prozess seinerseits im Rahmen der Probenarbeit zu Dance Me! mehrfach problematisiert worden war und nicht so einfach und unkompliziert ablief, wie es sich die Mitglieder von She She Pop möglicherweise zu Beginn vorgestellt hatten: Die Kompanie hatte den Plan, einen Tanz der Generationen zu inszenieren und benötigte dafür eine Gruppe junger Gastperformer*innen. Hierfür fragten Sie beim Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin nach möglichen Kontakten. Auf diese Weise lernten Sie Hiyam Biari und eine weitere (junge) Performerin kennen, die darauf ihrerseits jeweils mehrere weitere Mitstreiter*innen für ‚Team jung‘ anfragten. Die Performer*innen, die auf diese Weise zusammenkamen, waren zwar alle Theater- Performance- und / oder (Sub)Kultur-affin, stammten jedoch nicht aus demselben künstlerisch-kulturellen Milieu. In einem mehrtägigen Workshop wurde das auf diese Weise zusammengekommene ‚Team jung‘ dann an die Arbeitsweise She She Pops herangeführt, dabei lernten sich die Mitglieder des ‚jungen‘ Teams zum Teil auch erst kennen. Durch das Zusammenfinden des Teams und die zugleich stattfindende erste Begegnung mit She She Pop im Rahmen genannten Workshops entstand, so wurde im Gespräch deutlich, sehr viel der Dynamik, die sich schließlich bis in die hier besprochene Aufführung zeigte. Jahre hinweg gewachsen ist. 12 Aus diesem Grund war die ursprüngliche Idee zum Projekt, die beiden ‚Teams‘ sollten so gut wie zur Gänze alleine proben/ trainieren und erst in den eigentlichen ‚Battles‘ aufeinandertreffen, auch nicht zu hundert Prozent durchzuhalten. Vielmehr wurde es notwendig, zunächst in gemeinsamen Workshops zu einem Konsens zu finden, die Arbeitsweise und die Struktur der angestrebten Aufführungen betreffend. In diesem Rahmen entstanden zahlreiche für die beteiligten Künstler*innen interessante, doch nie ganz gelöste formale Debatten, die häufig etwas damit zu tun hatten, wer - also welche Generation - welche Darstellungsweise für sinnvoll und ‚richtig‘ hielt. Auf diese Weise schrieb sich offenbar ein generationeller Künstler*innen-Kon‐ flikt in die später aufgeführten Battles ein: Sebastian Bark (She She Pop): „Ich erinnere mich gerade daran, dass gerade auch in dieser Aufführung in Düsseldorf […] irgendwie sowas vorkam, […] Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube - Hiyam hat auf die Produktionsbedingungen mit She She Pop rekurriert und hat sowas gesagt, wie: ‚Ihr habt uns…She She Pop hat junge Leute… gecasted, für die eigenen Zwecke.‘ Und irgendwas mit der Bezahlung… ‚Ihr wisst nicht, was die uns bezahlen‘[…] Und also…ich erinnere mich nicht mehr so genau, aber es ging in so eine Richtung, also dass wir als She She Pop angesprochen wurden. Und wir dachten: ‚Hä? Fehler! Wir reden doch hier von Generationen [grinst und mimt Entrüstung]. Damit kann das Publikum nichts anfangen. Das interessiert die nicht.‘ [lacht selbstironisch]“ Berit Stumpf (She She Pop): „…diese anderen Differenzen, […] die dann eben auch noch reingespielt haben, die [hatten] wir gar nicht alle auf dem Schirm von Anfang an. Also, 242 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="243"?> genau wie du sagst, diese Erfahrung… Und dass es diesbezüglich natürlich auch eine ziemliche Schieflage gibt … wir dachten halt: ‚Ja, das Thema ist ja nur das Alter.‘ Klar, ins Alter spielen auch Erfahrungen rein, aber … diese ganzen anderen Themen, derer wir uns nicht so bewusst waren… [Sebastian Bark stimmt zu] Das kam uns auch erst so allmählich. Und manches eben auch, also wirklich auch… erst in den Aufführungen…“ Offenbar waren also die Gastperformer*innen nicht bereit, die Struktur des ‚Battles‘ unhinterfragt mitzutragen. Dieser Unwillen zeigte sich in einer kleinen, doch anscheinend sehr wirkungsvollen Veränderung im produzierten Teilnahmerahmen, den Äußerungen auf der Bühne entstehen lassen: Die Per‐ former*innen der Gruppe She She Pop fühlten sich momentweise als sie selbst angesprochen und empfanden dies als einen Bruch mit den - ungeschriebenen, impliziten - Spielregeln. Die resultierende Anspannung mag Grundlage für die emotionalisierte und konfliktbereite Grundstimmung auf der Bühne in Düssel‐ dorf gewesen sein, die das Publikum später im Publikumsgespräch aufnahm und weiterspann. Anders als im Publikumsgespräch hatten die beiden Künstler*in‐ nengruppen allerdings schon im Vorfeld dieser spezifischen Aufführung Zeit und Gelegenheit, den zugehörigen Konflikt zu durchdenken - und daraus zu lernen. Entsprechendes berichten Vertreter*innen She She Pops wie auch die Gastperformer*innen: Sebastian Bark (She She Pop): „[I]ch hab’ gelernt, … dass nicht nur wir älter sind und euch eingeladen haben und [dass] das […] Machtverhältnisse sind [Berit Stumpf nickt], sondern dass da noch mehrere andere Linien sind, […] die sich da kreuzen, wenn wir uns gegenüberstehen [Berit Stumpf stimmt zu]. Und die auch davon handeln, … welche Erfahrungen man außerhalb von einem Stück macht. Sei es als PoC, oder… welche Privilegien man hat als Bildungsbürger-Kind […], oder als Position, die seit […] Jahren […] Steuergelder zur Verfügung hat, um Plattformen herzustellen und Leute […] einzuladen … All solche Fragen, die werden ja in der Struktur, die wir schaffen, ein Stück weit ausgeblendet [Berit Stumpf nickt]. … die Struktur tut so: ‚Hey! Hier trifft sich einfach ein „Team alt“ und ein „Team jung“.‘ Als ob das ebenbürtig wäre oder jemals sein könnte… Und diese Ignoranz, die teile ich ein Stück weit mit diesen schrecklichen Stimmen der Zuschauer*innen. Und ja, das hat mich betroffen.“ Während im Publikumsgespräch die im Aufeinandertreffen der Generationen bemerkbar werdende Ignoranz für die jeweils andere Position offensichtlich noch live bearbeitet werden musste, hatten die Künstler*innen im Vorfeld der Aufführungen die Gelegenheit, Arbeitsweisen und Probenpraktiken zumindest ein wenig miteinander auszuprobieren und aneinander anzupassen. Eine ent‐ sprechend - lernbereite und anpassungswillige - Haltung zeigt sich in der hier zitierten Äußerung, in der der Vertreter der Gruppe She She Pop die eigene Wettstreit der Generationen? 243 <?page no="244"?> generationelle Ignoranz sogar mit der intensiv abgelehnten Haltung der sich ras‐ sistisch Äußernden aus dem Publikumsgespräch verglich. Zurückblickend auf den gemeinsam zurückgelegten Weg der Projektteilnehmer*innen zeigte sich weiterhin, dass die jüngere Generation der Gastperformer*innen insbesondere die Arbeit an und mit den spielerischen Anteilen postdramatischer Probenpraxis schätzten und besonders stark darauf pochten, diese in die die Struktur auch der Aufführungen hinüberzuretten: Hiyam Biary (Gastperformerin): „Ich musste mich gerade zurückerinnern an unsere erste Begegnung […] Da hattet ihr ja so ein paar Begegnungsspiele vorbereitet oder mitgebracht, die ihr quasi an uns ausprobiert habt. Und ich erinnere mich, dass … diese Spiele … ich glaube die haben uns richtig lange noch beschäftigt, die waren voll gut für uns. [Jan Nwattu nickt] Wir haben uns richtig aufgefangen gefühlt […] Das war wirklich ’ne gute und schöne Begegnung mit She She Pop. Wir kannten niemanden und wir kannten uns untereinander auch nicht. Wir haben danach erst das erste Mal so richtig alle zusammen gesprochen, also als ‚Team jung‘ … nach dem Workshop. […] das war eine Begegnung, die ich noch richtig doll in Erinnerung habe. Und ich glaube die anderen auch, weswegen wir diese Begegnung in der Aufführung auch unbedingt wollten. [Alle nicken] […] Und dass diese [Spiele, Begegnungen - SH] dann auch Raum kriegen in unserer Performance, war irgendwie ’ne Art von … Selbstverständlichkeit, die glaube ich auch ‚Team alt‘ relativ schnell verstanden hat.