Dialektik und Kritik
Zur systematischen Bedeutung der Kantinterpretation von Theodor W. Adorno
0117
2025
978-3-3811-1932-5
978-3-3811-1931-8
A. Francke Verlag
Conrad Mattlihttps://orcid.org/0000-0002-8937-8995
10.24053/9783381119325
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Philosophie im Sinne Adornos bedeutet, die Traditionslinien der Dialektik und der Kritik miteinander engzuführen. Diese Engführung erfolgte bislang vor allem gemäß der Vorgabe Hegels - mit dem Resultat, dass das Profil einer dezidiert negativen Dialektik durch Identitätsdenken überformt und in der Forschung als mangelhafte Kopie der positiv-spekulativen Dialektik gehandelt wurde. Dagegen schlägt diese Arbeit vor, dieses Profil von Kant her zu sichten: Indem die Grundzüge von Adornos Kantinterpretation erhellt werden, soll deren systematische Bedeutung für das adornosche "Antisystem" zur Geltung gelangen. Negative Dialektik, so die These, ist nur als grenzbegriffliche Reflexion auf den Erkenntnisanspruch der traditionellen Dialektik möglich.
Schweizerischer Nationalfonds zur10.13039/501100001711
<?page no="0"?> Dialektik und Kritik Zur systematischen Bedeutung der Kantinterpretation von Theodor W. Adorno Conrad Mattli <?page no="1"?> Dialektik und Kritik <?page no="2"?> Basler Studien zur Philosophie 23 Herausgegeben von Gunnar Hindrichs <?page no="3"?> Conrad Mattli Dialektik und Kritik Zur systematischen Bedeutung der Kantinterpretation von Theodor W. Adorno <?page no="4"?> Conrad Mattli https: / / orcid.org/ 0000-0002-8937-8995 DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381119325 © 2025 · Conrad Mattli Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0941-9918 ISBN 978-3-381-11931-8 (Print) ISBN 978-3-381-11932-5 (ePDF) ISBN 978-3-381-11933-2 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. <?page no="5"?> Für Tata und Yoyo <?page no="7"?> 9 13 15 35 1. 37 a) 39 b) 42 c) 45 d) 51 2. 57 a) 57 b) 63 c) 67 d) 79 83 A. 85 1. 89 2. 117 3. 129 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung: Dialektik und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur systematischen Bedeutung der Kantinterpretation Adornos . . . . . . . Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über den Grundsatz: «Denken heißt identifizieren.» . . . . . . . . . Was heißt: kritische Theorie des Denkens? . . . . . . . . . . . . . . . . . Urfehler und Korrektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Topik der negativen Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine historische Aufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Selbstreflexion der traditionellen Dialektik . . . . . . . . . . . . . Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das negativ-dialektische Reflexionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einerleiheit und Verschiedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen . . . . Der Begriff des Nichtbegrifflichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nichtidentische und das Ding an sich . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> B. 149 1. 152 2. 179 C. 191 1. 204 a) 209 b) 234 c) 264 2. 297 3. 310 D. 329 1. 337 2. 367 3. 391 421 423 Einstimmung und Widerstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . System und Antisystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität Das Innere und Äußere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kantische Block . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention . . . Erfahrungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung . . Was ist metaphysische Erfahrung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Niemandsland als Skopus der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materie und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vorrang des Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der bilderlose Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Danksagung Dieses Buch ist eine leicht überarbeitete Version des Textes, der im Sommer 2022 an der Universität Basel und der Universität Freiburg im Rahmen einer Cotutelle de thèse als Dissertation angenommen wurde und in den dreieinhalb Jahren davor in Basel, Freiburg i. Br., New York und Zürich entstanden ist. Aufrichtigen Dank schulde ich: Prof. Dr. Gunnar Hindrichs, Prof. Dr. Philipp Schwab und Prof. Dr. Katrin Meyer für die angenehme Betreuung, das Vertrauen und die Möglichkeit zur freien Ausführung meines Plans. Dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) für die Förderung im Rahmen von «Doc.CH». Swissuni‐ versities für die Erleichterung der Cotutelle durch den «mobility grant». Allen Mitarbeitenden und Studierenden des Philosophischen Seminars in Basel für die freundliche Aufnahme. Dem gesamten Freiburger Arbeitsbereich «Klassische Deutsche Philosophie und ihre Rezeption» um Philipp Schwab für die produk‐ tiven Kolloquien und Symposien. Omri Boehm für den freundlichen Empfang an der New School for Social Research in New York City im Frühjahr 2020. Den Mitgliedern der New School Adorno Reading Group für viele anregende Lektü‐ resitzungen unter außergewöhnlichen Umständen. Stefan Selbmann für die verlegerische Betreuung. Verena Stauffacher, Marlene Kienberger und meinem besten Freund Nicolas Hofmänner für das Korrekturlesen. Robert Pfeiffer für seine unendliche Urteilskraft, guten Rat und die langen Telefondialoge zu Kant. Meinen Eltern Waly und Yoyo (†) sowie meinen Geschwistern Florentina und Jöri Mattli danke ich für den Rückhalt. Marion Keller für die Wärme. Zürich, im Mai 2024 Conrad Mattli <?page no="11"?> 1 Franz Kafka, Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt am Main 3 2019 [1. Auflage 2006], S. 63. «Im Kampf zwischen Dir und der Welt sekundiere der Welt.» 1 <?page no="13"?> 1 Adorno, GS 6, S.-10. 2 Adorno, GS 4, S.-299. Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit entstand in der Absicht, das komplexe Verhältnis Adornos zu Kant zu erhellen. Schnell wurde klar, dass dieses Vorhaben eine Erweiterung des philosophiegeschichtlichen Blickwinkels durch eine syste‐ matische Perspektive erfordert. Denn es zeigte sich, dass gerade der Zusam‐ menhang zwischen Geschichte und System der Philosophie das sachliche Kernproblem des adornoschen «Antisystem[s]» 1 darstellt. Und es zeigte sich auch, dass Adornos dialektische Behandlung dieses Problems weit mehr mit einer transzendentalen Geltungsreflexion à la Kant gemein hat als mit einer Dialektik nach hegelschem Vorbild - mit welcher die negative Dialektik nach wie vor verwechselt und infolgedessen (wie sich zeigen soll, zu Unrecht) als mangelhafte Kopie erachtet wird. Die zahlreichen, mitunter polemischen Kantbezüge Adornos sind entsprechend nirgends bloße Kantexegese. Ebenso wenig sind sie aber Ausdruck einer dogmatisch vorentschiedenen, pauschal‐ isierenden Kantkritik. Vielmehr sind sie das Resultat jenes bei Kant selbst vorgebildeten, prinzipiengeleiteten Umgangs mit der Philosophiegeschichte, der auf den Namen ‹Kritik› lautet; ein Umstand, der allein das verbreitete Vorurteil widerlegen dürfte, wonach das Antisystem selbst keinen Anspruch auf Verbindlichkeit erheben darf. Einen solchen Anspruch erhebt das Antisystem als (Selbst-)Kritik des Systemdenkens der Klassischen deutschen Philosophie. Entsprechend beabsichtigt diese Arbeit, den Prinzipiengehalt von Adornos An‐ tisystem aus dem Dialog mit der Tradition heraus zu rekonstruieren. Es könnte ja sein, dass Prinzipien, «deren Unveräußerlichkeit» als Prinzipien gerade «in der Ohnmacht besteht äußerlich zu werden», 2 aus systematischen Gründen nicht unmittelbar, sondern nur ‹vermittelt› zur Darstellung gebracht werden können. Ist dies der Fall, muss die Forschung Wege finden, um den Wortlaut dieses Dialogs von seiner systematischen Bedeutung unterscheiden und dennoch beides aufeinander beziehen zu können. (Sonst legen wir den Buchstaben der negativen Dialektik unweigerlich als Ausdruck einer positiven Dialektik, kurz: unangemessen aus.) Die systematische Bedeutung dieses Dialogs am Beispiel Kants zu untersuchen, scheint deswegen angezeigt, weil das kantische Modell reflexiver Kritik für Adorno in entscheidender Hinsicht mehr als nur ein <?page no="14"?> 3 Adorno, NaS IV, S.-125. Beispiel darstellt. In den «Brüchen und Widersprüchen» der Vernunftkritik, so Adorno, «drückt eben wirklich das Leben der Wahrheit selber sich aus». 3 14 Vorbemerkung <?page no="15"?> 1 Pirmin Stekeler-Weithofer, Art. «Dialektik», in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklo‐ pädie Philosophie, Hamburg 2010, S.-395-407, hier: 395. 2 Annemarie Gethmann-Siefert, «Rettung der Dialektik? Rationale Rekonstruktion oder Sacrificium rationis? », in: Hegel-Studien 18, 1983, S.-245-294, hier: 245. 3 Pirmin Stekeler-Weithofer, Art. «Dialektik», S.-395. I. Einleitung: Dialektik und Kritik 1. Was Dialektik ist, lässt sich angesichts ihrer zweieinhalbtausendjährigen Ge‐ schichte kaum auf einen präzisen Begriff bringen. Das Konzept ist inzwischen von einer derartigen Unschärfe gekennzeichnet, dass Dialektik «im generellen Sinn […] im wesentlichen alles das ab[deckt], was heute in Abgrenzung von den Sachwissenschaften unter dem Titel ‹Philosophie› (i.e.S.) behandelt wird». 1 Diese Not lässt sich freilich in eine Tugend wenden: Der Umstand, dass Dialektik mit Philosophie gleichgesetzt werden darf, legt bei aller Verwässerung ihres Profils zugleich nahe, dass (was auch immer dies im Einzelfall bedeutet) die Dialektik eine tragende Rolle bei der Erlangung philosophischer Erkenntnis spielen muss. Tatsächlich ist die Dialektik in der Geschichte der Philosophie immer wieder als zielführende Methode verteidigt worden, um «durch eine entsprechend organisierte Befragung der Realität zum universalen Wissen gelangen zu können». 2 Diese Hoffnung ist, als Ausgriff auf universales Wissen, freilich von Beginn weg mit Enttäuschungen einhergegangen. Zunächst wäre da der Umstand, dass der Inhalt des angeblich universalen Wissens in keiner Form je alle Menschen zu überzeugen vermocht hat. Entsprechend nimmt die Dialektik den Widerstreit der Meinungen zum Anlass, fügt diesem aber keine neue Meinung hinzu, sondern empfiehlt sich als «gemeinsame[…] Wahrheitsfindung und Geltungssicherung vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Anerkennung und Kontrolle von Kriterien, die explizit artikulieren, was es überhaupt heißt, etwas als richtig oder wahr zu bewerten». 3 Das Problem: Wenn die ausgezeich‐ nete Methode, universales Wissen zu erlangen, zuerst zu ermitteln hat, was überhaupt als wahr gelten darf und was nicht, dann wird diese Methode nicht unmittelbar zielführend sein. Vielmehr beschreibt sie einen Umweg, der, statt auf Erkenntnis, auf die Gründe zurückführt, welche erklären, warum uns der unmittelbare Zugang zum Universalen versagt bleibt. Und weil also das schiere Faktum des Widerstreits partikularer Meinungen hinreicht, um den universellen Geltungsanspruch der Philosophie zu negieren, wird die Philosophie, solange <?page no="16"?> 4 Friedrich Kirchner, Art. «Dialektik», in: Carl Michaëlis (Hg.), Wörterbuch der philoso‐ phischen Grundbegriffe, Leipzig 1911, S.-200-202, hier: 200. 5 Adorno, GS 4, S.-280. sie mit Dialektik gleichgesetzt werden darf, ihren Anspruch auf Universalität noch nicht erfüllt haben. Angesichts dessen musste die Dialektik ihr Selbstverständnis als eine «Kunst der Unterredung» 4 erlangen - als methodische Anstrengung, den Widerstreit der Meinungen zu befrieden, aber mit dem übergeordneten Ziel, in den Parti‐ kularmeinungen bruchstückhafte Spiegelungen des Universalen zu erblicken. Dialektisch ausgedrückt: Der Gegensatz zum Widerstreit der Meinungen (die Ausrichtung auf den Frieden) ist der Dialektik wesentlich. Oder - noch dialek‐ tischer - mit Adorno: Die Dialektik ist in der Sophistik entsprungen, ein Verfahren der Diskussion, um dogmatische Behauptungen zu erschüttern und, wie die Staatsanwälte und Komiker es nannten, das mindere Wort zum stärkeren zu machen. Sie hat sich in der Folge ge‐ genüber der Philosophia perennis zur perennierenden Methode der Kritik ausgebildet, Asyl allen Gedankens der Unterdrückten, selbst des nie von ihnen gedachten. Aber sie war als Mittel, Recht zu behalten, von Anbeginn auch eines zur Herrschaft, formale Technik der Apologie unbekümmert um den Inhalt, dienstbar denen, die zahlen konnten: das Prinzip, stets und mit Erfolg den Spieß umzudrehen. Ihre Wahrheit oder Unwahrheit steht daher nicht bei der Methode als solcher, sondern bei ihrer Intention im historischen Prozeß. 5 Ob die Dialektik ihren Wahrheitsanspruch jenseits bloßer Sophistik und dies‐ seits überfliegender Dogmatik einlösen kann, hängt folglich daran, ob sie ihren Wahrheitsanspruch als Kritik einlösen kann. Die Dialektik ist, mit anderen Worten, dazu bestimmt, fortlaufend «dogmatische Behauptungen zu erschüt‐ tern», um darüber indirekt jene Prinzipien in Anspruch zu nehmen, die uns kraft ihrer Allgemeinverbindlichkeit für die Anspruchskritik vielleicht doch noch zu universalem Wissen führen könnten. Damit ist der Begriff der Dialektik aber ein wenig präziser geworden: Dialektik ist offenbar nicht einfach nur ein unscharfer Begriff, sondern ein bestimmt zweideutiger: Erkenntnismethode und Geltungsreflexion in einem, bringt die Dialektik das Dilemma aller bisherigen Philosophie zum Ausdruck: In ihren höchsten Erkenntnisansprüchen sieht sie sich auf den Umweg der Erkenntniskritik verwiesen; den Umweg der Kritik aber kann sie nur dort einschlagen, wo am Horizont das Versprechen universeller Erkenntnis steht. Sind aber Dialektik und Kritik derart mit- und durcheinander wechselbe‐ stimmt, dann darf es der Dialektik nicht darum gehen, einen geschichtslosen 16 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="17"?> 6 Gemäß Hans-Heinz Holz ist «die kategoriale Verfassung dialektischer Philosophie durch die geschichtliche Situation mitdefiniert, in der sie entsteht». Entsprechend hätte die Forschung zu bedenken, dass «die ganze Problemgeschichte der Dialektik zu einem unverzichtbaren Bestandteil ihrer aktuellen Systematik» geworden ist. Vgl. Hans- Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit (Bd. I: Die Signatur der Neuzeit), Stuttgart/ Weimar 1997, S. XV. Bubner hat diese weitläufige Entwicklung der Dialektik unter der treffenden Beobachtung zusammengefasst, dass es der Dialektik gelungen sei, «ihre Herkunft aus kontroversen Redesituationen vergessen zu machen». Rüdiger Bubner, Dialektik und Topik, Frankfurt am Main 1990, S.-9. 7 Vgl. Jens Halfwassen, «Hegel und die negative Theologie», in: Andreas Arndt/ Günter Kruck, Hegels «Lehre vom Wesen», Berlin/ Boston 2016, S.-109-128, hier: 112. 8 Hegel, TWA 5, S.-69; Hervorhebung C.M. Wissensbestand zu verwalten. 6 Vielmehr zeigt sich, dass das noch nicht gänzlich verhallte Versprechen der Dialektik, uns zu universalem Wissen zu führen, nur durch die Bezugnahme auf die eigene Geschichte nicht leer bleibt. Denn seit sie bei Platon als «Prinzipienwissenschaft» 7 in den Gegensatz zur bloßen Sophistik getreten ist, muss die Dialektik ihre spekulativen Erkenntnisansprüche immer wieder von neuem durch Erkenntniskritik einlösen. Ebenso kann es der Kritik nicht darum gehen, im Zuge der Prüfung von Erkenntnisansprüchen die Aussicht auf inhaltliche Erkenntnis zu versperren. Vielmehr ist es angesichts der Wechselbestimmtheit von Dialektik und Kritik beiderseits geboten, den ver‐ meintlichen Gegensatz von Methode und Methodenreflexion so zu vermitteln, dass daraus weder eine leere Dogmatik noch eine fruchtlose Kritik resultiert. Anders gesagt: Die Dialektik verinhaltlicht sich nur durch Kritik, während Kritik ohne Dialektik formlos bliebe. ‹Vermittlung› bezeichnet daher nicht zufällig einen Kernbegriff der dialekti‐ schen Tradition. Dialektik ist Vermittlung. Vermittlung ist aber nur dann über‐ haupt gefordert, wenn der Umweg der Kritik bereits eingeschlagen worden ist. Nur bereits Unterschiedenes kann vermittelt werden. Bei Hegel, der vielen nach wie vor als Kulminationspunkt der dialektischen Tradition gilt, beschreibt ‹Ver‐ mittlung› daher den eindeutig zweideutigen Vorgang der «Unterscheidung und Beziehung von Verschiedenem aufeinander». 8 Jedes auf Eindeutigkeit Anspruch erhebende Konzept dialektischer Vermitt‐ lung müsste folglich angeben können, wie der Zusammenhang von Unterschie‐ denem und Bezogenem als solcher zu beurteilen ist. Bestimmt der Sinn der Unterscheidung etwa jenen der Beziehung oder erfolgt die Unterscheidung umgekehrt nur, um eine Beziehung zwischen dem Verschiedenen herzustellen? Bildet also die Kritik oder die Dialektik den Sinnhorizont von Vermittlung? Anders gefragt: Wie wirkt sich die Koinzidenz von Unterscheidung und Be‐ ziehung auf die Möglichkeit dialektischer Erkenntnis aus? Ermöglicht oder I. Einleitung: Dialektik und Kritik 17 <?page no="18"?> 9 Adorno, NaS IV 16, S.-36-37. 10 Adorno, GS 6, S.-144. 11 Vgl. etwa GS 6, 92: «Philosophie erheischt heute wie zu Kants Zeiten Kritik der Vernunft durch diese, nicht deren Verbannung oder Abschaffung.» 12 Vgl. Stefan Müller-Doohm, «Versuch eines Portraits», in: Richard Klein/ Johann Kreuzer/ Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2011, S. 1-10, hier: 5: «Soziologie ist für Adorno gegenstandsbezo‐ gene Reflexion, die sich in das Besondere gesellschaftlicher Gegenstände versenkt, um sie als Ausdruck des Allgemeinen zu dechiffrieren.» - Wie zu zeigen sein wird, ist diese Koinzidenz von Gesellschaftstheorie und Philosophie bei Adorno jedoch nur angesichts der Wechselbestimmtheit von Dialektik und Kritik angemessen zu verstehen. 13 Vgl. Axel Hutter, «Methodischer Negativismus. Das Programm einer ‹Revolution der Denkart› bei Kant, Hegel und Kierkegaard», in: Axel Hutter/ Anders Noe Rasmussen (Hg.), Kierkegaard im Kontext des deutschen Idealismus, Berlin/ New York 2014, S. 5-28. Zur Diskussion von Adornos Negativismus, vgl. Michael Theunissen, «Negativität bei Adorno», in: Ludwig von Friedeburg/ Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt am Main 1983, S. 41-65; Emil Angehrn, «Dispositive des Negativen. Grundzüge negativistischen Denkens», in: Emil Angehrn/ Joachim Küchenhoff (Hg.), verunmöglicht jene diese? Stellen die Prinzipien der Geltung, auf welche sich die Dialektik zur Differenzierung von den Partikularmeinungen beruft, schon Gegenstände eines universalen Wissens dar oder verlangt jede Konkretisierung dieser Prinzipien noch einmal, dass die Dialektik ihren eigenen prinzipiellen Anspruch kritisch reflektiert? 2. Das Folgende stellt den Versuch dar, Theodor W. Adornos negative Dialektik als Antwort auf diese Fragen und als Vorschlag zum angemessenen Umgang mit dem besagten Dilemma zu begreifen. Diese Herangehensweise ist nicht von außen an Adorno herangetragen. In der Vorlesung über Negative Dialektik von 1965/ 66 erklärt Adorno seiner Zuhörerschaft: «Ich würde denken, die beiden Termini Kritische Theorie und Negative Dialektik bezeichnen das gleiche.» 9 Diese Wechselbestimmtheit von Dialektik und Kritik trägt sich danach in die adornosche «Definition» von Dialektik ein: «Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.» 10 Zu verstehen, was «gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben» der Sache nach bedeutet, ist das Ziel dieser Arbeit. Sollte Adorno recht haben, kämen wir damit einem Verständnis dessen näher, was Dialektik bedeutet. Worin gründet also die Möglichkeit eines Denkens, das zugleich traditionelle Vernunftkritik 11 und materialistische Gesellschaftstheorie 12 sein und nach Maß‐ gabe eines methodischen Negativismus 13 eine Dialektik von philosophischem 18 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="19"?> Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, Weilerswist 2014, S. 13-36; Tilo Wesche, Adorno. Eine Einführung, Stuttgart 2018, S.-41-50. 14 Marc N. Sommer hat eine umfassende und wegweisende Rekonstruktion des Konzepts einer negativen Dialektik in Verhältnis zu Hegel vorgelegt, vgl. ders., Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel, Tübingen 2016. Vgl. zum philosophischen Wahrheitsgehalt der negativen Dialektik zuletzt auch Brian O’Connor, «Negative Dialectics and Philosophical Truth», in: Peter Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, Hoboken 2020, S.-519-530. 15 Den systematischen Zusammenhang von Kritik und Theorie in der kritischen Theorie erhellt Gunnar Hindrichs, Zur kritischen Theorie, Frankfurt am Main 2020, zumal S.-12-45. Rang 14 ausbilden sollte? Inwiefern «bezeichnen» denn hier Kritik, Theorie, Negativismus und Dialektik «das gleiche»? Die These lautet: Sie bezeichnen ein allen zugrunde liegendes Reflexionsmodell. Dieses Reflexionsmodell enthält die Prinzipien, welche sowohl erfordern als auch ermöglichen, dass die traditionelle Philosophie angesichts ihrer Verstrickung in die Wirklichkeit und ihrer Bedingt‐ heit durch materielle Grundlagen kritisiert werden kann; während diese Kritik in Form einer der Philosophie nur scheinbar äußerlichen, materialistischen Theorie der Gesellschaft ausformuliert werden muss, deren Zweck aber die negative Erweiterung des philosophischen Horizontes bleibt. 15 Ein einheitliches Verständnis der adornoschen Philosophie als kritische Theorie/ negative Dialektik hängt folglich davon ab, ob eine plausible Antwort auf das exponierte Problem gegeben werden kann; ob also gesagt werden kann, wie der Zusammenhang von Dialektik und Kritik bei Adorno genau zu konzipieren ist. Die Forschung scheint im Unklaren darüber. Nach wie vor ist nämlich unklar, ob - und wenn ja, wie sich ‹das adornosche Denken› angesichts seines aporetischen Charakters überhaupt in den herrschenden Diskurs einbringen lässt. Schuld daran trägt wohl nicht zuletzt Adorno selbst. So legt etwa schon das Konzept einer negativen Dialektik nahe, es als Linienverlängerung und Bruch mit Hegel zu verstehen. Seit längerem zeichnet sich eine entsprechende Interpretationslinie ab, welche Adorno als Schüler und Kritiker Hegels lesen möchte. So produktiv diese Lesart sein mag, so fragwürdig bleibt es, ob es überhaupt möglich ist, Schüler und Kritiker Hegels zu sein, ohne dass der Anspruch des Schülers von dem des Lehrers überformt wird. Adorno als Schüler und Kritiker Hegels zu lesen, bedeutet vor allem eines: ihn als Hegelianer zu lesen. Und ist die negative Dialektik einmal im Bannkreis des hegelschen Denkens verortet, ist es mehr als fragwürdig, ob sie sich noch als eigenständige Denkart abgrenzen lässt. Hegel hätte dann nämlich alles vorgeformt, was als charakteristisch für Adorno und für sein Denken gelten darf. Die Idee einer ‹negativen Dialektik› wäre nur das I. Einleitung: Dialektik und Kritik 19 <?page no="20"?> 16 Für Hegel ist die Dialektik Platons eine negative Dialektik. Denn: «Oft hat sie nur ein negatives Resultat, oft ist sie ohne Resultat.» Hegel, GW 19, S.-65. 17 Adorno, GS 6, S.-145. 18 Ibidem, S.-148. augenfälligste Beispiel. 16 Adornos negative Dialektik ist aber gar nicht zu denken ohne die im Bewusstsein der «Differenz von Hegel» 17 vollzogene «Lossage von Hegel»; 18 sie wäre sonst ja eine positive Dialektik. Und weil die negative Dialektik kein geschichtsloses Dogma zur Verfügung hat, anhand dessen das hegelsche Denken gleichsam transzendent ‹von außen› kritisiert werden könnte, muss die Frage, wie negative Dialektik möglich ist, die Möglichkeit einer internen Relati‐ vierung der hegelschen Dialektik in Erwägung ziehen. Der integrale Anspruch der positiven Dialektik wird, wenn überhaupt, dann nur angesichts seiner Stellung innerhalb der Geschichte der Philosophie nach Kant zu widerlegen sein. Hegel ist nämlich derjenige, dessen Denken gerade eine Immunisierungsstrategie gegen jede Form der Relativierung darstellt. Der Verweis auf Relativität stellt keinen gewichtigen Einwand gegen ein Denken dar, dessen Gegenstand die Relation ist, in der alles zueinander und also auch es selbst steht. Da die Stimme, die diese Selbstrelativierung des Absoluten auktorial bespricht, eben die Stimme Hegels ist, kann dessen dialektische Rede nicht relativiert werden, ohne sofort den Einwand zu provozieren, dass auch diese Relativierung schon bei Hegel vorgedacht ist. Wie also ist negative Dialektik möglich? Die These lautet jetzt, dass diese Frage überhaupt nur dann angemessen beantwortet werden kann, wenn Hegels Dialektik als Position innerhalb der Geschichte der Philosophie relativiert wird. Da nun aber, wie gezeigt, diese Relativierung nicht darüber erfolgen kann, dass Hegels historische Kontingenz gegen den Anspruch des Absoluten ausgespielt wird (das Absolute stellt bei Hegel gerade die Integration der eigenen Kontin‐ genz zur Notwendigkeit dar), muss ein anderer Weg eingeschlagen werden. Für diesen alternativen Weg erweist sich der Gegenstand der vorliegenden Arbeit als vielversprechend. Die Philosophie Kants ist es, die allein eine relati‐ vierende Wirkung auf Hegel und die spekulative Dialektik entfalten kann; weil sie den Sinnhorizont dessen bildet, was Hegel Reflexion nennt. Was nämlich, wenn das Ganze, das die positive Dialektik als das Wahre betrachtet, ein Reflexionszusammenhang ist, der seinen eigenen Ursprung aus dem Geist der Kritik vergessen machen muss, um als Gegenstand eines absoluten Wissens betrachtet werden zu können? Dass es sich so verhalten könnte, dass also die Kritik den Horizont bildet, in dem sich die spekulative Dialektik ausbilden konnte, dafür spricht eine eigentümliche Zweideutigkeit im Begriff der Refle‐ xion. Diese Zweideutigkeit der Reflexion besteht (nach Kant und Hegel) darin, sowohl in das Geschehen der Erkenntniskritik wie in spekulative Erkenntnis‐ 20 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="21"?> 19 Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, München/ Basel 3 1980 [1. Auflage 1959], S. 5; Hervorhebung C.M. Die nachfolgende Spezifizierung der beiden Motive durch Wagner ist eine entscheidende Anregung für die systematische Ausrichtung dieser Arbeit gewesen: «Das kritische Motiv besagt: die Subjektivität hat sich in allen Feldern ihrer Leistungen zu prüfen und mit ihrer Endlichkeit zu rechnen. Das spekulative Motiv: diese Prüfung ist ein spekulatives, d. h. prinzipientheoretisches Unternehmen, das ohne ein Bewußtsein des Unendlichen und Absoluten nicht möglich ist.» Ibidem. Wie gezeigt werden soll, ist Adornos negative Dialektik als der paradoxe Versuch zu verstehen, gegen Hegel und den nachkantischen Idealismus die spekulative Relevanz der Kritik und damit Kant als einen Dialektiker zu rehabilitieren. 20 Kant, KrV, A VIII. zusammenhänge eingebunden zu sein. Was bestimmt danach den Sinnhorizont der geschichtlich zweideutig gewordenen Reflexionsbegriffe - Spekulation oder Kritik? Die Beantwortung dieser Frage erweist sich als wegweisend für jede nachidealistische Reflexionskonzeption, zumal deren Grundbegriffe von einer Tradition vorgegeben werden, welche als Klassische deutsche Philosophie zugleich die Norm vorschreibt, gemäß der die Aneignung und Anwendung dieser Begriffe vonstattenzugehen hat. Dass das Verhältnis von Spekulation und Kritik allerdings keine ausschließende Disjunktion, sondern eben ein Vermittlungsverhältnis darstellen dürfte, könnte man als Index dafür lesen, dass Dialektik alternativlos geworden ist. 3. Der späte Neukantianer Hans Wagner hat diese Schwierigkeiten im Blick, wenn er in Philosophie und Reflexion betont, dass die Untersuchung des Reflexionsprinzips [es] mit jenem säkularen Gegensatz auf‐ nehmen muß, unter welchem die gesamte neuere Philosophie (bewußt oder unbe‐ wußt) steht, dem Gegensatz zwischen Kant und Hegel, d. h. zwischen dem kritischen Motiv und dem spekulativen Motiv in der Philosophie. Beide Motive haben ihren un‐ erschütterlichen Rechtsgrund, und doch ist ihr Gegensatz bis heute nicht versöhnt. 19 Was Wagners hellsichtige Darstellung verschweigt, ist, dass der Gegen‐ satz «zwischen dem kritischen Motiv und dem spekulativen Motiv» nicht erst mit dem Auftreten Hegels in die Tradition der sogenannten ‹Reflexionsphilo‐ sophie› einbricht, sondern schon Gegenstand der kantischen Geltungsreflexion gewesen sein dürfte. Kants Anliegen war es ja, durch Kritik einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen die konfligierenden spekulativen Ansprüche der Tradition miteinander vereint werden können, ohne mit diesem Rahmen selbst nur einen weiteren kritikwürdigen Anspruch auf Einerleiheit zu erheben, wo faktisch keine vorliegt. Ob die Kunst der Unterredung mit der Tradition den «Kampfplatz […] endlose[r] Streitigkeiten» 20 befrieden kann, hängt folg‐ I. Einleitung: Dialektik und Kritik 21 <?page no="22"?> 21 Kant, KrV, A 856, B 884. 22 Kant, KrV, A 836/ B 864. lich auch davon ab, ob der eigene prinzipielle Erkenntnisanspruch vor dem Einheitsanspruch der spekulativen Vernunft gerechtfertigt werden kann. Kritik der Philosophie und philosophische Erkenntnis sind, mit anderen Worten, nicht erst seit Hegel ‹dialektisch› miteinander verschränkt. Vielmehr muss der dia‐ lektischen Vernunftkritik Kants exakt jene spekulative Relevanz zugesprochen werden, die die dialektische Kantkritik gegen ihn einklagen möchte. Die intime Verschränkung von Kritik und Erkenntnis gelangt bei Kant nicht zuletzt darüber zur Geltung, dass er den Großteil seiner Kritik der reinen Vernunft darauf verwendet, Erkenntnisansprüche, die aus bloßer Vernunft gewonnen werden, als ein «Blendwerk objektiver Behauptungen» zu durch‐ schauen und zu entzaubern - nur um dann mit seiner «Transzendentalen Methodenlehre» selbst einen Weg vorzuschlagen, wie wir aus bloßer Vernunft zu Erkenntnissen gelangen können. Welchen Weg Kant vorschlägt - ja, wie sich zeigt, selbst längst eingeschlagen hat, wird allerspätestens auf der letzten Seite der Kritik der reinen Vernunft klar, wenn es heißt: «Der kritische Weg ist allein noch offen.» 21 Dieses Urteil ist kein Bekenntnis, auch kein Aufruf zur Bescheidenheit, sondern formuliert eine grundlegende Einsicht, jene spe‐ kulative Einsicht, die dem gesamten Unternehmen der Kritik vorauseilt und überall mitimpliziert ist. Diese Einsicht besagt, dass der einzig zielführende Weg zu allgemeinverbindlicher Erkenntnis aus bloßer Vernunft eben der Weg der Erkenntniskritik ist. Da hiernach der Weg der Philosophie zur Erkenntnis notwendig über den Umweg der (Selbst-)Kritik führt, fordert Kant in seiner «Methodenlehre», zwi‐ schen zwei Arten subjektiver Erkenntnis zu unterscheiden: historischer und rationaler Erkenntnis. «Die historische Erkenntnis ist cognitio ex datis, die rationale aber cognitio ex principiis». 22 So kann sich der historisch erkennende Mensch das Überlieferte bis zur Gelehrtheit aneignen; aber, «ob er gleich alle Grundsätze, Erklärungen und Beweise, zusamt der Einteilung des ganzen Lehrgebäudes, im Kopf hätte, und alles an den Fingern abzählen könnte […]; er weiß und urteilt nur so viel, als ihm gegeben war». Und so kann vom historisch Erkennenden gesagt werden: Streitet ihm eine Definition, so weiß er nicht, wo er eine andere hernehmen soll. Er bildete sich nach fremder Vernunft, aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende, d. i. das Erkenntnis entsprang bei ihm nicht aus Vernunft, und, ob es gleich, objektiv, allerdings ein Vernunfterkenntnis war, so ist es doch, subjektiv, bloß 22 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="23"?> 23 Ibidem. 24 Kant, KrV, A 836f./ B 864f. 25 Ibidem. 26 Um hier von einer möglichen Verkomplizierung der Reflexionsproblematik durch ihre materialistische Ausdeutung abzusehen; denn zwischen der transzendentalen Reflexion Kants und der ‹Reflexion der Reflexion› Hegels liegt das entscheidende Differenzver‐ historisch. Er hat gut gefaßt und behalten, d. i. gelernet, und ist ein Gipsabdruck von einem lebenden Menschen. 23 Dem bloß historischen Erkennen setzt Kant nun jene «Vernunfterkennt‐ nisse» entgegen, die «aus allgemeinen Quellen der Vernunft, woraus auch die Kritik, ja selbst die Verwerfung des Gelerneten entspringen kann, d. i. aus Prinzipien geschöpft werden». 24 Das Entscheidende: Die rationale Erkenntnis aus Prinzipien erlangt ihre Eigenbestimmtheit zwar im Unterschied zum bloß historischen Philosophieren, dennoch aber nicht losgelöst von der eigenen Ge‐ schichte. Rationalität ist die unterscheidende Vermittlung des eigenen Gehalts mit der Tradition, der Name dieser Vermittlung nach allgemeinverbindlichen Prinzipien: Kritik. Die Vernunft geht also weder in der Geschichte auf, noch schwebt sie auf einer Wolke über diese hinweg. Vielmehr hat sich die rationale Erkenntnis jederzeit ihrer Differenz zum historisch Vorgegebenen zu versi‐ chern, um den Anspruch auf Rationalität zu erfüllen. Ohne Kritik keine Ratio‐ nalität. Es zeigt sich danach, dass die Verbindlichkeit, die die Geltungsreflexion beansprucht, den prinzipiengeleiteten Umgang mit den ex datis vorliegenden Anspruchsgehalten der spekulativen Philosophie darstellt - «woraus auch die Kritik, ja selbst die Verwerfung des Gelerneten entspringen kann». 25 Wie steht nun die negative Dialektik zu alldem? Offenbar doch so, dass sie sich den ex datis vorliegenden Gehalt der traditionellen Dialektik gemäß den Prinzipien der Kritik aneignet, d. h. das Überlieferte angesichts seiner Verstrickung in die Gesamtwirklichkeit auslegt und - verwirft. Konkret bedeutet es, dass sie den Reflexionszusammenhang der traditionellen Dialektik in den Horizont der Selbstkritik der Vernunft reintegriert, aus dem sie seit Hegel ausgebrochen zu sein vorgibt. Hierfür eignet sich Adorno das kantische Modell der Geltungsreflexion kritisch an; wobei der entscheidende Unterschied dieser Aneignung zur Aneignung des dialektischen Traditionsgehalts ist, dass Adorno das kantische Modell der Geltungsreflexion nicht verwerfen kann, wo er das kantische Modell angesichts seiner Verstrickung in die Wirklichkeit kritisiert. Vielmehr zeigt sich, dass sich noch die Kantkritik Adornos auf dem von Kant vorgezeichneten kritischen Weg bewegen muß. Anders ausgedrückt: Adornos kritische Bezugnahme auf Kant dient insgesamt der (mit dem Programmtitel einer ‹negativen Dialektik› beanspruchten) «Lossage von Hegel». 26 Denn, wie I. Einleitung: Dialektik und Kritik 23 <?page no="24"?> hältnis, dessen Explikation die negative Dialektik negativ werden lässt. Durch diese gezielt ambivalente Explikation gewinnt die negative Dialektik ihre eigene großartige Zweideutigkeit. Die Unterschiede dieser Reflexionskonzeptionen können nämlich gerade vor dem Hintergrund des «sprachlichen Gleichklang[s]» von Grundbegrifflichkeiten wie «Idee», «Ideal», «Selbstbewusstsein», «Idealismus» etc. aufgezeigt werden. Vgl. Richard Kroner, Von Kant bis Hegel. Von der Vernunftkritik zur Naturphilosophie (Bd. 1), Tübingen 2 1961 [1. Auflage 1921], S. 7 und passim. Ohne die genannte Zweideutigkeit wirklich durchdrungen zu haben, wird die von Kant ausgehende Entwicklung der Klassischen deutschen Philosophie in der Forschung nach wie vor als eine Entwicklung von der Trennung zur Identität gedeutet. Ein Beispiel: Sally Sedgwick, Hegel’s Critique of Kant: From Dichotomy to Identity, Oxford 2014. 27 Adorno, GS 10.2, S. In seiner Kant-Vorlesung hatte Adorno drei Jahre zuvor be‐ merkt: «Wir nehmen diese Intention des kritischen Wegs […] auf» - und schließt daran die Bemerkung an, «daß der dialektische Weg alleine offen sei». Adorno, NaS IV 4, S. 241. - Andernorts heißt es: «Kants Satz, der kritische Weg sei allein noch offen, ist einer von jenen verbürgtesten, deren Wahrheitsgehalt unvergleichlich viel größer ist als das an Ort und Stelle Gemeinte. Er trifft nicht nur die besondere Tradition, von der Kant sich lossagte, die der rationalistischen Schule, sondern Tradition insgesamt. Sie nicht vergessen und ihr doch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was trägt und was nicht. Es gibt keinen ewigen Vorrat, kein auch nur in der Idee noch denkbares deutsches Lesebuch. Wohl aber eine Beziehung zur Vergangenheit, die nicht konserviert, doch manchem durch Unbestechlichkeit zum Überleben verhilft.» Ders., GS 10.1, S. 315. - Oder: «Der Kantische Satz, der kritische Weg sei allein noch offen, reicht weit über das beschränkte Fachgebiet Erkenntnistheorie hinaus. Als Kant die reine Vernunft kritisierte, nämlich den Leibniz-Wolffischen Rationalismus, hat er sicherlich nicht die Vernunft selber, wie man heute so geschmackvoll sagt, ‹fertig machen› wollen.» Ders., GS 14, S.-444. es Adorno selbst 1962 in seinem Beitrag «Wozu noch Philosophie? » im Merkur formuliert hat: Philosophie, wie sie nach allem allein zu verantworten wäre, dürfte nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja müßte den Gedanken daran sich verbieten, um ihn nicht zu verraten, und doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmarkten lassen. Dieser Widerspruch ist ihr Element. Es bestimmt sie als negative. Kants berühmtes Diktum, der kritische Weg sei allein noch offen, gehört zu jenen Sätzen, in denen die Philosophie, aus der sie stammen, die Probe besteht, indem sie, als Bruchstücke, das System überdauern. 27 4. Das Nachfolgende soll zeigen, dass und inwiefern der dialektische Weg, den Adorno einschlägt, eben als Fortsetzung des kritischen Wegs, den Kant einge‐ schlagen hat, zu begreifen ist. Adornos kritisch-spekulatives Reflexionsmodell ist dabei Ausdruck der Bemühung, das Verhältnis zwischen Kant und Hegel sowohl von deren Gegensatz aus als auch aus dem sie einigenden Band heraus 24 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="25"?> 28 Birgit Sandkaulen, «Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in Ästheti‐ sche Theorie», in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesge‐ schichte 68, 1994, S.-393-408, hier: 394. 29 Vgl. Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, S.-36. 30 Vgl. Josef Früchtl, «‹Großartige Zweideutigkeit›: Kant», in: Richard Klein/ Johann Kreuzer/ Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, S.-311-316. zu bestimmen. Negative Dialektik ist Dialektik, weil sie das kritische und das spekulative Motiv miteinander vermittelt, beides unterscheidet und aufeinander bezieht. Der Zusatz ‹negativ› gibt entsprechend Auskunft darüber, wie der Zusammenhang zwischen Kritik und Spekulation als solcher zu beurteilen ist: Er ist, wenn es um seine inhaltliche Artikulation geht, zu negieren. Kritik bestimmt daher insgesamt den Sinn aller Vermittlungen bei Adorno. Danach findet sich die negative Dialektik in einer ständigen Reflexion auf die eigene Legitima‐ tionsgrundlage wieder. Dieses Reflexionsgeschehen, das von der Forschung immer noch weitgehend als «dialektische[r] Taumel in kleinsten Kreisen» 28 ohne systematischen Zusammenhang wahrgenommen wird, würde insofern trotz oder gerade aufgrund seiner Exzentrik der zitierten Standarddefinition von Reflexion bei Wagner entsprechen. Sie wäre das «Beisichsein im Modus der Rückkehr aus dem Außersichsein» des dialektischen Reflexionssubjekts. 29 Das negativ-dialektische Reflexionssubjekt ist bei sich, wo es die kritische Vernunft vor der Projektion ihrer Einheit auf die Welt bewahrt hat. Denn: «Das Unheil geschieht durchs Thema probandum: man bedient sich der Dialektik anstatt an sie sich zu verlieren.» Das negativ-dialektische Reflexionssubjekt ist entsprechend außer sich, wo es sich an die Dialektik der Welt verliert; und zwar, um dasjenige zu vergegenwärtigen, was in der All-Einheit nie aufgehen wird: das Nichtidentische. So zeigt sich, dass die wesentliche Verinnerlichungstendenz aller Reflexion gegen sich selbst gekehrt wird: Der Modus, der das Beisichsein des Reflexionssubjekts bestimmt, ist nun wesentlich an die Vergegenwärtigung radikaler Andersheit rückgebunden. Diese ‹Widerlegung› der bestehenden Welt durch kritische Theorie soll im Folgenden durch das In-Beziehung-Setzen der kritischen Theorie zu Kant nach‐ vollzogen werden. Diese Gedanken eröffnen den Horizont, innerhalb dessen Adornos Kantinterpretation Kontur gewinnen kann. Um einen Grundzug der‐ selben vorwegzunehmen: Adornos Kantinterpretation verfolgt überall (also auch dort, wo Kant heftig kritisiert wird) das Ziel, «den eigentümlichen Janus‐ charakter der Kantischen Philosophie» zu entfalten und so die «großartige Zweideutigkeit» 30 dieser Philosophie herauszuarbeiten, mit dem Ziel, diese Zweideutigkeit gegen die eindeutig positive Dialektik auszuspielen. Adornos I. Einleitung: Dialektik und Kritik 25 <?page no="26"?> 31 Hegel, TWA 5, S.-74. Vgl. dazu Abschnitt A/ 1 dieser Untersuchung. 32 Adorno, NaS IV 2, S.-27. Kantinterpretation nimmt so eine tragende Rolle ein für das Konzept einer an Hegel anschließenden, aber final negativen Dialektik. Adorno legt die Zweideu‐ tigkeit der kantischen Philosophie in seiner 1959er Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» nämlich dahingehend aus, dass diese «gleichzeitig eine Identitätsphilosophie […] und eine Nichtidentitätsphilosophie» ist. Nun würde man doch denken, dass genau das auf Hegel zutrifft, stammt von letzterem doch immerhin jene epochemachende «Definition des Absoluten» als einer «Iden‐ tität von Identität und Nichtidentität». 31 Hierin liegt aber gerade die Pointe von Adornos Interpretament der großartigen Zweideutigkeit. Hegels positive Dialektik fällt trotz deren Großartigkeit hinter diese Großartigkeit zurück und bleibt bloße Identitätsphilosophie. Insofern wäre der Horizont der zweideutigen Kritik nämlich größer als derjenige der eindeutig spekulativen Tradition. Dies zeigt sich zumal daran, dass der Hegelianismus als Identitätsphilosophie jene Zweideutigkeit der Zweckbestimmtheit philosophischer Reflexion zwischen Kritik und Spekulation vereindeutigen muss, die uns - ex datis - als säkularer Gegensatz zwischen Kant und Hegel vorliegt. Adorno ist daher Hegelianer nur aus methodischen Gründen - um den Horizont der positiven Dialektik final durch Kritik zu erweitern. Hegel lässt sich, wie gesagt, ja nur von innen heraus relativieren; darum soll die negativ-dialektische Reflexion darlegen, dass all die spekulativen Motive, die Hegel gegen Kant ins Feld führt, schon bei Kant angelegt sind, aber mit dem grundlegend andersartigen Ergebnis, dass bei Kant die Koinzidenz von Identität und Nichtidentität von Kant noch als Grund zur Kritik gewertet und in den Horizont der Grenzbestimmung der Vernunft integriert wird. In seiner Vorlesung zur Einführung in die Dialektik hebt Adorno entsprechend hervor, «daß eigentlich die Dialektik in einem eminenten Sinn die zu ihrem Selbstverständnis, zu ihrem Selbstbewußtsein gekommene Kantische Philosophie sei». 32 Angesichts dessen liegt die systematische Bedeutung des Verhältnisses zu Kant auf der Hand: Adornos Dialektik wäre als eine Spielart hegelscher Dia‐ lektik nur die selbstbewusste Explikation der kantischen Philosophie. Entspre‐ chend wäre das Reflexionsgeschehen der negativen Dialektik in Analogie zur kantischen Geltungsreflexion nachzuvollziehen. Dieselbe Einheit von Identität und Nichtidentität nämlich, in der Hegel die spekulative Ermächtigung des Denkens erkennt, dient dem Denken Adornos (wie bei Kant) als Grund zur (Selbst-)Kritik. In diesem Sinne erhält das Verhältnis zu Kant eine ‹grundle‐ gende› Bedeutung für die negative Dialektik: Der Weg zurück zu Kant erweist 26 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="27"?> 33 Daneben sind einige Beiträge zu nennen, die im Hintergrund des Vorliegenden stehen. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Brian O’Connor, zumal ders., Adorno’s Negative Dialectic. Philosophy and the Possibility of Critical Rationality, Cambridge MA/ London 2004. Ebenso legen die Untersuchungen Jay Bernsteins zu den kantischen Anteilen bei Adorno ein umfassendes Problembewusstsein an den Tag, das diskursbildend wirken könnte. Vgl. Jay M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, Cambridge 2001; ders., «Negative Dialektik. Begriff und Kategorien III. Adorno zwischen Kant und Hegel», in: Axel Honneth/ Christoph Menke (Hg.), Theodor W. Adorno. Negative Dia‐ lektik, Berlin 2006, S. 89-118; ders., «Concept and object: Adorno’s Critique of Kant», in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S. 487-502. Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt am Main 1989 bietet eine nach wie vor wegweisende Rekonstruktion der negativen Dialektik als einer Theorie der Erfahrung. Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Wiesbaden 2016, S. 85-129 lie‐ fert eine umfassende Rekonstruktion von Adornos Kantinterpretation aus praktischer Perspektive. Mit Blick auf Adornos Kantrezeption in der Ästhetischen Theorie ist Stefano Marino, «Adorno über Kant und das Verhältnis von Ästhetik und Metaphysik», in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65/ 1, 2017, S.-67-88 wegweisend. Die Konstellation Adorno-Kant-Hegel erhellt Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, zumal S.-227-250; 391-408. 34 Carl Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus. Zur Kant-Kritik Theodor W. Adornos, Berlin/ New York 1983, S.-291. sich als einziger Weg, auf dem die hegelianische Tradition noch gegen sich selbst zu denken vermag. Und gegen sich selbst denken muss die Dialektik - sie muss Grenzbestimmung sein, um spekulativ relevant zu bleiben. 5. Überblicken wir die Forschungslage, finden sich wenig Belege dafür, dass die systematische Tragweite von Adornos Kantbezügen breite Anerkennung findet. Vielmehr besteht gerade in systematischer Hinsicht eine Forschungslücke mit Blick auf Adornos Kantinterpretation. Die m.W. einzige Monographie, die sich exklusiv Adornos Kantinterpretation widmet 33 - die 1983 in den Ergänzungsheften der Kant-Studien publizierte Studie Kritische Theorie versus Kritizismus von Carl Braun -, gelangt zum Schluss, dass die Prätentionen der kri‐ tischen Theorie die Natur des Kritizismus grundsätzlich verfehlen. Danach steht Adornos unorthodoxe Kantinterpretation unter dem Verdacht, ein «grundle‐ gendes Mißverständnis von Transzendentalphilosophie» 34 darzustellen. Nach dem bisher Gesagten muss allerdings gesagt werden, dass diese Linie der Adornokritik die Methodenbestimmtheit der negativen Dialektik ausklammert und vereinzelte Interpretamente als Momente einer eindeutig ablehnenden Kantkritik liest, statt die Zweideutigkeit zu hören, die aus ihrem Zusammenspiel spricht. Kein Wunder also, beginnt der Beitrag zur Rolle Kants im Adorno- Handbuch mit einer apologetischen Note: «In einer Essenzbeschreibung dessen, I. Einleitung: Dialektik und Kritik 27 <?page no="28"?> 35 Josef Früchtl, «‹Großartige Zweideutigkeit›: Kant», S.-311. 36 Jay M. Bernstein, «Concept and object: Adorno’s Critique of Kant», in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S.-487-502, hier: 499. 37 Vgl. Adorno, GS 6, S. 358ff. Dazu Christian Skirke, «After Auschwitz», in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S.-567-582. was man Frankfurter Schule oder, weiter gefasst, Kritische Theorie nennt, kommt der Name Kants zunächst nicht vor.» 35 Ähnlich sieht sich Jay Bernstein in A Companion to Adorno zur Emphase veranlasst, dass eine grundlegende Beschäftigung mit Adornos Kantinterpretation angezeigt wäre, was impliziert, dass dies bislang nicht der Fall ist. Although Negative Dialectics is premised on a conversation with Hegel over dialec‐ tics, both its critical object, constitutive subjectivity, and its metaphysical promise, aesthetic semblance, derive fundamentally from a dialog with Kant’s Critique of Pure Reason. Getting this in plain view is the first task for a reading of Adorno’s philosophy. 36 Die vorliegende Untersuchung wird diese Aufgabe selbstredend nicht alleine lösen können. Sie strebt nicht materiale Vollständigkeit an und zielt auch nicht auf eine enzyklopädische Erschließung ihres Gegenstandes. Auch muss davon abgesehen werden, die Auseinandersetzung Adornos mit Blick auf die praktische Philosophie und die Ästhetik eingehend zu behandeln, obwohl die Motive des «neuen kategorischen Imperativ[s]» 37 oder die kantischen Problem‐ stellungen des Erhabenen und des Naturschönen in der Ästhetischen Theorie Grund genug dafür wären. Zweck dieser Untersuchung ist es stattdessen, einen Grundstein zu legen, um die erstaunlich hartnäckigen Vorurteile herausfordern zu können, wonach Adornos offenkundig widersprüchlichen Kantbezüge als unseriös, wirr oder einfach nur falsch abgetan, statt als notwendige Funktion zur Spezifizierung der negativen von der positiven Dialektik begriffen zu werden. Das Kernanliegen dieser Untersuchung ist daher eine rationale Rekonstruktion von Adornos Kantinterpretation, wie sie in ihrer zweideutigen Anlage systematisch durch die Idee einer negativen Dialektik vorgezeichnet und durch Adornos zeitlebens erfolgende Auseinandersetzung mit Kant zum Ausdruck gekommen ist. 6. Der Grundgedanke hinter dieser Interpretation lautet darauf, den Begriffsgehalt der spekulativen Reflexion, Reflexionsbegriffe, an ihren Ursprung aus dem Geist der Kritik zu erinnern. Bei Kant spielen die Reflexionsbegriffe eine tragende Rolle. Deren Einsatz im Anhang zur «Transzendentalen Analytik» führt die 28 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="29"?> 38 Die Grundoperation der Dialektik besteht bei Kant folglich darin, die kritisch unter‐ schiedenen Reflexionsmomente unter dem Gesichtspunkt ihrer Differenz in einen einheitlichen Darstellungszusammenhang zu integrieren. 39 Die Grundoperation der Kritik, wie sie sich im Amphiboliekapitel herauskristallisiert, steht in Kontinuität zur Kritik der Geisterseherei, bestand diese doch schon beim ‹vor‐ kritischen› Kant ganz einfach darin, das Blendwerk an seinen ursprünglichen Ort in der Einbildung zurückzuführen. Kritik ist eine Topologie unserer Vorstellungen. Kritik verortet. Die Hirngespinste sind das vermeintlich Äußere, das, einmal als Gespinst bestimmt, zum bloß Inneren einer Einbildung wird. Vgl. Kant, AA II, S. 344: «Die große Klarheit ihres Hirngespinstes kann hievon nicht die Ursache sein, denn es kommt hier auf den Ort an, wohin es als ein Gegenstand versetzt ist, und daher verlange ich, daß man zeige, wie die Seele ein solches Bild, was sie doch als in sich enthalten vorstellen sollte, in ein ganz ander Verhältniß [! ], nämlich in einen Ort äußerlich und unter die Gegenstände, versetze, die sich ihrer wirklichen Empfindung darbieten.» Kritik wirkt also aufklärend nicht primär deswegen, weil sie uns neues Wissen über die Welt bringt, sondern weil sie dem Wahn der objektiven Innerlichkeit im Namen der Welt eine Grenze aufzeigt. 40 Den negativen Nutzen der Transzendentalphilosophie hebt Kant immer wieder hervor, vgl. Kant, KrV, B XXIV; ders., AA IV, S. 362. Was er mit einem negativen Nutzen meint, wird vor der praktischen Philosophie zuerst aus einer Fußnote des Kapitels zum transzendentalen Ideal ersichtlich: «Die Beobachtungen und Berechnungen der Sternkundiger haben uns viel Bewundernswürdiges gelehrt, aber das Wichtigste ist wohl, daß sie uns den Abgrund der Unwissenheit aufgedeckt haben, den die menschliche Vernunft, ohne diese Kenntnisse, sich niemals so groß hätte vorstellen können, und Grundoperation der Kritik beispielhaft vor Augen. Die Grundoperation der Kritik besteht jeweils in der Rückführung eines Unbedingtheitsanspruchs auf eine zugrunde liegende Negationshandlung - darin, in der affirmativen Gestalt unendlicher Urteile das zugrunde liegende Reflexionsverhältnis sichtbar zu machen und die wechselseitig einander negierenden Bestimmungen von der Sache, die durch sie bestimmt werden soll, zu unterscheiden. 38 Kritik bedeutet so die Rückübersetzung objektiv beanspruchter Negationsverhältnisse in erkennt‐ nislimitierende Gehalte. Denn die Kritik deckt die Negationsverhältnisse in den unendlichen Urteilsgehalten der Tradition auf und eignet sich diese prinzipiell an; während die vorkritische Tradition diese unendlichen Urteilsgehalte positiv beansprucht, legt die Kritik dieselben Gehalte als Grenzen unseres Erkenntnis‐ horizonts aus. Die Kritik bringt den kritisierten Traditionsgehalt zwar noch einmal positiv zur Darstellung, als Grenzbestimmung aber verlangt dieser Gehalt neu nach einer negativen Ausdeutung. 39 Entsprechend dieser negativen Ausdeutung beschreibt die Grundoperation der Kritik eine Anverwandlung ex datis vorliegender, positiver Anspruchsgehalte - und zwar gemäß Prinzipien, die im Zuge ihres Einsatzes zur Grenzbestimmung als vor allen Menschen vertretbar erachtet werden dürfen. 40 I. Einleitung: Dialektik und Kritik 29 <?page no="30"?> worüber das Nachdenken eine große Veränderung in der Bestimmung der Endabsichten unseres Vernunftgebrauchs hervorbringen muß.» Kant, KrV, A 576/ B 604. 41 Kant, AA IV, S.-354. Die universale Geltungsanspruch der Kritik stellt mithin keinen unmittelbar objektiven Erkenntnisanspruch dar. Weit gefehlt aber, dass die Kritik deshalb gar keinen Erkenntnisanspruch erheben würde; es ist vielmehr ein unmittelbar subjektiver und vermittelt objektiver Erkenntnisanspruch, den die Kritik erhebt. Und hieraus folgt: Sofern der kritische Weg zu Erkenntnis führen soll, ist die Kritik notwendig auf Vermittlung und insofern auf Dialektik angewiesen. Dass die Reflexionsbegriffe bei Kant die Prinzipien der Kritik (Kritik im Sinne der Prüfung dogmatischer Erkenntnisansprüche) darstellen und als solche an Verbindlichkeit gewinnen, erhellt aus dem Gedanken einer «Amphibolie der Re‐ flexionsbegriffe». Er besagt: Am Leitfaden der Reflexionsbegriffe soll es uns mit Blick auf alle Erkenntnisansprüche der Tradition möglich werden, historischkontingente Artikulationen der Philosophie ex principiis zu verstehen, d. h., das Prinzipiierte (die data) als Ausdruck der allen Menschen gemeinsamen Vernunft zu interpretieren. Die hiermit vollzogene Verwandlung kontingenter Ansprüche in notwendige Äußerungen der einen Vernunft erfolgt in dem Moment, wo die kritische Vernunft die Amphibolie aufdeckt, die die Tradition dazu verleitet hatte, einen Reflexionsgehalt mit einem objektiv bestehenden Sachverhalt zu verwechseln. Für den vorliegenden Zusammenhang nimmt das Reflexionsbegriffskapitel der Kritik der reinen Vernunft daher eine zentrale Rolle ein. Dieser Abschnitt offenbart, dass die Einheit der besagten ‹einen› Vernunft nur die Einheit der radikal selbstkritischen Vernunft sein kann - jene Einheit, die ihr Selbstver‐ ständnis als Einheit nur im Zuge des Sich-Unterscheidens von etwas Anderem gewinnen kann. Durch Reflexion auf die dogmatische Tradition wird eine negative Einheit von System und Geschichte der Philosophie konzipiert, die den Reflexionszusammenhang der Tradition nicht in sich abschließt, sondern kritisch erweitert. Diese kritische Erweiterung zum Ende der «Analytik» ist aus systematischen Gründen notwendig, weil sie den Einsatz der «Transzen‐ dentalen Dialektik» vorbereitet. Kants Dialektik-Konzeption gewinnt dadurch an spekulativer Relevanz: indem sie die Grenze des Reflexionszusammenhangs abschließend bestimmt und also - indirekt - eine «Verknüpfung des Bekannten mit einem völlig Unbekannten» 41 herstellt. Nur ein einseitig auf Identität fixiertes Denken konnte der Dialektik Kants diese spekulative Bedeutung ab‐ sprechen. Und es ist insofern kein Zufall, dass die genannte ‹Verknüpfung› erst im Kontext radikaler Hegelkritik wieder zur Geltung gelangten kann 30 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="31"?> 42 Peter Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der «Kritik der reinen Vernunft», Würzburg 1997, S. 703 bestimmt den kantischen Begriff der Amphibolie von Aristoteles her. «Amphibolie» meine «wie bei Aristoteles im Vierten Kapitel der Sophistischen Widerlegungen nicht Verwechslung, sondern Zweideutigkeit aus Verwechslung». 43 Mit Gleichförmigkeit ist gemeint, dass die Struktur wechselseitiger Implikation unter gleichzeitigem Ausschluss auf alle vier Reflexionsverhältnisse gleichermaßen zutrifft. Das Gegensatzverhältnis, das sie jeweils anders ausformulieren, ist immer dasselbe Gegensatzverhältnis - dasjenige der ‹Orte› Sinnlichkeit und Denken. Semantische Vieldeutigkeit nimmt deren Gegensatz erst im Rahmen einer transzendentalen Topik an, d. h. im Blick auf die vierfache Ausdifferenzierung der Kategorienklassen - mit anderen Worten: im Zuge der subjektiven Selbstbestimmung des Denkens, welche so verfahren muss, als ob das Denken etwas objektiv Gegebenes wäre. Worüber erlangen die Reflexionsbegriffe aber ihre objektive Bedeutung - jene Bedeutung, die sie von ‹herkömmlichen›, Objekte subsumierenden Be‐ griffen abhebt? Die Antwort: Im Zuge des Nachweises ihrer Verwechslung mit Dingbegriffen. Der einzig rechtmäßige Gebrauch von Reflexionsbegriffen ist nichts anderes als die Kritik ihres unrechtmäßigen Gebrauchs. Kant nennt den unrechtmäßigen Gebrauch von Reflexionsbegriffen ‹Amphi‐ bolie›. Der Begriff ‹Amphibolie› bedeutet, wenn wir mit Peter Baumanns von Aristoteles her denken: Zweideutigkeit aus Verwechslung. 42 Der traditionell falsch beurteilten Zweideutigkeit gegenüber stellt das kantische Reflexions‐ begriffskapitel also die erstmalige nichtamphibolische Inanspruchnahme der betreffenden Gehalte dar. Zweideutig bleiben die Reflexionsbegriffe zwar auch im Horizont der Kritik. Denn ein Reflexionsbegriff impliziert ja immer den anderen mit. Und zugleich schließt der eine den anderen Begriff im Namen der eigenen Bestimmtheit aus: Was einerlei ist, ist gerade nicht verschieden; was in sich stimmig, ist nicht widersprüchlich. Das Innere ist nicht das Äußere; die Form das Andere des Inhalts. Aber die Kritik artikuliert diese Zweideutigkeit der Reflexionsbegriffe ohne Verwechslung des transzendentalen Ortes, an dem sich ihr Inhaltsanspruch einlösen ließe. Das Innere zum Beispiel ist als Reflexionsgehalt meist Index seiner Zugehörigkeit zur Subjektivität. Ebenso Einerleiheit, Einstimmigkeit oder Form - sie alle wurden traditionell mit objektiven Bestimmungen verwechselt. Kants transzendentale Reflexion dient dazu, diese Verwechslungen endlich als Projektionen einer sich selbst missverstehenden Subjektivität zu entlarven - dieser Subjektivität also durch Selbstkritik zu einem geläuterten Selbstverständnis zu verhelfen. Ihre gleichförmige 43 Gestalt erlangen die Reflexionsbegriffe entsprechend als vor-kategoriale und dennoch kategorial-bestimmte Artikulationen des Verhält‐ nisses zwischen Sinnlichkeit und Denken. Da dieses Verhältnis im Horizont der Selbstkritik des Denkens thematisiert wird, bestimmt der Unterschied I. Einleitung: Dialektik und Kritik 31 <?page no="32"?> 44 Adorno, GS 6, S.-175. zwischen Sinnlichkeit und Denken den Sinn ihrer Beziehung zueinander. Das heißt: Vermittlungen durch Reflexionsbegriffe verbürgen keine objektstufige Erkenntnis von Gegenständen, sondern beschreiben nichts anderes als das negative Tun der Selbstkritik. Die reflexive Kritik zeigt auf, inwiefern bestimmte Ansprüche nur mit Blick auf Erscheinungen und nicht auch für Dinge an sich gelten können. Die durchgängige Zweistelligkeit als solche der vier Refle‐ xionsverhältnisse ‹symbolisiert› das Negationsverhältnis von Erscheinung und Ding an sich. Kants Amphiboliekritik nimmt dieses negative Symbol positiv in Anspruch, interpretiert das daraus entspringende unendliche Urteil aber nicht mehr als ein positives Urteil über Unendlichkeit, sondern als die Grenze endlicher Vernunft. Dasselbe, was Kant mit Blick auf die dogmatische Tradition vor ihm tut, muss Adorno mit der traditionellen Dialektik tun; er muss deren Themen der Herrschaft der bestimmenden Urteilskraft entreißen und einem Reflexi‐ onsgeschehen aussetzen, das die Dialektik von einer heiligenden Bestätigung des Bestehenden differenziert. Auch bei Adorno hängt die Verbindlichkeit der Reflexion somit an der Möglichkeit zur prinzipiellen Anverwandlung des Anspruchsgehalts der traditionellen Dialektik im Horizont einer Kritik ihres amphibolischen Fehlgebrauchs. Die hegelsche Dialektik nämlich, so Adorno in der Negativen Dialektik, «restauriert die Verfahrungsweise des Denkens, welche Kant am älteren Rationalismus als Amphibolie der Reflexionsbegriffe mit Grund tadelt. Sophistisch wird die Hegelsche Dialektik, wo sie mißlingt.» 44 Gereicht nämlich die Not der Kritik zur Tugend der Spekulation, ist die versöhnende Reflexion nicht mehr von der Apotheose des Widerstreits der Meinungen zu unterscheiden, das Ganze jetzt der ewige Kampfplatz, den die kritische Geltungsreflexion ursprünglich befrieden sollte. Durch kritische Distanznahme von jener Sophistik, die ihre eigene prinzipielle Verfahrensweise auf die Welt an sich projiziert, statt sie aus dem Antagonismus zu befreien, soll die negative Dialektik ihren eigenen Wahrheitsanspruch einlösen. Dazu führt sie die Grund‐ operation der Kritik an der positiven Dialektik durch. Das heißt, sie führt den Unbedingtheitsanspruch der Dialektik - die absolute Identität - auf das ihm zugrunde liegende Negationsverhältnis zurück - das Nichtidentische. Ohne das Nichtidentische käme jene Vermittlung nämlich gar nicht erst in Gang, die sich dieses einverleiben möchte - das Bedürfnis der Vermittlung entsteht als Bedürfnis, wie gesagt, erst dort, wo der Weg der Kritik bereits eingeschlagen ist. Die negative Dialektik, die sich von jeder Heiligung des Kampfes vor dem Abso‐ luten bestimmt distanzieren will, übersetzt daher den affirmativen Anspruch der 32 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="33"?> Dialektik auf den Gesamtzusammenhang aller Negationsverhältnisse in einen unendlichen Urteilsgehalt zurück (i.e. das Nichtidentische). Als Grenzbegriff der traditionellen Dialektik setzt dessen Nichtidentität die bestehende mit anderen möglichen Welten ins Verhältnis. So ist der Begriff der negativen Dialektik aber ein wenig präziser geworden: Bei Adorno bestimmt die Unterscheidung des Ganzen von etwas anderem den Sinn der vermittelnden Bezugnahme auf das Ganze. Die Idee einer negativen Dialektik fordert daher zuallererst dies: Die Verwechslung aus Zweideutigkeit, die die positiv-dialektische Reflexion vollzieht und dann unter Begriffe fasst, soll in die ‹großartigere›, da nichtamphibolische Zweideutigkeit einer Grenz‐ bestimmung rückverwandelt werden. Ansonsten wäre Adorno tatsächlich nur der moderne Gipsabdruck Hegels und seine negative Dialektik die ‹histori‐ sche Aktualisierung› der positiven Dialektik, wie sie uns allen ex datis im hegelschen Buchstaben vorliegt. Aus dem prinzipiellen Gesichtspunkt der allgemeinen Menschenvernunft betrachtet bliebe die negative Dialektik damit aber belanglos. * Der Hauptteil der Untersuchung ist, nach zwei hinführenden Abschnitten (II/ 1-2), in vier Unterkapitel (III/ A-D) gegliedert. Die Vierteilung folgt der thematischen Vorgabe der kantischen Reflexionsbegriffe und steht daher im Ho‐ rizont einer kritischen Geltungsreflexion. Die vier Bereiche dieses Horizontes sollen gemeinsam den argumentativen Raum erschließen, innerhalb dessen das negativ-dialektische Reflexionsmodell als Kantinterpretation exponiert werden kann. Unter dem Titel Einerleiheit und Verschiedenheit (A) wird die Leitidee der ne‐ gativen Dialektik thematisiert - der Gedanke der Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen. Das Nichtidentische seinerseits wird als Grenzbegriff der dialektischen Vermittlung gekennzeichnet. Unter dem Titel Einstimmung und Widerstreit (B) soll einerseits Adornos Idee des Antisystems exponiert und mit dem Verhältnis von Constituens und Constitutum andererseits ein wichtiges Motiv von Adornos Kantinterpretation untersucht werden. Im Prob‐ lemhorizont von Innerem und Äußerem (C) geht es darum, den Komplex des Kantischen Blocks zu rekonstruieren. Dabei gilt es zu sehen, inwiefern das auf den ersten Blick anti-kantische Konzept einer metaphysischen Erfahrung in wesentlichen Punkten an Kant anknüpfen muss. Der Gedanke einer Erkenntnis durch Analogie, wie er in den Prolegomena vorgestellt wird, erweist sich hier als maßgebend. Hierüber ist das Motiv des Niemandslandes, das in Adornos Kantvorlesung von 1969 eine tragende Rolle spielt, zu erhellen. Das Niemands‐ land wird als das Resultat von Adornos Aneignung der transzendentalen I. Einleitung: Dialektik und Kritik 33 <?page no="34"?> Geltungssphäre zu begreifen sein. Im letzten Abschnitt soll die Rekonstruktion des negativ-dialektischen Reflexionsmodells abgerundet und der systematische Gedanke dieser Arbeit dem Ziel zugeführt werden. Die negative Dialektik wird als transzendentale Reflexion auf Materie und Form (D) der traditionellen Dialektik dargestellt. Unter dieser Vorgabe kann Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik, die Idee des Vorrangs vom Objekt sowie zum Ende Adornos bilderloser Materialismus erhellt werden. 34 I. Einleitung: Dialektik und Kritik <?page no="35"?> 1 Kant, AA XVI, S.-74. II. Zur systematischen Bedeutung der Kantinterpretation Adornos Analytic gehört zur doctrin; dialectic zur Kritik. 1 <?page no="37"?> 2 Adorno, GS 6, S.-10. 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive Zunächst mag es befremdlich wirken, im Falle Adornos überhaupt von einer ‹systematischen Perspektive› zu reden. Ist Adorno nicht der Anti-Sys‐ temdenker par excellence? Bedeutet es nicht, Adornos Denken gegen den Strich zu bürsten, wenn wir dieses als ein ‹Reflexionsmodell› auslegen - es ‹aus systematischer Perspektive› betrachten? Im Folgenden soll plausibel werden, weshalb es nicht bloß möglich, sondern sogar notwendig ist, die Philosophie Adornos genau in dieser Hinsicht gegen den Strich zu bürsten. Um den wichtigsten Grund vorwegzunehmen: Bei Adorno wird das dialek‐ tische Denken dem identifizierenden Systemdenken zwar scharf gegenüber‐ gestellt; nirgends aber wird behauptet, dass die Dialektik dem Bann des Systems entronnen wäre. Würde dies behauptet, wäre es sinnlos, im Falle Adornos von einer ‹Dialektik› sui generis zu reden; nur eine positive Dialektik darf sich anmaßen, durch ihre Vermittlungen dasjenige, was außerhalb des Systems liegt, unmittelbar zu erfassen. Stattdessen gilt es, die Dialektik von System und Antisystem nachzuvollziehen, was wiederum bedeutet, die‐ jenigen Vermittlungen selbst nachzuvollziehen, die die dialektische Reflexion Adornos gerade zu ihrem Thema hat. Der Anspruch der negativen Dialektik lautet schließlich darauf, «mit konsequenzlogischen Mitteln […] anstelle des Einheitsprinzips und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs die Idee dessen zu rücken, was außerhalb des Banns solcher Einheit wäre». 2 Dass sich die negative Dialektik auf das außerhalb des Systems Liegende also explizit in Form einer «Idee» bezieht, ist der Sache dieser Dialektik nicht nebensächlich. Und dass sie sich überdies gegen den Herrschaftsanspruch der Logik wendet, bedeutet daher auch nicht, dass sie ohne jede Logik verfährt. Es geht Adorno vielmehr darum, dem Systemdenken und seiner logischen Gestalt von innen heraus zu opponieren. Das Andere, das Außerhalb des Systems, ist noch nicht das Hoheitsgebiet der dialektischen Philosophie; deren Anspruch auf dieses Gebiet muss insofern die Gestalt einer Idee annehmen, deren Platz im Ganzen noch durch die Ordnung des Systems vorgegeben ist. Dieses Verhältnis zum kritisierten Systemdenken formt den Erkenntnisgehalt dialek‐ tischer Systemkritik wesentlich mit. Wollen wir diesen Gehalt bei Adorno verstehen, müssen wir darum zunächst verstehen, inwiefern der Gehalt der <?page no="38"?> 3 Ein weiterer Grund, Adornos Antisystem im Zuge einer systematischen Lektüre gegen den Strich zu bürsten, besteht darin, dass sein Denken aufgrund einer unleugbaren Kohärenz ‹systematische› Züge aufweist, die dem Gesagten grob zuwiderläuft. Jede aufmerksame Adorno-Lektüre führt das vor Augen. Wie aber wären diese systemati‐ schen Züge des Antisystems zu rechtfertigen, wenn nicht als Ausdruck eines Selbst‐ verhältnisses der zu kritisierenden Tradition? 4 Adorno, GS 6, 144. 5 Ibidem, S.-17. adornoschen Philosophie Ausdruck eben des dialektischen Verhältnisses von System und Systemkritik als solchen ist. Als das Überlieferte des adornoschen Denkens stellt dieser Gehalt einen bloßen Erkenntnisanspruch dar, der, wie jeder Anspruch, einer Prüfung bedarf, bevor er für bare Münze genommen und auf dem Markt der Theorien gehandelt werden darf. Diese Anspruchsprüfung aber verlangt mit Blick auf Adorno, das Antisystem als einen Zusammenhang von Gedanken auszulegen, dessen Gehalt in jedem Moment noch auf das zu unterwandernde System rückbezogen bleibt. Adornos Antisystem ist daher sein eigenes Verhältnis zum System, keine abstrakte Alternative zum System, die mit der Tradition zu ‹vergleichen› und dann für philosophisch würdig oder unwürdig zu befinden wäre. 3 Wenn also Adorno dieser Tradition im Namen von Dialektik vorhält, sie entstelle das Nichtiden‐ tische durch Identifikation, dann impliziert das nicht, dass es die negative Dialektik irgendwo vermag, das Nichtidentische positiv auf den Begriff zu bringen. Wir dürfen nicht so tun, als ob die Philosophie des Nichtidentischen nicht von den Aporien betroffen wäre, die sie der gesamten philosophischen Tradition als deren Mangel vorhält. Vielmehr müssen wir in der Wende zum Nichtidentischen die Vollendung der selbstkritischen Reflexionsbewegung er‐ kennen, die diese Tradition trotz ihrer Mängel durchzieht. Dialektik ist für Adorno ‹nur› das Problembewusstsein, das stets von neuem die Möglichkeit aktualisiert, «gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben». 4 Ohne dieses Problembewusstsein wäre die Dialektik auch bei Adorno positiv zu nennen. Halten wir fürs Erste fest: Negative Dialektik agiert nicht abseits des kri‐ tisierten Systemzusammenhangs, sondern beschreibt ein systemimmanentes Verhältnis; dieses Verhältnis gelangt zur Darstellung als problembewusste Auseinandersetzung mit und durch Kritik an der «Allherrschaft» von Begriff und System. Insofern ist die negative Dialektik - in den Worten Adornos - das «konsequente Bewusstsein von Nichtidentität» 5 - wobei der Begriff ‹Nicht‐ identität› all dasjenige unter sich befasst, was dem kritisierten System aufgrund seiner Verfahrensweise äußerlich bleibt. Als dezidiert reflexive Auseinanderset‐ zung mit dem Systemdenken hat das Antisystem wie gesagt noch Teil an 38 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="39"?> 6 Ibidem. 7 Carl Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus, S.-9f. der Ordnungsvorgabe des Systems, das durch dialektisches Philosophieren bestimmt negiert werden soll. Es gilt daher im Folgenden, insgesamt das analoge (d. h. sowohl identische als auch nichtidentische) Verhältnis von Antisystem und System zu erforschen und zu explizieren - auch wenn die Art und Weise dieser Explikation dem antisystematischen Gestus des adornoschen Denkens scheinbar widerspricht. a) Über den Grundsatz: «Denken heißt identifizieren.» Einen Denkzusammenhang in Analogie zu einem System zu betrachten heißt, diesen Zusammenhang aus einigen wenigen Sätzen oder gar aus einem einzigen Grundsatz heraus zu begreifen und gleichzeitig zu wissen, dass der einheitlich dargestellte Zusammenhang die eigentliche Sache nicht erschöpfen wird. Wo aber, wenn überhaupt, fände sich nun ein solcher Grundsatz bei Adorno? Welcher Gedanke könnte das Zentrum seines Antisystems bilden? Ich behaupte: Der Satz «Denken heißt identifizieren» 6 bildet das Zentrum des negativ-dialek‐ tischen Antisystems. Vom Verständnis dieses Satzes, seines Gehalts und des Zwecks seines Einsatzes hängt viel, wenn nicht alles für das Verständnis der dialektischen Philosophie Adornos ab. Als Erstes soll deshalb versucht werden, ihn auszulegen. Zunächst wirkt der Satz grob vereinfachend. Denken sei gewiss mehr als nur mechanisches Identifizieren; Denken bedeute doch mindestens auch Un‐ terscheiden, Vergleichen, Negieren, Fragen, hypothetisch Erwägen, nicht zu vergessen Fürchten, Glauben, Hoffen etc. An dem Satz wird des Weiteren moniert, ihm liege ein äquivoker Begriff von Identität zugrunde. Es werde daraus nicht klar, welchen Begriff von Identität Adorno überhaupt meine; z.-B. das ‹Etwas-als-etwas-› oder das ‹Etwas-mit-etwas-Identifizieren›. Adorno ver‐ wische, meint etwa Carl Braun, hier wie sonst auch «den Unterschied zwischen einer logischen Notwendigkeit und einer (im weitesten Sinne) psychologischen Nötigung». Und: «Da», so Braun weiter, «der Versuch, die Unterdrückung des Besonderen als logisch notwendig aus dem Begriff des allgemeinbegrifflichen Denkens abzuleiten, scheitert, muß Adorno auf psychologische Vorstellungen ausweichen». 7 So glaubt man, durch den Nachweis mangelnder analytischer a) Über den Grundsatz: «Denken heißt identifizieren.» 39 <?page no="40"?> 8 Vgl. z. B. Herbert Schnädelbach, «Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno», in: Ludwig von Friedeburg/ Jürgen Habermas (Hg.), Adorno- Konferenz 1983, S. 66-93, hier: 69. Kritik an Schnädelbach u. a. übt diesbezüglich Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 138ff. Die treffende Bemerkung Sommers ist zu unterschreiben, wonach die Kritik des adornoschen Identitätsbegriffs oft selbst unfreiwillig simplifizierend verfährt. Diese Simplifizierungen seien «nicht einem Mangel, sondern einem Überschuss an Differenziertheit geschuldet, zumal einer Differenzierung verschiedenster Formen der Identität, die zwar in sich selbst schlüssig sein mag, aber für die Interpretation von Adorno nicht fruchtbar gemacht werden kann, weil sie nicht in Auseinandersetzung mit Adorno gewonnen, sondern abstrakt gegen ihn vorgebracht wird». Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 138. Differenziertheit mit dem Satz und mit der diesem impliziten Dialektik fertig zu sein. 8 Aber dem Satz geht es weder um eine Theorie der Identität noch geht es um eine psychologische Erklärung dessen, was Denken ist und tut. Vielmehr soll mit dem Satz ein Reflexionsgeschehen zur Schau gestellt werden, das dem Gesagten seinen kritischen Sinn verleiht - ohne den er tatsächlich nur simplifizierend und belanglos wäre. Dieses Reflexionsgeschehen und seine gezielte Zurschaustellung im Text der Negativen Dialektik gilt es nachzuvoll‐ ziehen. Danach erst kann das Reflexionsmodell konturiert werden, kraft dessen dieses Reflexionsgeschehen seine Verbindlichkeit als Kritik der philosophischen Tradition erlangt. Der Satz «Denken heißt identifizieren» stellt zur Schau, dass er selbst als eine bereits vollzogene Identifikationshandlung in Betracht zu ziehen ist. Identifiziert worden ist das Denken als Denken und dabei als Handlung des Identifizierens. Der Satz «Denken heißt identifizieren» ist streng genommen also eine Tautologie; er beschreibt eine Identifikationshandlung, die sich selbst als Identifikationshandlung thematisiert und urteilsförmig darstellt. Diese selbstdarstellende Identifikationshandlung ließe sich auf verschiedene Weisen nachvollziehen: Zum Beispiel könnte man den Satz mit dieser oder mit jener Identitätskonzeption kurzschließen; der Satz könnte sogar die Komplexität eines Traktats über Identität annehmen und alle möglichen Operationen des Denkens ausdifferenziert zur Darstellung bringen. Jedes Mal aktualisierten wir aber nur auf verschiedene Weise diese eine Identifikationshandlung. Die Verschiedenheit möglicher Vollzüge des Identifizierens spricht also nicht gegen die Einfachheit des Grundsatzes «Denken heißt identifizieren». Denn der Satz besagt in jedem Fall: Die Einfalt des Identifizierens liegt aller möglichen Ausdifferenzierung des Identifizierten voraus und zugrunde. Die nachfolgenden Sätze im Text der Negativen Dialektik erläutern den Befund nun dahingehend: «Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor 40 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="41"?> 9 Adorno, GS 6, S.-16. 10 Kant, KrV, A 230/ B 283; Hervorhebung C.M. 11 Wenn Adorno im Anschluss an die kantische Tradition also vom begrifflichen Denken spricht, dann ist damit immer das diskursive Denken im kantischen Sinne gemeint. Die adornosche Dialektik weicht, wie noch zu zeigen sein wird, im Grunde nirgends vom Zwei-Stämme-Modell Kants ab. 12 Adorno, GS 6, S.-17. das, was Denken begreifen will. Sein Schein und seine Wahrheit verschränken sich.» 9 Hier gilt es zwei Momente herauszustellen: Offenbar weiß das identifizie‐ rende Denken um eine mit jedem Akt des Identifizierens einhergehende, grund‐ legende Differenz: den Unterschied zwischen dem, «was Denken begreifen will», und dem, was überhaupt im Horizont seiner Möglichkeiten als begriffli‐ chem Denken liegt - kurz: um die Differenz von Anspruch und Erfüllung des begrifflichen Denkens. Adorno geht offenbar von einem diskursiven Modell des Denkens aus. Für Kant ist alles menschliche Denken diskursives Denken. Diskursives Denken ist solches, das zur «Erkenntnis durch Begriffe» 10 gelangen muss und sonst inhaltsleer bleibt. Begriffliches Denken aber bedarf, um nicht leer zu sein, der mindestens einmaligen Vermittlung mit der Sinnlichkeit. Die Theorie vom diskursiven Denken impliziert daher die Dualität der Erkenntnisstämme Sinn‐ lichkeit und Denken. Deren Unterschiedenheit, die nur im Horizont der Kritik vergegenwärtigt werden kann, bildet den Erkenntnisgrund jeglicher reflexiv beanspruchten synthetischen Einheit. 11 Das diskursive Modell besagt also: Um als Mensch überhaupt ‹etwas› und nicht nichts denken zu können, muss dieses Etwas begrifflich vermittelt sein. Nun kann das Denken den Unterschied zwischen dem, was es notwendig zu leisten beansprucht, und dem, was es leisten kann, begrifflich benennen (identifizieren). Aber es hat dadurch die unterschie‐ denen Glieder eben gerade nicht als Unterschiedene (d. h. als voneinander unabhängige, zufällig zusammengetretene Glieder) identifiziert. Wenn nämlich die Selbstidentifikation des Denkens bedeutet, der Scheinhaftigkeit der Identität von Begriff und begriffener Sache gewahr zu werden, dann bedeutet dies, des grundlegenden Mangels des identifizierenden Denkens innegeworden zu sein. Diese Not lässt sich nicht unmittelbar in eine Tugend verwandeln; denn der Mangel besteht ja darin, dass die Identifikation dessen, was identifiziert werden sollte, notwendig den Schein eines Einerleis von Verschiedenem produziert und infolgedessen am Ziel, das Verschiedene als solches zum Ausdruck zu bringen, scheitert. Schein und Wahrheit verschränken sich insofern in der begrifflich gefassten Identität von Verschiedenem. Adorno: «Der Schein von Identität wohnt […] dem Denken selber seiner puren Form nach inne.» 12 Das macht den a) Über den Grundsatz: «Denken heißt identifizieren.» 41 <?page no="42"?> 13 Adorno, GS 6, S.-153. Schein jedoch nicht schon wahr. Der Satz «Denken heißt identifizieren» bleibt als das Mal des Scheiterns der Selbstidentifikation des Denkens und seines Scheins zu begreifen. Schein ist bei Adorno daher das eigentliche Thema der Dialektik, nicht Sein. So müssen wir sagen: Der zunächst naheliegende, letztlich aber fehlgelei‐ tete Einwand, dass der Satz «Denken heißt identifizieren» von mangelnder Komplexität ist, ist Ausdruck einer grundlegenderen Fehlinterpretation. Die Fehlinterpretation besteht darin, dass das vollzogene Geschehen der Selbstre‐ flexion - das hier die Einfalt einer für das identifizierende Denken geltenden Bestimmung angenommen hat - nicht als reflexives Geschehen nachvollzogen wird. Der Satz wird stattdessen als Information über etwas, von dem selbstver‐ ständlich scheint, was es ist, interpretiert - über das Denken. Kurz, man erachtet den kritischen Grundsatz der negativen Dialektik als Erkenntnisgehalt einer traditionellen Theorie vom Denken - die als solche in der Tat mangelhaft wäre. Die These hier lautet dagegen: Der Grundsatz der negativen Dialektik ist nur als Erkenntnisgehalt einer kritischen Theorie des Denkens sinnvoll - einer Theorie, die von der Differenz zwischen Anspruch und Erfüllung des Denkens (und sonst nichts) handelt. b) Was heißt: kritische Theorie des Denkens? Es lohnt sich, Adornos Bestimmung traditioneller Theorie aus der Negativen Dialektik ins Gedächtnis zu rufen: «Traditionelle Theorie wähnt, das Unähn‐ liche zu erkennen indem sie es sich ähnlich macht, während sie damit eigentlich nur sich selbst erkennt.» 13 Traditionelle Theorie also macht Gegenstände sich und einander ähnlich, um sie begrifflich erkennen zu können. Nur vergisst sie darüber die Unähnlichkeit, die durch das Geschehen der Verähnlichung verdeckt wird, diesem Geschehen aber als dessen Bedingung logisch vorangeht und es also in reflexiver Erinnerung als vergessenes Implikat des Gleichförmigen überdauert haben wird. Traditionelle Theorie ist dadurch unmittelbar nur Ausdruck des begrifflichen Denkens und seiner eigenen Verfahrensweise; sie identifiziert nur - und vergisst darüber das Nichtidentische, das die Bedingung der Möglichkeit aller Identifikation darstellt. Traditionelle Theorie ist tautolo‐ gisch. Hiervon vermag sich eine kritische Theorie des Denkens dadurch abzuheben, dass sie sich - als Kritik des identifizierenden Denkens - darauf besinnt, dass noch der Satz «Denken heißt identifizieren» Ausdruck identifizierenden 42 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="43"?> 14 Kant, KrV, A 597/ B 625. Denkens ist. Auch dieser Satz identifiziert ja wie gezeigt etwas als etwas - konkret: Denken als Identifizieren. Aber wir müssen nun zugeben: Der Satz verfehlt sich selbst. Die besagte Tautologie einer sich selbst identifizierenden Identifikationsleistung offenbart ihren Mangel und damit denjenigen allen Denkens. Der Mangel allen Denkens besteht darin, in der innersten Zelle seiner Identität mit sich selbst auf etwas verwiesen zu sein, das nicht selbst Denken ist. Dabei bleibt es dem identifizierenden Denken aufgrund seiner Form notwendig verwehrt, dieses Etwas dem Gedanken zu integrieren: Sofort und unweigerlich wird dem Außerhalb des Denkens der Schein der Gedankenförmigkeit aufge‐ prägt, sobald dieses zum Gegenstand einer Identifikationsleistung geworden ist. Denn der Satz identifiziert das Denken ja gerade nicht an sich, wenn er denn zutrifft. Sein Timbre als kritischer Satz legt nahe: Das begriffliche Denken erfasst sich nicht ganz, wenn es sich selbst identifiziert. Der Satz stellt lediglich den Mangel des identifizierenden Denkens zur Schau, sich das Unähnliche ähnlich machen zu müssen. Adornos reduktionistische Bestimmung des Denkens als Identifizieren wan‐ delt sich auf den zweiten Blick zu einer indirekten, da negativen Bestimmung dessen, was Denken nicht ist, nicht tut und nicht integrieren kann. Diese negative Selbstbestimmung des Denkens besagt, dass das Einerlei, das das Denken durchgängig produziert, bloßer Schein ist und als notwendiges Implikat die Verschiedenheit mit sich führt. Als solche Selbstbestimmung des Scheins gelingender Identifikation dient die Bestimmung als Grundsatz negativ-dialekti‐ scher Reflexion. Adornos negativ-dialektische Reflexionslogik ihrerseits besagt: Wer die Scheinhaftigkeit der Identität im Zuge theoretischer Identifikations‐ leistungen nicht stets mit vergegenwärtigt, dem bleibt jede Erkenntnis des Gegenstandes versperrt. Im Zuge der grundsätzlich kritischen Selbstbestimmung des Denkens verschränken sich der kritische und der theoretische Zugang zum Gegen‐ stand ‹Denken›. Dass der diskutierte Grundsatz danach nicht mehr im Skopus einer traditionellen Theorie des Denkens stehen kann, bedeutet: Er bringt durch seine zur Schau gestellte Einfalt die, mit Kant zu reden, «elende Tauto‐ logie» 14 der unkritischen Theorie des begrifflichen Denkens auf den Begriff - sonst nichts. So steht der Satz vorneweg im Skopus einer kritischen Reflexi‐ onsstruktur, deren Bestimmtheit als kritische der Satz rückwirkend begründet. Damit aber verändert sich sein Sinn grundlegend. Er wird zum Grundsatz einer Reflexion, die den Übergang bloßer Theorie in Kritik anleitet. Anders gesagt: b) Was heißt: kritische Theorie des Denkens? 43 <?page no="44"?> 15 Kants selbst führt den Begriff ‹Erbfehler› in der «Transzendentalen Dialektik» der ersten Kritik ein, um den transzendentalen Schein der paralogistischen Seelenlehre zu kritisieren. Es sei, so Kant, merkwürdig, dass dieser Schein nicht wie bei den Antinomien zwei einander widerstreitende Urteilsgehalte provoziere, sondern «[d]er Vorteil […] gänzlich auf der Seite des Pneumatismus» liege. Dieser Vorteil könne aber «den Erbfehler nicht verleugnen […]», der darin besteht, «in der Feuerprobe der Kritik sich in lauter Dunst aufzulösen» - d. h., der hypostasierte Gegenstand eines Unwissens zu sein. Kant, KrV, A 406/ B 433. 16 Adorno seinerseits spricht von der «Erbsünde» der Philosophie. Die Erbsünde der Philosophie besteht darin, zwanghaft für die Identität Partei nehmen zu müssen, diese Not aber mit einer Tugend zu verwechseln. Vgl. folgende Stelle aus der Meta‐ kritik der Erkenntnistheorie: «Die Identität des Geistes mit sich selber, die nachmalige synthetische Einheit der Apperzeption, wird durchs bloße Verfahren auf die Sache projiziert und zwar desto rücksichtsloser, je sauberer und stringenter es sein möchte. Das ist die Erbsünde der prima philosophia. Um nur ja Kontinuität und Vollständig‐ keit durchzusetzen, muß sie an dem, worüber sie urteilt, alles wegschneiden, was nicht hineinpaßt. Die Armut philosophischer Systematik, welche die philosophischen Systeme schließlich zum Popanz erniedrigte, ist nicht erst ein Symptom von deren Zerfall, sondern teleologisch gesetzt von dem Verfahren selbst, das da schon bei Platon unwidersprochen verlangt, die Tugend müsse durch Reduktion auf ihr Schema demonstrierbar sein gleich einer geometrischen Figur.» Adorno, GS 5, S.-18. Der Satz trägt eine grundlegende Nichtidentität in den Identitätsanspruch des Denkens ein. Das heißt, in dem Grundsatz «Denken heißt identifizieren» drückt sich von vornherein ein anderes Interesse aus, als dasjenige zu sagen, was Denken ist und tut; nämlich das kritische Interesse des theoretischen Nachweises dessen, was das identifizierende Denken als solches gerade nicht zu sein bzw. nicht zu tun vermag, vielleicht aber einmal sein könnte, wenn es nur aus seinem ursprünglichen Fehler 15 der Verähnlichung von an sich Unähnlichem lernen würde. 16 Hieraus ergibt sich eine folgenreiche Konsequenz: Die Vorwürfe grober Vereinfachung an den Grundsatz der kritischen Theorie des Denkens sind falsch - und so falsch auch wieder nicht. Denn Adorno kann den Einwürfen das ganze Argument zugeben. Es geht ihm mit dem Satz «Denken heißt identifi‐ zieren» ja gerade darum, den Schein der Identität, der «dem Denken selber seiner puren Form nach inne[wohnt]», als unterkomplexe Beschreibung des Seins des Denkens auszuweisen. Der bevormundende Nachweis der Forschung, der Satz wäre stark vereinfachend, ist der Sache nach also nicht verfehlt; genau das soll ja zur Schau gestellt werden. Der Sinn des Satzes wird dadurch freilich verfehlt: Der Grundsatz der kritischen Theorie des Denkens zweckt auf das Zurschaustellen des Scheiterns seiner eigenen Identifikationsleistung ab. Er erklärt den besagten Urfehler allen Denkens zum Prinzip - zum Ausgangspunkt 44 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="45"?> 17 Den Begriff verwendet an entsprechender Stelle Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 222. Adorno selbst verwendet hierfür oft den aristotelischen Begriff des πρῶτον ψεῦδος. Vgl. z. B. Adorno, GS 6, S. 139. Die offizielle Definition des Begriffs passt übrigens sehr gut zu dem Vorwurf, den Adorno in seinem Namen gegen den Idealismus erhebt: «Proton Pseudos (πρῶτον ψεῦδος) bedeutet erste ‹Falsch‐ heit›, ‹Grundirrtum›. Als Terminus der aristotelischen Logik bezeichnet ‹P.P.› einen Beweisfehler: Folgt aus einem formal richtigen Schluß etwas Falsches, so muß eine falsche Voraussetzung vorliegen.» Matthias Gatzemeier, Art.: «Proton Pseudos», in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (online), Basel 2017. Denn Adorno betont immer wieder, dass die logische Schlüssigkeit idealistischer Argumente allein nicht deren Wahrheit verbürgt, sondern auch Ausdruck ihrer zugrunde liegenden Unwahrheit als einer Form des Identitätsdenkens ist. 18 Adorno, GS 6, S.-139. 19 Ibidem, S.-17. der begründeten Selbstkritik. Die negative Dialektik ist in ihren Identifikations‐ leistungen als identifizierende Theorie folglich insgesamt dazu bestimmt, die Reflexionsstruktur des seines notwendigen Mangels innewerdenden Denkens zur Schau zu stellen. Die negative Dialektik als verbindliche Darstellung dieser selbstkritischen Reflexionsstruktur zu begreifen, ist das Ziel der folgenden Ausführungen. c) Urfehler und Korrektiv Der Urfehler 17 des Denkens - der Grundtatbestand, der jedem Denkvollzug als Bedingung vorausliegt - besteht gemäß Adorno also darin, dass das Denken den nichtidentischen Gegenstand (zwecks seiner Denkbarkeit) begrifflich iden‐ tifizieren muss - dass also jede Identifikation eine Abstraktionshandlung voraussetzt, die uns denken lässt, «in der Bewegung der Abstraktion werde man dessen ledig, wovon abstrahiert ist». 18 Hiergegen verspricht nun die Dialektik, ein heilsames Korrektiv zu sein. Warum aber sollte dialektisches Denken geeignet dafür sein, den Urfehler des auf Identität geeichten Denkens zu korrigieren? Wodurch kann sich Dialektik von den nur identifizierenden Vollzügen der traditionellen Theorie abheben? Nun - Adornos Antwort lautet, dass die Dialektik deshalb den Urfehler des Denkens korrigieren kann, weil sie «das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität» 19 ermöglicht. Um diese Antwort besser zu verstehen, ist zunächst eine Bemerkung an‐ zuführen, die trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) ihres mündlichen Charakters wegweisende Bestimmungen für das Folgende enthält. Zu Beginn der 9. Vorlesung zur Einführung in die Dialektik vom 24. Juni 1958 stellt Adorno grundsätzliche Überlegungen darüber an, welcher Anlass uns eigentlich zu c) Urfehler und Korrektiv 45 <?page no="46"?> 20 Adorno, NaS IV 2, S.-121. dialektischer Philosophie nötige. Dabei werden sogleich einige Zentralmotive der acht Jahre später veröffentlichten Negativen Dialektik eingeführt. Es scheint geboten, die Argumentation in voller Länge auszubreiten und dann mit Blick auf die vorliegende Problematik zu rekapitulieren. Meine Damen und Herren, entsinnen Sie sich der Bestimmung, Dialektik sei der Versuch, das Nichtidentische, also diejenigen Momente, die in unserem Denken nicht aufgehen, gleichwohl im Gedanken zu ihrem Recht zu bringen, dann ist es offenbar, daß in diesem Satz selbst ein Widerspruch gelegen ist, das heißt, daß die Identität des Nichtidentischen, wenn man sie so einfach ausspricht, wie ich sie eben ausgesprochen habe, ein falscher Satz wäre. Das bedeutet nun eine Aufgabe. Die Dialektik könnte von diesem Satz her interpretiert werden als die Anstrengung, diese Paradoxie, die in der Situation des Gedankens überhaupt gelegen ist, zu bewältigen. Und es leuchtet ein, daß diese Schwierigkeit nicht bewältigt werden kann in einem einfachen Satz. Das ist eigentlich die Nötigung zu dem systematischen oder sich ausbreitenden Charakter, den die Dialektik insgesamt hat. Das heißt, die Paradoxie des Versuchs, den ich Ihnen also so nun charakterisiert habe, nötigt dazu, sich selbst zu entfalten, und in einem gewissen Sinn könnten Sie die Dialektik betrachten als einen einzigen, sehr weit ausholenden Versuch, durch die Entfaltung dieses Widerspruchs eine Aufgabe, die in der Lage der Erkenntnis selbst gegeben ist, doch zu bewältigen. Sie können diesen Gedanken am besten vielleicht dadurch in seiner Nötigung verstehen, wenn Sie sich klar machen, daß der paradoxe Ansatz […] seinerseits eine nicht bloß ausgedachte Paradoxie ist, sondern daß er eigentlich die Aufgabe von Erkenntnis überhaupt in sich schließt. 20 Das Argument verfährt in vier Schritten. (1) Es geht von einer «Bestim‐ mung» der Dialektik als des Versuchs aus, das Nichtidentische innerhalb des Gedankens zu seinem Recht zu bringen. Weil denken aber identifizieren heißt, verwickelt sich das Anliegen, das Nichtidentische innerhalb des Gedankens zu seinem Recht zu bringen, in einen Widerspruch, eine Paradoxie. (2) Die Paradoxie des Denkens besteht offensichtlich darin, dass das Nichtidentische identifiziert werden muss, obwohl es als solches (selbstredend) nicht identifiziert werden kann. Ein Satz von der Form ‹…ist das Nichtidentische› ist immer paradox, da er sich selbst negieren muss, um seinen Anspruch zu erfüllen. Der Satz identifiziert etwas als Nicht-Identifiziertes und ist damit per se, wie Adorno hier sagt, «ein falscher Satz». Denken qua Identifizieren scheitert daher not‐ wendig an dem eigenen Anspruch, etwas zu identifizieren. Müssen und Nicht- Können fallen beim Denken in eins. (3) Da die Dialektik dem Ziel verpflichtet 46 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="47"?> 21 Albrecht Wellmer nennt Adorno deshalb den «Anwalt des Nicht-Identischen». Vgl. Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt am Main 1985, S.-135-166. 22 Adorno, NaS IV 2, S.-121-122. bleibt, das Nichtidentische zur Geltung (Adorno: ‹zu seinem Recht›) zu bringen, erkennt sie eine «Aufgabe» darin, den Anspruch des Nichtidentischen gegen das identifizierende Denken zu vertreten. 21 Der erste Schritt zur Lösung dieser Aufgabe wird darin bestehen, den Grundwiderspruch des Denkens zu benennen und zu Bewusstsein zu bringen, wo er unterschlagen wird. (4) Um diese Aufgabe aber zu meistern, muss sich die Dialektik von dem Diktat der identifizierenden Satzform emanzipieren und zur vermittelnden Reflexion auf die identifizierte Sache übergehen, um so stets von neuem das erwähnte Paradox zu entfalten. Nur so könne das Denken dem Nichtidentischen zu seinem Recht verhelfen. Das Nichtidentische hat sich hiermit unversehens von einem bloßen Gehalt, dem je schon verpassten Gehalt identifizierenden Denkens, in eine ungelöste Aufgabe, die Aufgabe des dialektischen Denkens, zurückverwandelt. Adorno fährt an der zitierten Stelle wie folgt fort: Denn es leuchtet ein, daß Denken oder daß Erkennen eigentlich nur dort ein Erkennen ist, wo es mehr ist als das bloße Bewußtsein von sich selbst, wo es also auf ein anderes geht, wo es nicht bei der bloßen Tautologie bleibt. Wenn wir etwas erkennen wollen, dann wollen wir - wenn Sie mir das Schulmeisterlich-Geistreiche verzeihen wollen - etwas erkennen und nicht bloß bei der Erkenntnis stehenbleiben. Mit anderen Worten: Wir wollen über den Bereich unseres Denkens hinausgehen. Auf der anderen Seite aber wird dadurch, daß wir dies Etwas erkennen wollen, dies doch selber auch zu einem Moment unseres Denkens, es wird selber Erkenntnis, es wird selber eigentlich auch Geist. Erkennen heißt immer soviel wie: das, was uns fremd, unidentisch gegenübersteht, in unser eigenes Bewußtsein hineinzunehmen, gewissermaßen uns zuzueignen, zu unserer eigenen Sache zu machen. 22 Wieder zeigt sich die Gegenläufigkeit des Denkens: Um überhaupt etwas denkend zu erfassen, muss der Horizont des Denkens verlassen werden, um aber dieses zu erkennen, aber muss es diesem Horizont sogleich wieder integriert werden. Zunächst ist dabei festzuhalten, dass Adorno die Grundlinien seines Dialektik-Verständnisses hier wieder gezielt als Reflexion auf das Denken, oder genauer, auf die zuvor benannte «Situation» und «Aufgabe der Erkenntnis überhaupt» umreißt. Wir sollten dennoch nicht darüber hinweglesen, dass die vermeintliche Synonymität von Denken und Erkennen einen impliziten Zwischenschritt verschweigt. Dieser Zwischenschritt besteht im Austarieren der anfänglich in Anspruch genommenen Differenz von Denken und Erkennen. c) Urfehler und Korrektiv 47 <?page no="48"?> 23 Die Verschiedenheit von Denken und Erkenntnis geht auf Kant zurück. Kant schreibt: «Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei.» Kant, KrV, B 146. Vgl. dazu Gunnar Hindrichs, Art. «Denken/ Er‐ kennen», in: Marcus Willaschek/ Jürgen Stolzenberg/ Georg Mohr et al. (Hg.), Kant- Lexikon, Berlin/ Boston 2015, S. 381. Auf dem Unterschied von Erkennen und Denken fußt letztlich der Anspruch auf die ‹Transzendentalität› des Denkens. Vgl. Hermann Krings, «Erkennen und Denken. Zur Struktur und Geschichte des transzendentalen Verfahrens in der Philosophie», in: Philosophisches Jahrbuch 86 (1): 1979, S.-1-15, hier: 14. 24 Vgl. Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, S. 28ff.: Wagner definiert Reflexion (wie bereits erwähnt) als das «Beisichsein» des Denkens «im Modus der Rückkehr aus dem Außersichsein». Ibidem, S.-36. 25 Adorno, GS 6, S.-266. 26 Die Konsequenzen von Ibers Kritik wären vernichtend für Adorno: «Bei Adorno mündet die Kritik am identifizierenden Denken in ein soziologisches Funktionsdenken, das alles als gesellschaftlich vermittelt behauptet, ohne angeben zu können, worin diese Vermittlung besteht und in ein philosophisches Denken in Konstellationen, das Erkenntnis in ein unverbindliches Spiel transformiert, um sie so vor vermeintlicher Verwissenschaftlichung zu bewahren.» Christian Iber, «Kritik jeglicher begrifflicher Denken ist zwar anfänglich nicht dasselbe wie Erkennen, weil dem Denken die Objektivität von Erkenntnis nicht a priori garantiert ist. 23 Die Situation von Erkenntnis überhaupt ist durch den ‹anfänglichen› Widerspruch bestimmt, dass alle Erkenntnis, um nicht bloß objektloses Denken zu sein, ein anfäng‐ lich aus sich herausgetriebenes und herausgegangenes, dann aber zu sich zurückgekehrtes Denken - kurzum: reflexiv sein muss. 24 Sonst - ohne diese Gegenläufigkeit im eigenen Begriff (die untilgbare Spur von Andersheit im selbstgewissen Denken) - würde das Denken immer nur sich selbst erkennen, tautologisch bleiben. Der Widerspruch besagt deshalb letztlich: Denken muss auf etwas gehen, «was nicht selbst Denken ist» 25 - erst dann wird aus der Tautologie begrifflichen Denkens Erkenntnis. Diesen Schritt über sich selbst hinaus kann das notgedrungen tautologische Denken gemäß Adorno nur als Dialektik vollziehen. Aber diesen Schritt über sich selbst hinaus vollzieht das dialektische Denken seinerseits nur durch Kritik ihres eigenen identifizierenden Vollzugs. So stehen bei Adorno zuletzt alle dialektischen Vermittlungen im Horizont einer Selbstkritik des begrifflichen Denkens. Diese kritische Anfangsbestimmtheit der Dialektik ergibt sich bei Adorno aus der von ihrem Gegenstand ausgehenden «Nötigung», gegen die stets dro‐ hende Tautologie dasjenige, was nicht je schon Denken ist, als ein verpasstes Nichtbegriffenes irgendwie dennoch denkend auf den Begriff zu bringen und so das Telos der Erkenntnis zu erfüllen. Es ist daher verfehlt, mit Christian Iber in Adornos «Kritik am identifizierenden Denken» eine «Kritik am Anspruch auf wirkliche Erkenntnis zu sehen». 26 Das Gegenteil ist der Fall. Die Kritik am 48 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="49"?> Bestimmung einer Sache. Wie geht das? Zur Erkenntniskritik bei Adorno, Lyotard und Derrida», in: Mario Schärli/ Marc N. Sommer (Hg.), Das Ärgernis der Philosophie. Metaphysik in Adornos Negativer Dialektik, Tübingen 2019, S.-63-64. 27 Adorno, NaS IV 2, S.-21. Anspruch des identifizierenden Denkens verpflichtet sich dessen «Anspruch auf wirkliche Erkenntnis» und wäre sonst gegenstandslos. Es sollte nach Kant eigentlich unkontrovers sein, dass, so wie es bei Adorno der Fall ist, die Kritik eines Anspruchs eine Form der Parteinahme für die beanspruchte Sache darstellen kann. Genau das wird im exponierten Grundsatz ja auch getan. Der Urfehler des Denkens wird benannt, um ihn zu korrigieren, nicht um das Denken aufzugeben. Die Selbstidentifikation des identifizierenden Denkens tritt also in den Dienst des Anspruchs allen Denkens, im Einerlei der begrifflichen Ordnung das Verschiedene zu orten und zum Ausdruck zu bringen. Die Dialektik ergreift also nur deshalb gegen die identifizierende Logik des Denkens die Partei der Sache, um die Sache von dem Grundwiderspruch des Denkens zu befreien und diese mit dem Anspruch der Identität ins Reine zu bringen. Die Dialektik tilgt also auch bei Adorno diesen Grundwiderspruch nicht - etwa indem sie ihn in einer höheren Form von Erkenntnis auflöste; Dialektik bleibt hier ein Korrektiv, weil sie nicht mehr und nicht weniger als den alles Denken durchwaltenden Widerspruch als Widerspruch erkennt und festhält, nicht aber, weil sie eine göttliche Schau ermöglichte. So entfaltet sich die dialektische Begriffsarbeit Adornos als die begründete Selbstkritik des seines Mangels innegewordenen Denkens: Und diese Paradoxie, daß Erkennen gleichzeitig heißt, etwas in Identität zu über‐ führen, aber doch sich auf etwas beziehen, was nicht identisch ist, weil es sonst kein Erkennen wäre -, diese sonst unauflösliche Paradoxie nötigt eigentlich zu der Anstrengung des Begriffs, zu jenem Prozeß der sich entfaltenden Wahrheit ebenso wie des sich entfaltenden Denkens, den wir unter dem Namen «Dialektik» meinen. 27 Die Dialektik steht bei Adorno also ausdrücklich im Skopus der Selbstkritik identifizierenden Denkens. Das ist ihre ‹Definition›. Diese Definition lautet auf die Wechselbestimmtheit von Dialektik und Kritik. Kritik allein reicht nämlich nicht aus, um das Nichtidentische zu erkennen; die kritische Refle‐ xion des Denkens erfordert (zusätzlich zur Unterscheidung) die Beziehung des Unterschiedenen aufeinander und damit die Vermittlungstätigkeit der Dialektik. Das zeigt sich am Ende vor allem daran, dass die «Paradoxie», die die Dialektik zum Thema hat und zu einem System ausarbeitet, nichts als den Gesamtzusammenhang der Unterscheidungsverhältnisse bildet, die ihrerseits Thema der Kritik sind, nun aber dem identifizierenden Denken reintegriert c) Urfehler und Korrektiv 49 <?page no="50"?> 28 Die ursprüngliche Engführung von Dialektik und Kritik erfolgt also bei Kant. Vgl. u. a. explizit: 29 Vgl. die folgende Stelle aus der ersten Kritik: «Alle Mannigfaltigkeit der Dinge ist nur eine eben so vielfältige Art, den Begriff der höchsten Realität, der ihr gemeinschaftliches Substratum ist, einzuschränken, so wie alle Figuren nur als verschiedene Arten, den unendlichen Raum einzuschränken, möglich sind.» - Mit Blick auf den Raum als extensiv größenbestimmte Anschauungsform teilt sich das so mit: «Er [der Raum, C.M.] ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen.» Kant, KrV, A 25/ B 39. Vgl. dazu auch Gunnar Hindrichs, Zur kritischen Theorie, S. 12-45, hier: 26; sowie Abschnitt D/ 1 der vorliegenden Arbeit. 30 Die erkenntniskritische Gegenüberstellung von Grenzen und Schranken ist Kants Leibnizrezeption entsprungen, wurde danach aber (v. a. bei Hegel) gegen die Trans‐ zendentalphilosophie gewendet. Vgl. Kant, Prolegomena, AA IV, S. 250-357 [§57]; zum historischen Hintergrund: Hans-Friedrich Fulda, Art. «Grenze, Schranke», in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (online), Basel 2017. werden - als das ganzhafte Geschehen ihrer eigenen Vermittlungstätigkeit. Kann diese Reintegration aber gelingen? Gelingt es der Dialektik, durch rein‐ tegrative Identifikationshandlungen die Negationsverhältnisse in den unendli‐ chen Urteilsgehalten (das Unidentische, Nichtidentische, Nichtbegriffliche etc.) als solche in ihrer Negativität darzustellen? Gelingt es ihr, anders gefragt, in ihrer Selbstentfaltung das Ganze der Negationsverhältnisse final dem Gedanken zu integrieren? Offenbar ja, sofern wir bedenken, dass auch Adorno die Dialektik, wie Hegel, als die sich selbst entfaltende Wahrheit bezeichnet. Offenbar aber eben auch nicht, wenn wir den Titel Negative Dialektik ernst nehmen. Denn das Wort ‹negativ› besagt nichts anderes, als dass dies gerade nicht gelingt. Wahr ist die negative Dialektik folglich durch die Erkenntnis der Unwahrheit der positiven Dialektik. Die Form des Urteilsgehalts ‹das Nichtidentische› etwa, wodurch affirmiert wird, was dem Gedanken nicht identisch ist, legt davon Zeugnis ab, dass die Dialektik negativ wird nur als das Bewusstsein ihres eigenen Mangels. Und weil die Dialektik bei Adorno somit das paradoxe Bewusstsein eines Mangels artikuliert, tritt die Dialektik unweigerlich in die Nähe zu Kants Logik des Scheins. 28 Ein Gesamtzusammenhang von Negationen bildet nach Kant einen Gesamtzusammenhang von Einschränkungen. 29 Die Selbstkritik der Dialektik gibt diesen Einschränkungen einen objektiven Ausdruck. Der Begriff von dem Gesamtzusammenhang aller Negationen fällt aber mit dem Begriff der vollumfänglich ausgeprägten Beschränktheit des Denkens zusammen. Das Ganze ist ein Gehalt, der im Horizont einer transzendentalen Dialektik ein Grund zur Kritik darstellt. Er entpuppt sich ja als notwendiger, aber bloßer Schein. Die Schranke allen Denkens wird damit aber zur Grenze der dialekti‐ schen Selbstkritik. 30 Wenn Adorno die Dialektik gegen Hegel negativ nennt, 50 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="51"?> 31 Vgl. Adorno, NaS IV 4, S.-21; und ders., NaS IV 2, S.-27. 32 Vgl. Adorno, GS 6, S.-397-400. dann beruft er sich auf eine Grenze der Dialektik. Die Dialektik - der sich zum Ganzen aufspreizende Integrationsversuch - ist folglich als negative das arti‐ kulierte Selbstbewusstsein des Mangels des Denkens. Insofern, als Artikulation eines Mangels, ist die Dialektik die zu sich gekommene kantische Kritik, die sie gemäß Adorno bei Hegel zu sein beansprucht. 31 Fassen wir zusammen: Die Aufgabe der Erkenntnis ergibt sich aus ihrer «Lage» oder «Situation». Die «Lage der Erkenntnis» gibt die Bedin‐ gungen der Möglichkeit, die Grenzen sowie die Zweckbestimmtheit von Erkenntnis vor. Die Einlösung dieser Vorgabe durch das identifizierende Denken «nötigt» zur Korrektur durch Dialektik. Dialektik ist also die weitere Ausführung der Aufgabe des Denkens. Diese Aufgabe besteht darin, das Denken über sich hinauszuführen. Deshalb tritt die Dialektik, die die Ausführung der Aufgabe der Erkenntnis ist, notwendig in einen Verbund mit einer (Selbst-)Kritik der Erkenntnis. Diese Kritik hat die Grenzen der dialektischen Erkenntnis zu bestimmen. Sie zeigt damit auf, welche Momente in der Vermittlung dieser Vermittlung selbst geschuldet sind und welche der Sache selbst geschuldet sein könnten. Die «Selbstreflexion der Dialektik», 32 mit der das philosophische Hauptwerk Adornos schließt, ist die im Namen des Erkenntnisanspruchs erfor‐ derte Limitation des eigenen Anspruchs. Das ist die Paradoxie, die vom Titel des Buches Negative Dialektik benannt und entfaltet wird - die Paradoxie einer prinzipiell sich selbst durchkreuzenden Anspruchsbestimmtheit. d) Zur Topik der negativen Dialektik Aus der paradoxalen Anspruchsbestimmtheit der adornoschen Dialektik lassen sich einige systematische Konsequenzen ziehen. Diese ergeben sich aus Adornos epistemologischer Bestimmung der Aufgabe der Dialektik, wie wir sie soeben nachvollzogen haben. Diese Konsequenzen können anhand der vier Problem‐ gehalte der kantischen Reflexionsbegriffsverhältnisse nachvollzogen werden. Diese Gehalte werden in den entsprechenden Abschnitten des Hauptteils dann spezifiziert. In aller Vorläufigkeit seien sie hier aufgelistet: (i) Wie gezeigt, ergibt sich die Bestimmtheit von Erkenntnis bei Adorno we‐ sentlich aus der Beziehung des begrifflichen Denkens zu dem, was nicht selbst Denken ist. Wo diese Nichtidentität von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand nicht vorliegt, ist keine Erkenntnis. Denn alles Erkennen besteht darin, mehr als d) Zur Topik der negativen Dialektik 51 <?page no="52"?> 33 Adorno, GS 6, S.-144. 34 Vgl. Marc N. Sommer, «Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik», in: Zeitschrift für kritische Theorie, Vol. 17, H. 32/ 33, S.-136-154. nur eine Tautologie zu sein, darin, das dem Denken Nichtidentische in ein ur‐ teilsförmig darstellbares Verhältnis zur Identität des erkennenden Bewusstseins setzen zu können. Die Verhältnisbestimmung also, die die negative Dialektik durchgängig zum Gegenstand hat und auf die sie durchgängig reflektieren muss, ist das Verhältnis der Verschiedenheit, das sich in jeder begriffsförmigen Einerleiheit als notwendige Voraussetzung des Einerleis erweist. (ii) Die grundsätzliche Zweideutigkeit der Aufgabe aller Erkenntnis, dem Gedanken das Nichtgedankliche zu integrieren, beschreibt ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Denken und Gegenstand. Dieser Widerspruch soll im Namen des Erkenntnisideals der Einstimmigkeit von Denken und Gegenstand getilgt werden. Wie gezeigt, setzt Adorno die Hoffnung in die Dialektik, dass sie diesen Grundwiderspruch austarieren kann. Die Erkenntnisrelevanz der Dialektik hängt folglich davon ab, ob es ihr gelingt, diesen Widerspruch überall angemessen zu beurteilen, d. h., ob es ihr gelingt, das Nichtidentische so zu erkennen, dass es durch den Anspruch auf Einstimmigkeit nicht überformt wird. (iii) Die angemessene Beurteilung von Widersprüchen, wie sie jede Dialektik auf ihre Weise für sich zu leisten beansprucht, muss mit einer Selbstverortung der dialektischen Vernunft im Ganzen einhergehen. Diese Selbstverortung erfolgt bei Adorno in Gestalt topologisierender Analogien - der Rede von etwas, das innerhalb, und etwas, das außerhalb des widersprüchlichen Ganzen zu verorten ist. (iv) Die dreifach bestimmte Reflexion auf das Denken, im Zuge derer die Dialektik ihr Selbstverständnis als negative gewinnt, operiert nach Maßgabe eines zugrunde liegenden Leitgedankens, einer Leitidee, die den besagten Grundsatz («Denken heißt identifizieren») in eine regulative Forderung der Kritik verwandelt: der Reziprozität und Irreduktibilität von Form und Materie, d. i. der Unterschiedenheit unter gleichzeitiger Vermittlung des bestimmbaren Inhalts der Erkenntnis einerseits und ihrer Bestimmung andererseits. Mit anderen Worten: Die negative Dialektik beschreibt eine transzendentale Reflexion auf Form und Inhalt der dialektischen Erkenntnis. Und diese Reflexion muss überall Ausdruck des Vermögens sein, «gegen sich selbst zu denken», 33 da sonst die «Differenz in der Vermittlung» 34 von Form und Inhalt nicht geltend gemacht werden kann, auf der die negative Dialektik aber gegen die positive Dialektik beharren muss, um Bestimmtheit als eigenständige Dialektik-Konzeption zu erlangen. 52 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="53"?> 35 Adorno, NaS IV 1, S.-295. Dass anhand dieser vierfachen ‹Topik› das negativ-dialektische Reflexions‐ modell am Ende erschöpfend dargestellt sein soll, soll nicht darüber hinwegtäu‐ schen, dass dieser Darstellung ein Moment der Kontingenz anhaftet, da die vier Momente nicht so sehr auseinander entwickelt, als vielmehr von Kant übernommen sind. Hier muss aber gesagt werden: Zwar bezieht sich dieses Modell auf die Vorgabe der kantischen Urteils- und Kategorientafeln. Die vier Aspekte scheinen dennoch die systematische Bedeutung der negativen Dialektik zu erschöpfen. Wie also wandelt sich die Kontingenz der historischen Rückbe‐ zogenheit auf Kant in eine systematische Notwendigkeit? Die These lautet: Die Beantwortung dieser Frage ist das Thema der negativ-dialektischen Reflexion. Kant und Adorno dürften sich nämlich darüber einig sein, dass die Systematik der Philosophie als ein Set von Regeln zum angemessenen und verbindlichen (d. h. prinzipiengeleiteten) Umgang mit den uns zufallenden Anspruchsgehalten zu begreifen ist und ansonsten so dogmatisch bleibt wie irgendeine Lehre, die vorgibt, ihre Prinzipien gleichsam über eine intellektuelle Anschauung zu gewinnen, d. h. ohne deren Indirektheit, d. h. deren Funktion zur Kritik der Ansprüche anderer Denksysteme bemühen zu müssen. Die negative Dialektik ist insgesamt also als Vorschlag zum verbindlichen Umgang mit tradierten Anspruchsgehalten der Dialektik zu verstehen; und zwar insofern Adorno, wie gezeigt, tradierte Anspruchsgehalte darauf prüft, ob sie das Nichtidentische zu seinem Recht bringen können oder nicht. Infolgedessen wird deutlich, dass der systematische Gehalt der negativen Dialektik dann und nur dann Anspruch auf Verbindlichkeit erheben kann, wenn er sich zugleich als angemessener (d. h. kritischer) Umgang mit der Tradition bewährt. Kein Moment in dieser Vermittlungsstruktur von Dialektik und Kritik darf durch die Forschung zwecks der Behandlung des theoretischen Gehalts verdeckt werden. Die Systematik der negativen Dialektik nämlich so auszulegen, als würde im Namen der Dialektik ein ausgezeichneter Zugang auf ein Set überzeitlicher Regeln reklamiert - als würde der Widerspruch von Gedanken und Nichtidentischem nur ein «Herakli‐ teisches Urprinzip» 35 des Seins, und sei es des gesellschaftlichen, freilegen, hieße die Wechselbestimmtheit von spekulativer Relevanz und kritischer Wirksamkeit der Dialektik nicht genügend ernst zu nehmen. Diese ernst zu nehmen heißt: Dialektik als Kritik und Kritik als Dialektik nachzuvollziehen - mit der Konse‐ quenz, dass die Dialektik negativistisch und die Kritik durch ihre Negativität spekulativ relevant wird. Die vierfache Topik unseres Reflexionsmodells nähert das Denken Adornos also dem kantischen an, um es als Dialektik zu sich selbst kommen zu lassen. d) Zur Topik der negativen Dialektik 53 <?page no="54"?> 36 Adorno, NaS IV 4, S.-104. 37 Vgl. den Unterschied zwischen negativen und positiven Noumena als Unterschied zwischen dem, was «nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist» und dem «Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung». Kant, KrV, A 254/ B 307. Die Pointe der zwei Aspekte dürfte sein, dass der Begriff eines ‹negativen Noumenons› selbst ein positives Nou‐ menon darstellt, dass aber der eigentlich vorwiegende Sinn aller positiven Noumena, zumindest in der ersten Kritik, der negative ist, weil die positive Bedeutung der Noumena das Ausschlussverhältnis zur Sinnlichkeit affirmiert, folglich eine Grenzbe‐ stimmung darstellt (vgl. dazu Abschnitt C dieser Arbeit). Das kantische Denken sei nämlich, so Adorno in einer Kantvorlesung, ein Identitätsdenken wie alle Philosophie; aber es hebt sich zugleich von der übrigen Tradition ab, da es «auch ein Denken» sei, «das das Moment des Nichtidentischen aufs aller Nachdrücklichste zur Geltung bringen will. Es ist ein Denken,» so Adorno, «das sich nicht darin erschöpft, alles was ist auf sich zurückzuführen.» 36 Diese entscheidende Charakterisierung der kantischen Philosophie macht deutlich, dass Kant seine transzendentale Reflexion auf Form und Inhalt ebenfalls nicht unmittelbar als spekulatives Erkenntnisinstrument verstanden haben wollte. Transzendentale Reflexion stellt vielmehr eine indi‐ rekte Selbstkritik des spekulativen Denkens dar - im Namen des Ziels der Spekulation. Diese Selbstkritik ist nämlich das einzig adäquate Mittel, die un‐ vermeidliche Zweideutigkeit affirmierter Ausschlussverhältnisse (bei Kant: alle Anspruchsgehalte der Philosophie, deren Erfüllung nicht sinnlich verbürgt ist) nicht-amphibolisch darzustellen, d. h. nicht so, als ob die Bestimmungen, ‹nicht sinnlich verbürgt zu sein› und ‹das Nicht-sinnlich-Verbürgtsein› dasselbe be‐ deuteten. 37 Amphibolisch zur Darstellung gelangen besagte Gehalte ja in den kritisierten Lehren des Rationalismus und Empirismus. Diese verwechseln den Umstand, dass ihre Kerngehalte der sinnlich-verbürgten Erkenntnis entzogen und also Thema der Reflexion sind, mit Bestimmungen der Sache selbst. Die nichtamphibolische Darstellung von Reflexionsverhältnissen ist dagegen kein konkurrierendes, drittes Dogma, sondern nur die prinzipielle Darstel‐ lung tradierter und einander wechselseitig einschränkender Anspruchsgehalte. Das weitere Schicksal der Reflexionsbegriffe nach Kant vorwegnehmend, ge‐ winnen diese Verhältnisbestimmungen ihre systematische Funktion für die transzendentale Reflexion zunächst in Reibung mit historisch kontingenten Vernunftprodukten, indem sie zeigen, was an diesen Produkten bereits auf die Gesetzmäßigkeit der Vernunft vorverweist; während allein einer Kritik der Vernunft das Recht zufällt, die Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten der Vernunft zu thematisieren. Kritisch thematisiert werden können historisch kontingente Anspruchsgehalte dann, wenn sie auf Prinzipien der Vernunft zurückgeführt, die Prinzipien der Vernunft aber nicht mit den Prinzipien der Welt an sich 54 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="55"?> 38 Adorno, GS 6, S.-156. 39 Vgl. Gunnar Hindrichs, «Der Weltbegriff der Philosophie», in: Merkur 76 (854), 2020, S. 47-57, hier: 47: «Hegel ist als Kantianer zu begreifen, oder man begreift ihn überhaupt nicht.» verwechselt werden - d. h. innerhalb des Skopus der analytisch begründeten Vernunftkritik. In der Entwicklung nach Kant sind die Reflexionsgehalte von Einerleiheit und Verschiedenheit, Einstimmung und Widerstreit, Inneres und Äu‐ ßeres dann jenseits dieses Skopus wieder für erkenntnisrelevante Bezugnahmen auf das Sein gehalten und spekulativ in Anspruch genommen worden. Aus Sicht der adornoschen Philosophie aber muss man sagen: Solche Bezugnahmen durch Reflexion haben, trotz ihrer Verdienste als Erweiterungen des einmal kritisch eingeschränkten Horizonts, das Nichtidentische nicht mehr ins Recht zu setzen vermocht als das vorkritische Denken, weil sie von neuem das Ausschlussver‐ hältnis im ‹Nicht-Identischen› mit einer Gehaltsbestimmung verwechseln und so den kritischen Idealismus der Reflexionsverhältnisse in einen dogmatischen Idealismus zurückverwandeln. Wodurch das Vorgehen gerechtfertigt wäre, die negative Dialektik als eine prinzipiell verfahrende Anverwandlung der kantischen Reflexionsproblematik zu betrachten, wie sie uns ex datis in den vier Reflexionsbegriffspaaren vorliegt; denn Adorno konzipiert die negative Dialektik als Kritik der nachkantischen Dialektik und ihrer amphibolischen Inanspruchnahme der Reflexionsverhältnisse. Die hegelsche Dialektik nämlich verwechselt gemäß Adorno den Reflexionszusammenhang mit dem Ganzen; und die negative Dialektik erinnert sie daran, dass das Ganze der Reflexions‐ verhältnisse das Unwahre, d. h. nicht das Ganze an sich ist. Und so bildet sich die historische Zufälligkeit der dialektischen Topik im Zuge dieser Erinne‐ rung letztlich als eine systematische Notwendigkeit ab: Denn Notwendigkeit erlangen die Sätze des Antisystems als Resultate einer Anspruchsprüfung der traditionellen Dialektik. In den Worten Adornos: «Philosophisch bleibt die dialektische Bewegung als Selbstkritik der Philosophie.» 38 Die radikale Kritik an Hegels idealistischem Anspruch stellt also eine Selbstkritik der Dialektik dar, die folglich den Gehalt der hegelschen Dialektik innerhalb des Problemhorizontes kantischer Philosophie verortet, ohne den Gehalt der Dialektik als solchen preiszugeben. Nur die Funktion dieses Gehalts wird verändert: Statt final integrativ, wird die Dialektizität der Dialektik bei Adorno - eben wie bei Kant - an eine Selbstkritik der (dialektischen) Tradition rückgebunden. Wenn Dialektik tatsächlich nur die zu sich gekommene Kritik, Hegel also noch als absoluter Idealist ein verkappter Kantianer geblieben ist, 39 dann wäre dem dialektischen Denken auch jede andere Verfahrensweise als eine strikt negative d) Zur Topik der negativen Dialektik 55 <?page no="56"?> 40 Negative Dialektik ist also die Selbstkritik der (hegelschen) Dialektik. Insofern ist Adorno Hegelianer - und Kantianer. Dies ließe sich entwicklungsgeschichtlich dar‐ legen, insofern der adornosche Nachweis der Dialektizität der Erkenntnistheorie (seine Metakritik) eine Anwendung hegelschen Denkens auf diese beschreibt, ohne damit dem Idealismus in die Arme zu fallen. Vgl. z. B. das Kapitel «Zur Dialektik der erkenntnistheoretischen Begriffe», Adorno, GS 5, S. 130-189 und die Metakritik der Erkenntnistheorie überhaupt. Darin heißt es auf S. 186 mit Blick auf Husserl: «Hus‐ serl trachtet den Subjekt-Objekt-Dualismus zu versöhnen, nicht, indem er einfach Objektivität auf Subjektivität reduziert, sondern indem er den Gegensatz selbst in ein Umfassenderes - bei Hegel heißt es ‹Geist› - tendenziell hineinnimmt; und bei beiden [! ] konstituiert dies Umfassendere sich doch wieder schließlich subjektiv; beide sind, in aller Anstrengung um die Andersheit, Idealisten.» ‹Idealisten› - das sind für Adorno offenbar diejenigen, die die Erkenntnisdualität nicht als Index der Beschränktheit von Erkenntnis hinnehmen, sondern die «Not» der Erkenntnis (den objektiven Zwang zur Reflexion auf diese Dualität) zur Tugend des phänomenologischen Zugriffs erklären. untersagt - und Adorno wäre sowohl der konsequenteste Kantianer als auch der konsequenteste Hegelianer. Auch wo also Adorno Hegels Kritik an der Reflexionsphilosophie im Namen der Dialektik zu bestätigen scheint - die dialektische Kritik Adornos bleibt we‐ sentlich erkenntniskritische Reflexion. Diese erkenntniskritische Grundanlage der negativen Dialektik ist das, was sie am Ende von einer positiven Dialektik differenzieren soll. 40 Daraus ergeben sich zwei wegweisende Konsequenzen für unseren Ansatz: Zum einen ist das Reflexionsmodell der negativen Dialektik nicht als überzeitliche Struktur zu betrachten - weder ‹des Seins› noch ‹des Denkens›, sondern als momentan notwendige Ordnungsvorgabe der Tradition. Zum anderen ergibt sich hieraus unmittelbar die Notwendigkeit, die historische Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells anzuerkennen. 56 1. Das Reflexionsmodell der negativen Dialektik aus systematischer Perspektive <?page no="57"?> 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells Der Begriff der Reflexion ist spätestens seit Kant und Hegel ambivalent. Was Reflexion bedeutet, ist eindeutig zweideutig, könnte man sagen, da Reflexion in der jüngeren Geschichte der Philosophie changierend sowohl als Instrument der Erkenntnis wie als Instrument der Erkenntniskritik, in den einschlägigen ‹Re‐ flexionsphilosophien› sogar als beides zugleich angesehen wurde. Reflexion ist mit anderen Worten historisch zur systematischen Ambivalenz bestimmt. Diese systematische Ambivalenz ergibt sich ex datis aus dem Umstand, dass das Problem der Reflexion zwar eine alle historischen Diskontinuitäten über‐ greifende Kernproblematik der Philosophie darstellt, bei dieser kontinuierlichen Grundanlage aber das Thema gegenläufiger Interpretation wurde. Einen syste‐ matischen Begriff von Reflexion zu gewinnen, verlangt daher, die historisch gegebene Ambivalenz zum Prinzip aller Reflexion zu erheben. Nur so nämlich kann die negativ-dialektische Reflexion die Aufgabe der Erkenntnis erfüllen, sich verbindlich auf das Nichtidentische als das Verpasste der philosophischen Tradition zu beziehen. a) Eine historische Aufgabe? Die vorhin angeführte Stelle zur Aufgabe der Dialektik liefert ein ausgezeich‐ netes Beispiel für die historische Bestimmtheit des systematischen Gehalts der negativen Dialektik. Inwiefern Adorno von der Dialektik als einer «Auf‐ gabe» reden kann, der eine epistemologische Reflexion vorausgehen muss, wird nur verständlich, wenn wir diese Reflexion nicht als einen zeitlosen Akt gottähnlicher Kontemplation missverstehen. Es gilt stattdessen, den zeitlich situierten Sinn dieser Reflexion im unendlichen Unterschied zu jedem ‹Gott› zu verstehen. Wenn wir etwa die historische Situation der Dialektik (die bei Adorno eine Dialektik nach Kant, nach Hegel und nach Marx ist) nicht mitberücksich‐ tigen, werden wir auch des zeitlosen Gehalts dieser Dialektik nie habhaft - die genannte ‹Aufgabe› der Dialektik, das allen Vermittlungen nichtidentisch Bleibende zu seinem Recht zu bringen, bliebe damit nicht bloß unerfüllt - sie würde als Aufgabe gar nicht erst zu Bewusstsein gelangen können. So gilt es mit Navigante anzuerkennen, «dass Adorno sich nicht mehr im ortho‐ <?page no="58"?> 41 Adrián Navigante, «Antidialektik und Nichtidentität: Nietzsche», in: Richard Klein/ Jo‐ hann Kreuzer/ Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, S.-345-353, hier: 349. 42 Hegel, TWA 5, S.-181. 43 Hegel, TWA 3, S.-24. doxen Erfahrungsmedium der Dialektik bewegt». 41 Das Herausgetretensein aus diesem Medium entspricht dem Negativwerden der Dialektik. Die Rede von einer «Aufgabe» zeichnet das auf. Sie richtet sich gegen das Hauptanliegen der hegelschen Dialektik, die regulativen Gehalte der Vernunftkritik in speku‐ lative Funktionen zu verwandeln - und ergreift die Partei Kants. Denn Hegel versuchte, durch Dialektik der schlechten Unendlichkeit eines Erkenntnisideals entgegenzuwirken, das die Einlösung unserer höchsten Erkenntnisansprüche auf später, womöglich gar auf unabsehbare Zeit vertagt. In Hegels Wissen‐ schaft der Logik heißt es unmissverständlich: «Anderer Idealismus, wie zum Beispiel der Kantische und Fichtesche, kommt nicht über das Sollen oder den unendlichen Progreß hinaus.» 42 Die idealistische Dialektik Hegels ist dagegen konzipiert als die Einsprache gegen das perennierende Sollen, wobei diese Einsprache im Namen der Bezugnahme auf das Absolute im Hier und Jetzt erfolgt. Was seine Pointe zumal in der praktischen Philosophie (der Sphäre der Freiheit) erhält, ragt bei Hegel gleichwohl überall in den Bereich der Logik hinein, insofern die spekulative Dialektik bei Hegel nicht einfach die Aufgabe einer Vermittlung von Denken und Sein ausführt, sondern beansprucht, die Aufgabe im Zeichen des absoluten Wissens jederzeit schon erfüllt zu haben. «Das Wahre ist das Ganze» will zwar auch heißen: «Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.» Und infolgedessen gilt: «Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.» 43 Aber: Betrachten wir das hegelsche Absolute als die Totalität aller Vermittlungen, so gilt von dem sich vollendenden Ganzen zugleich, dass jede Stufe seiner Vermittlungen bereits ein Teil des Ganzen ist. Durch die wechselseitige Verwiesenheit des Ganzen und seines Werdens bei Hegel wird es kein Ankommen beim Absoluten als dem ‹Resultat› seiner dialektischen Selbstentäußerung geben können; das Absolute als Resultat wird nicht plötzlich da sein und stillstehen - es wird stetig sich selbst als Werdendes. Die daraus resultierende, prozessuale Bestimmtheit des Ganzen beschreibt folglich eine Dialektik von Sein und Werden, die in keine Selbstkritik mehr eingespannt werden muss, um objektiv wahr zu sein. Denn: Das Entwicklungsgesetz des Absoluten drückt gerade sich selbst durch Hegel im Sinne der kreisrunden Geschlossenheit der Reflexion und ihrer Wahrheit 58 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="59"?> 44 Vgl. Hans Friedrich Fulda, «Das absolute Wissen - sein Begriff, Erscheinen und Wirklich-werden», in: Revue de Métaphysique et Morale 3, 2007, S.-313-337. 45 Adorno, GS 6, S.-207. als absolutes Wissens aus. 44 Alles in der Geschichte des Absoluten wird daher einmal so erscheinen, wie es sein soll - die Reflexion hat das nur zu erkennen und ihre Aufgabe wird sich als immer schon erfüllt erweisen; alles scheint hier in der Ordnung. Dagegen von einer Dialektik des Ganzen (der Totalität seiner eigenen endli‐ chen Entäußerungen) als einer Aufgabe für das Denken zu reden, die sich erst in unabsehbarer Zeit (wenn überhaupt) erfüllen lässt, hat nahezu nichts mehr mit der eigentlich hegelschen Dialektik-Konzeption gemein. Denn nichts ist in Ordnung, wo die Ordnung es selbst noch nicht ist. Die negative Dialektik wendet sich daher im Namen einer anderen Ordnung gegen den Anspruch, durch Dia‐ lektik das Absolute im Hier und Jetzt bereits reflexiv einholen zu können. Dass die Dialektik negativ und der Reflexion zur Aufgabe wird, heißt also, dass an‐ stelle einer sie beseelenden Möglichkeit die Unmöglichkeit im Bestehenden tritt. Adorno stellt der spekulativen folglich eine Dialektik-Konzeption entgegen, die im Namen der Unmöglichkeit, im Hier und Jetzt das Absolute als Gegenwärtiges zu affirmieren, wieder von der zukunftsgerichteten Offenheit einer unlösbaren Aufgabenstellung zehrt. Oder anders gesagt: Die nicht länger selbstgenügsame Einlösung des dialektischen Anspruchs wäre nicht mehr die Angelegenheit von Reflexion allein, sondern gleichbedeutend einer «Auferstehung des Fleisches», wie es der bilderlose Materialismus Adornos besagt. Dem Idealismus, der sich ein Bild vom Absoluten macht, ist dieser Gedanke, wie Adorno sagt, «ganz fremd». 45 Adorno wäre aber ein traditioneller Dialektiker zu nennen, wenn die Erfül‐ lung der historischen Aufgabe der Dialektik innerhalb der Geschichte antizipiert werden könnte. Der Schritt zur Bilderlosigkeit, der den Schritt zur negativen Dialektik bezeichnet (vgl. Abschnitt D/ 3 dieser Arbeit), hebt Adorno also noch von Marx ab. Zwar geht Adorno Marx’ Schritt über Hegel hinaus mit. Allerdings kann die Ausführung der Aufgabe der Dialektik bei Adorno nicht mehr durch eine Kritik der politischen Ökonomie erfolgen. Die Revolution ist für Adorno gescheitert und der aporetische Knoten der selbstkritischen Dialektik lässt sich folglich nicht mehr durch eine verändernde Praxis durchhauen. Denn dazu müsste es einen unmittelbaren Nexus zwischen Theorie und Praxis geben - sei es auch nur im Sinne der theoretischen Einsicht in das Primat letzterer. Die Konsequenzen aus den historischen Entwicklungen ziehend, schreibt Adorno a) Eine historische Aufgabe? 59 <?page no="60"?> 46 Ibidem, S.-15. aber: «Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Über‐ gang verhieß.» 46 Dass Adorno kein traditioneller, sondern ein kritischer Dialektiker ist, be‐ deutet mithin, dass der ganze Stolz des überlieferten dialektischen Wissens Adorno nicht mehr zum Stolz gereicht, sondern einen Mangel des Denkens indiziert. Die dialektische Vermittlung findet ihre Erfüllung nicht mehr in der Erschließung des Seins, sondern als Grenzbestimmung des Denkens. Daher wird das Nichtidentische nicht als Gehalt, sondern als Grenzbegriff der negativen Dialektik auszulegen sein (vgl. Abschnitt A/ 3). Die Dialektik weiß als negative nämlich, dass sie ihren Gegenstand nie ganz haben wird, solange sie auf die begriffliche Vermittlung desselben angewiesen ist. Die Nichtidentität in der Vermittlung gilt der negativen Dialektik daher nicht schon als objektiver Gehalt, sondern als inhibierendes Moment ihres eigenen Bestimmungsvollzugs. Heißt, die Berufung auf die Wirklichkeit der Vernunft im Namen der Dialektik hat ihre Legitimität eingebüßt - und zwar auch dort, wo dieses Urteil nicht als assertorisches, sondern als prospektiv-imperativische Bezugnahme auf die Wirklichkeit ausgelegt wird, im Feld einer ‹praktischen› Philosophie. Halten wir also fest: Trotz aller Anleihen bei Hegel und Marx und ihrer im Namen der Spekulation und der Aufhebung der Klassenverhältnisse vor‐ gedachten Kritik am kantischen Kritizismus bleiben die Gehalte von Adornos kritischer Theorie stets Funktionen seines durchgängigen Negativismus. Dieser Negativismus artikuliert den erkenntnistheoretisch fundierten Verdacht, der gegen die Geschichte der Dialektik auf das Recht des Nichtidentischen pocht. Negative Dialektik ist nur als Kritik an der dialektischen Vernunft möglich und folglich als begründeter Verdacht dialektischen Bewusstseins gegen sich selbst auszulegen. Sprechen wir in der Forschung vom überzeitlich-systematischen Gehalt der nachkantischen Dialektik, so müssen wir die Überzeitlichkeit des Gehalts daran messen, ob und inwiefern die Dialektik die Geschichte der Dia‐ lektik in Form deren Selbstkritik bestimmt zu negieren vermag. Das Verhältnis zur Geschichte ist der Systematik der negativen Dialektik nicht nebensächlich; es bestimmt diese im Innersten zu einer historischen Aufgabe. Die Aufgabe lautet, die Grenzbestimmung der traditionellen Dialektik zu vollziehen. Diesen Grundzug hat die negative Dialektik Adornos mit der kantischen Transzenden‐ talphilosophie gemein - beide erhalten ihre Bestimmung (im Gegensatz zum absoluten Idealismus) als Grenzbestimmung. Der Hauptteil dieser Arbeit entfaltet die These, dass das von Adorno vertre‐ tene Ideal dialektischer Vermittlung uns dazu anhält, die Unterscheidung als die 60 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="61"?> angemessene Beziehung von Verschiedenem aufeinander zu begreifen. Dieses negativistische Ideal von Vermittlung, so die These weiter, ist weder bei Hegel noch bei Marx vorgezeichnet, sondern bei Kant, genauer in dessen Theorie der Reflexionsbegriffe. Entsprechend gilt es zu zeigen, inwiefern die negative Dialektik zwischen Kant und Hegel, zwischen kritischer und dialektischer Vernunft so vermitteln kann, dass sie die Vermittlungstätigkeit der traditionellen Dialektik der topischen Funktion der Kritik ein- und unterordnet. Dialektik als reflexive Kritik heißt die Direktive, die uns den negativistischen Weg, den Weg Kants und Adornos, einschlagen lässt. Entsprechend treten im Zuge der kritischen Selbstreflexion der Dialektik bei Adorno Vermittlungsmöglichkeiten wieder hervor, die im Zuge der Umdeutung der Dialektik zur spekulativen Methode bei Hegel verschüttet worden waren. Vor allem aber kehrt sich bei Adorno der Stolz der idealistischen Reflexion in ihr Gegenteil; die Reflexionsverhältnisse gewinnen ihren die Erkenntnis einschrän‐ kenden Sinn zurück. Adornos Kritik der hegelschen Kritik der transzendentalen Subjektivität zielt darauf, zu einem Gedanken von Subjektivität zurückzufinden, der sich im Namen der Erweiterung seines Horizonts paradoxerweise der Selbst‐ einschränkung verschreibt. Bei Kant führt die Selbstreflexion der Vernunft zu einer ‹positivierenden› Selbstdarstellung ihrer durchlaufenen Momente, wäh‐ rend der Sinn und die inhaltliche Pointe dieser Darstellung stets negativ bleiben. Selbsterkenntnis geht als transzendentale mit Selbsteinschränkung einher - die Einheit der Vernunft ist bei Kant deshalb überhaupt nur als kritische zu haben, die ihr Selbstverständnis schon als entzweit ausdifferenziert haben muss, um sich selbst als ursprünglich synthetische Einheit zu fassen. Analoges will Adorno mit Blick auf die unter positiven dogmatischen Ansprüchen auftretende, traditionelle Dialektik zeigen; deren vermittelnder Erkenntniszugriff auf Unbe‐ dingtes und Absolutes soll im Namen der negativen Dialektik - im Namen des Unbedingten (und zum Preis der daraus resultierenden programmatischen Widersprüchlichkeit) - noch einmal letztgültig negiert werden können. Die Möglichkeit dialektisch-kritischer Vernunft hängt bei Adorno folglich an dem aporetischen Grundsatz, dass die Dialektik zwar erkenntnisfähig bleibt mit Blick auf Unbedingtes, als negative jedoch nur von spekulativer Relevanz ist, solange sie erkenntniskritisch wirksam bleibt. Anders ausgedrückt: Adornos Reflexion der Reflexion verneint das Resultat ihres eigenen Vollzugs. Ihre Wesensbestimmung als eigenständige Denkungsart ist deshalb gezielt ambivalent bis zur Widersprüchlichkeit. Nun könnte man meinen, diese Widersprüchlichkeit sei dasjenige, was der Dialektik ihre Objekti‐ vität verleiht. Aber Adorno betont: «Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionska‐ a) Eine historische Aufgabe? 61 <?page no="62"?> 47 Adorno, GS 6, S.-148. 48 Ibidem, S.-27. 49 Gemeint ist Kants Gedanke der «Realrepugnanz» im vorkritischen Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen von 1763 (vgl. Kant, AA II, S.-63- 204), der dann im zweiten Reflexionsbegriffspaar Einstimmung und Widerstreit der kritischen Vernunft vindiziert wird. 50 Adorno, GS 6, S.-378. 51 Ibidem, S.-144. 52 Vgl. ibidem, S.-397-400. tegorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache.» 47 Entsprechend ist noch die Dialektik zu solcher Konfrontation angehalten, wenn sie der Forderung der Reflexivität genügen soll. Das aporetisch ausgehende Reflexionsgeschehen gibt demnach die Methodenbestimmtheit der negativen Dialektik vor und bestimmt sie zur Selbstkritik. Denn wenn der Grundwiderspruch des identifizie‐ renden Denkens, das Nichtidentische identifizieren zu müssen, eine Begrenzung des Erkenntnisanspruchs im Namen des Nichtidentischen verlangt, dann ist nur ein negatives Selbstverhältnis der Reflexion letztlich dazu in der Lage, überhaupt ein Verhältnis zu ihrem Anderen, der Sache, herzustellen. Soll der Begriff die Sache nämlich durch seine eigene Widersprüchlichkeit treffen - und das muss er, weil Denken das Vermögen der Begriffe ist und Denken identifizieren heißt -, so ist das Denken zur Anstrengung angehalten, «über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen». 48 Adorno vindiziert also, wie schon Kant in anderem Zusammenhang, 49 die Erkenntnisrelevanz begrifflicher Negation, ohne diese durch eine wie auch immer geartete Positivität zu überformen. Angesichts der von Adorno freigelegten Erkenntnisrelevanz begrifflicher Selbsttranszendierung lässt sich nicht sagen, dass Adornos Dialektik ‹gut hege‐ lisch› oder ‹gut marxistisch› verfährt. Setzen wir nämlich den Maßstab beim Umstand an, dass die Dialektik ihre eigene Selbsttranszendierung darstellen muss, um eine spekulative Selbstreflexion zu vollbringen, dann gibt es gute Gründe dafür, nur in der «großartige[n] Zweideutigkeit» 50 von Kants trans‐ zendentaler Dialektik das Methodenideal zu erkennen, dem es mit Adorno gesprochen gelingt, «gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben». 51 Denn die transzendentale Dialektik misstraut der Vernunft an entscheidender Stelle - aus Vernunftgründen - und vergegenwärtigt so erst den bestimmungs‐ leeren Raum der Freiheit. Dieses kantische Ideal von Vernunftkritik leitet Adornos Differenzierung von der traditionellen Dialektik Hegels - will sagen die negative «Selbstreflexion der Dialektik» 52 - durchgehend an. 62 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="63"?> 53 Herbert Schnädelbach, «Dialektik als Vernunftkritik», S.-67. 54 Hegel, TWA 5, S.-69. b) Zur Selbstreflexion der traditionellen Dialektik Die Möglichkeit einer Distanznahme von Hegel durch dialektisches Denken bleibt indessen eine offene Frage. Fraglich bleibt zumal, ob die Differenzie‐ rung überhaupt gelingen kann, solange sie, wie es in der Forschung Konsens ist, in den Bahnen der hegelschen Dialektik verfährt. Herbert Schnädelbach hat die adornosche Dialektik deshalb als «das schwierige Unternehmen» be‐ zeichnet, «ein hegelkritisches Ziel mit hegelschen Mitteln zu erreichen». 53 Die negative Dialektik verschreibt sich hierfür, wie gesagt, zunächst dem kritischen Erkenntnisideal, wonach Unterscheidung die angemessene Beschreibung des Verhältnisses von Verschiedenem darstellt. Insofern ist sie dazu angehalten, im Zuge ihrer Vermittlungen die Reflexionsverhältnisse in Gestalt von Unterschei‐ dungen zu artikulieren. Die Dialektik sieht sich infolgedessen zur Kritik ihrer eigenen Reflexionsbewegung bestimmt. Selbstredend setzt eine solche Reflexionskonzeption sich dem Vorwurf aus, dass schon die traditionelle Dialektik auf den Nachweis der Differenz in der Ver‐ mittlung aus gewesen war und jede Berufung auf Nichtidentität dem Tradierten also nichts Neues hinzufügt. Nichts anderes würde ja «Vermittlung» bei Hegel schon heißen, als die «Unterscheidung und Beziehung von Verschiedenem aufeinander». 54 Um dennoch an der Möglichkeit einer Distanznahme von Hegel festzuhalten, gilt es, auf die Nuancen zu achten, die die negative Dialektik gemäß Adorno von der positiven unterscheiden. Dazu gilt es vor allem, den Sinn des ‹Und› in der Formel «Unterscheidung und Beziehung» nicht für selbstver‐ ständlich zu nehmen. Setzen wir aber noch einmal bei der Fraglichkeit an, die das Unternehmen einer negativen Dialektik im Ganzen kennzeichnet. Hier müssen wir feststellen: Das Negationsverhältnis, das zwischen negativer und positiver Dialektik be‐ steht, kann nur an der Begrenzung des Wissensanspruchs der Dialektik festge‐ macht werden. Die Differenz von Hegel ist nur durch erneute Erkenntniskritik möglich. Denn kein Maß an objektiver Negativität ließe sich gegen den Denker der Negativität einklagen. Das soll im Folgenden anhand einer Topologisierung der adornoschen Dialektik nach dem Vorbild der ersten kantischen Kritik veranschaulicht werden. Dabei spielt die spezifisch negativ ausgehende Wech‐ selbestimmtheit des dialektischen und des kritischen Motivs die entscheidende Rolle. Sie soll erhellen, was jede einseitige Betrachtung der adornoschen Philo‐ sophie unter kantischem oder hegelischem Gesichtspunkt gerade nicht erhellen kann: dass die negative Dialektik als eine ernstzunehmende Vernunftgestalt b) Zur Selbstreflexion der traditionellen Dialektik 63 <?page no="64"?> 55 Adorno, GS 6, S.-22. und Nachfolgefigur der Klassischen deutschen Philosophie begriffen wird, die alle notwendigen Konsequenzen daraus gezogen hat, dass sich das Projekt der Aufklärung nur noch unter Bewusstmachung der Ambivalenz von Aufklärung weiterentwickeln kann. Es gäbe zwar viele Möglichkeiten, die Ambivalenz der Aufklärung herauszustellen; und Adornos kritische Theorie ist gewiss berühmter dafür, dies mit Blick auf die Naturbeherrschung im Sinne einer Dialektik von Aufklärung und Mythos getan zu haben. Aber es zeigt sich überall, dass die radikale Selbstkritik der Vernunft auf die Methodenbestimmtheit einer einheitlichen Philosophiekonzeption zurückwirken muss, die ihr geschichtli‐ ches Selbstverständnis mit einem sachlichen Selbstverständnis engzuführen weiß. In dieser Engführung kann Adorno an Kant und Hegel anknüpfen, genauer daran, dass der Problemkomplex der Reflexion gerade die besagte Ambivalenz der Aufklärung zwischen Erkenntniserweiterung und -begrenzung zum Ausdruck bringt. Die Klärung der Frage, ob eine negative Dialektik eine gangbare philosophi‐ sche Methode darstellt, hängt folglich davon ab, ob wir die Gegenläufigkeit affirmierender und negierender Urteilsansprüche auch in einer anderen Den‐ kungsart vereinen könnten, die eine Alternative zum negativ-dialektischen Denken darstellt. Für Adorno jedenfalls scheint die negative Dialektik alterna‐ tivlos. Hinter dieser Behauptung der Alternativlosigkeit der negativen Dialektik steckt das folgende Argument: Alle Reflexion auf Seiendes ist qua Reflexion zugleich ein Argument gegen die schiere Möglichkeit, das einmal reflektierte Seiende noch unmittelbar als Seiendes zu benennen. Die negative Dialektik ist ein System der Reflexion, weil sie als Ontologie keinen Wahrheitsanspruch erheben kann. Was sie kann, ist die Gründe benennen, die der Reflexion ihren Wahrheitsanspruch verwehren. In Adornos Worten ist die Dialektik daher indirekt eine «Ontologie des falschen Zustandes» 55 zu nennen. Wie aber ist eine solche indirekte Ontologie möglich, wenn sie doch den eigenen Wahrheitsanspruch negieren muss? Anders gefragt: Wie können die Gehalte negativer Dialektik zugleich bestimmte Gehalte sein, die bestimmte An‐ sprüche auf etwas, zum Beispiel den gesellschaftlichen Gehalt philosophischer Begriffe, erheben, während sie die ontologische Relevanz ebendieser Ansprüche im selben Zug bestimmt negieren? Die Antwort, die dieses Kapitel entfaltet und auf den Prüfstand stellt, lautet: indem wir die Kerngehalte negativer Dialektik in Analogie zu einer transzendentalen Topik lesen. Mit Bezug auf unsere Fragestellung ausgedrückt, bedeutet das: Negative Dialektik ist - als Reflexionsgeschehen - in einem kritisch wirksam und spekulativ relevant. Sie 64 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="65"?> 56 Adorno, GS 5, S.-289. 57 Vgl. Adorno, GS 6, S.-19. 58 Adorno, GS 5, S.-258. 59 Adorno, GS 6, S.-144. nimmt damit am kantischen Vorbild Maß, was sich allem voran daran zeigt, dass sich die Zentralgehalte der negativen Dialektik nahezu wörtlich anhand der vier kantischen Reflexionsbegriffspaare erschließen lassen. Nicht wegzudenken bleibt zwar der Beitrag Hegels. Aber: Adornos negative Dialektik ist eben beides: Immer schon zwischen Kant und Hegel denkend, ist sie eine topische Reflexion auf die Grundbegriffe der Dialektik, die den Überstieg über den eigenen Begriffshorizont vollzieht. Um den objektiven Status subjektiver Reflexionsgehalte stritten sich die nachkantischen Idealisten. Bedeutete Hegels Philosophie etwa die Befreiung des subjektiven Gehalts aus seiner reflexiven Einschränkung durch den Aufweis der spekulativen Relevanz von Reflexion, so blieb den befreiten Reflexionsgehalten allemal der «Janus-Charakter» 56 eigen, der schon die Transzendentalphiloso‐ phie in ihrer «Paradoxie» ursprünglich kennzeichnete. Die ihr also geschicht‐ lich von Kant her zufallende Paradoxie ist dasjenige, was Hegels Philosophie gemäß Adorno überhaupt als Dialektik qualifiziert. 57 Daher ist die Dialektik, der Inbegriff der Hegelschen Philosophie, keinem methodi‐ schen oder ontologischen Prinzip zu vergleichen, das sie ähnlich charakterisierte wie die Ideenlehre den mittleren Platon oder die Monadologie Leibniz. Dialektik heißt weder ein bloßes Verfahren des Geistes, durch das er sich der Verbindlichkeit seines Objekts entzöge - bei ihm leistet sie buchstäblich das Gegenteil, die permanente Konfrontation des Subjekts mit seinem eigenen Begriff - noch eine Weltanschauung, in deren Schema man die Realität zu pressen hätte. So wenig die Dialektik der Einzeldefinition hold ist, so wenig fügt sie selber sich irgendeiner. Sie ist das unbeirrte Bemühen, kritisches Bewußtsein der Vernunft von sich selbst mit der kritischen Erfahrung der Gegenstände zusammenzuzwingen. 58 Das Ziel der Dialektik, die weder nur Kritizismus noch nur Ontologie noch nur Weltanschauung sein soll, ist es, das kritische Bewusstsein durch kritisches Selbstbewusstsein der Vernunft zu schärfen. Denn «Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen […]». Und: «wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen». 59 Adorno erhebt also die Undefinierbarkeit von Dialektik zu ihrem Definiens - Adornos Definition von Dialektik, dass in ihr das Denken gegen sich selbst anrennt, «ohne sich preiszugeben», beschreibt somit auch den Fluchtpunkt seiner Auseinandersetzung mit Hegel. b) Zur Selbstreflexion der traditionellen Dialektik 65 <?page no="66"?> 60 Adorno, NaS IV 4, S.-331; Hervorhebung C.M. Der gesuchte Ausweg aus der Dialektik der Aufklärung fällt nämlich mit der Selbstdifferenzierung der dialektischen Vernunft von Hegel in eins. So wie die These einer Dialektik der Aufklärung nämlich nur als eine im Namen der Aufklärung durchgeführte Kritik der Aufklärung Anspruch auf Wahrheit erheben darf, so ist Adorno Dialektiker zu nennen nur insofern er die im Namen der Dia‐ lektik (Hegels) durchgeführte Kritik der Dialektik (Hegels) zu leisten beansprucht. Diese damit einhergehende Differenzierung von Hegel ist offensichtlich nicht mit hegelschen Mitteln allein zu leisten. Adorno kann sich diesem Ziel nur über seine Kantbezüge annähern. Die Kantkritik Adornos ist nämlich getragen von der Einsicht, dass «die eigentliche Tiefe Kants» darin bestehe, daß […] gegenständliche Korrelate für das, was bei ihm das Transzendentale heißt, nicht gefunden werden können; daß aber auf der anderen Seite in der Konstruktion dieser ganzen Sphäre eine Nötigung waltet, der das Denken sich nicht entziehen kann; daß gewissermaßen in den ‹Fehlern›, die Kant begeht, der gesamte erkenntnistheore‐ tische Ansatz zu Protest geht. 60 Derart «zu Protest» geht nun eben auch der dialektische Ansatz bei Adorno. Dafür muss sich Adorno der Ursprünge spekulativer Gehalte in der reflexiven Kritik versichern. Denn es gilt, die dialektische Vernunft gerade angesichts der Zeit, die sie begreifen soll, ihres notwendig negativen Ausgangs zu versichern. Adorno konzipiert seine Dialektik daher als eine Form von Vernunftkritik - als Entfaltung erkenntnistheoretischer Paradoxien. Projiziert sie diese Paradoxie aber auf die Sache, verewigt die negative Dialektik die Negativität, die ihr zu begreifen aufgegeben ist. Halten wir fest: Durch die «Selbstreflexion der Dialektik» kann Adorno das Konzept einer dialektisch verfahrenden Erkenntniskritik ausbilden, die sich erst dann negativ vollzieht, wenn sie sich von der Selbstgenügsamkeit philo‐ sophischer Reflexion verabschiedet, ohne einen Standpunkt außerhalb des Reflexionsgefüges für sich zu reklamieren. Durch die Ambivalenz, aus der Immanenz der Reflexion heraus zu operieren, diese aber nicht für das Ganze zu nehmen, bestätigt sie einerseits noch einmal die spekulative Erweiterung der Transzendentalphilosophie durch Hegel - auch für die kritische Theorie sind die Aporien der Vernunft mehr als bloße Denkfehler (Adorno würde sagen: sie sind ‹ein Objektives›); als Grund zur Kritik bestätigen sie aber zugleich die erkenntnislimitative Reflexionskonzeption, sofern sich diese nicht a priori vom spekulativen Reflexionsmodell Hegels überformen lässt, sondern dazu dient, dieses Modell - unter analoger Grundanlage - global umdeuten zu können. 