“ Sebastian Bark (She She Pop): „[mit ironischem Ton] Sogar ‚Team alt‘. … [alle lachen]“ Die Redeweise im Künstler*innengespräch zeigt die Gesprächspartner*innen als (inzwischen) in durchaus gutem Einvernehmen, wenn sie auch betonen, dass sie einen längeren Weg dorthin nehmen mussten. Die erprobte, postdramatische Arbeitsweise der Kompanie She She Pop wurde im Rahmen der Zusammenarbeit durch ‚die Jungen‘ angepasst und ihre spielerischen Züge wurden weiter herausgearbeitet: Hiyam Biari (Gastperformerin): „Und dann gab es auch die Frage: Um was spielen wir? Also was gewinnen wir eigentlich? Wenn wir spielen, dann muss es einen Gewinn geben. Also das war für uns eigentlich ganz klar. Oder: Auf welcher Seite steht das Publikum? Die sollen sich entscheiden für welches Team sie sind…! Also eigentlich solche Grundfragen, die für uns Teil von einem Spiel sind … Regeln, […] die wir quasi als Teil von dem ganzen Konzept und von der Struktur gesehen haben, aber die glaub’ ich von She She Pops Seite gar nicht bedacht waren. […]“ Berit Stumpf (She She Pop): „Ihr wolltet viel mehr Konsequenzen.“ Hiyam Biari (Gastperformerin): „[nickt] Ja! Wir wollten Konsequenzen.“ 244 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="245"?> Das Nachgespräch mit den Künstler*innen entfaltete insofern einen weiteren, bislang so nicht nachvollziehbaren, dabei aber durchaus spürbaren generati‐ onellen Konflikt, der gewinnbringend für alle Beteiligten fruchtbar gemacht wurde. Während die ‚Alten‘ (She She Pop) - ganz postdramatisch - die ‚rituelle‘ und recht ironisch-distanzierte Ästhetisierung des Generationenkonflikts für das gemeinsame Projekt Dance Me! vorgesehen hatten, besaßen die ‚jungen‘ Gastdarsteller*innen andere Relevanzen und formulierten den Wunsch, kon‐ kreter zu werden, im Rahmen der Aufführung in tatsächlichen Wettkampf zu treten. Erst die Bereitschaft der ‚alten‘ Performer*innen - She She Pop, tatsächlich eine neue, angepasste Spielweise zuzulassen, über die Art der Begegnung zu debattieren, ermöglichte eine letztlich gelungene Annäherung: Berit Stumpf (She She Pop): „Ja, und was glaub’ ich auch noch dazukommt ist, dass ihr im Gegensatz zu uns aus verschiedenen Kontexten kommt … oder kamt. Also ihr seid nicht alle … Teil der ‚Freien Szene‘ [lacht] in Berlin, sondern kommt irgendwie aus Ballroom, teilweise direkt aus der Schule. [Sebastian Bark (She She Pop): Film! ] … Ja, Film, genau; Béla vom Tanz. Also, ziemlich unterschiedlich. [Jan Nwattu, (Gastperformer), nickt] Und, […] dass ihr auch diesbezüglich erstmal zusammenfinden musstet […] - Aber weil du vorhin gesagt hast, Hiyam, quasi bei null anzufangen zusammen - das stimmt ja nicht ganz. Das ist ja auch genau der Punkt, wo wir, glaube ich, dazulernen mussten… Wir haben gesagt: Wir müssen die jetzt erstmal ins Boot holen. Wir haben uns dieses Konzept oder Konstrukt überlegt und jetzt… steigt ihr ein. Also ihr steigt ja schon auf ’nen Wagen auf, der schon halbwegs zusammengespannt wurde. [Jan Nwattu (Gastperformer), nickt] Und ich glaube, genau deswegen war es auch auf eine Weise wichtig, dass wir zusammen dann nochmal umgesattelt haben. [Jan Nwattu und Hiyam Biari, (Gastperformer*innen), nicken] Und dass wir uns zusammen neu über dieses ‚Gefährt‘ mit dem wir da jetzt langfahren, verständigt haben, wie das jetzt aussehen soll. Genau nämlich aus dem Grund, dass wir gesagt hatten: Ja, das ist ja alles […] [Berit Stumpf macht eine wegwerfende Geste] Das ist ja alles schon gebacken, dieser Kuchen… [Hiyam Biari: Ja! ] […] Das war eben echt ein Denkfehler von uns. Dass wir dachten: Ihr könnte da jetzt einfach mal so easy aufsteigen und [lacht ironisch] und ‚euer‘ Ding draus machen.“ Sebastian Bark (She She Pop): „Ganz schematisch, so eine Trennung von Form und Inhalt, einfach so. [schüttelt ungläubig mit dem Kopf] Merkwürdig, dass man das dachte, dass das ’ne gute Trennung ist. [Sebastian Bark und Hiyam Biari lachen]“ Einen ähnlichen, die Differenzen zwischen den Kommunikationspartner*innen überbrückenden Effekt - wenn auch weniger friedlich - zeitigte offenbar die Äußerung der ‚ignoranten Teilnehmerin‘ im Publikumsgespräch, führte diese doch dazu, dass die allermeisten übrigen Situationsteilnehmer*innen sich darauf Wettstreit der Generationen? 245 <?page no="246"?> 13 Im Gespräch fragte ich direkt, ob für die Künstler*innen vorstellbar wäre, dass die sich ignorant äußernde Publikumsteilnehmerin sich überfordert gefühlt habe, ob sie möglicherweise einen spezifischen Bildungsrückstand repräsentierte. Diese Interpre‐ tation wurde recht klar zurückgewiesen, mit dem Hinweis, die Person habe sich ja sehr offensiv geäußert und klar den Eindruck erweckt, sich im Recht und in einer legitimen Sprecher*innenposition zu fühlen - eine Verunsicherung und damit ein Gefühl des sozialen Ausschlusses war an dieser Stelle für die Beteiligten also nicht wahrnehmbar geworden. 14 Den Begriff der „Mitspielkompetenz“ nutzt Soziologe und Kommunikationswissen‐ schaftler Jo Reichertz, um die Fähigkeit zu umschreiben, soziale Situationen adäquat einzuschätzen und sich der Einschätzung entsprechend einzubringen; vgl. Jo Reichertz: „Hermeneutische Auslegung von Feldprotokollen? “, in: Reiner Aster, Hans Merkens, Michael Repp (Hg.), Teilnehmende Beobachtung, Frankfurt a.-M. 1989, S.-92. verständigten, auf welche Art und Weise sie gerne miteinander debattieren wollten. Auch hierauf wurden in situ ‚Spielregeln‘ der Begegnung geklärt und justiert und auf diese Weise deutlich, dass die Unterschiede zwischen den Generationen eben nicht zwingend sehr viel mehr beinhalten, als das unterschiedliche Lebensalter. Jan Nwattu (Gastperformer): „Ich wollte noch was sagen, … weil Hiyam vorhin meinte, durch die Begegnung wurden die Unterschiede klar. […] Aber … es sind ja nicht nur die Unterschiede, die klar werden, [Hiyam Biary, (Gastperformerin), stimmt zu], sondern vielleicht auch Gemeinsamkeiten. […] Das ist wertvoll für mich als ‚jungen Menschen‘ [macht Anführungszeichen mit den Fingern], ältere Menschen mit ähnlichen Sorgen und Problemen zu sehen. Ja, ich glaube das ist mir gerade wichtig zu sagen, weil das Stück geht nicht nur um die Unterschiede, sondern auch um Überschneidungen … vielleicht auch um Potenzial, das man nicht ausschöpft, [Hiyam Biary (Gastperformerin) und Sebastian Bark, She She Pop, stimmen zu] weil man sich in diese zwei Gruppen einteilt. […] Eigentlich haben wir auf der Bühne viele ähnliche Sorgen und Ängste geäußert. Nicht genau die gleichen Punkte, aber … unterm Strich könnte man sagen: Alle haben irgendwie Angst. Alle haben irgendwie Sorgen. [Hiyam Biary und Jan Nwattu (Gastperformer*innen) lachen] Und man weiß nicht so richtig, wie man mit den anderen umgehen soll, aber man will die schon verstehen.“ Dabei lässt sich bezüglich der genannten Person (‚ignorante Publikumsteil‐ nehmerin‘) noch anmerken, dass zwar situativ wie auch im nachfolgenden Künstler*innengespräch deren grenzüberschreitendes Verhalten zum einen auf ihre individuelle bzw. persönliche Haltung und zum anderen auf einen überheblichen, Macht reklamierenden Habitus zugerechnet wurde - eine Zu‐ rechnung, die den am Gespräch beteiligten Künstler*innen auch der Betonung wert schien. 13 Es wäre allerdings durchaus möglich, auch diesen missglückten Beitrag zur Konversation mangelnder „Mitspielkompetenz“ 14 zuzurechnen - 246 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="247"?> geäußert von einer Situationsteilnehmerin, die sich möglicherweise von zeit‐ genössischen Anti-Rassismus-Debatten ebenso überfordert fühlte, wie von ambiguitätstoleranten postdramatischen Spielformen. Entsprechend hatte sich an dieser Stelle unter Umständen eine weitere Humandifferenz gezeigt (im Sinne einer Unterscheidung unterschiedlicher politischer/ kultureller Bildung), die durch kollektive Entwertung zur Nivellierung der situativ bearbeiteten Generationendifferenz führte. 4. Fazit Es lässt sich an dieser Stelle also zusammenfassen, dass ‚in der und um die‘ von mir besuchte Aufführung von Dance Me! tatsächlich generationelle Differenzen zur Verhandlung kamen, dass diese zum Teil verstärkt, zum Teil auch nivelliert wurden - wobei die Verhandlung die sich während der Aufführung auf der Bühne beobachten ließ, vermutlich den kleinsten Teil dieses Prozesses aus‐ machte - eher dokumentierten die Einsätze im ‚Battle‘ schon ‚durchgekämpfte‘ Konflikte aus dem Probenbzw. Vorbereitungsprozess der Gruppe She She Pop und der Gastperformer*innen, darüber hinaus wurde der spielerisch und in der Schwebe gehaltene Schaukampf zum Aufhänger eines ebenso konflikthaften wie letztlich doch versöhnlichen endenden Publikumsgesprächs. In konversationsanalytisch inspirierter, dichter Beschreibung konnte hierbei nachvollzogen werden, dass im Rahmen der Vorbereitungsbzw. Probenarbeit zu Dance Me! sich ein von den Macher*innen zunächst nicht antizipierter, generationeller Konflikt ereignete, der in unterschiedlichen Erfahrungen mit (post-dramatischem) Theater und verschiedenen Erwartungen an das gemeinsam erarbeitete performative Format wurzelte. So beschreiben die (‚jungen‘) Gastperformer*innen das Empfinden, zunächst nicht zu wissen, welche Darstellungsweise in der geplanten Produktion erwartet würde; sie betonten gewissermaßen eine zunächst empfundene mangelnde „Mitspielkom‐ petenz“ (vgl. oben), sowie den Eindruck, das zunächst durch die ‚Alten‘ geplante ‚Spiel‘ so nicht mitspielen zu wollen. Dies wiederum führte zu einer Aushand‐ lung und gemeinsamen Anpassung der Spielregeln für den Tanzwettbewerb, der letztlich als Dance Me! zur Aufführung gelangte, wobei zunächst v. a. von ‚den Alten‘ nicht wahrgenommene Machtgefälle überbrückt wurden. Die Rede von mangelnder Mitspielkompetenz kann meines Erachtens auch treffend beschreiben, wie es zur konflikthaften Klimax im Publikumsgespräch kam, die letztlich auch dort zu einer Aushandlung eines für die meisten Anwe‐ senden tragbaren situativen Rahmens führte (und somit zuvor ‚hochgespielte‘ Differenzen überbrückte): Zeigte sich die Publikumsteilnehmerin, die sich igno‐ Wettstreit der Generationen? 247 <?page no="248"?> rant und rassistisch äußerte, doch ganz offensichtlich nicht dazu in der Lage, das gemeinsam aufrechterhaltene Gespräch mitzuperformen - ihr Vorstoß wurde schnell und mit übergreifendem Einvernehmen als situatives ‚Foul‘ begriffen und zeitigte damit einen kollektivierenden, Differenzen nivellierenden Effekt: Der spielerische Tanz der Generationen konnte auf diese Weise zu guter Letzt zu einem gemeinsamen Takt, zu kollektiv nutzbaren situativen Regeln finden. 248 Stefanie Husel (Mainz) <?page no="249"?> 1 Das Erfahrungsangebot von The Agency ist einem „engen“ Verständnis des Konzepts des immersiven Theaters zuzuordnen. Laut der Theaterwissenschaftlerin Theresa Schütz ist dieses Verständnis gegeben, wenn die Zuschauer*innen als Akteur*innen in eine fiktive Lebenswelt eintauchen, der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit gewusst, aber nicht mehr gesehen wird, eine Distanzierung vom Theatergeschehen verunmög‐ licht wird und die Zuschauer*innen zu Mitgestalter*innen des Geschehens werden. Das Einflussnehmen der Zuschauer*innen als Konsument*innen ermöglichend, repro‐ duziert The Agency auch die janusköpfige Debatte zum immersiven Theater: Der Begriff der Immersion bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Suggestion von individueller Freiheit und Handlungsmacht bei gleichzeitiger Verschleierung von intransparenten Steuerungsmechanismen einer nur scheinbar unbegrenzten Welt. Im Kontext dieses Aufsatzes wird die Bezeichnung ‚Immersives Theater‘ als Verspre‐ chen der Theaterpraktiker*innen von einer multisensorischen (Theater-)Erfahrung verwendet, welches der Rezeptionserfahrung vorangestellt wird. Vgl. Theresa Schütz, Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater, Berlin 2022, S. 66-67 und Laura Mücke, „Politik(en) der Immersion. Machtdiskurse über immersierte Nutzer_innen und Film als Kontingenz in potentialis“, ffk Journal 6 (2021), S. 98-107, hier S.-105. Performing Care Zur Schnittstelle von Theater und Dienstleistung bei The Agency Yana Prinsloo (Mainz) Die Theatergruppe The Agency verhandelt in ihren immersiven 1 Theater‐ arbeiten die Grenzen zwischen in-/ akzeptablen Dienstleistungen, indem sie im Bereich der Care-Arbeit die Grenzen des Käuflichen auslotet, explizit männliche Care-Taker die jeweilige Dienstleistung ausführen lässt oder asymmetrische Machtverhältnisse durch die Umkehrung von nor‐ mierten Humandifferenzierungen sichtbar macht. Die Zuschauer*innen werden dabei als Kund*innen angesprochen und gleichzeitig mit ihren eigenen subversiven Handlungsmöglichkeiten konfrontiert. Alleinstel‐ lungsmerkmal der Performances von The Agency ist die Irritation durch <?page no="250"?> 2 Das theoretische Konzept der Humandifferenzierung geht auf den Soziologen Stefan Hirschauer und den gleichnamigen Sonderforschungsbereich 1482 der Johannes Gu‐ tenberg-Universität Mainz zurück. Das Konzept der Humandifferenzierung stellt keine Differenz ins Zentrum, sondern konzentriert sich auf die Beforschung von Prozessen der Differenzierung in the making. Durch Praktiken der Selbst- und Fremdkategori‐ sierung entstehen Selektionsprozesse und Effekte der Differenzierung, die soziale Zugehörigkeiten von Subjekten hervorbringen, festhalten, differenzieren oder über‐ winden. Zentral sind daher nicht nur die Kategorisierungen von Subjekten anhand der „totalinklusiven gesellschaftlichen Raumteiler“ Gender, Ethnizität, Klasse usw., sondern auch subtilere Unterscheidungsprozesse, die in der zu erforschenden Situation auftreten, miteinander konkurrieren oder sich gegenseitig nivellieren. Vgl. Stefan Hirschauer und Tobias Boll, „Un/ doing Differences. Zur Theorie und Empirie eines Forschungsprogramms“, in: ders (Hg.), Un/ doing Differences: Praktiken der Humandif‐ ferenzierung, Weilerswist 2017, S.-7-26. Kontextverschiebung. Ich möchte am Beispiel ihrer Arbeiten zwei Fragen mit Blick auf Humandifferenzierungen 2 diskutieren: 1. Wie gelingt es The Agency, die Grenzen zwischen Theater und Dienstleistung durch die Vermarktung familiärer Beziehungen im Kontext von Gender, Klasse und Ethnizität infrage zustellen? 2. Wie zeigt die Gruppe, dass die Akzeptanz von Dienstleistungen keine universelle Norm ist, sondern von individu‐ ellen Unterschieden abhängt und verhandelt wird? Die immersive Theaterarbeit Quality Time (2018) folgt einem einfachen Bestell‐ prinzip: Interessierte können zum Preis eines Theatertickets ein Treffen mit einem ‚Boy in Care‘ erwerben. Angeboten wird die Zweisamkeit mit dem ‚Boyfriend‘, der Verzehr eines gemeinsamen Milchshakes mit dem ‚Vater‘ oder ein gemeinsames Spieletreffen mit dem ‚Sohn‘. Auch die Arbeit HomeAway+ (2018) offeriert den Erwerb von Intimität: Das Angebot richtet sich an den zeitgenössi‐ schen Jet-Set-Menschen, der keine unbelebte Wohnung (mehr) vorfinden müsse, sondern stattdessen das Gefühl von menschlicher Belebtheit und Anwesenheit im Eigenheim erfahren könne. Hierfür suche ein männlicher Care-Taker die betroffene Wohnung im Vorfeld auf und hinterlasse professionell Spuren des menschlichen Gebrauchs: Körperabdrücke im Bett der Auftraggeber*innen, Wasserflecken in der Duschkabine oder benutzte Teebeutel in der Spüle. Das Alleinstellungsmerkmal der Arbeiten von The Agency ist die Irritation durch Kontextverschiebung: Die Leistungsangebote in Quality Time und Home‐ Away+ irritieren, da familiäre Beziehungen als eine käufliche Ware angeboten werden. Die eingearbeiteten Spuren von Intimität können das tatsächliche Zusammenleben von Menschen oder ihre intime Vertrautheit zwar imitieren, aber nicht ersetzen. Dass explizit männliche Sorgetragende die potentiellen 250 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="251"?