66 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="67"?> 61 Adorno, NaS IV 13, S.-136. 62 Kant, KrV, A 260/ B 316. So allein kann jene «Differenz» zwischen negativer und positiver Dialektik bestehen; sie ist eben nur als eine «Differenz ums Ganze» 61 zu legitimieren. c) Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe Eine transzendentale Topik weist philosophischen Begrifflichkeiten ihre Stelle im Gefüge von Sein, Begriff und Denken zu. Adornos Differenzierung von der positiven Dialektik erfolgt in Gestalt einer solchen Topik. Um diese These zu begründen, muss jene Operation ins Auge gefasst werden, die die Grundlage für die Möglichkeit einer systematischen Anverwandlung des historischen Gehalts der Dialektik liefert. Ich schlage wie einleitend erwähnt vor, Kants Konzeption transzendentaler Reflexion als diese Operation anzusehen. Was Kant unter Reflexion versteht, erhält zunächst aber eine rein negative Bestimmung. Die negative Bestimmtheit der Reflexion ergibt sich aus ihrer Unterschiedenheit zur sinnlich verbürgten, bewussten Erfahrung von Gegen‐ ständen. Dieser Unterschied besagt nach Kant: «Die Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen». 62 Das heißt, Reflexion ist nicht schon eine objektive Erkenntnis, auch wenn sie selbstverständlich auch bei Kant von objektiver Relevanz sein kann, sondern zuerst Selbsterkenntnis - kantisch gesprochen: eine bloß subjek‐ tive Erkenntnis. Wie gezeigt, gibt es die benannten zwei Arten subjektiver Erkenntnis - die historische und die prinzipielle. Das Reflexionsgeschehen des Amphiboliekapitels kann nun unmöglich bloß eine Erkenntnisleistung ex datis darstellen. Denn es zeichnet sich darüber aus, das Gegebene nicht einfach hinzunehmen, sondern es auf die Prinzipien der rechtmäßigen (weil nicht amphibolischen) Anwendung der Reflexionsbegriffe zurückzuführen. Die Lehre von den Reflexionsbegriffen artikuliert daher eine prinzipiell begründete «Ver‐ werfung des [ex datis, C.M.] Gelerneten» - konkret: des leibniz-wolffianischen Rationalismus sowie des lockeschen Empirismus. Die überlieferten Ansprüche werden zum Gegenstand der transzendentalen Reflexion. Eine transzendentale Reflexion ist eine, die im Gegensatz zur bloß logischen Reflexion ermitteln soll, woher der jeweilige Vorstellungsgehalt und der mit diesem einhergehende, objektive Anspruch stammt - aus der Sinnlichkeit oder dem Verstand? Die Pointe der Ursprungsfrage des Amphiboliekapitels besteht dann darin, zu zeigen, dass die Dogmatizität der dogmatischen Ansprüche der Rationalisten c) Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe 67 <?page no="68"?> 63 Martin Bunte, Erkenntnis und Funktion. Zur Vollständigkeit der Urteilstafel und Einheit des kantischen Systems, Berlin/ Boston 2016, S.-1. 64 Kant, KrV, A 271/ B 327. 65 Kant hält sich knapp in seiner Erklärung, wie diese Reflexionsbegriffe mit den zuge‐ hörigen Kategorienklassen zusammenhängen. Seine Ausführungen brechen nach den ersten beiden Paaren mit einem «u.s.w.» ab. Kant, KrV, A 262/ B 317. und der Empiristen auf einer Verwechslung (Amphibolie) der beiden möglichen Quellen der Erkenntnis beruhen muss. Hätten diese gesehen und anerkannt, dass, wie es zuletzt Martin Bunte ausgedrückt hat, «[d]ie Dualität von Subjekt und Objekt […] das Grunddatum aller Erkenntnis [bildet]», dann hätten diese gar nie vorgeben können, «der Dinge innere Beschaffenheit zu erkennen». 63 Sie hätten dann nämlich eingesehen, dass der transzendentale Unterschied von Erscheinung und Ding an sich die konstitutive Bedingung ihrer «intellek‐ tuierten» beziehungsweise «sensifizierten» Welten darstellt. Mit einem Worte: Leibniz intellektuierte die Erscheinungen, so wie Locke die Ver‐ standesbegriffe nach seinem System der Noogonie (wenn es mir erlaubt ist, mich dieser Ausdrücke zu bedienen) insgesamt sensifiziert, d. i. für nichts, als empirische, oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte. Anstatt im Verstande und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objektivgültig von Dingen urteilen könnten, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge an sich selbst bezöge, indessen daß die andere nichts tat, als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen. 64 Kant ergreift nun gegen die Ansprüche der dogmatischen Tradition die Partei der doppelt verwechselten Welt. Er zeigt auf, auf welcher Grundlage die Verwechslung des transzendental zu Unterscheidenden beruhen musste. Diese Grundlage ist nichts anderes als die bewusstgemachte, kategoriale Bestimmtheit der Erkenntnis als solche - der Umstand, dass wir überhaupt nur deshalb objek‐ tive Urteilsgehalte intendieren können, weil sich bestimmte Einheitsfunktionen abstrakt darstellen lassen, anhand derer eine Synthesis des Mannigfaltigen möglich ist. Bekanntlich führt deren abstrakte Darstellung bei Kant auf vier Kategorienklassen; und den vier Kategorienklassen entsprechen vier mal zwei (in Paaren angeordnete) Reflexionsbegriffe. 65 A. Einerleiheit und Verschiedenheit B. Einstimmung und Widerstreit - C. Das Innere und Äußere D. Materie und Form. 68 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="69"?> 66 Kant, KrV, A 268/ B 324. 67 Ibidem, A 263/ B 319. 68 Es gibt im Vergleich zur sonstigen Überfülle an Kantliteratur nicht viel Literatur zum Amphiboliekapitel - vgl. als Ausschnitt: G.H.R. Parkinson, «Kant as a Critic of Leibniz. The Amphiboly of Concepts of Reflection», in: Revue Internationale de Philosophie 35, 1981, S. 302-314; Rudolf Malter, «Reflexionsbegriffe», in: Philosophia Naturalis 19, 1982, S. 125-150; für eine umfassende Rekonstruktion Peter Reuter, Kants Theorie der Reflexionsbegriffe. Eine Untersuchung zum Amphiboliekapitel der Kritik der reinen Vernunft, Würzburg 1989; Béatrice Longuenesse, Kant et le pouvoir de juger. Sensibilité et discursivité dans l’Analytique transcendantale de la Critique de la raison pure, Paris 1993; vgl. auch Marcus Willaschek, «Phaenomena/ Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbegriffe (A235/ B294 -A292/ B349)», in: Georg Mohr/ Marcus Willaschek (Hg.), Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Serie Klassiker Auslegen 17/ 18), Berlin 1998, S. 325-352; neuer Melissa Zinkin, «Kant’s Argument in the Amphiboly», in: Valerio Rohden et al. (Hg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants (Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses), Berlin/ New York 2008, S.-845-856. 69 Marcus Willaschek, «Phaenomena/ Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbe‐ griffe (A235/ B294-A292/ B349)», S.-328. Diese vier Titel sollen die transzendentale Reflexion auf den Ursprung von Erkenntnisinhalten durchgehend anleiten. Kant nennt diese Reflexion, ange‐ sichts ihrer spezifischen Aufgabe, den Ursprungsort von Erkenntnissen zu ermitteln, eine transzendentale Topik. Darunter versteht Kant «eine Lehre, die das Denken vor den ‹Erschleichungen› des reinen Verstandes und den daraus entspringenden Blendwerken bewahren würde, indem sie jederzeit un‐ terschiede, welcher Erkenntniskraft die Begriffe eigentlich angehören.» 66 Diese Lehre kennt wiederum zwei transzendentale Orte - Sinnlichkeit und Verstand -, angesichts derer sich die benannten Reflexionsverhältnisse so konfigurieren lassen, dass darüber ermittelt werden kann, ob ein objektiver Anspruchsgehalt auf diese Konfiguration der Reflexionsverhältnisse gerechtfertigt werden kann oder nicht. Die transzendentale Topik ist also eine «Anweisung nach Regeln», mit der die Amphibolie der Reflexionsbegriffe aufgedeckt und der prinzipiellen Kritik ihres Anspruchsgehalts ausgesetzt werden kann. Kant lässt an der Wichtigkeit seiner Erwägungen an dieser Stelle keinen Zweifel: «Diese transzendentale Überlegung ist eine Pflicht, von der sich nie‐ mand lossagen kann, wenn er a priori etwas über Dinge urteilen will.» 67 Den‐ noch tut sich die Kantforschung bislang schwer, den Anhang der «Transzen‐ dentalen Analytik» als systematisch relevanten Teil der Kritik anzuerkennen und zu begreifen. 68 Mit Willaschek ist nach wie vor festzustellen, dass das Amphiboliekapitel «zu den dunkleren Abschnitten der Kritik [gehört]». 69 Die unleugbare Dunkelheit von Kants Lehre von den Reflexionsbegriffen vermindert aber keineswegs deren systematische Bedeutung für die kanti‐ sche und die nachkantische Philosophie. Folgen wir Adorno, ist diese Dun‐ c) Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe 69 <?page no="70"?> 70 Adorno, NaS IV 4, S.-104f. 71 Adorno, GS 5, 364f. 72 Adorno, GS 6, S.-148. 73 Ibidem. kelheit nämlich Teil der Sache selbst. Kants Konzept einer transzendentalen Reflexion musste sich nämlich zu einer Identitätsphilosophie und einer Nicht‐ identitätsphilosophie zugleich weiterentwickeln. Adorno nennt dies den «Dop‐ pelcharakter» oder «die Doppelorganisation der Kritik der reinen Vernunft». Die Doppelorganisation besteht darin, dass Kant «die Ungereimtheit auf sich» nehme, «auf der einen Seite zu sagen: von den Dingen an sich wissen wir überhaupt nichts; die Dinge sind etwas, was wir konstituieren, was wir durch unsere kategorialen Formen zustande bringen», andererseits «aber dann doch wieder zu sagen: unsere Affektionen rühren von Dingen an sich her[…]». Und gemäß Adorno werde «dadurch […]in dieser Erkenntnistheorie selber das Mo‐ ment des Nichtidentischen - also das Moment, das nicht in dem sich erschöpft, was bloß Geist, was bloß Vernunft ist - hereingenommen.» 70 Adorno eignet sich ebendiesen Doppelcharakter für seine eigene Philosophiekonzeption an; sie erst ermöglicht die Hereinnahme des Nichtidentischen in den Kreis der sich selbst analysierenden Identitätsphilosophie. Nur im Geiste der bewussten Zweideu‐ tigkeit einer selbstkritischen Verwendung spekulativer Begriffsbestände kann Adorno den Schritt mit Hegel über Kant hinaus mitgehen und Dialektiker sein. Sonst bliebe die Reflexion der Reflexion bei Adorno positiv und er könnte sich der Tradition nicht entringen. Adorno: Insofern [bei Hegel, C.M.] die Reflexion jeden Begriffs, regelmäßig verbunden mit der Reflexion der Reflexion, den Begriff durch den Nachweis seiner Unstimmigkeit sprengt, affiziert die Bewegung des Begriffs stets auch das Stadium, dem sie sich ent‐ ringt. Der Fortgang ist permanente Kritik des Vorhergehenden, und solche Bewegung ergänzt die synthetisch fortschreitende. 71 Durch Hegels Reflexionsmodell lässt sich das Grenzbewusstsein der Kritik folglich zwar veräußerlichen und zu einer kritischen Theorie ausbilden, die die beschränkte Verfasstheit der antagonistischen Welt durch deren Selbstreflexion kritisch spiegeln lernt: «Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese», schreibt Adorno von der Dialektik. 72 Nur zeigt sich, dass eine Veräu‐ ßerlichung der Vernunftwidersprüche zu objektiven Tatsachen im Horizont der negativen Dialektik nicht ungebrochen zu beanspruchen ist. «Mit Hegel […] läßt solche Dialektik nicht mehr sich vereinen. Ihre Bewegung tendiert nicht auf die Identität in der Differenz jeglichen Gegenstandes von seinem Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches.» 73 Die Brechung des theoretischen 70 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="71"?> 74 Adorno, GS 5, S.-350. 75 Vgl. Kant, KrV, A 262/ B 319. Blicks erfolgt durch Bewusstmachung einer ganz anders gearteten Koinzidenz von Identität und Nichtidentität, als sie von Hegel in Gestalt der absoluten Identität beansprucht wird. Diese Koinzidenz wandelt sich im Lichte der kanti‐ schen Zweideutigkeit der Reflexion von einem Bestimmungsgrund spekulativer Inhalte in einen Grund zum Argwohn gegenüber einem jeglichen, auf dieser Koinzidenz beruhenden Identitätsanspruch. Die Beargwöhnung des Identischen bedeutet mit anderen Worten, dass am rechten Ort in Adornos Hegelianismus das kantische Motiv der Erkenntnislimitation ins Spiel zu bringen ist. Denn die Reflexion der Reflexion Hegels ist ja, auch wo sie die «Kritik des Vorherge‐ henden» durch den Aufweis von Nichtidentität in der Identität vollzog, stets auch der letztgültige Nachweis der Identität im Nichtidentischen. Um also den Anspruch der Erkenntnis angesichts der Dialektik ihrer Begrenzung und Entgrenzung aufrechtzuerhalten, muss Adorno die Dialektik letztgültig davor bewahren, «durch Reflexion der Reflexion mit dem vorkritischen Bewußtsein gemeinsame Sache zu machen», 74 wie es in den Drei Studien zu Hegel unzwei‐ deutig heißt. Diese Eindeutigkeit der kritischen Bestimmtheit der Spekulation bei Adorno ist freilich, so die These, nur möglich aufgrund einer «objektiven Komparation» 75 dialektischer Reflexionsgehalte mit demjenigen, worauf ihr Anspruch zielt - kurz: im Zuge einer transzendentalen Reflexion auf die An‐ sprüche der dialektischen Vernunft. Anders gesagt: Negative Dialektik nimmt Gestalt an als kritische Anspruchsprüfung oder gar nicht. Sie prüft (und verneint als negative) den objektiven Geltungsanspruch der traditionellen Dialektik. Vor dem Hintergrund der am Übergang von Kant zu Hegel festzumachenden Ambivalenz dieses Konzeptes von Reflexion kann und soll im Folgenden dargelegt werden, inwiefern Adornos dialektisches Erkenntnisideal einerseits zwar noch im Fluchtpunkt der Entwicklung von Kant bis Hegel steht, sich andererseits aber gegen sich selbst als Resultat dieser Entwicklung kehren muss. Diese Umkehr erfolgt bei Adorno dadurch, dass die Geltung ex datis prinzipiell auf den Prüfstand gehoben wird. Adorno bestätigt mit seiner Pauschalkritik also den Vorschlag der Transzendentalphilosophie zum angemessenen Umgang mit jener Ambivalenz, indem auch er besagte Ambivalenz als Grund zur Kritik ihrer unzweideutigen Inanspruchnahme liest. Dialektik ist bei Adorno danach nur im Verbund mit der erkenntnislimitativen Funktion ihrer Selbstreflexion zu haben. Das Wort «negativ» in der Wendung «negative Dialektik» hat eine erkenntnis‐ kritische Konnotation - sonst beschriebe negative Dialektik nur eine Formel für einen dogmatischen Idealismus der Negativität. Diese erkenntniskritische c) Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe 71 <?page no="72"?> 76 Michael Theunissen, «Negativität bei Adorno», S.-47. 77 Adorno, GS 5, S.-180. 78 Ibidem, S.-151. 79 Adorno begreift das Paradoxon mit Blick auf Kierkegaard allerdings als «Verfallsform von Dialektik»: «Dialektik ist, als philosophische Verfahrungsweise, der Versuch, mit dem ältesten Medium der Aufklärung, der List, den Knoten der Paradoxie zu entwirren. Nicht zufällig war das Paradoxon seit Kierkegaard die Verfallsform von Dialektik.» Adorno, GS 6, S.-145. Tragweite negativer Dialektik wurde von der Forschung bislang kaum gesehen, was sich daran zeigt, dass die negative Dialektik vorwiegend als Aktualisierung der hegelsch-marxschen Dialektik unter veränderten historischen Umständen interpretiert wurde. Die Rückgebundenheit aller dialektischen Bestimmungs‐ gründe an das Geschehen der Kritik ist aber die Bedingung dafür, dass sich Adorno überhaupt verbindlich auf «das Negative der bestehenden Welt» 76 beziehen kann. Maßgeblich (anti-)systembildend wirkt daher das Verhältnis Adornos zum Kritizismus - auch wenn (oder gerade weil) sich Adorno bisweilen als harscher Kritiker des Kritizismus inszeniert. Denn: «Bei Kant sollte die Vernunftkritik verhindern, dass das erschütterte Dogma hinter dem Anspruch sich verschanzt, Erkenntnis zu sein.» 77 Zugleich wohne aber «im Zentrum des Kantischen Versöhnungsversuchs [von Erkenntnis und Kritik, C.M.] eine Paradoxie, zu welcher der unauflösliche Widerspruch sich zusammengezogen hat». 78 Diese Paradoxie rührt daher, dass das erschütterte Dogma, der Erkennt‐ nisgehalt der Tradition, bei Kant als Reflexionsgehalt des transzendentalen Idealismus konserviert bleibt. 79 Der Bestimmungsgrund der Inanspruchnahme von Negativität - daran ist mit Nachdruck zu erinnern - verlangt ebendiese Skepsis gegenüber allen Erkenntnisansprüchen, die sich intentione recta auf Negativität beziehen. Dieser Ansatz einer methodischen Skepsis ergibt sich aus einer Zuspitzung der problemgeschichtlichen These der vorliegenden Arbeit, wonach hinter Adornos Hegelkritik ein Kantbezug und hinter seinen Kantbezügen Hegels dialektische Kantkritik steckt. Dieser hermeneutische Chiasmus offenbart näm‐ lich die Methodenbestimmtheit der negativen Dialektik. Das dabei profilierte Reflexionsmodell Adornos ist durch jene Ambivalenz gekennzeichnet, die der Reflexion nur aufgrund ihrer geschichtlichen Bestimmtheit zufallen kann, ihren angemessenen Ausdruck aber in Gestalt einer neuartigen Systematik finden muss, deren wesentlicher Sinn darin besteht, im Namen der Geschichtlichkeit der Dialektik jede übergreifende Systematizität der Dialektik bestimmt zu negieren, zugleich aber einzusehen, dass die eigene Geschichtlichkeit auch nur über diese Negation von Systematizität in den Blick genommen werden kann, insofern also vorerst an das kritisierte System rückgebunden bleibt. 72 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="73"?> 80 Hegel, TWA 7, S.-26. 81 Adorno, NaS IV 2, S.-27; Hervorhebung C.M. Die Vorgabe Hegels, wonach eine Philosophie «ihre Zeit in Gedanken er‐ faßt», 80 gewinnt bei Adorno daher einen neuartigen Sinn. Das Bemühen der Immanentisierung transzendenter Ansprüche in den Horizont der Gegenwart wird von Adorno eigens als Index einer vergangenen Gegenwart erkannt und insofern noch einmal kritisch gebrochen. Dahinter steht die folgende Überlegung aus Adornos 2. Vorlesung zur Einführung in die Dialektik: Die eigentlich entscheidende Zumutung der Dialektik ist nun die, daß nicht etwa die Wahrheit in der Zeit oder in Gegensatz zur Zeit gesucht wird, sondern daß die Wahrheit selber einen Zeitkern hat, daß - könnte man sagen - die Zeit in der Wahrheit ist. Wenn nämlich die Wahrheit der positiven Dialektik einen Zeitkern besitzt, dann darf man sich nicht positiv auf diese berufen, als ob sie ein Set überzeitlich gültiger Regeln darstellen würde. Die Pointe der Überlegung Adornos besteht darin, dass die Geschichtlichkeit der Dialektik niemals direkt Inhalt der dialek‐ tischen Darstellung ihres Werdens werden darf, sondern immer nur intentione obliqua, d. h. über den Umweg einer reflexiven Kritik des formbestimmten Darstellens zu intendieren ist. Auch wenn diese Darstellung bei Kant und Hegel auf einen Begriff ihrer eigenen Geschichtlichkeit führt, wird der Begriff der Geschichtlichkeit dennoch stets nur als Funktion der Selbstkritik ahistorisch scheinender Denkformen zu verinhaltlichen sein. Entsprechend betont Adorno in derselben Vorlesung abschließend, «daß auch dieser Begriff [von Dialektik, C.M.] nicht vom Himmel gefallen ist», sondern «daß er vor allem in Kant selber steckt»; und er fährt fort: Sie können es überhaupt als eine Art Regel für das Verständnis der Problematik der Dialektik ansehen, daß eigentlich die Dialektik in einem eminenten Sinn die zu ihrem Selbstverständnis, zu ihrem Selbstbewußtsein gekommene Kantische Philosophie sei. 81 Der Zeitkern der Dialektik sprengt deren Funktion als bloßes Instrument zur Immanentisierung transzendierender Gedanken - und transzendiert damit den eigenen, durch Hegel vorgegebenen Horizont. Diese paradoxe Selbsttrans‐ zendierung durch Verinnerlichung schaut Adorno bei Kant ab, nicht beim positiven Dialektiker Hegel. Adorno, der nach den Subversionsbemühungen von Marx, Kierkegaard und Nietzsche in das Aufklärungsgeschehen eintritt, weiß nämlich darum, dass sein Vermögen, die Tradition zu kritisieren, eben der c) Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe 73 <?page no="74"?> 82 Adorno, GS 6, S.-22. 83 Adorno, NaS IV 1, S.-295. Tradition geschuldet ist, die er kritisiert. Die Zumutung von Adornos Dialektik besteht darin, den eigenen Zeitkern gerade in der Verschränkung von Zeit und Wahrheit erfasst zu haben. Ihr Wahrsein hängt folglich gänzlich daran, ob diese Dialektik als Kritik (an) der traditionellen Dialektik wirksam werden kann; nicht aber kann das Wahrsein der Dialektik davon abhängen, ob der Gang der Methode mit dem Werden der Sache übereinstimmt. Denn eine solche Übereinstimmung kann nur die Verwirklichung der Philosophie verbürgen. Nachdem diese aber faktisch scheiterte, gilt es, jede Übereinstimmung von Methode und Wirklichkeit zugleich als Anzeige der Beschränktheit unseres theoretischen Blicks zu interpretieren. Um den ambivalenten Wirklichkeits‐ bezug einer kritischen Theorie zu ermöglichen (will sagen: zu rechtfertigen), muss Adorno das Methodenbewusstsein der Dialektik an deren Ursprung aus dem Geist der Kritik erinnern. Nichts anderes als diese Erinnerungsleistung soll die negative Dialektik ermöglichen und vollziehen; ihr widmet sich die ganze Veranstaltung einer dialektischen Auseinandersetzung mit den Bezirken von Psyche, Gesellschaft und Kunst, wie sie uns als Ganzes von Adornos kritischer Theorie vorliegt. Adornos negative Dialektik ist daher Ausdruck sowohl der transzenden‐ talen wie der spekulativen Reflexionskonzeption. Damit stellt sie, trotz ihres scheinbar traditionellen dialektischen Verfahrens, eine entschiedene Linienver‐ längerung des kantischen Reflexionsmodells dar; auch im Reflexionsmodell Adornos ist die spekulative Relevanz der Dialektik (der Umstand, dass die Logik des Scheins den praktischen Begriff der Freiheit durch die transzendentale Konzeption vorbereitet) nur als Grund zur Kritik der konstitutiven Bedeutung ihrer Gehalte zu legitimieren. Als eine selbstanalytische «Ontologie des falschen Zustandes» 82 muss das dialektische Bewusstsein seine Erkenntnisvollzüge stets durch das Bewusstsein seiner Unangemessenheit begleitet wissen und also die Partei der Welt ergreifen gegen unsere besten Begriffe von ihr. Nur so bewahrt die aporetische Verfasstheit des Denkens die Dialektik davor, die eigene Ge‐ setzlichkeiten mit einem «Herakliteische[n] Urprinzip» 83 zu verwechseln. Die negativ-dialektische Reflexionslogik soll also nur im Bewusstsein ihrer eigenen Grenze ein Organon der Wahrheit genannt werden dürfen. Negative Dialektik ist ein Werkzeug zur verbindlichen Bestimmung dieser Grenze, das Nichtidentische darum ihr Zentralbegriff. Entsprechend verlangt ein systematisches Verständnis von negativer Dialektik einen klaren Begriff von der Wechselbestimmtheit von Dialektik und Kritik. Dialektik soll bei Adorno, kantisch gesagt, ein Kathartikon 74 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="75"?> 84 Vgl. die bereits in der Einleitung zitierte Stelle bei Brian O’Connor, Adorno’s Negative Dialectic, S. 15. Dazu mehr in Abschnitt D/ 2. - Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, dass der transzendentalphilosophische Grundzug nicht am Erfahrungsbegriff (also nicht wie bei Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung; Brian O’Connor, Adorno’s Negative Dialectic, S. 46, 76 ff.; Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-183-284; und Peter E. Gordon, «Adorno’s Concept of Metaphysical Expe‐ rience», in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S. 549-564) festzumachen wäre, sondern dass die Strukturbestimmtheit der negativen Dialektik als das Geschehen einer transzendentalen Reflexion begriffen werden kann und werden muss. Gegen Thyen und die Hauptlinie der Adornointerpretation ist zu sagen: Negative Dialektik liefert uns keine Theorie der Erfahrung des Nichtidentischen, sondern eine kritische Theorie davon, warum eine solche Erfahrung nicht möglich ist. Die Frage Wie ist negative Dialektik möglich? hat den Stellenwert dieser Unmöglichkeit für jede Theorie des Nichtidentischen zu bedenken. 85 Kant, KrV, A 260/ B 316-A 289/ B 346. sein: ein Mittel zur Korrektur jenes ‹stolzen› Anspruchs der traditionellen Dialektik, die Ontologie des richtigen Zustandes der Welt darzustellen. In dieser systematischen Blickrichtung gewinnt das ambivalente Verhältnis Adornos zu Kant Kontur. Die Kantbezüge Adornos ermöglichen Adorno, eine Systematik reflexiver Kritik zu entwickeln, die die Dialektik angesichts ihrer problemgeschichtlichen Bestimmtheit nach Hegel durch die Linse eines metho‐ dischen Negativismus bricht. Adornos Hegelianismus wäre gar nicht denkbar ohne diese systemformierende Funktion der Kantbezüge, d. h. ohne Aneignung transzendentalphilosophischer Grundmotive. 84 Diese Funktion, so die These, schlägt sich darin nieder, dass die negative Dialektik die Selbstverortung der traditionellen Dialektik im Gefüge von Vernunft und Wirklichkeit beschreibt. Entsprechend versucht dieses Kapitel, die Zentralgehalte negativer Dialektik anhand Adornos Kantinterpretation zu entwickeln; dies soll anhand einer Rekonstruktion der vierfachen Ausdifferenzierung der Reflexionsbegriffe im Amphiboliekapitel der Kritik der reinen Vernunft 85 erfolgen. Negativ-dialekti‐ sche Gehalte lassen sich folglich nach Kants vierfacher Ausdifferenzierung der Reflexionsbegriffspaare Einerleiheit und Verschiedenheit, Einstimmung und Widerstreit, das Innere und das Äußere sowie Form und Materie mit Blick auf das Vermögen, sich darin jeweils zu verorten, darstellen. Die Amphiboliethese, die Kant gegen die dogmatische Tradition intellektualistischer und sensualistischer Prägung richtete und sich darüber der Einheit der kritischen Vernunft versi‐ cherte, wird von Adorno analytisch gegen die traditionelle Dialektik wie gegen den undialektischen Dogmatismus idealistischer und materialistischer Prägung in Stellung gebracht. Den vier Reflexionsbegriffspaaren sind im Folgenden deshalb die einzelnen Abschnitte (A-D) gewidmet. Sie geben die Themen vor, anhand derer die systemformierende Funktion von Adornos Kantinterpretation c) Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe 75 <?page no="76"?> 86 Vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1978. Kontur gewinnt. Die transzendentale Reflexion auf den Erkenntnisanspruch der Dialektik führt bei Adorno auf den Grenzbegriff der Dialektik, den Begriff des Nichtidentischen (A) und einen revidierten Vorschlag zur angemessenen Inter‐ pretation des Widerstreits von Denken und Sache (B) und von dem indirekten, weil negativen Transzendenzbezug dieser Interpretation (C) schließlich auf einen bilderlosen Materialismus (D). Diese vierfache ‹Topisierung› soll die Wahrheit der Dialektik unter dem Aspekt ihrer Operationalität zur kritischen Selbstreflexion neu begründen. Reflexion nimmt als kritische das eigene Vermittlungstun in den Blick und prüft die Resultate, indem es diese verdichtet zu einem «Antisystem» zusammenstellt (vgl. zum Begriff des Antisystems zumal Abschnitt B/ 1). Damit soll es Adornos Denken möglich bleiben, dialektische Bestimmungen des falschen Ganzen nicht mit einer objektiv wahren Beschreibung des Ganzen zu verwechseln. Daran zeigt sich seine kantische Grundanlage. Konkret äußert sich die Anverwandlung der spekulativen Dialektik nämlich in einem veränderten Verständnis der Ge‐ schichte der Philosophie nach Kant. Die kantische Konzeption einer systematisch fundierten Selbstkritik der geschichtlichen Vernunft ist für Adorno daher kein durch die Geschichte der Dialektik widerlegtes Rudiment. Vielmehr agiert die sich kritisierende Vernunft noch im Skopus desjenigen Operators, der noch die spekulativen Gehalte der Dialektik bindet. Ist der Dialektik überdies auch bei Hegel eine ‹kritische Funktion› zuzusprechen, 86 gilt es umso mehr, danach von neuem wieder die Kritik als Möglichkeitshorizont der Spekulation zu begreifen. Die Selbstkritik der dialektischen Vernunft ist entsprechend dasjenige, was bei Adorno die spekulative Relevanz der dialektischen Vermittlung als Weg aus dem Bann des Einheitsdenkens heraus begründet. Adorno kann damit zeigen, inwie‐ fern eine spekulative Dialektik überhaupt noch vertretbar ist; sie soll als material angereichertes, erkenntniskritisches Verfahren legitimiert werden. Vertretbar ist die Spekulation daher nur noch als indirekte, sofern negative Darstellung des Wirklichen (vgl. den Schlussabschnitt D/ 3). Die oft gescholtene Abstraktheit der kantischen Reflexionskonzeption gewinnt so eine unvorhergesehene und bislang noch weitgehend ungesehene spekulative Dimension im negativistischen Wirklichkeitsbezug der kritischen Theorie. Darum das Lob der Zweideutigkeit, des Doppelcharakters und der Ambivalenz bei Adorno; diese Motive dienen dazu, im Zuge der Reflexion auf das Negative in der Welt das Negative nicht mit dem Gesamt des Möglichkeitsraumes zu verwechseln. Weil sich die Wirklichkeit als das Ganze aufspielt und sich dieses Ganze bislang nur durch Dialektik 76 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="77"?> 87 Bekanntlich hält Hegel Kant vor, zu zärtlich mit der Welt verfahren zu sein. «Es ist dies eine zu große Zärtlichkeit für die Welt, von ihr den Widerspruch zu entfernen, ihn dagegen in den Geist, in die Vernunft zu verlegen und darin unaufgelöst bestehen zu lassen.» Hegel, TWA 5, S.-276. 88 Der vielzitierte kantische Buchstabe könnte hier nicht deutlicher sein: «Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen.» Kant, KrV, B 25. dem Begriff integrieren lässt, muss der begrifflichen Vermittlung misstraut werden. Damit erweist sich der Rückgang zu Kant aber als eine conditio sine qua non der adornoschen kritischen Theorie. Die Beschränkung unseres Zugriffs auf den Wirklichkeitsraum soll den Möglichkeitsraum negativ erweitern. Der hegelschen Dialektik aber ist, soweit das zu überblicken ist, der Gedanke einer negativen Erweiterung unseres Wissenshorizontes völlig fremd. Folglich muss sich die negativ-dialektische Kritik am hegelschen Reflexionsintegral einen Möglichkeitsraum im kantischen Niemandsland des Intelligiblen offenhalten (vgl. Abschnitt C/ 3 dieser Arbeit). Die kantische Idee einer Grenzbestimmung dient Adorno dazu, innerhalb des dialektischen Immanenzzusammenhangs der Idee der Andersheit einen Platz einzuräumen. Der Negativist Adorno weiß: Die Möglichkeit, die Welt nicht bloß zu interpretieren, hängt davon ab, ob diese Idee der Andersheit einen Platz hat im Bestehenden: «Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.» Heißt aber: Die Antizipation, dass das Denken das Ganze begrifflich integrieren wird, verschwistert das kritische Denken zunächst mit den powers that be. Kritisch wird das Denken erst durch Reflexion auf die es durchdringenden Vorbedingungen sinnvoller Rede. Um also uneins mit den powers that be zu werden, muss die kritische Theorie eine Kluft zwischen ihrer praktischen und ihrer ‹Reichweite› als Theorie konzipieren können. Anders gesagt: sie muss sich auf Grenzbegriffe verstehen. Wie aber kann sie das, wenn beides zusammenfallen soll, das praktische und das theoretische Anliegen? Die Antwort der ersten Generation der kritischen Theorie lautete: Indem sie an einem dezidiert kantischen Begriff der Autonomie des theoretischen Subjekts festhält, das sich als handelndes wie als denkendes Subjekt stets noch selbst kritisieren kann. Autonomie bestünde nach Kant ja darin, sich bewusst für den ‹zärtlicheren› 87 Umgang mit der Welt zu entscheiden; den Bruch als solchen zwischen Denken und Welt also nicht einer Welt an sich anzulasten, sondern sich gerade davor zu hüten, ‹bloß› transzendentale schon mit meta‐ physischen Gehaltsbestimmungen zu verwechseln. 88 Keine kritische Theorie der Wirklichkeit ohne dialektisch fundierten, methodischen Negativismus - und vice versa. Denn die Differenzierung der Theorie von den Bedingungen c) Negative Dialektik als Kritik der Amphibolie der Reflexionsbegriffe 77 <?page no="78"?> 89 Adorno, GS 6, S.-40. 90 Vgl. Adorno, GS 10.2, S.-607. 91 Adorno, GS 6, S.-15; Hervorhebung C.M. 92 Ibidem, S.-385. des Bestehenden erst verschafft der kritischen Wissenschaft einen Platz im Gefüge der Wissenschaften, von dem aus so etwas wie Wissenschaftsfreiheit in philosophischem Sinne erst möglich wird. «Das Freie am Gedanken […]», schreibt Adorno, «repräsentiert die Instanz, die vom emphatisch Unwahren jenes Zusammenhangs schon weiß» - und meint mit ‹jenem Zusammenhang› «die zum System integrierte Wirklichkeit». 89 Die integrale Funktion des Antisystems ist deshalb zugleich die bestimmte Negation der ‹Unwahrheit› der verwalteten Welt (vgl. Abschnitt B/ 1) und damit «bestimmte Negation der jeweils konkreten Gestalt von Unfreiheit». Nur wo die bestimmte Negation der verwalteten Welt gleichsam ohne Synthesen affirmiert wird, kann die Dialektik in die «Freiheit des Denkens» 90 und damit in ein Konkretes überführen, das sich nicht mehr darin erschöpfte, ein bloßes Glied in der Kette seiner historischen Vorbedingungen zu sein. Mit anderen Worten: Bis zur Evidenz solcher nicht forcierter, freier Konkretheit ist die Philosophie, im Namen der intelligiblen Sphäre, in der sie nun - nach ihrer gescheiterten Verwirklichung - überwintern muss, dazu angehalten, «sich selber rücksichtslos zu kritisieren». 91 Zugespitzt: Negative Dialektik bleibt als Kritik der Transzendentalphilosophie eine Form der Trans‐ zendentalphilosophie, denn Transzendentalphilosophie ist in letzter Konsequenz nichts ohne den Vollzug der Selbstkritik. Sonst könnte sich die Dialektik nämlich ohne den Umweg des Negativen auf Intelligibles als ein bereits Konkretisiertes beziehen; das Wahre wäre dann aber auch für Adorno das Ganze, das Ganze nicht länger das Unwahre und die Veranstaltung einer negativen Dialektik überflüssig. Im Horizont einer transzendentalen Reflexion auf die Möglichkeit einer begrifflichen Vermittlung des Nichtidentischen lautet die Weisung der Negativität deshalb überall und jederzeit: «Nichtig ist Denken, welches das Gedachte mit Wirklichem verwechselt […].» 92 Adornos Philosophie wird im Folgenden darum als verbindliche Artikulation des Verhältnisses der Reflexionsbegriffe zu einander ausgelegt. Dialektik ist als negative eine kritische, keine ontologische Verhältniswissenschaft. Sie bezieht sich bei Adorno auf die Wirklichkeit durch begrifflich vermittelte Erfahrung, wobei die Vermitteltheit von Erfahrung nur bedeutet, dass diese Wirklichkeit im Namen einer anderen möglichen Wirklichkeit (durch bestimmte Negation des Bestehenden) zu erweitern ist; die Vermitteltheit aller Erfahrung ist bei Adorno also nicht gleichbedeutend der These, dass alle Erfahrung an sich begrifflich vermittelt sein muss. Dann wäre nämlich auch die negative Dialektik 78 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="79"?> 93 Die adornosche Position, dass Negativität einen erkenntniskritischen Sinn haben muss, wäre als die ‹kantische› Position in den gegenwärtigen Diskurs der kritischen Theorie einzubringen. In dem 2018 bei Suhrkamp erschienenen Sammelband Negativität. Kunst- Recht-Politik etwa scheint die Anspruchsprüfung nämlich gar nicht mehr Teil des Theorievollzugs zu sein. Vgl. die Einleitung der Herausgeber: «In ihrem spezifisch mo‐ dernen Verständnis lassen sich Kunst, Recht und Politik demnach so beschreiben, dass sie von einer radikalen Negativität gezeichnet sind: einem Moment der Unbestimmtheit oder einem inneren Widerstreit. Auf diese Weise erfasst der Begriff der Negativität aber nicht nur einen Strukturaspekt, sondern er charakterisiert zugleich eine Eigenart ihres Selbstbezugs oder ihrer Selbstreflexion.» Thomas Khurana et al. (Hg.), Negativität. Kunst-Recht-Politik, Berlin 2018, S. 34. Im Zeichen der Homologie von Reflexion und reflektierter Sache ist die Negativität - statt eine Irritation für das Denken und den Grund zur Selbstkritik darzustellen - zum bloßen Theoriegehalt geworden, die Zweideutigkeit der Dialektik also getilgt, indem sie vollständig auf die Sache selbst projiziert ist. Dieser Begriff der Negativität, der nicht derjenige Adornos ist, ist daher leicht als das Resultat einer Amphibolie der Reflexionsbegriffe zu erkennen. ein Idealismus. Negative Dialektik aber bezieht sich auf die Wirklichkeit, indem sie die Reziprozität der Reflexionsmomente als ein wechselseitiges Ausschluss‐ verhältnis, ein negatives Verhältnis begreift. Das heißt, die negative Dialektik kann insgesamt als These über den Sinn des ‹Und› in den Formulierungen der kantischen Reflexionsbegriffspaaren verstanden werden; diese Dialektik- Konzeption gewinnt dabei selbst Profil als Amphiboliekritik, d.-i. als Vorschlag zur angemessenen (d. h. erkenntniskritisch relevanten) Deutung der Negativität der Reflexionsverhältnisse. 93 d) Zwischenfazit Adorno erachtet die Dialektik als die zu ihrem Selbstbewusstsein gelangte kantische Philosophie. Ein wichtiger, im nachkantischen Sinn ‹dialektisch› zu nennender Grundzug dieser Philosophie besteht in ihrer Lehre von den Refle‐ xionsbegriffen - genauer darin, dass die Reflexionsbegriffe, um für diese Philo‐ sophie inhaltlich relevant sein zu können, in die Vollzugsdynamik der Kritik eingebunden werden müssen. Kants Lehre von den Reflexionsbegriffen hat sich nur im Zuge der kritischen Prüfung fremder, an die kritische Vernunft heran‐ getragener Erkenntnisansprüche artikulieren können. Diese Notwendigkeit der Einbindung in den Zusammenhang der Kritik ist dieselbe Notwendigkeit, mit der Kant seine transzendentalen Bestimmungen versieht. In den folgenden vier Hauptkapiteln wird untersucht, inwiefern Adornos Dialektik den an sie herangetragenen Erkenntnisanspruch der traditionellen Dialektik durch Anwendung solcher Reflexionsbegriffe zu einer systemati‐ schen Selbsterkenntnis erweitert - einer Selbsterkenntnis, deren Zweck in d) Zwischenfazit 79 <?page no="80"?> einer Grenzbestimmung des dialektischen Gesamtzusammenhangs aller Ver‐ mittlungen besteht. Diese Grenzbestimmung soll die Bezugnahme auf das Nichtidentische in den materialen Arbeiten des Autors möglich und inhaltlich relevant werden lassen. Sie konstituiert also gleichsam den Horizont dieser Arbeiten. Denn nur im Horizont dialektischer Selbstkritik kann der Gehalt von Adornos materialen Arbeiten überhaupt mit einem Anspruch auf objektive Notwendigkeit versehen werden, ohne selbst dieser Kritik und damit einem geistlosen Selbstwiderspruch zum Opfer zu fallen. Mit Blick auf Kant haben wir festgestellt: Der Einsatz der Reflexionsbegriffe in der ersten Kritik zielt vor allem darauf ab, zu zeigen, wo deren unrecht‐ mäßiger Einsatz zu unlauteren Ansprüchen führen muss. Der rechtmäßige Einsatz der Reflexionsbegriffe ist also die Verhinderung der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Kant selbst führt dies in exemplarischer Weise an Leibniz und Locke durch; aber diese Operation lässt sich losgelöst vom Umkreis Kants an aller Philosophie durchführen und wiederholen - insbesondere an solchen Denkarten, die solche Reflexionsgehalte ohne Einbindung in die Erkenntnis‐ kritik positiv beanspruchen und also Gefahr laufen, Reflexionsverhältnisse mit gegebenen Tatsachen zu verwechseln. Die universale Einsatzmöglichkeit von Reflexionsbegriffen ist also an den Einsatz zur Kritik solcher Amphibolien zurückgebunden; diese Einsatzmöglichkeit im Skopus einer Selbstkritik des Denkens macht allein die Systematik der Reflexionsbegriffe aus. Mag sein also, dass es ‹tiefere› Gesichtspunkte und systematisch ‹grundle‐ gendere› Reflexionsverhältnisse gibt, die in Frage kämen, um den Schritt von Kant zu Hegel und von Hegel zu Adorno nachzuvollziehen. Die vier kantischen bleiben diejenigen Bestimmungen, an denen sich die nachkantische Tradition - sei es mit der Frage nach Identität und Differenz, nach Einheit und Widerspruch, Immanenz und Transzendenz oder Form und Materie - faktisch, d. h. dem Wortlaut nach, abgearbeitet hat. Allein deshalb, d. h. aufgrund der Faktizität ihres Eingebundenseins in die höchsten Erkenntnisansprüche der Tradition seit Kant, verdienen diese Begriffe unsere Aufmerksamkeit. Es drängt sich aber die Frage auf: Wie ist es möglich, dass die Reflexionsbegriffe einen Hintergrund der Kontinuität bilden, vor welchem sich der unendliche Unterschied zwischen den Dialektik-Konzeptionen Kants und Hegels bzw. Hegels und Adornos abzeichnen konnte? Bei Kant dienen sie der Anspruchskritik. Im Horizont der hegelschen Dia‐ lektik haben die Reflexionsbegriffsgehalte dann eine spekulative Aufwertung erhalten. Danach führen sie uns ins Herz des adornoschen Denkens, das seine Grundproblematik im logischen Raum zwischen Kant und Hegel - will sagen: zwischen der kritischen und der spekulativen Inanspruchnahme der Reflexi‐ 80 2. Zur historischen Bestimmtheit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells <?page no="81"?> onsverhältnisse entfaltet. Abseits dieser ambivalenten Auseinandersetzung mit dem Überlieferten hat die adornosche Dialektik keine eigenen Gehalte von philosophischer Dignität vorzuweisen. Das umrissene, kritische Reflexionsmo‐ dell Kants kann daher als die vierfach bestimmte, systematische Vorgabe für eine negative Dialektik der Reflexionsverhältnisse ausgelegt werden, die die Tradition der positiven Dialektik trotz aller Kritik amphibolisch beansprucht, d. h. mit objektiven Gehalten verwechselt. Die Reflexionsverhältnisse stellen somit vier Aspekte des einen Verhältnisses zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennender Welt dar. Zwischen diesen ‹Orten› muss die adornosche Dialektik vermitteln, um den artikulierten Erfahrungsgehalt zugleich spekulativ relevant und negativ wirksam werden zu lassen. Gelingen kann diese zweideu‐ tige Vermittlung insgesamt aber nur als Fortsetzung des kritischen Wegs. Es zeigt sich: Dialektik, als spekulative und negative, ist nur als Selbstkritik der dialektischen Vernunft möglich. In Adornos Worten: «Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen». d) Zwischenfazit 81 <?page no="83"?> 1 Adorno, GS 6, S.-156. III. Das negativ-dialektische Reflexionsmodell Philosophisch bleibt die dialektische Bewe‐ gung als Selbstkritik der Philosophie. 1 <?page no="85"?> 1 Vgl. Kant, KrV, A 263/ B 319. 2 Es ist davon auszugehen, dass «Einerleiheit» die damalig geläufige, deutsche Überset‐ zung von identitas darstellt. Vgl. Rudolf Eisler, Art. «Einerleiheit», in: Kant-Lexikon, Hildesheim/ Zürich/ New York 1984, S.-107. 3 Kant, KrV, A 264/ B 320. A. Einerleiheit und Verschiedenheit In der Kritik der reinen Vernunft werden die vier Reflexionsverhältnisse jeweils auf die ihnen korrespondierenden Urteilsmomente rückbezogen. Das erste Reflexionsverhältnis, das zur Diskussion steht, ist dasjenige von Einerleiheit und Verschiedenheit. 1 Dieses bezieht Kant auf die Urteilsmomente allgemeiner, besonderer und einzelner Urteile zurück, indirekt also auf die zugehörigen mathematischen Kategorien der Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit), und mit Blick auf deren mögliche Anwendung auf anschaulich Gegebenes, auf die Axiome der Anschauung. Der Anspruch auf eine Einerleiheit verschiedener Vorstellungen etwa rechtfertigt sich dadurch, ein allgemeines Urteil über die betreffenden Vorstellungsgehalte fällen und also die Kategorie der Einheit auf sie anwenden zu können. Das Thema von Einerleiheit und Identität ist Kant dem Wortlaut nach wohl von den Wolffianern vorgegeben worden. 2 Für das kritische Bewusstsein (das an dieser Stelle der kantischen Kritik bereits von den Ergebnissen der «Transzen‐ dentalen Ästhetik» sowie der transzendentalen Deduktion der Verstandesbe‐ griffe ausgehen muss) hat sich der Blickwinkel auf dieses Thema jedoch radikal verändert. Die kritische Rückbindung an Axiome der Anschauung offenbart nämlich, dass jede Einheit verglichener Vorstellungsinhalte nur aufgrund der formalen Homogenität der reinen Anschauungen Raum und Zeit von objektiver Relevanz sein kann, das Erkenntnissubjekt aber nicht dazu berechtigt, das Nichtzu-Unterscheidende auch an sich als ‹einerlei› zu beurteilen. So verweist für Kant jeder Anspruch auf die Einerleiheit sinnlicher Vorstellungsgegenstände (d. i. auf ihre Zugehörigkeit zum Feld des Verstandes) notwendig auf die Verschiedenheit des Vorgestellten (d. i. auf ihre Zugehörigkeit zum Feld der Sinnlichkeit). Denn ein Teil des Raums, ob er zwar einem anderen völlig ähnlich und gleich sein mag, ist doch außer ihm, und eben dadurch ein vom ersteren verschiedener Teil, der zu ihm hinzukommt, um einen größeren Raum auszumachen, und dieses muß daher von allem, was in den mancherlei Stellen des Raums zugleich ist, gelten, so sehr es sich sonsten auch ähnlich und gleich sein mag. 3 <?page no="86"?> 4 Vgl. Hermann Cohen, Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1907, S.-111. 5 Die Diskussion um die numerische Identität von Dingen an sich und Erscheinungen wäre angesichts der Reflexionsbegriffsproblematik daraufhin zu korrigieren, dass nur die Wechselbestimmtheit von Einerleiheit und Verschiedenheit das Thema der Kritik ist und man deshalb von der Kritik der reinen Vernunft gar nicht erwarten kann, sie enthalte Thesen darüber, ob etwas nur einerlei oder nur verschieden ist. Vgl. als Negativbeispiel Nicolas F. Stang, «The Non-Identity of Appearances and Things in Themselves», in: Noûs 48, 2014, S.-106-136. Die Vielzahl der Raumstellen ist immer als Einsprache gegen die Einheits‐ ansprüche des Verstandes zu deuten. Und umgekehrt können wir diese Ver‐ schiedenheit in der Sinnlichkeit nur dann identifizierend vergegenwärtigen, wenn durch diese Verschiedenheit die Einheit des Raumganzen als extensive Größe mitgegeben ist. Dem respectus logicus der Tradition aber, der sinnliche Gehalte als Verstandesgehalte behandelt und mit solchen verwechselt, stellt Kant das transzendentalästhetische Bewusstsein der absoluten Verschiedenheit des gleichartig Erscheinenden gegenüber. Einerleiheit und Verschiedenheit raum-zeitlich verbürgter Vorstellungsgehalte implizieren einander dabei zwar wechselseitig. Aber die Verschiedenheit macht den eigentlichen Sinn dieser Wechselbestimmung aus, da sich jeder Anspruch auf Einheit der Reflexionsbe‐ stimmungen im Falle von Erscheinungen wie gesehen selbst durchstreicht. Kants Beweis der Wechselbestimmtheit von Verstand und Sinnlichkeit ex‐ pliziert sich im Amphiboliekapitel daher in Form der Kritik am leibnizschen Satz des Nicht-zu-Unterscheidenden. 4 Die Binnendifferenzierung der äußeren Anschauungsform als extensive Größe verbürgt für Kant die Verschiedenheit räumlich formierter Gegenstände. Dadurch sieht Kant den Satz des Nichtzu-Unterscheidenden auf den logischen Vergleich von Vorstellungen einge‐ schränkt. Entsprechend muss jede über den Horizont der Vergleichungsbegriffe hinausgehende Anwendung des Satzes negiert werden. Kants Leibnizkritik soll zeigen, dass bestimmte Identitätsansprüche des Denkens daher auch nur beschränkt - d. i. im Skopus der Selbstreflexion solcher Ansprüche - gültig sind. So könne man z. B. bei zwei Wassertropfen zwar von aller qualitativen Verschiedenheit absehen und sie dem Begriff nach als einerlei (ein Wasser‐ tropfen und ein anderer Wassertropfen) betrachten. Aber diese Betrachtung ist nicht hinreichend, die Wassertropfen für objektiv einerlei zu halten, weil wir dann Begriff und Begriffenes verwechseln; denn die quantitative Differenz von Raumstellen allein reicht als Bestimmungsgrund absoluter Verschiedenheit aus. Allerdings ist diese numerische Differenz der Gegenstände kein positiver Erkenntnisgehalt - sie ist keine 2, sondern die reine Heterogenität als Gegenteil der Homogenität. 5 86 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="87"?> 6 Hermann Cohen, Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, S.-111. Derselbe Grund also, weshalb das principium identitatis indiscernibilium als gültiger Grundsatz der logischen Reflexion auf den Horizont des logischen (abstrakten) Vergleich von Begriffen eingeschränkt werden muss, ist der Be‐ stimmungsgrund dieser Heterogenität. Kurz: Die beiden Reflexionsbegriffe korrespondieren nicht mehr direkt der Sache selbst, sondern der Reflexion darauf, inwiefern es überhaupt gegenständlich gerechtfertigt sein kann, von der qualitativen und quantitativen Identität eines Gegenstands verschiedener Vorstellungen auszugehen. Der indirekte Weg zur Sache über den Unterschied der transzendentalen Orte Sinnlichkeit oder Denken macht also, dass die Einerleiheit eines Gegenstandes überhaupt aufscheinen kann. Die Differenz ist Bedingung der Identität. Das kann uns nur die Amphiboliekritik lehren. Denn es bedeutet, dass die Identität von Gegenständen die Sache des Denkens ist, und dass deren Projektion auf die Erscheinungswelt nur nach Maßgabe des kritischen Bewusstseins um den transzendentalen Unterschied von Form und Inhalt des Denkens zulässig ist. Dieses Bewusstsein geht davon aus, dass die Identität von Erscheinungen qua Erscheinungen bereits deren numerische Ver‐ schiedenheit verbürgt, weil nämlich das Ding an sich ein gedankliches Einerlei ist, das angesichts der Reflexionsbestimmtheit seines Einerleis von selbst in die Fülle des Verschiedenen umschlägt. Das Einerlei von Entitäten im Gedanken ist also auch kein Grund zur spekulativen Inanspruchnahme von Einerleiheit, sondern ein Grund zum Verdacht, dass jede Evidenz von Einerleiheit nur die Notwendigkeit anzeigt, die Wechselbestimmtheit mit der Verschiedenheit auszublenden. So zeigt sich hier bereits deutlich, dass die Affirmation einer Dualität der Prinzipien von Sinnlichkeit und Denken die Grundlage bildet, auf der das Denken sich überhaupt als einheitliches Denken intendieren und infolgedessen ‹bloß logisch› reflektieren kann. Solche Dualität geht jeder re‐ flexiv vergegenwärtigten Einheit voraus. «Man kann sagen», schreibt Hermann Cohen in seinem Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft treffend, «schon an diesen Grundbegriffen [hier: Einerleiheit und Verschiedenheit, C.M.] des Verhältnisses [von Sinnlichkeit und Denken, C.M.] tue sich der Unterschied von allgemeiner Logik und transscendentaler, von analytischen und synthetischen Urteilen auf.» 6 Das bedeutet: Die transzendentale Reflexion auf Form und Inhalt der Erkenntnis bildet den Möglichkeitshorizont der logischen Reflexion; glaubt sich das logische Reflexionssubjekt irgendwo positiv auf ein objektives Einerlei von Denken und Sein beziehen zu können, so irrt es, weil es die Zweiheit der Reflexionsverhältnisse, die unzweifelhaftes Indiz besagter Heterogenität ist, mit der Einheit ihrer Begriffsförmigkeit verwechselt. A. Einerleiheit und Verschiedenheit 87 <?page no="88"?> Und so ist es - gemäß dieser Wechselbestimmtheit des Reflexionsverhält‐ nisses von Einerleiheit und Verschiedenheit - in der Tat nur in kritischer Hinsicht zu rechtfertigen, die Identität verschiedener Vorstellungen zu bean‐ spruchen. Diese hier etwas umständlich eingeführte Erkenntnis untermauert das kritische Bewusstsein, wie noch zu zeigen ist, auch bei Adorno. Was aber bedeutet hier ‹in kritischer Hinsicht›? Es bedeutet, dass es nur dann geboten ist, Einheit zu beanspruchen, wenn diese als synthetisch produzierte Einheit von Verschiedenem und damit als wechselbestimmt durch das Verschiedene be‐ griffen wird. Diese Wechselbestimmtheit und die zugehörige Dualität scheinen in dem unendlichen Urteilsmoment des Nichtsinnlichen (Noumenalen) auf und stellen eine kritische Erinnerung dar, dass die Sachhaltigkeit der Verstandesge‐ halte nur als formale Selbstlimitation, letztlich durch die kritische Artikulation des Negationsverhältnisses von Nichtsinnlichem zur Sinnlichkeit zu haben ist. Die transzendentale Reflexion Kants ist, als topisch verfasste Erörterung der Ursprünge von Reflexionsmomenten, an die Legitimation ihrer Wirksamkeit als Erkenntniskritik rückgebunden - und sonst schlicht kein Organon, kein Instru‐ ment spekulativer Erkenntnis. Also ist auch jede positive Inanspruchnahme der Reflexionsverhältnisse im Sinne eigenständiger Erkenntnisgehalte - nach Kant - dann nur noch unter bewusstem Absehen von ihrem ursprünglichen Einsatz im Horizont der Kritik möglich. Dies mag nun zwar das erklärte Ziel des nachkantischen Idealismus gewesen sein - das Ziel, diese Reflexionsgehalte aus dem Horizont der Kritik herauszu‐ lösen und als ein Organon der Spekulation aufzubereiten. Zu rechtfertigen bleibt aber die Weglassung der Einschränkung auf den Horizont der Kritik allemal. Die idealistisch positivierte Gestalt reflexiver Negationsverhältnisse wieder als negative zu begreifen, ist die Sache der negativen Dialektik. Die negative Dialektik leitet ihre systematische Aufgabe daher, wie gezeigt, primär von der paradoxen Situation der Erkenntnis, nicht des Seins her Im Spiegel der Re‐ flexionsbegriffe ‹Einerleiheit› und ‹Verschiedenheit› besagt diese Herleitung: Erkenntnis soll Verschiedenes gemäß verbindlich vertretbaren Ordnungsprin‐ zipien vergleichen, wiedererkennen und als ein an sich Seiendes bestimmen - kurz: identifizieren. Nun zeigt sich aber, dass diese Identifikationsleistung notwendig einseitig bleiben und scheitern muss. Eine Erkenntnis der Sache läge erst dann vor, wenn das Verschiedene als Verschiedenes gebracht würde. Die Dialektik entwickelt die traditionelle Erkenntnissuche konsequent weiter, indem sie das, was nicht dem identischen, gedankenförmigen Einerlei einzuordnen ist, dennoch gedanklich zu fassen versucht. Selbstredend darf das Vergegenwärtigte dann aber keinem Ordnungsprinzip mehr unterliegen. Denn sonst ergäbe sich die Problematik von neuem, die die Dialektik ursprünglich 88 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="89"?> 7 Adorno, GS 6, S.-15. 8 Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 135. Die Zentralstellung des Komplexes der Nichtidentität für das Denken Adornos ist Konsens in der Forschung. Vgl. Günter Figal, «Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos», in: Wolfram Ette et al. (Hg.), Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg/ München 2004, S. 13-23. Axel Honneth/ Christoph Menke (Hg.), Theodor auf den Plan rief. Das Ziel der Erkenntnis erfüllt sich also erst dann, wenn die Dialektik es vermag, gegen ihre eigenen identifizierenden Vollzüge anzudenken und dasjenige vorstellig zu machen (d. h. durch Vermittlung gedankenförmig zu machen), was dem Denken aufgrund seiner eigenen Verfahrensweise notwendig entschlüpft. Und das vermag sie eben nur als eine negative Dialektik, d. h. als eine solche, die die Negativität ihrer Vollzugsbestimmtheit nicht mit einem gesicherten Wissensbestand verwechselt. Die Abstraktheit solcher Reflexionen dürfte zunächst so wirken, als ob damit gerade das Wichtigste der kritischen Theorie auf der Strecke bliebe, nämlich die Erweiterung des abstrakten Traditionsbestands der Philosophie durch materiale Gehalte im Zeichen der Praxis. Aber was auch immer das adornosche Denken sich an materialem Gehalt vorsetzt und bearbeitet: Alles Negative in der Welt darf dabei nur als negative Funktion der Kritik verbindlich geltend gemacht werden. Sonst wäre Adorno das, was für Adorno Hegel am Ende bleiben musste - ein positiver Dialektiker und Negativität ein gesicherter Wissensbestand. Statt zur «selbstzufriedene[n] Spekulation» des Negativen sieht der negative Dialek‐ tiker die Philosophie dazu «genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren». 7 Das Reflexionsgeschehen dieser dialektischen Selbstkritik dreht sich dabei um drei geschichtlich vorgegebene Zentralgehalte: (1.) die Nichtidentität, (2.) das Nichtbegriffliche und (3.) das Nichtidentische. Die Anverwandlung und Begründung dieser Gehalte als Gehalte des adornoschen Antisystems ist, so die These, auf eine Anwendung der kantischen Reflexionsbegriffe Einerleiheit und Verschiedenheit zurückzuführen und folglich im Horizont einer transzen‐ dentalen Topik der dialektischen Vernunft zu verstehen. Diese Topik ist im Falle Adornos von dem Interesse geleitet, die Verschiedenheit der Sache gegen das gedankliche Einerlei einzuklagen. 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen I. Der Begriff des Nichtidentischen ist der Ort, an dem «die Fäden negativer Dialektik zusammenlaufen». 8 Ein Verständnis seines Gehalts erweist sich daher 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 89 <?page no="90"?> W. Adorno. Negative Dialektik, S. 19; Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, Tübingen 2016, S. 168; Guido Kreis, «‹Nichtidentität› als Reflexionskategorie. Zum systematischen Zentrum der Negativen Dialektik», in: Mario Schärli/ Marc N. Sommer (Hg.), Das Ärgernis der Philosophie, S.-13. 9 Adorno, GS 6, S.-157. 10 Ibidem, S.-189. als zentral für ein Verständnis dessen, was negative Dialektik bedeutet. Wir werden dem inhaltlichen Anspruch des Nichtidentischen jedoch nur dann gerecht, wenn wir in seinem Inhalt eine Funktion zur Kritik am begrifflichen Denken erkennen und ihn also nicht voreilig auf Gegenstände ‹anwenden›. Fragen wir uns, was das Nichtidentische ist, haben wir diesen Anspruchsgehalt schon verfehlt. Artikulieren können wir diesen Gehalt einzig, indem wir auf‐ zeigen, inwiefern ein als identisch Begriffenes nicht es ist. «Die Wendung zum Nichtidentischen», schreibt Adorno daher in der Negativen Dialektik, «bewährt sich in ihrer Durchführung […]». 9 Mit anderen Worten: Der Gehalt des Begriffs des Nichtidentischen lässt sich nicht ohne Umweg intendieren. Die Wendung will vollzogen werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Modalitäten des Vollzugs «Durchführung» und die Bestimmtheit der Sache dann doch am Ende identisch wären. Eine solche Identität von Methodengang und Sache kann nur eine positive Dialektik behaupten. Was aber heißt es dann? Die These lautet, dass die Wendung zum Nichtidentischen den indirekten und alternativlosen (Um-)Weg der Erkenntniskritik einschlägt. In der Wendung der Dialektik zum Nichtidentischen soll die Erkenntnisre‐ levanz der Dialektik begründet werden. Aber da liegt schon das Problem. Es gibt eben keinen Vollzugsmodus identifizierend-affirmativen Denkens, um des Nichtidentischen in seinem Begriff habhaft zu werden. Was sich das Denken begrifflich anverwandelt, indem es dieses kommensurabel - denkbar - macht, wird selbstredend zur kommensurablen Sache des Denkens. Die «Sache selbst» aber ist gemäß Adorno «keineswegs Denkprodukt». Diese sei «viel‐ mehr das Nichtidentische durch die Identität hindurch». 10 Die Wendung zum Nichtidentischen ist daher eine Wendung gegen den identifizierenden Vollzug der begrifflichen Vermittlung. Zugleich bleibt die Wendung gegen das identifi‐ zierende Denken aber dem Anspruch der Identifikation verpflichtet, insofern sich die Intention auf das Nichtidentische als unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit der Identifikation erweist, während das Nichtidentische das Licht spendet, in dem der Fehler aller Identifikation sichtbar wird. Das identifizierende Denken wäre daher ohne ein ihm nichtidentisch blei‐ bende Sache leer. Demnach gilt gemäß Adorno, dass alles Denken in sich auf 90 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="91"?> 11 Ibidem, S.-110. etwas anderes als es verweist: «Denken ist an Seiendes gekettet.» 11 Wieder gilt hier aber, dass die Identifikation des Nichtidentischen mit dem Seiendem keine Ontologie des Nichtidentischen beschreibt. Auch dieser Grundsatz ist keine These über Seiendes, auch nicht über das Denken als ein Seiendes, sondern formuliert eine transzendental-logische Bedingung des Denkens. Diese Bedin‐ gung besagt in die Reflexionsproblematik übersetzt: Denken ist, um das Einerlei der Gedankenform herstellen zu können, notwendig auf etwas dem Gedanken Nichtidentisches verwiesen; und so stellt dessen Ausschluss aus dem Bereich des Denkens, indem es als ein von ihm Verschiedenes wahrgenommen wird, die notwendige Bedingung der Einerleiheit des Denkens dar. Das Nichtidentische ist also nur insofern ein ‹Etwas› zu nennen, wenn wir bedenken, für wen und was das Nichtidentische überhaupt nichtidentisch ist. Das Nichtidentische ‹ist› folg‐ lich keine Sache, sondern sein Verhältnis zum identifizierenden Denken. Die negative Dialektik gewinnt ihre Anspruchsbestimmung als die angemessene Methode, um dieses Verhältnis darzustellen. II. Der gängige Begriff für das Verhältnis, in welchem das Nichtidentische zum identifizierenden Denken steht, lautet Nichtidentität. Nichtidentität ist also der dialektische Begriff für den transzendental-logischen Umstand, dass alles begriffliche Denken «an Seiendes gekettet» ist. Man beachte daher, dass die positiv-dialektische Einbindung des Verhältnisbegriffs ‹Nichtidentität› in spe‐ kulative Zusammenhänge bei Adorno dadurch gestört und kontrastiert wird, dass darin eine Analogie zu einem Restriktionsverhältnis erkannt wird. Das Gekettet-Sein an Seiendes ist, was der Nichtidentität erst ihre Transzendenta‐ lität verleiht. Wir haben bereits gesehen, inwiefern Adornos Bestimmung der Dialektik von der Falschheit von Sätzen wie ‹…ist das Nichtidentische› oder ‹Das Nicht‐ identische ist…› ausgeht. Diese sind zumal dann falsch, wenn deren Gehalt nicht an jenes Reflexionsgeschehen rückgebunden wird, das den Grund ihrer Falschheit thematisiert. Das heißt, das negativ-dialektische Reflexionsmodell muss darlegen, inwiefern der Unterschied zwischen dem Begriff des Nichtiden‐ tischen und dem Nichtidentischen als solchem eine unverhandelbare Prämisse des methodischen Einsatzes des Nichtidentischen bildet. Der Name für diese unverhandelbare Prämisse lautet wiederum Nichtidentität. Betrachten wir nun Adornos Begründung dieser Prämisse näher. Für eine bündige Artikulation dieser Prämisse ist eine Umkehrfigur der spekulativen Grundfigur Hegels zu bemühen, die Adorno im Zusammenhang 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 91 <?page no="92"?> 12 Adorno, GS 6, S.-189. 13 Eine maßgebliche Rekonstruktion dieser Auseinandersetzung bietet Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, passim; vgl. davor Allison Stone, «Adorno, Hegel, and Dialectic», in: British Journal for the History of Philosophy 22/ 6, S.-1118-1141; eine jüngere Rekonstruktion findet sich bei Terry Pinkard, «What Is negative Dialectics? Adorno’s Reevaluation of Hegel», in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S.-459-472. 14 Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-40. 15 Ibidem. seiner Geschichtsphilosophie erarbeitet, die aber auch mit Blick auf das Nicht‐ identische das maßgebliche Stichwort liefert - die Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen. Wie gelangt Adorno zu dieser Umkehrfigur und wie ist diese Figur mit der Idee negativer Dialektik in Verbindung zu bringen? Es gibt eine rätselhafte Formulierung Adornos, die den Horizont der nach‐ folgenden Antwort bilden soll: «Solche Nichtidentität ist keine ‹Idee›; aber ein Zugehängtes.» 12 Um diese Formulierung zu verstehen, so die These, müssen wir Adornos Rekonfiguration der spekulativen Grundfigur Hegels von der Identität von Identität und Nichtidentität nach- und mitvollziehen. Adorno, der kaum je ein Geheimnis daraus gemacht hat, dass seine Philosophie wesentliche Impulse und Gehalte von der Tradition, die er kritisiert, empfängt, beerbt mit dem Problem der Nichtidentität zunächst eine, wenn nicht die Streitsache der Klassischen deutschen Philosophie. Im Folgenden geht es darum, den adorno‐ schen Gedanken der Nichtidentität sowohl als Linienverlängerung als auch als verbindliche Stellungnahme zur Problemgeschichte der Identitätsphilosophie zu lesen. Kritik an der Identitätsphilosophie im Namen der Nichtidentität zu üben, bildet daher auch das durchgängige Anliegen der facettenreichen Auseinan‐ dersetzung Adornos mit Hegel. 13 Die Einsprache gegen Hegel hat Adornos eigene Philosophie wie kein zweites Thema geprägt: Ist Hegels Idealismus die große Philosophie der Identität, ist negative Dialektik das Denken der Nichtidentität. Tatsächlich hat sich dieses Kontrastverhältnis zu Hegel mittler‐ weile in das positive Verständnis der negativen Dialektik eingebrannt: Sommer hat dieses Verständnis auf eine einfache Subtraktionsformel heruntergebro‐ chen: «Hegels Dialektik - Idealismus = negative Dialektik.» 14 Sommer fügt erläuternd hinzu: «So ergibt sich die Logik negativer Dialektik gleichsam von selbst, wenn wir die Bewegungen beobachten, in die die Strukturbegriffe der Dialektik geraten, sobald sie nicht mehr auf die spekulative Identität von Subjekt und Objekt bezogen werden.» 15 - Ähnlich Günter Figal, der die Wurzeln des Nichtidentischen explizit in Hegel verortet: «Hier, mitten im Hegelschen 92 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="93"?> 16 Günter Figal, «Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos», S.-18. 17 Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S.-165 und S.-170. 18 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1974, S.-45. 19 Adorno, GS 6, S.-184. 20 Adorno, GS 6, S. 183. Diese Form immanenter Kritik kann also schon das erste Kriterium von Rahel Jaeggis Merkmalkatalog der immanenten Kritik nicht erfüllen, welches besagt: «Immanente Kritik geht von Normen aus, die einer bestehenden (sozialen) Situation inhärent sind.» (Rahel Jaeggi, «Was ist Ideologiekritik? », in: Rahel Jaeggi/ Tilo Denken, hat Adornos zentraler Gedanke seinen Ort.» 16 Thyen schreibt ähn‐ lich: «Die Kritik Adornos richtet sich gegen die spekulative Dialektik, nicht gegen die negative Dialektik Hegels.» Thyen erachtet die negative Dialektik entsprechend als Erweiterung der hegelschen Dialektik - «wenn auch um den Preis des absoluten Idealismus». 17 Im Ausgang von der scheinbaren Selbstverständlichkeit einer Rückbezogen‐ heit auf Hegel (der Adorno ja selbst, etwa durch die Wahl des Programmtitels Negative Dialektik, zuarbeitet), scheint sich das Narrativ etabliert zu haben, wonach das, was negative Dialektik sein kann und sein soll, nichts anderes sein könne als das, was bei Hegel je schon mit Dialektik gemeint sei, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen. Ist der hegelsche Idealismus denn nicht immer schon das mit seinem Gegensatz vermittelte Ganze? Wenn dies der Fall ist, wenn also der Idealismus Hegels immer schon ein Antiidealismus ist, dann gibt es kein nicht-idealistisches Subtraktionsverhältnis zwischen Idealismus und Antiidea‐ lismus. So dürfte die bloße Umkehrung des Vorzeichens dialektischer Gehalte letztlich auch keine zielführende Maßnahme gegen den dialektischen Idealismus darstellen, am wenigsten gegen denjenigen Hegels. Michel Foucault hat in Die Ordnung des Diskurses das entsprechende Bedenken geäußert, dass jeder Versuch, «Hegel wirklich zu entrinnen», zunächst ermessen müsste, «wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt»; dies um zu sehen, «inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn eine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.» 18 Adorno, der sich dieser Gefahr wie kein anderer in seinem Umfeld bewusst war, würde Foucault umstandslos beipflichten. Der Zusatz ‹negativ› im Titel Negative Dialektik hat Foucaults Bedenken geradezu zum Programm erhoben. Die «Dialektik», schreibt Adorno darin, könne sich nach Hegel deshalb nur noch «einschränken aus dem Bewußtsein von sich selbst heraus». 19 Nicht einmal die Perspektive einer «immanenten Kritik» der hegelschen Philosophie kann im Grunde hinreichen, um Adorno das Prädikat, Hegel entronnen zu sein, zuzusprechen. Denn: «Immanente Kritik hat ihre Grenze [! ] daran, daß schließlich das Gesetz des Immanenzzusammenhanges eins ist mit der Verblendung, die zu durchschlagen wäre». 20 Adornos Dialektik- 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 93 <?page no="94"?> Wesche (Hg.), Was ist Kritik? , Frankfurt am Main 2009, S. 266-298, hier: 286 f.) Die Unvereinbarkeit mit Adorno rührt daher, dass die im Bestehenden inhärenten Normen doch genau darunterfallen würden, was Adorno «das Gesetz» und folglich die Grenze der Kritik nennt. Von Normen ‹ausgehen› kann die Kritik folglich nicht, sondern sie muss die Gesetzlichkeit derselben mit deren Verblendungsfunktion zusammendenken können, ohne sich blenden zu lassen. Kurz: Immanente Kritik und Adornos negativis‐ tische «Selbstreflexion der Dialektik» (vgl. Adorno, GS 6, S. 397-400) sind nicht zu trennen, es sei denn, wir wollen im Namen von Kritik einem verkappten Idealismus das Wort reden. 21 Das zeigt sich etwa dort, wo Adorno den Hegelianismus seiner Gegenwart kritisiert - etwa jenen Croces, der kein Jahrhundert nach Hegel bereits versuchte, «Lebendiges und Totes» bei Hegel zu unterscheiden (vgl. Benedetto Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, Heidelberg 1909). 1956, zum 125. Todestag Hegels, bemerkt Adorno in einem Radiovortrag (der dann die erste seiner Drei Studien zu Hegel unter dem Titel «Aspekte» bildet): «In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute - und schon die sogenannte Hegel-Renaissance hob vor einem halben Jahrhundert mit einem Buch Benedetto Croces an, das Lebendiges und Totes in Hegel auseinanderzuklauben sich anheischig machte -, klingt diese Anmaßung [i.e. «souverän dem Toten seine Stelle zu[zu]weisen», C.M.] mit. Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet; ob nicht etwa die Vernunft, zu der man seit seiner absoluten gekommen zu sein sich einbildet, in Wahrheit längst hinter jene zurückfiel und dem bloß Seienden sich anbequemte, dessen Last die Hegelsche Vernunft vermöge der im Seienden selbst waltenden in Bewegung setzen wollte» (Adorno, GS 5, S. 251). Ernst Bloch nannte Croce übrigens später, in die gleiche Kerbe schlagend, «ein[en] spätliberale[n] Neuhe‐ gelianer» (Ernst Bloch, Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte, Frankfurt am Main Kritik würde also nur den Verblendungszusammenhang totaler Immanenz aufblähen, den die Kritik zu verlassen hofft, wenn sie eine immanente Kritik Hegels wäre. Kein Negationsverhältnis ließe sich in Anspruch nehmen und in Stellung bringen, das nicht final dem Gesamtzusammenhang von Vernei‐ nungen integriert werden könnte. Denn das Reflexionsintegral Hegels gewinnt seine Bestimmtheit als Integral dadurch, dass dasjenige, was gegen dieses als Verschiedenes eingeklagt wird, das Einerlei des Ganzen verinhaltlicht. Jede Veräußerlichung des Absoluten ist dem hegelschen Integral gleichbedeutend der reflexiven Verinnerlichung des Absoluten (vgl. Abschnitt C). Damit setzt Hegel das Reflexionsverhältnis von Innerem und Äußerem a priori in die Klammer einer gigantischen, allumfassenden Innerlichkeit. Die Dialektik hat sich bei Hegel offenbar dagegen immunisieren wollen, noch einmal negativ erweitert werden zu können. Mit dialektischen Mitteln allein lässt sich Hegel jedenfalls nicht widerlegen. So dürfte gerade das Bewusstsein der Unmöglichkeit, Hegel zu entkommen, Adornos ‹Hegelianismus› beseelt haben. Hegel bleibt für Adorno als Problem aktuell. 21 Adornos Hegelkritik ist also nicht als Aktualisierung des hegelschen 94 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="95"?> 1977, S. 299). Die Frage der Aktualität Hegels hat die Philosophie jüngst anlässlich seines 250. Geburtsjahres wieder umgetrieben. (Vgl. dazu Gunnar Hindrichs, «Der Weltbegriff der Philosophie», S.-47-57.) 22 Zur Analyse und Kritik der Rede von einem ‹Reflexionsmodell› bei Hegel, vgl. Dieter Henrich, «Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie», in: Rüdiger Bubner/ Konrad Cramer/ Reiner Wiehl (Hg.), Hermeneutik und Dialektik (Bd.-1), Tübingen 1970, S.-257-384. 23 Adorno, NaS IV 16, S.-38-39. 24 Vgl. Susan Buck-Morss, The Origin of Negative Dialectics, New York 1977, S. xiii, 49-52, 63 f.; Brian O’Connor, Adorno’s Negative Dialectic, S.-20ff. 25 Adorno, GS 6, S.-145. 26 Adorno, NaS IV 13, S.-136. Denkens unter veränderten Vorzeichen gedacht, sondern als Artikulation des Problembewusstseins, dass dasjenige, wozu sich der Gedanke bei Hegel ent‐ faltet, ein Spiegelbild des falschen Zustandes ist, aus dem die Philosophie, um ihren Wahrheitsanspruch zu erfüllen, ausbrechen muss, aber nicht kann. Entsprechend kann Adorno auch nicht einfach emphatisch die Nichtidentität anstelle von Identität vertreten und meinen, diesen Gedanken erfolgreich gegen die hegelsche Dialektik in Anschlag bringen zu können. Denn die spekulative Identität von Subjekt und Objekt hat diese Art emphatischer Bezugnahme auf Nichtidentität immer schon antizipiert und vermag folglich, jeden künftigen Ausbruchsversuch aus dem integralen Zusammenhang zu vereiteln. Kurz: Es lässt sich gegen den Denker der absoluten Identität, der per definitionem auch der Denker der Nichtidentität ist, keine Nichtidentität einklagen. III. Zweifelsohne ist es dennoch (oder gerade deshalb) Hegels Reflexionsmodell der Identität von Identität und Nichtidentität, das den Ausgangspunkt und kontinu‐ ierlichen Hintergrund von Adornos unaufhörlicher Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Nichtidentität bildet. 