> 3 Care-Arbeit wird im Rahmen dieses Beitrags im weitesten Sinne als Für- und Selbstsorge verstanden. Die Definition von Care-Arbeit weist dementsprechend über familiäre und medizinische Kontexte hinaus, da der Begriff auch Formen der kollektiven Fürsorge (auf, vor und hinter der Bühne) zu inkludieren sucht. Die englische Wortbedeutung fasst diese Vielschichtigkeit genauer. Vgl. Francis Seeck, Care trans_formieren. Eine ethnographische Studie zu trans und nicht-binärer Sorgearbeit, Bielefeld 2021, S. 18 sowie Claudia Gather, Regine Othmer, Eva Senghaas-Knobloch, „Einleitung“, feministische studien 31 (2013), S.-203-207, hier S.-203. 4 Die Arbeit AshramMommies habe ich als Videomitschnitt gesichtet, welchen mir die Gruppe selbst zur Verfügung gestellt hat. 5 Den Begriff des Hintergrundwissens definiert Andreas Reckwitz in seiner Monografie Unscharfe Grenzen (2008) als „Komplementärkonzept zu dem der Interpretation. Wenn Interpretationen situative und notwendig von einem Individuum vollzogene Akte der Aufträge durchführen, sorgt für zusätzliche Irritationen und verweist darauf, dass Care-Arbeit 3 tendenziell weiblich konnotiert ist. Die immersiven Arbeiten von The Agency verschaffen den ambivalenten Parallelen zwischen Theater und Dienstleistungssektor eine neue Sichtbarkeit, indem sie die Grenzen zwischen akzeptablen und inakzeptablen Dienstleis‐ tungen verhandeln. Zwei Aspekte möchte ich mit Fokus auf ihre Arbeiten und ihre Arbeitsweise als Theatergruppe diskutieren: Zum einen die Intention, die Grenzen moderner Dienstleistungsverhältnisse auf deren Kategorisierung nach Gender (Klasse und Ethnizität) im Theaterkontext zu hinterfragen, um derart die Parallelen von Theaterarbeit und Dienstleistung sichtbar zu machen (1.) und zum anderen den Evidenzbeweis, dass eine akzeptierte bzw. nicht akzeptierte Dienstleistung keine übergeordnete oder überzeitliche Norm darstellt, sondern eine von Humandifferenzierungen durchdrungene Verhandlungssache ist (2.). Beide Aspekte sollen mit Fokus auf ihre Arbeit AshramMommies (2019) disku‐ tierten werden. Zwischen Immersion und Kritik - AshramMommies AshramMommies wurde im Coworking-Space WeWork in Bangalore uraufge‐ führt: Zwei Frauen mit Klemmbrett empfangen die Zuschauer*innen vor dem Office-Space. 4 Sie lotsen die Besucher*innen unter sphärischen Klängen in einen großen Raum mit Sitzgelegenheiten und Barbetrieb, von dem aus weitere Stock‐ werke, Gänge und Türen des Gebäudes zu sehen sind. Die Eintretenden werden über einen zentral positionierten Flatscreen als potenzielle Investor*innen zu einer kostenlosen Präsentation der Geschäftsidee begrüßt: „Welcome to/ / Ash‐ ramMommies experience motherhood/ / Investors Lounge“. Dass es sich um einen Theaterkontext handelt, ist nicht ersichtlich, sondern wird als Hinter‐ grundwissen 5 der immersiven Theatererfahrung vorausgesetzt. Empfangen Performing Care 251 <?page no="252"?> Sinnzuschreibung darstellen, dann liefert das Hintergrundwissen im Sinne eines Sys‐ tems von Unterscheidungen jene übersubjektiven Sinnmuster, aus denen der einzelne Akteur in seinen Sinnzuschreibungen schöpft.“ Im Kontext der Theatererfahrung ist darunter das Wissen der Zuschauer*innen über die Fiktionalität der immersiven The‐ atererfahrung innerhalb des realen Geschehens des Coworking-Spaces zu verstehen. Nur im Bewusstsein über den theatralen Als-ob-Modus greift die Möglichkeit zur Kontextualisierung der Theatererfahrung und der kritischen Distanzierung von ihren Inhalten. Vgl. Andreas Reckwitz, Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S.-72. werden die Besucher*innen per Handschlag von einer Performerin in einem grün-gelben Sari. Eine zweite Performerin im langen weißen Arztkittel begrüßt die Zuschauer*innen mit dem indischen Namaste. Einige Teilnehmer*innen bedienen sich am bereitgestellten Mango-Lassi. Neben den Sitzgelegenheiten stehen Obstkörbe auf Beistelltischen. Die Performerin im Sari stellt sich als die Gründerin des Unternehmens vor, begrüßt die Anwesenden in der geschäftigen Geräuschkulisse, die durch die Betriebsamkeit von weiteren WeWork-Startups erzeugt wird. Sie beginnt ihren Werbeauftritt zur Erfolgsgeschichte von Ash‐ ramMommies mit einer rhetorischen und vermeintlich unterkomplexen Frage: „What is family? “ Ein Screen im Hintergrund zeigt ein Foto von drei Personen - eine weiße, schwangere Frau, die zwischen einem Mann und einer Frau steht, die deren Babybauch berühren. „Family is everything“, kommentiert Gründerin Nair. Sie berichtet von zwei Schlüsselereignissen, die sie zur Unter‐ nehmensgründung veranlasst hätten. Sie selbst habe einschlägige Erfahrungen bei der Familiengründung durch künstliche Befruchtung, eines „making a family“, gemacht: Während ihres Medizinstudiums in Berkeley, Kalifornien sei ihr der Aufruf für eine Eizellenspende in die Hände gefallen, dem sie wenige Wochen später gefolgt sei. Sie habe ein Auswahlverfahren durchlaufen müssen. Ein homosexuelles Paar habe sie wegen ihres indischen Aussehens als Eizellenspenderin ausgewählt. Sie habe gemeinsam mit ihnen die Suche nach der späteren Leihmutter Anna begleiten können. Die Geburt des Kindes beschreibt sie als affizierende Gruppenerfahrung zwischen ihr als der gene‐ tischen Mutter, Anna als der Leihmutter, den zukünftigen Eltern und dem medizinischen Personal. „At some point we all cried. And in the end it felt like, family is family. And family is everything. Wouldn’t you agree? “ Nach Abschluss ihres Studiums sei sie nach Indien zurückgekehrt und arbeite seitdem als Gynäkologin unter anderem im Bereich der Leihmutterschaft. Sie habe herausgefunden, dass Leihmütter selten freiwillig ihren Körper zur Verfügung stellen, sondern oft dazu gezwungen werden, beziehungsweise aufgrund ihrer prekären Lebenssituation keine andere Wahl hätten. Deshalb habe sie den Plan entwickelt, Leihmütter zu finden, die eine konsequenzlose Schwangerschaft 252 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="253"?> 6 Im Rahmen dieses Beitrags werden die Begriffe globaler Norden und globaler Süden verwendet, um tradierte Rassismen von abwertenden Zuschreibungen nicht zu (re-)pro‐ duzieren. Vgl. Natasha A. Kelly, Schwarzer Feminismus, Münster 2019, S.-1. 7 Derzeit - also nach der Entstehung der Performance - ist die rechtliche Lage in Indien unklar. Leihmutterschaft soll für ausländische Abnehmer*innen verboten und für die indische Bevölkerung unentgeltlich gemacht werden. Diese Neureglung wird völlig neue (Abhängigkeits-)Verhältnisse herstellen. Vgl. Deutsche Vertretung in Indien: „Leihmutterschaft in Indien.“ https: / / india.diplo.de/ in-de/ service/ leihmutterschaft/ 181 0960 [Zugriff am 17.01.2024]. 8 Vgl. Amrita Pande, Wombs in Labor. Transnational Commercial Surrogacy in India, New York 2014. 9 Vgl. Matthias Warstat, Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft, Paderborn 2018, S.-27. erleben wollen. An dieser Stelle übernimmt die Performerin im weißen Arzt‐ kittel die Erläuterungen zur medizinischen Seite des Projekts: Außerhalb von Bangalore sei das AshramMommies-Village gegründet worden, das deutschen medizinischen Standards verpflichtet sei und in dem auch die schwangere Anna betreut werde, deren Babyshower nun gemeinsam mit den Interessent*innen ge‐ feiert werden solle. Während Anna unter sphärischen Klängen auftritt, werden Armreifen verteilt, die der werdenden Mutter nach indischer Sitte als Glücks‐ bringer angelegt werden sollen. „Don’t hesitate“, flüstert Anna ermunternd, während die Investor*innen ihr die unflexiblen Ringe über das Handgelenk zu streifen versuchen. Danach wird zur gemeinsamen Leihmutter-Meditation als einem weiteren glückbringenden Ritual eingeladen. Abschließend werden die Teilnehmer*innen dazu animiert, ihre guten Wünsche für die zukünftigen Erfolge des Unternehmens an einer durch den Raum gespannten Schnur zu hinterlassen und gemeinsam auf das Startup anzustoßen. Ununterbrochen werden mit extragroßen Spiegelreflexkameras Fotos geschossen, die das Treffen der Investor*innen dokumentieren sollen. Die Performance rief bei mir als im globalen Norden sozialisierte, 6 weiße Cis-Frau und junge Mutter ein Unwohlsein hervor. Können Leihmutterschaft und spiritueller Tourismus in dieser Form kritisch thematisiert werden? Warum erschien mir das Konzept der Leihmutterschaft als freiwillige Selbsterfahrung bizarr, obwohl ich weiß, dass in Indien Leihmutterschaft und Leihmutterkli‐ niken seit dem Jahr 2002 gesetzlich erlaubt sind und dass die Dekadenz des globalen Nordens kaum Grenzen kennt? 