22 Das Bekenntnis Adornos in der Vorlesung über negative Dialektik, wonach er keinen Gedanken fasse, «der nicht zumindest tendenziell auch in Hegels Philosophie enthalten ist», 23 dürfte sich vor allem auf den Gedanken der absoluten Identität beziehen und wie er sich in die dialektische Vermittlung mit konkreten Inhalten verwebt. Trotzdem darf der elementare und weitreichende Umstand nicht vergessen gehen, dass Adornos negative Dialektik zumal deshalb kritisch zu nennen ist, weil sie sich gegen die Identitätsphilosophie auf den Gedanken der Nichtidentität beruft. Mit dem Begriff der Nichtidentität im Zentrum soll also ausgerechnet das Vokabular der hegelschen Dialektik dazu dienen, den Bruch mit Hegel zu artikulieren. 24 Die «Idee» einer negativen Dialektik, die dabei die «Differenz von Hegel» 25 als eine «Differenz ums Ganze» 26 benennen soll, fasst eine Dialektik-Konzeption 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 95 <?page no="96"?> 27 Adorno, GS 6, S.-17. 28 Herbert Schnädelbach, «Dialektik als Vernunftkritik», S.-67. 29 Hegel, TWA 5, S.-74. 30 Adorno, GS 6, S.-146. 31 Hegel, TWA 6, S.-40-41. 32 Hegel, GW 9, S. 36. Vgl. zu diesem Zusammenhang in der Wesenslogik Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin/ New York 1990, S.-172, 303 ff. und 337. ins Auge, die nichts als «das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität» 27 sei. In der Tat ist die Erlangung dieses Bewusstseins im Namen einer Philosophie der Nichtidentität mit Schnädelbach als jenes «schwierige Unternehmen» zu begreifen, «ein hegelkritisches Ziel mit hegelschen Mitteln zu erreichen». 28 Als emphatischer Ausdruck des Bewusstseins von Nichtidentität sind denn auch die Hegelianismen der Nichtidentität in den Texten Adornos zu verstehen; fast ausschließlich sind sie Artikulate einer global angelegten und global zu verstehenden Hegelkritik. Warum wird aber hegelsches Vokabular bemüht, um die Differenzierung von Hegel zu vollziehen? Die Suche nach einer Antwort führt geradewegs in das Zentrum dessen, was das negativ-dialektische Reflexionsmo‐ dell in systematischer Hinsicht leisten soll - das Nichtidentische angemessen auf den Begriff zu bringen. Präziser gefragt: Wie kann der Dialektiker Adorno von der nahezu fraglosen Übernahme der hegelschen «Definition des Absoluten» 29 dazu gelangen, am Moment der Nichtidentität seine «Lossage von Hegel» 30 fest‐ zumachen? Solche Fragen sind dringlich, zumal Hegels Definition der absoluten Identität schon im Bewusstsein ihrer falschen Abstraktheit vorgetragen und dadurch das Movens des definierenden Denkens über sich hinaus zur Entfaltung der Nichtidentität im definiens getrieben wird, um so den Definitionsanspruch der absoluten Identität in der Bezugnahme auf Nichtidentität einzulösen. Hegels Definition des Absoluten läuft also auf das wahrlich dialektische Resultat hinaus, dass das Absolute nur noch als absolute Nichtidentität absolut zu nennen ist. Das lässt sich anhand der folgenden Überlegung der Wissenschaft der Logik darlegen: «Der Begriff der Identität, einfache sich auf sich selbst beziehende Negativität zu sein, ist nicht ein Produkt der äußeren Reflexion, sondern hat sich an dem Sein selbst ergeben.» Sein aber wäre unmittelbar gefasst so viel wie Nichts. Und so ergibt sich für Hegel: «Die Identität ist also an ihr selbst absolute Nichtidentität. […] Denn als Reflexion-in-sich setzt sie sich als ihr eigenes Nichtsein; sie ist das Ganze, aber als Reflexion setzt sie sich als ihr eigenes Moment, als Gesetztsein, aus welchem sie die Rückkehr in sich ist.» 31 Auch von der Identität des Absoluten lässt sich folglich sagen, was der Hegel der Phänomenologie vom Geist sagt: «[Sie] gewinnt [ihre] Wahrheit nur, indem [sie] in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.» 32 Iber hält vielsagend fest: 96 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="97"?> 33 Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, S.-303. 34 Adorno, GS 6, S.-19. Hervorhebung C.M. 35 Ibidem. 36 Adornos Interpretation der Kant-Hegel-Konstellation arbeitet ebenfalls mit dem Motiv von formalistischer Beschränkung und dialektischer Erweiterung des theoretischen Blicks. Vgl. Adorno, GS 5, S.-323f. 37 Adorno, GS 6, S.-19. Die Identität ist [bei Hegel, C.M.] also nicht einfachhin Identität, sondern die Identität des absoluten Unterschieds mit sich selbst, die Identität des absoluten Unterschieds (gen. subj.). Sie ist also identisch mit dem ursprünglichen, dem absoluten Unterschied, und dies deshalb, weil es der Unterschied ist, der identisch mit sich ist. - Identität und Unterschied fallen somit zusammen im Gedanken des absoluten Unterschieds. 33 Wie also ist Hegelkritik überhaupt möglich, wenn Kritik bedeutet, sich gegen den absoluten Idealismus auf einen Unterschied zu berufen? Die adornosche Antwort lässt sich an seiner Interpretation der «berühmten Formulierung» aus der Wissenschaft der Logik ablesen: «Hegels inhaltliches Phi‐ losophieren hatte zum Fundament und Resultat den Primat des Subjekts oder, nach der berühmten Formulierung aus der Eingangsbetrachtung der Logik, die Identität von Identität und Nichtidentität.» 34 Dieser Hegelbezug erhält seinen Sinn als Ver‐ teidigung der Dialektik gegen eine positivistische Verengung des theoretischen Blicks. Die «gegenwärtige» Philosophie sei nämlich eine, die jede «inhaltliche Einsicht sich verwehrt, sich auf die Methodik der Wissenschaften einschränkt, diese für Philosophie erklärt und sich virtuell durchstreicht». 35 Um solchen Tendenzen zu begegnen, hatte gemäß Adorno schon Hegel «der Philosophie das Recht und die Fähigkeit wiederverschafft, inhaltlich zu denken, anstatt mit der Analyse leerer und im emphatischen Sinn nichtiger Formen von Erkenntnis sich abspeisen zu lassen». 36 Die absolute Identität ist daher als spekulative Grundfigur Hegels das Fundament einer Kritik am bloß formalen Idealismus seiner Zeit. Hegels inhaltlich bereicherter Idealismus hat die absolute Identität darum nie als die Tautologie der reinen Form konzipiert, sondern immer schon als eine in sich spannungsvolle Einheit der entgegengesetzten Momente von Form und Inhalt. So gelangt die hegelsche Dialektik zu ihrem Selbstverständnis als reflexive Einklam‐ merung ihrer formalen Reinheit und der dabei ausgeklammerten Verschiedenheit der vom Geist zunächst gar nicht durchdrungenen Erfahrungszusammenhänge. Für Adorno «[b]irgt der idealistisch gewonnene Begriff der Dialektik [deshalb] Erfahrungen, die, entgegen der Hegelschen Emphase, unabhängig sind von der idealistischen Apparatur». 37 Und das ist an dieser Stelle kein Einwand gegen die hegelsche Dialektik. Das Nichtidentische ist offenbar auch ein hegelscher Gedanke. 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 97 <?page no="98"?> 38 Hegel, GW 9, S.-27. 39 Hegel, GW 4, S.-13f. 40 Johannes-Georg Schülein, «Das Absolute, das Leben und das Bedürfnis der Philosophie. Zu Hegels philosophischem Programm in den frühesten Jenaer Vorlesungsfragmenten», in: Oliver Koch/ Johannes-Georg Schülein (Hg.), Subjekt und Person. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der klassischen deutschen Philosophie, Hamburg 2019, S.-125. 41 Walter Schulz, Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, Pfullingen 1992, S.-140. 42 Adorno, GS 6, S.-146. Da die kritische Berufung auf Nichtidentisches gegen den formalen Idealismus schon die Sache des hegelschen Idealismus bildet, wird eine im Namen des Nichtidentischen geführte Hegelkritik nur noch fragwürdiger. Man könnte an dieser Stelle versucht sein, Adornos hegelianischen Anti-Hegelianismus durch die Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts zu begründen. Die Idee lautet dann: Bei Adorno ist abgesehen vom Vernunftoptimismus im Grunde alles wie bei Hegel. Aber diese Anpassung des Optimismus Hegels durch den Hinweis auf abgründige Erfahrungen übersieht, dass Hegels Optimismus immer schon mit dem Schlimmsten rechnet. Wie anders ist es zu verstehen, wenn es bei Hegel heißt, dass «nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, […] das Leben des Geistes» sei? Wenn es überdies explizit heißt: «Er [der Geist] gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet»? 38 Dass der Geist lebt und sich selbst in der Zerrissenheit erhält, bedeutet, dass Hegels Gedanke der absoluten Identität nur dann wahr zu nennen ist, wo er sich als Aufhebung der absoluten Zerrissenheit mit sich selbst entpuppt. Wie Hegel in der Differenzschrift schreibt, ist gerade «die nothwendige Entzweyung […] Ein [sic! ] Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet». 39 Nicht einmal der Tod fällt also aus dem integralen Zusammenhang sich aufhebender Gegensätze heraus. Wie auch? «‹Aufheben›«, schreibt Johannes-Georg Schülein, «heißt selbstverständlich nicht ‹beseitigen›». 40 Der Tod ist also kein Argument, um die Einheit des Entgegengesetzten als unwahr, weil beschränkt zu begreifen. Der Tod ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit der Aufhebungsstruktur, derer sich die Dialektik im Begriff des Lebens reflexiv versichert. Bei Walter Schulz heißt es: «Hegel vermittelt die spekulative Erkenntnis mit dem Tod, dem er in der Entwicklung der Spekulation einen legitimen Platz zuspricht. Grundsätzlich formuliert: der Tod ist Übergang zu einer höheren Stufe des Lebens.» 41 Wir müssen also eingestehen, dass die «Lossage von Hegel» 42 nicht als antiidealistischer Akzent auf dem Widersinn eines Zuviels an Tod in der Geschichte erfolgen kann. Diese Denkart gewinnt ihre Relevanz in unserem Problemzusammenhang, wenn wir noch einmal das Problem der hegelschen Definition des Absoluten als die in sich spannungsvolle Einheit der Zerrissenheit betrachten. Meinen 98 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="99"?> 43 So die Bemerkung Adornos im Rundfunkgespräch mit Ernst Bloch, vgl. Ernst Bloch/ Theodor W. Adorno, «Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno» (1964), in: Ernst Bloch, Tendenz - Latenz - Utopie, Frankfurt am Main 1978, S. 350-386, hier: 357 ff. Hierzu mehr im nächsten Abschnitt. 44 Adorno, NaS IV 13, S.-135. Vgl. für eine produktive Aktualisierung des Gedankens einer negativen Universalhistorie Harriet Johnson, «The Anthropocene as a Negative Universal History», in: Adorno Studies 3 (1), 2019, S.-47-63. 45 Vgl. Benjamin, GeS I 2, S. 697f. Wohlgemerkt stammt das eigentliche ‹Bild›, der «An‐ gelus Novus», von Paul Klee aus dem Jahr 1920. wir mit Zerrissenheit nämlich die keines Beweises bedürftige Erfahrung des Leids in der Geschichte, dann ist die kantische Grenzbestimmung viel eher das angemessene Mittel, um der Integration des Todes als eines sinnhaften Moments entgegenzuwirken. Die Negativität des Todes ist in der positiven Dialektik ja zum gesicherten Wissensbestand erklärt und dem Denken kom‐ mensurabel geworden. Die Negativität wird dort in die Dynamik integriert, die die Dialektik expliziert. Aufheben heißt eben selbstverständlich nicht beseitigen. Negative Dialektik möchte aber genau das, sie möchte «die Abschaffung des Todes». 43 Dass damit keine anthropotechnische Utopie der Unsterblichkeit heraufbeschworen werden sollte, bedarf keiner Ausführung. Aber was meint Adorno dann damit? Um eine Antwort zu formulieren, muss der Kontrast zur spekulativ-dialekti‐ schen Fixierung des Todes hervorgehoben werden. Dieser Kontrast hat seinen Platz in der Geschichtsphilosophie Adornos. In der 10. Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit exponiert Adorno die hegelsche Grundfigur der Identität von Identität und Nichtidentität anhand der Problematik der Universalhis‐ torie. Eine Universalhistorie ist für Adorno immer eine, die das Kontingent-His‐ torische in einen sinnhaften Zusammenhang der Kontinuität einordnen möchte - sei es durch eine Fortschrittserzählung, sei es durch eine Verfallsgeschichte. Nichts fällt aus dem Sinnhorizont der Universalgeschichte heraus - auch nicht die vollendete Sinnlosigkeit. Dem stellt Adorno die Idee einer negativen Universalge‐ schichte gegenüber, die die Einheit der Geschichte als eine dialektische Einheit von Kontinuitätsbrüchen konzipiert: «Eine dialektische Geschichtsphilosophie müßte also die, gegeneinander gleichgültig auseinanderweisenden, Konzeptionen von Diskontinuität und Universalgeschichte zusammen denken.» 44 Die Geschichte ist dann nicht entweder kontinuierlich oder diskontinuierlich; sie ist kontinuierlich in der Diskontinuität - die permanente Katastrophe. Dahinter steckt Walter Benjamins Bild vom «Engel der Geschichte», 45 auf das Adorno in derselben Vorlesung explizit hinweist. Bei Benjamin heißt es in der IX. These Über den Begriff der Geschichte mit Blick auf Klees «Angelus Novus»: «Wo 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 99 <?page no="100"?> 46 Benjamin, GeS I 2, S.-697. 47 Ibidem. eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er [der Engel, C.M.] eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.» 46 Der Blick aufs Ganze ist uns nicht gegeben; vor uns liegt nur die sich in eine unbestimmte Zukunft fortsetzende «Kette von Begebenheiten». Anders schildert Benjamin den Blick des Engels auf diese Kette: «Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.» 47 Die Vergangenheit ist für den Engel also jene Einheit der Diskontinuität, die Thema einer negativen Universalhistorie sein muss. Er sieht das Ganze der Vergangenheit als Trümmerhaufen vor sich, was bedeutet, dass die Entelechie des Ganzen der Geschichte nicht für beendet erklärt und der Trümmerhaufen schon für sinnhaft gehalten werden müsste. Objekt des Blicks des Engels ist ein Ganzes, das als negatives auf seine eigentliche Bestimmung noch wartet. Der spekulative Blick auf den Trümmerhaufen der Geschichte, die Sache der Geschichtsphilosophie, ist also nicht zu erledigen dadurch, dass sie diese Bestimmung positiv antizipiert. Die Trümmer und Diskontinuitäten bilden Fragmente eines Ganzen, das sich nicht im Hier und Jetzt positiv darstellen lässt, sondern nur indirekt, durch Artikulation der Negativität, in den Blick nehmen lässt. Die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität, die den Inhalt des spekulativen Blicks bildet, verlangt also danach, in die Kritik des spekulativen Blicks eingebunden zu werden. Nichts anderes als die Veräußerlichung dieser Einbindung in die Kritik des spekulativen Blicks bedeutet Benjamins Engel. Die Einerleiheit, in dem die fragmentarischen Bruchstücke aufgehoben werden könnten, gilt es demnach durch die bestimmte Abkehr vom Ganzen, das seiner immanenten Logik zufolge Brüche zeitigen musste, zu erschließen. Darum blickt der Engel nicht nach vorne. Er vermag das Ganze aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr teleologisch zu bestimmen; einzig die Bestimmung des Trümmerhaufens als Trümmerhaufen - d. h. als negatives statt organisches Ganzes - vermag, das Ganze des Bestehenden durch eine alternative Geschichte zu komplettieren. Was Benjamin und Adorno folglich gemeinsam an einer an Hegel geschulten Universalhistorie kritisieren, ist, dass der Abschlussgedanke, der die Geschichtsphilosophie anleiten muss, jener ist, der sich die Zukunft im Rücken durch die prinzipielle Offenheit der Vergangenheit erschließt. 100 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="101"?> 48 Adorno, NaS IV 13, S.-136. 49 Ibidem; Hervorhebung C.M. Ob Adorno diese Formulierung, die sich wortgleich bei Reinhold in der polemischen Rezension zu Adam Müllers Lehre vom Gegensatze von 1804 findet, in Anlehnung daran konzipiert hat, ist m.W. nicht auszumachen. Vgl. Karl Leonhard Reinhold [Anonym], «Rezension zu Adam Müller: Die Lehre vom Gegensatze», in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom 4.5.1805, 106/ 2, Jena, 1805, Sp. 235-240, hier: 237, zitiert nach Andreas Arndt, «Widerstreit und Widerspruch. Gegensatzbeziehungen in frühromantischen Diskursen», in: Jürgen Stolzenberg/ Karl Ameriks/ Fred Rush (Hg.), Romantik. Romanticism, Berlin/ New York 2008, S. 102-122, hier: 103: «Die Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen, unter dem Namen des Gegensatzes an die Spitze der Philosophie zu stellen, ist aufs wenigste um nichts paradoxer und befremdlicher - als diesen Rang der Identität des Nichtidentischen und des Identischen auszuweisen, die absolute Identität von Allen - Gott zu nennen, und die Nichtidentität - für den Abfall von Gott, für den Sündenfall zu erklären […].» Adorno macht hier nun den entscheidenden Unterschied zwischen einer negativen und einer positiven Universalhistorie fest. Benjamins Gedankenfigur des Engels der Geschichte berühre zwar sich nicht nur formal mit einer Hegelschen, die Benjamin vermutlich nicht einmal in den Details bekannt gewesen ist: nämlich der Lehre, daß die Identität nicht einfach die Identität sei, sondern die Identität von Identität und Nichtidentität, das heißt: von Begriff und Sache, denn der Begriff ist ja die Identität bei Hegel. 48 Die Parallele zu Hegel besteht darin, dass sowohl der Weltgeist als auch Benjamins und Klees Engel das Einerlei von Kontinuität und Diskontinuität, das sich als die Geschichte darstellt, zum Thema haben. Bei dieser Parallelisierung bleibt es aber nicht: Allerdings, - und dieses ‹allerdings›, das so wie eine kleine Einschränkung klingt, ist in Wirklichkeit eine Differenz ums Ganze: es sieht bei Benjamin genau entgegen‐ gesetzt aus; und wenn ich das ohne Unbescheidenheit sagen darf: meiner eigenen Theorie zufolge auch. Es ist nämlich nicht so, als ob Identität herrsche, die auch Nichtidentität in sich hat; sondern: die Nichtidentität ist eine der Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen. 49 Die Parallelisierung von negativer und positiver Universalhistorie erhält ihren Sinn also darüber, die Lossage von Hegel zu rechtfertigen. Es ist wiederum die Definition des Absoluten aus der Wissenschaft der Logik, deren Reinterpretation dazu dient, die Differenz von Hegel zu benennen. Diese Differenz ums Ganze ist der gesuchte Unterschied zwischen negativer Dialektik und der hegelschen; sie offenbart sich als Differenz darüber, dass der Begriff der Identität einen anderen Platz im Gefüge von Identität und Nichtidentität erhält. 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 101 <?page no="102"?> Es fragt sich aber natürlich, was unter der «Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen» genau zu verstehen ist; und hier muss nun mit Nachdruck gesagt werden, dass darunter eben im emphatischen Sinn nichts Positives zu denken ist. Die Formel erweist sich vielmehr als ein uneinhol‐ barer Grundsatz der kritischen Selbstreflexion. Denn jede Positivierung dieser Nichtidentität durch eine konkret vorliegende Negativität weist im Namen der absoluten Nichtidentität noch einmal über sich hinaus. Freileich nicht mit Blick auf deren Aufhebung im selbstidentischen Ganzen. Dieses Absolute der Nichtidentität ist eben nicht mehr über eine final affirmierende Bezugnahme einzuholen. Nichtidentität gibt bei Adorno keinen Methodenkniff an die Hand, unter dessen Anwendung wir uns die Geschichte schließlich doch als Ganzes erschließen könnten. Vielmehr wird die geheime Prämisse der spekulativen Dialektik in ihr Gegenteil gekehrt und in die Prämisse der Kritik verwandelt. Die oberste Prämisse der Kritik fordert von uns ein, in der Identität stets die Nichtidentität zu erkennen, während die spekulative Dialektik Hegels dies zwar auch tut, aber nur um darüber die Absolutheit der Identität zu erkennen und sie als Strukturbeschreibung dem Weltgeist zu integrieren. Die Erkenntnis der Nichtidentität aber erweist sich als wahr nur in bestimmtem Kontrast zu den spekulativen Vollzügen der Reflexion. Den Engel der Geschichte aber können unsere reflexiven Integrationsbemühungen nicht stillstellen. Sie sind im Gegenteil eins mit dem Wind, der den Engel vom Geschehenen hinwegreißt und den ganzen Inhalt seiner Anschauung von dem Begriff des Ganzen trennt. Die Drehung in die Zukunft wäre einzig der Selbstkritik der reflexiven Dynamik zuzumuten, die sich bei Hegel als homolog mit dem Gang der Geschichte begreift. Die negative Universalgeschichte verteidigt so die Idee des Ganzen als eine bloße Idee, die in Gestalt absoluter Nichtidentität die Reflexion dazu anhält, sie nicht mit jenen konkreten Inhalten zu verwechseln, an denen sie sich freilich durch deren Negation bewahrheitet. Die Frage der Möglichkeit einer «Lossage von Hegel» darf angesichts dessen nicht in die groteske Frage münden, wie viel Sinnlosigkeit und Tod aufzubieten ist, damit der spekulative Begriff des Lebens widerlegt und der darauf beruhende Erkenntnisoptimismus seiner Plausibilität beraubt wäre. Diese Widerlegung wäre - abgesehen von grotesk - jederzeit nur so erfolgreich, wie wenn die eine Seite im natürlichen Widerstreit der Vernunft nach Kant versuchen würde, die andere zu widerlegen - d.-h. stets ein voller Erfolg und insofern erfolglos. Die historische Katastrophenerfahrung wird als Argument gegen Hegel nur jene partikulare Selbstgewissheit erlangen, mit der sich Kants «rüstige Ritter, sie mögen sich für die gute oder schlimme Sache verbürgen, sicher sind, den Siegeskranz davon zu tragen, wenn sie nur dafür sorgen, daß sie den letzten Angriff zu tun das Vorrecht 102 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="103"?> 50 Kant, KrV, A 423/ B 450. 51 Adorno, GS 6, S.-148. 52 Ibidem. haben, und nicht verbunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten». 50 Denn der Durchgang durch den Widersinn ist der Gang des Geistes zu sich selbst. Anders gesagt: In den Augen der negativen Universalhistoriker Adorno und Benjamin hätte Hegel auch dann nicht Recht behalten, wenn die Katastrophe nicht eingetreten wäre; vielmehr wird der Ausdruck des absoluten Geistes - die Formel der Identität von Identität und Nichtidentität - als eins mit dem Verhängnis der Geschichte - der Einheit von Kontinuität und Diskontinuität - begriffen. Indem die Zerrissenheit in das Selbstverständnis des absoluten Idealismus eingetragen wurde, gewinnt dieser seine abgründige Wahrheit durch Antizipation dessen, was im Namen historischer Katastrophen gegen ihn vorgebracht wird. Immer schon gilt also: Hegels Dialektik minus Idealismus ist gleich hegelscher Idealismus. Dem positiven Sinn des Ganzen gereicht jeder Widersinn zur Erweiterung des Skopus seiner dialektischen Logik. Wie also ließe sich angesichts dessen aus hegelscher Dialektik eine negative Dialektik entwickeln - eine Dialektik, die den Widersinn des Ganzen zu bestimmen vermochte, ohne darin eine sinnvolle Bestimmung zu sehen? IV. Versuchen wir einen neuen Anlauf. Adorno schreibt: «Die Lossage von Hegel wird an einem Widerspruch greifbar, der das Ganze betrifft, nicht programm‐ gemäß sich schlichten lässt.» 51 Welcher Widerspruch kann hier gemeint sein? Offenbar nur ein solcher, der das Fundament der dialektischen Philosophie - den ursprünglichen Anlass und Grund zur Dialektik als solchen - betrifft. Die programmgemäße Schlichtung von Widersprüchen war ja die Sache der positiven Dialektik. Der den Anlass zur Dialektik betreffende Widerspruch aber kann nicht eigentlich zum inhaltlichen Moment der Dialektik erklärt und sogleich ‹aufgehoben› werden. Adorno: Kritiker der Kantischen Trennung von Form und Inhalt, - wollte Hegel Philosophie ohne ablösbare Form, ohne unabhängig von der Sache zu handhabende Methode, und verfuhr doch methodisch. Tatsächlich ist Dialektik weder Methode allein noch ein Reales im naiven Verstande. Keine Methode: denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die der Gedanke surrogiert, ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstimmigen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlaßt zur Dialektik. 52 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 103 <?page no="104"?> 53 Günter Figal, «Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos», S.-21. Das inhaltliche Philosophieren soll durch Adorno also ein anderes Fundament erhalten als den Organisationsdrang, d. i. das Verlangen nach der Einstimmigkeit aller möglichen begrifflichen Entgegensetzungen in der Idee des Absoluten. Dazu macht Adorno den Grund zur Dialektik, statt am «Organisationsdrang des Gedankens» an demjenigen fest, was sich a priori gegen die Einstimmung mit dem Gedanken «sperrt» und also durch seine Widerstrebigkeit zur Dialektik veranlasst: am Nichtidentischen. Das Nichtidentische ist als die dem Begriff a priori unversöhnte Sache der Grund zur Dialektik, die Dialektik aber damit nicht mehr auf Versöhnung aus. Wenn nämlich Inhalt der positiven Dialektik der Gedanke des Absoluten ist, den Hegel in der Wissenschaft der Logik in Form der Identität von Identität und Nichtidentität darstellt, dann kann das Nichtidentische Adornos nicht jenes Verhältnis bezeichnen, das bei Hegel mit Nichtidentität indiziert ist. Diese Nichtidentität, die sich im Begriff schlichten lässt, ist ja nur das Instrument, um den Herrschaftsbereich der Identität auszudehnen. Figal hat das so ausgedrückt: «Um den Gedanken des Nichtidentischen vertreten zu können, muß man deshalb auf die Versöhnungsutopie, an die Adorno das Erkennen bindet, verzichten.» Figal übersieht freilich, dass gerade dieser Verzicht bei Adorno der Utopie der Erkenntnis dient - dem Ziel, das Nichtiden‐ tische begrifflich zu fassen ohne die Verschiedenheit durch das Einerlei der Begriffsform zu überformen. Es ist also völlig stimmig, wenn Figal der Forderung des Verzichts auf die Utopie hinzufügt: Ein Erkennen, das als konkrete Einlösung des Abbaus von Identität überzeugen soll, kann nur durch die unaufgelöste Spannung des Identischen und des ihm gegenüber Anderen charakterisiert sein. Es ist ‹dialektisch› nicht in dem Sinne, daß es den Bruch des Negativen in sich zu negieren versucht. Als dialektisches verdankt es sich vielmehr der Wirkung des Negativen. Es gewinnt seine Möglichkeiten aus der Spannung des Nichtidentischen selbst. 53 Aber diese Spannung kann ihrerseits überhaupt nur artikuliert werden, wenn sich der das Ganze betreffende Widerspruch auf den Gedanken beziehen lässt, dass dieses Ganze auch anders sein könnte. Die ‹Vertretbarkeit› des Nichtidentischen wird also nur dann überhaupt zum Problem für das Denken, wenn das Denken seine Aufgabe darin erkennt, das Verschiedene, das dem Gedankeneinerlei immer ein Anderes ist, in seinem Eigenrecht als Anderes und nicht als Moment im Einerlei geltend zu machen. Das verlangt, die Andersheit des Nichtidentischen über die Einerleiheit des Begriffs zu stellen und die Negation des Anspruchs begrifflichen Denkens als angemessenen Modus zu ree‐ 104 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="105"?> 54 Vgl. Adorno, GS 6, S.-185 und Abschnitt D/ 2 dieser Arbeit. 55 Adorno, GS 6, S.-351. 56 Das Zugehängtsein des Nichtidentischen versinnbildlicht die Uneinlösbarkeit des Anspruchs begrifflicher Erkenntnis, die infolgedessen bei jedem vermeintlichen Ziel auf sich selbst zurückgeworfen wird, und erinnert insofern an das romantische Motiv des Schleiers, wie es etwa in Novalis’ Lehrlingen zu Sais auftritt: «Einem gelang es - er hob den Schleier der Göttin zu Sais - Aber was sah er? er sah - Wunder des Wunders - Sich Selbst.» Zitiert nach: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais, Stuttgart 1997, S.-99. 57 Adorno, GS 6, S. 358. Die veränderten historischen Umstände gegenüber der Zeit Hegels können also nur hier - insofern sie das dialektische Denken wieder dazu anhalten, auch gegen sich selbst zu denken - als Grund für das Negativwerden der Dialektik eingeklagt werden. So heißt es an zitierter Stelle über das dialektische Denken weiter: «Mißt es sich nicht an dem Äußersten, das dem Begriff entflieht, so ist es vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.» Ibidem. tablieren, um sich inhaltlich auf es zu beziehen. Mit Adorno, aber unter leichter Alternierung seiner Maxime: Die Idee der Nichtidentität muss als Idee der Einsicht weichen, dass der Ideengehalt gerade das ‹Zugehängte› ist. Die «Idee der Andersheit» also, die Adorno bei Kant vertreten sieht. 54 Sonst «wird das Befangene [das Bewusstsein, C.M.] sich zu seiner eigenen Andersheit», worin Adorno auch das «Urphänomen von Idealismus» sieht. 55 Das zu Kritisierende ist folglich der Gedanke absoluter Identität, das neu einzusetzende Fundament der Gedanke der Nichtidentität - als ‹Zugehängtes›, d. h. gar nicht als inhaltlich formulierbarer Gehalt. 56 Folglich wäre der oberste formalistische Ausdruck der negativen Dialektik die Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen. V. In Adornos Augen bildet Einerleiheit den fundamentalen Gesichtspunkt, unter dem die hegelsche Dialektik die Welt in den Blick nimmt. Denn Verschieden‐ heit wird dort nur als dasjenige thematisch, das unter dem Aspekt seiner Aufhebung im Gedanken nicht beseitigt werden kann. Der Gesichtspunkt der negativen Dialektik ist dagegen die Verschiedenheit. Hier wird die Einerleiheit nur unter dem Aspekt ihres Verwiesenseins auf das Moment der Verschiedenheit thematisch; und das betrifft eben noch die Einerleiheit von Einerleiheit und Verschiedenheit. Jene übergeordnete Einheit ist bei Adorno nach kantischem Vorbilde konzipiert als Einheit der auf sich selbst und die eigene Verfahrens‐ weise reflektierenden Vernunft. Die negative Dialektik ist daher nicht auf Konservierung des Verhältnisses von Identität und Nichtidentität aus, sondern auf dessen Gegenteil, die reflexive Selbstkritik: «Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens, so impliziert das handgreiflich, Denken müsse, um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken.» 57 Fragen 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 105 <?page no="106"?> 58 Angezeigt wäre deshalb eine partielle Abwehr des von Marc N. Sommer zuerst hervor‐ gehobenen gewordenen Missverständnisses der Forschung, Adornos kritische Hege‐ linterpretation beschreibe einen «Schritt von der Dialektik in den Dualismus» (Thomas Rentsch, «Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der ‹Ne‐ gativen Dialektik› auf der Folie von Adornos Hegelkritik», in: Christoph Menke/ Martin Seel (Hg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt am Main 1993, S. 84-102, hier: 95) - verwandle die Dialektik zurück in eine «dualistische[…] Reflexionsphilosophie» (Birgit Sandkaulen, «Modell 2: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel», in: Axel Honneth/ Christoph Menke (Hg.), Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, S. 169-187, hier: 184). Vgl. Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-42f. Sandkaulen etwa zieht aus ihrer Lektüre des Kapitels «Weltgeist und Naturge‐ schichte» in der Negativen Dialektik das ernüchternde Fazit: «Mit einem Wort: wäre Adorno je in die Pflicht geraten, seine Vision von Versöhnung auszuformulieren, dann hätte er sich eben der Mittel einer dreistelligen Dialektik bedienen müssen, die er bei Hegel selbst - mit dem Erfolg seiner geschichtsphilosophischen Instrumen‐ talisierung - reflexionsdualistisch verstellt.» Birgit Sandkaulen, «Modell 2: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel», S. 186. Sandkaulen wirft Adorno vor, er reduziere die am Gedanken der Individualität orientierte dreipolige Dialektik von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem bei Hegel auf eine Dualität von Allgemeinem und Besonderen. - Partiell müsste unsere Abwehr dieser Deutungslinie bleiben, weil ihr zuzugeben ist, dass sich Adorno tatsächlich einer von Hegel für überwunden befundenen ‹Reflexionsphilosophie› verpflichtet - der kantischen. Nur ist die Interpre‐ tation derselben als dualistisch kaum im kantischen Reflexionsmodell selbst fundiert, sondern vielmehr in dem triumphierenden Narrativ der hegelschen Kantkritik. Es zeigt sich aber, dass der Dualismus-Vorwurf an beide - Adorno und Kant - verfehlt ist. Mit Adorno kann dem etwa entgegengehalten werden, dass das negativ-dialektische Reflexionsmodell seinen eigenen terminus ad quem gerade nicht in einer «auf zwei Pole reduzierten Form» (ibidem, S. 189) von Dialektik findet, und trotzdem Hegel kritisieren kann. 59 Adorno, GS 6, S.-143. wir angesichts dessen nach der Möglichkeit negativer Dialektik, so ist dazu eine gänzlich andere Art der Vermittlung erfordert, eine die im Zuge der Vermittlung der Grenze des Vermittlungszusammenhangs gewahr wird - eine grenzbegriffliche Dialektik. Diese beschreibt keine dualistische Verkürzung der hegelschen Dialektik, sondern ein anderes dreipoliges Vermittlungsgeschehen. 58 Denn: «Der Dualismus ist dem philosophischen Gedanken vorfindlich und so unausweichlich, wie er zum Falschen wird im Fortgang des Denkens.» 59 Ist der Dualismus infolgedessen wahr und unwahr zugleich, so gilt es, dessen Struktur niemals als gegebenen Inhalt zu betrachten, sondern die einander gegenübergestellten Momente in die Dynamik der Selbstreflexion einzubringen. Die Selbstreflexion der dialektischen Vernunft nimmt über den Umweg der Inb‐ licknahme der einander ergänzenden, im Ganzen jedoch unwahren Alternativen 106 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="107"?> 60 Ibidem. 61 Das entspricht auch der Selbsteinschätzung Adornos (vgl. Adorno, NaS IV 13, S. 136). Für Guido Kreis besteht der Sinn der globalen Nichtidentität bei Adorno darin, die Inkonsistenz der hegelschen Begriffstotalität aufzuzeigen und eine negative Dialektik des Unendlichen in Gang zu bringen (Vgl. Guido Kreis, Negative Dialektik des Un‐ endlichen. Kant, Hegel, Cantor, Berlin 2015, passim; sowie ders., «‹Nichtidentität› als Reflexionskategorie. Zum systematischen Zentrum der Negativen Dialektik», in: Mario Schärli/ Marc N. Sommer (Hg.), Das Ärgernis der Philosophie, S. 13-48, hier: 47). Diese Anschlussfigur an Adorno scheint zwar der Sache nach angezeigt, trifft die Sache der Dialektik bei Adorno aber nur bedingt, da sie erneut zur spekulativen Tugend erklären muss, was Adorno einen Mangel darstellt. Kant hat diesen Mangel gesehen, da die negative Dialektik des Unendlichen bei ihm lediglich die fortlaufende Verwechslung der Widerspruchsverfasstheit unserer Abschlussgedanken über die Welt mit der Welt darstellt und sich nicht zu einem Ganzen zusammenschließt, ohne den Skopus der eigenen Logik dadurch aufzusprengen. Man wird den Verdacht nicht los, dass Adorno das gemeint haben dürfte, wenn er betonen wollte, dass der Widerspruch «kein herakliteisch Wesenhaftes» sei, sondern ein erkenntniskritischer Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff» (Adorno, GS 6, S. 17). Für Stekeler-Weithofer besteht das «Hauptrahmenproblem» von Kreis’ Buch «in der Tat darin, dass die Antinomien des Unendlichen durchgängig inhaltlich, objektstufig, diskutiert werden» und macht dieses Problem am «Mangel einer metastufigen Konsti‐ tutionstheorie fest» (Pirmin Stekeler-Weithofer, «Buchnotiz zu Guido Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen. Kant, Hegel, Cantor, Berlin. Suhrkamp 2015», in: Philosophi‐ sche Rundschau 65, 2018, S.-75). nämlich ein Drittes in den Blick. Über Kant und die Entwicklung der Philosophie nach Kant schreibt Adorno: Danach träten Wahrheit und Unwahrheit der Kantischen Philosophie auseinander. Wahr ist sie, indem sie die Illusion des unmittelbaren Wissens vom Absoluten zerstört; unwahr, indem sie dies Absolute mit einem Modell beschreibt, das einem unmittelbaren Bewußtsein, wäre es auch erst dem intellectus archetypus, entspräche. Der Nachweis dieser Unwahrheit ist die Wahrheit des nach-Kantischen Idealismus; dieser aber unwahr wiederum darin, daß er die subjektiv vermittelte Wahrheit dem Subjekt an sich gleichsetzt, als wäre dessen reiner Begriff Sein selber. 60 Diese erneute Rückwendung auf und gegen sich selbst vollzieht sich bei Adorno also im Zuge einer grundlegenderen Neubeurteilung der (schon einmal auf die Füße gestellten) Dialektik Hegels. Diese Neubeurteilung erfolgt mit Blick auf den Ort der Dialektik in die Wirklichkeit. In die geschichtliche Wirklichkeit ist die dialektische Vernunft auch dort noch eingelassen, wo sie negativ wird und Dialektizität und Unwahrheit des Ganzen als Wechselbestimmungen erachtet. Sommer und Kreis machen die Differenz Adornos zu Hegel deshalb zu Recht nicht an binnenstrukturellen Unterschieden beider Dialektik-Konzeptionen fest, sondern an einem globalen Unterschied. 61 Der globale Unterschied zu 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 107 <?page no="108"?> 62 Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-142. 63 Hier wäre Adorno wohl derart mit Schelling engzuführen, wie es Dews versucht hat. Vgl. Peter Dews, «Dialectics and the Transcendence of Dialectics: Adorno’s Relation to Schelling», in: British Journal for the History of Philosophy 22/ 6, 2014, S.-1180-1207. 64 Adorno, GS 6, S.-140. 65 Ibidem. Vgl. zum Nichtbegrifflichen den nächsten Abschnitt A/ 2. Hegel lasse sich, schreibt Sommer, «nicht im Gedanken einer Dialektik von Nichtidentität und Identität» festmachen, weil «auch bei Adorno […] Nicht‐ identität immer durch Identität vermittelt» sei, «wie bereits der Begriff ‹Nicht- Identität› ausdrückt». 62 Dass Sommer die Formulierung ‹Nicht-Identität› mit Bindestrich wählt, ist vielsagend. Sie weist auf den elementaren, aber folge‐ reichen Umstand hin, dass Nichtidentität zunächst nur negierte Identität ist. Die negierte Identität ist als Nichtidentität identifiziert dann nur noch durch Dialektik als solche einzuholen - sie ist ja der uneinholbare Grund des identifi‐ zierenden Denkens. Kraft dieser Uneinholbarkeit ist die negierte Identität dann der Grund zur negativistischen Kritik am identifizierenden Denken, und kraft ihrer Grundsätzlichkeit zugleich der Grund zur Dialektik. 63 Insofern ist «Nicht- Identität» wahrlich ein Zentralbegriff bei Adorno. Adorno bleibt ein Dialektiker in traditionellem Sinne, da dieser Zentralbegriff nur über den Umweg der Negation von Identität und nicht unmittelbar zu fassen ist. Diese Umwegigkeit trägt sich in den Gehalt der adornoschen Dialektik ein. Als «Kritik der Ontologie» etwa wolle die negative Dialektik «auf keine andere Ontologie hinaus, auch auf keine des Nichtontologischen». Denn: «Sie setzte sonst bloß ein Anderes als das schlechthin Erste; diesmal nicht die absolute Iden‐ tität, Sein, den Begriff, sondern das Nichtidentische, Seiende, die Faktizität». 64 Der globale Unterschied zur positiven Dialektik ergibt sich folglich aus einer grundsätzlich anderen Beurteilung des Negationsverhältnisses zwischen Iden‐ tität und Nichtidentität. Dieses Verhältnis ist das Thema der identifizierenden Vollzüge der kritischen Theorie. Es steht seinerseits unter der Maßgabe der besagten Formel absoluter Nichtidentität. Sonst «hypostasierte sie [die Kritik an der Ontologie, C.M.] den Begriff des Nichtbegrifflichen und handelte dem zuwider, was er meint». 65 Als Name für dieses Ableitungsverhältnis von Identität und Nichtidentität ist Negation bei Adorno so etwas wie der Inbegriff des «Ver‐ wiesensein[s] der Identität auf Nichtidentisches» - die Rechtsgrundlage, um überall die idealistische These widerlegen zu können, wonach der Begriff dieses Negationsverhältnisses die Vernunft dazu ermächtigte, das Ganze als Verwei‐ sungszusammenhang von Negationen positiv zu bestimmen. Als Grundsatz der 108 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="109"?> 66 Ibidem, S.-126-127; Hervorhebung C.M. 67 Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S.-204. 68 Ibidem. 69 Diese grenzbegriffliche Funktion der Nichtidentität gilt es in Abschnitt 2 und 3 über den dialektischen Grenzbegriff des Nichtbegrifflichen im Nichtidentischen zu konsolidieren. Kritik ist die dialektische Einsicht in den Zusammenhang von Identität und Nichtidentität aber «der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie». 66 VI. Adornos Kritik der positiv-dialektischen Formel absoluter Identität hat eine wichtige Konsequenz ergeben. Sie lautet auf die Einsicht, dass wir einen erkennt‐ niskritischen Begriff von Negation benötigen, um das Negativwerden der Dia‐ lektik bei Adorno nach- und mitzuvollziehen. Dieser erkenntniskritische Begriff soll die Prämisse darstellen, kraft derer die Gleichursprünglichkeit von Identität und Nichtidentität als ein Verweis auf Nichtidentität statt auf Identität gedeutet werden kann. Die «dialektische […] Einsicht in die Nichtidentität in der Iden‐ tität», die Adorno unzweideutig Hegel zuschreibt, wird so noch einmal in den Skopus einer Kritik der dialektischen Erkenntnisanspruchs (re-)integriert, ohne dass die innere Strukturbestimmtheit der Dialektik angetastet werden müsste, d. h., ohne dass die dreipolige Dialektik Hegels reflexionsdualistisch verzerrt würde. Adornos Hegelianismus kann uns nur unter dem Vorzeichen einer globalen Erkenntniskritik auf den globalen Unterschied zu Hegel führen. Mit Recht hat Anke Thyen daher vorgeschlagen, «Nichtidentität als Grenz‐ begriff des Begrifflichen» 67 zu verstehen. Als Grenzbegriff habe die Nichtidentität bei Adorno «einen methodologischen Sinn». 68 Dieser methodologische Sinn der Nichtidentität gestattet es uns nämlich nicht, Nichtidentität als einen gesi‐ cherten Wissensbestand zu betrachten. Entsprechend erlaubt die Methodenbes‐ timmtheit der Nichtidentität auch nicht, dass das Nichtidentische objektstufig verabsolutiert wird. Der Begriff der Nichtidentität hält bei Adorno unablässig zur Vermittlung an; die Vermittlung aber hält er zur Selbstkritik an - darin besteht der methodologische Sinn des dialektischen Kernbegriffs. Die grenzbegriffliche Funktion der Nichtidentität wird bei Adorno also auf das Gegenteil eines erstarrten Reflexionsdualismus verpflichtet: auf die unaufhörliche Dynamisie‐ rung der Erkenntnisdualität durch Selbstkritik. 69 Wie bei Kant ist also auch bei Adorno alles, was Dualismus schreit, im Grunde nur das Thema der Kritik und wir tun gut daran, die Pointe dieser Thematisierung nicht als Dogma misszuverstehen. Die zunächst unbestimmt bleibende Mitte der negativ-dialektischen Vermitt‐ lung gewinnt daher nicht durch das letzte Wort einer versöhnenden ‹Synthese› an 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 109 <?page no="110"?> 70 Adorno, GS 6, S.-41. 71 Dazu Michael Städler, «Die Wahrheit der Unwahrheit», in: Zeitschrift für kritische Theorie 26/ 27, 2008, S.-37-54. 72 Adorno, GS 6, S.-24. 73 Adorno, NaS IV 13, S.-65. 74 Um den methodologischen Sinn der Nichtidentität trotz dieser Verkomplizierung im Begriff der Wahrheit zu verstehen, hilft uns die kantische Unterscheidung der Kategorien von Realität und Dasein weiter. Aus Kants Kategorientafel können wir entnehmen, dass die Kategorie der Realität, die die Qualität der Erkenntnis antizipiert, nicht schon die daseiende Wirklichkeit der Erfahrungsstruktur verbürgt, sondern nur deren kategoriale Idealität. Realität meint, als Einheitsfunktion des Denkens, die Sachhaltigkeit eines Urteilsgehalts, nie schon den Gehalt als solchen. Die Wirklichkeit des begrifflichen Gehalts ist daher die Angelegenheit der Modalität des Urteils (ist der Gehalt da, möglicherweise da, oder notwendig zu aller Zeit da? ), letztlich also eine Frage der Anwendung des Urteilsgehalts auf Erfahrungsgegenstände. Der ontologische Gottesbeweis etwa scheitert für Kant, weil er das Dasein der Gottheit in der Sachhaltigkeit des Gottesbegriffs bloß zu antizipieren, nicht aber zu vergegenwärtigen vermag. Man müsste nach Kant also sagen: ein ‹daseiender›, ein wirklicher Gott bedürfte als solcher niemals eines Beweises. Die Kategorie der Realität antizipiert grundsätzlich nur die qualitative Bestimmtheit von Erfahrung überhaupt (i.e. die Gradbestimmtheit sinnlicher Information) - «alles übrige bleibt der Erfahrung überlassen» (Kant, KrV, A 176/ B 218). inhaltlicher Bestimmtheit. Die Vermittlung mit konkretem Inhalt dient nur der Sättigung einer Limitationsfigur, i.e. dem Nachweis der Unversöhntheit der - wenn man so will: dualistisch einander limitierenden Momente: «Im unversöhnten Stand wird Nichtidentität als Negatives erfahren.» 70 Erklärt die Dialektik nun den unversöhnten Stand als solchen zum Moment des absoluten Geistes, erklärt sie die Nichtidentität zu einem Wahrmacher ihrer theoretischen Bezugnahmen auf die Welt. Für Adorno hingegen ist dieser Wahrheitsgehalt nur als Ausdruck der Unwahrheit der Theorie des Konkreten mit Blick auf die konkrete Bestimmung des Absoluten zu haben. Unwahrheit ist ein oft wiederkehrender, zentraler Terminus bei Adorno; 71 er zeigt meistens an, dass sich der beanspruchte Gehalt eines Begriffs, eines Urteils oder eines Schlussgebildes nicht im Einklang mit der beurteilten Sache befindet. Auch der Gehalt des absoluten Idealismus bedarf nämlich «nichtbegrifflicher, deiktischer Momente», 72 um wahr zu sein. Dass der Idealismus «die Identität des Seienden mit dem Geist» 73 antizipiert, bedeutet für Adorno also noch nicht, dass das Antizipierte vollends in der Antizipations‐ struktur zugegen wäre. Es könnte ja die Wahrheit des Idealismus als Ontologie des Falschen gerade der Schein einer höheren Unwahrheit sein, die sich durch Erkenntniskritik zur Darstellung bringen muss. 74 VII. Der Unterschied zwischen dem spekulativ-dialektischen und dem negativ-dia‐ lektischen Sinn der Zusammenstellung von Identität und Nichtidentität gewinnt 110 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="111"?> 75 Adorno, NaS IV 13, S. 221; Hervorhebung C.M. Vgl. auch die identischen Passagen in «Fortschritt», Adorno, GS 10.2, S.-628. 76 Hegel, TWA 5, S.-69. weiter an Bestimmtheit, wenn wir den Kantbezug Adornos in der 17. Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit betrachten. Über «Kants unvergleichliche Größe» heißt es im Zusammenhang der Reflexion auf den Fortschritt in der Geschichte: Kants unvergleichliche Größe bewährte nicht zuletzt sich darin, daß er die Einheit der Vernunft noch in ihrem widerspruchsvollen Gebrauch, dem naturbeherrschenden der nach seiner Sprache theoretischen, kausalmechanischen, und dem versöhnlich der Natur sich anschmiegenden der Urteilskraft, unbestechlich festhielt und ihre Differenz strikt in die Selbsteingrenzung der naturbeherrschenden Vernunft verlegte. 75 Der Kantbezug soll an dieser Stelle verdeutlichen, dass der Sinn der Vermittlung von Einheit und Verschiedenheit bei Kant radikal anders geartet ist als derjenige der Vermittlungskonzeption Hegels. In der Emphase auf die Unvergleichlichkeit Kants offenbart sich daher die systematische Relevanz von Adornos Kantbezug. Er soll hier ermöglichen, die Differenz zu Hegel und damit die Eigenbestimmt‐ heit einer negativen Dialektik zu artikulieren. Die kantische Philosophie ist also nicht nur die Vorstufe der hegelschen Dialektik, auch wenn sie das zweifellos auch ist. Die Pointe liegt vielmehr in der Wendung, dass die Differenz zwischen zweckmäßiger und kausal-mechanistischer Geschichtsbetrachtung - also zwi‐ schen der Bezugnahme auf Fortschritt und Trümmerhaufen der Geschichte - bei Kant als «Differenz strikt in die Selbsteingrenzung der naturbeherrschenden Vernunft verlegt […]» werde. Keineswegs also ist das Vermittlungsgeschehen, zu dem Hegels spekulative Geschichtsbetrachtung anleitet, gar nicht in Gang gebracht. Es wird bei Kant jedoch insgesamt anders verortet und damit anders beurteilt - d. i. als Grund zur Kritik statt als Grund zur Ermächtigung und zur inhaltlichen Bereicherung des spekulativen Blicks. Damit ist nicht gesagt, dass die Kritik nicht auch spekulative Relevanz erlangen könnte - im Gegenteil: Die negative Dialektik reetabliert die Kritik ge‐ rade als die angemessenere Vollzugsweise spekulativen Denkens und verteidigt sie gegen die positive Überformung durch die Dialektik. Während Vermittlung nämlich, nach Hegel, die «Unterscheidung und Beziehung von Verschiedenem aufeinander» 76 bedeutet und gemäß dem Prinzip der absoluten Einheit des Verschiedenen verfährt, besagt die negative Dialektik als Kritik, dass gerade die Unterscheidung die angemessene Weise der Beziehung von Verschiedenem aufeinander ist. Die Unterscheidung gewinnt spekulative Relevanz als analogi‐ 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 111 <?page no="112"?> 77 Vgl. Abschnitt C/ 1.c dieser Arbeit. 78 Zu dieser Problematik in der Konstellation Adorno-Heidegger vgl. Philipp von Wussow, Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie, Würzburg 2007, S. 251; Hermann Mörchen, Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikations‐ verweigerung, Stuttgart 1981, 89. 79 Adorno, NaS IV 13, S.-221. 80 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, in: ders., Gesamtausgabe (I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd.-3), Frankfurt am Main 1991, S.-43. 81 Das Wieder-ins-Recht-Setzen der Kritik gegen ihre spekulative Überformung ist nicht zwingend reaktionär, wenn man die Möglichkeit erwägt, dass der Schritt von Kant zu Hegel nur dem hegelschen Narrativ gemäß überhaupt einen Fortschritt darstellt, ge‐ schweige denn ein notwendiger Fortschritt gewesen sein sollte. Dass das Fortschreiten der Geschichte noch nicht gleich Fortschritt ist, ist einer der Kernthesen der Geschichts‐ philosophie von Benjamin und Adorno. sche Grenzbestimmung der Dialektik im doppelten Genitiv (subiectivus und obiectivus) einer Kritik der dialektischen Vernunft. 77 Unmittelbar nach der zitierten Stelle artikuliert Adorno die Idee einer nega‐ tiven Dialektik im Modus der problemgeschichtlichen Bezugnahme auf Kant und Hegel - mit einem Seitenhieb gegen Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik von 1929: 78 Eine metaphysische Interpretation Kants hätte diesem keine latente Ontologie zu imputieren, sondern die Struktur seines gesamten Denkens als eine Dialektik von Aufklärung zu lesen, die der Dialektiker par excellence, Hegel, nicht gewahrt, weil er im Bewußtsein der Einen Vernunft deren Grenze tilgt und damit in die mythische Totalität gerät, die er für ‹versöhnt› hält in der absoluten Idee. 79 Es gibt offenbar eine Dialektik, «die der Dialektiker par excellence, Hegel, nicht gewahrt» und das ist die Dialektik der Aufklärung. Nur eine negative Dialektik ist also - sofern hier wirklich eine sachliche Bestimmung derselben mit impliziert ist - dazu fähig, das Ganze aus Fortschritt und Trümmerhaufen in den Blick zu nehmen, ohne eine positive These über die Einheit des Ganzen zu formulieren. Die Negativität des Ganzen zieht sich vielmehr wie ein Riss durch die Einheit der denkenden Betrachtung der Geschichte. Damit ist die negative Dialektik eben auch kein «Seinsverständnis aus dem Grunde der Endlichkeit des Daseins». 80 Sie wäre - aufgrund dieses Risses - nur als Analytik des Falschen eine Ontologie zu nennen; sie ist also keine Ontologie. Als Besinnung auf den Riss zwischen Betrachtung und betrachteter Sache setzt Adorno den kantischen Gedanken einer dialektischen Grenzbestimmung der instrumentellen Vernunft gegen dessen Umdeutung bei Hegel (und noch Heidegger) wieder ins Recht. 81 Die Besinnung auf den Riss, die dialektische Grenzbestimmung, erfolgt nämlich nicht als eine Art kontemplative Einkehr des Subjekts in sich selbst, sondern als 112 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="113"?> 82 Adorno, GS 6, S.-323. 83 Adorno, NaS IV 1, S.-402. problemgeschichtlich bestimmter Vollzug der Anspruchskritik der spekulativen Tradition: Weil, wider den Kantischen Chorismos, Philosophie nicht als Formenlehre im All‐ gemeinen sich einrichten, sondern den Inhalt selbst durchdringen soll, wird, in großartig verhängnisvoller petitio principii, die Wirklichkeit von der Philosophie derart zugerüstet, daß sie der repressiven Identität mit jener sich fügt. Das Wahrste an Hegel, das Bewußtsein des Besonderen, ohne dessen Schwere der Begriff der Wirklichkeit zur Farce verkommt, zeitigt das Falscheste, schafft das Besondere fort, nach dem in Hegel Philosophie tastet. 82 Die Stelle besagt: Wahrheit und Falschheit verschränken sich bei Hegel auf eine der Wahrheit abträglichen Weise. Der kantische Impuls aber erweist sich als maßgeblich dafür, dass Adorno einerseits an dem hegelschen Programm einer das Ganze intendierenden Dialektik festhalten, sich andererseits aber in der Negativität des Ganzen der Grenzen des eigenen Vermittlungstuns versichern kann. Der kantische Impuls, Wahrheit und Falschheit miteinander zu vermitteln, besteht nämlich darin, die Wahrheit der Dialektik vom Gelingen des Nachweises der Falschheit eines Erkenntnisanspruchs anhängig zu machen. Nur im Namen einer transzendental angelegten Dialektik vermag das identifizierende Denken, das Ganze (durch Bezugnahme auf einander widerlegende Weltalternativen) in den Blick zu nehmen und im Ganzen zugleich einen Platz für radikale Andersheit einzuräumen. «Die Identität oder die Synthesis», hält Adorno in der 26. Vorlesung zur Erkenntnistheorie von 1958 fest, «erstreckt sich [bei Kant, C.M.] zwar über das Ganze, aber es gehört zu dem Sinn, zu dem eigenen Sinn dieser Identität, daß sie doch zugleich auch ein Nichtidentisches gelten läßt». Geradezu exemplarisch für das in der vorliegenden Arbeit behandelte Thema geht Adorno im nächsten Satz von der Kantexegese unvermittelt zur Explikation einer systematischen Einsicht über: «Ich würde sagen, daß überhaupt schließ‐ lich der Begriff der Identität nur einen Sinn hat, soweit er sich auf ein Nicht- Identisches, Unterschiedenes bezieht.» 83 Diese der Sache nach bereits exponierte Einsicht muss wiederum auf die Artikulation ihrer eigenen historischen Bestimmtheit zurückwirken. Erinnern wir uns daran, dass Adorno die Dialektik als Korrektiv des Urfehlers aller Erkenntnis ansieht, so muss sich auch der Blick auf die Geschichte der Dialektik seit Kant und Hegel verwandeln. 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 113 <?page no="114"?> 84 Ibidem, S.-403f. 85 Vgl. Adorno, NaS IV 2, S.-27. 86 Adorno, GS 6, S.-233. 87 Ibidem, 374. Was übrigens dem Selbstverständnis Hegels entspricht. In der Wissenschaft der Logik hebt Hegel explizit (wenngleich unter den üblichen Vorbehalten seiner Kantkritik) hervor: «Die kritische Philosophie machte zwar bereits die Metaphysik zur Logik, aber sie wie der spätere Idealismus gab, wie vorhin erinnert worden, aus Angst vor dem Objekt den logischen Bestimmungen eine wesentliche subjektive Bedeutung; dadurch blieben sie zugleich mit dem Objekte, das sie flohen, behaftet, und ein Dingan-sich, ein unendlicher Anstoß, blieb als ein Jenseits an ihnen übrig.» Hegel, TWA 5, S.-45. Das ist eigentlich, wenn ich es so einmal sagen darf - und am Schluß der Vorlesung darf man sich ja solche Frechheiten vielleicht einmal gestatten -, das Prinzip der Dialektik, und das kann man hier an Kant zeigen; man kann, wenn man will, es reiner an Kant zeigen als an Hegel, weil ja bei Hegel in der Tat nun wirklich dieses Moment des Nicht-Identischen oder des Unmittelbaren, trotzdem Hegel das, was ich eben sage, weiß Gott gewußt und immer wieder behauptet hat, doch im Fortgang seiner Philosophie schließlich ganz weggeschafft wird, so daß also damit schließlich am Ende eine absolute Herrschaft des Begriffs eben bei ihm herausschaut. 84 Die Reinheit, von der Adorno hier spricht, ist nicht die von ihm so oft (meta-)kri‐ tisierte transzendentale Reinheit. Eher gemeint ist die Reinheit, mit der das Prinzip der Dialektik bei Kant hervortritt, bevor sie durch Hegel zur ausgezeich‐ neten Erkenntnismethode erhoben wurde. Das Prinzip der Dialektik ist, sich als Erkenntnismethode durch Erkenntniskritik zu verwirklichen. Das Programm der negativen Dialektik ist daher als problemgeschichtlich angelegte Kritik des Erkenntnisanspruchs der Dialektik als solcher konzipiert. Wenn Adorno andernorts sagt, dass die Dialektik Hegels die zu sich gekommene, kantische Philosophie sei, 85 so bedeutet das also dies: Wir müssen von einer Strukturi‐ somorphie zwischen Dialektik und Kritik ausgehen, wonach der Unterschied zwischen beidem nicht am Inhalt festgemacht werden kann - also nicht davon abhängt, ob die eine oder die andere Philosophie die glaubwürdigere These über die Welt vertritt, sondern daran, wie sich diese These jeweils auf die Welt bezieht. So ist für Adorno das, was bei Hegel Geist heißt, samt seiner negativen Veräußerung in die Geschichte (die dann im Rahmen einer Metaphysik qua Logik nachvollziehend erschlossen wird) bei Kant bereits ganz da - als das Geschehen der Grenzbestimmung der reinen Vernunft. «Hegels Doktrin, Logik und Metaphysik seien dasselbe, wohnt Kant inne, ohne daß sie bereits thema‐ tisch würde.» 86 Und: «Insofern präformiert die Kritik der reinen Vernunft […] die Hegelsche Lehre, Logik und Metaphysik seien dasselbe […].» 87 Die Identität von Metaphysik und Logik wird also durch die besagte Strukturisomorphie von 114 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="115"?> 88 Adorno, NaS IV 4, S.-334-335; Hervorhebung C.M. 89 Adorno, GS 6, S.-27. Dialektik und Kritik begründet, die der Tradition einmal zur Grenzbestimmung, einmal zur spekulativen Erweiterung gereicht hat. Und weil diese Ambivalenz der Dialektik zwischen Kant und Hegel gerade das Thema jener ‹Selbstreflexion der Dialektik› bildet, die Adorno einfordert, ist die Wechselbestimmtheit von Dialektik und Kritik am Ende im Horizont der Selbstkritik zu verorten. Anders gesagt: Die Wechselbestimmtheit von Dialektik und Kritik dient dem Denken bei Adorno also nicht unmittelbar zur Ermächtigung des spekulativen Denkens, sondern schränkt dieses zunächst ein. Konkret bedeutet dies, dass Adorno den obersten spekulativen Begriff - ‹Gott› - wieder als aporetischen Begriff à la Kant zu lesen lehrt. In der Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» heißt es in diesem Sinne: Jedenfalls also, - dieser Gedanke, daß der Geist selber, auf den die subjektiv gerichtete Analyse stößt, dann, wenn er nicht der bloßen Faktizität verfallen will, selber eine metaphysische Entität sein soll; daß er selbst das Absolute sein muß: dieser Gedanke ist objektiv in dieser Struktur des aporetischen Begriffs bei Kant selbst angelegt. Das heißt: nur dann, wenn allem Seienden gegenüber die Sphäre des Transzendentalen eben selbst doch wirklich als ein Transzendentes gedacht wird, nur dann kann sie eigentlich das erfüllen, was ihr von Kant zugemutet wird. Insofern also kann man sagen, daß die Hypostase des Geistes als Gott, wie sie die späteren idealistischen Philosophen vollzogen haben, der oberste aporetische Begriff ist. 88 Es gilt mit Nachdruck darauf hinzuweisen, worum es Adorno hier geht: eine über historische Bezüge artikulierte, systematisch relevante Rückverwandlung der absoluten Identität Hegels in einen aporetischen Begriff. Adorno möchte zeigen, dass der oberste aporetische Begriff die Nichtidentität des Identischen und Nichtidentischen ist und dass dieser Begriff als Gedanke bei Kant Profil ge‐ winnt. Das widerspricht der gängigen Lesart, die auch Adorno nachgesagt wird, wonach die große Tat Hegels darin bestand, das Denken von seinen Schranken befreit und die repressiven Züge des Kritizismus unterwandert zu haben. Der oberste aporetische Begriff, der im Horizont der hegelschen Kantkritik zum Inhalt der höchsten Erkenntnis geadelt wird, ist bei Adorno stattdessen wieder als Moment der kritischen Reflexion - als Aporie -zu begreifen. Es ist dies die Grundaporie des begrifflichen Denkens. Diese Aporie muss negative Dialektik stets von neuem vor Augen führen, um «über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen». 89 In positiver Hinsicht beschreibt die Dialektik Adornos da‐ nach eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem obersten aporetischen 1. Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen 115 <?page no="116"?> 90 Ibidem, S.-175. 91 Ibidem, S.-17. Begriff; der Sinn dieser Auseinandersetzung ist nach Maßgabe dieses Begriffs negativ, da der Begriff der Nichtidentität nichts tut, als zur Einsicht anzuhalten, dass der dialektisch gewonnene Gehalt ohne die erkenntnislimitative Funktion nicht hätte gewonnen werden können. Insofern beschreibt das Nichtidentische eine notwendige Voraussetzung jedes identifizierenden Vollzugs. Mit diesem Abschnitt wurde versucht, mit Adorno und Kant den Begriff der Nichtidentität als diesen obersten aporetischen Begriff zu reetablieren, um darüber das Recht der Dialektik als einen Modus der Kritik wieder zu begründen - konkret: der Kritik an der Amphibolie von Identischem und Nichtidentischem in der spekulativ-rationalistischen Dialektik Hegels. Adorno stellt in diesem Sinne klar: Hegel «restauriert die Verfahrungsweise des Denkens, welche Kant am älteren Rationalismus als Amphibolie der Reflexionsbegriffe mit Grund tadelt. Sophistisch wird die Hegelsche Dialektik, wo sie mißlingt.» 90 Mit Thyen ist daher auch zu betonen gewesen: Nichtidentität bleibt bei Adorno ein Grenzbe‐ griff, auch wo er sich inhaltlich ausartikuliert. Der oberste aporetische Begriff erhält so aber eine letztbegründende Funktion mit Blick auf die Kritik des begrifflichen Denkens im doppelten Genitiv. Die doppelte Begründungsleistung besteht darin, dem begrifflichen Denken einerseits die Hypostasierung seiner Begriffsbestimmtheit final zu versagen - um das Begriffsganze nicht mit dem Weltganzen zu verwechseln - und so dem begrifflichen Denken seine Grenze aufzuzeigen. Andererseits aber wird das Denken dazu angehalten, den versagten Überstieg immer wieder von neuem zu versuchen. Denn die kritische Einsicht hängt von der Dynamik des Überstiegs ab. Ohne diese Dynamik ließe sich die Grenzbegriffsfunktion der Nichtidentität nicht ins Spiel bringen, folglich auch kein kritischer Anspruch auf das Wesen des begrifflichen Denkens behaupten. Die im Namen der Nichtidentität durchgeführte Kritik kann sich also, wie gezeigt, nur vollziehen über eine Negation der spekulativen Momente der Vermittlung. Das Dritte nämlich, das die dialektische Kritik in den Blick nimmt, ist die Grenze, die das unaufhaltsame Aufspreizen des Begriffs des Ganzen im Namen des beanspruchten Ganzen kritisiert. Darum - d. h. im Blick auf diese Grenze der Dialektik - kann Adorno schreiben: «Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.» 91 Die Wahrheit der Konsequenzlogik der negativ-dialektischen Reflexion hängt jetzt an dem Vermögen des begrifflichen Denkens zur Besinnung auf die Bedingungen und Konsequenzen seines eigenen Vermittlungstuns. 116 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="117"?> 92 Adorno, NaS IV 2, S.-121. 2. Der Begriff des Nichtbegrifflichen I. Die Bestimmungen der Einerleiheit und Verschiedenheit werden im Horizont transzendentaler Reflexion unter dem Gesichtspunkt ihrer Verhältnisbestimmt‐ heit durch und zueinander thematisiert. Das bedeutet, jede begriffliche Bestim‐ mung des einen Moments führt die Bestimmung des anderen als notwendiges Implikat mit sich und umgekehrt. Darin gerade erweisen sie sich als Refle‐ xionsbegriffe. Der Name ‹Reflexion› bringt das wechselseitige Implikationsver‐ hältnis der Reflexionsbegriffe zum einheitlichen Ausdruck: Die Begriffe, anhand derer sich dieser einheitliche Ausdruck thematisch ausdifferenziert, spiegeln einander gleichsam. Wie bei allen Reflexionsbegriffspaaren ist also auch im Fall von Einerleiheit und Verschiedenheit der ausschließliche Akzent auf dem einen Moment nur über den Ausschluss des anderen Moments zu haben. Bei allen Reflexionsbegriffen muss erklärt werden: Jede eindeutige Bestimmung schließt die Verneinung der grundlegenden Zweideutigkeit des Verhältnisses in sich, innerhalb dessen das Eindeutige Gestalt gewinnt. Die Einheit zweier Reflexionsbestimmungen ist daher eine zweideutig positive, aber eindeutig negative Einheit. In diesem Abschnitt soll untersucht werden, wie Adornos Emphase auf das Nichtbegriffliche im Horizont des negativ-dialektischen Reflexionsmodells genau zu verstehen ist. Zunächst scheint der dialektische Begriff des Nicht‐ begrifflichen ein Allgemeinbegriff wie jeder andere zu sein. Er subsumiert dasjenige, was nicht Begriff ist, unter sich. Damit droht die Bestimmung aber in einen bösen Zirkel zu geraten, der den Lösungsweg der Dialektik zurück in die ursprüngliche Problemstellung einbiegen ließe. Die Dialektik sollte ja dem Nichtbegrifflichen innerhalb des Begriffs zu seinem Eigenrecht verhelfen, erzeugt jedoch die besagte Problematik von selbst wieder, sobald sie das Nichtbegriffliche zu einer theoretischen Kategorie fixiert. Worin kann also die Problemlösung bestehen, die die Dialektik gegen die Mängel des identifizie‐ renden Denkens aufzubieten hat und die sich im Begriff des Nichtbegrifflichen weiter konkretisiert? Das Nichtbegriffliche ist immer das Andere seiner begrifflichen Identifika‐ tionen. Auch diese analytische Bestimmung kann seinem Gehalt daher nicht gerecht werden. Der vorangehende Satz wäre, nach Adornos Beurteilung, eben «ein falscher Satz». 92 Diese geradezu sinnkonstitutive Unmöglichkeit, das Nichtbegriffliche begrifflich zu identifizieren, überträgt sich nun wie folgt auf das dialektische Denken: Dieses Denken sieht sich angesichts der inhaltlichen 2. Der Begriff des Nichtbegrifflichen 117 <?page no="118"?> 93 Adorno, GS 6, S.-24. Forderung des Nichtbegrifflichen gezwungen, seine Vermittlungen so zu kon‐ zipieren, dass diese Vermittlungen ein Wissen zeitigen - das Wissen, welcher Aspekt des Inhalts dem Vermittlungstun des Begriffs und welcher der als vermittelt wahrgenommenen Sache geschuldet ist. Dieses kritische (Selbst-)Be‐ wusstsein der dialektischen Vernunft muss jeden Inhalt der Dialektik begleiten können. Mit anderen Worten: Das Nichtbegriffliche zwingt als Zentralgehalt der Dialektik die Dialektik dazu, den Vollzug der Vermittlung mit dem Vollzug der Erkenntniskritik engzuführen; er stellt daher eine Gestalt des obersten aporetischen Begriffs dar, von dem im vorangehenden Abschnitt die Rede war. II. Diese Veränderung der Blickrichtung auf das eigene Vermittlungstun etabliert die Unterscheidung als den eigentlichen (eindeutig negativen) Sinn der Bezie‐ hung von Verschiedenem (Begriff und Nichtbegriffliches als Positiva) aufein‐ ander. Sie kann, im Anschluss an Kant und Adorno, die kopernikanische Blickrichtung der Dialektik genannt werden. Was unter der kopernikanischen Blickrichtung der Dialektik zu verstehen ist, wird klar, wenn wir die folgende Stelle aus der Einleitung der Negativen Dialektik näher betrachten: Ihn [den Begriff, C.M.] charakterisiert ebenso, auf Nichtbegriffliches sich zu beziehen - so wie schließlich nach traditioneller Erkenntnistheorie jede Definition von Be‐ griffen nichtbegrifflicher, deiktischer Momente bedarf -, wie konträr, als abstrakte Einheit der unter ihm befaßten Onta vom Ontischen sich zu entfernen. Diese Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik. 93 Ein jeder Begriff beschreibt in sich eine spannungsvolle Einheit im Sinne einer gegenläufigen (Adorno: «konträr[en]») Verwiesenheitsstruktur von Abs‐ traktem und Ontischem. Umgedreht werden soll nun die Richtung weg vom Ontischen zum Abstrakten hin zum Ontischen und also weg vom Abstrakten. Das Begriffsein des Begriffs lässt deshalb mehrere Auslegungen zu, je nach dem von welcher Richtung her und auf welche Richtung hin man die Verwie‐ senheitsstruktur auslegt. Adorno unterscheidet zwei Blickrichtungen. Entweder wir legen die Abstraktionsallgemeinheit des Begriffs so aus, dass wir vom Eigenrecht des Besonderen ausgehen und sagen: Um überhaupt ein Begriff zu sein, muss etwas einbegriffen werden, worauf der Begriff qua seiner abstrakten Allgemeinheit verweist. Das wäre der Gesichtspunkt der Verschiedenheit, der sich innerhalb der Verwiesenheitsstruktur von Begriff und Nichtbegrifflichem 118 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="119"?> 94 Zum Begriff der Intention bei Adorno und Kant, vgl. Abschnitt C/ 1.a dieser Arbeit. 95 Dazu passt eine Notiz aus Adornos Handexemplar der Negativen Dialektik, die in Abschnitt D/ 3 eingehender besprochen wird: «Alle Philosophie trifft, vermöge ihrer Verfahrungsweise, eine Vorentscheidung für den Idealismus. Denn sie muß mit Be‐ griffen operieren, kann nicht Stoffe, Nichtbegriffliches, in ihre Texte kleben (vielleicht ist in der Kunst das Prinzip der Collage seiner selbst unbewußt der Protest eben dagegen; als ein deiktisches Moment kennzeichnen lässt. Oder wir gehen vom Eigenrecht des Allgemeinen aus und sagen: Um überhaupt ein Begriff und nicht das darunter befasste Viele des Seienden («Onta») zu sein, muss sich der Begriff als Einheit vom Verschiedenen wesentlich abheben - «entfernen». Das wäre der Gesichtspunkt der Einerleiheit. Die Pointe der negativen Dialektik besteht nun nicht, wie man zunächst meinen könnte, darin, vom Gesichtspunkt des Besonderen auszugehen und das Eigenrecht des Allgemeinen sogleich für widerlegt zu halten. Denn das wäre insofern problematisch, als damit die vitiöse Dialektik wieder von neuem in Gang gesetzt würde, deren Richtigstellung die negative Dialektik gerade sein sollte. Das Besondere würde unter der Hand selbst wieder zu einem abstrakten Allgemeinbegriff. Negative Dialektik erhält ihre Bestimmung also nicht gemäß einer Ausrichtung nach dem besonderen anstatt dem allgemeinen Moment, sondern als selbstkritische Konfiguration der beiden Momente. Konkret: indem sie vom Eigenrecht des Allgemeinen ausgeht und das begriffliche Vermittlungs‐ geschehen dabei dem Nichtidentischen zukehrt, sodass dieses zu seinem Recht innerhalb des Einerleis des Gedankens kommen kann. Mit Blick auf den vorigen Abschnitt heißt das: Die Intention des Denkens auf Nichtidentität erfordert, sich im Begriff der Nichtidentität des Unterschieds von Identität und Nichtidentität zu versichern. Jede direkte Intention auf Nichtidentität ist damit von Beginn an fehlgeleitet, weil sie sich angesichts der Monomanie des identifizierenden Den‐ kens nur als eine verkappte Intention auf Identität herausstellt. Nichtidentität ist als abstrakter Gehalt also gar kein zu intendierender Gehalt; er betrifft als Gehalt die Vollzugsbestimmtheit begrifflicher Intentionen selbst. 94 So sind alle Kategorien der negativen Dialektik wesentlich reflexionsbestimmt. Das heißt, das Nichtbegriffliche wird dabei nur über den Umweg einer kategorischen Kritik am Begriff intendiert. Die negativ-dialektische Reflexion gewinnt ihr Selbstverständnis folglich in Fortsetzung jener Veränderung der Blickrichtung, die Kants kopernikanische Wende einleitete. Adorno muss also nicht gleich den Planeten wechseln, um vom selben Standpunkt wie die Tradition, neu aber davon auszugehen, dass jede Intention auf die Sache selbst zur Selbstkritik angehalten ist, um sich inhaltlich zu erfüllen. 95 Das Kopernikanische an Adornos Reflexionskonzeption 2. Der Begriff des Nichtbegrifflichen 119 <?page no="120"?> auch Thomas Manns Klebetechnik). Dadurch ist aber bereits dafür gesorgt, daß den Begriffen, als dem Material der Philosophie, der Vorrang verschafft wird. Selbst Materie ist eine Abstraktion. Aber Philosophie vermag dies ihr notwendig gesetztes ψεῦδος selbst zu erkennen, zu nennen; und wenn sie von dort weiterdenkt, zwar nicht es zu beseitigen aber so sich umzustrukturieren daß alle ihre Sätze ins Selbstbewußtsein jener Unwahrheit getaucht sind. Eben das ist die Idee einer negativen Dialektik. Zentral.» Adorno, GS 6, S.-531 (zit. n. ders., Notizbuch U, S.-102f.). ist insofern einfach zu benennen. Es besteht darin, eine Korrektur der traditio‐ nell-identifizierenden Blickrichtung einzuleiten, welche als eine Maßnahme zu verstehen ist, das Objekt der Erkenntnis durch kritische Selbstbesinnung auf das eigene Tun (Identifizieren) angemessener zu begreifen. Das entspricht durchaus dem tradierten Sinn einer kopernikanischen Wende: Sobald wir etwa wissen, dass der Standpunkt der Erde ein beweglicher ist, kann das Phänomen der retrograden Planetenbewegung angemessener erklärt werden, als wenn wir weiterhin von der unkritischen Annahme ausgingen, dass sich eine adäquate Bestimmung des Gegenstandes ohne Umweg aus einer Beschreibung seiner Erscheinungsformen ergäbe. Die Wende auf das Subjekt und seine endlichen Erkenntnisformen darf also gerade niemals als Selbstzweck erfolgen, wenn diese Wende eine kritische Wende darstellen soll. Die kritische Besinnung auf das Subjekt erfolgt vielmehr im Namen von Objektivität. All das ist im Begriff des Nichtidentischen, der infolgedessen kein phänomenologischer Gehalt sein darf, mitimpliziert. Analog dazu könnte man mit Blick auf Kants Kopernikanische Wende sagen: Nur wer lernt, Erscheinung und Ding an sich voneinander zu unterscheiden, kann z. B. die Zweckmäßigkeit eines Organismus angemessen begreifen. Das kritische Bewusstsein ist bei Wissensansprüchen auf intelligible Inhalte wie ‹Zweckmäßigkeit› die Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis. Wiederum analog dazu ‹verortet› die negative Dialektik ihre Grundkategorien zunächst im Medium des abstrakten Allgemeinen - aber nicht, um darüber eine abstrakte, allgemeinverbindliche Theorie des Nichtbegrifflichen zu formulieren, sondern um den abstrakten Begriff des Nichtbegrifflichen dem Nichtbegriffli‐ chen zuzukehren und durch bestimmte Negation dieser seiner Allgemeinheit das Besondere zu bestimmen. Der Gang durch die «Eiswüste der Abstraktion» ter‐ miniert in der Erfassung konkreter Inhalte, während die Erfassung konkreter Inhalte nicht möglich wäre ohne den Umweg der Abstraktion. So zeigt sich die Erkenntnisrelevanz der Erkenntniskritik im Feld der Dia‐ lektik: Die Intention auf das Nichtbegriffliche ist gleichbedeutend dem Akt der Selbstbesinnung auf die Formbestimmtheit begrifflichen Denkens: «Aus dem Schein des Ansichseins des Begriffs als einer Einheit des Sinns hinaus führt 120 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="121"?