7 AshramMommies thematisiert die ethisch-moralischen Grenzen spezifischer Serviceleistungen und deckt auf, dass deren Akzeptanz von Humandifferenzierungen mitbestimmt wird: Während die Leihmutterschaft in Indien den Lebensstandard einer Familie sichern kann, wird sie in Deutschland als ethisch unzumutbares Trauma für schwangere Frauen* gewertet. 8 Im Als-ob-Modus 9 werden diese Asymmetrien Performing Care 253 <?page no="254"?> 10 Encarnación Gutiérrez-Rodríguez, „The Precarity of Feminisation: On Domestic Work, Heteronormativity and the Coloniality of Labour“, International Journal of Politics, Culture, and Society, 27 (2014), S.-191-202, hier S.-191. adressiert und zum Selbsterfahrungstrip erweitert. Es stellt sich die Frage, warum Schwangerschaft nicht losgelöst von einem Kinderwunsch gedacht werden kann und ob die Möglichkeit der Leihmutterschaft, statt als Ausbeutung und als Objektivierung menschlicher Körperfunktionen - entgegen meiner Intuition - als emanzipatorische Dienstleistung verstanden werden könnte. In AshramMommies erfahre ich durch das Verkaufsangebot einer Schwangerschaft ohne ein anschließendes Muttersein eine Loslösung von der unhinterfragten Natürlichkeit des Reproduktionsprozesses und des Kinderwunsches. Im Fall der Gebärenden wird eine Loslösung der Gebärleistung von der von mir erwarteten Freude über das Neugeborene provoziert, die Geburtserfahrung stattdessen mit einem Yoga-Retreat gleichgesetzt. Derart verstanden, verspricht das Angebot eine konsequenzlose, körpergebundene Grenz- und Ausnahmeerfahrung. Die in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz gesetzlich verankerte Norm des Gebrauchs der weiblichen* Fortpflanzungstechniken zur Reproduktion und die darin implementierte Annahme einer prädiskursiven, natürlichen Bindung zwischen Neugeborenen und Mutter wird durch das Angebot der konsequenz‐ losen Dienstleistung in ihren performativen Gesetzmäßigkeiten als kulturelle Praktik vorgeführt. Deutlich wird auch, dass die Vergeschlechtlichung von Dienstleistungen nicht nur vom Geschlecht, sondern auch von Alter, Klasse, Ethnizität, Milieu, sexueller Orientierung usw. abhängt. Die Soziologin Encarnación Gutiérrez-Rodríguez beschäftigt sich in ihrem Aufsatz „The Precarity of Feminisation: On Domestic Work, Heteronormativity and the Coloniality of Labour“ (2014) mit der fortschreitenden Privatisierung von Care-Arbeit im privaten Haushalt und mit eben den sich daraus ergebenden Paradoxien im Hinblick auf Gender und Ethnizität. Gutiérrez-Rodríguez kriti‐ siert die latente Unsichtbarkeit des weiblich besetzten, häuslichen Arbeitsfelds. Sie verortet die negative Bewertung von derartigen Tätigkeiten in der Femini‐ sierung dieses Arbeitssektors: „The devaluation of domestic and care work is the result of its social perception as ‚feminised‘ labour.“ 10 Frauenarbeit werde als unproduktive Arbeit be- und entwertet, welche voraussetzungslos ohne Ausbildung verrichtet werden könne. Der tatsächliche Wert von Care-Arbeit würde konsequent ignoriert. Die Abwertung der Care-Arbeit als eine mit Ethnizität verknüpfte, feminisierte Tätigkeit habe sich durch die Globalisie‐ rung des Arbeitsmarktes in den reicheren Ländern der EU verstärkt und zu weiterer Deregulierung und Prekarisierung geführt: „Precarity is not only characterised by feminisation and heteronormativity, but also by the coloniality 254 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="255"?> 11 Ebd., S.-198. 12 Ebd. of power.“ 11 Gutiérrez-Rodríguez argumentiert, dass sich hier ein aktuelles koloniales Denken zeige: As Enrique Dussel (1995) reminds us, through the racial categorization of the popu‐ lation in colonial times, Black and indigenous persons were set as inferior to the White European colonizers, reducing them to „thingness“. This enabled the exploitation of their labor force without any costs being expended on their reproduction. While contemporary European migration policies do not explicitly operate within a colonial racial matrix, they resonate with a pattern of thinking from colonial times. The analysis of coloniality refers to the endurance of this pattern of thinking in the shaping of contemporary societies. 12 Feminisierung und koloniales Denken drücke sich in der Inanspruchnahme von intimen Dienstleistungen aus, was den unangenehmen Beigeschmack im Anschluss an die AshramMommies-Performance erklärt: Dadurch, dass Frauen des globalen Nordens die Leihmütter für indische Familien werden sollen, wird die asymmetrische Norm, nämlich dass in der Regel indische Frauen die Leih‐ mütter für diese Familien sind, als koloniales Denken in seiner Unmarkiertheit thematisiert. Die Auseinandersetzung von The Agency mit dem Konzept der Leihmutter‐ schaft offenbart letztlich auch den willkürlichen Umgang mit den menschlichen Reproduktionsorganen und bezeugt die Relevanz der Körperlichkeit von de‐ rartigen Dienstleistungen: Während beispielweise die Samenspende als ein freiwilliges Angebot des Spenders behauptet wird und deshalb in der deutschen Gesetzgebung als Spende ohne ein zu erwartendes psychologisches Risiko eingestuft wird, ist die freiwillige Leihmutterschaft bzw. die Eizellenspende gegen Bezahlung in Deutschland aus ethischen Gründen und wegen zu befürch‐ tender negativer psychischer Folgen gesetzlich verboten. Die öffentliche Deu‐ tungshoheit hinsichtlich der gekauften Schwangerschaft festigt das dominante Konzept der Grenzen der käuflichen Reproduktionsorgane sowie gleichzeitig die in-/ akzeptablen Abweichungen von heteronormativen Paarbeziehung und Familienplanung. Die Zeitschrift Feministische Studien befasst sich in der Ausgabe „Reprodukti‐ onstechnologien. Generativität, Verwandtschaft“ (2019) mit dieser ambivalenten Debatte und deren Normen. Gesetzliche Bestimmungen würden nicht vor dem weiblichen Körper halt machen. Die öffentlichen Debatten zu Sexarbeit, zu Abtreibung und zu Leihmutterschaft machten den weiblichen Körper zu einem Performing Care 255 <?page no="256"?> 13 Vgl. Ulrike Kadi, Katharina Leithner-Dziubas, „Das Monster einer zweibeinigen Gebär‐ mutter. Leihmutterschaft als Ortswechsel“, in: feministische studien 37 (2019), S.-13-28, hier S.-15. 14 Ebd. 15 Michi Knecht, Katharina Liebsch, „Beziehungen sichtbar machen - Debatten erweitern. Reproduktionstechnologien denken mit Marilyn Strathern“, in: feministische studien 37 (2019), S.-101-118, hier S.-103. 16 Eviatar Zerubavel, Taken for Granted. The Remarkable Power of the Unremarkable, Princeton 2018, S.-32. Ort politischer Debatten. 13 Für die Autor*innen liegt das Grundproblem von Gesetzgebung und gesellschaftlicher Norm in der unkritischen Reproduktion eines normativ geprägten „doing family“. Gesellschaft konstituiere sich nicht außerhalb der Familie, sondern mitten durch sie hindurch, so die Autor*innen. 14 Gleichzeitig werfe die Auseinandersetzung mit den Technologien der assis‐ tierten Reproduktion grundsätzliche Fragen nach den kulturellen Verhältnissen gegenüber stark besetzten Praktiken und Konzepten wie „Sex haben“, „Gene weitergeben“, „Gebären“ auf: „Vorstellungen, die lange Zeit fraglos als kulturell fest verankerte Grundlagen von Beziehungen zwischen Paaren, Geschwistern, Eltern und Kindern dienten, werden nun als hergestellte und veränderbare Ideen und Praktiken explizit und zum Gegenstand gesellschaftlicher Debatten.