> 96 Adorno, GS 6, S.-24. 97 Vgl. dazu Jürgen Naeher, «‹Unreduzierte Erfahrung› - ‹Verarmung der Erfahrung›», in: ders. (Hg.), Die Negative Dialektik Adornos, Wiesbaden 1984. S.-163-203, hier: 184. 98 Adorno, GS 6, S.-156, 366. 99 Adorno, GS 6, S.-21f. seine Selbstbesinnung auf den eigenen Sinn.» 96 Der im Begriff des Nichtbegriff‐ lichen beanspruchte Gehalt lautet daher nirgends auf das Nichtbegriffliche als Substanz, sondern auf das Nichtbegriffliche als ein reflexives und funktionales Moment der Anspruchskritik. Der nichtbegriffliche Gehalt ist als reflexiv bestimmter dabei zunächst ein Moment der kopernikanischen Wendung der Dialektik. Dieses Moment beschreibt eine Besinnung der Dialektik auf die Abstraktheit noch des eigenen Verfahrens der Vermittlung; wobei die Besinnung im Namen des sich Anschmiegens des Verfahrens an den Inhalt erfolgt. Der Sinn des Nichtbegrifflichen erfordert diese «Selbstbesinnung» des Begriffs (d. h. des begriffsförmigen Denkens) auf den durch sein Verfahren eingeforderten Sinn. Darin besteht die besagte Umkehr der Blickrichtung der traditionellen Philosophie; sie orientiert sich an der Direktive der durch die Einerleiheit des Begriffs überformten Verschiedenheit. Durch den Begriff des Nichtbegriff‐ lichen ‹verinhaltlicht› sich die Dialektik als Erkenntnismethode; er ist insofern wahrlich das «Scharnier negativer Dialektik». 97 Alle begriffliche Vermittlung im Namen des Nichtbegrifflichen dreht sich nun darum, das durch Vermittlung nicht Integrierbare als das Nichtintegrierbare begrifflich zu integrieren. III. Hier kann ihr Hegel nicht weiterhelfen. Denn das Telos der negativ-dialekti‐ schen Selbstbesinnung ist gerade das Nichtbegriffliche als solches - nicht sein Begriff. Entsprechend kann nur der Nachweis des Mangels aller Begriffe (Kant) das Nichtbegriffliche begrifflich integrieren. Um das Nichtbegriffliche also angemessen zu denken, reflektiert die negative Dialektik auf das Wesen der Ab‐ straktionsallgemeinheit als solche - den «Begriff des Begriffs». 98 Die Reflexion auf den Begriff strebt so dessen «Entzauberung» an. 99 Entzauberung bedeutet Auflösung eines Zaubers durch rationalen Nachvollzug seiner Funktionsweise. Worin besteht nun der Zauber des Begriffs? Um den Zauber des Begriffs zu ‹begreifen›, rückt die negativ-dialektische Reflexion den Begriff des Begriffs als solchen in den Blick. Der Begriff des Begriffs ist zunächst der Inbegriff aller möglichen Begriffe. Inbegriffe sind Kollektivsingulare; will heißen, sie sind das Resultat der Transformation einer distributiven in eine kollektive Einheit von Verschiedenem. Der Begriff einer distributiven Einheit von Verschiedenem bezeichnet die lose Einheit Verschie‐ 2. Der Begriff des Nichtbegrifflichen 121 <?page no="122"?> 100 Vgl. Kant, KrV, A 582/ B 610; A 644/ B 672. 101 Ibidem, A 572/ B 600. 102 Ibidem, A 583/ B 611. 103 Adorno, GS 6, S.-24. dener. Er intendiert Einerleiheit daher unter dem Geschichtspunkt ihres Ver‐ teiltseins auf Einzelnes, also unter dem Gesichtspunkt der Verschiedenheit. Eine kollektive Einheit intendiert das Verschiedene dagegen vorweg unter dem Gesichtspunkt seiner Einerleiheit. Kant nennt die Verwandlung der distributiven Einheit von einzelnen Erfah‐ rungen in eine kollektive Einheit der Erfahrung überhaupt eine dialektische Verwandlung. 100 Die dialektische Verwandlung betrifft das transzendentale Ideal. Das transzendentale Ideal wird als «Inbegriff aller Prädicate der Dinge über‐ haupt» eingeführt. 101 Die dialektische Verwandlung beschreibt den Vorgang, durch welchen «diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasier[t]» wird: Dieser Hypostasierungsvorgang besteht nun darin, dass eine qualitative Einheit von Mannigfaltigem als kollektive Einheit identifiziert und mit «dem Begriffe eines Dinges verwechselt» wird. 102 Das Erfahrungsganze wird als Ding in Anspruch genommen (z. B. als ens realissimum), statt dass in dem Einerlei des Möglichkeitsgrundes unserer Erfahrung das Verwiesensein des Einerleis auf die Verschiedenheit reflexiv erfasster Erfahrungsvollzüge erkannt würde. Es ergibt sich also: Der dialektische Schein, der - durch Verwechslung der Orte ‹Einerleiheit› und ‹Verschiedenheit› - aus einem Ideal ein Ding werden lässt, entspringt dem vorkopernikanischen Bewusstsein, gemäß dem sich der Unterschied der Reflexionsmomente genauso gut positiv als Einheit erfassen lässt, ohne dass daraus jene Zweideutigkeit resultierte, die das Thema der Amphiboliekritik bildet, indem sie dem dialektischen Ganzen als kollektiver Einheit jegliche Sachhaltigkeit abspricht. Adornos Entzauberung des Begriffs ist in Analogie zu Kants Kritik an der dialektischen Hypostasierung der distributiven Erfahrungseinheit in eine kollektive nachzuvollziehen. Von Kant her gedacht wird die Erklärung Adornos verständlich: «Die Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift der Philosophie. Es verhindert ihre Wucherung: daß sie sich selbst zum Absoluten werde.» 103 Das vorübergehende Resultat dieser Entzauberung ist die distributive Bestimmtheit des kollektiven Einerleis des philosophischen Begriffs des Begriffs. Der Begriff als solcher wird in seiner Entfernung von den «Onta» begriffen; durch die dialektische Rückverwandlung von einem absoluten Ding zu einem Begriff aber wieder als ein Viel von Ungleichartigem und Verschiedenem erfasst. Der entzauberte Begriff - das Resultat der Rückverwandlung der kollektiven in die distributive Einheit von Verschiedenem - intendiert daher nur so lange 122 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="123"?> 104 Vielleicht wird darüber verständlich, wie der Begriff im Sinn des aboluten Inbegriffs geistiger Einheit, die das Kontingente als sein Viel aus sich entlässt, von Hegel an die Stelle des «einen Gottes, der durch alle ist» (vgl. Eph. 4,6) gerückt werden konnte. Adorno jedenfalls geht davon aus, dass «überhaupt nachgewiesen werden kann, daß die einzelnen Bestimmungen des Geistes als des Absoluten, die bei Hegel als immanente Bestimmungen dieses Geistes vorgenommen werden, in einem sehr weitgehenden Maß solche Säkularisierungen von Bestimmungen des göttlichen Geistes sind» Adorno, NaS IV S. 11, 111. Für eine auf Plutarch zurückgreifende, theologische Interpretation des Nicht-Vielen, dem A-pollon, vgl. Mark Grundeken, Der eine Gott, der durch alle ist. Epheser 4,6 im Kontext antiker Diskurse über Gott und die Welt, Tübingen 2020, S. 173 und passim. überhaupt noch ein Einerlei, bis das begriffliche Entzauberungstun sich selbst eingeholt hat. Um sich selbst durch Klarwerden der eigenen Verfahrensweise einzuholen, muss freilich noch der Begriff des Nichtbegrifflichen als in sich ruhende, kollektive Einheit entzaubert werden. Der positive Sinn der inbegriff‐ lichen Einheit von Begriff und Nichtbegrifflichem - das dialektische Ganze - ist danach nur noch als das Nicht-Viele 104 einzelner Begriffe wiederzuerkennen - als eine Limitationsfigur begrifflichen Denkens. Der Inbegriff des Begriffs entzaubert sich also selbst, da er in sich jene Verwiesenheitsstruktur, die in dem vorhergehenden Adornozitat berührt wurde, in Reinform darstellt. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz für die Methodenbestimmtheit der Dialektik: Wenn wir überhaupt etwas Verschiedenes vom bloßen Einerlei des Begriffs denken sollen - und das müssen wir gemäß der Verhältnisbestimmt‐ heit ihrer als Reflexionsmomente -, dann müssen wir, um zu wissen, was ein Begriff ist, aus der Sphäre des Begriffs heraustreten. Sonst machen wir nicht die Verschiedenheit des Verschiedenen, sondern das Einerlei des Verschiedenen zum Gegenstand unseres Wissens, wodurch etwas übrigbleibt, das wir als Thema ausschließen müssen, was den Anspruch, das Ganze aus Begriff und Nichtbegrifflichem zu erfassen, durchstreicht. Das Reflexionsmoment der Ver‐ schiedenheit verlangt daher ein Heraustreten aus der begrifflichen Sphäre, um sich zu verinhaltlichen. Verschiedenheit ist derjenige Inbegriff, dessen Anspruch nur durch die Negation des Einerleis des Begriffs zu erfüllen ist. Und so zeigt sich schon beim ersten Reflexionsbegriffspaar, dass die negative Dialektik die objektive Anwendung der Reflexionsstruktur der Transzenden‐ talphilosophie auf die Welt beschreibt. Die Notwendigkeit des Heraustretens aus der Sphäre des Begriffs bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, herauszutreten, verschafft den negativ-dialektischen Artikulationen des Nichtbegrifflichen daher ihre systematische Verbindlichkeit. Diese Notwendigkeit ist ihrerseits allerdings eine Kehrseite eines Unvermögens. Adorno schreibt: «Ein solcher 2. Der Begriff des Nichtbegrifflichen 123 <?page no="124"?> 105 Adorno, GS 6, S.-19. 106 Günter Figal, «Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos», S.-16. Begriff von Dialektik weckt Zweifel an seiner Möglichkeit.» 105 Nicht-möglich scheint die Durchführung der negativen Dialektik, da sie die Notwendigkeit des Heraustretens aus dem Begriff und die Unmöglichkeit des Heraustretens zusammendenkt. Halten wir fest: Das Nichtbegriffliche ist nur dann als ein Kerngehalt der negativen Dialektik denkbar, wenn dieser Gehalt eine dialektische Kippfigur beschreibt, der zum Vollzug der Grundoperation der Kritik anhält - so, wie wir sie in der Einleitung umrissen haben. Das affirmierte Negationsverhältnis zum Begriff muss dabei vorweg als (nichtgegenständliche) Grenzbestimmung des Begriffs gelesen werden, ansonsten das Nichtbegriffliche selbst eine dialektische Verwand‐ lung in eine kollektive Begriffseinheit durchmachen müsste, womit das Problem wiederkehrte, welches zu beseitigen sich die negative Dialektik ursprünglich anschickt. Wie es bei Figal treffend mit Blick auf Adornos Nichtbegriffliches heißt: «Daß Begriffe identifizieren, heißt zweierlei: Sie machen das Verschiedene gleich und sagen damit, was es ist.» 106 Auch der Begriff des Nichtbegrifflichen macht etwas sich gleich (begriffsförmig) und sagt, was dieses Etwas ist - das Nicht‐ begriffliche. Dadurch aber verfehlt der Begriff des Nichtbegrifflichen sogleich seinen eigenen Anspruchsgehalt. Wir müssen also bei diesem Begriff besonders vorsichtig sein, das Einerlei der Begriffsform nicht mit einem positiven Inhalt zu verwechseln. Der Begriff des Nichtbegrifflichen ist stattdessen als Funktion zur Vermeidung dieser Verwechslung zu bestimmen. Sein Sinn ist nicht dingfest zu machen, weil er nichts als eben die Verpflichtung bedeutet, diesen funktionalen Inhalt nicht inhaltlich zu missinterpretieren. Denn, um das Nichtbegriffliche als Inhalt zu erfassen, ist mehr nötig als blinde Intention, nämlich die dialektische Rückverwandlung - Adorno: Entzauberung - des Begriffs. Auf die problemgeschichtliche Konstellation Kant-Hegel-Adorno bezogen heißt das: Adorno muss Hegels Begriff durch Mobilisierung des kantischen Motivs der Grenzbestimmung einer Selbstbesinnung zuführen, um sich der spekulativen Relevanz des Begriffs zu versichern. Nur eine Entzauberung der Einheitsfunktion nach kantischem Vorbild kann nämlich jene «Selbstbesinnung auf den eigenen Sinn» anleiten, die den Begriff des Nichtbegrifflichen dialektisch verinhaltlichen soll. Die spekulative Relevanz des Begriffs wird von Adorno gut kopernikanisch an der Funktion der Selbstkritik festgemacht - der dialektische Modus der Spekulation folglich auf die negative Erweiterung der begrifflichen Sphäre zugespitzt. Ohne die kritische Negation des Begriffsskopus keine speku‐ lative Relevanz der Dialektik; aber ohne spekulative Relevanz der Dialektik auch 124 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="125"?> 107 Adorno, GS 6, S.-157. 108 Ibidem, S.-141. 109 Ibidem, S.-9. 110 Ibidem. keine negative Erweiterung der Begriffsimmanenz. Dialektik und Kritik sind bei Adorno wechselbestimmt bis zur Aporie. Und der Einsatz dieser Aporie als begriffliche Funktion erfolgt im Zeichen jener «Durchführung», 107 von der sich Adorno die Bewahrheitung des Nichtidentischen erhofft: «Das Nichtbegriffliche, dem Begriff unabdingbar, desavouiert dessen Ansichsein und verändert ihn. Der Begriff des Nichtbegrifflichen kann nicht bei sich, der Erkenntnistheorie verweilen; zur Sachhaltigkeit der Philosophie nötigt diese.» 108 Während man also denken könnte, die negative Dialektik sei der Erkenntnistheorie bereits entkommen, liegt die versteckte Emphase dieser kritischen Bemerkungen auf ihrer Selbstaffirmation als erkenntniskritisches Urteil. Nur die kritische Einsicht, dass der Begriff des Nichtbegrifflichen «nicht bei sich, der Erkenntnistheorie verweilen» kann, kann den inhaltlichen Anspruch des Begriffs einlösen. Man muss also mit Nachdruck sagen, dass die adornosche Kritik der Erkenntnistheorie, auch wo sie materialistisch motivierte Metakritik ist, Erkenntnistheorie ist. IV. Die dialektische Rückverwandlung des Nichtbegrifflichen leistet damit jene ‹Rechtfertigung› der materialen Arbeiten, die Adorno in der Vorrede der Negativen Dialektik bespricht. Der Autor «legt» dabei, «soweit er es vermag, die Karten auf den Tisch; das ist keineswegs dasselbe wie das Spiel.» 109 Nicht allein wird eine Methodologie der materialen Arbeiten des Autors gegeben: nach der Theorie negativer Dialektik existiert kein Kontinuum zwischen jenen und dieser. Wohl aber wird solche Diskontinuität, und was aus ihr an Anweisungen fürs Denken herauszulesen ist, behandelt. Das Verfahren wird nicht begründet sondern gerechtfertigt. 110 Die Diskontinuität zwischen begrifflicher Einheit und materialer Verinhaltli‐ chung am Verschiedenen ist die dialektische Einheit, die die Reflexion bei Kant als Selbstkritik zum Thema hat und die Hegel in eine spekulative Einheit verwandelt. Diese Grundkoordinate gelangt freilich nur dann zu systematischer Verbind‐ lichkeit, wenn sie die Vollzugsbestimmtheit der Dialektik als solche einfordern, die für die inhaltliche Einlösung des Anspruchs des Nichtbegrifflichen als notwendig erkannt wurde. Anders gesagt: Die Gehalte der negativen Dialektik erlangen philosophische Verbindlichkeit nur als Prinzipien der Erkenntniskritik. 2. Der Begriff des Nichtbegrifflichen 125 <?page no="126"?> 111 Ibidem, S. 378. Vgl. auch Adornos Bemerkung im Rundfunkgespräch mit Ernst Bloch von 1964: «Eigentlich würde ich denken, daß, wenn es nicht irgendeine Spur von Wahrheit an dem ontologischen Gottesbeweis gibt, d. h., daß in der Gewalt des Begriffs selber auch das Moment seiner Wirklichkeit schon mitbeteiligt ist, es nicht nur keine Utopie geben könnte, sondern daß es dann kein Denken geben könnte.» Ernst Bloch/ Theodor W. Adorno, «Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno», S. 366f. Den Zusammenhang von ontologischem Gottesbeweis und negativer Dialektik beleuchten Mario Schärli, «Eine jede Philosophie dreht sich um den ontologischen Gottesbeweis? Die Spur natürlicher Theologie bei Adorno», in: Mario Schärli/ Marc N. Sommer (Hg.), Das Ärgernis der Philosophie, S.-237-278; und Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersu‐ chungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt am Main 2 2011 [1. Auflage 2008], S.-152ff. 112 Adorno, GS 6, S.-378. 113 Ibidem. Sonst wären die Gehalte der negativen Dialektik allesamt schon kleine ontologische Gottesbeweise. Das ist zwar gar nicht so weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass Adorno die Parallele von negativer Begriffsdialektik und dem ontologischen Gottesbeweis selbst hervorgehoben hat. Immerhin sagt Adorno über Kant: «Seine Philosophie kreist, wie übrigens wohl eine jede, um den ontologischen Gottesbeweis.» 111 Aber ein solches ‹Kreisen› geht, wie der dar‐ auffolgende Satz bekundet, gerade nicht mit einem letztgültigen Urteil über das Nichtbegriffliche einher. Als ein Kreisen intendiert die Philosophie nicht Gott, sondern den kritischen Beweis, dass allein der nicht-amphibolische Umgang mit der Zweideutigkeit des Gottesbegriffs dessen Absolutheit vergegenwärtigen kann. Wenn Adorno also über Kants Beziehung zu Gott sagt: «In großartiger Zweideutigkeit hat er [Kant, C.M.] die eigene Position offen gelassen […]», 112 dann bedeutet dies vor allem auch, dass Kant das Paradox des Nichtbegrifflichen reiner entfaltet, als es der positiven Dialektik je möglich war: [D]em Motiv des ‹Muß ein ewiger Vater wohnen›, das Beethovens Komposition der kantianischen Hymne an die Freude in Kantischem Geist auf dem Muß akzentuierte, stehen die Passagen gegenüber, in denen Kant, darin Schopenhauer so nahe, wie dieser später es reklamierte, die metaphysischen Ideen, insbesondere die der Unsterb‐ lichkeit, als gefangen in den Vorstellungen von Raum und Zeit, und darum ihrerseits beschränkt, verwarf. Verschmäht hat er den Übergang zur Affirmation. 113 Mit anderen Worten: Dem ‹Es muss so sein, dass es den Gott gibt› stellt Kant die kritische Einsicht gegenüber, dass sich der Inhalt des Begriffs ‹Gott› als nicht‐ begrifflicher weder reflexiv noch sinnlich vergegenwärtigen, sondern wenn überhaupt, dann nur über den Umweg der Kritik des begrifflichen Denkens antizipieren lässt. 126 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="127"?> 114 Ibidem, S.-394. 115 Kant, KrV, A 176/ B 218. Das Scheitern des Begriffs am Nichtbegrifflichen ist letztlich das, was die ne‐ gative von positiver Dialektik differenziert. Nur die kritische Besinnung darauf antizipiert die Erfüllung des Inhalts und wird so spekulativ. Die spekulative Antizipation des Inhalts aber verschließt sich diesem. Diese systematisch verbindliche Direktive wendet wiederum den Blick auf die Geschichte der Dialektik kopernikanisch um: Der ontologische Gottesbeweis ist, trotz der Kantischen Kritik gleichsam diese noch in sich hineinsaugend, in der Hegelschen Dialektik auferstanden. Jedoch vergeblich. Indem Hegel, folgerecht, das Nichtidentische in die reine Identität auflöst, wird der Begriff Garant des nicht Begrifflichen, Transzendenz von der Immanenz des Geistes eingefangen und zu seiner Totalität sowohl wie abgeschafft. 114 Mit anderen Worten: Hegel antizipiert die Erfüllung des Inhalts des Nichtbe‐ grifflichen «vergeblich», weil er damit eine Position außerhalb des Horizontes der Kritik einnimmt. Kants Kritik des Gottesbeweises ist dem Beweisziel näher, weil er das Nichtbegriffliche angemessener zum Ausdruck bringt, wenn er bestreitet, dass der Begriff der inhaltliche Garant des Nichtbegrifflichen ist. Um angesichts dessen Adornos ambivalentes Verhältnis zum ontologischen Gottesbeweis zu verstehen, kann uns eine von Kant in die Kategorientafel eingetragene Unterscheidung weiterhelfen - die Unterscheidung der Katego‐ rien ‹Realität› und ‹Dasein›. Kant möchte bekanntlich darlegen, dass die Kategorie der Realität nie schon die daseiende Wirklichkeit des transzendental, d. h. in der Bestimmtheit der Erfahrungsstruktur Verbürgten bedeutet. Realität meint daher, als Einheitsfunktion, die Sachhaltigkeit eines Urteils, nicht aber einen bestimmbaren Gehalt als solchen, nicht die Realität. Real zu sein oder nicht betrifft zunächst den Grundzug kategorialer Idealität. Die Realität ist als das Realsein des Gehalts immer ein Problem der Modalität eines Urteils, damit letztlich aber eine Frage der Anwendung eines Urteilsgehalts durch Urteilskraft auf sinnliche (dem Begriff heterogene) Erfahrungsgehalte. Die Kategorie der Realität antizipiert daher grundsätzlich bloß das qualitative Bestimmtsein der Erfahrung überhaupt (i.e. die Gradbestimmtheit heterogener Information); «alles übrige», schreibt Kant, «bleibt der Erfahrung überlassen». 115 Genauso, im Sinne alles Übrigen, denkt Adorno den Begriff des Nichtbegrifflichen: Er ist sachhaltig nur durch die Diskontinuität zu seiner Begriffsform; zu realisieren wäre der Gehalt indessen erst durch das Hinzutreten eines Anderen in seinen Skopus, was unmöglich ist, weil sein Skopus sich selbst übersteigen muss, um den beanspruchten Gehalt zu 2. Der Begriff des Nichtbegrifflichen 127 <?page no="128"?> 116 Vgl. Adorno, NaS IV 4, S.-335 bzw. Abschnitt C/ 1.c dieser Arbeit. 117 Adorno, GS 6, S.-385. intendieren. Also kann der Begriff des Nichtbegrifflichen seinen Gehalt auch nur durch Selbstkritik antizipieren - sagen, was wäre, sollte sich der Gehalt realisieren lassen. Der insofern hypothetische oder problematische Begriff ‹Nichtbegriffli‐ ches› fordert das Paradoxe ein, in begrifflicher Form darzustellen, was selbst nicht mehr Begriff wäre. Dass alle alltäglichen Begriffsverwendungen so scheinen, als ob sie genau dies tun, nämlich Nichtbegriffliches intendieren, zeigt im Grunde nur umso deutlicher, dass allein der kritische Begriff des Nichtbegrifflichen es vermag, die Funktion von Begriffen einheitlich darzustellen, ohne durch Reflexion sogleich den konkreten Erfahrungsvollzug zu überformen. Die dialektisch artikulierte Kritik des begrifflichen Denkens verteidigt den Anspruch des Begriffs gegen das intakte Selbstverständnis des begrifflichen Denkens. Und so wird die göttliche Einsicht der Dialektik zuletzt wieder der Maßgabe der Nichtidentität unterstellt. Als «oberster aporetischer Begriff» 116 bewahrt uns nur die bei Kant vergegenwär‐ tigte Nichtidentität von Gedachtem und Wirklichem davor, das Nichtbegriffliche mit einem positiven Inhalt zu verwechseln. Anhand dieser kantischen Einsicht gewinnt der Negationsbegriff der nega‐ tiven Dialektik Profil: Nichtig ist Denken, welches das Gedachte mit Wirklichem verwechselt, in dem von Kant zertrümmerten Fehlschluß des ontologischen Gottesbeweises. Fehlgeschlossen aber wird durch die unmittelbare Erhebung der Negativität, der Kritik am bloß Seienden, zum Positiven, so als ob die Insuffizienz dessen, was ist, garantierte, daß, was ist, jener Insuffizienz ledig wäre. Auch im Äußersten ist Negation der Negation keine Positivität. 117 Der faule Zauber, der uns (wie bei einer Speisekarte) die Konkretion des versprochenen Gehalts antizipieren lässt, ist hier der Ernüchterung gewichen, dass das im Nichtbegrifflichen Antizipierte ein Nichts ist, das als positiver Begriff gerade nie ‹da sein› wird. Soll sich der Inhalt dieses Begriffs dennoch konkretisieren, muss zuerst eine kritische Selbstbesinnung des begrifflichen Denkens erfolgen. Die negativ-dialektische Begriffsarbeit ist diese kritische Selbstbesinnung. V. Fassen wir die Befunde zusammen: Die kopernikanische Blickrichtung regelt die Operationalität der negativen Dialektik wie ein «Scharnier». Die Bewegung geht vom Allgemeinen - von der trüglichen Begriffsförmigkeit des Nichtbegriff‐ lichen - über zum nichtidentischen Gehalt. Diese kopernikanische Ausrichtung 128 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="129"?> 118 Ibidem, S.-17. 119 Die tragende Rolle des Nichtidentischen für die negative Dialektik - auch dass es sich um einen ihrer Zentralbegriffe handelt - wird durch die Forschungsliteratur beinahe unisono bestätigt, weshalb einzelne Beispiele anzuführen nur eine Verkürzung der verbreiteteren Akzeptanz darstellen würde. erfordert, die Einheit von Begriff und Nichtbegrifflichem nach Maßgabe ihrer Nichtidentität auszulegen, wobei diese Nichtidentität kein empirisch ideales (transzendental reales) Verhältnis, sondern ein dialektisch verdinglichtes Ver‐ hältnis und als solches, wie Adorno sagt, ein ‹Zugehängtes› bleibt. Das Nicht‐ begriffliche ist das Verschiedene des Begriffs, das indirekt über die Negation des Inbegriffs der Verschiedenheit intendiert wird, wobei die Negation dieser Negation in einem systematischen Begriff eben nicht positiv wird. Somit ist die zauberhafte Allgemeinheit des Inbegriffs aller Erfahrung als Funktion zum Ausschluss des Besonderen einer konkreten Erfahrung entzaubert worden - wodurch sich das Eigenrecht des Allgemeinen (der Einerleiheit) dem Eigenrecht des Besonderen (der Verschiedenheit) stellen und sich das Allgemeine dem Be‐ sonderen gemäß relativieren lassen muss. Gleichwohl verschwindet damit der zauberhafte Schein der Einerleiheit im Verschiedenen nicht einfach. Denn: «Der Schein von Identität wohnt […] dem Denken selber seiner puren Form nach inne.» 118 Aber der Schein ist nicht mehr derselbe nach seiner Entzauberung. Negative Dialektik ist die fortgesetzte Rückverwandlung der dialektischen Verwandlung, die Kant mit seinen Überlegungen zum transzendentalen Ideal inauguriert hatte. Die negative Dialektik verwandelt den «Vorrat des Stoffes, daher alle möglichen Prädikate der Dinge genommen werden können», wieder in den unendlichen Urteilsgehalt des Nichtbegrifflichen zurück und bestimmt dadurch die Grenze der Vermittlungstätigkeit der traditionellen Dialektik. Das Nichtbegriffliche ist dieser unendliche Urteilsgehalt als Grenze aller mögli‐ chen Vermittlungsverhältnisse. Als limitative Funktion soll dieser Gehalt dem Denken ermöglichen, das Verschiedene im Skopus begrifflicher Einheit zu thematisieren. 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich I. Dass die Philosophie Adornos an entscheidender Stelle in den Dialog mit Kant treten muss, um sich zu konkretisieren, lässt sich insbesondere am Nichtiden‐ tischen aufzeigen. 119 In diesem Abschnitt gilt es, unsere Betrachtungen zur Nichtidentität und zum Nichtbegrifflichen ihrem vorläufigen Ende zuzuführen. 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 129 <?page no="130"?> 120 Diese Gegenläufigkeit scheint auch die jüngere Debatte um nichtbegriffliches Wissen im Ausgang von Sellars zu durchwalten, auch wenn die Gegenläufigkeit als solche darin nicht thematisch wird, weil Dialektik als solche keine explizite Rolle zu spielen scheint. Zur Frage, ob Kant ein Non-conceptualist sei, vgl. u. a. Hannah Ginsborg, «Was Kant a Nonconceptualist? », in: Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 137/ 1, S. 65-77; Lucy Allais, «Kant, non-conceptual content and the representation of space», in: Journal of the History of Philosophy 47/ 3, 2009, S. 383-413; Robert Hanna, «Beyond the Myth of the Myth: A Kantian Theory of Non-Conceptual Content», in: International Journal of Philosophical Studies 19/ 3, 2011, S. 323-398; für eine systematische Engführung von negativer Dialektik und Sellars’ Problem, zumal mit Blick auf McDowell, vgl. Jay M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, S. 263-275; Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-212f. 121 Thyens Rekonstruktion der Kantinterpretation Adornos geht von der Einsicht aus, dass sich «Adornos Stellung zu Kant […] von dem Ding an sich ausgehend charakteri‐ sieren» lässt. Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S.-149. Dabei wollen wir den Faden aufnehmen, der von Adornos Hegelkritik ausge‐ hend zurück zu Kant führt. Bei Kant sieht Adorno ein Modell dialektischer Vermittlung vorgezeichnet, das seine eigene Distanznahme von der positiven Dialektik präfiguriert. Die negative Dialektik muss sich dieses Modell transfor‐ mierend aneignen, es im Schatten Hegels aktualisieren, so die systematische These, um von der positiven Dialektik unterschieden werden zu können und als eine negative Dialektik Bestimmtheit zu erlangen. Diese negative Dialektik ist - als das Resultat dieser Differenzierungsleistung - als eine grenzbegriffliche Dialektik zu kennzeichnen. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass der Begriff des Nichtidentischen einen Grenzbegriff nach dem Vorbild des kantischen Dings an sich darstellt. Das Konzept einer grenzbegrifflichen Dialektik scheint als philosophische Theorie zunächst zwei unvereinbare Methodenkonzepte zu vereinigen. Denn entweder wir verschaffen uns ein Bewusstsein der Grenze unseres Vermitt‐ lungstuns und behaupten damit, dass das Heraustreten einer Sache aus dem Vermittlungszusammenhang möglich ist; oder wir begreifen das Vermittlungs‐ geschehen als prinzipiell unabschließbar und erachten nichts, das jenseits seiner Grenzen liegt, für grundsätzlich nicht vermittelbar. 120 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Adorno mit dem Nichtidentischen weder das eine noch das andere allein beansprucht, sondern eben die aporetische Koinzidenz von beidem, und dass ihm dabei das kantische Ding an sich als Prototyp dient. 121 II. Was unter einer grenzbegrifflichen Dialektik zu verstehen ist, kann anhand einer exegetischen Bemerkung von Jay Bernstein verdeutlicht werden. Bern‐ 130 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="131"?> 122 Adornos These vom Vorrang des Objekts wird hier erst in Abschnitt D/ 2 anhand der Problematik von Form und Inhalt der Erkenntnis genauer exponiert. Hier soll die Problematik vorläufig unter dem Aspekt der Verschiedenheit betrachtet werden. 123 Zitiert nach Adorno, GS 6, S.-185. 124 Jay M. Bernstein, «Adorno zwischen Kant und Hegel», in: Axel Honneth/ Christoph Menke (Hg.), Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, S.-89-118, hier: 114. stein zieht darin eine Parallele zwischen Adornos These vom Vorrang des Objekts und dem kantischen Ding an sich. 122 Adorno zweifelt nicht eine Sekunde lang daran, daß die Erkenntnis von Gegenständen begrifflich vermittelt ist, und daß in der tatsächlichen kognitiven Betätigung das Zugeständnis vom Vorrang des Objekts die «fortschreitende qualitative Unterschei‐ dung» 123 von vermittelten Dingen beinhaltet, was ein Moment innerhalb der Dialektik ist, und nicht jenseits dieser liegt. Aber das bedeutet, daß es - obwohl der epistemische Zugang zu den Dingen immer begrifflich vermittelt ist - begriffliche Mittel gibt, die nichtsdestoweniger als Anerkennung des Vorrangs vom Objekt gelten. Kants Vorstellung vom Ding an sich ist genau solch eine begrifflich geladene Anerkennung im Rahmen philosophischer Begrifflichkeit. 124 Für Bernstein besteht zu Recht kein Zweifel daran, dass Adorno von einem diskursiven Erkenntnismodell ausgeht; und das heißt eben, dass auch für den Antiidealisten Adorno alles begrifflich vermittelt sein muss, mit dem wir, es identifizierend, in Berührung treten. Dennoch verfügten wir innerhalb dieser diskursiven Erkenntnisstruktur über Mittel, um dasjenige, was bei begrifflicher Vermittlung außen vor bleiben muss, zu thematisieren. Um die Modalität der Bezugnahme auf Nichtbegriffliches anhand begrifflicher Mittel genauer zu cha‐ rakterisieren, bemüht Bernstein nun den Begriff der Anerkennung. Darüber, so Bernstein, lasse sich die Parallele zum Ding an sich ziehen. Dessen Gehalt leiste nämlich bei Kant genau das, was später bei Adorno Vorrang des Objekts leisten soll - «eine begrifflich geladene Anerkennung im Rahmen philosophischer Begrifflichkeit». Was hier beschrieben wird, ist die Koinzidenz von Grenzbegriff und Dialektik, wie wir sie im Nichtidentischen vorzufinden glauben. Statt aber von Anerkennung zu reden, die zweifellos ein wichtiges Moment in der Bezugnahme auf Nichtidentisches darstellt, schlage ich vor, die Koinzidenz von Ding an sich und Nichtidentischem dahingehend ernst zu nehmen, dass Adorno nicht trotz der dialektischen Vermittlung darauf kommt, den Gedanken eines Nichtidentischen zu vertreten, sondern dass das Interesse, das Nichtidentische zu vertreten, von Anfang an die begriffliche Vermittlung anleitet und dass sich diese Vermittlung letztlich eben nur als Grenzbestimmung vollziehen kann. Kurzum: Wir sollten nicht auf den Erkenntnisbegriff verzichten und stattdessen 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 131 <?page no="132"?> 125 Vgl. Jay M. Bernstein 2020, in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S. 487-502, hier: 499: «Adorno always defended the now widely dismissed two‐worlds version of Kant’s idealism in which we know appearances only and not things‐in‐themselves.» Für eine übersichtliche Rekonstruktion der Debatte in der Kantforschrung vgl. Marcus Willaschek, «Die Mehrdeutigkeit der kantischen Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen. Zur Debatte um Zwei- Aspekte- und Zwei-Welten-Interpretationen des transzendentalen Idealismus», in: Ralph Schumacher/ Rolf-Peter Horstmann/ Volker Gerhardt (Hg.), Kant Und Die Berliner Aufklärung: Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/ Boston 2001, S.-679- 690. 126 Was nicht heißt, dass es nicht gewinnbringend für die Kantforschung sein könnte, Adornos dialektische Lesart des Dings an sich als konkurrenzfähige Interpretation anzuerkennen - im Gegenteil. Aber dann wäre es umso wichtiger zu sehen, dass gerade die Zwei-Welten-Lesart - ganz abgesehen davon, dass sie keinerlei Grundlage im kantischen Denken hat - kein geeignetes Interpretationsschema für Adornos Engführung von Ding an sich und Nichtidentischem darstellt. von Anerkennung reden, wenn es gerade um die Verwirklichung des Anspruchs der Erkenntnis geht. Der Gehalt des kantischen Dings an sich ist notorisch umstritten. Es wäre daher aussichtslos, ihn einer schlüssigen Bestimmung zuzuführen; diese würde durch jedwede Präzision wohl nur verdecken, dass dabei wesentliche Facetten des Begriffs und seiner reichen Rezeptionsgeschichte nicht zur Sprache ge‐ kommen sind. Unter bewusster Komplexitätsreduktion soll der Begriff hier daher nur auf die Engführung mit dem Nichtidentischen hin ausgelegt werden, ohne dass damit eine eigenständige ‹These› über das Ding an sich in den Raum gestellt wäre. Wenn sich eine solche These am Horizont der folgenden Überlegungen über Adorno abzeichnet - umso besser. Gleich vorweg gilt es - aus noch zu erläuternden Gründen - den Vorschlag von Bernstein auszuschlagen, wonach Adorno als ein Vertreter der Zwei- Welten-Lesart anzusehen wäre. 125 Keines der etablierten Interpretationsange‐ bote des Dings an sich dürfte treffen, was mit der negativ-dialektischen Lesart des Dings an sich intendiert wird. 126 Eine systematische Wiederannäherung des Zentralbegriffs der negativen Dialektik an das Ding an sich darf daher nicht ohne Vorbehalte erfolgen. Es bestehen gewichtige Unterschiede zwischen den Grenzbegriffen Kants und Adornos. Sie ergeben sich allein schon daraus, dass die Horizonte, die die Begriffe einzugrenzen haben, verschiedene sind. Einmal ist es die transzendentale Sphäre, einmal ist es das dialektische Ganze aller Vermittlungsverhältnisse. Außerdem sollten die beiden Konzepte - aus Gründen, die noch zur Sprache kommen werden - auch dem Inhalt nach weder vorschnell miteinander gleichgesetzt noch einander als schlechthin unvereinbar gegenübergestellt werden. Es ist allerdings gerade dieser Doppelsinn, dem 132 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="133"?> 127 Adorno, GS 1, S. 119. Vgl. ibidem, S. 142: «Die Tatsache der prinzipiellen Unabge‐ schlossenheit unserer Erfahrung, die, wenn irgend die absolute Vollständigkeit der Erfahrung angenommen wird, zu Widersprüchen führt und zu der Auffassung von einer schlechthin unauflöslichen Transzendenz des Unbewußten, erzeugt nicht allein Widersprüche hinsichtlich der unbewußten Tatbestände selber, sondern auch hinsicht‐ lich ihrer Konstitution.» 128 Ibidem, S.-135. 129 Die Anlehnung an den Lehrer war offenbar zu eng, denn die Schrift wurde 1927 von Cornelius aufgrund mangelnder Originalität abgelehnt. Vgl. Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003, S. 160f. Die Arbeit, mit der sich Adorno dann 1931 bei Paul Tillich habilitierte, ist jene über Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (= GS 2). 130 Wie Adorno im Vorwort des Freudbuchs betont, ist diese Interpretationsweise dem Einfluss Horkheimers geschuldet: «Wer Horkheimers Arbeiten über die Grenz- und Vermittlungsbegriffe im Kantischen System kennt, wird den Zusammenhang jener Arbeiten mit der hier unternommenen Auflösung der Antinomik des Unbewußten, soweit sie in Hypostasierungen Kantischer Grenzbegriffe ihren Grund hat; weiter in der Fassung des Begriffs des Unbewußten als einer Aufgabe nicht übersehen.» Adorno, GS 1, S.-82. Grenzbegriff der Erkenntnistheorie sowohl identisch als auch nicht identisch zu sein, der dem Begriff des Nichtidentischen seinen eindeutigen Sinn gibt. III. Es ist nachweisbar, dass Adorno schon früh ein Bewusstsein für die Grenzbe‐ griffsproblematik ausgebildet hatte. In seiner ersten Habilitationsschrift Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre von 1927 wird der Begriff des Unbewussten als ein Grenzbegriff ausgelegt. Ziel von Adornos partieller Kantianisierung der freudschen Psychoanalyse in seiner ersten Habi‐ litationsschrift ist es, «den Rechtsanspruch der Philosophen des Unbewußten gegenüber der Transzendentalphilosophie zu treffen». 127 ‹Getroffen› werden soll dieser Rechtsanspruch im Nachvollzug jener dialektischen Verwandlung, die zur Hypostasierung der Unabgeschlossenheit unserer Erfahrung als das Unbewusste führte. Adorno führt offenbar schon früh die Grundoperation der Kritik durch - hier: an den nachkantischen Philosophien des Unbewussten bzw. der populär gewordenen irrationalistischen Strömungen des Vitalismus -, indem er dem unendlichen Urteilsgehalt des Un-Bewussten seinen limita‐ tiven Sinn zurückgibt. Adornos transzendentalphilosophisch inspirierte Kritik konfrontiert die nachkantischen Philosophien des Unbewussten mit der Grenz‐ begriffsproblematik, um zu zeigen, «daß die Grundbegriffe der Philosophien des Unbewußten, am Kantischen System gemessen, sich als Hypostasierungen Kantischer Grenzbegriffe darstellen». 128 In Anlehnung an seinen Lehrer Hans Cornelius 129 sowie an die frühen Arbeiten zu Kant von Horkheimer 130 vertei‐ 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 133 <?page no="134"?> 131 Ibidem, S.-108. 132 Otto Liebmann, Kant und die Epigonen: eine kritische Abhandlung, Berlin 1912, S.-26. 133 Ibidem, S.-23. digt Adorno daher den transzendentalphilosophischen Grenzbegriff als ver‐ bindlichen Ausdruck jener «prinzipielle[n] Unabgeschlossenheit unserer Erfah‐ rung», 131 die die Philosophien des Unbewussten verdinglichend ins Positive verkehrt haben. Das Unbewusste ist als hypostasierter Grenzbegriff entzaubert, der Grenzbegriff - wie später das Nichtbegriffliche - durch den reflexiven Nachvollzug seiner dialektischen Verwandlung enthypostasiert. In der Negativen Dialektik wird nur einmal explizit der Begriff des Grenzbe‐ griffs verwendet, in einer längeren Fußnote zum Freiheitskapitel, jedoch auf eine mit Blick auf die vorliegende Problematik besonders vielsagende Weise. Adorno greift hierbei zunächst einen gängigen Topos der Kantkritik auf. Dieser besteht darin, im kantischen Ding an sich eine Inkonsequenz seitens der Trans‐ zendentalphilosophie zu erkennen, statt sich auf die Dialektik des Grenzbegriffs einzulassen. Das Gründungsdokument des Neukantianismus - Otto Liebmanns Kant und die Epigonen von 1865 - spricht vom Ding an sich als einer «Inconse‐ quenz», einem «so leicht vermeidliche[n] Fehler», «ein[em] fremde[n] Tropfen Bluts im Kriticismus» und einem «echte[n] Parasit[en]» im sonst lückenlosen System des transzendentalen Idealismus. 132 Liebmann schreibt: «Diese Inconse‐ quenz, welche bereits in den ersten Accorden des Kriticismus störend mitklingt, schwillt im weiteren Verlaufe bis zur schreienden, unerträglichen Dissonanz, so daß sie den an sich großen, erhabenen Eindruck des Ganzen geradezu vernichtet.» 133 In diesen störenden Klängen vermag Adorno die irreduzible, weil der Sache des Grenzbegriffs geschuldete Dissonanz zu vernehmen. Die nach den Regeln der Vernunft dissonante Zweideutigkeit des Dings an sich als eines Grenzbegriffs besteht darin, einerseits auf die Begrenztheit unseres Reflexionshorizontes zu verweisen, andererseits diesen Horizont für das Ganze auszugeben, sofern das, was jenseits desselben ist, für uns nur Nichts ist. Entsprechend erklärt er die angebliche Inkonsequenz statt zu einem Fehler neu als jene großartige Zweideutigkeit Kants, von der bereits die Rede war und noch oft die Rede sein wird. Die doppelköpfige Zweideutigkeit, die darin besteht, Identität und Nicht‐ identität zusammendenken zu können, ohne die Einheit des Verschiedenen mit einem positiven Inhalt zu verwechseln, ergibt sich unmittelbar aus der Problematik der kantischen Grenzbestimmung. Das wird gemäß Adorno be‐ sonders deutlich am Begriff des Intelligiblen. Einerseits ist das Intelligible der bestimmte Gegenstandsbereich transzendentaler Reflexion (diese hat es ja nicht unmittelbar mit raumzeitlichen Gegenständen, sondern mit den Be‐ 134 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="135"?> 134 Adorno, GS 6, S.-384. 135 Ibidem, S.-286. dingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis zu tun), andererseits ist dieses Intelligible aber auch ein unbestimmtes Nichts, insofern das Nicht-anschaulichverbürgt-Sein des Intelligiblen gerade die wesentliche Bestimmtheit desselben ausmacht. Entsprechend definiert Adorno das Intelligible als «Selbstnegation des endlichen Geistes». 134 Das Intelligible ist für Adorno von jener Ambivalenz betroffen, die allen ins Positive gewendeten Negationen aneignet. Kant lässt diese Ambivalenz als solche stehen, indem er die Geltungsrelevanz des Nichts, das ein Ding an sich für uns darstellt, anerkennt. Die idealistische Kantkritik aber scheint dieses Nichts vielerorts positiviert zu haben, indem sie es der Logik der Darstellung verinnerlicht, die Zweideutigkeit vereinseitigt und den grenzbegrifflichen Gehalt ausgeklammert hat. Dem Begriff des Intelligiblen ist bequem vorzurechnen, es wäre verboten, unbekannte Ursachen der Erscheinungen auch nur in äußerster Abstraktion positiv zu erwähnen. Mit einem Begriff, über den schlechterdings nichts sich sagen läßt, wäre nicht zu operieren, er wäre gleich Nichts, Nichts auch sein eigener Gehalt. Daran hatte der deutsche Idealismus eines seiner wirksamsten Argumente gegen Kant, ohne daß er sich viel bei der Kantisch-Leibniz’schen Idee des Grenzbegriffs aufgehalten hätte. 135 Es geht Adorno hier offenbar darum, Dissens zu streuen hinsichtlich der Frage, wie das im Intelligiblen aufgehobene Negationsverhältnis eigentlich zu interpretieren sei. Denn ‹der deutsche Idealismus› hinterlässt uns überall dort mit einer verkappt zweideutigen Antwort, wo ein grenzbegriffliches Verhältnis als etwas Positives beansprucht wird, ohne diesen Anspruch im Rahmen einer Anspruchskritik verorten zu können. Entsprechend sind alle nachidealistischen Anknüpfungsversuche mit der Frage konfrontiert: Ermächtigt uns die Selbstnegation des Endlichen tatsächlich schon zu einem spekulativen Überstieg über die durch Kant bestimmte Grenze? Oder kann die Negativität des Verhältnisses des Selbstüberstiegs nur als diese Grenzbestimmung überhaupt nachvollzogen und inhaltlich relevant werden? Der Dissens betrifft daher die Frage, was mit dem bestimmungslosen Nichts anzufangen ist, das uns die kantische Kritik (wohl mit guten Gründen) unkom‐ mentiert weitervererbt hat. Offenbar ist dies eine Frage des (dogmatischen vs. kritischen) Blickwinkels. Denn, wenn wir die kantische Absicht so verstehen, dass sie uns sagen möchte, was es in der Welt alles so gibt und antworten würde: Es gibt zwei Klassen von Dingen, Erscheinungen und Dinge an sich - dann ist das in der Tat 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 135 <?page no="136"?> 136 Alle möglichen (urteilsförmigen) Artikulationen des Nichts gelangen in Kants Tafel des Nichts systematisch zur Darstellung. Diese Tafel stellt dar, was dabei herauskommt, wenn Formen mit Inhalten verwechselt werden. Vgl. Kant, KrV, A 292/ B 348. 137 Ibidem; Hervorhebung C.M. eine inkonsequente Antwort. Sie würde besagen: Es gibt Erscheinungen von nichts und das Nichts als solches; und beides ist in derselben Hinsicht als Positivum bestimmbar. Wenn wir dagegen den spezifisch kritischen Sinn der Intention auf dieses Nichts als Funktion transzendentaler Reflexion verstehen, dann zeigt sich, dass die bei Kant demonstrativ zum Ding an sich objektivierte Negativität ‹hinter› allen Erscheinungen - die bestimmte Unbestimmtheit des Dings an sich (die Bestimmtheit, mit der jegliche Bestimmtheit des Dings an sich ausgeschlossen werden kann) - schon vor Hegels Logik die dialektische Kipp‐ figur inhaltlicher Fülle darstellt. Auch bei Kant gilt nämlich: Jede positivierende Interpretation des Nichts als ein Etwas (Ding an sich) schlägt, sobald es inhaltlich angereichert wird, sofort von selbst in die Fülle des erscheinenden Seienden um. Nur bleibt bei Kant - im scharfen Gegensatz zum nachkantischen Idealismus - der Umschlag von Nichts in Etwas keine Angelegenheit der Reflexion, sondern wird der Erfahrung und damit einem radikal heterogenen Material überantwortet. Ohne hinzutretendes Material bleibt das Nichts ein Nichts. 136 Womit eben auch der kritische Sinn Kontur gewonnen hat - denn der Umschlag von Nichts in ein seiendes Etwas überantwortet die Verinhaltlichung des Dings an sich einem Denken, das darum weiß, dass die Grundbestimmtheiten der Erscheinung des Seienden, nicht das Seiende als Seiendes, das Alleinige ist, was sich im Horizont reflexiven Denkens beanspruchen lässt. Adorno scheint diese kritische Kantlesart vor Augen zu haben, wenn er die Spitze der nachkantischen Idealisten gegen diese selbst kehrt. Gegen Fichtes und Hegels plausible Kritik an Kant indessen wäre zu remonstrieren. Sie folgt ihrerseits der traditionellen Logik, welche von etwas zu reden als eitel verwehrt, was nicht auf Sachgehalte zu reduzieren sei, welche die Substanz jenes Begriffs ausmachten. Die Idealisten haben, in ihrer Rebellion gegen Kant, übereifrig das Prinzip vergessen, dem sie gegen jenen folgten: daß die Konsequenz des Gedankens zur Konstruktion von Begriffen nötige, die keinen Repräsentanten an positiv bestimmbarer Gegebenheit haben. Der Spekulation zuliebe denunzierten sie Kant als Spekulanten, schuldig des gleichen Positivismus, dessen sie ihn bezichtigten. 137 Mit seiner kritischen Intervention gegen den Idealismus vollzieht Adorno den kantischen Übergang von einer Ontologie der Dingwelt in die Analytik der Verdinglichung mit. Im Zuge dieser mitvollziehenden Intervention bringt Adorno - scheinbar beiläufig - das Nichtidentische auf einen systematischen 136 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="137"?> 138 Diese Formulierung kommt recht nahe an offizielle Definitionen des Grenzbegriffs heran. Mauthner schreibt in seinem Wörterbuch der Philosophie über den Grenzbe‐ griff: «Man könnte es so ausdrücken; ein Grenzbegriff ist, was man sich nicht vorstellen kann und dennoch denken muß; oder: was man nicht denken kann und dennoch nur denken kann.» Fritz Mauthner, Art. «Grenzbegriff», in: ders., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Leipzig 1923, S. 39-42, hier: 40. Passend auch die Formulierung: «Grenzbegriff heißt ein Begriff von etwas, zu dem zwar menschliche Erkenntnis nicht zukann, das aber gerade dadurch die Grenzen menschlicher Erkenntnis kenntlich und geltend macht und zu diesem negativen Zwecke gedacht werden muß.» Odo Marquard, Art. «Grenzbegriff», in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (online), Basel 2017. 139 Adorno, GS 6, S.-286; Hervorhebung C.M. Begriff. Die Bemerkung nämlich, «daß die Konsequenz des Gedankens zur Kon‐ struktion von Begriffen nötige, die keinen Repräsentanten an positiv bestimmbarer Gegebenheit haben», 138 offenbart, dass Adorno die Transzendentalphilosophie als eine konsequenzlogische Reflexion versteht, die im Unterschied zu Fichte und Hegels plausibler Kritik ein Misstrauen gegenüber der Plausibilität der ei‐ genen Verfahrensweise bewahren kann, wenn es um die ontologische Relevanz dieser Verfahrensweise geht. Ein solcher Begriff, der aus der Konsequenz des Gedankens (d. i. aufgrund seines notwendigen Angewiesenseins auf Nichtge‐ dankliches) notwendig resultiert und dennoch keine affirmative Bezugnahme auf irgendeinen darunter bestimmbaren Gehalt erlaubt, ist für Adorno nun eben das Ding an sich. Das Ding an sich ist - von der Warte des negativen Dialektikers aus betrachtet - dasjenige, was die Logik der Identifikation nicht zu integrieren vermag, es sei denn als ein die eigene Einfalt zur Schau stellendes, abstraktes Nichts. Kant die Zurschaustellung der Beschränktheit von Reflexion als Beschränktheit vorzuwerfen ist daher nicht bloß unangebracht, sondern verunmöglicht die Verwandlung dieser Schranke in den spekulativen Grenzbe‐ griff der Nichtidentität. In dem angeblichen Fehler der Kantischen Apologie des Dinges an sich, den die Konsequenzlogik seit Maimon so triumphal beweisen konnte, überlebt in Kant die Erinnerung an das gegen die Konsequenzlogik widerspenstige Moment, die Nicht‐ identität. Darum hat er, der die Konsequenz seiner Kritiker gewiß nicht verkannte, gegen diese protestiert und sich lieber des Dogmatismus überführen lassen als die Identität zu verabsolutieren, deren eigenem Sinn, wie Hegel rasch genug erkannte, die Beziehung auf ein Nichtidentisches unabdingbar ist. Die Konstruktion von Ding an sich und intelligiblem Charakter ist die eines Nichtidentischen als der Bedingung der Möglichkeit von Identifikation, aber auch die dessen, was der kategorialen Identifizie‐ rung entschlüpft. 139 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 137 <?page no="138"?> 140 Ibidem, S.-185. 141 ‹Projiziert› und überträgt das Selbstbewusstsein diesen Mangel auf die Grund-Folge- Verhältnisse der Erscheinungswelt, dann ergibt sich, dass die (nur scheinbare) Suisuf‐ fizienz der Erscheinungswelt ebendieselbe prinzipielle Unabgeschlossenheit offenbart wie das Selbstbewusstsein in seinem Kern. Insofern kann Kant in der B-Auflage sagen, «die Lehre von der Sinnlichkeit» sei «zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d. i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsre Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß». Kant, KrV, B 307. Der reflexiv bestimmte Begriff der Erscheinung ist kein Substanzbegriff, sondern jene «kritische Erinnerung» (vgl. Kant, KrV, A 30/ B 45), im Zuge derer das synthetische Selbstbewusstsein seiner eigenen Insuffizienz inne wird. Will dieses Bewusstsein sich auf ein Ganzes beziehen, vermag es dies folglich nur im Modus der Grenzbestimmung. Adornos Interpretation des kantischen Dings an sich lautet also darauf, dass dieses eine absichtliche «Konstruktion» der Kritik, also kein Thema der Onto‐ logie ist - und zwar die notgedrungene Konstruktion «eines Nichtidentischen als der Bedingung der Möglichkeit von Identifikation». Weil diese Bedingung in ihrer Unbedingtheit für das identifizierende Denken nicht durch identifizie‐ rendes Denken eingeholt werden kann, erweist sich die negative Dialektik als angemessenere Methode zur Erkenntnis des Nichtidentischen. IV. Mit seiner negativ-dialektischen Interpretation des Dings an sich hält sich Adorno also an das, worauf der Anspruch der Kantkritik seit Hegel pocht. Es geht Adorno auch um den Nachweis, dass die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis der eigenen Konsequenz nach auf einen geschlossenen Zusammenhang von Verhältnissen führt, der den Gedanken eines nichtigen und jenseitigen ‹Dings› kraft dieser Geschlossenheit als dog‐ matischen Überrest entzaubern müsste. Zugleich aber bleibt Adorno Kants Gedanken treu. Denn um den Immanenzzusammenhang zu entzaubern, muss Adorno diesen Zusammenhang auf ein diesem Nichtidentisches hin auslegen, dessen Ausschluss aus diesem Zusammenhang für diesen konstitutiv ist. Diese negativistische Auslegung des Dings an sich sprengt den Immanenzzusammen‐ hang jeder zum Ganzen aufgespreizten Reflexion, indem sie die Grenze dieses Zusammenhangs zu ihrem Thema erklärt. In der Negativen Dialektik betont Adorno darum, dass das Ding an sich eben kein Begriff sei, der positiv erfassen sollte, was abseits des reflexiv Erschließ‐ baren liegt. Der Überstieg über diesen Bereich im Namen des Grenzbegriffs er‐ folgt vielmehr indirekt - über die Anzeige der «Insuffizienz des Subjekts», 140 das Unvermögen, sich das im Grenzbegriff Begriffene zu integrieren. 141 Der Grenz‐ begriff ist daher der positivierte Gehalt der indirekten Anzeige der Endlichkeit 138 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="139"?> 142 Dass Kant diese Abhängigkeitsrelation der Erscheinungswelt zum Transzendenten durch immanente Begriffe (die Relation der Kausalität) erfasst, ist im Horizont von Kants Analogielehre nur folgerichtig. Das Differenzverhältnis der beiden Welt ist das Implikat der prinzipiellen Anwendung der Analogien der Erfahrung. 143 Adorno, GS 6, S.-185. 144 Kant, KrV, A 205/ B 249. eines Subjekts. Wohlgemerkt bedeutet dies, dass auch diese Endlichkeit ebenfalls nur indirekt angezeigt wird. Die Kritik handelt, anders gesagt, vom Verhältnis der beiden Größen ‹Erscheinung› und ‹Ding an sich›. Nie aber handelt sie von den Relaten als unabhängige Dinge. Wie gezeigt, deutet Adorno das Ding an sich Kants entsprechend als eine Konstruktion der Kritik. Mit dieser Konstruktion bringt Kant die grundlegende Abhängigkeit der erkennenden Subjektivität von einem subjektfremden, hinzutretenden Objekt zum verbindlichen Ausdruck. 142 Die kantische Philosophie, die nach Adorno die vorbewusste Dialektik ist, operiert daher nach Maßgabe eines Reflexionsmodells, das die Andersheit des Anderen im Einerlei seiner Formbestimmtheit bewahren kann: «Während es [das Denken, C.M.] auch bei ihm [Kant, C.M.] nicht aus sich hinaus gelangt, op‐ fert er doch nicht die Idee der Andersheit.» Denn ohne diese Idee «verkäme Er‐ kenntnis zur Tautologie; das Erkannte wäre sie selbst.» Um also die Tautologie des scheinbar selbstgenügsamen Denkens kraft der Evidenz von Andersheit zu widerlegen, lässt Kant die methodische Anwendung immanenter Kategorien auf diese Andersheit in eine Aporie münden. Adorno erkennt darin gerade die Größe Kants, diese Aporie zum Kernbestand seines Systems zu rechnen. Denn die drohende Tautologie des selbstidentischen Subjekts der Erkenntnis irritierte offenbar die Kantische Meditation mehr, als die Inkonzinnität, das Ding an sich sei die unbekannte Ursache der Erscheinungen, während doch von der Vernunftkritik Kausalität als Kategorie dem Subjekt zugeschlagen wird. War die Konstruktion der transzendentalen Subjektivität die großartig paradoxe und fehlbare Anstrengung, des Objekts in seinem Gegenpol mächtig zu werden, so wäre auch insofern erst durch ihre Kritik zu vollbringen, was die positive, idealistische Dialektik nur proklamierte. 143 Kants konstruktivistische «Meditation» - die Reflexion «auf die Quellen der synthetischen Erkenntnis a priori» 144 - ließ sich gemäß Adorno davon ‹irri‐ tieren›, dass gerade jene Selbstgenügsamkeit des Denkens Index seiner Be‐ schränktheit ist. Dabei tritt die Idee in den Blick, dass das Ganze auch anders sein könnte als dasjenige, das uns kategorial verbürgt ist. Die «Idee der Anders‐ heit» bedeutet nämlich keineswegs, dass sich das Jenseits des Relationsganzen gar nicht in Anspruch nehmen lässt; es bedeutet, dass von den bestehenden 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 139 <?page no="140"?> 145 Vgl. den Einwand Jacobis gegen Kants Lehre vom Ding an sich, «daß ich verschiedene Jahre hintereinander die Critik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte». Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe (Bd.-2.1), hg. v. Klaus Ham‐ macher/ Walter Jaeschke, Hamburg/ Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 109. - Anlass zur Hoffnung gibt, dass die Forschung begonnen hat, die Fundamentaldifferenz zwischen Jacobis und Kants Philosophie herauszustellen. Vgl. Andreas Arndt, «Grenzen der Vernunft», in: Birgit Sandkaulen/ Walter Jaeschke (Hg.), Jacobi und Kant, Hamburg 2020, S. 13-26, S. 7: «In beinahe jeder Hinsicht verfolgen beide fundamental entgegengesetzte Konzepte und äußern dies auch in explizit kritischer Distanz zueinander.» Arndt inter‐ pretiert hierbei, neben dem Einwand Jacobis, Kants Insistenz auf der «Selbsterhaltung der Vernunft» gegen «Aberglauben und Schwärmerei» (Kant, AA VIII, 146 [Fußnote]) in der Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? als Indiz für die Differenz zu Jacobi und schließt darauf auf eine Unvereinbarkeit der beiden Ansätze. 146 Auch Richard Kroner erkennt im jacobischen Vorurteil eine sachliche Untermauerung seines Narrativs Von Kant bis Hegel. Im Vorwort zur 2. Auflage heißt es unmissverständ‐ lich: «Der berühmte Ausspruch Jacobis bleibt richtig und wichtig, daß man nämlich in die Kritik der reinen Vernunft nicht eintreten könne ohne das Ding an sich, daß man Relationen keine hinreichen wird, um das ‹Irrelationale› in seiner konstitutiven Nichtidentität zu identifizieren und dem Horizont relationaler Synthesen zu integrieren. Der Bestimmungsgrund der positiven, idealistischen Dialektik - die integrative Kraft des selbstgenügsamen Subjekts - erweist sich als Insuffizienz und damit als Bestimmungsgrund der Kritik. Adornos Interpretation des Dings an sich legt somit offen, wie stark der Grundzug des kantischen Entwurfs bis heute von dem jacobischen Vorurteil verzerrt wird, wonach die kritische Lehre von der Kausalität und die Lehre vom transzendentalen Unterschied von Erscheinung und Ding an sich in unfreiwilligem Widerspruch zueinander stünden. Der Mainstream der (explizit sowie implizit) idealistischen Kantkritik zieht es vor, Kants «Inkonzinnität», das Transzendente durch immanente Begriffe zu thematisieren, Kant als eine die gesamte Transzendentalphilosophie kompromittierende Ungereimtheit vor‐ zuhalten. Jacobis Argument aber ist verfehlt. Es lautet: Kant darf nicht von einer Relationskategorie Gebrauch machen, um dasjenige zu beschreiben, was außerhalb aller Relationen steht. 145 Das Argument erhebt damit die kritische Einsicht als Einwand gegen diese. Als ob es zielführend wäre, dem Inbegriff des schlechthin Nichtwissbaren vorzuhalten, durch ihn könne kein Wissen erlangt werden. Es entbehrt nicht der Ironie, dass angesichts des verbreiteten Vorurteils, dass Kant kein dialektischer Denker war, er vielen immer schon zu dialek‐ tisch dachte. 146 Mag sein, dass das Denken ohne diese «Inkonzinnität», d. h. in unserem Zusammenhang: ohne die Dialektik der Kritik, nicht in das Zwi‐ 140 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="141"?> aber mit ihm nicht in ihr verharren könne.» Richard Kroner, Von Kant bis Hegel. Von der Vernunftkritik zur Naturphilosophie (Bd.-1), S. V. 147 Man könnte sagen, Jacobi verpasst es, anders als Adorno, Kant als einen analogischen Denker auszulegen. schenreich des Transzendentalen eintreten, geschweige denn darin verharren könnte. Die Annahme aber, Kants kritische Reflexion ziele darauf ab, in dem grenzbegrifflich erschließbaren Bereich überhaupt verharren zu wollen, ist gründlich verfehlt. Der hermeneutische Grundfehler des jacobischen Einwands besteht darin, nicht zu sehen, dass die Transzendentalphilosophie Jacobi das ganze Argument zugeben kann. Es lässt sich leicht zeigen, dass Kant ja gerade darauf abzielt, die «Inkonzinnität» einer verdinglichenden Bezugnahme auf das Ding, wie es jenseits aller verdinglichenden Bezugnahme aussähe, so deutlich wie nur möglich zu Bewusstsein zu führen. Klar beschreibt das Ding an sich einen Widerspruch: Darin ist das Nicht-zu-Verdinglichende verdinglicht. Jacobis Einwand blendet aber vorweg alles Kritische an der Kritik aus, das ja gerade darauf zielt, den Widerspruch der Vernunft bewusst zu machen. Man könnte sagen: Jacobi bemerkt scharfsinnig den Widersinn des Dings an sich; er versteht aber die gezielte Scharfsinnigkeit des Widersinns nicht, den die Formel eines ‹Dings an sich selbst betrachtet› gerade zur Schau stellen sollte. 147 Mit Blick auf unsere Fragestellung lässt sich festhalten: Einer Theorie, die sagt, warum wir keine Theorie des Ganzen ohne die Idee irreduzibler Andersheit haben können, vorzuwerfen, sie sei keine brauchbare Theorie des Ganzen, bedeutet, die spezifische Konfiguration von Dialektik und Kritik zu verkennen, die dieser Theorie zugrunde liegt. V. Im Fluchtpunkt seiner Idealismuskritik kann Adorno dem jacobischen Vorurteil eine Interpretation gegenüberstellen, die den Inhalt des Grenzbegriffs an seine Funktion im Vollzug der Kritik rückbindet. Hierfür hebt Adorno - mit Kant und gegen die idealistische Dialektik - deutlich hervor, dass die Kritik es vorzieht, ihr auf Einheit angelegtes Unternehmen an entscheidender Stelle nach der Idee der Andersheit auszurichten und in das System einen Widerspruch einzutragen, den die idealistische Philosophie - entgegen der landläufigen Meinung - gar nicht artikulieren kann. Der spekulativ zugeschnittene Idealismus muss die Inkonzinnität des Dings an sich scheuen, wenn die Welt als solche widersprüchlich verfasst sein soll. Damit paktiert die negative Dialektik mit der kantischen Kritik: Sie misst die hegelsche Dialektik an ihrem eigenen Anspruch, die Abstraktheit des Anderen der Vernunft vernünftig aufzuheben und sieht, dass sich das nur durch Kritik vollziehen lässt. Adornos Hegelianismus vertritt 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 141 <?page no="142"?> 148 Adorno, GS 6, S.-385. 149 Sandkaulen antizipiert diese Gegenkritik zwar selbst, versucht sie dann aber trotzdem mit dem Hinweis auf das Scheitern Adornos, über die Figur vollendeter Negativität Andersheit positiv zu denken, zu widerlegen. Vgl. Birgit Sandkaulen, «Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in Ästhetische Theorie», S.-397f. 150 Vgl. dazu Walter Jaeschke, «Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung», in: ders./ Birgit Sandkaulen (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg 2004, S.-199-216. 151 Birgit Sandkaulen, «Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in Ästheti‐ sche Theorie», S.-393. also paradoxerweise den Anspruch Hegels, der sich als der Anspruch der Kritik entpuppt, indem er ihn kritisiert. Die Kritik erfährt damit eine seit Kant nicht mehr gesehene Aufwertung als Modus spekulativer Erkenntnis. Sie gibt uns ein Mittel an die Hand, die verkappten Tautologien des identifizierenden Denkens auch dort noch zu durchschauen, wo sich das Identifizierte schon als das Andere ankündigt. Dies, weil nur die grenzbegriffliche Kritik die negative Bezugnahme auf Andersheit als eine dem Anderen angemessene Bezugnahme begreifen kann; und zwar indem sie kopernikanisch auf die Überformung des Anderen durch den Begriff reflektiert. Adornos grenzbegriffliche Dialektik vertritt die Andersheit des Anderen also gegen die Kategorie der Andersheit. Und insofern stellt «die Konstruktion der transzendentalen Subjektivität» bei Kant das Vorbild jeder Theorie dar, die sich der «großartig paradoxe[n] und fehl‐ bare[n] Anstrengung» verpflichtet, «des Objekts in seinem Gegenpol mächtig zu werden». 148 Das scheint die Forschung bislang nicht anerkennen zu wollen. Mit dem Aufsatz «Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in Ästheti‐ sche Theorie» ergreift Birgit Sandkaulen explizit die Partei Jacobis. Sie wirft Adorno vor, den Bann des identifizierenden Denkens zu einer falschen Totalität aufzuspreizen und alles und jeden darin einzuordnen. «Der von Adorno kon‐ statierte Bann lastet vor allem auf ihm», meint Sandkaulen, da Adorno eine «Po‐ sition» vertrete, «die sich […] theoretisch überhaupt nicht […] artikulieren kann». Der kritischen Theorie des identifizierenden Denkens wird offenbar vorgehalten, sie reiche nicht hin, um ihren Gegenstand zu identifizieren. 149 Die Vernunft der Kritik entpuppt sich letztlich als irrational. 150 Als Alternative wird darum auch gegen Adorno, wie schon von Jacobi (und Hegel) gegen Kant, eine Vollzugsweise nicht identifizierenden Denkens beschworen, statt sich auf die Dialektik des Grenzbegriffs einzulassen. Adornos dialektischer Begriff des Ganzen, der dann die philosophische Bedeutung der Ästhetischen Theorie begründe, wird von Sandkaulen durch den «Darstellungsraum einer vernehmenden Vernunft» kontrastiert. 151 142 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="143"?> 152 Ibidem, S.-408. 153 Die Kritik von Sommer ist hier schlagend: «In der Tat führen zahlreiche Kritiker das Scheitern der negativen Dialektik auf den Begriff der Totalität, genauer: auf einen unkri‐ tischen Gebrauch desselben zurück. Adorno breite das Negative des Identitätszwanges, der verwalteten Welt und der Geschichte derart aus, dass weder für das von Adorno beschworene Nichtidentische noch für kritische Reflexion, geschweige denn für Praxis, Luft bleibe. Diese Vorwürfe verfehlen Adornos Totalitätsbegriff meist doppelt: Zum einen übersehen sie die Funktion und den Stellenwert der Totalität als Kategorie der Dialektik und missverstehen damit notwendig auch den Begriff der Dialektik selbst; auf der anderen Seite wird übersehen, dass Totalität nicht nur ein Begriff der Dialektik, sondern auch dialektischer Begriff ist, dass die Totalität, paradox ausgedrückt, nicht total ist.» Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-64. 154 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (Bd. 1), Frankfurt am Main 2 1982 [1. Auflage 1981], S.-515 bzw. 534. 155 Ibidem, S.-156. Adornos eigenes Ringen um einen erfahrungsvermittelten Standpunkt, von dem aus man Totalität überhaupt identifizieren und transzendieren kann, spricht für sich. Löst man aber aufgrund dieser Hinweise die Totalitätsthese auf, dann ist Adornos Problem keineswegs verschwunden. Vielmehr steht man von neuem vor der Frage nach der Denk- und Darstellbarkeit des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit - mit Jacobi zu reden vor der Frage nach einer vernehmenden Vernunft». 152 Diese vernehmende Vernunft würde sich, dem Vorbild Jacobis folgend, nicht mehr jener Inkonzinnitäten schuldig machen, die die Kritik der Totalität durch ihren Zuschnitt auf die Andersheit einholen muss. 153 Entsprechend glaubt auch schon Jürgen Habermas, an der «Aporetik des Begriffs des Nicht- Identischen» das Scheitern der frühen kritischen Theorie (die «Aporetik der Bewußtseinsphilosophie») festmachen zu können, was sich dann eben nur noch durch Anschmiegen der Theorie an die Kunst in eine Tugend wenden ließe. 154 «Dann ist es […]», schreibt Sommer richtig, «ein Leichtes, Adorno die Totalisierung des Identitätszwanges als Fehler vorzurechnen und ihm eine andere, nicht identifizierende Rationalität entgegenzuhalten». 155 So wie aber Jacobi die Inkonzinnität des Dings an sich zwar trifft, aber dennoch missver‐ steht, indem er sie noch einmal unfreiwillig artikuliert, trifft diese Linie der Adornokritik unfreiwillig den Nerv der negativen Dialektik - nämlich die Konsequenz, mit welcher diese bis ins Äußerste negativistisch zu bleiben hat, um die Spannung aufrechtzuerhalten, die den spekulativen Überstieg ermöglicht. Was Jacobi, Habermas und Sandkaulen nicht sehen wollen, ist, dass die Totalität, die die Dialektik zum Thema hat, kein fixer Gegenstand, sondern eine reflexive Kippfigur eines Gegenstandes darstellt, deren objektiver Sinn sich nur noch über den Umweg einer Grenzbestimmung vergegenwärtigen lässt. 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 143 <?page no="144"?> 156 Vgl. Kants «Beschluß von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft» in den Prolego‐ mena, § 57. Kant, AA IV, S.-350-357, zumal 354. 157 Vgl. Gerold Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974, S. 42f und passim. Diese Reflexion behandelt Verhältnisse wie eine Sache, aber nicht um diese Sache positiv zu bestimmen, sondern um die Relationalität allen Bestimmens demonstrativ zu versachlichen, damit endlich gezeigt werden kann, inwiefern die thematisierten Relate gerade keine Sachen an sich, sondern Angelegenheiten der Erkenntniskritik darstellen. Im Konzept einer Erfahrung des Nichtidenti‐ schen deshalb einen Widerspruch zu erkennen, ist also keineswegs verfehlt. Darin aber bloß einen Widerspruch zu sehen, bedeutet, auf halbem Wege stehen zu bleiben und Reflexionsverhältnisse dennoch zu einem erfahrbaren Inhalt zu erklären, der sich dann anhand nicht identifizierender Theorievollzüge positiv artikulieren ließe. Eine Grenzbestimmung ist aber grundsätzlich mehr sowohl als eine positive Bestimmung wie auch als eine bloß negative Einschränkung - die Affirmation der absoluten Grenze (aller reflexiven Ausschlussverhält‐ nisse) bedeutet eine negative Erweiterung des kritisch Eingeschränkten (vgl. Abschnitt C). 156 Entsprechend hängt alles daran, ob es gelingt, Adornos Nicht‐ identisches von einem Gegenstand der ‹vernehmenden› Vernunft streng zu unterscheiden und stattdessen darin die limitative Selbstbestimmung des seines notwendigen Mangels innewerdenden, dialektischen Denkens zu erkennen. VI. Kommen wir angesichts dessen auf die Frage zurück, wie Kants Ding an sich und Adornos Nichtidentisches engzuführen sind. Zunächst gilt es, dabei auf zwei grundlegende Ähnlichkeiten hinzuweisen. Erstens verleiten beide Begriffe dazu, sie als Begriffe von Dingen zu verstehen - während sie ihren dinglichen Sinn gerade bestimmt negieren. Kraft ihres negativen (nicht dinglichen) Sinns beschreiben beide Begriffe Funktionen des Denkens, die die Bezugnahme auf Gegenstände als solche reflektieren. Sie bezeichnen dabei indirekt dasjenige, was der Vergegenständlichung entschlüpft. Das «Ding an sich selbst betrachtet» 157 an sich selbst betrachten zu wollen ist folglich ein so offenkundiger Widersinn, dass er nur als solcher gemeint sein kann. Der Ausdruck ‹Ding an sich selbst betrachtet› soll gerade nichts als den Widersinn einer Betrachtung des an sich selbst zu Betrachtenden benennen. Nur so ist auch zu erklären, warum Kant vom Ding an sich als Kollektivsingular reden kann. Singularität fällt diesem Gehalt als Funktion zu, um den Gegenstand der Erkenntnis vor der restlosen Vereinnahmung durch die Einerleiheit des Denkens zu bewahren. Bernstein schreibt daher (in Anlehnung an Adorno): «Für Kant wirkt die Vorstellung vom Ding an sich formal als Erinne‐ 144 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="145"?> 158 Jay M. Bernstein, «Adorno zwischen Kant und Hegel», S.-115. rung an Nichtidentität.» 158 Daran anknüpfend wäre Adornos Nichtidentisches dasjenige Nichtbegriffliche, das sich als das Andere des Begriffs gemäß der Leit‐ idee der Nichtidentität von Begriff und Nichtbegrifflichem denken lassen muss - dies, weil es sich, als verdrängte Bedingung jeder Identifikation, selbst gerade nicht identifizieren lässt. Das Nichtidentische ist, aus der Verdrängung geholt, nur als affirmiertes Negationsverhältnis zwischen Einerlei und Verschiedenheit präsent. Zweitens sind beide Begriffen dazu bestimmt, dem identifizierenden Denken seine Grenze verbindlich aufzuzeigen. Sie bedeuten diese Grenze positiv. Kant beruft sich emphatisch auf das Ding an sich als Grenzbegriff, weil er das Geschäft einer Kritik der Vernunft insgesamt als eine Grenzbestimmung der Vernunft versteht. Ebenso beruft sich Adorno auf das Nichtidentische - nicht im Sinne einer inhaltlichen Bereicherung des dialektischen Denkens, sondern um die materiale Bereicherung dieses Denkens als den paradoxen Umweg seiner formalen Selbsteinschränkung zu konzipieren. Der Begriff des Nichtidentischen ist dabei - wie das Ding an sich - als das Resultat eines unendlichen Urteils über die Einerleiheit des selbstgenügsamen Denkens zu begreifen. Wenn wir nun beide Gemeinsamkeiten zusammendenken, folgt daraus: Grenzbegriffe beziehen sich auf Gegenstände jeweils im Modus der Affirmation ihres nicht dinglichen Sinns. Bei Kants Ding an sich liegt das wie gezeigt auf der Hand. Mit Blick auf Adornos Nichtidentisches müssen wir aber von vorne ausholen, um den negativ-dialektischen Sinn dieser Affirmation nicht zu verpassen: Das unendliche Urteil, das dem Gehalt des Nichtidentischen vorangeht, affirmiert zunächst das Prädikat ‹nicht identisch sein›. Durch die affirmierende Verwandlung des prädikativen Verhältnisses der Nichtidentität wird das Zeitwort ‹identisch sein› gleichsam entzeitlicht und hypostasiert. Es wäre nun verfehlt, Adorno dieser Hypostase die Abstraktheit vom Konkreten zum Vorwurf zu machen. Genau das ist ja der springende Punkt: einen vermeint‐ lich objektstufigen Begriff als konstitutive Unmöglichkeit in den Skopus der Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens zu integrieren; mit dem Zweck, dass dieser Skopus eben nicht mit dem objektiven Ganzen verwechselt wird. Insofern wird sich auch die grenzbegriffliche Reflexion, auch wenn sie sich dialektisch artikuliert, nicht mehr unvermittelt als das Organon der Wahrheit aufspielen. Die hypostasierende Kritik der Hypostase verfehlt den negativisti‐ schen Sinn, den diese Hypostase im Zuge der reflexiven Selbstkritik annimmt und so indirekt deren Anspruch bestätigt. Die Kritik erweist sich offenbar als 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 145 <?page no="146"?> 159 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 3 1918 [1. Auflage 1871], S.-230. 160 Kant schreibt in diesem Sinne in «Phaenomena und Noumena» explizit, «der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Kausalität), [müsse] dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen». Kant, KrV, A 247/ B 303. 161 Adorno, GS 6, S.-189. 162 Ibidem. alternativlos, da die Kritik der Kritik (wie im Falle der positiven Dialektik) mit lauter hypostasierten Grenzbegriffen operieren muss. Damit hat der Zentralbegriff der negativen Dialektik Entscheidendes ge‐ meinsam mit dem kantischen Grenzbegriff des Dings an sich. Während die Be‐ stimmung des Dings an sich das ‹Nicht erscheinen-Können› dieses ‹Dings› af‐ firmiert, beschreibt das Nichtidentische die Substantivierung des negativen Prädikats ‹nicht identisch sein›. Und so gewinnen beide Begriffe objektive Relevanz nur im Zuge ihres Einsatzes als Grenzbegriffe. Beide Begriffe sollen mit Bestimmtheit nichts identifizieren, d. h. das Reflexionsverhältnis darstellen, das uns gerade verwehrt, das reflexiv ins Verhältnis Gesetzte an sich, will sagen: losgelöst von jeder Urteilsrelation zu identifizieren. VII. Der adornosche Begriff der Nichtidentität beschreibt insofern eine Aneignung des «negative[n] Nebengedanke[ns]» 159 der kritischen Philosophie Kants, des Dings an sich. Angesichts dieser konstitutiven Negativität ist die Frage, was das Nichtidentische in positivem Sinne ist, ebenso unangemessen wie die Frage nach der Beschaffenheit von Dingen an sich. Es geht ja vielmehr - nach Kant - darum, die gegenständliche Reichweite aller möglichen Urteile der Form ‹S ist P› zu prüfen und mit dieser Prüfung den Sinn des ‹ist› zur Streitsache zu machen. 160 Denselben Sinn hat der Einsatz des Nichtidentischen bei Adorno: Das Nichtidentische ist eine Streitsache, die sich durch ihre begrifflichen Vermittlungen hindurch als das Andere des Begriffs erhält. Insofern ist das Nichtidentische ein anderer Name für Kants Gegebenes. Dass dieses Gegebene als ein Mythos anzusehen ist, als ein reines Formeinerlei, würde Adorno umstandslos zugeben. Denn: «Das Objekt ist mehr als die reine Faktizität […]». 161 Aber Adorno betrachtet die Momente der Erkenntnis nicht als auf einander verwiesen, um damit zu zeigen, dass alles vermittelt ist, sondern um zu zeigen, dass, weil alles für uns vermittelt erscheint, die Bezugnahme auf das Gegebene als Nichtidentisches gerade eine Notwendigkeit darstellt. Danach zeigt sich: «Nichts in der Welt ist aus Faktizität und Begriff zusammengesetzt, gleichsam addiert.» 162 Das Gegebene und seine Begriffsform lassen sich daher 146 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="147"?> nur über den Grenzbegriff des Nichtidentischen miteinander vermitteln. Wollen wir das Gegebene erkennen, müssen wir unser Vermittlungstun auf dessen Grenze ausrichten, diese Grenze zum Thema noch der Dialektik erklären, die vorgibt, über die Grenze hinaus zu sein. Diese in sich gegenläufige Logik von Anspruch und gleichzeitiger Zurücknahme des Anspruchs ist überall am Werk, wo Adorno dem Nichtidentischen einen konkreten Gehalt geben möchte. Salopp ausgedrückt: Adorno sagt, was das Nichtidentische ist, indem er zeigt, weshalb andere daran scheitern, es zu identifizieren. Allein die Indirektheit einer Anspruchskritik kann eine Philosophie der Nichtidentität davor bewahren, dem Identitätszwang nachzugeben und ihren Gehalt unter den Begriff der Nichtidentität zu subsumieren, womit der Gehaltsanspruch des Nichtidentischen erneut verfehlt wäre. Konkreten Gehalt erlangt das Nichtidentische also nur über den Vollzug der Erkenntniskritik. Grenzbegriffe sind die Fluchtpunkte dieses Vollzugs. VIII. Das Argument dieses Abschnitts A lässt sich abschließend wie folgt nachvoll‐ ziehen: i. Wenn Denken identifizieren heißt, das Ziel des Denkens also darin besteht, das Nichtidentische begrifflich zu identifizieren, dann müssen wir über eine Idee von Nichtidentität verfügen, der gemäß sich der Begriff des Nicht‐ identischen und das Nichtidentische als Nichtbegriffliches unterscheiden lassen. Diese Idee ist die Nichtidentität des Identischen und des Nichtidenti‐ schen. ii. Eine identifizierende Bezugnahme auf das Nichtidentische - etwa in einem Satz der Form: ‹Das Nichtidentische ist …› - ist folglich nur unter einer Bedingung nicht ‹falsch›. Das Nichtidentische ist diese Bedingung - als «Bedingung der Möglichkeit von Identifikation», weil es durch seine bloße Form die Grenze des begrifflichen Denkens anzeigt. Als affirmierte Negation ist das Nichtidentische das Ergebnis eines unendlichen Urteils über die Sphäre des Begriffs. Gemäß der Leitidee der Nichtidentität ist dieses Ergebnis nur noch als limitative Funktion in Anspruch zu nehmen, d. h. mit Bezug auf den Ort, wo das Vermittlungstun der Dialektik an seine Grenze stoßen muss. Diese Grenze darf die Dialektik nicht a priori erreicht zu haben beanspruchen, denn das bliebe eine bloße Deklaration, sondern muss in jeder negativ-dialektischen Vermittlung von neuem die Grenze berühren. 3. Das Nichtidentische und das Ding an sich 147 <?page no="148"?> 163 Vgl. Birgit Sandkaulen, «Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in Ästhetische Theorie», S.-394. iii. Der «dialektische Taumel in kleinsten Kreisen», 163 den die Negative Dia‐ lektik beschreibt, erlangt systematische Verbindlichkeit darüber, dass er die Durchführung dieses grenzbegrifflichen Programms darstellt. Also ge‐ winnen auch die Begriffsgehalte der Dialektik Erkenntnisrelevanz nur als Funktionen der Kritik vermittelnden Denkens und als Vergegenwärtigung der (auch diesem Denken) jederzeit drohenden Amphibolie von Begriff und Nichtbegrifflichem. Adornos Gedanke der Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen verfolgt letztlich das Ziel, dass wir die gängigen Formen von Differenz - das Begriffslose, das Andere, das Verschiedene, das transzendentale Äußere und das Nichtidentische der Materie - nicht für einen gesicherten Wissensbestand halten, sondern dass wir diese Begriffe wieder als kritische Erinnerungen ver‐ stehen lernen: Erinnerungen daran, dass wir Verschiedenheit allein in ihrer Ge‐ gensätzlichkeit zur Einerleiheit der Gedankenform - und Gedankenformen sind es allesamt - noch nicht positiv erfasst haben, weil noch ‹Verschiedenheit› eine für sich genommen insuffiziente Form eines differenten Inhalts darstellt. Das Nichtidentische nötigt uns final dazu, seine begriffliche Gestalt von einem Nichtbegrifflichen zu unterscheiden, damit sein Anspruch eingelöst werden kann. Sein Anspruch zwingt uns, die Unterscheidung als die angemessenste Weise der Bezugnahme auf das Beanspruchte anzuerkennen - er besagt: Nur über den Grenzbegriff ließe sich Verschiedenes in der Welt dialektisch mit Einheit vermitteln. 148 A. Einerleiheit und Verschiedenheit <?page no="149"?> 1 Kant, AA II, S.-165-204. 2 Kant, AA II, S.-63-164. 3 Vgl. Peter Reuter, Kants Theorie der Reflexionsbegriffe, S. 144ff.; Henry Michael South‐ gate, «Kant’s Critique of Leibniz’s Rejection of Real Opposition», in: HOPOS: The Journal of the International Society for the History of Philosophy of Science 3/ 1, 2013, S. 91-134. Die Verteidigung der Möglichkeit des realen Widerstreits erfolgt beim vorkritischen Kant noch anhand von mathematischen Subtraktionsformeln - mit dem Ziel, einen verbindlichen Diskursrahmen zu schaffen, anhand dessen einander objektiv widerstreitende Kräfte physikalisch beschreibbar gemacht werden sollten. Vgl. die betr. Erläuterung (101.) der Herausgeber Guyer und Wood in Immanuel Kant, Critique of Pure Reason, Cambridge 1999, S.-733. B. Einstimmung und Widerstreit Die transzendentale Reflexion wird von Kant als derjenige Akt der Vergleichung von Vorstellungsgehalten bestimmt, im Zuge dessen entschieden werden soll, ob der dabei ermittelte Zusammenhang der Vorstellungen real oder bloß logisch in Anspruch genommen werden darf. Die damit zu vermeidende Verwechslung von Sinnlichkeit und Verstand hat sich insbesondere mit Blick auf das Problem von Einstimmung und Widerstreit als abträglich für eine begriffliche Erschlie‐ ßung der Welt erwiesen. Werden Vorstellungen für miteinander einstimmig befunden, d. h., widersprechen sie sich prima facie nicht, so leiten sie zu beja‐ henden Urteilen der Form ‹S ist P› an. Sind sie einander widerstreitend, geben sie Anlass zu einem verneinenden Urteil der Form ‹S ist nicht P›. In ersterem Fall nimmt das Denken die für einstimmig befundenen Verhältnisse affirmativ in Anspruch, d. h., es leitet daraus die Realität des Vorstellungskomplexes (als Urteilsgehalt) ab. Im zweiten Fall lässt sich der widerstreitende Urteilsgehalt nicht objektivieren - und bleibt der Inhalt einer Negation. Der von Kant kritisierte Rationalismus zeichnet sich nun darüber aus, dass für diesen Realität und Einstimmigkeit wechselbestimmt sind. Der Rationalismus besagt: Was real ist, ist einstimmig vorstellbar und was sich logisch widerspricht, darf für nicht real befunden werden. Der rationalistische Fehlschluss lautet: Folglich kann es nur einen logischen, jedoch keinen realen Widerstreit geben, denn alles ist an sich in Harmonie. Bereits in seinem 1763er Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzufahren 1 wie auch in Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes 2 versuchte Kant demgegenüber zu zeigen, dass der Ausschluss des realen Widerstreits eine unzulässige Verkürzung unseres Blicks darstellt. 3 Im Amphiboliekapitel der ersten Kritik tritt nun zusehends das Problem des logischen Widerspruchs in den Vordergrund. Der Widerspruch kann kein qualifizierendes Urteil abgeben, weil <?page no="150"?> 4 Vgl. Peter Reuter, Kants Theorie der Reflexionsbegriffe, S.-147. 5 Ibidem, S.-149. er primär ein Merkmal analytischer Urteile ist, während der Widerstreit - als ein nichtlogisches Negativitätsverhältnis 4 - ein objektiver Gehalt eines syntheti‐ schen Urteils sein kann - z. B. wenn wir einander negierende Wechselwirkungen von Kräften in der Erscheinungswelt beobachten (zwei kollidierende Autos oder dergl.). Die Pointe im Reflexionsbegriffskapitel besteht gemäß Reuter folglich in der Einsicht, dass das Ausbleiben der transzendentalen Reflexion eine Verwirrung darüber aufkommen lässt, wie Realität und Widerstreit in der Erkenntnisstruktur zusammenfinden können und welche Schlüsse mit Blick auf die Objektivität ihrer Konvergenz zu ziehen sind. Unterbleibt die Referenzbestimmung gegebener Vorstellungen hinsichtlich der hete‐ rogenen Erkenntnisstruktur, und wird in der Folge dieser Unterlassung ein bloß logisches Antagonismusmodell konzipiert, so resultiert nach Kant diese Gedanken‐ operation in einem ontologisierenden Modell des ‹Widerspruchs›. 5 Kant kritisiert die rationalistische Tradition entsprechend als ein ontologisie‐ rendes Modell des Widerspruchs. Paradoxerweise ist die Logifizierung des Widerspruchs schuld an seiner Ausweitung zum ontologischen Sachverhalt. Die Anerkennung des realen (a-logischen) Widerstreits aber verhindert gerade die Identifikation mit dem logischen Widerspruch. Kurz: Das kantische, erkennt‐ nisanalytische Modell des Widerspruchs, das sich in der Reflexionsbegriffslehre artikuliert, bildet einen Gegenpol zur positiven Dialektik, weil der Widerstreit bei Kant nicht nur ein Moment in der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand beschreibt und also keine transzendentale Bestimmung darstellt. Was Kant am Rationalismus kritisiert, ist, dass er dort eine transzendentale Bestimmung darstellt. Analoges hält Adorno der traditionellen Dialektik vor, wenn er darauf pocht, dass der logische Widerspruch auch dort noch ein Reflexionsbegriff bleibt, wo sich die Realität als widersprüchlich erweist. Tatsächlich ist Dialektik weder Methode allein noch ein Reales im naiven Verstande. Keine Methode: denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die der Gedanke surrogiert, ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstimmigen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlaßt zur Dialektik. Kein schlicht Reales: denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache. Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist sie 150 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="151"?> 6 Adorno, GS 6, S. 148. Vgl. dazu erhellend Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-72f. 7 Adorno, GS 6, S.-238. 8 Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-72. 9 Adorno, GS 6, S.-18. 10 Ibidem, S.-148. 11 Ibidem. Widerspruch gegen diese. Mit Hegel aber läßt solche Dialektik nicht mehr sich vereinen. 6 Lässt sie sich mit Kant vereinen? Gewiss wohl mit der kantischen Intention, gegen den Rationalismus die Realrepugnanz zu verteidigen, aber ohne die Einstimmigkeit der kritischen Vernunft durch die Objektivität des Widerspruchs kompromittieren zu wollen. Dennoch bleibt das Verhältnis der Dialektik zu Kant spannungsvoll. Die Realität des logischen Widerspruchs zu behaupten ist durchaus nicht im Sinne der transzendentalen Reflexion. Gleichwohl ist die scheinbare Widersprüchlichkeit der Welt in der Antithetik mit einer Klarheit dargelegt worden, die sich nur noch durch Reflexion schlichten lässt. Indem Kant die Notwendigkeit der Antinomien demonstrierte, hat auch er die Ausrede vom Scheinproblem verschmäht, rasch jedoch der Logik der Widerspruchslosigkeit sich gebeugt. Der transzendentalen Dialektik fehlt nicht durchaus das Bewußtsein davon. Wohl wird die Kantische Dialektik nach Aristotelischem Muster als eine von Fangschlüssen vorgetragen. Aber sie entwickelt These wie Antithese jeweils widerspruchslos in sich. Insofern erledigt sie keineswegs bequem die Antithetik, sondern will ihre Unvermeidlichkeit demonstrieren. 7 Genauso bleibt die adornosche Dialektik zur Reflexion auf das unvermeidlich antagonistische Verhältnis von Einstimmigkeit und Widerstreit angehalten und darf weder entscheiden, dass das eine noch das andere mit ontologischer Gewissheit ‹der Fall› ist. «Dieses ‹weder-noch›«, schreibt Sommer, «ist aber gerade das, was negative Dialektik ausmacht». 8 Denn einerseits ist der Wider‐ spruch real, nicht bloß ein Denkfehler. Andererseits sei «[d]ie Totalität des Widerspruchs […] nichts als die Unwahrheit der totalen Identifikation, so wie sie in dieser sich manifestiert». 9 Noch einmal mit Adorno gesprochen: «[…] Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache […].» 10 Der Widerspruch wird, als Reflexionskategorie, folglich zugleich objektiv in Anspruch genommen und eingeschränkt - diese Aporetik aber als angemessener Ausdruck des Nichtidentischen begriffen: «Wi‐ derspruch ist Nichtidentität im Bann des Gesetzes, das auch das Nichtidentische affiziert.» 11 B. Einstimmung und Widerstreit 151 <?page no="152"?> 12 Ibidem, S.-22. 13 Ibidem, S.-109. 14 Rüdiger Bubner, «Adornos Negative Dialektik», in: Ludwig von Friedeburg/ Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, S.-35-40, hier: 35. In diesem Abschnitt soll in zwei Schritten dargelegt werden, inwiefern das negativ-dialektische Reflexionsmodell eine Dialektik von Einstimmung und Widerstreit anleitet, die die Einsicht der kritischen Theorie ins Negative der Welt verbindlich gegen jede ontologische Inanspruchnahme von Negativität vertei‐ digen und die Dialektik darüber als eine «Ontologie des falschen Zustandes» 12 begründen kann. Diese negative Dialektik des Widerspruchs hält sich durch Vermeidung des amphibolischen Irrtums für die radikale Veränderung des antagonistischen Ganzen offen, statt mit Hegel «den Parmenides mit Heraklit aus[zu]treiben» 13 und im Widerstreit der Geschichte ein notwendiges Werden wiederzuerkennen. Dazu werden zwei Eigenbestimmtheiten der negativen Dialektik auf die Auseinandersetzung mit Kant zurückgeführt: 1. Adornos Idee des Antisystems - 2. Die Reziprozität von konstituierenden und konstituierten Elementen (Constituens und Constitutum), erläutert am Gedanken der transzen‐ dentalen Subjektivität. 1. System und Antisystem I. Wie Rüdiger Bubner anlässlich der ersten Adorno-Konferenz festhielt, kommt die Negative Dialektik dem «unerhörten Unternehmen» gleich, «ein System gegen alle Systeme zu schreiben». 14 Sollte diese Beschreibung zutreffen, hat Adorno die Forschung vor ein scheinbar unlösbares Dilemma gestellt. Entweder wir folgen dem Wortlaut des Textes, der entschieden Kritik am System übt und diesen Umstand performativ zur Schau stellt, indem in scheinbaren Endlosschlaufen stets von neuem der reale Widerstreit zwischen System und Welt gegen den Anspruch des Systems - den Anspruch auf Einstimmigkeit - starkgemacht wird. Oder wir gehen von dem unabweisbaren Befund aus, dass der allseitige Widerstreit des adornoschen Denkens mit dem System selbst eine versteckte Ein‐ stimmigkeit aufweist, die sogar in traditionellem Sinne systematisch zu nennen wäre und insofern verbindliche Ergebnisse zeitigte, die den herkömmlichen Rekonstruktionsmethoden der Forschung zugänglich blieben. Eine dritte Möglichkeit bestünde indessen darin, diese Alternative gar nicht erst zu akzeptieren. Das Dilemma zwischen Systemdenken und Kritik am System wäre dann selbst ein dialektisches Dilemma und negative Dialektik 152 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="153"?> 15 Adorno, GS 6, S.-36-39. 16 Adorno, GS 6, S.-10. 17 Ibidem, S.-39. 18 Ibidem, S.-35. immer schon als Vorschlag zur Lösung dieses Dilemmas zu begreifen. Dies würde allerdings verlangen, den Anspruch Adornos dahingehend ernst zu nehmen, dass die Dialektik als solche final zwischen System und Systemlosigkeit oszillieren würde, statt ein eindeutiges Ergebnis zu zeitigen. Dieses Oszillieren ist als ‹negatives› Resultat nirgends auf Harmonie angelegt, stellt keine Lösung von Problemen, keine Synthese und keinen Kompromiss dar. Adorno selbst sieht im Verhältnis zwischen System und begründeter Systemkritik eine Antinomie vorliegen, die im Antisystem ausartikuliert und deren Spannung darin ausge‐ tragen werden soll. 15 Entsprechend muss im Folgenden dargelegt werden, weshalb wir den Wi‐ derstreit zwischen einstimmigem System und einer im Namen des realen Widerstreits artikulierten Kritik am System als ein dialektisches Dilemma im kantischen Sinne verstehen sollten, weshalb der Widerstreit also innerhalb des Denkens nicht eindeutig subjektiv oder objektiv sein darf, sondern ambivalent bleiben muss, ansonsten die Reflexionsbestimmtheit des negativ-dialektischen Gehalts nicht geltend gemacht werden kann. Kurz, wir haben die Umgangsform der negativen Dialektik mit dem traditionellen Systemdenken als eine transzen‐ dentale Reflexion nach- und mitzuvollziehen, wenn wir verstehen möchten, was das Antisystem bedeutet. Adornos «Vorrede» zur Negativen Dialektik nimmt die grundlegende Am‐ bivalenz seines «Unternehmen[s]» deutlich genug vorweg. «Spricht man in der jüngsten ästhetischen Debatte vom Antidrama und vom Antihelden, so könnte die Negative Dialektik, die von allen ästhetischen Themen sich fernhält, Antisystem heißen.» Antisystem ist ein geschickt gewählter Name, wenn man bedenkt, dass mit dieser Wahl die Alternative von System und Systemkritik vorneweg verworfen und in den Skopus der Dialektik integriert wird. Das Antisystem hat das Spannungsverhältnis von System und Systemkritik zum Thema. Denn einerseits ist das Antisystem zwar offenkundig als radikale Kritik am System gedacht; das Antisystem verfolgt das erklärte Ziel, «anstelle des Einheitsprinzips und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs die Idee dessen zu rücken, was außerhalb des Banns solcher Einheit wäre». 16 Andererseits aber erhebt Adornos Systemkritik selbst durchgehend Anspruch auf systematische Verbindlichkeit. Das Antisystem soll so der «Forderung nach Verbindlichkeit ohne System» 17 gerecht werden. Und: «Kritik liquidiert nicht einfach das System.» 18 Adorno will sich also die nachidealistische Systemkritik 1. System und Antisystem 153 <?page no="154"?> 19 Adorno, GS 6, S.-43. 20 Fritz-Peter Hager, Christian Strub, Art. «System; Systematik; systematisch», in: Joa‐ chim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (online), Basel 2017. 21 Kant, KrV, A 77/ B 103. 22 Mit Richard Hönigswald, «Zum Begriff der kritischen Erkenntnislehre», in: Kant Studien 13, 1908, S. 409-456, hier: 420 kann erklärt werden: «Die formale Unterscheid‐ barkeit der Wahrnehmungen an sich schon setzt Einheit der Synthesis voraus.» 23 Vgl. die entsprechende Einsicht ebenfalls bei Hönigswald, op. cit., S. 409: «Die positive Leistung der kritischen Philosophie auf theoretischem Gebiete liegt in dem Beweise von der Identität der Synthesis in analytischen Sätzen und der Verknüpfung von Vorstellungen im Begriff des Gegenstandes der Erfahrung.» 24 Kant hält in § 19 der ersten Kritik fest, «daß ein Urteil nichts andres sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen». Kant, KrV, B 141. dialektisch aneignen, indem er sie zur Methode integriert, die das Systemdenken anhand der geschichtlich auferlegten Selbstreflexion über sich hinaus zur Sache treiben soll. «Die Demontage der Systeme und des Systems ist kein formalerkenntnistheoretischer Akt.» 19 Sie ist bei Adorno zur Sache der Dialektik geworden. II. Um zu verstehen, was das Antisystem Adornos ist, müssen wir sehen, wogegen es sich richtet. Was also ist ein ‹System›? Die offizielle Definition im Historischen Wörterbuch der Philosophie lautet: «Das griechische Wort σύστημα (von συν zusammen und ἵστημι stellen)» bedeute ein «Ganze[s], welches aus Teilen oder Gliedern besteht und Ergebnis einer ‹Zusammenstellung› ist». 20 Ein System ist also das Ergebnis eines Prozesses - des Vorgangs der «Zusammenstellung» ein‐ zelner Teile zu einem einstimmigen Ganzen. Ein anderes Wort für ‹Zusammenstellung› lautet ‹Synthesis›. Der Begriff der Synthesis bezeichnet bei Kant «die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen». 21 Synthesis ist offenbar jener Vorgang, dessen Zweckhaftigkeit sich uns nur von seinem Ende her erschließt, jener Einheit des Bewusstseins, deren Herstellung antizipierbar ist im Noch-verschieden-Sein bereits vergleichbarer und daher ihrerseits bereits synthetisierter Wahrnehmungsinhalte. 22 Der Begriff der Synthesis ist ein, wenn nicht der Grundbegriff der kantischen Analytik, da diese im Rahmen der Kategoriendeduktion zeigt, inwiefern es keine bewusste Vorstellung ohne Einheit, keine Einheit ohne eine darin zusammengestellte Verschiedenheit geben kann. 23 Kant zeigt: Eine einheitliche Vorstellung ist in jedem Fall eine aus bereits vergleichbar gemachten Vorstellungen zusammen‐ gesetzte Einheit - ein Urteil. 24 Die Einheit des Urteils verweist als synthetische 154 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="155"?> 25 Vgl. Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, S. 255, zit. n. Bruno Bauch, «Das transzendentale Subjekt. Eine transzendentalphilosophische Skizze». in: Logos 12, 1924, S.-29-49, hier: 46. 26 Wie Adorno in der 4. Vorlesung über negative Dialektik über das systematische Ord‐ nungsprinzip sagt: «Es ist also eine Veranstaltung subjektiver Vernunft.» Adorno, NaS IV 16, S.-58. 27 Mit Adorno ist daher zu betonen, dass die synthetische Einheit der Apperzeption indirekt auf eine bereits konstituierte Einzelsubjektivität (nicht nur deren Begriff) verweist - das Konstituens wäre sonst gegenstandslos. Vgl. den nächsten Abschnitt B/ 2. 28 Hermann Cohen, Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, S.-47. 29 Adorno, NaS IV 4, S.-22. 30 Dabei bilden analytische Urteile keine Ausnahme; für Kant stellen auch diese das Re‐ sultat einer vergleichenden Verknüpfung (logischen Reflexion) dar, die sich (mit Cohen zu reden) in der Zusammenziehung vollzieht. Nur dem analytischen Geltungsanspruch gelingt der Ausschluss von Verschiedenem - die Reflexion offenbart sofort die Synthesis in der Analysis. Einheit also auf die Gleichursprünglichkeit der Verschiedenheit zurück. Das meint das ‹Ich denke› als Bedingung der Möglichkeit der Zusammensetzung. Kant führt damit jeden synthetisierten Gehalt - und es gibt keinen Gehalt außer den synthetisierten - auf das «Einheitsbeziehungstun» 25 transzendentaler Sub‐ jektivität zurück. Die Einstimmigkeit systematischer Erkenntnis ist ein Index der synthetisierenden Tätigkeit eines Erkenntnissubjekts und keine unmittelbar objektive Eigenschaft der synthetisierten Welt. 26 Würde der Ichbegriff nämlich nicht an ein von der transzendentalen Subjek‐ tivität verschiedenes Einzelsubjekt erinnern, wäre Einheit gar kein Thema für uns. Beides - die Evidenz der Synthesis in der Einheit und die der Einheit in der Synthesis - führt Kant daher im Zentralbegriff einer «synthetischen Einheit der Apperzeption» eng - dem Prinzip und Fluchtpunkt aller Zusammensetzung. Die zweckmäßige Einheit des Urteils ist dabei nicht direkt das empirische Ich, das denkt, sondern der Inbegriff und Geltungsgrund der Ich-Bestimmtheit aller möglichen Urteile. 27 Daher gilt: Die Einheit des Urteils ist kein für sich seiender Gegenstand, sondern «vollzieht sich in der ‹Zusammenziehung›». 28 Wie Adorno in der Kantvorlesung entsprechend betont, ist das Urteil bei Kant zwar jener «Tatbestand, auf den die Frage nach der Wahrheit sinnvoll ausgedrückt werden kann»; 29 und es zeigt sich dabei, dass die Einheit des Urteils als dieser ‹Tatbestand› eben in sich synthetisch ist; d. h., dass sich die synthetische Einheit auf ein ihm Verschiedenes beziehen lassen muss und also nicht ohne Verkürzungen als In-sich-Ruhendes und Immergleiches in Anspruch zu nehmen ist. 30 1. System und Antisystem 155 <?page no="156"?> 31 Rüdiger Bubner, «Was heißt Synthesis? », in: ders., Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt am Main 1992, S.-94-110, hier: 104. 32 Adorno, GS 5, S.-181. 33 Kant, KrV, A 832/ B 860. 34 Ibidem, A 833/ B 861. 35 Ibidem. All das ist entscheidend, wenn wir Kants Idee des Systems genauer in den Blick nehmen. Bei Bubner heißt es entsprechend: «Daß Kant die Synthesis als Handlung deutet, öffnet ihm den gesamten Weg einer transzendentalen Überlegung.» 31 Ähnlich hält Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie fest, dass «bei Kant die synthetische Einheit der Apperzeption unablösbar ist vom System der reinen Vernunft». 32 Kants Systembegriff in der «Metho‐ denlehre» baut in der Tat auf den Kernbefunden der «Transzendentalen Ana‐ lytik» auf. In der «Methodenlehre» versteht Kant «unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee», unter dieser Idee wiederum den «Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile unter einander, a priori bestimmt wird». 33 Ein System - das ist nach Kant also eine formal-apriorische Einheit eines Mannigfaltigen an Inhalten. Dem Text lassen sich danach drei weitere Kriterien der kantischen System‐ idee entnehmen, die für die nachkantische Philosophie von nicht zu unter‐ schätzender Tragweite sein dürften. Erstens erfordert Kants Systemidee von dem System, zweckmäßige Einheit zu sein. «Das Ganze», das der Systemidee genügen soll, sei «gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio)». 34 Zweitens legen die Formulierungen Kants nahe, dass aufgrund der quasi-or‐ ganischen Form des Systems zwar von der Grenzbestimmtheit, dabei aber von der Offenheit und Unabschließbarkeit des Wachstums auszugehen ist: Das System könne «innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich wachsen, wie ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht». Und drittens bedürfe die Anwendung der Systemidee auf den zu systematisierenden Stoff eines Schemas, «d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile». 35 Apriorische Zweckmäßigkeit, grenzbestimmte Unabschließbarkeit des Wachstums und durchgängige Ordnungsbestimmtheit der Teile kennzeichnen das System bei Kant als eine architektonische Veranstaltung der erkennenden Subjektivität (als überindividueller Instanz), mit dem Zweck der formierenden Anverwandlung eines Mannigfaltigen an andernorts vorliegenden, bereits 156 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="157"?> 36 Kant setzt dem transzendentalen Schematismus der Analytik, welcher noch tech‐ nisch mit dem empirisch gegebenen verfahren muss, die Architektonik der reinen Vernunft gegenüber, die a priori Zwecke «aufgibt und nicht empirisch erwartet». Kant, KrV, A 833/ B 861. Architektonik sei «die Kunst der Systeme» (ibidem, A 832/ B 860) - wobei hier die Rede von Kunst im Sinne der späteren Gegenüberstel‐ lung von ‹Kunst› als «Begriff einer Causalität durch Zwecke» (Kant, AA V, S. 397) und ‹Technik› (als Naturzweckmäßigkeit) in der Kritik der Urteilskraft zu verstehen ist. Vgl. Ulrike Santozki, «Kants ‹Technik der Natur› in der Kritik der Urteilskraft: Eine Studie zur Herkunft und Bedeutung einer Wortverbindung», in: Archiv für Begriffsgeschichte 47, 2005, S.-89-121. 37 Die generatio aequivoca ist zwar der offizielle Lehrbegriff für damalige Hypothesen über die Entstehung des Lebens ohne göttlichen Schöpfungsakt, Urzeugung, nimmt aber als ‹mehrdeutige Erzeugung› einen Sinn an, der angesichts der kantischen Amphibo‐ liekritik passender nicht sein könnte. 38 Kant, KrV, A 835/ B 863. 39 Ibidem, A 838/ B 866. 40 Vgl. ibidem, A 836/ B 864. schematisierten Erkenntnissen. 36 Der szientifische Vernunftbegriff des Systems wäre somit gleichsam das Pendant zum ‹Ich denke› - ein ‹Wir denken› -, das alle ‹Erzeugnisse› des Einheitsbeziehungstuns der empirischen Wissenschaften begleiten können muss. III. Eine wichtige Konsequenz der soeben exponierten Systemidee besteht darin, dass nach Kant das System der Philosophie im Singular thematisierbar geworden ist. Die bisherigen Systeme scheinen nämlich «wie Gewürme, durch eine ge‐ neratio aequivoca, 37 aus dem bloßen Zusammenfluß von aufgesammelten Be‐ griffen, anfangs verstümmelt, mit der Zeit vollständig, gebildet worden zu sein […]». 38 Die Transzendentalphilosophie aber erhält ihre Bestimmung als Ort der sinnvollen Einheit historisch tradierter, einander widerlegender Systeme: «Das System aller philosophischen Systeme ist nun Philosophie.» 39 In der Philosophie scheidet sich also die historische Erkenntnis «ex datis» von der rationalen Erkenntnis «ex principiis»; 40 das Tradierte darf nun nicht unhinterfragt anver‐ wandelt, sondern muss prinzipiell kritisiert werden. Der Begründungsanfang aus der synthetischen Einheit ermöglicht Kant dabei die Zusammenstellung vermeintlich loser Ergebnisse zu einem Sinnganzen. So scheint auch eine Befriedung des Kampfplatzes der Metaphysik endlich möglich. Denn die neu gefasste Systemidee der Kritik offenbart, dass die einander widerstreitenden Systemgehalte ihr Schema, als den ursprünglichen Keim, in der sich bloß auswickelnden Vernunft hatten, und darum, nicht allein ein jedes für sich nach einer Idee gegliedert, sondern 1. System und Antisystem 157 <?page no="158"?> 41 Ibidem, A 835/ B 863. 42 Vgl. Philipp Schwab, «A = A. Zur identitätslogischen Systemgrundlegung bei Fichte, Schelling und Hegel», in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/ Interna‐ tional Yearbook of German Idealism 12, 2016, S. 261-290, hier: 266: «Die Klassische deutsche Philosophie nach Kant beginnt im engeren Sinne mit Fichtes Gedanken einer Grundlegung der Philosophie als System aus dem ersten Prinzip des absoluten Ich.» 43 Adorno, GS 6, S.-31. noch dazu alle unter einander in einem System menschlicher Erkenntnis wiederum als Glieder eines Ganzen zweckmäßig vereinigt sind, und eine Architektonik alles menschlichen Wissens erlauben, die jetziger Zeit, da schon so viel Stoff gesammelt ist, oder aus Ruinen eingefallener alter Gebäude genommen werden kann, nicht allein möglich, sondern nicht einmal sogar schwer sein würde. 41 Kants System beschreibt die Wiederherstellung eines Ganzen aus jenem rui‐ nösen Stückwerk, das die asystematische Philosophiegeschichte als kontingente Abfolge einander widerstreitender Positionen vorstellt. Die Geister, die Kant im Namen dieser subjektiven Einstimmigkeit des Ganzen rief, ließen bekanntlich nicht lange auf sich warten. Nach Kant gewinnt der Systemgedanke, wie man weiß, an objektiver Bedeutung dazu. Am wichtigsten dürfte hier die Bedeutungsverschiebung von Systematizität als solcher - von einem Moment der kritischen Selbstbestimmung zu einem Grund zur spekulativen Ermächti‐ gung der Philosophie - sein. Im Zuge ihrer unterschiedlich ausfallenden An‐ verwandlung der kantischen Systemidee unterziehen die Hauptexponenten der Klassischen deutschen Philosophie dieselbe meist auch einer grundsätzlichen Neubewertung. 42 Adorno geht dementsprechend von einem Zusammenhang zwischen nach‐ kantisch-idealistischem Systemdenken und dem kantischen Gedanken der Synthesis aus, welcher der Systemidee eine untilgbare Zweideutigkeit einge‐ schrieben hat. «Die traditionelle Spekulation hat die Synthesis der von ihr, auf Kantischer Basis, als chaotisch vorgestellten Mannigfaltigkeit entwickelt, schließlich jeglichen Inhalt aus sich herauszuspinnen getrachtet.» 43 Es sind die gängigen Motive der Idealismuskritik Adornos, die hieran anschließen können, indem sie die besagte Zweideutigkeit herausstellen, wo das Systemdenken gerade auf Eindeutigkeit pocht. Adorno hält sich vor allem bei zwei Evidenzen auf, die als Grund zur Kritik am Systemdenken in Anschlag gebracht werden können. Erstens liest Adorno Kants Analogie von System und Organismus dahingehend wörtlich, als er - wohl im Geiste Nietzsches - das Einheitsbe‐ ziehungstun der Vernunft auf deren «Urgeschichte im Vorgeistigen» zurück‐ 158 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="159"?> 44 Vgl. bei Nietzsche z. B. den Gedanken, dass die Moral eine «Zeichensprache der Affekte» sei. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, Berlin/ New York 1967 ff., 2007 9 , S. 107. Vgl. die analoge Bemerkung in der Dialektik der Aufklärung: «Selbst das Ich, die synthetische Einheit der Apperzeption, die Instanz, die Kant den höchsten Punkt nennt, an dem man die ganze Logik aufhängen müsse, ist in Wahrheit das Produkt sowohl wie die Bedingung der materiellen Existenz.» Adorno, GS 3, S. 106 und passim; vgl. auch ders., GS 6, S. 266. Das Verhältnis der Dialektik der Aufklärung zu Nietzsche erhellt Martin Saar, «Verkehrte Aufklärung. Die Spur Nietzsches in der Dialektik der Aufklärung», in: Gunnar Hindrichs (Hg.) Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (Reihe Klassiker auslegen 63). Berlin/ New York 2017, S.-151-164. 45 Adorno, GS 6, S. 34. Die Urgeschichte im Vorgeistigen offenbart genauer, dass das System der sublimierte Ausdruck der Wut des Raubtiers auf das Opfer sei. «Raubtiere sind hungrig; der Sprung aufs Opfer ist schwierig, oft gefährlich. Damit das Tier ihn wagt, bedarf es wohl zusätzlicher Impulse. Diese fusionieren sich mit der Unlust des Hungers zur Wut aufs Opfer, deren Ausdruck dieses zweckmäßig wiederum schreckt und lähmt. Beim Fortschritt zur Humanität wird das rationalisiert durch Projektion. […] Im Idealismus - am ausdrücklichsten bei Fichte waltet bewußtlos die Ideologie, das Nichtich, l’autrui, schließlich alles an Natur Mahnende sei minderwertig, damit die Einheit des sich selbst erhaltenden Gedankens getrost es verschlingen darf. Das rechtfertigt ebenso dessen Prinzip, wie es die Begierde steigert.» 46 Adorno, GS 6, S.-35. 47 Ibidem, S.-152. 48 Ibidem, S.-31. führt. 44 In der Negativen Dialektik heißt es: «Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur eines jeglichen Idealismus; sie entstellt noch Kants Humanität, widerlegt den Nimbus des Höheren und Edleren, mit dem sie sich zu bekleiden verstand.» 45 Offenbar stellt das einstimmige System aufgrund seiner Geburt aus dem Vorgeistigen nicht bereits eine friedliche Einheit dar. Der zweite Kritikpunkt Adornos zielt deshalb auf die Geltungsgrundlage des Systems selber. Paradoxerweise ist es hier die Objektivität des Systems, die gegen dieses spricht, wenn es um die Erkenntnis des Nichtidentischen geht. Adorno: «Die Form des Systems ist adäquat der Welt, die dem Inhalt nach der Hegemonie des Gedankens sich entzieht.» 46 Die Systemratio ist in Gestalt der verwalteten Welt objektiv geworden, aber ohne die Welt als solche ‹vernünftiger› gestaltet zu haben; die Systemratio hat demnach die Reinheit ihres Anspruchs im Zuge ihrer Verwirk‐ lichung kompromittiert. Denn: «Ratio schlägt in Irrationalität um, sobald sie, in ihrem notwendigen Fortgang, verkennt, daß das Verschwinden ihres sei’s noch so verdünnten Substrats ihr eigenes Produkt, Werk ihrer Abstraktion ist.» 47 Entsprechend hat sich der am Gedanken transzendentaler Subjektivität aufgehängte Systembegriff für Adorno ins Gegenteil verkehrt: «System ist die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt.» 48 Das positive Subjekt, 1. System und Antisystem 159 <?page no="160"?> 49 Ibidem, S.-33. 50 Adorno, GS 6, S.-312. das aufgehoben wäre in einer vollendet-zweckmäßigen Wirklichkeit, wird folglich nur noch durch die antisystematische Vernunft vertreten. Gerade so aber kann Adorno die kantische Systemidee ihres Ursprungs aus dem Geist der Kritik erinnern. Die Irrationalität der Systemratio ist für Adorno nämlich kein bloßes Symptom einer vorübergehenden Störung, sondern erweist sich als in die Verfahrensweise des Systemdenkens ursprünglich eingeschrieben. Das zeigt sich deutlich an den widerlegten Systemen vor Kant; diese sind für Adorno unwahr, nicht weil sie durch bessere ersetzt worden sind, sondern weil sie Systeme waren. «Die Auswüchse der Systeme seit der Cartesianischen Zirbeldrüse und den Axiomen und Definitionen Spinozas, in die schon der gesamte Rationalismus hineingepumpt ist, den er dann deduktiv herausholt, bekunden durch ihre Unwahrheit die der Systeme selbst, ihr Irres.» 49 Die zwanghafte Verfahrensweise der systematisierenden Vernunft und die Vernünf‐ tigkeit derselben geraten in einen Widerstreit, wo Einstimmigkeit ohne Kritik beansprucht wird. Adorno gewinnt seinen dialektischen Vernunftbegriff darum über eine bestimmte Negation der unvernünftigen Vernunft; diese zeigt ihre volle Unvernunft in der Unfähigkeit zur kritischen Selbstreflexion. Die besagte Objektivität des verwirklichten Systems ist nun für Adorno schon deshalb ein Grund zur Kritik am Systemdenken, weil das objektiv gewordene System sich im antagonistischen Ganzen der verwalteten Welt im Widerstreit mit der subjektiven, auf Einstimmigkeit drängenden Vernunft befindet und aufgrund ihrer Nichteinstimmigkeit also als partikulare Vernunft entpuppt: «Die Irratio‐ nalität der partikular verwirklichten ratio innerhalb des nicht seine Aufhebung in einem vernünftigeren Ganzen gesellschaftlich Totalen ist der ratio nicht äußerlich, nicht lediglich von ihrer Anwendung verschuldet. Vielmehr ihr immanent.» 50 Und da der Vernunft ihre zurichtende Verfahrensweise immanent ist, partikularisiert sich ihr Standpunkt von selbst; so bedarf es der reflexiven Kritik der Vernunft, um den Anspruch der Vernunft gegen sich selbst einzulösen. Adorno: Gemessen an einer vollen Vernunft, enthüllt die geltende sich bereits an sich, ihrem Prinzip nach, als polarisiert und insofern irrational. Aufklärung unterliegt wahrhaft der Dialektik: diese findet statt in ihrem eigenen Begriff. Ratio ist so wenig wie irgendeine andere Kategorie zu hypostasieren. Zu ihrer zugleich allgemeinen und antagonistischen Gestalt ist der Übergang des selbsterhaltenden Interesses der Individuen an die Gattung geistig geronnen. Er gehorcht einer Logik, welche die große bürgerliche Philosophie an historischen Eckpunkten wie Hobbes und Kant 160 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="161"?> 51 Ibidem. 52 Ibidem, S.-42. 53 Mit seiner geschichtsphilosophischen Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784 erwägt Kant in kulturchauvinistischem Ton die Möglichkeit, «aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten». In dem einstimmigen Ganzen dieses Bundes könnte dann «jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurtheilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Ent‐ scheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten» Kant, AA VIII, S.-24. 54 Vgl. Francis Cheneval, «Das Problem der supranationalen Zwangsgewalt am Beispiel Kants», in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie/ Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy 83/ 2, 1997, S.-175-192. nachvollzog: ohne die Zession des selbsterhaltenden Interesses an die, im bürgerlichen Denken meist vom Staat repräsentierte Gattung vermöchte in entwickelteren gesell‐ schaftlichen Verhältnissen das Individuum nicht sich selbst zu erhalten. 51 Die Logik der Vernunft ist die geronnene Logik der Selbsterhaltung, die sich im Zusammenhang der Gesellschaft von der Selbsterhaltung des Einzelnen abgespalten und ein Eigenleben hat. Ratio sei deshalb, wie Adorno schreibt, auf keinen Fall zu «hypostasieren». Denn: «Ratio wird irrational, wo sie das vergißt, ihre Erzeugnisse, die Abstraktionen, wider den Sinn von Denken hypostasiert.» 52 Entsprechend wäre die Rationalität der Ratio an ihrer Fähigkeit zur Garantie der Selbsterhaltung des Einzelnen zu bemessen. Schon Kant und Hobbes dürften dieser Logik auf die Schliche gekommen zu sein, etwa wenn Hobbes seinen Leviathan oder Kant den Weltstaat 53 als supraindivi‐ duelle ‹Zwangsgewalten› 54 konzipierten, um den sozialen Antagonismus zu befrieden. Die dialektische Logik des Antisystems zielt auf die Befriedung einander widerstreitender Partikularitäten, und zwar in Fortsetzung der in der Aufklärung einsetzenden Selbstreflexion des antagonistischen Charakters der Vernunft. Adorno macht gegen den Vernunftbegriff der traditionellen Dialektik stark, dass die Systemallgemeinheit als solche (also dasjenige, was man als Vorzug der Einheit gegenüber dem fragmentarisch bleibenden Ausdruck des Denkens auslegen möchte) gerade partikular und unvernünftig ist, wo das System «wider den Sinn von Denken» dessen Abstraktionsprodukte - Ausge‐ burten der Selbsterhaltung - fixiert und den Antagonismus der Selbsterhaltung zum Geist verklärt. System ist also einerseits ein Ausdruck der individuellen Selbsterhaltung, Ausdruck der Dynamik von Lebens- und Überlebenskontexten, andererseits gewinnt es dabei eine statisch fixierte Verfügungsmacht über seine Teile, indem es diese Teile anfänglich organisiert und am Ende «alles heterogen Seiende 1. System und Antisystem 161 <?page no="162"?> 55 Adorno, GS 6, S.-37. 56 Ibidem, S.-32. [eliminiert]». 55 Adornos Systemkritik übernimmt offenbar die Kriterien der kantischen Systemidee; nur treten für Adorno die Forderungen der apriorischzweckmäßigen Ordnung und die Forderung der Vernünftigkeit als solche, aufgrund der sich fortwebenden Urgeschichte des Systems im Organischen, in Konflikt. So leitet die kantische Logik der Systemidee denn auch die Ideologie‐ kritik an, indem sie die bürgerliche Vernunft (mitsamt dem Programm einer reinen Erkenntnis) zur Selbstkritik im Namen der ‹vollen Vernunft› anhält: Bürgerliche ratio unternahm es, aus sich heraus die Ordnung zu produzieren, die sie draußen negiert hatte. Jene ist aber als produzierte schon keine mehr; deshalb uner‐ sättlich. Solche widersinnig-rational erzeugte Ordnung war das System: Gesetztes, das als Ansichsein auftritt. Seinen Ursprung mußte es in das von seinem Inhalt abgespaltene formale Denken verlegen; nicht anders konnte es seine Herrschaft übers Material ausüben. 56 Die Kernaussage von dieser als Kantkritik daherkommenden Ideologiekritik Adornos lautet: Aufgrund der irrationalen Urgeschichte des Ordnungsprinzips bleibt dieses irrational, wo es sich zur apriorisch geltenden, aber unreflektierten Erkenntnisform verfestigt. Der letzte Satz des Zitates stellt den Zusammenfall von Apriori und Aposteriori daher als Herrschaftsverhältnis heraus. Die Stim‐ migkeit der Ordnung des Systems erhält sich durch den Widerstreit - die Ausübung der Herrschaft über das Material. Adornos Bestimmung apriorischer Gehalte als Funktionen der Macht über das Material hat weitreichende Konsequenzen. Die Kritik der Macht wird zur angemessenen Darstellung apriorischer Gehalte. Entsprechend darf das Verhältnis von Einstimmung und Widerstreit im Zuge der Selbstauslegung der Vernunft ohne Kritik der Macht nicht mehr als spekulativ relevanter Inhalt ausgelegt werden; die Einstimmigkeit von System und Wirklichkeit der Ordnung stellt hingegen eine Amphibolie dar, die nur ein wirklich befriedetes Ganzes beheben könnte. Genau genommen ist also die paradoxe Koinzidenz von Einstimmung und Widerstreit gerade die Wirklichkeit des partikularen Systems. Diese Wirklichkeit ist ein «Gesetztes, das als Ansichsein auftritt». Diese selbst‐ blinde Herrschaftsausübung ist der Vollzug der Verwechslung von Ordnung und Geordnetem. Sie ist Ausdruck einer sich real vollstreckenden Zweideutigkeit durch Verwechslung, einer Gesellschaft, die ihr Ordnungsprinzip mit einem objektiven Tatbestand verwechseln muss, um ihr Prinzip zu verwirklichen. 162 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="163"?> Aber: Das System bleibt aus der Sicht seiner dialektischen Selbstkritik allgemein und partikular, rationale Ordnung und irrationale Unordnung zugleich. Das einigende Band aber, das Ordnung und Unordnung nach Maßgabe eines Systems miteinander zu einem Ganzen verbindet, kann danach kein reiner Inhalt der Reflexion mehr sein. Diese Interpretation des ‹Und›, das die reflektierten Gegensätze vereinigt, würde das nach Kant höchste Gebot der kritischen Reflexion verletzen - das Prinzip der Widerspruchsfreiheit als Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft. IV. Da sich der konstitutive Widerspruch des Systems daher nicht als Systemgehalt innerhalb des Systems verorten lässt, sondern stets Beziehung des Systems zu seinem Außerhalb betrifft, erklärt Adorno den Inhalt des Systems zum Gegenstand einer Selbstreflexion, die den Widerstreit systematisch zu inte‐ grieren vermag, ohne diesen Widerstreit mit einer absoluten Notwendigkeit zu verwechseln. Die Notwendigkeit, die das System fordert, und die Absolutheit, die das System objektiv zu integrieren beansprucht, treten auseinander, wo sich die Verwechslung von Notwendigkeit und Absolutheit als kontingent erweist. Um die Welt zu erkennen, muss das Systemdenken die Allgegenwart des Wi‐ derstreits folglich nicht-amphibolisch interpretieren. Im Zeichen einer solchen Interpretation spricht Adorno nun vom «Doppelcharakter des Systems». Dieser Doppelcharakter besteht in dem implizit gegenläufigen Grundinteresse des Systemdenkens: Als System soll der Gesamtzusammenhang des Besonderen eine Totalität umfassen; kann dies aber nur, indem dabei das eigene Scheitern am Heterogenen des Materials zum Prinzip erhoben und zur apriorisch gelten sollenden Vollzugsform fixiert wird. Das System verabsolutiert seine eigene Partikularität als bloße Form und verwechselt dieselbe mit Absolutheit. Das Antisystem wird diesen Doppelcharakter zwar nicht los; der Name ‹An‐ tisystem› ist ja nichts anderes als die sich artikulierte Ambivalenz des Systems als solche. Aber Adorno kann mit der kritisierten Systemtradition darüber in ein Konkurrenzverhältnis treten, dass er diese Ambivalenz zum ausgezeichneten Thema jener systematischen Selbstreflexion erklärt, die noch den eigenen Anspruch kritisch darzustellen vermag. Nur das positiv-dialektische System nämlich hält sein eigenes Darstellungsprinzip für die Entwicklung der Sache selbst. Das Antisystem ist dagegen das Resultat der trotz Hegel wiedergewonnen Fähigkeit, Einstimmung und Widerstreit in ihrer Vermitteltheit auseinander‐ halten zu können. Der Widerstreit wird nämlich nicht zum Sachgehalt des Systems, sondern zeichnet lediglich dessen gewaltsame (d. h. scheiternde) Selbstverwirklichung auf. Insofern bleibt der Widerspruch ein Reflexionsgehalt. Dieser Gehalt stellt die Form zur Verfügung, mit Hilfe derer die Gründe für 1. System und Antisystem 163 <?page no="164"?> 57 Ibidem, S.-32. 58 Vgl. ibidem, S. 151. «Im Idealismus hatte das höchst formale Prinzip der Identität, vermöge seiner eigenen Formalisierung, Affirmation zum Inhalt. Unschuldig bringt das die Terminologie zutage; die simplen prädikativen Sätze werden affirmativ genannt. Die Copula sagt: Es ist so, nicht anders; die Tathandlung der Synthese, für welche sie einsteht, bekundet, daß es nicht anders sein soll: sonst würde sie nicht vollbracht. In jeglicher Synthesis arbeitet der Wille zur Identität; als apriorische, ihm immanente Aufgabe des Denkens erscheint sie positiv und wünschbar: das Substrat der Synthesis sei durch diese mit dem Ich versöhnt und darum gut.» 59 Ibidem, S.-147. das Scheitern der Verwirklichung der Vernunft verbindlich ausgesagt werden können. Dieser Reflexionsgehalt soll daher gleichsam den Reibungskoeffizi‐ enten zwischen System und Welt messen. Gerade diese Fähigkeit, so der Autor des Antisystems selbst, sei den zu kritisierenden Systemen, zumal jenen des nachkantischen Idealismus, abhandengekommen - mit fatalen Folgen für diese. Wer diesen Doppelcharakter aller Systeme leugnet, läuft dem transzenden‐ talen Schein auf, wonach das zusammenaddierte Ganze aus dem System einer‐ seits und dem, was aus diesem herausfällt andererseits, das Ganze an sich selbst betrachtet wäre. Adorno lehnt seine Systemkritik darum terminologisch an Kant an: «Das philosophische System war von Anbeginn antinomisch.» 57 Antinomisch ist das System für Adorno, weil es zwei konfligierende Sicht‐ weisen - die statische und die dynamische - erlaubt, die dann jeweils mit gleich ‹guten› Gründen gegeneinander eingeklagt werden können. Adorno bestimmt die synthetische Einheit des Systems als antinomische Einheit, weil sie den Handlungscharakter ihres eigenen Geltungsgrundes offenbart und zum Prinzip erhebt. Was etwa Fichte noch zur Tugend gereicht, scheint bei Adorno nun jede affirmative Inanspruchnahme zu verunmöglichen. Die Forderung des Prinzipiellen wird neu daher am kritischen Übergang zur Nichtidentität statt an der Identität festgemacht. 58 Für Adorno ist ja jedes System zunächst einmal ein widersprüchliches Ganzes. Denn das Prinzip des Systems - die harmonische Einstimmigkeit der Glieder - und die disharmonische Verfahrensweise des Systems streichen einander durch: Die ratio, die, um als System sich durchzusetzen, virtuell alle qualitativen Bestim‐ mungen ausmerzte, auf welche sie sich bezog, geriet in unversöhnlichen Widerspruch zu der Objektivität, welcher sie Gewalt antat, indem sie sie zu begreifen vorgab. Von ihr entfernte sie sich desto weiter, je vollkommener sie sie ihren Axiomen, schließlich dem einen der Identität, unterwarf. 59 Das Prinzip des Systems und die Unmöglichkeit seiner umstandslosen Verwirk‐ lichung sind daher eins: «In ihm [dem System, C.M.] verschränkte sich der 164 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="165"?> 60 Ibidem, S.-32; Hervorhebung C.M. 61 Adorno, GS 6, S.-147. Ansatz mit seiner eigenen Unmöglichkeit […].» Das System bewahrt seine axiomatische Verbindlichkeit einzig im Zeichen dieser Einsprache gegen die Tradition - kurzum: als Antisystem. Das Antisystem hat nun aber keinen eigenen positiven Gehalt mehr; es handelt als kritische Theorie von den Gründen, die verantwortlich dafür sind, dass die traditionellen Systeme allesamt den von ihnen beanspruchten Gehalt verfehlen mussten. Die intrinsische Un‐ möglichkeit des Systems als des positiven Inbegriffs gescheiterter Ansprüche habe daher «gerade die frühere Geschichte der neuzeitlichen Systeme zur Vernichtung des einen durchs folgende verurteilt». 60 Die historische Abfolge der Systeme ist daher, wie Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie schreibt, als eine Folge «von notwendigem Fehler und vergeblicher Korrektur» 61 zu begreifen. Das Moment des Übergangs von der historischen Erkenntnis der Systeme (ex datis) zur systematischen Erkenntnis des Systems (ex principiis) hängt entsprechend an der Bewusstmachung der Irrationalität einer histori‐ schen Abfolge einander widerlegender Systeme. Die Einheit des Systems ist nur als die prinzipiell angeleitete Bewusstmachung dieser Irrationalität des Widerstreits zu haben. Die Negation dieser Irrationalität trägt sich in das Programm eines Antisystems ein. Wie kann das Antisystem den Anspruch der Dialektik systematisch verbind‐ lich vertreten, wenn darin gerade der notwendige Fehler aller systematischen Verbindlichkeitsansprüche geltend gemacht werden soll? Die These ist, dass das Antisystem sich als Reaktion auf das historisch beerbte Dilemma zwischen den idealistischen Systemen und deren nachidealistischen Unterwanderungen empfiehlt und insofern die Dialektik-Konzeption Adornos in die Nähe einer transzendentalen Dialektik gerückt wird. Die These lautet nämlich weiter, dass das Antisystem als verbindlicher Vorschlag zum Umgang mit der antinomischen Koinzidenz von Einstimmung und Widerstreit im System an Bestimmtheit gewinnt. V. Hierbei gilt es eine Unterscheidung vorauszuschicken, die für das Verständnis der kantischen Problemlösung der Antinomie der reinen Vernunft entschei‐ dend ist. Kant unterscheidet in der «Transzendentalen Dialektik» der Kritik der reinen Vernunft zwischen analytischer und dialektischer Opposition. Der Unterschied besteht darin, dass die analytische Opposition kein Drittes zulässt, mithin alternativlos bleibt, während die dialektische Opposition zwar auch alternativlos bleibt, zugleich aber die Möglichkeit eines Dritten zulässt: Die 1. System und Antisystem 165 <?page no="166"?> 62 Kant, KrV, A 504/ B 532. 63 Vgl. ibidem, A 502-507/ B 530-535. 64 Die nachfolgenden Überlegungen gehen zurück auf Bernd Prien, Art. «Dilemma», in: Marcus Willaschek/ Jürgen Stolzenberg/ Georg Mohr (Hg.), Kant-Lexikon, Berlin/ Boston 2015, S.-424. 65 AA IX, 130. 66 Kant, KrV, A 501/ B 529 auf die Gründe des Widerstreits reflektierende Vernunft kann sich bei dialekti‐ schen Oppositionen dazu verhalten, dass eine Alternativlosigkeit vorliegt. «Also können von zwei dialektisch einander entgegengesetzten Urteilen alle beide falsch sein, darum, weil eines dem andern nicht bloß widerspricht, sondern etwas mehr sagt, als zum Widerspruche erforderlich ist.» 62 Dieser Unterschied von analytischer und dialektischer Opposition gewinnt vor allem im Zuge der Auflösung die Antithetik der reinen Vernunft mit Blick auf die kosmologische Idee des Weltganzen an Relevanz. 63 Das Argument Kants beschreibt dabei eine Neuinterpretation des antithetischen Dilemmas des Weltganzen. 64 Unter einem Dilemma versteht Kant das Folgende: Ein Dilemma ist ein hypothetisch-disjunctiver Vernunftschluß, oder ein hypothe‐ tischer Schluß, dessen consequens ein disjunctives Urtheil ist. Der hypothetische Satz, dessen consequens disjunctiv ist, ist der Obersatz; der Untersatz bejaht, daß das consequens (per omnia membra) falsch ist, und der Schlußsatz bejaht, daß das antecedens falsch sei. (A remotione consequentis ad negationem antecedentis valet consequentia.) 65 Die kantische Bestimmung des Dilemmas als eines hypothetisch-disjunktiven Vernunftschlusses überträgt sich nun wie folgt auf den Zusammenhang der Antinomienlehre. i. Die erste Antinomie besagt: Wenn die Welt das Ganze seiner Teile (p) sein soll - anders gesagt: wenn das Weltganze einen unveränderlichen, objektiv bestimmbaren Gegenstand der Erkenntnis darstellt, dann muss dieses Ganze entweder unendlich oder endlich sein (q v r). ii. Nun zeigt die Antithetik auf, dass sich die Disjunktionsglieder gegenseitig in dialektischer Opposition aufheben. Folglich sind sie beide falsch (-(q v r)). iii. Weil nun die Thesen der Endlichkeit und der Unendlichkeit «einander doch so schön widerlegen» 66 und infolgedessen das Konsequens des Obersatzes (i.e. die Disjunktion ‹endlich oder unendlich›) als Ganzes zu negieren ist, ist gemäß modus tollendo tollens auch das Antecedens des Obersatzes zu ne‐ gieren. Die Lösung der kosmologischen Antinomie des Weltganzen negiert deshalb die positive Inanspruchnahme des Weltganzen (-p). Zu negieren 166 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="167"?> 67 Vgl. Kants berühmte Charakterisierung metaphysischer Fragen bei ders., KrV, A VII. ist also die Voraussetzung, dass das Weltganze einen unveränderlichen Gegenstand der Erkenntnis darstellt. Das große Fragezeichen mit Blick auf die transzendentale Dialektik ist natürlich, was es nun zu bedeuten hat, dass Kant diese kosmologische Urvoraussetzung bestimmt negiert. Ist das Weltganze an sich widersprüchlich? Sagt der transzen‐ dentale Idealismus, dass es die Welt ‹nicht gibt›? Keineswegs. Zunächst scheint die Negation des Antecedens lediglich zu bedeuten, dass die Welt im Ganzen nicht als objektiv verbürgter Erfahrungsge‐ halt eines Urteils beanspruchbar ist. Der unendliche Urteilsgehalt (-p) wird also nicht sogleich zum Unding eines widersprüchlichen Ganzen hypostasiert, sondern - in Analogie zur objektiven Bedeutung des unendlichen Urteils - als Limitationsfigur konzipiert. Das Weltganze wird zum Grenzbegriff, der die Reichweite der Vernunft bestimmt einschränkt und so ‹Platz› für Andersheit lässt. Die Lösung des dialektischen Dilemmas performiert die Grundoperation der Kritik durch Gegenüberstellung der opponierenden Aussagen und gewinnt ihren Sinn als das unendliche Urteil darüber, dass beide Prätentionen auf das Ganze nicht das Ganze treffen, sondern nur das reflexive Bewusstsein der wechselseitig verbürgten Insuffizienz der partikularen Ansprüche. Die transzendentale Dialektik liefert darum aber noch lange kein Argument dafür, warum es die Welt nicht geben sollte. Der transzendental-dialektische Twist (i.e. der Lösungsvorschlag des transzendentalen Idealismus) besteht darin, dass im Falle des Vorliegens einer dialektischen Opposition im Konsequens nicht eigentlich die Falschheit des Antecedens folgen kann, sondern nur die Unbestimmtheit des Gehalts folgt. Der transzendentallogische Einsatz des modus tollendo tollens zielt im dialektischen Dilemma statt auf eine erneute Antithesis zum Widerlegungszusammenhang auf die Unbestimmtheit (regressus in indefinitum) des Weltganzen. Die Unbestimmtheit macht erst, dass das Weltganze zum ausgezeichneten Gegenstand der Metaphysik werden konnte; das Weltganze stellt ja einen solchen Gehalt dar, dessen Fraglichkeit sich notwendig durch die Vollzugsbestimmtheit des Denkens aufdrängt, sich aber jeder positiven Bestimmung entzieht. 67 Kurz, das Weltganze kann kein Objekt möglicher Erfahrung sein, sondern war immer nur über jenen unbestimmten Regress zugänglich, den die Kritik zu Bewusstsein bringt. Aber nicht einmal dann ist das Weltganze ‹zugänglich› geworden. Es ist ja - im Namen der philosophischen Idee des Ganzen - nur noch als ein Reflexionsgehalt ‹fixierbar›. Es zeigt sich damit aber doch deutlich, dass der antithetische Widerstreit - etwa ob die Welt im Ganzen nun unendlich oder endlich ist - als solcher abzulehnen 1. System und Antisystem 167 <?page no="168"?> 68 Vgl. Fumiyasu Ishikawa, Kants Denken von einem Dritten. Das Gerichtshof-Modell und das unendliche Urteil in der Antinomienlehre, Frankfurt am Main 1990. ist. Der Widerstreit erweist sich in seiner Alternativlosigkeit als beschränkt, weil die Selbstreflexion der Vernunft zeigt, dass das Oppositionsverhältnis ein dialektisches ist. Die Dialektik Kants gewinnt ihre Bestimmtheit jenseits der Alternativen, insofern sie deren antithetisches Verhältnis zum Thema hat und dieses Verhältnis dem Skopus der Kritik einordnet, wodurch sie ein Drittes 68 denken lehrt, das sich vorerst durch inhaltliche Offenheit auszeichnet. Trotz der inhaltlichen Offenheit eines Jenseits aller Weltalternativen fällt die Notwendigkeit, kosmologische Erkenntnisse auf ein Ganzes zu beziehen, keineswegs weg. Das eigentliche Ergebnis der kosmologischen Dialektik be‐ steht daher in der Bewusstmachung des Nichtwissens um den eigentlichen Gegenstand der Kosmologie. Danach scheint das Ganze noch rätselhafter: Wovon handelt denn die Kosmologie, wenn die Bestimmung ihres Gegenstandes in das besagte Dilemma führt? Geht es Kant nur darum, das Geheimnis zu vergegenwärtigen, das dann das Thema des Glaubens bildet? Oder geht es ihm um mehr, insofern die Einsicht in die Unbestimmtheit der Welt als Ganzes die Freiheit retten soll? Besteht etwa die Begründung der Möglichkeit der Freiheit in nichts anderem als in der Vergegenwärtigung des Geheimnisses? VI. Adorno spricht allen philosophischen Systemen einen antinomischen Charakter zu. Dieser besteht, wie gezeigt, darin, dass die Systeme die Prinzipien ihrer Verfahrensweise hypostasieren und mit objektiven Gehalten verwechseln. Aufgrund dessen mussten bislang alle Aktualisierungsversuche des Systems zu einer Verkehrung der Idee der Einstimmigkeit führen. Das Resultat war jener Widerstreit partikularer Unwahrheiten, der sich uns als Geschichte der Philosophie und der kritischen Vernunft als Kampflatz endloser Streitigkeiten darbietet. Im Grunde liegen damit die antinomischen Aspekte des Systems mit Kants kritischer Systemidee bereits offen zutage. Die drei kantischen Kriterien des Systems stellen dieses als zugleich endlich, für Menschen gemacht, und unendlich, als apriorisches Ordnungsprinzip ohne raum-zeitliche Existenz, dar. Ebendiese Zweideutigkeit als endliches und unendliches ist bei Kant der Grund zur Kritik, d. h. der Grund dafür, die ideale Beschaffenheit des Systems nicht mit dem Ganzen verwechseln zu wollen, sondern die Dialektik von Endlichem und Unendlichem, Notwendigkeit und Kontingenz, in der Idee der Zweckmäßigkeit des Ganzen an die reflektierende Urteilskraft rückzubinden. Das Ganze des Systems ist für Kant zunächst auch nicht der Existenzgrund seiner Teile; es ist lediglich deren Bestimmungsgrund als das Ordnungsprinzip abgründiger 168 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="169"?> 69 Kant, KrV, A 146/ B 185. 70 Kant, KrV, A 327f./ B 384. 71 Letzteres kann Adornos Diskussion der transzendentalen Sphäre überzeugend auf‐ zeigen (vgl. Abschnitt C/ 3). Kontingenz - und nur insofern, im Zeichen dieses «lediglich», ist die ganzheit‐ liche Erkenntnis eine transzendentale Erkenntnis; will sagen, die Teile sind nur als Teile im Gefüge eines Ganzen als Teile beanspruchbar - da das Teil-Sein überhaupt darin besteht, das Ganze bestimmt einzuschränken. Insofern gilt zwar nach Kant: «In dem Ganzen aller möglichen Erfahrung liegen aber alle unsere Erkenntnisse, und in der allgemeinen Beziehung auf dieselbe besteht die transzendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vor‐ hergeht, und sie möglich macht.» 69 Das Ganze an sich aber - als der Begriff eines Maximums objektiv gefasst - bleibt von diesem Anspruch unberührt. Kants Definition der transzendentalen Wahrheit als Ganzes bleibt transzendental in erkenntniskritischem Sinne; d. h., die Wahrheit des Ganzen bezieht sich lediglich auf die wahre Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung. Von dem «Begriff eines Maximum […] in concreto» sagt Kant daher: Weil nun das letztere [i.e. der Begriff eines konkreten Ganzen, C.M.] im bloß speku‐ lativen Gebrauch der Vernunft eigentlich die ganze Absicht ist, und die Annäherung zu einem Begriffe, der aber in der Ausübung doch niemals erreicht wird, eben soviel ist, als ob der Begriff ganz und gar verfehlt würde, so heißt es von einem dergleichen Begriffe: er ist nur eine Idee. So würde man sagen können: das absolute Ganze aller Erscheinungen ist nur eine Idee, denn, da wir dergleichen niemals im Bilde entwerfen können, so bleibt es ein Problem ohne alle Auflösung. 70 Was man Agnostizismus gescholten hat - das «Problem ohne alle Auflösung» -, stellt nun keine willkürliche Verengung des Blicks, sondern der Versuch, das negative Resultat der Kritik als eine angemessene Artikulation unausweichlicher Ambivalenz ernst zu nehmen. 71 Diese Ambivalenz verschwindet nicht durch ihre spekulative Inanspruchnahme im Namen der transzendentalen Idee des Ganzen. Eine legitime, objektstufige Inanspruchnahme des systematischen Ganzen (die zweckmäßige Einrichtung der Natur) ist deshalb eine Angelegen‐ heit der transzendentalen Reflexion und ihrer objektiven Anwendung, der reflektierenden Urteilskraft. Anders gesagt: Weil das System, wie gezeigt, als Gegenstand in den Skopus von all demjenigen fällt, das zunächst lediglich a priori als Erkenntnisgehalt beansprucht werden darf, ist die Systemidee bei Kant immer schon als Gegenstand einer transzendentalen Reflexion auf das Verhältnis von Bestimmung und Bestimmbarem, von Form und Materie des Systems zu begreifen. Das Resultat dieser transzendentalen Reflexion besagt: 1. System und Antisystem 169 <?page no="170"?> 72 Kant, KrV, A 832/ B 860. 73 Kant, AA XX, S.-201. Die systematische Einheit eines Mannigfaltigen ist, als Idee, lediglich «der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen». 72 Die erste Kritik, die bis hierhin eine Lehre vom Schein der Idee des Weltganzen entwickelt und also dargetan hat, inwiefern nur deren regulativer, nicht deren konstitutiver Gebrauch im Bereich unserer Möglichkeiten liegt, kann im Lichte dieser negativen Ergebnisse nun auch das System als eine bloße Idee ausweisen, die im Vernunftbegriff die Form, nicht aber den realen Inhalt eines Ganzen seiner Teile antizipiert. Steht die Idee des Ganzen seiner Teile also im Skopus transzendentaler Kritik, so schwingt dabei stets mit, dass die kritische Erkenntnis es mit einem systematischen Ganzen nur insofern zu tun haben kann, als es der Idee des Ganzen ihren Platz im formalen Gefüge von Erkenntnis überhaupt zuteilt und nicht, gleichsam intentione recta, zu einer objektstufigen Erwägung eines wirklichen Ganzen berechtigt wäre. Entsprechend wird die systematisch verfahrende Urteilskraft in der dritten Kritik zeigen, dass die synthetische Einheit der Erfahrung nur im Skopus der Kritik am objektstufigen Einheitsdenken legitim in Anspruch genommen werden darf, ansonsten sie um ihre regulative Funktion als Maxime der Naturbeobachtung betrogen wird - «mit einem Wort eine solche Untersu‐ chung wird als Teil zum System der Kritik der reinen Vernunft, nicht aber der doktrinalen Philosophie gehören». 73 Kants Systembegriff muss also im Lichte des negativen Resultats der Kritik erhellt werden. Das System ist danach insofern Ergebnis einer Zusammenstel‐ lung, als es eben davon ausgeht, dass das systematische Ganze seiner Teile den Teilen in einem logischen Sinne vorhergehen muss, ansonsten wir gar keinen Begriff von dem Ganzen haben könnten. Vorhergehen kann das Ganze nicht indem es zeitlich vorher da ist, sondern eben lediglich insofern die Zusammenstellung der Teile im Ganzen durch die Reflexion formal antizipiert werden kann. Die Erfahrung des Besonderen kann das System jedoch niemals antizipieren. Die Allgemeingültigkeit des Systems besagt daher: Erfahrung ist nur als Erfahrung überhaupt antizipierbar. Nun könnte man aber aus diesem transzendentalen Verhältnis des Systems zu seinen Gliedern schließen, Kant zeige doch, trotz des negativen Resultates der Kritik, inwiefern eine spekulative Inanspruchnahme des Gesamtzusammenhangs der Erfahrung möglich ist. Die formale Antizipierbarkeit der Teile, sei es in Raum und Zeit, sei es durch die synthetische Einheit der Apperzeption, sei es als transzendentales Ideal, zeige doch unmissverständlich auf, dass die Vernunft einen Bezug zum Ganzen hat, der sich der transzendentalen Wahrheit seiner spekulativen Erkenntnisvollzüge 170 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="171"?> 74 Adorno, GS 6, S.-36. versichern kann. Schließlich braucht nur noch das Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen als solches zum Gegenstand erhoben zu werden und schon ist man, salopp gesagt, von der transzendentallogischen in die spekulativ-logische Sphäre hinübergetreten. Dass das kantische Ergebnis komplexer ausfällt, dürfte nun klar sein. Insofern musste sich eine Zweideutigkeit in die Systemidee eintragen, ohne welche der Schritt von Kant zu Hegel und alles, was dazwischen war und danach kam, kaum zu denken wäre. Kant hat mit seiner Konzeption einer synthetischen Einheit somit jene Dynamik in die Systemidee eingeschrieben, die danach zum Erkenntnisgrund umgedeutet wurde, um über die Dialektik von Statik und Dynamik das Ganze spekulativ in Anspruch zu nehmen. VII. Der Rückgang zu Kant hat insofern eine spezifisch systematische Pointe für Adorno. Indem Adorno zeigt, dass die spekulative Grundtugend der nachkanti‐ schen Philosophie bei Kant - wo das System als a priori formierende Architek‐ tonik nicht zugleich der Seinsgrund der Phänomene sein konnte - noch ein Grund zur Grenzbestimmung war, macht er den Blick frei für eine alternative Gestalt dialektischer Vermittlung. Adorno sieht sich als Dialektiker zunächst mit der Frage konfrontiert, wie mit dem Doppelcharakter des Systems umzugehen ist. Ist der Doppelcharakter ein Grund zur systematischen Spekulation oder ein Grund zur Kritik am Systemdenken? Adornos dialektische Antwort lässt sich im Modus von Einerseits-andererseits formulieren: Einerseits beschreibt das Argument Adornos eine tiefgehende Systemkritik; andererseits muss die Systemkritik, um zu greifen, «die Kraft der Kohärenz […] entbinden, welche die idealistischen Systeme ans transzendentale Subjekt überschrieben». 74 Insofern ist der Ausdruck ‹Antisystem› vielleicht gar nicht so geschickt gewählt, denn diese Stellung zum System ist zweideutig - sie ist nicht abstrakt antisondern eben dialektisch. Da Adorno selbst insofern eine eindeutige Stellungnahme zum System versagt bleibt, droht die negative Dialektik in jene Antinomie zu geraten, die sie der Systemphilosophie zum Vorwurf macht. Erneut also lässt sich der undialektische Widerspruch nicht anders schlichten, denn durch Kritik. Denn die Kritik allein begreift beide Seiten der Antinomie, die darin besteht, entweder mit Hegel den Geist im System zu erkennen und «die einmal von den Systemen entbundene Kraft des Gedankens in die offene Bestimmung der Einzelmomente zu transponieren», oder im System nur den sinnlosen Ausdruck von Naturbe‐ herrschung zu sehen und sich in die Tradition der Systemkritik von Nietzsche 1. System und Antisystem 171 <?page no="172"?> 75 Adorno, NaS IV 13, S.-239. 76 Adorno, GS 6, S.-38. 77 Julius Ebbinghaus, «Kantinterpretation und Kantkritik», in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2, 1924, S.-80-115, hier: 82. und Kierkegaard einzureihen. Adorno entscheidet sich für das Sowohl-als-auch. Dieser Entscheidung entspricht der negativ-dialektische Begriff des Ganzen. Das dialektische Ganze ist daher, wie Adorno in der Einleitung der Negativen Dialektik schreibt, die «Einheit von Stillstand und Bewegung» und somit Inbe‐ griff jenes Antagonismus von Statik und Dynamik, der «den allgemeinsten bürgerlichen Begriff von Fortschritt definiert». 75 Wie sich eine Philosophie mit diesem Antagonismus «abfand», bestimmt den jeweiligen Systemgehalt einer Philosophie. Für Adorno ist es kein Zufall, dass das Systemdenken in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung seine Hochblüte erlebt. «Nicht un‐ fruchtbar wäre es», schreibt Adorno, «die Geschichte der neueren Philosophie unter dem Aspekt zu behandeln, wie sie mit dem Antagonismus von Statik und Dynamik im System sich abfand». 76 In der Tat besteht einer der Haupt‐ streitpunkte der Aufklärungsphilosophie in der Frage nach der ‹Wahrheit› des Systems. In der Klassischen deutschen Philosophie ist das die Frage, ob das bei Kant als ergebnishaft-synthetisch eingesehene Ganze seiner Teile aufgrund seines synthetischen Charakters als ein wahres Ganzes in Anspruch genommen werden darf oder ob es aufgrund seines ergebnishaft-synthetischen Charakters gerade den Grund zur Selbstkritik des Systemdenkens darstellt. Divergieren die verschiedenen ‹Idealismen› transzendentaler und absoluter Prägung in etwas, dann zumal auch durch ihre verschiedenen Antworten auf diese Frage. Die Frage selbst ist indessen der angemessene Ausdruck jener Ambivalenz, die im transzendentalen Idealismus bereits voll zur Sprache kommt; seine Überbie‐ tungsfiguren bei Fichte und Hegel wären insofern Weisen des Umgangs mit der ursprünglichen Ambivalenz des seiner Prozesshaftigkeit innewerdenden Ichs. Mit Ebbinghaus gesprochen würde dieser Umgang veranschaulichen, «daß jene ganze Bewegung der ‹über Kant Hinausgehenden› fortwährend mit einer großen Unbekannten rechnete, und daß diese Unbekannte niemand anders als Kant selbst sei». 77 Ob die Prozessbestimmtheit des Systems etwa bloß logisch oder auch zeitlich zu verstehen ist - und welche Konsequenz der Zusammenfall oder das Auseinanderfallen von System und Geschichte für die spekulative Reichweite der Vernunft haben dürfte -, gerade hierüber bleibt Adornos dialek‐ tische Kantinterpretation unentschieden. Es gilt daher zu begreifen, inwiefern Adornos Reflexionsmodell gerade von der Offenheit solcher Fragen zehrt. Denn Kants Bestimmung des Systems führt uns zuallererst die objektive Unbestimmt‐ heit des Systems vor Augen. Der Gedanke lautet: Es muss für unser Denken 172 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="173"?> 78 Adorno, GS 6, S.-38. 79 Vgl. Adorno, GS 5, S.-273. 80 Adorno, GS 6, S.-38. notwendig offenbleiben, ob das System das Wirkliche ist, damit es das Ganze bedeuten kann. Die integrale Funktion des Systems und seine metaphysische Un‐ bestimmtheit korrelieren bei Kant. Für Hegel hingegen muss sich das System als das Ganze seiner Teile verwirklicht haben, um wahr zu sein - es ist das Resultat seiner eigenen Geschichte. Hegel deutet die integrale Funktion des Systems entsprechend prozessual, will sagen, er deutet den ergebnishaften Zusammen‐ hang als die Verwirklichung der Systemvernunft in der Geschichte. Damit nun Adorno das Ganze als das Unwahre ausweisen kann, muss er «die spekulative Kraft der Negation» 78 gegen die Engführung von System und Geschichte von Hegel aufbieten. Denn während Hegels Systembegriff je schon davon ausging, dass sich alle möglichen antagonistischen Verhältniszusammenhänge in ein System logischer Negationsverhältnisse integrieren (aufheben) lassen, führt Adornos Negation der Absolutheit des Systems im Namen des Antisystems die erkenntniskritische Bedeutung von Negation als einer Urteilshandlung der erkennenden Subjektivität wieder deutlich vor Augen. Um «die volle Versöh‐ nung durch den Geist inmitten der real antagonistischen Welt» als «bloße Behauptung» 79 ausweisen zu können, muss das adornosche Reflexionsmodell gegen Hegel zeigen können, inwiefern es ausgerechnet «die Kategorien der Kritik am System» sein sollen, «welche das Besondere begreifen». 