“ 15 In der Fiktion von AshramMommies wird die lebensweltliche Realität von Leihmutterschaft zum ausschlaggebenden Faktum: Weiße Frauen* stehen als Leihmütter für Inder*innen nicht zur Verfügung. Diese Realität wird auf recht‐ licher Ebene (Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten) und auf kultureller Ebene (Verinnerlichung kolonialen Denkens) perpetuiert. Der Soziologe Evi‐ atar Zerubavel definiert diese problematische und machtvolle Dominanz der Norm als „taken for granted“. 16 Die unmarkierte Selbstverständlichkeit, dass die Dienstleistung der Leihmutterschaft von privilegierten weißen Personen in Anspruch genommen wird, dass also nicht-weiße Frauen diejenigen sind, die in der Regel Leihmutterschaft anbieten, wird im immersiven Rahmen als dominante Norm - als machtvolle eurozentristische Selbstverständlichkeit - sichtbar und artikulierbar. Die Performance verdeutlicht die Widersprüche zwischen den Praktiken der Naturalisierung einer Schwangerschaft und der Körpergebundenheit einer Leihmutterschaft, die ethisch moralischen Bedenken sowie die Ausbeutung von Arbeitskraftressourcen im kapitalistischen bzw. im antikapitalistischen Setting der Care-Arbeit. Die Umdeutung des Kinderkriegens zum einzigartigen Selbsterfahrungserlebnis wird von dem als natürlich behaupteten Wunsch des Mutterwerdens entkoppelt. In diesem Sinne führt diese Verkehrung auch 256 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="257"?> 17 Stefan Hirschauer u.-a., Soziologie der Schwangerschaft, Stuttgart 2014, S.-1. 18 Ebd., S.-6 19 Aenne Quiñones, zitiert nach Florian Malzacher/ Aenne Quiñones/ Kathrin Tiedemann (Hg.), Postdramatisches Theater in Portraits. Einführungsbroschüre zur Buchreihe, Berlin 2019, S.-25. zu einer Verkehrung der „Fortpflanzungsgemeinschaft“ 17 und stilisiert das Kinderkriegen zum „Projekt“. 18 AshramMommies wirft die Diskussion darüber auf, warum die Akzeptanz einer Dienstleistung nicht ausschließlich anhand von den zu ihrer Ausführung verwendeten Praktiken beurteilt werden kann, da sie genauso am ausführenden Körper bemessen und valorisiert wird. Als ‚tools of capitalism‘ werden Fragen zum Verhältnis der Grenzen zwischen einer Naturalisierung von Schwangerschaft und den kulturellen Prädispositionen irritiert. AshramMommies erprobt die kritische Auseinandersetzung mit human‐ differenzierenden Grenzen von Dienstleistungen und den ihnen inhärenten Normierungsverfahren nach Gender, Ethnizität und Klasse. Durch die Offenle‐ gung dieser Korrelationen in der Theaterarbeit erfahren diese - sonst ‚unter dem Radar‘ der Aufmerksamkeit - fortlaufenden (Unterscheidungs-)Prozesse Sichtbarkeit und erzeugen Irritationen. Die verfestigten und machtpolitisch relevanten Kategorisierungen von Menschen, verstanden als Differenzierungs‐ prozesse im Sinne eines Un/ doing Gender und eines Un/ doing Whiteness, werden als historisch kontingent, überwindbar und revidierbar gekennzeichnet. (K)Eine Dienstleistung - eine (fragwürdige) Differenzierung In einem Interview zum Thema Postdramatisches Theater und dem Status von postdramatischen Künstler*innen und Theatergruppen trifft die stellvertretende künstlerische Leiterin des metropolitanen Berliner Off-Theaters HAU Hebbel am Ufer, Aenne Quiñones, folgende Aussage: „[…] es ist ja wohl auch das Mindeste, als Künstler*innen und nicht als Dienstleister*innen gesehen zu werden! “ 19 Die in Quiñones’ Aussage implizierten Wertekategorien sind Aus‐ druck von gegenwärtig verwendeten Bewertungsmaßstäben für Arbeit. Warum verweigert die HAU-Kuratorin die Gleichstellung des Status von Theaterprak‐ tiker*innen und Dienstleister*innen? Warum betrachtet sie die Kategorisierung der Theaterpraktiker*innen als Künstler*innen als soziale Aufwertung? Trotz der Expansion dieses Berufstandes sind im medialen und im wissenschaftlichen Diskurs deutliche Tendenzen der Abwertung in Bezug auf die Berufe des Dienstleistungssektors zu konstatieren. Performing Care 257 <?page no="258"?> 20 Claudia Munz u. a., „Einleitung”, in: ders (Hg.), Die Kunst der guten Dienstleistung: Wie man professionelles Dienstleistungshandeln lernen kann, München 2012, S. 9-16, hier S.-10. 21 Vgl. ebd., S.-11. 22 Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main 1975, S.-129f. Die Herausgeber*innen des Sammelbands Die Kunst der guten Dienstleistung (2012) Claudia Munz, Jost Wagner und Elisa Hartmann führen diese Entwick‐ lung auf folgende Gründe zurück: Zum einen spielt dabei eine Rolle, dass viele Dienstleistungstätigkeiten traditionell von Frauen erbracht werden; dies führte zumindest in der Vergangenheit regelmäßig zu einer Abwertung entsprechender Berufe - das bekannteste Beispiel dafür ist die historische Entwicklung des Lehrerberufs, der umso mehr an Ansehen verlor, je mehr er von Frauen ausgeübt wurde. Allerdings gibt es Ausnahmen: „Obere“ Dienstleis‐ tungsberufe wie Anwalt, Architekt oder Wirtschaftsprüfer werden gesellschaftlich hoch bewertet - bezeichnenderweise nennen sich diese „Freie Berufe“ und nicht „Dienstleister“. 20 Ein weiterer wesentlicher Grund für die verbreitete Geringschätzung typischer Dienstleistungen ist der, dass sie häufig als alltagsnah erscheinen und sugge‐ rieren, dass jede*r - zumindest nach kurzer Einweisung - putzen, pflegen oder Haare waschen könne. 21 Der wichtigste Grund für die nachgeordnete Stellung von Dienstleistungsarbeit besteht jedoch in deren Unsichtbarkeit. Denn wesentliche Teile von Dienstleistungsarbeit bleiben für die Augen von Kund*innen verborgen - wenngleich ihr Fehlen deutlich spürbar wäre. Die Wis‐ senschaftler*innen problematisieren die mehrfach wirkmächtige Dichotomie, die sich in der Abwertung von Dienstleistungen widerspiegelt: und zwar in Bezug auf die unterschiedliche Wertmaßstäbe implizierende Gegenüberstellung von Dauerhaftigkeit versus Flüchtigkeit; auf die alltagsnahe Wiederholbarkeit versus einer Einmaligkeit oder Einzigartigkeit; auf routinierte Alltagsaufgaben versus Innovation; auf Kopfversus Handarbeit. Tatsächlich gilt der tertiäre Dienstleistungssektor als die letzte Phase in der historischen Entwicklung von Beschäftigungsverhältnissen. Der Ökonom Jean Fourastié dokumentiert drei Phasen dieser gesellschaftlichen Entwicklung: Während sich die vorindustrielle Gesellschaft durch die Urproduktion (von Lebensmitteln) auszeichnete und „in erster Linie ein Spiel gegen die Natur dar[stellte]“, die Industriegesellschaft ihre „Basis der Produktivität“ durch das „Spiel gegen die technische Natur“ zu gewährleisten suchte, berufe sich die nachindustrielle Gesellschaft auf das Konzept der Dienstleistung. 22 Der strukturelle Wandel von der Industriegesellschaft zu einer Wissens- und Dienst‐ 258 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="259"?> 23 Vgl. Manfred Füllsack, Arbeit, Wien 2009, S.-82. 24 Hans Pongratz, „Der Dienstleistungscharakter von Arbeit. Eine theoretische Annähe‐ rung“, in: Claudia Munz u. a. (Hg.), Die Kunst der guten Dienstleistung: Wie man professionelles Dienstleistungshandeln lernen kann, München 2012, S.-17-44., hier S.-32. leistungsgesellschaft beinhaltete, so der Soziologe Daniel Bell, zunächst die Hoffnung auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Bildung und - in Folge - einen höheren allgemeinen Lebens- und Bildungsstan‐ dards. Bell proklamierte das sich daran anschließende Zeitalter der Informati‐ onsgesellschaft, welches die Entstehung neuartiger Branchen, Technologien und Dienstleistungen mit sich bringen würde. 23 Inzwischen ist der tertiäre Sektor jedoch derart heterogen strukturiert, dass eine einheitliche, verbindliche Definition, um was genau es sich bei einer Dienstleistung handelt, unmöglich erscheint. Der Begriff der Dienstleistung, so der Soziologe Hans Pongratz, würde erst in der postindustriellen Gesellschaft zur Bezeichnung eines spezifischen Typus von Arbeit verwendet: Diese Art von Dienstleistungen steht in einem eigenartigen Spannungsver‐ hältnis zur industriellen Produktion: Einerseits sind sie durch den Dienstmodus in prononcierter Weise davon abzugrenzen, andererseits können sie sich mas‐ senhaft erst auf Grundlage einer Ökonomie kapitalistischer Güterproduktion etablieren. Die Dienstleistungsforschung ist sich darin einig, dass die Dienstleis‐ tungsökonomie erst zu ihrer vollen Entfaltung gekommen ist, als die industrielle Massenproduktion den Zenit ihrer Entwicklung bereits überschritten hatte. 24 Um eine Arbeitsleistung als Dienstleistung zu definieren, schlägt Pongratz drei Merkmale vor, welche den Strategien einer immersiven Theaterarbeit nicht unähnlich sind: 1. Die Immaterialität: Bei einer Dienstleistung handle es sich nicht um ein materielles Gut. In wesentlichen Teilen habe sie eine immaterielle Qualität, welche nur bedingt objektivierbar und messbar sei. Eine Dienstleistung zeichne sich daher auch durch ihre Resistenz gegenüber ihrer Rationalisie‐ rung aus. Sie entstehe erst im Moment ihrer interaktiven Durchführung. 2. Das Uno-actu-Prinzip: Anders als bei der Güterproduktion seien Produk‐ tion und Konsumption der körpergebundenen Dienstleistung kaum vonei‐ nander zu trennen. Sie seien vielmehr als parallele Prozesse zu beschreiben: „Das Leistungsergebnis wird im Prozess der Erstellung konsumiert und ist folglich weder lagerfähig noch weiter tauschbar oder rückgabefähig.“ 3. Die Kundenbeteiligung: Bei der Hervorbringung einer Leistung nehmen die Kund*innen als (externer) Faktor eine unverzichtbare interaktive Rolle Performing Care 259 <?page no="260"?> 25 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 2014, S.-271. ein. Ihre Integration könne im Herstellungsprozess der Dienstleistung zwischen der bloßen Notwendigkeit ihrer Anwesenheit bis hin zu ihrer aktiven Kooperation variieren. Körpergebundene Dienstleistungen sind also per Definition einmalige, flüchtige und interaktive Erfahrungen, welche gegen Bezahlung angeboten werden. Sie zeichnen sich durch ihre Immaterialität bei gleichzeitiger Kundenbetei‐ ligung aus. Daher oszillieren Dienstleistungen auf dem schmalen Grat zwi‐ schen ihrer Anerkennung als individuelle Leistung und der Objektivierung des Dienstleistenden als Ware. Gleichzeitig re-/ produziere das Zeitalter der Informationsgesellschaft auch Ausschlussmechanismen. Diese Schattenseiten von Bells Arbeitsutopie re-/ produzieren The Agency in aufschlussreicher Weise in ihren immersiven Theaterarbeiten. Trotz der rasanten Technisierung des Alltags bedarf es für Tätigkeiten im Haushalt (immer noch) des menschlichen Zutuns. Diese notwendigen Praktiken lassen sich kaum wegrationalisieren und trotzdem werden sie nicht entsprechend anerkannt. In Home Away+ wird die Vergeschlechtlichung von Arbeit beispielsweise dadurch sichtbar gestellt, dass die als weiblich konnotierten Dienstleistungen von männlichen Sorgetragenden erbracht werden. In der Un-/ Sichtbarkeit von Arbeit manifestiert sich entsprechend die will‐ kürliche Grenzziehung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, welche in der tägli‐ chen Theaterarbeit ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt. Der Geniekult und der Anspruch auf ein Künstler*innendasein, wie ihn Quiñones reproduziert, fordern einen Sonderstatus für Theaterpraktiker*innen ein. Dieser Status re‐ kurriert auf einen historisch gewachsenen Überbau von ideologischen Metadis‐ kursen zum Künstler*innenkult, welcher einen Sonderstatus für die Lebens- und Arbeitsweise dieser Arbeitssubjekte behauptet. Im Sinne Bourdieus wird hier‐ durch ein Produktionsfeld aufrechterhalten, welches bestimmte Arbeitssubjekte am Theater zu künstlerisch Tätigen erhebt und andere als nicht künstlerisch Tätige ausschließt. Bourdieu argumentiert in seiner Publikation Die Regeln der Kunst (1999) gegen diese Subjektivierung und sensibilisiert für die Produktion von Künstler*innen und ihrer Sonderstellung durch das künstlerische Feld: „Der Wert eines Kunstwerks [wird] nicht vom Künstler, sondern vom kompletten künstlerischen Umfeld produziert“. 25 Der Gruppenname The Agency kommentiert dieses enge Wechselverhältnis der Subjektivierung von Künstler*innen im künstlerischen Feld durch die Anonymisierung der Beteiligten: Meine erste Internetrecherche zu The Agency 260 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="261"?> 26 BZP Group, Homepage, https: / / bzp-group.com/ , [Zugriff am 24.01.2024]. 27 Belle Santos im Interview mit Yana Prinsloo, 17.11.2021. führte mich dementsprechend nicht zur Homepage der Theatergruppe, sondern zu einer „full-service, luxury real estate brokerage and lifestyle company that has redefined and modernized the real estate industry“. 26 Im Gespräch betont das TA-Mitglied Belle Santos ihren Gefallen an der Anonymität, die der Name ermögliche: Ich war eigentlich immer dagegen, als wir vier, wir fünf, so bekannt wurden, weil ich fand es eigentlich besser, als es noch geblacked-boxed war. Und es halt eine Arbeit von The Agency ist, weil niemand dann weiß, wie wir aussehen oder dass wir Frauen sind oder all das. Das fand ich irgendwie spannender. Man merkt dann aber, dass so viele Leute diesen persönlichen Bezug wollen oder die Gesichter hinter der Gruppe sehen wollen. Aber ich bereue es bis heute noch, dass dieser Schritt gemacht worden ist. [Lacht] Ich fand es irgendwie besser, wenn die Arbeiten von The Agency sind und dass man da so eine andere Freiheit hat. 27 Santos Erläuterungen verweisen auf ein verändertes Verständnis von und auf ein spezielles Interesse an Fragen der (kollektiven) Autorinnenschaft: Die Wahl des Namens erfolgte nicht aus identitätsorientierten oder individualisierenden Motiven, sondern aus dem Bedürfnis heraus, die eigene persönliche Freiheit durch Anonymisierung zu ermöglichen und dadurch gleichzeitig die Kritik an den Anonymisierungsstrategien von Großkonzernen zu problematisieren. Die Ent-Individualisierung ihrer immersiven Dienstleistungen schaffe den Per‐ former*innen Freiräume und biete den Zuschauer*innen Projektionsräume. Dementsprechend sollen ihre Arbeiten unbelastet von körperlichen Markern wie dem Frausein, von Ethnizität, Alter, Körper, Frisur, Mode etc. erfahren werden. Die Offenbarung ihrer Identitäten wurde schlussendlich vom Arbeits‐ feld Theater eingefordert. Sie selbst hätten auf die Verknüpfung von Theater‐ arbeit und Persönlichkeit verzichten wollen, so Santos. Als Selbstbezeichnung bezieht sich The Agency einerseits auf die Adaption von Arbeitsweisen einer Agentur und rekurriert andererseits auf die Potenzialität eines absichtsvollen und zielorientierten Handelns (to have an agency). Optionen des Entscheidens prägen das tägliche Konsumverhalten und werden in TA-Arbeiten aktivistisch fruchtbar gemacht. Die geteilte Künstlerische Leitung, die Imitation einer Agentur, das gemein‐ same Interesse an einer Anonymisierung durch den generischen Namen The Agency reproduzieren einen veränderten Zugang zum Künstlerkult im Theater sowie zur Gleichsetzung von sichtbaren und unsichtbaren Arbeitstätigkeiten. Performing Care 261 <?page no="262"?> 28 Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon 2002, S.-13. 29 Ebd., S.-35. 30 Ebd. 31 Ebd., S.-36. 32 Ebd., S.