80 VIII. Nun können wir uns zum Ende noch einmal dem Antisystem zuwenden und es im Lichte seiner negativen Bestimmtheit - als die bestimmte Negation des Systems - klarer sehen. Das Negationsverhältnis von System und Antisystem ergibt sich aufgrund der ursprünglich antinomischen Gestalt des Systems aus der Negation der Alternative von einstimmiger Systemimmanenz und wider‐ streitendem Material. Das Antisystem artikuliert dieses Negationsverhältnis zu einer Dialektik aus, die darüber ihrerseits Bestimmtheit als ‹negative› erlangt. Die Vollzugsbestimmtheit des Systems (das System ist kein Ding, sondern eine Handlungsanweisung an die Wissenschaften) offenbart bei Kant deutlich genug, dass die Fixierung des Systems zur statischen Grundlage der Wissenschaften eine Wechselbestimmtheit seiner dynamischen Erweiterbarkeit darstellt. Also ist das Anti-Verhältnis die bestimmte Negation nicht eines der beiden Glieder, sondern dieser Wechselbestimmtheit als solcher, die sich im Widerstreit der idea‐ listischen und nachidealistischen Philosophie als Widerstreit austrug. Darum kann Adorno schreiben: «Kritik am System liquidiert […] nicht einfach das 1. System und Antisystem 173 <?page no="174"?> 81 Ibidem, S.-35. 82 Mit Kant ist zwischen einem System und einem Aggregat zu unterscheiden: «Ein System ist, wenn die Idee des Gantzen vor den Theilen vorhergeht. Wenn die Theile dem Gantzen vorhergehn so entspringt daraus ein Aggregat.» Kant, AA XXIX, S.-5. System.» 81 Statt es zu ‹liquidieren›, bildet sich die Kritik des Systems zu einem Antisystem aus. Das Antisystem stellt insofern das Aggregat aller möglichen Argumente dar, die zusammen gegen die Verwechslung ihres Zusammenhangs mit der Systemidee sprechen. 82 Das negative Ganze des Widerstreits übersteigt sich kraft seiner Selbstdarstellung im Skopus der Kritik und bringt so jene Mög‐ lichkeit realer Einstimmigkeit in den Blick, gegenüber der sich das affirmative Denken verschlossen zeigt. Offensichtlich ist das Antisystem damit nicht mehr nur die ‹Antithesis› zum System. Die dialektische Selbstkritik verpflichtet sich vielmehr der Einlösung des Einstimmigkeitsanspruchs der Systemidee. Das hat die Folge, dass negativdialektische Gehalte nur wahr sein können als Kritik am System. Der antisyste‐ matische Systembegriff Adornos führt die negative Dialektik daher an entschei‐ dender Stelle eng mit dem belehrten Nichtwissen der kantischen Transzenden‐ talphilosophie - dies nicht, um sich in einem vermeintlichen Agnostizismus auszuruhen, sondern um nicht der Verwechslung des dialektischen Systems mit der ganzen Wirklichkeit anheimzufallen. Um also zu verstehen, wie es möglich sein kann, dass sich bei Adorno eine kohärente Denkart ausbildet, deren ganzheitlicher Sinn negativ bleiben soll, gilt es, die Leitthese dieser Untersuchung noch einmal zu vergegenwärtigen. Sie besagt, dass die kritische Funktion der dialektischen Logik Adornos darüber zu legitimieren ist, dass deren Gehalte der systematische Ausdruck ihrer eigenen Geschichte sind. Als Ausdruck der eigenen Geschichte sind die Gehalte der Dialektik zugleich spekulativ relevant und kritisch wirksam. Diese Engführung gelingt durch eine reflexive Verwiesenheit der positiven und negativen Ge‐ haltsmomente der Systemidee. Die negative Dialektik gewinnt ihre negative Bestimmtheit daher über eine «Selbstreflexion der Dialektik». Diese Reflexion der Dialektik führt uns bei Adorno vor Augen, dass die Dialektik «in eins Abdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen Kritik» ist und also «in einer letzten Bewegung sich noch gegen sich selbst kehren» muss. Denn, so Adorno: Die Kritik an allem Partikularen, das sich absolut setzt, ist die am Schatten von Absolutheit über ihr selbst, daran, daß auch sie, entgegen ihrem Zug, im Medium des Begriffs verbleiben muß. Sie zerstört den Identitätsanspruch, indem sie ihn prüfend honoriert. Darum reicht sie nur so weit wie dieser. Er prägt ihr als Zauberkreis den 174 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="175"?> 83 Adorno, GS 6, S.-193. 84 Vgl. zur Idee einer dialektischen Logik Adorno, GS 4, S. 179; Max Horkheimer, Nachgelassene Schriften 1931-1949, in: ders., Gesammelte Schriften (Bd. 12), Frankfurt am Main 1985, S. 156f.; Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, S. 931; Tilo We‐ sche, «Negative Dialektik: Kritik an Hegel», in: Richard Klein/ Johann Kreuzer/ Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, S.-317-325. 85 Dies sei, so Cramer, die «Aufgabe aller Aufgaben». Wolfgang Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik. Prüfung ihrer Beweiskraft, Frankfurt am Main 1967, S. 19f.; Hervorhebung C.M. 86 Dieter Henrich, Hegel im Kontext. Mit einem Nachwort zur Neuauflage, Frankfurt am Main 2010, S.-98. 87 Thyen ist anderer Auffassung: «Die Kritik Adornos richtet sich gegen die spekulative Dialektik, nicht gegen die negative Dialektik Hegels.» Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S.-165. Schein absoluten Wissens auf. An ihrer Selbstreflexion ist es, ihn zu tilgen, eben darin Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht. 83 Es gilt angesichts der paradoxen Forderung einer nicht positiven Negation der Negation, sich der Grundzüge dieser «dialektischen Logik» 84 im Lichte des bei Kant inaugurierten und sich bei Hegel verabsolutierenden Reflexionsgesche‐ hens zu versichern. Adorno möchte die Philosophie auf das Ideal verpflichten, das Ganze weder losgelöst von, noch identisch mit seinen Teilen zu bestimmen, was, um mit Wolfgang Cramer zu reden, verlangt, «den absoluten Grund als Grund des Kontingenten, des Werdens, noch zu begreifen» und also «[a]us dem absoluten Grund noch das Kontingente zu vermitteln». 85 Anhand der Be‐ wältigung dieser Aufgabe lässt sich der Unterschied zwischen Adornos negativdialektischer Reflexion und Hegels spekulativer Reflexion benennen. Um mit Dieter Henrich auf letztere Reflexionsform zu blicken: «Sie will nicht nur die Einheit Entgegengesetzter aufzeigen, sondern die Einheit ihrer Einheit und ihrer Differenz.» 86 Demgegenüber will das negativ-dialektische Antisystem anderes. Es möchte die Differenz gerade in jenem Moment, das bei Hegel Differenz heißt, durch reflexive Selbstkritik des Denkens zur Geltung bringen. Dazu verpflichtet sich die negativ-dialektische Logik auf eine gänzlich andere Form von Dialektik. Auch diese andere Form von Dialektik soll das Absolute durch Kritik mit dem Kontingenten - und umgekehrt - vermitteln, ohne dass der Abschlussgedanke der Vermittlung je anders denn als Grenze der Vermittlung in den Blick treten könnte. Die Negativität der Dialektik bezeichnet dann nicht mehr das negative Moment in der absoluten Identität. 87 Vielmehr ist die negative Dialektik die erkenntniskritische Einklammerung der absoluten Identität - und kann insofern 1. System und Antisystem 175 <?page no="176"?> 88 Vgl. Adorno, GS 6, S.-9f. 89 Ibidem, S.-148. 90 Adorno, NaS IV 2, S.-42. 91 Adorno hegt bei aller Systemkritik eine ‹Sympathie› für den esprit systématique (vgl. ders., GS 6, S. 35). Das schlägt sich einerseits in der einheitlichen Form von Adornos Denken nieder; andererseits in der unablässigen Kritik an Hegels enzyklopädischem System; in letzterem wird der esprit systématique insofern kompromittiert, als sich im abschlusshaften Ganzen nicht mehr entscheiden lässt, inwiefern systematisches Denken der Welt überhaupt noch angemessen ist. Alles Widerstreitende wird zum Moment der allumfassenden Einstimmigkeit. Bei Adorno begreift sich das systematische Denken hingegen nur dem zunehmend verwalteten Zustand des Bestehenden als angemessen und bleibt insofern offen für Selbstkritik. 92 Adorno, NaS IV 16, S.-58. die «Methodologie der materialen Arbeiten» Adornos bilden: im Sinne einer kritischen Rechtfertigung der Arbeit am Material. 88 Trotz des Umstands also, dass die Dialektik für Adorno grundsätzlich «keine Methode» 89 der gesicherten Wahrheitsfindung sein kann - dass vielmehr «ge‐ rade das Wesen der Dialektik» darin bestehen sollte, «daß sie kein Rezept ist, sondern eben der Versuch, die Wahrheit sich selber bezeichnen zu lassen», 90 ist der Nachweis eines methodischen Charakters der negativen Dialektik kei‐ neswegs unangemessen. Dieser methodische Charakter gelangt in der Bezeich‐ nung ‹Antisystem› zu seinem angemessenen Ausdruck. Offenbar ist Adorno emphatisch weder ein traditioneller Systemdenker noch ist negative Dialektik in jeder Hinsicht asystematisch. Erst die Durchführung der Kritik führt beides - Systemkritik und Systematik der Dialektik - zusammen. Hier ist die Unter‐ scheidung von System und Systematik anzuführen, die Adorno selbst in der 4. Vorlesung über Negative Dialektik einführt, um das Antisystem von der puren Asystematik zu differenzieren. 91 Unter Systematik verstehe ich […] eine in sich einheitliche Form der Darstellung, also ein Schema, in dem alles, was zu dem betreffenden Sachgebiet oder schließlich auch zu dem philosophischen (falls das ein Sachgebiet sein sollte) gehört, seinen Platz findet, seinen richtigen Raum, an den es hingehört. 92 Adorno übernimmt also die kantische Rede von einem Schema und einer Form - ja sogar die Differenzierung der Philosophie von ihren partikularen Sachge‐ bieten. Zugleich begreift Adorno die Systemidee als Prinzip der Darstellung; damit hat er dem Antisystem die Systemidee transformierend anverwandelt. Angemessen ist der Nachweis des systematisch-methodischen Charakters der Dialektik dann mit Blick auf die Art, wie Adorno durchgehend mit der philoso‐ phischen Tradition verfahren kann, indem er deren Anspruchsgehalte innerhalb des Antisystems bündig zur Darstellung bringt und gemäß dem negativ-dialek‐ 176 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="177"?> 93 Adorno nennt sein Denken auch eine «Logik des Zerfalls». Vgl. Adorno, GS 6, S.-409. tischen Ordnungsprinzip aneinanderbindet. Methode ist bei Adorno Methode der Darstellung im Antisystem, die Darstellung aber (in nichtästhetischem Sinne! ) relevant für den Inhalt der dargestellten Sache. Diese Darstellung ist als Antisystem kein zusammenhangsloses Aggregat philosophiegeschicht‐ licher Quisquilien, das bloß noch durch Stil und Manier zusammengehalten würde; unleugbar weist das Antisystem systematisch wiederkehrende Motive auf, deren verbindliche Rekonstruktion und Diskussion die zu bewältigende Aufgabe der Adornoforschung sein muss. Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die negative Dialektik ihre Gehalte über eine bestimmte Negation traditioneller Gehalte gewinnt. Das Erste, was dabei anerkannt werden sollte, ist, dass sich die tradierten Gehalte im Horizont der negativen Dialektik in systematischer Weise verändern. Keine bloßen Exegesen mehr, nehmen sie, Schachfiguren nicht unähnlich, die Kraft argumentativer Funktionen an, die den Erkenntnisanspruch der Tradition einlösen sollen. Dieses indirekte Verfahren der Traditionskritik soll in eins Vollzug und Bestimmungsgrund des dialektischen Denkens sein, i.e. die Selbstversicherung ihres aporetischen Dop‐ pelcharakters als spekulative Theorie des Ganzen und als Grund zur Limitation ihrer Bezugnahme auf das Ganze. Diese grundsätzlich zu nennende Aporetik negativer Dialektik ist nicht als Denkfehler, sondern als ihre Methodenbes‐ timmtheit zu begreifen. Negative Dialektik denkt zwar in der Tat bisweilen in Aporien, vielleicht sogar hauptsächlich; aber sie denkt dabei wesentlich immer auch mit Aporien, erwägt deren angemessenen Einsatz als Mittel gegen die Selbstgenügsamkeit des Denkens. Der Begriff der Methodenbestimmtheit soll also besagen, dass sich die Dialektik als negative nicht bei sich selbst beruhigen kann, sondern dem Gang ihrer negativistischen Methodik bis ans Ende, bis zum «Zerfall» der logischen Gestalt der Begriffe folgen muss. 93 So steht die negative Dialektik methodisch für die gezielte Eingrenzung des Methodenideals ein; gerade die finale Einsicht in die Unangemessenheit der Dialektik als philosophische Methode ganzheitlicher Erkenntnisgenerierung hat bei Adorno - Methode. Derart in einen methodischen Negativismus einmündend, der sich durch das Attribut ‹negativ› in das Konzept von Adornos Dialektik eingebrannt hat, ist es zunächst nichts als dieses Paradox der Methodenbestimmtheit, das Adorno gegen die Tradition systematischer Philosophie ins Feld führen kann, aber auch muss; mit dem Wissen darum, dass sich dieser Widerstreit nicht in ein einstimmiges Ganzes integrieren lässt. Der Widerstreit betrifft vielmehr das Ganze, insofern dieses als Gesamtzusammenhang aller Negationen die Möglichkeit von Andersheit durchstreicht. 1. System und Antisystem 177 <?page no="178"?> 94 Adorno, GS 6, S.-144. 95 Ibidem. 96 Vgl. Kant, KrV, A 856/ B 884; sowie Adornos Bemerkung in der Vorlesung über negative Dialektik: «Also der Weg […], der das System gewissermaßen säkularisiert in eine latente Kraft des Bindens der Einzeleinsichten aneinander (anstelle ihrer architektoni‐ schen Anordnungen), der scheint mir tatsächlich der einzige Weg, der der Philosophie noch übrig bleibt […].» Adorno, NaS IV 16, S. 62. Vgl. zur Engführung des dialektischen und des kritischen Wegs ders., NaS IV 4, S.-241. Halten wir fest: Die Philosophie Adornos gewinnt ihr Selbstverständnis jenseits der Alternative von systematischem und asystematischem Denken, indem sie einerseits am systematischen Denken festhält, aber eben nur, um die formale Abschlussgestalt des Systems andererseits durch Berufung auf dasjenige, was dem System aufgrund seiner Systematizität äußerlich bleibt, zu kritisieren. Das Antisystem verfährt systematisch als Kritik am System. Diese Kritik zielt aber eben, wie im nächsten Abschnitt C darzulegen ist, auf ein Außerhalb des Systems - ins Offene. Ein solches Denken bewegt sich folglich entschieden im Zwischenbereich des traditionellen Systemdenkens und dessen Unterwanderung. Dieses Denken gewinnt sich, indem es gegen sich selbst denkt - «wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen». 94 Angesichts dieser paradoxalen Definition dürfen wir das Antisystem nicht als die Antithesis des Systems verstehen. Das Antisystem erlangt Eigenbestimmt‐ heit darüber, dass die Wechselbestimmtheit von Einstimmung und Widerstreit nur die wechselseitige Widerlegbarkeit ihrer vereinseitigten Inanspruchnahme bedeuten kann. Damit aber verwandelt sich der kontradiktorische Widerstreit von idealistischem Systemdenken und nachidealistischer A-Systematik selbst in einen dialektischen Widerstreit, den das Antisystem als das Weder-noch der dialektischen Selbstkritik zur Darstellung bringt und insofern - durch die Kraft der Darstellung - bannt. Das Dilemma löst sich nach dem Vorbild Kants auf in der Kritik partikularer Ansprüche, nicht indem diesen Ansprüchen ein weiterer Anspruch hinzugefügt wird. So ist die negative Dialektik als «Veranstaltung subjektiver Vernunft» 95 mit objektiver Relevanz zu verstehen. Sie fügt als «letzte Philosophie» den Philosophien keine weitere hinzu, sondern legt als Antisystem dar, inwiefern der kritische Weg allein aus dem Labyrinth des Systems führen kann. 96 178 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="179"?> 97 Das sind die 13., 14. und die 15. Vorlesung. Vgl. Adorno, NaS IV 4, S.-209-257. 98 Rudolf Zocher, «Kants transzendentale Deduktion der Kategorien», in: Zeitschrift Für Philosophische Forschung 8/ 2, 1954, S. 161-194, hier: 184 stellt heraus, dass das kantische Konstitutionsproblem «die Aufeinanderbezogenheit von Gegenstandskonstitution und Erkenntniskonstitution» betreffe. In Anlehnung an die transzendentale Deduktion der Verstandeskategorien bedeutet dies: «Die Konstitution des Objekts (Möglichkeitsbedin‐ gung des Gegenstands) weist zurück auf die Konstitution (Möglichkeitsbedingung) seiner Erfassung.» Ibidem, S. 181. Eine Eigenheit der kantischen Konstitutionsproble‐ matik besteht wohl darin, dass in dieser überall die Geltungsproblematik präsent ist. - Wie Synthesis, ist übrigens auch constitutio ein Wort für Zusammenstellung, mithin eine Handlung, die aus einander widerstreitenden Teilen eine einstimmige Einheit hervorbringt. Hogrebe schreibt: «In einem ‹horizontalen› Sinn meint ‹consti‐ tutio› zunächst nichts anderes als den Vollzug einer Handlung, die wie auch immer Unverbundenes zusammenbringt, d. h. wörtlich: (Zusammenstellung). In diese kompo‐ sitive Bedeutung geht gleichursprünglich der ordnende, determinative Charakter des Zusammenstellens mit ein im Sinn von ‹Bestimmung›.» Wolfram Hogrebe, Art. «Kon‐ stitution», in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (online), Basel 2017. 2. Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität I. Einer der Grundzüge der Kantinterpretation Adornos besteht in dem wieder‐ holten Nachweis der Reziprozität von konstituierenden und konstituierten Mo‐ menten der Erkenntnisstruktur. In der Kantvorlesung widmet Adorno diesem Thema drei Vorlesungen, die von der Edition mit den Titeln Constituens und Constitutum I, II und III versehen worden sind. 97 Darin arbeitet Adorno den Grundgedanken an verschiedenen Motiven bei Kant systematisch heraus. 98 Der Grundgedanke ist einfach zu benennen. Die Konjunktion der beiden Mo‐ mente beschreibt ein reziprokes Reflexionsverhältnis, womit zunächst einmal nur gesagt ist, dass die Inanspruchnahme des einen die Gegenwart des anderen Moments impliziert - die alleinige Inanspruchnahme eines der beiden Momente als unabhängiges folglich nicht ohne gezielten Ausschluss des anderen Moments zu haben ist. Die Inanspruchnahme dieser Reziprozität hat bei Adorno eine doppelte Pointe; einerseits mit Blick auf die Möglichkeit der Kritik (II.), ande‐ rerseits mit Blick auf die Dialektik (III.), wobei die eigentliche Pointe dann in der Wechselbestimmtheit des dialektischen und des kritischen Einsatzes des Motivs besteht. II. Die kritische Relevanz des Nachweises des Reflexionsverhältnisses zwischen Konstituierendem und Konstituiertem besteht darin, dass sich die traditionelle Philosophie in Adornos Augen als einseitige Auseinandersetzung mit dem 2. Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität 179 <?page no="180"?> 99 Adorno steht erstphilosophischen Grundlegungsansprüchen bekanntlich skeptisch gegenüber (vgl. exemplarisch Adorno GS 5, S. 47). In der 15. Kantvorlesung betont Adorno, «daß eigentlich alle Philosophie des Ersten, alle ‹erste Philosophie›, alle prima philosophia […] ob sie es will oder nicht, eigentlich immer Idealismus ist». Adorno, NaS IV 4, S. 242. Die Frage drängt sich auf, ob die Strenge und Unablässigkeit, mit der bei Adorno die konstitutionslogische Reziprozität der Momente vertreten wird, nicht selbst einen grundlegenden Anspruch darstellt. Dieser würde in nichts anderem als der Direktive bestehen, jeden Grundlegungsanspruch dialektisch zu kritisieren, was, nur wenn man es so haben möchte, ein schlechter performativer Widerspruch ist. Hat Adorno recht, dann ist derselbe Widerspruch eben schon in den ersten Philosophien konstitutiv am Werk, nur fehlte ihnen das reflexive Selbstverhältnis, das bei Kant durch die großartige Zweideutigkeit ins Spiel kommt und sich bei Adorno aporetisch ausformuliert. Constituens lesen lässt. Die Philosophie behauptet ihre Domäne gerade durch Abstraktion vom Constitutum. Vor allem jene traditionellen Philosophien, die Anspruch darauf erheben, erste Philosophie zu sein, fallen nach Adorno unter diese Beschreibung. 99 Die konstituierenden Momente können dabei verschie‐ denste Prägungen erfahren. Seien es die Kategorien, sei es das absolute Ich, sei es der Geist oder die Existenzialien Heideggers - all diese Problemgehalte sind für Adorno Ausdruck einer einseitigen Intention auf das Constituens. Natürlich hätte jeder dieser Philosophen ein ganzes Arsenal an Gegenargumenten bereit, die darlegen würden, inwiefern gerade sie nicht auf den einen Bereich fixiert sind, nicht zuletzt jene Argumente, wonach die Konstitutionsproblematik als solche ursprünglich fehlgeleitet sei. Aber das ist nicht der Punkt. Einseitig bleibt deren Intention, solange der Ausschluss des Constitutums die konstitutive Be‐ dingung ihres Anspruchs auf philosophische Dignität bleibt. All die genannten Philosopheme werden von Adorno daraufhin kritisiert, dass sie ihre Reinheit nur über diese Ausschlusshandlung erlangen. Entsprechend können die undia‐ lektischen Konstitutionstheorien den philosophischsten aller Ansprüche nicht einlösen, welcher darin besteht, den Zusammenhang miteinzubegreifen, in dem die Philosophie selbst im Verhältnis zur Wirklichkeit steht. Entsprechend stellt bereits die Thematisierung des Verhältnisses von Constituens und Constitutum eine Spitze gegen die erstphilosophische Tradition dar. Soweit zur kritischen Pointe. III. Die damit einhergehende dialektische Pointe besteht darin, dass Adorno durch die Artikulation des Verhältnisses von Constituens und Constitutum das Ver‐ mögen, den Zusammenhang einzubegreifen, in dem die Philosophie selbst steht, der Dialektik als ein nur ihr zukommendes Vermögen vindizieren kann. Wenn nämlich die Intention auf die konstituierenden Elemente der Erkenntnis, 180 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="181"?> des Werdens, des Wesens oder des Daseins ihre Dignität durch Einseitigkeit erhalten, dann kann die Dialektik stets die größere Reichweite ihres Themas einklagen, wogegen sich schwerlich noch einmal Argumente aufbringen lassen, außer solche, die die eigene Reinheit und die Irrelevanz des Unreinen von neuem einklagen, wodurch aber nur die Dialektik neu auf den Plan gerufen wird. Inso‐ fern begründet die Einsicht in die Reziprozität von Constituens und Constitutum die Alternativlosigkeit der Dialektik. Nun wäre es allerdings verfehlt zu meinen, Adorno sähe in der Dialektik deswegen einen Wissensvorsprung, nur weil diese das Verhältnis von Constituens und Constitutum expliziert, das bei anderen als implizites Ausschlussverhältnis vorliegt. Die dialektische Vermittlung der Momente kann vielmehr nur als Kritik einseitiger Ansprüche erfolgen. Gegen die unmittelbare Intention auf das Konstituierte, wie in manchen Ausprägungen der Existenzphilosophie, kann Adorno auf das konstituierende Moment hin‐ weisen; gegen die Philosophen der Reinheit kann Adorno gut nietzscheanisch auf die Vermitteltheit vermeintlich reiner Gehalte mit gesellschaftlichen, psy‐ chologischen, historisch-materialistischen oder vorgeschichtlich-biologischen Tatbeständen und Erkenntnissen pochen. Ohne Einbindung in das Geschehen der Kritik kann Adorno also gar nicht zwischen beiden Sphären vermitteln - seine Dialektik bliebe gegenstandslos. Offensichtlich muss die Vermitteltheit der Momente nämlich noch die Reziprozitätsthese der Dialektik einholen, ansonsten auch diese nur abstrakt und einseitiger Anspruch wäre. Abstrakt ist sie gewiss, jedoch - so lautet ihr impliziter Anspruch - kann nur noch Dialektik diese Abstraktheit durch Einbindung in den Vollzug der Kritik konkret werden lassen, ohne selbst vom korrigierenden Nachweis dessen, was dabei draußen bleibt, betroffen zu sein. Sie zeigt als kritische Dialektik ja gerade auf, dass etwas - das Constitutum - notwendig draußen bleibt im Zuge der Abstraktion, ist also immer schon betroffen von der Korrektur, die sie gegenüber nicht dialektischen Philosophien darstellt. Folgen wir dem eingangs gemachten Vorschlag, Adornos Philosophie als Interpretation des ‹Und› in den Reflexionsverhältnissen zu lesen, so wäre hiermit zu sagen, dass die Inanspruchnahme der Reziprozität von Constituens und Constitutum keinen Wissenszuwachs bedeuten kann, sondern dass die Legitimität des dialektischen Anspruchs letzten Endes am kritischen Sinnhorizont der Vermittlungen hängt. IV. Adorno exponiert den Gedanken der Reziprozität von Constituens und Consti‐ tutum vor allem am Gedanken der transzendentalen Subjektivität. Im Gedanken der transzendentalen Subjektivität gelangt ein Urteilsgehalt zur Darstellung, dessen objektive Bestimmung der Forschung nach wie vor schwerfällt. Offenbar ist das Transzendentalsubjekt nicht einfach das individuelle Ich von Einzelnen; 2. Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität 181 <?page no="182"?> 100 Vgl. Abschnitt D/ 2 dieser Arbeit. es subsistiert aber auch nicht im Jenseits reiner Beziehungslosigkeit selbstge‐ nügsam vor sich hin. Sein Wesen liegt irgendwo zwischen abstrakter Allgemein‐ heit und konkreter Einzigkeit. Im Ausgang von Kant wäre es wohl angezeigt, im Transzendentalsubjekt zunächst einmal die Geltungsgrundlage unserer Urteile zu sehen. Aber das schafft für Adorno das Problem der Vermitteltheit dieser Grundlage mit dem Begründeten nicht aus der Welt. Denn all unsere Urteile sollen sich ja in ihrer urteilsförmigen Einheit auf eine Urteilsmaterie beziehen, die zwar als das Bestimmbare überhaupt ein Formmoment darstellt, als Materie darin aber gerade nicht gänzlich aufgeht. 100 Es ist daher im Sinne der Dialektik angezeigt, die ursprüngliche Verhältnisbestimmtheit der Sache ernst zu nehmen, wenn es darum geht, ‹das Transzendentalsubjekt› und seine Zentralgehalte näher zu bestimmen. Genau das versucht Adorno mit der Dialektik von Constituens und Constitutum. Das Transzendentalsubjekt zeichnet sich für Adorno nämlich durch einen eigentümlichen Doppelsinn aus. Der Gehaltsanspruch des Be‐ griffs ‹Transzendentalsubjekt› lässt sich zwar bestimmt erfassen; das erfasste Transzendentalsubjekt aber objektiv zu bestimmen würde bedeuten, dabei sowohl auf den überzeitlichen Geltungsgrund als auch auf ein zeitlich indivi‐ duiertes (wenn man will: ‹empirisches›) Ich Bezug nehmen zu müssen. Da das Transzendentalsubjekt bestimmt weder nur das eine noch nur das andere sein kann, sondern beides miteinander in Beziehung setzen muss, bringt der Ur‐ teilsgehalt ‹Transzendentalsubjekt› streng genommen nichts Subsistierendes, sondern ein Vermittlungsverhältnis zum Gegenstand. Die entscheidende Frage wäre wohl, ob die Philosophie solche Verhältnisse überhaupt angemessen zum Ausdruck bringen kann, wenn sie diese vergegenständlicht. Mit Kant und Adorno wäre die dialektische Kritik überlieferter Anspruchsgehalte als einzig angemessene Form der Vergegenständlichung vorzuschlagen. Für Adorno ist es daher zuallererst das Verhältnis zwischen den beiden wesentlichen Momenten der Darstellung selbst, das in der Konzeption eines Transzendentalsubjekts intendiert wird. So wäre das Transzendentalsubjekt gerade nicht nur ein abs‐ trakt Allgemeines, sondern das hypostasierte gegenseitige Ausschlussverhältnis zwischen empirisch-vereinzeltem und abstrakt Allgemeinem. Es ist die Allge‐ meinheit, die sich selbst erweiternd auf das Einzelne beziehen lassen muss und ansonsten gänzlich leer bleibt. Tatsächlich besteht die Transzendentalität des Transzendentalsubjekts für Adorno entsprechend darin, dass in diesem durchgängig und verbindlich das 182 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="183"?> 101 Adorno, NaS IV 4, S.-239. 102 Vgl. Heiner F. Klemme, Art. «Ich, denkendes», in: Marcus Willaschek/ Jürgen Stolzenberg/ Georg Mohr et al. (Hg.), Kant-Lexikon, Berlin/ Boston 2015, S.-1079-1082, hier: 1080: «Als ein Gegenstand des inneren Sinnes kann sich das denkende Ich immer nur als Erscheinung, niemals aber so erkennen, wie es an sich selbst beschaffen sein mag.» Vgl. Kant, KrV, B 152-157; sowie ders., AA VII, S.-142. 103 Adorno, NaS IV 1, S.-205. 104 Adorno entnimmt den Begriff ‹Egoität› dem späten Schelling, wohl jenem der Weltalter, wo die Egoität eines der beiden Prinzipien neben der Liebe darstellt, die in ihrer gegen‐ läufigen Zweiheit den Anfang (Gott) von Schellings spekulativem Gedankengang bilden. Dazu Christian Iber, Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzepti‐ onen Heideggers und Adornos, Berlin/ New York 1994, 215 ff. Vgl. Adorno, GS 6, S.-275. 105 Adorno, GS 6, S.-85. dialektische Verhältnis von konstituierendem und konstituiertem Subjekt ent‐ faltet wird. Adorno gibt deshalb zu bedenken: Wäre […] das transzendentale Subjekt, also jenes Allerallgemeinste, jener allge‐ meinste Bezugspunkt, der die Möglichkeit von allgemeingültiger und notwendiger Erkenntnis verbürgen soll, wirklich nichts anderes als die bloß logische Einheit, dann könnte man sich nicht vorstellen, wie diesem Subjekt irgend so etwas wie Spontaneität oder Aktivität überhaupt zugeschrieben werden kann. 101 Umgekehrt hätte die empirische Psychologie nicht einmal ein eigenes Thema, wenn sie nicht auf eine allgemeine Vorstellung des Subjekts zurückgreifen könnte, um sich dem individuum ineffabile in Begriff und Experiment als einer relational bestimmten Erscheinung 102 anzunähern (zumindest nicht ohne prag‐ matisch einzuwirken auf das, was dabei theoretisch als ein Subjekt in seinem Eigenrecht erkannt werden soll). So ist für Adorno noch «das, was mir als das Unmittelbare erscheint, die je meine Subjektivität, wie Heidegger das genannt hat, die berühmte Jemeinigkeit […] in Wirklichkeit ein Abstraktionsbegriff». 103 Und umgekehrt «führt» das überindividuelle «Transzendentalsubjekt als Bewußt‐ seinseinheit stets die Erinnerung an seiendes Bewußtsein, ‹Egoität› 104 , mit sich». 105 Wäre diese Dialektik nicht überall zugegen und an der Arbeit, würde der Gedanke transzendentaler Subjektivität auf eine Seite der zu vermeidenden Alternative zwi‐ schen Allgemeinem und Besonderen fallen. Wenn Kant also von «mir», «meiner Erfahrung», ja wenn Kant vom «Ich» oder von «dem Subjekt» schreibt, dann ist eben bestimmt weder ein gottgleiches Substanzsubjekt noch Immanuel Kant aus Königsberg allein gemeint. Gemeint ist das transzendentale Subjekt als einer Grundgröße der Anspruchskritik. Sollen wir also überhaupt danach fragen, was dieses Subjekt ist? Verfehlen solche Fragen nicht gerade die Hauptsache - den kritischen Sinn des kantischen Gedankens? 2. Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität 183 <?page no="184"?> 106 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 11 1967 [1. Auflage 1927], S.-42ff. 107 Adorno, NaS IV 4, S.-239; Hervorhebung C.M. Suchten wir nach einer plausiblen Antwort, dann müssten wir einräumen: Es ist mit dem Transzendentalsubjekt der Kritik der reinen Vernunft eben auch nicht einfach nicht Immanuel Kant aus Königsberg gemeint. Wir alle sind als Einzelne gemeint, insofern der unerklärbare Umstand zum Tragen kommt, dass die Indi‐ vidualität unserer Erfahrungsvollzüge als Erfahrungsvollzüge nie unmittelbar unter dem Gesichtspunkt der «Jemeinigkeit», 106 sondern stets unter demjenigen einer uns gemeinsamen Erfahrungsstrukturiertheit thematisch wird. Diese allen gemeinsame Struktur ist die transzendentale Subjektivität. Die Einheit von Konstituierendem und Konstituiertem ist im Falle der transzendentalen Subjektivität also die Einheit von empirischem Ich, dessen absoluter Geltungsgrundlage und dem Wir, in dem beides konkret zusam‐ menfindet. Insofern sich das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Ich, Geltungsgrundlage und Wir nun nie bloß in eine Richtung, sondern ebenso gut in die andere Richtung denken lässt, gebührt keiner Deutungsrichtung der Vorrang. Beide machen Anleihen beim anderen Moment, insofern sie dieses aus sich ausschließen müssen, um an Bestimmtheit zu gewinnen. Folgen wir Adorno, ist die Einheit von Konstituierendem und Konstituiertem darum immer eine dialektische Einheit. In der 14. Kantvorlesung heißt es: Damit sind wir gestoßen auf das quid pro quo zwischen Constituens und Constitutum. Und das, was ich nun hier Ihnen begreiflich machen möchte und weswegen ich diese sehr große Anstrengung mache - denn es geht hier um nicht weniger als eigentlich um die, wenn ich so sagen darf: Grundlegung der philosophischen Position, wie ich sie selbst vertrete und wie ich sie glaube an diese Reflexion über Kant anknüpfen zu können -, ist: beide Momente sind aufeinander irreduktibel. 107 Hervorzuheben ist zunächst der Metakommentar, wonach es sich bei dem dargelegten Zusammenhang um eine Grundlegung der philosophischen Posi‐ tion Adornos handle und weiter, dass diese Grundlegung «an diese Reflexion über Kant» anknüpfen könne. ‹Müsse› wäre die bessere Wortwahl gewesen. Denn wenn die nachfolgende These stimmt, dass Constituens und Constitutum aufeinander irreduktibel sind, dann ist die negative Dialektik beider Momente als ein Reflexionsgeschehen zu betrachten, das die kantische Reflexionsproble‐ matik beerbt. Das Quid-pro-quo der Konstitutionsreflexion besagt ja, dass die Inanspruchnahme des einen Moments Anleihen beim anderen nehmen muss. Insofern kann Adornos kritische Theorie nicht bloß jene trotzige Intention auf 184 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="185"?> 108 In diese Richtung gehen Herbert Schnädelbach, «Dialektik als Vernunftkritik», S. 86 und Ulrich Müller, Erkenntniskritik und Negative Metaphysik bei Adorno, Frankfurt am Main 1988, S.-177. Vgl. Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-188. 109 Adorno, NaS IV 4, S.-239. 110 Ibidem, S. 242. Adorno schreibt diese «sehr geistreiche […] Formulierung» zu Beginn der 15. Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» seinem damaligen Assistenten Hermann Schweppenhäuser zu. das Constitutum bedeuten, für die sie bei vielen nach wie vor gilt. 108 Adorno räumt diesen Vorwurf gleich selbst aus: Ich möchte also nicht etwa dabei dem sogenannten Constitutum nun einen ontologi‐ schen Primat vor dem Constituens erweisen, - nach alldem, was ich getan habe ist das nicht möglich. Sondern ich möchte Sie nur dazu bringen einzusehen, daß diese beiden Momente aufeinander bezogen sind. 109 Während an dieser Stelle leider keine weitere Klärung darüber erfolgt, inwiefern diese Beziehung dann eigentlich zu deuten ist, wenn sie weder rein noch empirisch sein kann, ist doch die Zentralität festzuhalten, die Adorno dem Motiv zuspricht. Die Irreduktibilität der konstitutionslogischen Momente des Konstituierenden und des Konstituierten wird noch einige Male wichtig sein, um den Gedanken Adornos nachzuvollziehen. Vorläufig gilt es die Konsequenzen für den transzen‐ dentalphilosophischen Gedanken der Subjektivität herauszustellen. V. Eine erste wichtige Konsequenz der Irreduktibilitätsthese besteht für Adorno darin, dass das konstituierende Subjekt nichts wäre, wenn es nicht an jene bereits konstituierten, raum-zeitlich individuierten Subjekte erinnern würde, an denen sich seine Konstitutionsleistung gerade vollziehen soll. Im Falle der transzen‐ dentalen Subjektivität gilt gemäß Adorno: «Constituens des Constituens ist das Constitutum.» 110 Diese Formel besagt, dass es eine konstituierende Bedin‐ gung konstituierender Elemente darstellt, dass diese sich auf das Konstituierte beziehen lassen, dass das Konstituierte also konstitutiv dafür ist, was als kon‐ stituierendes Element gilt. Im Falle der transzendentalen Subjektivität bedeutet dies, dass sie sich auf wirkliche, vereinzelte, denkende und fühlende Subjekte beziehen lassen muss, ansonsten sie ihre konstitutierende Kraft einbüßt, was freilich in die Aporie führt, dass die Berufung auf das Konstituierte ebendie‐ selbe konstituierende Kraft freilegt wie die Reflexion auf das vermeintlich Primärkonstitutive. Adornos dialektischer Maxime zufolge lassen sich daher konstituierendes und konstituiertes Subjekt weder aufeinander reduzieren, noch könnten sie ohneeinander überhaupt ‹Etwas› sein. Kurz, das Konzept transzendentaler Subjektivität beschreibt eine aporetische Koinzidenz von Ein‐ 2. Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität 185 <?page no="186"?> 111 Vgl. Kant, KrV, A 343/ B 401: «Ich denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswickeln soll. Man sieht leicht, daß dieser Gedanke, wenn er auf einen Gegenstand (mich selbst) bezogen werden soll, nichts anderes, als transzendentale Prädikate desselben, enthalten könne; weil das mindeste empirische Prädikat die rationale Reinigkeit und Unabhängigkeit der Wissenschaft von aller Erfahrung, verderben würde.» stimmung und Widerstreit. Es lässt sich bestimmt weder als Nur-Allgemeines noch als Nur-Einzelnes erschließen - ist dezidiert keines von beidem und doch beides zugleich. Ein vergegenständlichter Inbegriff von Verhältnissen. Nun kann der Gehalt dieses aporetischen Inbegriffs keine eindeutige Bestimmung einer Sache darstellen. Kant selbst hat das ‹Ich denke›, das jeden möglichen Bestimmungsvollzug begleiten können muss, deshalb einmal als «Text» bezeichnet. 111 Ein Text stellt eine Einheit von Verhältnissen zwischen Begriffen dar. Der Text ‹Ich denke› stellt das Verhältnis zwischen den Re‐ flexionsbegriffen ‹Einstimmung› und ‹Widerstreit› im Anspruchsgehalt trans‐ zendentaler Subjektivität dar. Diese Darstellung ist die Kritik der rationalen Psychologie. Deren Bestimmungsvollzug wird reflexiv anhand einer Explika‐ tion der dabei am Werk befindlichen Reflexionsmomente nachvollzogen und bestimmt negiert. Die besagte Aporie ist hierdurch nicht verschwunden; sie wird lediglich kritisch gegen jene in Stellung gebracht, die die Aporie zum Verschwinden bringen, um zu einer positiven Bestimmung eines Gegenstandes (der Seele) zu gelangen. Die bloße Existenz einer Kritik der reinen Vernunft kann insofern als Nachweis dienen, dass die Aporie als solche durchaus nicht aporetisch (ohne Widerstreit der Vernunft mit sich selbst) thematisierbar bleibt. Nur ist die unmittelbare Darstellung des Textes ‹Ich denke› eben nichts anderes als Kants Kritik der rationalen Psychologie und ihrer falschen Hypostasierungen. Die Funktion der Darstellung (das ‹Ich denke› als Text) tritt in Verbund mit der Funktion der Kritik (an den Subreptionen der Psychologie). Die Kritik besorgt dabei die ‹positive› Darstellung des reflexiven Negationsverhältnisses von Constituens und Constitutum, ohne dass dabei das Negationsverhältnis durch das Darstellungsmoment positiv überformt wird. Damit gewinnen die Gehalte der Kritik jenen Doppelsinn, den nur limitative Urteilsgehalte (z. B. ‚die Nichtsterblichkeit der Seele› oder die ‚Unendlichkeit von Raum und Zeit›) annehmen können, insofern diese, als positive Gehalte gefasst, nur ein reflexives Negations- oder Ausschlussverhältnis affirmieren. Die Transzendentalität des transzendentalen Subjekts erwächst daher einem unendlichen Urteil über konkret-einzelne Bestimmungsvollzüge. Damit ist gemeint, dass die auf ein einzelnes Subjekt beschränkten Denkvollzüge, in der 186 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="187"?> 112 Kant, KrV, A 27/ B 43. abstrakten Form ‹des› Subjekts gedacht, zunächst eine bestimmte Negation der Einzelheit von Subjekten durch die Reflexion erfordern. Die Allgemeinheit des Transzendentalsubjekts ‹ist› - more dialectico - die bestimmte Negation des endlichen Subjekts. Als Selbstnegation des endlichen Subjekts im Vollzug der Reflexion nur wird die Einschränkung der Reflexion auf das reale Sosein der Subjekte aufgehoben. Gemäß der Grundoperation der Kritik führt diese Aufhebung der Einschränkung aber geradewegs zur Unbedingtheit des Trans‐ zendentalsubjekts. Denn: «Wenn wir die Einschränkung eines Urteils zum Begriff des Subjekts hinzufügen, so gilt das Urteil alsdann unbedingt.» 112 Das Transzendentalsubjekt ist zunächst nur in diesem Sinne ‹unbedingt› zu nennen. Vereinfacht gesagt wäre das Transzendentalsubjekt also als das Produkt eines unendlichen Urteils über das bedingte Subjekt zu begreifen. Somit wäre noch die Inanspruchnahme seiner Unbedingtheit dadurch bedingt, dass seine Inan‐ spruchnahme innerhalb des Skopus der Kritik einseitiger Ansprüche auf das Constituens oder das Constitutum erfolgt. VI. Für Adorno bleibt das Transzendentalsubjekt ‹gegenständlich› gar nicht zu fassen. Positiv gewendet: Das Transzendentalsubjekt ist das Nicht-Objektivier‐ bare, weil es immer schon eine zwischen konstituierenden und konstituierten Bestimmtheiten hin und her oszillierende, mithin dialektische Einheit seiner Repräsentation darstellt. Immer schon und notwendig zwischen der Realität eines kategorial erscheinenden Gehalts und der Negation der nichtsinnlichen Ursache unserer Gedanken eingespannt, ist das Transzendentalsubjekt als Ur‐ teilsgehalt die Vergegenwärtigung der Grenze zwischen Allgemeinem und Nicht-Allgemeinem - Einzelnem und Nicht-Einzelnem im Begriff. Das Trans‐ zendentalsubjekt ist ein Grenzbegriff, der seine Nichtidentität mit dem Konsti‐ tuierten anzeigt. Die Kritik ‹darf› von dieser Hypostasierung allein deswegen rechtmäßig Gebrauch machen, weil das unkritische Denken der rationalen Psychologie notwendig an diese Grenze stößt. Die Notwendigkeit der Grenze ist ihre Gegenständlichkeit im Rahmen der Kritik. Die unbedingte Limitiertheit diskursiven Denkens im Vollzug der ‹Introspektion› und die Unbedingtheit des Transzendentalsubjekts sind dasselbe. Der Gedanke der transzendentalen Subjektivität zielt damit von Beginn weg in die Mitte des Oppositionsverhältnisses zwischen allgemeinem und beson‐ derem Subjekt - er ist eine Interpretation des ‹Und› in diesem Reflexionsver‐ hältnis. Beide Unbedingtheitsmomente stellen einen unendlichen Urteilsgehalt dar, den Adorno einmal als Nicht-Einzelnes (gegen das Transzendentalsubjekt) 2. Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität 187 <?page no="188"?> 113 Für eine erschöpfende Darstellung von Adornos Interpretation des kantischen ‹Ich denke›, vgl. Brian O’Connor, Adorno’s Negative Dialectic, S.-116-126. 114 Adorno, NaS IV 4, S.-39f. Vgl. hierzu dann v.-a. Abschnitt C/ 3. 115 Adorno, NaS IV 4, S.-47; Hervorhebung C.M. 116 Vgl. Kant, KrV, B 25: «Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.» 117 Adorno, GS 6, S.-62. 118 Ibidem, B 422 bzw. 428. 119 Vgl. den Satz «Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können […]». Kant, KrV, B 131f. und einmal als Nicht-Allgemeines (gegen das ‹jemeinige› Subjekt) dialektisch in Stellung bringen kann. Durch die Kritik wird so die aporetische Möglichkeit eta‐ bliert, widerspruchsfrei eine allgemeinverbindliche Struktur konkret-einzelner Bestimmungsvollzüge zu konzipieren. Für Adorno ist die Dialektizität der Sub‐ jekt-Objekt-Struktur der Erkenntnis daher schon im Gedanken transzendentaler Subjektivität bei Kant vollumfänglich präsent. 113 VII. Daraus erwächst für Adorno eine Ambiguität der gesamten «Sphäre des Tran‐ szendentalen»; und zwar «als einer Sphäre, die keine formallogische Sphäre ist […], die aber auch keine inhaltliche ist». 114 Diese Sphäre ist einerseits das Reich der reinen Konstituentien unserer Erkenntnis. Anderseits ist diese Sphäre aber nicht so abstrakt wie der Skopus der formalen Logik, sondern bleibt auf das Constitutum verwiesen. Adorno weist deshalb auf eine (vielleicht konstitutiv zu nennende) «Schwankung» hin, die in dem Begriff des synthetischen Urteils a priori vorliegt; nämlich […] die Schwankung dazwischen, ob die synthetischen Urteile a priori gelten sollen, wie es bei Kant im Allgemeinen heißt: unabhängig von der Erfahrung, oder ob es heißen soll, daß sie für jegliche Erfahrung gelten sollen. 115 Unabhängig von aller Erfahrung zu ‹sein› darf den Konstituentien urteilsför‐ miger Erkenntnis nur noch insofern zugesprochen werden, als diese die er‐ möglichende Grundlage für die urteilsmäßige Darstellung Erfahrungsgehalten bilden. Das besagt der Terminus ‹transzendental› bei Kant. 116 Die Schwankung ergibt sich gemäß Adorno entsprechend daraus, dass Kant einerseits «noch in der reinen Form der Erkenntnis, der Einheit des Ich denke, auf der Stufe der Reproduktion in der Einbildungskraft, Erinnerung, die Spur des Geschicht‐ lichen gewahrte»; 117 Kant selbst weist diesen Satz an entscheidender Stelle als einen empirischen Satz aus. 118 Hiermit ist das Für-jede-Erfahrung-gelten- Können des ‹Ich denke› gemeint. 119 Andererseits aber lässt sich der transzen‐ 188 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="189"?> 120 Adorno macht zum Ende der 18. Vorlesung zu Kants «Kritik der reinen Vernunft» die erstaunliche Bemerkung, dass Kants Einsicht in die Leere formaler Subjektivität und das korrespondierende Spannungsverhältnis zur Fülle des Individuellen bei Marcel Proust und Gottfried Benn «eingeholt worden» und zum Ausdruck gekommen sei. Gottfried Benns «Konstruktionen» wären, wie die Romane Prousts, eine Artikulation von Nichtidentität innerhalb der Sphäre des Ichs: «Diese sehr avancierten Dinge», sagt Adorno, «sind in der Kritik der reinen Vernunft alle schon enthalten, - wie ich denn überhaupt mir die Bemerkung nicht versagen möchte, daß die Großartigkeit der Kritik der reinen Vernunft nicht zum letzten darin sich bewährt, daß eine ganze Reihe ihrer spekulativen Sätze, derjenigen ihrer Sätze, die zu ihrer Zeit als überaus exponiert und kaum recht verständlich gegolten haben, daß die unterdessen sogar sei es von der Einzelwissenschaft oder von der Reflexion in den bedeutenden Kunstwerken - beides ist ja heute hoffnungslos auseinandergetreten - doch eingeholt worden sind.» Adorno, NaS IV 4, S. 304. Mit Benn zu reden wäre die transzendentale Sphäre also beides zugleich - «niemals und immer». Vgl. das Ende von «Palau», Gottfried Benn, Sämtliche Gedichte, Stuttgart 1998, S. 59. Der geschichtsphilosophische Zusammenhang, in den die Sphäre des Transzendentalen bei Adorno eingespannt ist, bewirkt allerdings, dass Benns Aporie von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit nicht zu einer überzeitlichen Formel erstarrt, sondern nur der negativen Darstellung des Bestehenden dient. Zum Problem der Zeit bei Adorno, vgl. in dieser Arbeit Abschnitt C/ 1. 121 Adorno, NaS IV 4, S. 48. Carl Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus, S.-88 bemerkt hierzu kritisch: «Die Verknüpfung zweier Wahrheitsbegriffe, des erkenntniskritischen und des ontologischen, deren Differenz durch die Ausnutzung von Äquivokationen (Subjektivität, Objektivität) verdeckt wird, führt also zur Konstruktion des ‹Kraft‐ feldes›.» Der Vorwurf Brauns, wonach das Transzendentale zwischen Erkenntniskritik und Ontologie zweideutig eingespannt bleibt, ist, wie noch zu zeigen sein wird, der Sache der negativen Dialektik unfreiwillig völlig angemessen. dentallogische Gehalt des ‹Ich denke› als modale Notwendigkeit («muß […] können») begreifen und insofern jederzeit leicht vom Hier-und-Jetzt konkreter Erfahrungen in die Sphäre des Transzendentalen aufheben. Einerseits bleibt die reine Form der Erkenntnis also stets auf konkrete Erkenntnisvollzüge ange‐ wiesen, um als solche vergegenwärtigt werden zu können; andererseits aber ist die Transzendentalität dieser reinen Form an jener (transzendental-)logischen Notwendigkeit festzumachen, mit der sie sich auf den gegenständlichen Gehalt konkreter Erfahrungsvollzüge beziehen muss. Weder also darf die transzenden‐ tale Sphäre zeitlich sein, noch ist sie in metaphysischem Sinne als überzeitlich zu beanspruchen. Das moderne Ich gewinnt sein Selbstverständnis im Lichte dieses aporetischen Weder-noch. Für sich ‹ist› es diese Aporie. 120 Für Adorno ist die transzendentale Subjektivität daher «in Wirklichkeit ein Kraftfeld», das man auch «nur dann richtig versteht, wenn man die Kräfte versteht, die sich in einer solchen Philosophie aneinander abarbeiten». 121 Die Veranschaulichung dieser Kräfte am Transzendentalsubjekt zeigt deutlich genug: Der Raum, in‐ nerhalb dessen dieses Subjekt als ein Nicht-Allgemeines und Nicht-Einzelnes 2. Constituens und Constitutum (i): Transzendentale Subjektivität 189 <?page no="190"?> 122 Adorno verwendet die Begriffe ‹Logik› und ‹Erkenntnistheorie› stets als Synonyma. Explizit in NaS IV 1, S.-206ff. 123 Vgl. Axel Hutter, Rez. «Theodor W. Adorno: Kants ‹Kritik der reinen Vernunft›», in: Kant-Studien 90, 1999, S.-490-494, hier: 493. 124 Adorno, NaS IV 4, S.-262. 125 Ibidem, S.-261. anzusiedeln wäre, kann nur im Bereich zwischen den Disziplinen Logik (Er‐ kenntnistheorie) 122 und Psychologie liegen - mit Adornos Wort: im Zwischen‐ reich des Niemandslandes, das wir im nächsten Abschnitt (vgl. zumal C/ 3) erkunden wollen. Hier galt es zunächst nur, einen grundlegenden Gedanken der adornoschen Kantinterpretation an dem, was Hutter in seiner Rezension von Adornos Kantvorlesung «das dialektische Strukturverhältnis von empirischem Ich, absolutem Ich und Gesellschaft» genannt hat, zu veranschaulichen. 123 Adorno lobt Kant wiederholt dafür, dass er die Frage «tiefsinnig in der Schwebe gelassen habe», was Subjektivität letzten Endes ‹sei› - ob sie am Ich oder am ‹Wir› des Menschheitssubjekts oder nur am abstrakten Geltungsgrund unserer Urteile festzumachen ist. Statt das zuletzt erwähnte Kraftfeld stillzustellen, das sich aus der Ambivalenz der transzendentalen Sphäre zwischen seiner zeitlichen und seiner überzeitlichen Rückbindungen ergibt, zieht es das kantische Denken vor, die Aporie zu thematisieren, in die sich jede positive Überformung dieses Kraftfeldes unfreiwillig verstrickt. Erst in dieser Schwebe wird es Adorno möglich, im Transzendentalsubjekt einerseits «die verinnerlichte und hypostasierte Form der menschlichen Herrschaft über die Natur» 124 zu sehen, sich des endgültigen Urteils aber zu enthalten, «daß das Kantische Transzendentalsubjekt eigentlich die Gesellschaft sei». 125 Adorno lässt also die eigene Position zum Wesen trans‐ zendentaler Subjektivität trotz materialistischer Reflexionen offen. Darin wäre er als Transzendentalphilosoph anzuerkennen. Denn in den Augen Adornos hatte Kant vor Hegel die Dialektik von Constituens und Constitutum geltend gemacht, ohne diese Reflexionsstruktur mit einem Seienden zu verwechseln. Die Dialektik Adornos expliziert diese Dialektik dann als negative - gegen Hegel - im Modus der impliziten Aneignung der kantischen Konstitutionsproblematik. Die Kantkritik Adornos zielt folglich darauf, diese ganze Problematik aus der vermeintlich starren Konstitutionsanalyse herauszulösen, indem sie mit einer Theorie der Gesellschaft konfrontiert wird. Diese Gesellschaftstheorie aber führt bei Adorno keineswegs vom kritischen, will sagen: vom philosophischen Pfad ab. Es geht dem negativdialektischen Denken gerade um die spannungsvolle Einheit von beidem. 190 B. Einstimmung und Widerstreit <?page no="191"?> 1 Michael Nerurkar, Art. «Topik», in: Marcus Willaschek/ Jürgen Stolzenberg/ Georg Mohr (Hg.), Kant-Lexikon, Berlin/ Boston 2015, S.-2302-2306, hier: 2303. C. Das Innere und Äußere Das negativ-dialektische Reflexionsmodell ist bislang durch zwei Reflexions‐ begriffspaare spezifiziert worden. Nun soll unter dem Verhältnis von Innerem und Äußerem ein dritter Aspekt desselben ins Auge gefasst werden. Dieser Aspekt erweist sich als besonders wichtig für den vorliegenden Ansatz, da die Reflexion auf Inneres und Äußeres der Eigenbestimmtheit einer transzen‐ dentalen Topik (als einer anfänglichen «Zusammenstellung von logischen Orten» 1 und der anschließenden Verortung von Erkenntnisgehalten) genau entspricht. Die These lautet, dass Adornos negative Dialektik die transzen‐ dentale Topik der traditionellen Dialektik darstellt. Entsprechend ist das Negativwerden der Dialektik bei Adorno mit einer Neuverortung ihres Er‐ kenntnisanspruchs im Ganzen verbunden. Der vorliegende Abschnitt geht deshalb, um diese Neuverortung am Inhalt nachzuvollziehen, von neuem der Frage nach, zu welcher Anwendung der Reflexionsbegriffe uns die Idee negativer Dialektik anhält. Vorab lassen sich einige Grundzüge dieser Idee kennzeichnen. Als Erstes ist festzuhalten, dass sich die negativ-dialektische Reflexion - auch wo sie die Welt reflexiv dem Gedanken verinnerlichen möchte (alle Reflexion verfährt verinnerlichend) - von Beginn weg entschieden gegen das Abschlusshafte und in sich Geschlossene richtet. Das Attribut ‹negativ› zeigt an: Die dialektische Reflexion darf sich nicht in der Verinnerlichung ihres In‐ halts erschöpfen; es geht vielmehr um den Vorstoß nach draußen. Gleichzeitig aber bedeutet diese methodische Aversion gegen Innerlichkeit nicht, dass die negative Dialektik jede Art von ‹Abschlussgedanken› ablehnt. Vielmehr gehört die Entfaltung des Paradoxons zum Programm, sich in Abschluss‐ gedanken gegen den Abschluss des begrifflichen Wissens zu richten. Der Zweck der Verinnerlichung besteht hier a priori im Aus- und Durchbruch des <?page no="192"?> 2 Folgen wir Adorno, hatte Hölderlin zwei Lieblingswörter. In Parataxis wird zunächst der «Äther» genannt, etwas später dann «das Offene» - vgl. Adorno, GS 11, S.-447- 491, hier: 464 und 488. Beide Motive treten zusammen als Motive der Selbstreflexion des Naturhaften im Geist - gleichsam als Fluchtpunkte der dichterischen Selbstrefle‐ xion Hölderlins. Die Hölderlindeutung Adornos ist (wie jene Benjamins) als Kritik an der idealistischen Hölderlininterpretation (i.e. die George-Kreis-Linie und die davon inspirierte Heidegger-Linie der Interpretation) zu lesen. Dass George und Heidegger ihre Interpretationen niemals selbst als idealistisch verstanden hätten, ändert gemäß Adornos Idealismusverständnis gar nichts daran, dass diese dem Idealismus verfallen, sondern bestätigt den Befund. Denn für Adorno gilt: Man kann, wie Heidegger es war, Idealist wider Willen sein. Und zwar genau dann, wenn sich der Drang ins Offene ins Gegenteil verkehrt und das Offene zum Wesenszug einer Innerlichkeit (z.-B. zur Transzendenz des Daseins) depotenziert wird. 3 Vgl. Adorno, GS 6, S.-381. 4 Martin Jay, The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research 1923-1950, Berkeley/ Los Angeles/ London 1996, S. 41. Dies betrifft das historische Selbstverständnis der kritischen Theorie insgesamt. Für Jay beschreibt der historische Übergang vom Linkshegelianismus zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule des 20. Jahrhunderts eine thematische Blickverschiebung - weg von einer rein immanent verfahrenden Kritik hin zu einer kritischen Theorie mit Transzendenzbezug. Die Aversion gegen die geschlossene Immanenz ist damit keine Idiosynkrasie Adornos, sondern eine geschichtlich notwendig gewordene Selbstbesinnung der Philosophie angesichts ihrer Stellung zur Geschichte. Die neue Notwendigkeit, auf den Transzen‐ denzbezug der Theorie zu reflektieren, damit immanente Kritik überhaupt gelingen kann, lasse sich aus der vollzogenen gesellschaftlichen Integration des Proletariats herleiten: «Thus, it might be said of the first generation of critical theorists in the 1840’s that theirs was an ‹immanent› critique of society based on the existence of a real historical ‹subject›. By the time of its renaissance in the twentieth century, Critical Theory was being increasingly forced into a position of ‹transcendence› by the withering away of the revolutionary working class.» Martin Jay, The Dialectical Imagination, S.-43. Denkens nach draußen. Negative Dialektik zielt, um mit Adorno bzw. «mit Hölderlins Lieblingswort» 2 zu reden, dem Wesen nach ins «Offene». 3 Dazu muss sich diese Dialektik gegen die Dialektik selbst wenden - d. h., es muss sich gegen das eigene Streben reflexiver Verinnerlichung richten. Gemäß Martin Jay ist bereits die frühe kritische Theorie durch eine Aversion gegen jede geschlossene Form von philosophischem Denken gekennzeichnet: «At the very heart of Critical Theory was an aversion to closed philosophical systems.» 4 Hinter dieser Aversion steht eine grundlegende Einsicht, die sich mit Hilfe des vorliegenden Reflexionsbegriffspaars erfassen und artikulieren lässt; die Einsicht, dass, wer eine Innerlichkeit (des Ichs, des Denkens, des Begriffs, des Systems, der verwalteten Welt etc.) in der Theorie nicht mehr auf ein außerhalb des Bestehenden anzusiedelndes Anderes beziehen kann, von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe hintergangen wird, das Innere und das Äußere folglich 192 C. Das Innere und Äußere <?page no="193"?> 5 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 5 1972 [1. Auflage 1922], S.-835. 6 Adorno, GS 8, S. 280. Der Aphorismus von Lec figuriert auch als Titel einer 2003 zum Adorno-Jubiläum erschienenen Radiosendung von Rolf Wiggershaus. miteinander verwechselt. Eine Reflexion, die dieser Verwechslung anheimfällt, schließt das Bestehende gegenüber der Möglichkeit des ganz Anderen (das theoretische und praktische Thema der utopischen Kritik) ab. Betrachten wir zur Veranschaulichung dessen einmal den Gegenstandsbe‐ reich der späteren kritischen Theorie: die verwaltete Welt. Der Topos der verwalteten Welt knüpft zwar an Max Webers Modernitätsdiagnose an, wonach sich die Welt im Zeichen ihrer durchgängigen Rationalisierung und Funktio‐ nalisierung tatsächlich immer mehr zu einem Innenraum, zum «stahlharten Gehäuse der Hörigkeit» 5 zusammenschließt. Kein Neues kann in die entzauberte Moderne einbrechen, da sich jede Entzauberung als unumkehrbar erweist, die Moderne sich selbst daher als das bleibend Neue installiert hat. Als Gegenstand einer Kritik aber, die keine bloße Wiederverzauberung anstrebt, muss dieses Gehäuse durch einen Außenraum kontrastiert werden können. So wird das stahlharte Gehäuse bei Adorno gerade als geschlossener Innenraum zum Ge‐ genstand einer kritischen Erweiterung. Diese Erweiterung der verwalteten Welt durch die Theorie kann freilich nur erfolgen, wenn der als geschlossene Imma‐ nenz dargestellte Bereich in den Horizont der Selbstkritik der verinnerlichenden Bewegung des Begriffs gerückt ist. Als Gegenstand einer positiven Dialektik würde das Innere und Äußere der verwalteten Welt final dem Begriff verinner‐ licht. Die negativ-dialektische Reflexion dieses Innenraums aber erweitert die eigene Immanenz durch ein transzendentales Äußeres - durch dasjenige, was noch die dialektische Selbstkritik als deren Voraussetzung transzendieren muss: das Nichtidentische. Adornos Aversion richtet sich daher sichtbar gegen jede Form selbstge‐ nügsamer Innerlichkeit. In diesem Sinn ist etwa die Wahl des Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec als Motto der Einleitung zum «Positivismusstreit der deutschen Soziologie» zu verstehen: «Sesam öffne dich - ich möchte hinaus! » 6 Draußen - das wäre eben derjenige Ort, wo die reflexive Verinnerlichung (im Sinne der reductio ad hominem) der Welt durch das identifizierende Denken keine Macht mehr hätte. Das Äußere bildet daher den Fluchtpunkt der Kritik am identifizierenden Denken - den Fluchtpunkt der verinnerlichenden Kritik des abschlusshaft Inneren. Das Bewusstseinsfremde, Äußere, gilt der topologi‐ schen Reflexion Adornos ‹lediglich› als Un-ort, als U-topie. Das Äußere erhält darüber seine negative Bestimmtheit als Reflexionsmoment. Das Äußere ist ja nur unter Ausschluss seines Gegenteils - des Inneren - überhaupt von C. Das Innere und Äußere 193 <?page no="194"?> 7 Vgl. Adornos Kommentar der «schönen Stelle» in Arnold Schönbergs II. Streichquartett op. 10, Entrückung aus dem betreffenden Rundfunkvortrag von 1965: «Es ist, mit den Textworten ‹Ich fühle luft von anderem planeten› [sic! ], etwas wie ein Manifest der ge‐ samten neuen Musik, und diese hat in ihrer bisherigen Geschichte jenes Manifest kaum eingehalten, sicherlich nicht überboten. Die Stelle ist von einer Originalität und Kraft des Gesichts, der gegenüber das Wort unerhört nach Hause kommt: etwas dergleichen ist nie zuvor gehört worden. Bis heute hat sich die Einleitung eine Gewalt erhalten, die in der Kunst nur dem eignet, was ganz unbetretene Schichten eröffnet und, mit der eigenen Realisierung, die Möglichkeit dessen vor Augen stellt, was erst zu realisieren wäre. […] Tritt das große cis des Cellos zur Endsilbe von ‹Planeten› hinzu, so hat das spekulative Ohr, physisch fast, das Gefühl, es wäre, über Abgründe hinweg, auf einen Boden gelangt, fern um Lichtjahre und doch der der sichersten Ankunft.» Adorno, GS 18, S.-718. Bestimmtheit. Entsprechend wird jede Darstellung des Äußeren nach einer reflexiven Kritik des Inneren verlangen; denn nur eine reflexive Kritik kann die negative Bestimmtheit des Äußeren zum Ausdruck bringen, ohne es der Immanenz der Reflexionszusammenhänge zu integrieren. Der Durchbruch der negativistischen Reflexion durch die Wände ihrer eigenen Immanenz und die Ankunft im Anderen wäre daher auch nicht deren Tod, sondern deren Vollendung; die «Luft von fremdem Planeten» wird, wie in der Neuen Musik, gerade zur Verdrängung der alten, angestauten hereingelassen. 7 Das Innere der verwalteten Welt wird im Zuge seiner negativen Reflexion zu einem unbestimmten Äußeren ins Verhältnis gesetzt. Halten wir für das Folgende vorerst fest: Adornos negative Dialektik bleibt darin zwar eine traditionelle Dialektik, dass sie selbst als utopische Kritik nicht unmittelbar auf das Äußere Bezug nehmen, sondern (z. B. gegen den Positivismus) die Vermitteltheit von allem einklagen muss. Die These, dass die verwaltete Welt ein geschlossenes Ganzes darstellt, ist der kritischen Theorie wesentlich. Aber: Auch diese scheinbar absolute Innerlichkeit bleibt nur das vermittelte Reflexionsmoment eines unbestimmten Äußeren. Als Kritik wird die Dialektik nämlich wach dafür, dass die Verinnerlichung des Äußeren durch Reflexion nicht unmittelbar der ewigen Natur der Sache, sondern der eigenen Begriffsarbeit und deren Verstrickung in das Bestehende geschuldet ist. Soll dieses Bestehende folglich nicht zur ewigen Notwendigkeit geadelt werden, gilt es, das Eingelassensein der Reflexion in das Bestehende (die Identität von Methode und Gegenstand der Reflexion) in den begrenzten Horizont der Kritik zu integrieren. Die negative Dialektik ist dieser kritische Sinnhorizont der Reflexion. Die Kritik der verwalteten Welt stellt ihrerseits eine dialektische Begriffsarbeit dar, die ihr eigenes Tun von dem, woran es sich betätigt, wieder zu unterscheiden gelernt hat. 194 C. Das Innere und Äußere <?page no="195"?> 8 Vgl. Rolf Tiedemanns editorische Nachbemerkung in Adorno, GS 1, S. 379-384, hier: 382. 9 Adorno, GS 2, S. 21. Vgl. dazu Asaf Angermann, Beschädigte Ironie. Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik kritischer Subjektivität, Berlin/ New York, 2013, S. 127-167; Lore Hühn/ Philipp Schwab, «Intermittenz und ästhetische Konstruktion: Kierkegaard», in: Richard Klein/ Johann Kreuzer/ Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno- Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, S.-325-334, hier: 331f. Dieser systematische Befund spiegelt sich in der Entwicklungsgeschichte Adornos. Die Aversion gegen Innerlichkeit prägt die adornosche Philosophie, noch bevor sie mit vollem Recht eine kritische Theorie genannt werden darf. Sie informiert die Art und Weise, wie sich Adorno mit der Philosophiegeschichte, zumal mit dem Problem des Idealismus und dem Anspruch einer Innerlichkeit des Denkens, auseinandersetzt; und zwar schon dort, wo sich sein Denken noch in den Bahnen seines neukantianischen Lehrers Hans Cornelius bewegt. Die pa‐ radoxe Ineinanderführung von Idealismus und Empirismus bei Cornelius nach‐ vollziehend, 8 gelangt der junge Adorno auf den Pfaden der Schulphilosophie dazu, die Widersprüche und Antinomien der idealistisch verinnerlichten Welt mit einem Außerhalb - der Gesellschaft - zu konfrontieren und zu vermitteln. Der Ausschluss dieses Außerhalbs aus der selbstgenügsamen Innerlichkeit des Denkens wird dabei von Adorno als konstitutive Bedingung dieser Innerlichkeit bestimmt. Adornos Frühwerk stellt insofern eine Art transzendentale Analytik idealistischer und nachidealistischer Konfigurationen der Innerlichkeit dar. Der junge Adorno deutet diese Konfigurationen als unterschiedliche Strategien, Externalitäten zu eliminieren. In dieser Hinsicht haben seine Dissertation und seine Habilitationsschriften einmal die Reflexionssphäre der husserlschen Phänomenologie, einmal Freuds Unbewusstes und einmal den «Fuchsbau der unendlich reflektierten Innerlichkeit» 9 bei Kierkegaard zum Thema. Diese Innenräume des Denkens (i.e. Freuds Unbewusstes, Husserls Bewusstsein, Kierkegaards Fuchsbau objektloser Innerlichkeit) werden von Adorno auf Stellen abgesucht, an denen sich die Grenze ihrer Innerlichkeit durchstoßen lässt. Solche Stellen werden angezeigt durch Argumente, die den Ausschluss einer bestimmten Äußerlichkeit zum Ziel haben. Entsprechend ist die spätere Engführung von Dialektik und Kritik in nuce bereits in den «schulphilosophi‐ schen» Früharbeiten Adornos angelegt; nämlich darin, dass diese frühen Unter‐ suchungen weder theoretische Bezüge auf eine objektlose Innerlichkeit noch auf eine subjektlose Äußerlichkeit darstellen, sondern ihr Selbstverständnis durch Reflexion auf das Verhältnis von Innerem und Äußerem ausbilden. Folglich ist beim jungen Adorno bereits evident, dass sich die später explizit C. Das Innere und Äußere 195 <?page no="196"?> 10 Das Ergebnis dieser Aneignung besteht bekanntlich darin, die absolute Gültigkeit der Kausalrelation für die Erfahrungsimmanenz bewiesen zu haben, insofern diese Relation als eine von drei Analogien der Erfahrung eine grundsätzliche Bedingung der Möglichkeit des urteilsförmigen Darstellens äußerer Gegenstände darstellt. werdende Intention seines Denkens auf das Äußere nur indirekt, durch Kritik der Innerlichkeit anderer Theorien, verinhaltlichen lässt. Dies trifft nun insbesondere auf die Auseinandersetzung mit Kant zu (zumal die Frühschriften alle indirekt eine Auseinandersetzung mit Kant beschreiben). Dass das dialektische Denken überhaupt aus dem Reflexionszusammenhang ausbrechen kann und nicht mehr traditionell (i.e. selbstgenügsam) zu sein braucht, hängt wesentlich am Nachweis, dass das Innere des theoretisierenden Bewusstseins mitsamt der systematischen Geschlossenheit seiner Systematik auf ein Äußeres verweist, das innerhalb des theoretischen Gefüges keinen Ort haben kann, ohne welches der Reflexionszusammenhang als solcher jedoch undenkbar wäre. In Abschnitt B/ 1 haben wir gesehen: Der Zweck der kritischen Dialektik ist dasjenige zum Ausdruck zu bringen, dessen Ausschluss aus dem System konstitutiv für die Systematizität des Systems ist. Adornos negative Dialektik wirft uns trotz Hegel und Marx noch einmal auf die erkenntnistheoretische Problematik zurück - die Frage, inwiefern das Begriffspaar des Inneren und Äußeren legitim als Inhaltsbestimmtheit in An‐ spruch zu nehmen ist, um das Verhältnis von Denken und Welt angemessen zu beschreiben. Damit beerbt Adorno, so die in diesem Abschnitt zu explizierende These, das kantische Thema vom Inneren und Äußeren. Dieses Thema gilt es in seinen Grundzügen zu erinnern, bevor wir zu Adorno zurückkehren. Das Begriffspaar Inneres und Äußeres leitet die Reflexion auf die Anwen‐ dungsmöglichkeiten der drei Relationskategorien (Substanz-Akzidenz, Grund- Folge, Gemeinschaft) an. Es steht daher an dritter Stelle in Kants System der Reflexionsbegriffe. Da sich überdies die drei metaphysischen Ideengehalte (Seele, Weltganzes, Gott) aus den Bestimmtheiten der Relationskategorien herleiten lassen, ist davon auszugehen, dass die Reflexion auf Inneres und Äußeres insgesamt eine tragende Rolle für die Transzendentalphilosophie einnimmt. Zum Beispiel stellt Kants transzendentalphilosophische Aneignung des Skeptizismus Humes mit Blick auf das Problem der Kausalität zweifellos eine solche Anwendung dar. 10 Von hier aus verästelt sich die Problematik dann über Hegel in die negative Dialektik Adornos: Einerseits in Gestalt der Frage, ob eine relationale Bestimmung das Innere der Dinge trifft oder diesen Dingen rein äußerlich bleibt; andererseits in Gestalt der Frage, ob der Gesamtzusammenhang aller Reflexionsverhältnisse (der Gegenstand der spekulativen Dialektik) einen 196 C. Das Innere und Äußere <?page no="197"?> absoluten (in sich geschlossenen) Innenraum bildet oder Andersheit noch denkbar ist. Die Problematik von Innerem und Äußerem, wie sie bei Kant (im Amphi‐ boliekapitel der Kritik der reinen Vernunft) aufbricht, besteht im Folgenden: Relationale Bestimmungen wie das Substanz-Akzidenz-Verhältnis, das Kausal‐ verhältnis oder das Verhältnis der Wechselwirkung bilden gemeinsam einen Funktionszusammenhang aus. Dieser Zusammenhang lässt sich angesichts seiner Regelhaftigkeit reflexiv rekonstruieren. Diese Rekonstruktion erlaubt uns aber aufgrund ebenderselben Regelhaftigkeit nicht, das Rekonstruierte als einen Zusammenhang von Dingen an sich in Anspruch zu nehmen. Bekanntlich zerbrechen sich die Rezensenten der Kritik seit den 1780ern den Kopf über dieses Dilemma. Wie kann es sein, dass die Kategorie der Kausalität zwar notwendig ist, das Innere der Dinge an sich jedoch nicht zu treffen vermag, sondern diesen äußerlich bleibt? Kants Antwort lautet: Paradoxerweise erweist sich die Relationskategorie der Kausalität darüber als den Dingen äußerlich, als sie uns nichts anderes übriglässt, als dasjenige, was außerhalb jeder relationalen Bezugnahme stünde, als das «Innere der Dinge» vorzustellen. Wir müssen das allen Relationen Äußerliche (das Ding an sich) mit Attributen versehen, die dem Kontext der Erfahrungsimmanenz entspringen, die sich als der Gegen‐ standsbereich erkennender Innerlichkeit begreifen lässt. Anders gesagt, wenn wir die notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, die Kausalität, als Bestimmtheit des Inneren der Dinge ansehen, dann projizieren wir die Innerlichkeit erkennender Subjektivität auf das Objekt der Erkenntnis und verfehlen es. Für Kant wird es deswegen keinen legitimen Anspruch auf das Außerhalb aller relationalen Bezüge geben, der dieses nicht indirekt, über die Negation des Inneren, in den Blick nehmen müsste: Die Bezugnahme auf das Äußere lässt sich überhaupt nur über das Kontrastverhältnis zu einem bestimmt-endlichen In‐ neren herstellen. So ist etwa die Selbstverortung der Vernunft im «unendlichen Ozean» des Scheins nur aufgrund des Wissens um die Grenzen des isolierten Landes des Verstandes möglich, nicht aber weil die Vernunft über den Atlas des Ganzen verfügte. Zugleich ist sich der Verstand seiner Grenzen nur als Grenzen bewusst, wenn die Eingrenzung des Inneren indirekt (durch Limitation) Bezug auf das Äußere nimmt. Insofern erfordert die Aufgabe, das Ding an sich durch die Vernunft zu begreifen, die vorangehende Selbstreflexion der endlichen Vernunft. Es ist für Kant allerdings absehbar, dass «diese Wissenschaft [i.e. die Kritik der reinen Vernunft, C.M.] nicht von großer abschreckender Weitläu‐ figkeit sein» dürfte; denn die Wissenschaft vom Ganzen ist sie als Kritik nur indirekt, «weil sie es nicht mit Objekten der Vernunft, deren Mannigfaltigkeit C. Das Innere und Äußere 197 <?page no="198"?> 11 Kant, KrV, B 23. 12 Vgl. zum Konzept der objektlosen Innerlichkeit Adorno, GS 2, S. 42-46. Adorno erkennt in der Leere der objektlosen Innerlichkeit den Anstoß zur Dialektik bei Kierkegaard: «Nur Trümmer des Seienden rettet Subjektivität im Bilde des konkreten Menschen. In ihren schmerzlichen Affekten trauert sie als objektlose Innerlichkeit wie den Dingen so dem ‹Sinn› nach. Die Bewegung, welche sie vollzieht, aus sich heraus und in sich den ‹Sinn› wiederzuerlangen, bedenkt Kierkegaard mit dem Terminus Dialektik.» 13 Kant, KrV, A 238/ B 297; Hervorhebung C.M. 14 Ibidem. unendlich ist, sondern es bloß mit sich selbst […] zu tun hat». Kurz, die Bestimmung des Umfangs und der Grenzen des auf das Unendliche und das Unbedingte zielenden Gemütsvermögens ist selber keine unendliche, sondern eine bewältigbare Aufgabe - «wenn sie [die kritische Vernunft, C.M.] zuvor ihr eigen Vermögen in Ansehung der Gegenstände, die ihr in der Erfahrung vorkommen mögen, vollständig» bestimmen kann, dann dürfte es der Kritik auch «leicht werden […], den Umfang und die Grenzen ihres über alle Erfah‐ rungsgrenzen versuchten Gebrauchs vollständig und sicher zu bestimmen». 11 Die sich ihrer Grenzen versichernde Vernunft lehrt uns also, zwischen dem, was ihrem Reflexionszusammenhang innerlich ist, und dem, was diesem äußerlich bleibt, zu unterscheiden. Sonst werden die Konfigurationen der Innerlichkeit, die uns die Philosophiegeschichte als Ansprüche auf ein Außerhalb verkaufen möchte, unweigerlich mit Bestimmungen des Seienden an sich verwechselt. Kants Kritik der traditionellen Ontologie ist die kurzzeitig aufflammende Kritik objektloser Innerlichkeit, bevor deren Dunkelheit das Reflexionssubjekt wieder ganz einhüllen sollte. 12 Kant versucht hierfür, mit seinem kritischen Reflexionsmodell die Grenzen dieser Innerlichkeit durch eine Selbstverortung im Ganzen zu ermitteln, das Ganze aber nur noch über diese zu intendieren. Konkret werden dabei die Grenzen des Verstandesgebrauchs a priori aufgezeigt, um zu entscheiden, «ob gewisse Fragen in seinem Horizonte liegen, oder nicht». 13 Die reflektierende Vernunft muss sich dabei innerhalb ihrer Grenzen verorten können - d. h., sie muss zwischen dem Inneren und Äußeren unterscheiden können, um die Veror‐ tung ihrer selbst vornehmen zu können. Sonst überformt sie das Äußere durch die eigene Innerlichkeit. Ohne eine solche Entscheidung über den rechtmäßigen Ort eines Erkenntnisgehalts - innen oder außen - ist das Denken eben «niemals seiner Ansprüche und seines Besitzes sicher». 14 Das Amphiboliekapitel der Kritik der reinen Vernunft stellt nun «die Leibni‐ zische Monadologie» als beispielhafte Verwechslung des Inneren und Äußeren 198 C. Das Innere und Äußere <?page no="199"?> 15 Ibidem, A 274ff./ B 330ff. 16 Ibidem, A 274/ B 330. 17 Ibidem. 18 Ibidem, A 277/ B 333. heraus. 15 Leibniz klammere die Rolle der Sinnlichkeit aus und verwechsle infolgedessen Bestimmtheiten der Verstandesimmanenz mit transzendenten Bestimmungen. Die Monadologie habe als Lehre «gar keinen anderen Grund, als daß dieser Philosoph den Unterschied des Inneren und Äußeren bloß im Verhältnis auf den Verstand vorstellte». 