-35. An der Anzahl und der Vielfalt ihrer wechselnden Arbeitsverhältnisse zeigt sich, dass es der Gruppe weniger wichtig ist, als individuelles Kollektiv aufzutreten. Es geht ihnen darum, ein faires und gleichberechtigtes Arbeiten auf Zeit untereinander zu gewährleisten. Sie sind einander nicht familiär oder freund‐ schaftlich verpflichtet und finanzieren ihren Lebensunterhalt durch wechselnde Arbeitsbeziehungen mit anderen Theaterpraktiker*innen. Sie verstehen sich als Gleichberechtigte bei der Regie-, der Kostüm- und der Bühnenarbeit. Die Parallelitäten zwischen Dienstleistungen und immersiven Theaterformen zu nutzen und derart die Interdependenzen zwischen Theater, Kunst, Intimität und Arbeit zu verdeutlichen, hat eine künstlerische Tradition. Bei seiner Befas‐ sung mit künstlerisch-partizipativen Dienstleistungen prägte der Kunstkritiker Nicolas Bourriaud in den 1990er Jahren den Begriff der ‚Relationalen Ästhetik‘. Künstler*innen dieser Zeit würden in einer zunehmend globalisierten Welt der Vereinzelung durch die Stärkung der sozialen Dimension von Kunst, zum Beispiel durch (gemeinsames) Essen (Rirkrit Tiranvanija) oder durch die Errichtung von artifiziellen Welten (Andrea Zittel) entgegenwirken wollen. Zwischen den Akteur*innen und den Zuschauer*innen entstehe mithilfe dieser partizipativen Elemente ein relationaler Zwischenraum, welcher als Chance „to inhabit the world in a better way“ zu bewerten sei. 28 ‚Relationale Arbeiten‘ ermöglichen das Entstehen von sozialen Beziehungen durch individuelle oder kollektive Begegnungen. Im Kapitel „Professional relation: clienteles“ erörtert Bourriaud die künstlerische Übernahme von Beziehungsformen, wie sie im Dienstleistungssektor oder in Wirtschaftsunternehmen üblich sind. Diese Un‐ terkategorie der ‚Relationalen Ästhetik‘ definiert er als „operative realism“: 29 „What these artists have in common is the modelling of a professional activity, with the relational world issuing therefrom, as a device of artistic production.“ 30 Überraschend ist, dass er die Dienstleistungen, die beispielsweise die Künstlerin Christine Hill durch die Praktiken des Massierens, des Schuheputzens und des Kassierens im Supermarkt künstlerisch rahmt, als „most menial of tasks“ devalorisiert. 31 Die Arbeiten von The Agency bedienen sich ebenfalls eines „operative re‐ alism“, 32 wobei sie nicht nur die professionelle Dienstleistung zum Ausgangs‐ punkt ihrer künstlerischen Arbeit machen und zur Erzeugung eines sozialen Zwischenraums verwenden, sondern indem sie durch die Umbesetzung der aus‐ 262 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="263"?> führenden Körper einen Schritt davor ansetzen, nämlich bereits bei der Katego‐ risierung von Dienstleistungen als wertvoll/ wertlos, als künstlerisch/ sozial: Sie hinterfragen die von Bourriaud verwendete Kategorisierung bestimmter Dienst‐ leistungen als „most menial“, zu Deutsch „am wenigsten anspruchsvoll“. Es geht The Agency nicht um die Stärkung von sozialen Beziehungen, sondern um eine hyperaffirmative Auseinandersetzung mit dem dominanten Konsumverhalten im globalen Norden und dessen kritischer Hinterfragung im Kontext von Hu‐ mandifferenzierungen wie Gender, Ethnizität und Klasse. Ihre Arbeiten sind von Bourriauds Konzept der ‚Relationalen Ästhetik‘ insofern zu unterscheiden, da sie die Kriterien, die zwischen Dienstleister*innen, Theaterpraktiker*innen und autonomen Künstler*innen unterscheiden, zu unterlaufen versuchen und die soziale Dimension von Theater zur Irritation dieser Kategorisierungsprozesse nutzen. Es kommen entsprechend diejenigen asymmetrischen Verhältnisse zum Vorschein, die sich durch die Devalorisierung von bestimmten Dienstleistungen am ausführenden Körper zeigen. The Agency re-/ produzieren flexible und atypische Arbeitsverhältnisse in der postindustriellen Gesellschaft, welche auf Spontaneität, Anonymität und Flexibilität ausgelegt sind. Durch die Reproduktion, d. h. die Neubesetzung kom‐ modifizierter und nicht-kommodifizierter Beziehungsverhältnisse als Dienst‐ leistungen werden die Normen des Käuflichen und des Unverkäuflichen von Care-Arbeit sowie die Effekte der Naturalisierung von Humandifferenzierungen problematisiert. Sichtbar werden diejenigen normierenden Faktoren, die die dienstleistenden Theaterpraktiker*innen und die Dienstleistenden in realexis‐ tierenden Arbeitsverhältnissen voneinander trennen (1.) sowie auch diejenigen normativen Grenzen, die zwischen käuflichen Leistungen und nicht-käuflichen Freiwilligkeiten bestehen (2.). (Geschlechts-)Neutralität als Asymmetrie - eine Revision des Arbeitssubjekts Die Aspekte, welche The Agency auf produktionsästhetischer und thematischer Ebene in immersiven Theaterarbeiten verhandeln - wie zum Beispiel die Am‐ bivalenzen eines expandierenden Dienstleistungssektors, dessen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten oder die von The Agency artikulierte De-/ Valorisierung von Dienstleistungen - exponieren die Überschneidungen mit theaterinternen und theaterexternen Kontexten. The Agency bedienen weder den Diskurs um den Künstler*innenkult noch den Kollektivgedanken der Freien Szene, noch verweigern sie die Gleichsetzung ihrer Arbeit mit anderen Formen der Dienst‐ leistung, so dass ihre Arbeit sowohl die Hoffnungen Bells repräsentiert, der in Performing Care 263 <?page no="264"?> 33 Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016, S.-85. der Ausweitung der Dienstleistungsgesellschaft Möglichkeiten für die Verbes‐ serung des menschlichen Lebensstandards zu erkennen glaubt, als auch die Kehrseiten dieses Arbeitssektors spürbar werden lässt: das Bewusstsein dafür und die Erkenntnis darüber, dass sich hinter den interpersonellen Interaktionen „neue Ressourcen der Herrschaft“ 33 verbergen. Auf der Grundlage meiner Analyse lassen sich abschließend zwei Thesen konkretisieren: Erstens ist Arbeit nicht gleich Arbeit. The Agency verdeutlicht mit ihren Performances, dass Arbeits- und Dienstleistungen an Prozesse von Humandifferenzierungen geknüpft sind. Hinter der Geschlechtsneutralität von körpergebundenen Dienstleistungen im Care-Bereich zeigt sich deren Durch‐ dringung durch die ‚tools of capitalism‘, d. h. ihre Feminisierung, Ethnisierung und Klassenbezogenheit. In ihren künstlerischen Praktiken weisen The Agency Zusammenhänge von Humandifferenzierungen und Körpernormen aus, welche diejenigen Organisationsstrukturen und Normierungen begünstigen, die Hie‐ rarchien und Wertzuschreibungen hervorbringen. Zweitens ist die Grenziehung zwischen Künstler*innentum und Dienstleistung zu überdenken. Die Arbeits‐ weise der Theatergruppe, ihr Verzicht auf eine kontinuierliche, nachhaltige Zusammenarbeit sowie ihre Setzung einer gemeinsamen Künstlerischen Lei‐ tung eröffnet die Möglichkeit, Dichotomien zu hinterfragen, die zwischen Künstler*innentum und Dienstleistung in theaterinternen Kontexten eine Rolle spielen. Deutlich wird, dass Theaterarbeit (als Dienstleistung) mit ganz ähnli‐ chen Charakteristika und körpergebundenen Herausforderungen kategorisiert wird wie Dienstleistungen im Dienstleistungssektor, nämlich sich zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit im sozialen, kulturellen und künstlerischen Diskurs behaupten zu müssen. 264 Yana Prinsloo (Mainz) <?page no="265"?> ISBN 978-3-381-11781-9 Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 61 Kreuder / Wihstutz (Hrsg.) Staging Differences Friedemann Kreuder / Benjamin Wihstutz (Hrsg.) Staging Differences Orientierungen, Kategorisierungen und Identitätspolitiken in Theater und Performance Das Theater der Gegenwart ist seit ungefähr einem Jahrzehnt immer wieder von identitätspolitischen Debatten, Konflikten und Diskursen geprägt. Dabei thematisiert Theater jene Diskurse nicht nur spielerisch, sondern wird selbst zu deren Austragungs- und Verhandlungsort. Fragen in Bezug auf Identität, Community und Humandifferenzierung betreffen sowohl Inszenierungspraktiken und -ästhetiken auf der Bühne als auch Strukturen und Machtverhältnisse hinter den Kulissen sowie nicht zuletzt auch Performances und theatrale Darstellungsweisen auf den zahlreichen Bühnen von Politik, Fernsehen oder Sport.