16 Offensichtlich möchte Kant gegen Leibniz geltend machen, was es nun bedeuten würde, demgegenüber «den Unterschied des Inneren und Äußeren» nicht «bloß im Verhältnis auf den Verstand», sondern auch auf die Sinnlichkeit zu beziehen. Kant setzt hierfür zur objektiven Komparation der bei der Monadologie in Frage stehenden Refle‐ xionsgehalte an. Das Konzept ‹objektive Komparation› bedeutet zu schauen, ob und inwiefern ein Reflexionsgehalt auch als objektiver Gehalt angesehen werden darf. Wie verhält sich hier der Begriff der Monade? Der Monadenbe‐ griff Leibniz’ ist nach Kant der Inbegriff für «Substanzen Überhaupt». Eine Monade - das wäre nach Kant das «Einfache», das Substanzielle der Dinge, das «von allen äußeren Verhältnissen, folglich auch der Zusammensetzung, frei ist». 17 Für Kant ist es nun widersprüchlich, die Monade als einen anschaulich vermittelbaren, objektiven Gehalt zu beanspruchen; denn die Substanzialität der Substanz ist gemäß der ersten Relationskategorie gerade keine nichtrelationale Bestimmung. «Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens)» stellen für sich genommen wechselseitig bestimmte Momente des kategorialen Relations‐ gefüges dar, bilden in ihrer Zusammenstellung aber immer ein Verhältnis. Aus der relationalen Anbindung der Substanz an das Denken folgt deshalb: keine Substanz ohne Akzidenzien und umgekehrt. Eine Substanz ist demnach auch kein «Schlechthin-Innerliches», sondern der Inbegriff eines «Komparativ- Innerliche[n], das selbst wiederum aus äußeren Verhältnissen besteht». 18 Das, was «von allen äußeren Verhältnissen, folglich auch der Zusammensetzung, frei ist», lässt sich daher nicht ohne Widerspruch anhand einer Relationskategorie identifizieren. Diesen Widerspruch hält Kant der Leibniz-Wolffianischen Schul‐ metaphysik vor Augen. Die logische Rede von einem Einfachen ‹an sich›, das von allen äußeren Verhältnissen frei wäre, hypostasiert nur das veräußerlichte Reflexionsmoment objektloser Innerlichkeit: Das Einfache ist also die Grundlage des Inneren der Dinge an sich selbst. Das Innere aber ihres Zustandes kann auch nicht in Ort, Gestalt, Berührung oder Bewegung (welche Bestimmungen alle äußere Verhältnisse sind) bestehen, und wir können daher C. Das Innere und Äußere 199 <?page no="200"?> 19 Ibidem, A 274/ B 330. 20 Kant, KrV, A 274/ B 330. 21 Vgl. John McDowell, Mind and World, Cambridge 1996, S.-11, 18, 42, 50, 66. 22 Kant, KrV, A 27/ B 43. den Substanzen keinen andern innern Zustand, als denjenigen, wodurch wir unsern Sinn selbst innerlich bestimmen, nämlich den Zustand der Vorstellungen, beilegen. 19 Das Einfache der Substanz ist folglich nur unter Ausschluss des Verhältnisses seiner wechselnden Akzidenzien und damit nur als reine Innerlichkeit über‐ haupt vorstellbar. So wurden denn die Monaden fertig, welche den Grundstoff des ganzen Universum ausmachen sollen, deren tätige Kraft aber nur in Vorstellungen besteht, wodurch sie eigentlich bloß in sich selbst wirksam sind. 20 Das Problem des frictionless spinning in a void 21 war offensichtlich schon Kant als Problem bewusst. Da nämlich das Freisein von allen äußeren Verhältnissen bedeutet, als Relat in keiner Relation mit etwas außer sich zu stehen und also losgelöst von allem Äußeren in sich sein, stellt der Monadenbegriff als solcher das Resultat einer Verinnerlichung phänomenaler Gehalte durch ein Erkennt‐ nissubjekt dar und setzt diese Abstraktionshandlung immer schon voraus. Die Bedingung der Möglichkeit von Monadologie als solcher besteht also darin, Re‐ late äußerlicher Relationen wie «Ort, Gestalt, Berührung oder Bewegung» so zu interpretieren und darzustellen, als ob die Relationalität etwas den Relaten (und nicht: der Relation als solcher) objektiv Innerliches wäre. Fensterlosigkeit und Harmonie des Ganzen sind folglich Wechselbestimmungen; beide entspringen der Reflexion auf die Grundrelation Inneres-Äußeres. Und weil so die Relati‐ onsbegriffe notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind, lässt sich von dem Abstraktionsprodukt, das diese Bedingungen ausklammert, nicht mehr widerspruchsfrei behaupten, es selbst sei objektiv bestimmbar. Die Monade verlöre als objektive Bestimmung der Substanzialität der Substanz ihren einzigen Bestimmungsgrund - die Relationalität des subjektiven, urteils‐ förmigen Erfahrungszusammenhangs. Die Monadologie stellt für Kant daher keinen objektiven Gehalt in positivem Sinne dar, sondern den Ausschluss ihrer Ermöglichungsgrundlage. Hinter dieser kantischen Diagnose steckt wieder die Grundoperation der Kritik: «Wenn wir die Einschränkung eines Urteils zum Begriff des Subjekts hinzufügen, so gilt das Urteil alsdann unbedingt.» 22 Die Unbedingtheit der Monade erwächst der Verwechslung einer transzendentalen Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung mit einem Erfahrungsgehalt. Kants Grundoperation der Kritik tritt in Kraft, um die Unbedingtheit der Monade als 200 C. Das Innere und Äußere <?page no="201"?> 23 Ibidem, A 277/ B 333. objektlose Innerlichkeit zu entlarven; als die unbotmäßige Ausklammerung der Angewiesenheit sinnlicher Erkenntnis auf die Substanzrelation. Die Monade ist daher nur das Produkt eines unendlichen Urteils mit objektivem Anspruch auf das, was, nach allen Regeln der Kritik, ein Nichts im Sinne eines ens imaginarium darstellt. Positiv gefasst artikuliert Kants Monadologiekritik aber eine kritische Dia‐ lektik von Innerem und Äußerem, die als Prüfung des Anspruchs, das Innere der Dinge sei mit dem Inneren der Erfahrungsstruktur verwandt, beginnt und darin terminiert, die darauf beruhende Erkenntnisleistung als Projektion des Inneren auf ein unbekanntes Äußeres nachzuvollziehen. Das Äußere der Reflexion ist hier offenbar ein Äußeres nur, weil es nicht das Innere ist. Das Innere erweist sich als beschränkt. Erkenne ich in dieser Beschränktheit das Negationsver‐ hältnis nicht, erkenne ich gar nichts; ich verwechsle nur die Innerlichkeit des Denkens mit jener der Dinge. Für Kant ist das Konzept des Inneren der Dinge entsprechend «eine bloße Grille». 23 Weil sich nämlich die sinnlich verbürgte Erscheinungswelt nur als äußerliche, d. i. durch relationale Bezüge (als durch die Kategorien der Relation konstituierte Welt) erschließen lässt, bleibt dem Inneren des Denkens das Innere der Dinge - so wie es bar aller äußerlichen Relationen (etwa kraft einer intellektuellen Anschauung) zu konzipieren wäre - immer äußerlich. Und die Innerlichkeit der Relationskategorien liefert umgekehrt den Beweis, dass die relational verbürgte Erscheinungswelt lediglich eine äußerliche Bezugnahme auf die Dinge an sich selbst betrachtet ermöglicht. Insofern ist die Dialektik von Innerem und Äußerem, wenn man das so nennen darf, als solche der Grund zur Kritik an all jenen Erkenntnisansprüchen, die die Vermitt‐ lungsmomente dieser Dialektik spekulativ beanspruchen. Reflexion als Modus positiver Erkenntnis müsste nicht mehr von der Reziprozität von Innerem und Äußerem Gebrauch machen, um das Innere als Inneres zu erkennen - dann hätte aber auch die Rede von einem Inneren der Dinge gar keinen Sinn. Also offenbart die reflektierende Kritik ihre ursprüngliche Rolle als Grundlage der spekulativen Relevanz dieser Verhältnisse; sie sagt: Ihr - Leibnizianer und Wolffianer - beansprucht, das Innere der Dinge positiv zu begreifen - beansprucht damit aber nur ein Moment der Reflexion auf unser Nichtwissen. Im geschichtlichen Horizont der negativen Dialektik bildet der Anhang der «Transzendentalen Analytik», das Amphiboliekapitel, keine bloße Neben‐ sache, sondern nimmt den Artikulationsmodus vorweg, um Reflexionsverhält‐ nisse zur Darstellung zu bringen, ohne sie mit ontologischen Bestimmungen zu verwechseln. So wird das Innere der Dinge im Rahmen der Kritik als eine C. Das Innere und Äußere 201 <?page no="202"?> 24 Hegel, TWA 6, S.-573. 25 Vgl. Adorno, GS 6, S. 38: «Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die der Negation.» negative Grenzfigur in Stellung gebracht, um die vermeintlich synthetische Erkenntnis der Dogmatisten beider Lager als Tautologien objektloser Innerlich‐ keit zu demaskieren. Kant zeigt idealtypisch auf, dass dasjenige, was wir im Innern der Dinge verorten, nichts als äußerliche Verhältnisse, die äußerlichen Verhältnisse aber nichts als die projizierte Innerlichkeit erkennender Subjekti‐ vität darstellt. Nicht zufällig sind die nachkantischen Dialektik-Konzeptionen als Ant‐ worten auf die Frage zu lesen, was innerhalb und was außerhalb des begrifflichen Vermittlungszusammenhangs der Philosophie liegt. Und es wäre kein unfrucht‐ barer Zugang zum Konzept des absoluten Idealismus, diesen als umfassende Verinnerlichung dessen auszulegen, was im Zuge der kantischen Reflexion zur transzendentalen Äußerlichkeit erklärt wird. Die hegelsche Dialektik etwa wäre ohne den Nachweis der durchgängigen Vermitteltheit des Inneren der Dinge durch die äußerlichen Begriffsverhältnisse gar nicht zu denken. Auch dort scheint nämlich, analog zu Leibniz, die Evidenz, dass gar nichts im Himmel wie auf Erden unvermittelt ist, die Rechtsgrundlage einer spekulativen Reflexion zu sein, die glaubt, durch die Rückwendung auf das Innere das Äußere mitumfassen zu können. Diese Art der alles verinnerlichenden Reflexion fordert, kein Außerhalb mehr zu dulden, das seine Bestimmtheit nicht sogleich als sein Außerhalb erlangte. Mit der Projektion der reflexiven Bestimmtheit des Äußeren auf äußere Verhältnisse wendet die spekulative Ausdeutung die konstitutive Äußerlichkeit relationaler Bezüge vom Grund zur Selbstkritik gegen Kant ins Positive: Die spekulative Reflexion Hegels zielt darauf ab, das einmal vernünftig für äußerlich Befundene dem Denken durch dialektische Vermittlung wieder zu verinnerlichen. Paradoxerweise also wendet sich der kantische Grund zur Kritik an der Monadologie bei Hegel in eine vermeintliche Rechtsgrundlage, im substanzialen Begriff die «absolute Einheit des Seyns und der Reflexion» in Anspruch zu nehmen. So erblickt der absolute Idealismus in der integralen Idee letztlich den Ermächtigungsgrund für das Denken, um die «absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität» 24 einzusehen. Und nur kraft der Einsicht in die Identitätsrelation zwischen reinem Begriff und Realität kann der Idealismus am Ende alles in das Korsett relationaler Erkenntnisbezüge zwängen. Da Adorno, wie gesagt, den Ausbruch aus dem stahlharten Gehäuse plant, lässt er die Reflexionsmodelle Kants und Hegels aufeinanderprallen, um ausge‐ rechnet die absolute Immanenz aller möglichen Reflexionsverhältnisse (den Skopus der spekulativen Logik) durch dialektische Negation ‹aufzusprengen›. 25 202 C. Das Innere und Äußere <?page no="203"?> 26 Das betrifft etwa das dialektische Verhältnis der Reflexion zum Nichtidentischen. Das Nichtidentische liegt zwar entschieden außerhalb der Denkimmanenz, dessen entzo‐ gene ‹Innerlichkeit› aber wird gleichzeitig als das Produkt einer ihm aufgezwungenen Äußerlichkeit interpretiert - vgl. Adorno, GS 6, S. 163: «Das Innere des Nichtidenti‐ schen ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist und was seine veranstaltete, eingefrorene Identität mit sich ihm vorenthält. Zu sich gelangt [das Nichtidentische] erst in seiner Entäußerung, nicht in seiner Verhärtung; das noch ist Hegel abzulernen, ohne Zugeständnis an die repressiven Momente seiner Entäußerungslehre.» 27 Adorno, NaS IV 11, S.-299. Adorno möchte auf der einen Seite mit Hegel gegen Kant zeigen, dass die Reflexionsverhältnisse - trotz ihrer Verinnerlichung durch die reflektierende Subjektivität - auf ein Äußeres verweisen, das den Horizont der bloß reflek‐ tierenden Subjektivität übersteigt. Damit versucht Adornos Dialektik, gegen Kants endgültige Kritik aller Ansprüche, das Innere der Dinge einzusehen, aufzubegehren. 26 Auf der anderen Seite aber gilt es, mit Kant gegen den dialektisch erweiterten Reflexionshorizont kritisch auf einem den dialektischen Vermittlungen äußer‐ lich Bleibenden zu beharren. Die negativ-dialektische Reflexion versucht also, die spekulative Relevanz der reflexiven Kritik zu retten; dazu muss sie zuerst aber wieder zwischen dem, was den Reflexionsverhältnissen innerlich ist, und dem, was diesen äußerlich bleibt, unterscheiden lernen. Am Ende dieser Anverwandlung der eigenen Problemgeschichte steht die reflexive Einsicht, dass dasjenige, was eine notwendige Bedingung der Mög‐ lichkeit begrifflicher Identifikation darstellt - eben das Nichtidentische und Nichtbegriffliche -, kraft seiner negativen Gestalt mit ebenderselben ‹Notwen‐ digkeit› aus der Sphäre der logischen Allgemeinheit des Begriffs herausfallen musste und dass sich diese Logik der Verinnerlichung und Veräußerlichung auch auf die identifizierenden Vollzüge der spekulativen Dialektik überträgt. Die Frage, wie sich das Nichtidentische thematisieren lässt, wird dadurch eins mit der Frage, wie der Herausfall des Nichtidentischen aus der Sphäre des Begriffs angemessen zu thematisieren ist. Die Antwort der Dialektik lautet: als Widerspruch. Denn: «Der Widerspruch ist der Begriff des Nichtidentischen, das als Nichtidentisches gerade unbegrifflich [dem Begriff also äußerlich, C.M.] ist.» 27 Entsprechend versucht Adorno, mit dem Begriff des Nichtidentischen jenen Gehalt der Sphäre des identifizierenden Begriffs zu integrieren, dessen einziger Sinn darin besteht, dasjenige, was dieser Innerlichkeit ewig äußerlich bleibt, zur Geltung zu bringen. Der Zugriff des verinnerlichenden Denkens auf ein nicht zu verinnerlichendes Außerhalb kann folglich nur über den Weg der bestimmten Negation des Inneren erfolgen. Denn sobald der Begriff des Nichtbegrifflichen kritiklos auf das Besondere außerhalb seiner begrifflichen C. Das Innere und Äußere 203 <?page no="204"?> 28 Adorno, GS 6, S.-21; Hervorhebungen C.M. 29 Der Kantische Block gehört zu den wenigen Gehalten, die im Zuge der Auseinander‐ setzung mit Adornos Kantinterpretation diskursbildend wirkte. Vgl. Frederic Jameson, Late Marxism. Adorno, or, The Persistence of the Dialectic, London 1990, S. 117-120; Roger Foster, Adorno: The Recovery of Experience, Albany 2007, S. 53ff.; Ben Ware, Dialectic of the Ladder: Wittgenstein, the ‹Tractatus› and Modernism, London/ New York 2015, S. 97-101; Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 392-397; Stefano Marino, «Adorno über Kant und das Verhältnis von Ästhetik und Metaphysik», S. 77-82; Glenn Stewart, «‹Something to do with dust›: the Kantian ‹block› in That Time», in: Samuel Beckett Today - Aujourd’hui, 29/ 1, 2017, S.-199-210; Damian Gerber, The Distortion of Nature’s Image: Reification and the Ecological Crisis, Albany 2019, S. 30ff. Die Mehrheit der Kommentare scheint im Block allerdings nur ein Element der Kantexegese ohne systematische Bedeutung für die negative Dialektik zu sehen. Würde man aber Adornos Gedanken der großartigen (d. h. nichtamphibolischen) Gestalt ‹angewandt› wird, würde dieses ja nur wieder unter einen identifizie‐ renden Begriff subsumiert und weiter von uns gestoßen werden. Die spekulative Dialektik von Annäherung und Entfernung muss - im Unterschied zu Hegel - zur Besinnung auf unser Verinnerlichungstun anhalten. Und in der Tat: Bei Adorno offenbart das Integral des Begriffszusammenhangs von Innerem und Äußerem, das noch das Nichtbegriffliche begrifflich durch Negation zu umfassen meint, ausgerechnet die Beschränktheit des begrifflichen Zugriffs auf das Äußere. Die Reflexion der Reflexion erfolgt hier nach kantischem, nicht nach hegelschem Vorbild; d. h., sie erfolgt als Einschränkung unseres spekulativen Zugriffs auf das nichtidentische Innere der Dinge. Dieser Zugriff bleibt im Gefüge desjenigen Reflexionszusammenhangs, aus dem auszubrechen noch das Ziel ist, notwendig eine Utopie. Die Verinnerlichung, die alle Reflexion vollzieht, beschreibt vorerst nur im Irrealis einen Zugang zum Inneren der Dinge. «Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.» 28 Das negativ-dialektische Reflexionsmodell wird im Folgenden nun im Lichte der kantischen Problematik von Innerem und Äußerem ausgelegt. Das Vorgehen gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil dreht sich um den Topos des Kantischen Blocks (C/ 1), der zweite um Adornos Konzept metaphysischer Erfahrung (C/ 2), während der dritte Teil Adornos Topos des Niemandslandes untersuchen soll (C/ 3). 1. Der Kantische Block Der «Kantische Block» ist ein zentraler Topos der Kantinterpretation Adornos und verdient daher einige Aufmerksamkeit im Rahmen dieser Untersuchung. 29 204 C. Das Innere und Äußere <?page no="205"?> Zweideutigkeit Kants in die Adornoforschung und die Kantforschung einbringen, dann wäre auch eine systematisch orientierte Diskussion der Funktion des Blocks möglich. Dieser Abschnitt versteht sich als Aufschlag zu dieser Diskussion. 30 Adorno, GS 6, S. 378. Auch wenn sich die Rede vom Block bei Adorno meist dem Kontext der Kantexegese zuordnen lässt und insofern die Rede vom «Kantischen Block» angemessen ist, ist im Werk Adornos bisweilen auch eine von Kant losgelöste, problemorientierte Verwendung des Motivs auszumachen. Die Herkunft des Bildes eines Blocks aus einem Aphorismus Kafkas soll in Abschnitt a) Thema sein. Daneben findet sich der Block auch in Bemerkungen zu Hegel und den nachkantischen Idealisten bis Husserl. Der Block bei Adorno tritt erstmals 1957 in der Metakritik der Erkenntnis‐ theorie (vgl. ders., GS 5, S. 38) in Erscheinung. Eine profilierte Verwendung findet sich dann in den ersten beiden der drei Hegelstudien Aspekte und Erfahrungsgehalt (vgl. ibidem, S. 255, 286, 323 f.). Das Argument der Negativen Dialektik von 1966 (vgl. ders., GS 6, S. 186, 293, 378-382) liegt bereits 1959 ausgereift vor - zumal in der 2. und der 16. Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» (vgl. ders., NaS IV 4, S. 34f., 263-273). Verwendungen des Motivs, die sich deutlich von der Funktion als Kant- Kommentar loszulösen scheinen, finden sich etwa in Zu Subjekt und Objekt (ders., GS 10.2, S. 741-768, hier: 753 ff.) oder auch in den «Paralipomena» der Ästhetischen Theorie (ders., GS 7, S. 428). Im Folgenden wird auf alle genannten Quellen zurückgegriffen, wobei die Kantvorlesung und die Negative Dialektik im Vordergrund stehen werden. 31 Adorno, GS 6, S.-145. Der Topos dient Adorno zunächst als Inbegriff für Kants «Theorie der Grenzen möglicher positiver Erkenntnis». 30 Durchaus wörtlich zu verstehen, soll damit die ‹blockierende› Wirkung der Kritik auf das Denken zur Schau gestellt werden. Adorno erweist sich darin als treuer Hegelianer, dass er die von Kant errichtete Barriere einreißen und zum Inneren der Dinge vorstoßen möchte. Zugleich wird der Block von Adorno gegen Hegel und die nachkantischen Idealisten in Stellung gebracht. Adorno setzt das Motiv des Blocks als limitative Funktion ein, um die positive Dialektik zu kritisieren und auf das Thema des Nichtidentischen auszurichten. Im Zuge dieser Stellung zwischen Kant und Hegel nimmt der Topos des Blocks eine aporetische Gestalt an. Dass diese Aporetik gewollt ist und eine bestimmte Funktion im negativ-dialektischen Reflexionsmodell erfüllt, soll im Folgenden gezeigt werden. Im Motiv des Kantischen Blocks lässt sich die Anverwandlung eines prob‐ lemgeschichtlichen zu einem Systemgehalt der negativen Dialektik konkret nachvollziehen. Die These lautet, dass der anverwandelte Sachgehalt in seiner Zweideutigkeit als kritische und spekulative Funktion unverzichtbar ist, um die Idee einer negativen Dialektik in «Differenz von Hegel» 31 zu konturieren. Als eigenständiges Motiv des adornoschen Denkens versinnbildlicht der Kanti‐ sche Block die programmatische Engführung von Kritik und Spekulation: Der Kantische Block erweist sich als Geltungsgrundlage der Bezugnahme auf das Nichtidentische. 1. Der Kantische Block 205 <?page no="206"?> 32 Adorno, NaS IV, S.-4, 34. 33 Vgl. ibidem, S.-374-377. 34 Ibidem, 376. 35 Der «Vorwurf der Repressivität» hat eine praktische Dimension (vgl. Abschnitt B/ 3), die Carl Braun als der Sache des Kritizismus «vollends inadäquat» herausstellen möchte - vgl. Carl Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus, S. 130ff., hier: 139). Inwiefern der Repressionsvorwurf Adornos gerade nicht sein letztes Wort darstellt, sondern durch seine partielle Widerlegung im Kontext der Kantinterpretation und der damit einhergehenden Ambivalenz gerade die Idee negativer Dialektik konturiert, möchte ich in diesem Abschnitt zeigen. Die Inkonsistenz der adornoschen Kantinter‐ pretation aufdecken und dabei stehen zu bleiben heißt, ihre dialektische Pointe zu ignorieren. 36 Herbert Schnädelbach, «Grenzen der Vernunft? Über einen Topos kritischer Philoso‐ phie», in: Wolfram Hogrebe/ Joachim Bromand (Hg.), Grenzen und Grenzüberschrei‐ tungen (XIX. Deutscher Kongress für Philosophie), Berlin 2004, S.-283-295, hier: 293) Um diese Geltungsgrundlage freizulegen, muss Adornos Rede vom Block auf der einen Seite in den Chor der hegelschen und nachhegelschen Kantkritik einstimmen. In der Negativen Dialektik hebt Adorno hervor, dass das kanti‐ sche «Bewusstsein des Blocks» 32 in einen Defaitismus der Vernunft mündet. Dieser Defaitismus wird dann unter dem Titel «Kants Resignation» 33 zusam‐ mengefasst und kritisiert. Adornos Kantinterpretation scheint dabei in einer ablehnenden Kantkritik aufzugehen, etwa wenn die «repressive Seite des Kriti‐ zismus» 34 hervorgehoben und als willkürliche Selbstlimitierung der Vernunft kritisiert wird. 35 Insofern ist man zu Recht versucht, die ablehnende Haltung des Dialektikers Adorno gegenüber dem willkürlich errichteten Block als einen Beweis der ungebrochenen Treue zu Hegel anzusehen. Der Block wäre insofern nur ein weiteres Rudiment von Hegels spekulativ motivierter Kantkritik. Bei Schnädelbach etwa findet sich die exemplarische Bemerkung, der adornosche Topos des Blocks erliege der «Fehldeutung», das Ding an sich statt als Grenz‐ begriff als bloße «Schranke des Erkennens» zu lesen. Alles wie bei Hegel also? 36 Ja und nein. Auf der anderen Seite nämlich offenbart der Einsatz des Blocks bei Adorno rasch, dass die hegelianisierenden Deutungen des Kantischen Blocks verkürzt sind. Die von Hegel inspirierte Kantkritik bildet nur ein Moment einer komplexeren Dialektik. Diese Dialektik wird, einmal entfaltet, das adornosche Argument, trotz Übernahme der hegelschen Methode, am Ende entschieden dem grenzbegrifflichen Denken Kants annähern. So stellt der Block für Adorno nur bedingt eine willkürliche und zu revidie‐ rende Maßnahme dar. Adornos Kritik am Bewusstsein des Blocks impliziert nirgends, dass sie sich von jenem Mangel befreit hätte, der das Thema der kantischen Theorie von den Grenzen der Erkenntnis bildet. Im Gegenteil - das triumphierende dialektische Korrektiv Hegels wird bei Adorno wieder auf 206 C. Das Innere und Äußere <?page no="207"?> 37 Adorno, NaS IV 4, S.-117. 38 Ibidem, S.-335. das Problem des Blocks zurückgeworfen. Der Block steht dann für die «An‐ nahme eines nicht Aufgehenden, Nichtidentischen» - also dasjenige, was die spekulative Dialektik gerade nicht auf den Begriff bringen kann. Im Block gelange «die negative Seite der Aufklärung» zur Geltung, «die die Tiefe und das Großartige hat, daß sie den Hochmut der Vernunft, die sich selbst absolut setzt, gewissermaßen absolut bricht». 37 Der Block ist - als absolute Brechung des Absolutheitsanspruch der Vernunft - die kritische Erinnerung daran, dass die Vermittlung des Ganzen im Begriff des Ganzen final misslingt. Insofern ist der Block als ein zentraler Bestandteil des negativ-dialektischen Reflexionsmodells zu betrachten. Er verbürgt sowohl die kritische Wirksamkeit des Modells wie die spekulative Relevanz seines Gehalts: Das kritische Be‐ wusstsein ‹konzipiert› im Block das Ganze in einem «oberste[n] aporetische[n] Begriff», 38 der das Scheitern des eigenen Bestimmungsvollzugs (und sonst nichts) bedeutet. Diese Aporetik des Ganzen ist nicht bei Hegel präfiguriert. Ihre Darstellung muss auf den kantischen Topos des Blocks zurückgreifen, um die Differenz zwischen dem Absoluten und seinem Begriff überhaupt denken zu können, d. h. so denken zu können, dass die Differenz dem Denken nicht als ein identifizierbarer Gehalt zufällt. Kurzum, der Topos soll die Grundoperation der Kritik und ihre limitative Funktion aporetisch darstellen. Im Lichte dieser aporetischen Darstellung der Grenzen möglicher Erkenntnis beschreibt die dialektische Kritik wieder das Verhältnis einer endlichen Vernunft zu sich selbst. Der Block fungiert insofern - als Gehalt des Antisystems - sowohl als ein kantisches ‹Haltesignal› vor der Transzendenz als auch als Grund zur negativen Erweiterung der durch ihn eingeschlossenen Immanenz. Doch der Reihe nach. Zunächst gilt es, am Motiv des Blocks den Schritt von der bloßen Kantexegese zur anverwandelten Gestalt als antisystematischer Funktion nachzuvollziehen. Das Vorgehen gliedert sich in drei Teile. Diese drei Teile sollen Adornos Verfahrensweise in Auseinandersetzung mit der «Lehre vom Block» widerspiegeln und als das Geschehen der negativ-dialektischen Grenzbestimmung rekonstruieren. Dazu musste Adorno (C/ 1a) die grenzsetzende Intention der kantischen Phi‐ losophie, dann (C/ 1b) den Erfahrungsgehalt der Kritik und schließlich - über den Weg einer dialektischen Identifikation der erkenntniskritischen Intention mit dem Erfahrungsgehalt - (C/ 1c) den negativen Transzendenzbezug der Kritik in einer analogisch verfahrenden Metaphysik des Blocks herausstellen. Adornos Verwendung dieses Motivs zielt final darauf ab, (contra Hegel) zu 1. Der Kantische Block 207 <?page no="208"?> 39 Adorno, GS 6, S.-381. 40 Vgl. ibidem, S.-364 und passim. 41 Pinkard vertritt in seiner jüngsten Charakterisierung der negativen Dialektik die Ansicht, diese bringe den kantischen Unterschied zwischen den kontingenten Limi‐ tiertheiten unseres Wissens und dessen absoluten Grenzen zur Geltung. «Part of what fuels Adorno’s interest, as we might put it, is in distinguishing the limits of thought from the limitations of thought […]. The limits of thought are those places in life where we stop making sense to ourselves. […] Limitations, on the other hand, express contingent barriers to thought.» Terry Pinkard, «What Is negative Dialectics? Adorno’s Reevaluation of Hegel», S.-459-472, hier: 460. Dem wäre im Namen der Idee einer grenzbegrifflichen Dialektik beizupflichten. Letztere entfaltet die Dynamik der Aufhebung kontingenter Limitierungen stets im Hinblick auf die finale Negation der Reichweite der Dialektik; der besagte Unterschied von limitations und limits trägt sich also tatsächlich in das Reflexionsmodell Adornos ein. zeigen, dass das kantische Bewusstsein der Grenze mehr intendiert als die abstrakte Negation des Erkenntnisvollzuges durch das willkürliche Errichten einer «Schranke vorm Absoluten». 39 Die offenbar werdende Zweideutigkeit des Blocks - der Umstand, dass Adorno einerseits zwar die inhibierende Wirkung der kantischen Grenzbestimmung herausstellt, andererseits mehr darin sieht als eine bloße Beschränkung - hilft Adorno, die Idee einer negativen Dialektik in ihrer metaphysischen Relevanz zu konturieren. Die dreischrittige Rekonstruktion soll zweitens (C/ 2) ermöglichen, Adornos vermeintlich anti-kantisches Konzept einer «metaphysischen Erfahrung» 40 als Linienverlängerung der kantischen Problematik zu begreifen. Zuletzt gilt es drittens (C/ 3), den Topos der Grenze auf Adornos These anzuwenden, dass der logische Raum, in welchem sich die gesamte Kritik der reinen Vernunft abspielt, das Niemandsland zwischen dem mundus intelligibilis und dem mundus sensibilis, d. h. den Skopus der Kritik. darstellt. Es wird zu zeigen sein, dass sich das adornosche Denken - entgegen der weitläufigen Meinung, dass diesem die Vermittlung mit materialen Gehalten allseits gelingt - selbst jederzeit ein solches Niemandsland zwischen dem logischen Bereich des Begriffs und dem alogischen Bereich des Nichtbegrifflichen intendieren muss. Das Ausschlussverhältnis zwischen Innerem und Äußerem bleibt Thema der grenzbegrifflichen Dialektik - gerade auch dort, wo sie sich an materialen Gehalten konkretisiert. Die Abgrenzung vom spekulativ-dialektischen Reflexi‐ onsmodell ist dem Gehalt des negativ-dialektischen Reflexionsmodells nicht nebensächlich. Im Gegenteil: Die Prinzipien der Dialektik nicht mit der ganzen Wirklichkeit zu verwechseln, sondern als Analytik des Falschen zu begründen, bezeichnet die unbedingte Forderung ihrer neuartigen Idee. 41 208 C. Das Innere und Äußere <?page no="209"?> 42 Kant, KrV, B 7. 43 Adorno, NaS IV, S.-4 und 34. 44 Adorno, GS 10.2, S.-753. a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention I. Kant hat sein kritisches Projekt als einmalige Maßnahme verstanden, mit dem Ziel, künftig jede affirmative Inanspruchnahme nichtsinnlicher Gehalte rechtskräftig zu unterbinden, sofern diese noch «ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft» 42 erfolgt sein wird. Erfolgt die Bezugnahme auf nichtsinnliche Gehalte hingegen innerhalb des Skopus der kritischen Selbstprüfung des Denkens, so vollzieht sie sich im Bewusstsein der Grenze ihrer Reichweite. Der Gedanke ist einfach: Nur im Bewusstsein der eigenen Reichweite kann dasjenige, was außerhalb derselben liegt, zu einer Bestimmtheit gelangen, die der Eigenbestimmtheit des Außerhalbs gerecht wird. In der Tat zeigt der transzendentale Idealismus - im Wissen um die jederzeit drohende Leere unserer Begriffe, Urteile und Schlüsse - die Grenzen des überhaupt positiv Beanspruchbaren auf. Um in der sinnbildlichen Rede Adornos zu verbleiben: Das «Bewusstsein des Blocks», 43 das Adorno Kant insgesamt zuschreibt, ist das Bewusstsein jener steinernen Schranke, an der sich das Reflexionssubjekt mit Kant «die Stirn eindenkt»; 44 und zwar sobald dieses Subjekt von den sowohl realisierenden als auch restringierenden Bedingungen der Anwendungsmöglichkeit der Kategorien absieht und das Innere der Dinge - sei es das Innere des Selbst, sei es das Innere der relational erschlossenen Erfahrungswelt - als nicht mehr relational bestimmten Gehalt, d. h. als ein Gehalt an sich, beansprucht. Das selbstreflexive Denken weiß bei Kant um seine Diskursivität daher als drohenden Mangel; d. h., es weiß, dass Begriffe ohne sinnliche Anschauung leer bleiben können und dass jede unreflektierte Affirma‐ tion nichtsinnlicher Gehalte leer bleiben wird. Reflexion heißt danach so viel wie des Blocks gewahr werden, der die positive Bezugnahme auf das Außersinnliche verwehrt. Der Block ist danach auch dann noch im Denken zugegen, wenn sich das Reflexionsgeschehen der Kritik zu vermeintlich positiven Gehaltsbe‐ stimmungen veräußerlicht. Systematisch relevante Gehalte, die innerhalb des Skopus der Kritik in Anspruch genommen werden, sind negative Gehalte. Werden diese affirmiert, dann im Zuge des Nachweises, dass und was sie gerade nicht sind. Am augenfälligsten dürfte die negative Reflexionsbestimmtheit der Erscheinungen sein. Indem die Kritik positiv sagt ‹x ist Erscheinung›, muss sie zugleich sagen ‹x ist nicht das Ding an sich›. Umgekehrt zu sagen, a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 209 <?page no="210"?> 45 Hegel, TWA 8, S. 144. Vgl. ders., TWA 5, S. 143: «Daß die Grenze, die am Etwas überhaupt ist, Schranke sei, muß es zugleich in sich selbst über sie hinausgehen, sich an ihm selbst auf sie als auf ein Nichtseiendes beziehen.» was das Ding an sich ist, würde bedeuten, den Block zu ignorieren, der sich unserem Bestimmungsvollzug in Gestalt des transzendentalen Unterschieds von Erscheinung und Ding an sich mit Notwendigkeit in den Weg stellt. Die rein affirmative Inanspruchnahme des Dings an sich durch Theorie wird im Bewusstsein des Blocks bestimmt verhindert, insofern im Block die Grenze als solche sinnbildlich ‹affirmiert› wird. II. Mit dem Bild des Blocks möchte Adorno das Ergebnis der Selbstreflexion diskursiven Denkens bei Kant zur Schau stellen. Dies dürfte zunächst zwar als unkontroverser Bestandteil seiner Kantinterpretation gelten. Adornos Kantin‐ terpretation ist freilich auch hier nicht zu trennen von seiner dialektischen Kantkritik. Die Rede von einer Repression durch die Erkenntniskritik begreift diese als Herrschaftsausübung und insofern als eine willkürliche Maßnahme. Damit ist die schiere Möglichkeit einer rein immanenten Grenzziehung grund‐ sätzlich hinterfragt. Dahinter steht der seit Hegel im Raum stehende Vorwurf an Kant, die Grenze des diskursiven Wissens als Schranke zu begründen, ohne das Bewusstsein entwickelt zu haben, durch Errichtung der Schranke bereits über sie hinaus zu sein. Gemäß Hegel erweist sich das kritische Bewusstsein der Grenze daher selbst noch einmal als kritikwürdig. In der Enzyklopädie heißt es in einem Passus zur Darstellung der «Kritischen Philosophie»: Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist. […] Es ist daher nur Bewußtlosigkeit, nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist. 45 Hegel kritisiert hier wohlgemerkt nicht das kritische Projekt als solches, sondern ‹nur› dessen Gleichsetzung von Grenze und Schranke im kritischen Bewusstsein des Mangels. Das Bewusstsein des Mangels erweist sich für Hegel als kritikwürdig, weil es sich als Bewusstlosigkeit hinsichtlich der Bedingungen der eigenen grenzsetzenden Tätigkeit offenbart und hinter den Anspruch der absoluten Grenzziehung zurückfällt. Bewusstlos ist das Bewusstsein des Mangels in Anbetracht des Vermittlungsgeschehens, das sich im Rücken der 210 C. Das Innere und Äußere <?page no="211"?> Grenzbestimmung immer schon abgespielt haben muss. Das Unbegrenzte ist als Bedingung der Grenzziehung vor dem Unbedingten schon im Diesseits zugegen. Schlimmstenfalls stellte Kants Grenzbestimmung der Vernunft damit eine rein willkürliche Disziplinarmaßnahme zur Inhibierung spekulativer Potenziale dar. Folglich wären auch die vernunfteigenen Potenziale zur Grenzbestimmung durch eine veränderte Stellung des Gedankens zur Welt nicht mehr für Sym‐ ptome dieses Mangels zu halten; sie wären jetzt als die Male des Geistes in seiner Unbegrenztheit erkennbar. Wenn nämlich die sture Berufung auf die eigene Beschränktheit schon eine Vermittlung mit dem Unbeschränkten vollzogen hat, dann kann sie auch wieder auf das Unbeschränkte hin geöffnet werden. Jede Grenzbestimmung habe letztlich auch das Wissen von etwas verinnerlicht, das jenseits der Grenze läge. Die kantische Kritik ruft offenbar durch ihre Momenthaftigkeit im Ganzen die Dialektik als angemessenere Lehre vom Ganzen auf den Plan. Hegel wollte dem Bewusstsein des Blocks deshalb das Recht auf das letzte Wort absprechen, um es stattdessen der vermittelnden Tätigkeit der absoluten Reflexion zu über‐ lassen. Der auf die Grenze fixierte Blick der kritischen Philosophie sollte dabei spekulativ (positiv) erweitert werden, ohne den kritisch vindizierten Gehalt der Negativität einzubüßen. Denn Negativität bildet ja das Thema der entgrenzten Reflexion. Wäre nun diese Erweiterung tatsächlich möglich, würde sich die grenzbegriffliche Lehre von einem leeren und jenseits aller Vermittlungen liegenden Ding an sich, an dem sich der Hauptmangel des diskursiven Denkens offenbarte, in seine Vermittlungen auflösen. Die von der Vernunftkritik als notwendig beanspruchten Grenzen des Wissens sind für ihn - den subjektiven und substanziellen Inbegriff aller möglichen Vermittlungen - nur Momente einer der Sache stets äußerlich bleibenden Reflexion, an deren Stelle die absolute Reflexion des Geistes im zweifachen Genitiv treten sollte. Wie gesagt stimmt Adorno einerseits in diese Kritik ein, setzt deren Ergebnis andererseits aber einem Vermittlungsgeschehen gänzlich anderer Art aus; dieses Vermittlungskonzept lehrt die Selbstbezüglichkeit des absoluten Geistes als Index einer Endlichkeit zu lesen, ohne dadurch den Anspruch der Reflexion auf Absolutheit im Geringsten zu revidieren. Hegels Ganzes gilt es gerade nicht durch erneute Kritik einzuschränken, sondern negativ zu erweitern. III. Adorno führt das Motiv des Blocks in der 2. Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» ein, um «die Differenz Kants von dem, was man so gewöhnlich a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 211 <?page no="212"?> 46 Vgl. Adorno, NaS IV 4, S. 33ff. Adorno erwähnt an der Stelle, dass diese Differenz «mit gar keinem schlechten Instinkt von der üblichen trivialen Philosophiegeschichte damit bezeichnet worden ist, daß man die im engeren Sinne deutschen Idealisten - also Fichte, Schelling, Hegel und, wenn Sie so wollen, auch Schopenhauer - Kant entgegen‐ stellt.» Ibidem, S.-33. 47 Adorno verweist beim Block nur in einer kurzen, unauffälligen Randbemerkung auf Kafka (- «wie es bei Kafka heißt»). Vgl. ibidem. 48 Rolf Tiedemann führt in seiner Editionsnotiz nur die Wendung der «leeren fröhlichen Fahrt» explizit auf Kafka zurück - vgl. Adorno, NaS IV 4, S. 364; der Zusammenhang mit dem Block ist aber offensichtlich genug. 49 Franz Kafka, Die Zürauer Aphorismen, S.-56. 50 Adorno, NaS IV 4, S.-34. 51 Ibidem. mit Idealismus bezeichnet», herauszustellen. 46 Diese Differenz sei «für das Verständnis der Kantischen Philosophie von fundamentaler Bedeutung». Um sie näher zu bestimmen, bedient sich Adorno zweier Motive aus einem Aphorismus von Kafka, darunter auch des Motivs des Blocks. Allerdings verwendet Adorno zunächst ein anderes Motiv als den Block - die «leere fröhliche Fahrt» -, um den ‹gewöhnlichen Idealismus› (gemeint ist hier, wie sich herausstellen wird, der nachkantische Idealismus) zu charakterisieren. Das Motiv des Blocks, mit dem der kantische Idealismus assoziiert wird, wird von Adorno dann nicht mehr explizit aus Kafka, sondern aus dem gemeinsamen Gespräch mit Max Hork‐ heimer hergeleitet. 47 Trotzdem dürfte die These, dass der Block aus demselben Aphorismus Kafkas stammt, durch die Kontextualisierung mit Horkheimer kaum widerlegt werden. Horkheimer und Adorno werden das Motiv des Blocks also ihrerseits bei Kafka entnommen haben. 48 Gemeint ist der 45. von Kafkas Zürauer Aphorismen: Je mehr Pferde Du anspannst, desto rascher geht’s - nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt. 49 ‹Die leere fröhliche Fahrt› dient Adorno als Metapher für die ungehemmte, idealistische Spekulation. Ein Interpretationsversuch dieses Aphorismus wird sogleich folgen. Wichtig ist zunächst, dass für Adorno nun nicht Kant derjenige ist, der «in ‹leerer fröhlicher Fahrt›, wie es bei Kafka heißt, alles […] auf die Einheit der Vernunft […] reduzierte», sondern der nachkantische Idealismus. 50 Nun bestehe der Gegensatz zu Kants kritischem Idealismus freilich nicht darin, dass die Einheit der Vernunft bei Kant eine weniger zentrale Rolle spielen würde. Kant sage, so Adorno, «schon in der Vorrede [der Kritik der reinen Vernunft; C.M], daß die reine Vernunft anders denn als ein System, das heißt als eine in sich geschlossene deduktive Einheit, gar nicht gedacht werden könnte». 51 Auch 212 C. Das Innere und Äußere <?page no="213"?> 52 Das wird von Adorno unkontrovers am Gedanken der transzendentalen Einheit der Apperzeption ausgeführt. Vgl. Kant, KrV, B 131-142, §§ 17-19 der Deduktion, zumal den als Titel von § 19 verwendeten Gedanken: «Die logische Form aller Urteile besteht in der objektiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe.» Ibidem, B 140. 53 Adorno, NaS IV 4, S.-34; Hervorhebung C.M. 54 Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, S.-539. der kritische Idealismus ist ein Idealismus in dem Sinne, dass er alles unter einem einheitlichen, alles fundierenden Prinzip betrachtet - dem Geltungsgrund aller möglichen Urteile. 52 Wo also kann die Differenz herrühren, wenn doch beide Idealismen alles auf die Einheit ihres Systems zurückführen und diese Einheit des Systems zudem nur die Einheit des Denkens sein kann? Hier kommt nun der Block ins Spiel. Adorno schreibt: «[D]er Gedanke eines solchen Systems schließt ja eigentlich das Nichtidentische, also das, was nicht in diesem System Raum findet, aus.» Auf der einen Seite wäre also auch Kant der Kritik auszusetzen, wonach alles begriffliche Denken die identifizierende Verinnerlichung des Äußeren darstellte. «Aber», wendet Adorno ein, auf der anderen Seite hat er [Kant; C.M.] doch immerzu […] das Bewußtsein des Blocks, also das Bewußtsein, daß - trotzdem es keine andere Einheit ihm zufolge gäbe als die […], die im Begriff der Vernunft selber liegt, - das eigentlich nicht das Ganze ist, und daß wir immerzu auf etwas stoßen, woran das seine Grenzen hat. Und man könnte sagen, daß in gewissem Sinn die ganze Kantische Philosophie ihren Lebensnerv daran hat, daß diese beiden Momente: das systematische, auf Einheit, auf Vernunft drängende, und das andere: dieses Moment vom Bewußtsein des Heterogenen, des Blocks, der Grenze, - daß diese beiden Momente sich aneinander abarbeiten; und daß er sich an diesem Block, man könnte fast sagen: gewissermaßen die Stirn einrennt. 53 Der «Lebensnerv» der kantischen Philosophie ist also nicht das Verinnerlich‐ ungstun als solches, sondern der Unterschied zwischen dem, was sich die Vernunft einverleiben kann und dem, was dabei notwendig draußen bleibt. Kant vermag es gemäß Adorno so, die Dialektik von Innerem und Äußerem innerhalb des Einheitsdenkens auszutragen und das, was darin keinen «Raum findet», zumindest indirekt - im Bewusstsein des Blocks - zur Geltung zu bringen. Um die Pointe der Differenzierung von kantischem und nachkantischem Idea‐ lismus angesichts der grundlegenden Parallelität zwischen beiden als Formen des Einheitsdenkens herauszustellen, bringt Adorno also das Motiv Kafkas ins Spiel. Bei näherer Betrachtung des Motivs wird ersichtlich, was es heißen kann, «Kafka wörtlich zu nehmen». 54 Kafkas Aphorismus beschreibt auf der a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 213 <?page no="214"?> 55 Das geistesgeschichtlich aufgeladene Arrangement von Pferd, Riemen und Block ist selbstredend offen für unterschiedliche Interpretationen. Es soll der Hinweis genügen, dass Kafka das Bild des losgelassenen Pferdes oft verwendet, um Akte der Entgrenzung und Enthemmung zu versinnbildlichen, z.-B. im Wunsch, Indianer zu werden. 56 Kant, KrV, A 447/ B 475. Handlungsebene genau jene Zweideutigkeit, die Adorno in der kantischen Philosophie wiedererkennt. Kafka beschreibt einen hypothetischen Handlungsablauf: Ein Pferdegespann ist durch Riemen mit einem Block verbunden. Das Gewicht des Blocks stellt einen Widerstand dar. Die hypothetisch erwogene Handlung besteht darin, dass der Widerstand unter einem bestimmten Kraftaufwand überwunden und das Gespann ruckartig in Bewegung gebracht werden könnte - «Je mehr Pferde Du anspannst, desto rascher geht’s desto rascher geht’s». Die Überwindung des Widerstandes durch Kraftaufwand ist also möglich, doch nicht insofern die Kraft hinreichen würde, um den Block ‹auszureißen› - «nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist». Dennoch wird der Kraftaufwand eine Wirkung zeitigen - «das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt». Unklar (und auch nebensächlich), wer hier wen und aus welchem Anlass mit «Du» anspricht, erübrigt sich die Frage sogleich durch die Bedeutung des Bildes, das Kafka mit wenigen Worten zeichnet. 55 Eine kantianisch gesinnte Deutung würde sich bei der leeren fröhlichen Fahrt zunächst daran erinnert fühlen, was Kant selbst in der Diskussion der dritten Antinomie als «Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln» 56 beschreibt. Damit ist folgendes gemeint: Für Kant ist die Idee einer Kausalität aus Freiheit nur unter dem Gesichtspunkt der Antinomie zu konzipieren. Denn das Festhalten an einer Kausalität aus Freiheit muss das Denken aus jenem Zusammenhang heraus‐ führen, der sich über das Gegenteil von Freiheit - über kausale Determiniertheit definiert. Die durch die Relationskategorie der Kausalität begründete Einheit möglicher Erfahrung streicht die Idee der Freiheit zunächst durch. Freiheit beschreibt den Heraustritt aus dem Kausalzusammenhang, Kausalität aber den gelingenden Eingriff in denselben. Wie also geht beides ohne Widerspruch zusammen? Wie lässt sich der Eingriff in den Zusammenhang also durch den Heraustritt aus demselben denken? Kants Antwort ist an der Verortung der Problematik im Gefüge der Kritik abzulesen. Die antinomische Reflexion parti‐ kularer Erkenntnisansprüche erweist sich als einziger Weg, um Freiheit zum Gegenstand der Theorie zu machen. Die Idee der Freiheit ist intendierbar nur als unendliches Urteil auf den Kausalzusammenhang der Natur. Zunächst gibt es für Kant nämlich gleich ‹gute› Gründe dafür zu sagen, eine «Kausalität aus 214 C. Das Innere und Äußere <?page no="215"?> 57 Kant, KrV, A 448/ B 476. 58 Adorno, GS 6, S.-230. Freiheit» sei möglich, wie dafür, dass es in einer kausalmechanisch beschreib‐ baren Natur keine Freiheit geben könne. Keiner dieser Gründe reicht aber für sich betrachtet hin, um daraus eine theoretische Weltkonzeption abzuleiten, die beides in affirmativem Sinne zusammenbringen würde: «Denn», heißt es an betreffender Stelle bei Kant vonseiten der Antithesis zur Kausalität aus Freiheit, man kann nicht sagen, daß, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anderes als Natur wäre. 57 Im Gesichtskreis der theoretischen Vernunft gilt also: entweder Natur oder Freiheit. Die Anspruchsbestimmtheit der Kausalität aus Freiheit ist dasjenige, was sie dem Zusammenhang der Determiniertheit allein entreißen kann. Die Befreiung von der Natur ist folglich nur als Durchtrennung des Nexus - des Leit‐ fadens - zu denken, damit aber auch vergeblich, insofern die Inanspruchnahme einer Kausalität aus Freiheit auf das Dilemma führt, entweder einer Kausalität aus Freiheit oder einer Kausalität aus Freiheit anzuhängen. Die leere fröhliche Fahrt ist die ambivalente Befreiung vom Zwange und Leitfaden aller Regeln - sie durchtrennt den Leitfaden, der dem ganzen Aufwand der Befreiung allein Bedeutung geben könnte. Eine absolute, von allen Kausalzusammenhängen losgelöste Freiheit ist daher der Idee nach zwar denkbar, ohne Einbindung in die Dynamik des Kausalzusammenhangs bleibt diese Idee jedoch konsequenzlos. Entsprechend ist die Grenzbestimmung des Kausalzusammenhangs als die uneigentliche Integration der Freiheit zu verstehen. Anders gesagt: Nur eine Kritik der Natur, die sich dialektisch artikuliert, vermag es, den Platz der Freiheit im Ganzen zu bestimmen. Eine Metaphysik der Freiheit aber, welche ihren Gegenstand, ohne den Umweg der Kritik einzuschlagen, in der Natur verortet, tritt die leere (regellose) Fahrt der Spekulation an. IV. Bei Adorno hat sich diese Dialektik der Befreiung (die wie gezeigt rasch in die Vergeblichkeit einer fröhlichen, aber folgenlosen Spekulation münden kann) in die Idee der Freiheit eingeschrieben. Adorno denkt Freiheit stets antinomisch. Denn Freiheit im Allgemeinen sei «einzig in bestimmter Negation zu fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit». 58 Die Freiheit des Individuums - und das Individuum gibt für Adorno immer den Prüfstein dafür ab, ob eine Freiheitskonzeption adäquat ist oder nicht - ist nach Adorno daher a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 215 <?page no="216"?> 59 Vgl. Adorno, NaS IV 13, S.-247. 60 Adorno, NaS IV 4, S.-244. 61 Vgl. Robert Pfeiffer, Einheit und Limitation. Zur Funktion der Grenzbegriffe «intellektu‐ elle Anschauung» und «intuitiver Verstand» in der Transzendentalphilosophie Kants, im Erscheinen. 62 Zur «Entzauberung des Begriffs» heißt es im gleichnamigen Kapitel der Negativen Dialektik: «Philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff. Sonst wäre dieser, nach Kants Diktum, leer, am Ende überhaupt nicht mehr der Begriff von etwas und damit nichtig. Philosophie, die das erkennt, die Autarkie des Begriffs tilgt, streift die Binde von den Augen.» Adorno, GS 6, S.-23f. 63 Adorno, GS 10.2, S.-633. 64 Adorno, GS 6, S.-384. grundsätzlich nur negativ, d. i. als Freiheit vom Bann zu konzipieren. 59 Der Bann ist Adornos Begriff für den dialektischen Zusammenhang von Natur und naturbeherrschender Vernunft; Freiheit wird entsprechend über die bestimmte Negation dieses Zusammenhangs definiert - «als das aus dem Bann Heraus‐ treten oder sich Herausarbeiten». 60 Diese Arbeit kann indessen nur die Kritik des Banns im doppelten Genitiv leisten. Das kausalbestimmte Verfahren des Denkens ist im Zuge seiner kritischen Selbstreflexion als ein geschlossener Zusammenhang zu thematisieren, dessen Einheit nur durch Limitation gegen ein Äußeres zustande kommen kann. 61 So nimmt die Selbstreflexion des Banns Bezug auf ein Außerhalb, das sich diesem nicht mehr vermittelnd integrieren lässt. Der Bann bezeichnet bei Adorno folglich die Einflusssphäre des noch nicht entzauberten Begriffs, der so lange zur Verwechslung mit dem Weltganzen ver‐ führt, wie er noch keine negativ-dialektische «Entzauberung» erfahren hat. 62 Freisein kann nur, wer den Widerstand des Denkens gegen die es bestimmenden Zusammenhänge durch Kritik zur Geltung bringt - den Nexus vor Augen führt, der uns an den versteinerten Zusammenhang rückbindet, aus dem herauszutreten das Ziel der Befreiung ist. Adorno vollzieht diese Kritik, wenn er 1962 schreibt: «Der Bann der Realität über den Geist verwehrt ihm, was sein eigener Begriff gegenüber dem bloß Seienden will, fliegen.» 63 Der Geist bleibt vorerst durch das bloß Seiende gebannt und kann nicht zum Flug ins Intelligible ansetzen. Diese negative Selbstbestimmung des Gebanntseins vollzieht nun aber genau jene «Selbstnegation» des Endlichen, die Adorno zum Definiens des Geistes erhebt. Der Begriff des Intelligibeln ist die Selbstnegation des endlichen Geistes. Im Geist wird, was bloß ist, seines Mangels inne; Abschied vom in sich verstockten Dasein ist der Ursprung dessen am Geist, worin er sich sondert von dem naturbeherrschenden Prinzip in ihm. 64 216 C. Das Innere und Äußere <?page no="217"?> 65 Vgl. Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 781, wo betont wird, das Noumenon habe «bei seiner Geburt das Mal der Negation empfangen. Es kann nur in ‹negativer› Bedeutung ein Noumenon statthaft sein.» Denn, so Cohen: «Indem wir von der in der wissenschaftlichen Erfahrung allein fruchtbaren Anschauungsart abstrahiren und der schematischen Uebung des Verstandes die Zügel schiessen lassen, wird ein Noumenon erdacht. Aber indem wir auf die Schranke sehen, über die hinaus es seinen Flug nehmen muss, begreifen wir zugleich, dass es von dieser seiner negativen Natur nicht loskommen kann.» 66 Adorno, GS 6, S.-52. 67 Ibidem, S.-156. Adorno konzipiert den Begriff des Geistes hier als das selbstkritische Bewusst‐ sein, das darum weiß, dass der «Flug» 65 der Reflexion über das sinnlich Wahr‐ nehmbare hinaus nach draußen ins Noumenale nur den Anschein von Wider‐ standslosigkeit vermittelt, nicht aber schon die Auflösung des Zusammenhangs bedeutet, innerhalb dessen die Sinnendinge unter der Legislativmacht des Verstandes stehen. Stattdessen hat noch die Reflexion des Zusammenhangs zu durchschauen, inwiefern auch sie noch Teil dieses Zusammenhangs ist; ansonsten arbeitet sie der Versteinerung und dem Bann der Verhältnisse zu, dem sie qua Reflexion entkommen zu sein vorgibt. Wenn die Freiheit also nur indirekt, über die Selbstreflexion der kausalbestimmten Reflexion, den Ausgang aus dem Bann ermöglicht, dann ist der von Adorno intendierte Flug der Spekulation auch nur als bestimmte Negation des Bannes denkbar. Heißt, dass sich der Flug (die fröhliche Fahrt) der Spekulation eigentlich nur als Refle‐ xion auf den Zusammenhang ereignen kann, dessen bannende Kraft den Flug verwehrt. Anders, und mit Kafka gesagt: Die fröhliche Fahrt der dialektischen Spekulation dürfte nur dann als vollzogen gelten, wenn der Block sich von der Stelle bewegte. Da sich dies aber als unmöglich erwiesen hat, gilt es nun, eingehender auf die Bedingungen der Unmöglichkeit des Flugs zu reflektieren, statt so zu tun, als wäre er weiterhin umstandslos möglich. Die Reflexion auf die Unmöglichkeit des Ausreißens des Blocks ist daher, wozu Adorno die traditionelle Dialektik anhält - damit die leere nicht mit der bereits erfüllten Fahrt verwechselt wird. Die Leichtigkeit aber, mit der Hegel und die seinen vorgeben, die Fahrt ins Schattenreich des Geistes anzutreten, ist für Adorno Grund genug zum Verdacht, dass der ganze Kraftaufwand des spekulativen Idealismus nur einen «abstrakten Triumph» 66 eingefahren hat. Und so zeigt sich hierbei von Neuem: «Philosophisch bleibt die dialektische Bewegung als Selbstkritik der Philosophie.» 67 a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 217 <?page no="218"?> 68 Ibidem, S.-174. 69 Adorno versucht wiederholt, mit dem Vorurteil aufzuräumen, beim spekulativen Idealismus handle es sich um eine Lehre vom Sein in intentione recta, vgl. zumal die 11. Vorlesung zur Einführung in die Dialektik, Adorno, NaS IV 2, S. 152-167. Denn erweist sich Hegels kritische Lehre vom Sein als kritikwürdig, insofern sie als intentio obliqua der intentio obliqua dennoch «in den eigenen Primat, die Hypostasis des Subjekts mündet» - vgl. ders., GS 6, S.-182. 70 Hegel, TWA 5, S.-66. V. Auch andernorts bemüht Adorno die kafkaschen Motive des Blocks und der leeren fröhlichen Fahrt, um die Eigenheit des kantischen in Differenz zum nach‐ kantischen Idealismus herauszustellen. In der Negativen Dialektik vergleicht Adorno die spekulativ-dialektische Reflexion explizit mit einer (leeren) fröhli‐ chen Fahrt: Solange Philosophie die Begriffe unmittelbar und mittelbar verwendet, deren sie einstweilen kaum entraten kann, bekundet ihre Sprache den Sachverhalt, den die idealistische Version von Dialektik abstreitet. Daß diese die scheinbar minimale Differenz übergeht, hilft ihr zu ihrer Plausibilität. Der Triumph, das Unmittelbare sei durchaus vermittelt, rollt hinweg über das Vermittelte und erreicht in fröhlicher Fahrt die Totalität des Begriffs, von keinem Nichtbegrifflichen mehr aufgehalten, die absolute Herrschaft des Subjekts. 68 Adorno reflektiert hier auf das Vermittlungskonzept der traditionellen Dialektik und erachtet dieses als kritikwürdig, da dieses alles als Vermitteltes bestimmt und insofern die Immanenz des vermittelnden Begriffs für das Ganze halten muss. Die Logik hinter Adornos Kritik der spekulativ-dialektischen Reflexion lässt sich wiederum durch das Gleichnis von Block und fröhlicher Fahrt erhellen. Die Stelle exponiert im Modus der materialistischen Idealismuskritik eine negativ-dialektische Logik zwischen dem Nichts der Abstraktion durch Vermitt‐ lung und der Fülle des Unmittelbaren. Adorno möchte dabei den Triumph der dialektischen Vermittlung, das Ganze von Vermittel- und Unmittelbarem dem Begriff in der absoluten Idee verinnerlichen zu können, als nichtig und leer ausweisen. Im Grunde ist der dem Vermittlungstun inhärente Holismus ja der ganze Stolz der Dialektik - der Grund, weshalb sie sich als angemessene Theorie des Ganzen empfiehlt. Der Anspruch besteht zwar nicht in einer ontologischen These in intentione recta, etwa der Art, alles sei an sich vermittelt; 69 aber er beruft sich dennoch darauf, «daß es», wie Hegel schreibt, «nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung». 70 Gerade diese universale Vermitteltheit (selbst des Vermittelten durch das Unmittelbare) wird 218 C. Das Innere und Äußere <?page no="219"?> 71 Ibidem. 72 Ibidem, S.-86. 73 Vgl. Marc N. Sommer, «Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik», S.-136-154. 74 Hegel, TWA 5, S.-85. 75 Vgl. die Überlegungen zum «Vorrang des Objekts» in D/ 2 dieser Arbeit. 76 Adorno, GS 6, S.-174. bei Hegel aber zum Rechtgrund des Gedankens, dass nichts - nicht einmal das Unmittelbare - aus dem Vermittlungszusammenhang herausfällt, weil am Ende auch das Herausfallende noch den Vollzug einer Vermittlungsleistung darstellt, dadurch, weil es sich als gänzlich Herausfallendes zugleich «als ein Nichtiges zeigt». 71 In diesem Sinne besagt Hegels kritische Ontologie an anderer Stelle der Wissenschaft der Logik, dass es nichts geben kann, «was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthielte». 72 In Adornos Augen wird hier die «Differenz in der Vermittlung» 73 missbraucht, um den holistischen Anspruch der Dialektik zu plausibilisieren. Der Mangel des begrifflichen, auf Vermittlung angewiesenen Denkens (der Zusammenfall des Seins mit dem Nichts) wird als inhaltlicher Gewinn einer Philosophie des Werdens verbucht. Hegel: «Das Werden enthält, daß Nichts nicht Nichts bleibe, sondern in sein Anderes, in das Sein übergehe». 74 Das werdende Ganze des Zusammenhangs aller Übergänge in das Andere selbst ist daher von nichts anderem mehr zu unterscheiden. Für Adorno ist das Konzept der Vermittlung nun aber selbst ein vermittelter Begriff. Das heißt, wenn alles vermittelt ist, dann auch das Vermittlungstun als solches. 75 Je mehr die Vermittlung also beansprucht, vermitteln zu können, desto leichter fällt es ihr, fröhlich, da «von keinem Nichtbegrifflichen mehr aufgehalten, die absolute Herrschaft des Subjekts» 76 zu etablieren. Das sollte sie eigentlich verdächtig gegen sich selbst machen. Auf welcher Grundlage sollte denn die vermittelnde Tätigkeit (des Geistes, der Dialektik oder von was und wem auch immer) dazu legitimiert sein, Kants transzendentaler Dialektik zum Trotz noch einmal aufgrund der eigenen Verfahrensweise darauf zu schließen, dass das Resultat dieses Verfahrens mit dem unbegrenzten Ganzen identisch sein wird? Die leere fröhliche Fahrt ist folglich die Autarkie des Begriffs, die der kritischen Erinnerung an dasjenige bedarf, wovon sie sich abstoßen muss, den Block. VI. Kant dürfte dieselbe dialektische Logik wie Kafka (und, unfreiwillig, Hegel? ) - die Logik des Je-mehr-desto-leichter - bereits durchdacht haben. In der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft reflektiert Kant auf das Verhältnis der Philosophie zur Mathematik. Letztere gebe «uns ein glänzendes Beispiel, wie a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 219 <?page no="220"?> 77 Kant, KrV, A 4f./ B 8 f.; Hervorhebung C.M. 78 Ibidem, A 5/ B 8f. weit wir es, unabhängig von der Erfahrung, in der Erkenntnis a priori bringen können.» So glänzend, dass man meinen könnte, die Vernunft beschäftige sich bei der Mathematik mit Gegenständen jenseits der Anschauung, während sie sich in Wahrheit «mit Gegenständen und Erkenntnissen bloß so weit» beschäf‐ tigt, «als sich solche in der Anschauung darstellen lassen. Aber», wendet Kant ein, «dieser Umstand [der Anbindung apriorischer Gegenstände wie Zahlen an die Sphäre der Anschauung, C.M.] wird leicht übersehen, weil gedachte Anschauung selbst a priori gegeben werden kann, mithin von einem bloßen reinen Begriff kaum unterschieden wird.» Und: «Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen.» 77 Zur Darstellung der Grenzen und zur Selbstdarstellung der von der Macht der apriorischen Erkenntnis eingenommenen Vernunft greift der Text der Kritik nun auf die Taubenanalogie zurück: Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken legt, und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen, und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen. 78 Mit dem Bild der leichten Taube, das uns jetzt an Kafkas Pferdegespann erinnern sollte, veranschaulicht Kant das Verhältnis zwischen Kritik und Tradition. Das luftige Selbstverständnis der Taube ist für Kant gerade ein Grund zur Kritik. Die kritische Analogie von Taube und Tradition besagt: Wie der Flug dem Verdrängen des Luftwiderstands, so waren die überfliegenden inhaltlichen Ansprüche der dogmatischen Metaphysik stets nur dem Verdrängen der inhalts‐ konstitutiven Rolle der Anschauung geschuldet. Kants Kritik holt die notwen‐ dige Verbindung der apriorischen Form mit dem Material der Anschauung aus der Vergessenheit und thematisiert sie dann durchgängig im Prinzip der Zwei- Stämme-Lehre. Die Taubenanalogie in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft be‐ schreibt die Versinnbildlichung der objektiven Intention der Kritik im Lichte ihrer Grundoperation, der Rückführung eines Unbedingtheitsanspruchs auf die zugrunde liegende Negationshandlung. Die Taube stellt das unendliche Urteil 220 C. Das Innere und Äußere <?page no="221"?> 79 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S.-780. 80 Kant, KrV, A 147/ B 187. der Metaphysik bildlich dar. Weil ein unendliches Urteil aber ein Negationsver‐ hältnis affirmiert, weiß die sich kritisierende Vernunft um die Scheinhaftigkeit seiner affirmativen Gestalt. Das unendliche Urteil darf nach der Kritik somit nur noch als limitative Funktion kategorial (d. h. mit Bezug auf Gegenstände) beansprucht werden, ohne ihrerseits zu verdrängen, worauf die Unendlichkeit des Urteils beruht, nämlich dem bestimmten Ausschluss des Intendierten aus einem endlichen Bereich. «So wächst das Noumenon dem Phaenomenon aus dem Kopfe und über den Kopf.» 79 In analogischer Übertragung auf den Vollzug des überfliegenden Denkens bedeutet das: Die Kritik rekonstruiert, weshalb der Akt der Befreiung von den Grundsätzen kategorialer Erkenntnis die leere fröhliche Fahrt der spekulativen Tradition in Gang setzen und den Anschein der Autarkie der übersinnlichen Begriffsgehalte erzeugen musste. Für die Kritik sind diese Gehalte dabei als leer demaskiert. Sie waren ja nur vergegenständ‐ lichte Bedingungen gegenständlicher Erkenntnis. Jede scheinbare Affirmation eines unendlichen Urteilsgehaltes ‹x ist nicht-P› ist demnach als Intention auf das Ausschlussverhältnis zwischen phänomenaler und noumenaler Welt, als Intention auf eine Grenze zu begreifen. Und es ist das Vergessen und Ausblenden dieses Verhältnisses, das dann zur Ur-Amphibolie der vereinseiti‐ genden Trennung einer Sinnenund/ oder einer Verstandeswelt führen muss. Wir können also sagen, dass Kants Begriff der intelligiblen Welt samt des Kon‐ trastverhältnisses, das diese von der phänomenalen Welt abgrenzt, in positivem Sinne gerade keine Zwei-Welten-Lehre, sondern die Grenze der scheinbar alleinen Natur darstellen soll. Anders ausgedrückt: Durch begriffliches Denken vollständig adäquat darstellbar ist eben nur diese Grenze und gerade keine der beiden ‹Welten›. Weil aber der Begriff der Grenze als solcher schon bildliche Rede ist, kann Kant den Sinn dieser Rede (und von diesem Sinn hängt am Ende die Plausibilität der Kritik der reinen Vernunft ab) durch ein anderes Bild erhellen - die Taube - ohne an begrifflicher Schärfe einzubüßen. Um noch einmal zu Kafkas Bild zurückzukommen: Das Durchtrennen der Riemen (i.e. des Verhältnisses, das unsere Erkenntnisansprüche «realisiert, indem [es diese] zugleich restringiert» 80 und an die Anschauung der sinnli‐ chen Welt zurückbindet) markiert zwar den Beginn einer fröhlichen Fahrt der Philosophie in die intelligible Welt, offenbart aber zugleich die Leere und Ver‐ geblichkeit dieser Befreiung. Denn das Kappen der Verbindung zur sinnlichen Welt im Zuge der Intention auf das Übersinnliche ‹befreit› das begriffliche Denken nur von seiner eigenen Bedingung der Möglichkeit: dem Bezug auf das a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 221 <?page no="222"?> 81 Kant, AA IV, S.-354. 82 Die kantische Gottesbeweiskritik ist gleichsam der Abschlussgedanke seiner Amphi‐ boliekritik. Die Einsicht - «Sein ist offenbar kein reales Prädikat» (Kant, KrV, A 598/ B 626) - besagt: Sein ist ‹bloß› ein modales Prädikat (Dasein), das auf etwas zum Urteil Hinzukommendes angewiesen bleibt, um für realisiert zu gelten. Verwechsle also nicht den Möglichkeitshorizont des von dir Beanspruchbaren mit einem inhaltlich erfüllten Anspruch auf das Ganze! Nichtbegriffliche. So ist das Vorliegen des Nicht-Sinnlichen als eines positiven Gehalts immer als Wegfallen dieser Ermöglichungsbedingung nachvollziehbar, der Gehalt insofern als bloß subjektiver, weil nicht ‹realisierter› Gehalt zu begreifen. Aus Kants Taubenanalogie spricht letztlich die eindeutig zweideutige Funktion der Kritik, einerseits daran zu erinnern, dass die Intention auf die unbedingten Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis nicht schon das Wegfallen dieser Bedingungen bedeutet, sondern deren Leere offenbart - dass es aber andererseits keinen anderen Weg geben kann, Unbedingtes in Anspruch zu nehmen, als über den Umweg der Kritik amphibolischer Inanspruchnahmen des Unbedingten. Insofern hat die kritische Vergegenwärtigung der Grenzen des überhaupt Beanspruchbaren indirekt dasjenige zum Thema, was abseits des Raums des Beanspruchbaren liegt. «Denn nun frägt sich», schreibt Kant über die «Grenz‐ bestimmung der Vernunft» in den Prolegomena: [W]ie verhält sich unsere Vernunft bei dieser Verknüpfung dessen, was wir kennen, mit dem, was wir nicht kennen und auch niemals kennen werden? Hier ist eine wirkliche Verknüpfung des Bekannten mit einem völlig Unbekannten (was es auch jederzeit bleiben wird), und wenn dabei das Unbekannte auch nicht im Mindesten bekannter werden sollte - wie denn das in der That auch nicht zu hoffen ist -, so muß doch der Begriff von dieser Verknüpfung bestimmt und zur Deutlichkeit gebracht werden können. 81 Die Deutlichkeit der Kritik hängt mithin an der Deutlichkeit der Beziehung zum «völlig Unbekannten» - daran, wie deutlich die Reflexion dem vorre‐ flexiven Bewusstsein die Grenze seiner Synthesen vor Augen führen kann. Aus Sicht der Kritik wurde daher vor ihrem Auftritt das Unbekannte gar niemals als «völlig Unbekanntes» begriffen; es wurde immer nur mit seinem Begriff verwechselt. 82 Erst wenn die Kritik Deutlichkeit als Grenzbestimmung erlangt - erfolgt eine Bezugnahme auf das Unbekannte - im kategorialen Modus der Limitation. Insofern erfolgt durch die Kritik eine «Verknüpfung des Bekannten mit einem völlig Unbekannten»; und sie erfolgt im Grunde zum 222 C. Das Innere und Äußere <?page no="223"?> 83 Die Deutung von Simon Jarvis, «What is speculative thinking? (Adorno, Hegel, Kant)», in: Revue Internationale de Philosophie 58, 2004, S. 69-83, hier: 76, Adorno setze sich definitiv von Kant ab, da bei Kant Transzendenz vollständig annulliert werde, ist grundsätzlich verfehlt, weil sie bereits als Kantinterpretation versagt und darüber hinaus die Zweideutigkeit des Kantischen Blocks vereinseitigt. Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 395f. kann im Deutungshorizont der Konstellation Adorno-Hegel auch nicht wesentlich über Jarvis hinausgelangen. Adorno selbst geht es dagegen mit Bestimmtheit darum zu zeigen, dass die Philosophie mindestens seit Platon die Transzendenz säkularisiert, bei Kant aber begonnen hat, «das Ansichsein der Transzendenz zu bergen oder, eigentlich, zu retten.» Adorno, NaS IV 4, S. 335f.; vgl. Abschnitt C/ 3 dieser Arbeit. Folgen wir Adorno, darf Kant also als der Denker der Transzendenz gelten. 84 Kant, KrV, A 515/ B 543. 85 Adorno, GS 6, S.-376. ersten Mal in der Geschichte. 83 Denn welcher Gedanke dürfte eine größere spekulative Reichweite für sich beanspruchen als derjenige, der die Grenze unserer höchsten Ansprüche bestimmt und zugleich einsieht, dass «das, was begrenzt, von dem, was dadurch begrenzt wird, unterschieden sein muß» 84 - kurz, der die Grenze des Unbegrenzten erkennt? Der Bekanntmachung des Unbekannten in affirmativen Urteilen setzt Kant die viel radikalere Methode entgegen, wonach das unendliche Urteilsprodukt des Nicht-Sinnlichen eine adäquatere Weise des Thematisierens des Unbekannten darstellt. Darin nämlich wird das Ausschlussverhältnis als solches gegenständlich, darüber sich der Gegenstand jeder urteilenden Bezugnahme entzieht. Die Grenze berührt das Transzendente. So wären auch die Hoffnungen, die der Block zerstört, am Ende nur falsche Hoffnungen gewesen, des Unbekannten über affirmative Urteilsvollzüge inne‐ zuwerden - die Enttäuschung dieser Hoffnung durch die Kritik aber beschreibt eine radikalere Bezugnahme auf Transzendenz. Wäre dem nicht so, und hätte Adorno das nicht gesehen, wäre er ein positiver Dialektiker geblieben. VII. Damit ist eine Klärung der Zweideutigkeit des Kantischen Blocks möglich geworden: Die Funktion des Blocks muss zunächst das durchgängige Thema der Kritik bilden, sofern Kritik erst darüber überhaupt gehaltvoll werden kann, dass sie die überfliegenden Erkenntnisansprüche der Tradition an die Bedingungen erinnert, deren Weglassung gerade die Bedingung des Überflugs war. Der Block - das ist folglich Adornos Ausdruck für die «grenzsetzende Intention» 85 der Kritik, mitsamt dem zweideutigen Sinn dieser Intention und der einhergehenden negativen Erweiterung der Sinnenwelt. Alles, was im Horizont der traditionellen Metaphysik als positiver Gehalt intendiert wurde, a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 223 <?page no="224"?> 86 Kant, AA IV, S.-361; Hervorhebungen C.M. 87 Die praktische Bedeutung dieser Unterscheidung untersucht Costantino Esposito, «Die Schranken der Erfahrung und die Grenzen der Vernunft: Kants Moraltheologie», in: Aufklärung 21, 2009, S.-117-145. darf nach der Grenzbestimmung der Vernunft neu als Verknüpfung zu einem völlig Unbekannten gedacht werden. Das heißt, das Verhältnis, das vor Kant zu einer Welt von «Verstandeswesen» hypostasiert und der Einheit des Denkens verinnerlicht worden war - das Ausschlussverhältnis der beiden Welten - wird in der Grenzbestimmung zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie als Verhältnis und damit endlich adäquat thematisiert. Aber die Begrenzung des Erfahrungsfeldes durch etwas, was ihr sonst unbekannt ist, ist doch eine Erkenntnis, die der Vernunft in diesem Standpunkte noch übrig bleibt, dadurch sie nicht innerhalb der Sinnenwelt beschlossen, auch nicht außer derselben schwärmend, sondern so, wie es einer Kenntnis der Grenze zukommt, sich bloß auf das Verhältnis desjenigen, was außerhalb derselben liegt, zu dem, was innerhalb enthalten ist, einschränkt. 86 Das Ende des Passus will genau gelesen sein. Nicht wird im Zuge der Grenzbe‐ stimmung das Denken eingeschränkt. Das Denken schränkt sich auf das Thema der Grenze als des Verhältnisses von Innerem und Äußerem ein. Im Thema der Grenze ist daher stets auch das Außerhalb der Reflexion präsent - «Begrenzung […] ist doch eine Erkenntnis». Infolgedessen liegt schon bei Kant der folgenreiche Unterschied zwischen einer Grenze und einer Schranke mit aller Deutlichkeit vor. 87 § 59 der Prole‐ gomena besagt mit Blick auf die «Grenzbestimmung der reinen Vernunft», dass «eine Grenze selbst etwas Positives» sei, «dahingehend Schranken bloße Negationen enthalten». Denn eine Grenze sei etwas, das seine Bestimmung nur zwischen dem einen und dem anderen gewinnt. Die Grenze der Vernunft mit Hegel als Schranke interpretieren, bedeutet daher, sie als einschränkende Bezugnahme auf das eine ohne Bezug auf das andere zu verstehen und also - im Lichte der Anspruchsbestimmtheit der Grenze - geradewegs misszuverstehen. Kant sagt deutlich genug, eine Grenze sei eben etwas, das sowohl zu dem gehört, was innerhalb derselben, als zum Raume, der außer einem gegebenen Inbegriff liegt, so ist es doch eine wirkliche positive Erkenntnis, deren die Vernunft bloß dadurch teilhaftig wird, daß sie sich bis zu dieser Grenze erweitert; so doch, daß sie nicht über diese Grenze hinauszugehen versucht, weil sie daselbst einen 224 C. Das Innere und Äußere <?page no="225"?> 88 Kant, AA IV, S.-361; Hervorhebungen C.M. 89 Ibidem. 90 Adorno, GS 6, S.-381. 91 Kant, AA IV, S.-355. leeren Raum vor sich findet, in welchem sie zwar Formen zu Dingen, aber keine Dinge selbst denken kann. 88 Jede Grenze ist somit ein Index der in ihrem Rücken sich abspielenden Dia‐ lektik von Innerem und Äußerem. Im Zuge ihrer Vermittlung werden sie als voneinander Unterschiedene vergegenwärtigt. Die Reflexion auf das Innere und Äußere der Reflexion hat bei Kant den spezifischen Sinn, den Skopus der Reflexion zu erweitern. Kritik thematisiert das Verhältnis möglicher Erkenntnis zum völlig Unbe‐ kannten, indem sie die positiven Überformungen desselben durch die neuer‐ worbene «Kenntnis der Grenze» 89 des Bekannten zu korrigieren versucht. Wir können Kants Korrekturbemühung nun weiterhin mit Hegel und Adorno einfach als eine unnötige Disziplinarmaßnahme verstehen. Oder wir könnten sie mit Adorno zugleich als eine spekulative Reflexionsleistung nachvollziehen lernen. Adorno scheint vor allem in die zweite Richtung zu drängen, wenn er in einer Vorlesung über den Block sagt, dass dieser «der Begriffsmythologie vorgebeugt» 90 habe, gemäß der das Nichtbegriffliche dem Begriff verinnerlicht werden könne. In diesem Sinn argumentiert Kant in den Prolegomena selbst gegen die Be‐ griffsmythologie der rationalen Metaphysik. Diese verwechselt immanente mit transzendenten Bestimmungen, wenn sie auf nichtsinnliche Verstandeswesen Bezug nimmt. Da wir nun aber diese Verstandeswesen nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, d. i. bestimmt, niemals erkennen können, gleichwohl aber solche im Verhältniß auf die Sinnenwelt dennoch annehmen und durch die Vernunft damit verknüpfen müssen: so werden wir doch wenigstens diese Verknüpfung vermittelst solcher Begriffe denken können, die ihr Verhältniß zur Sinnenwelt ausdrücken. Denn denken wir das Verstandeswesen durch nichts als reine Verstandesbegriffe, so denken wir uns dadurch wirklich nichts Bestimmtes, mithin ist unser Begriff ohne Bedeutung; denken wir es uns durch Eigenschaften, die von der Sinnenwelt entlehnt sind, so ist es nicht mehr Verstandeswesen, es wird als eines von den Phänomenen gedacht und gehört zur Sinnenwelt. 91 Mit Adorno zu reden, lautet die zugrunde liegende Einsicht dieses Abschnitts: Das Intelligible «weigert sich einer Sprache, welche die Stigmata des Seienden a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 225 <?page no="226"?> 92 Adorno, GS 6, S.-293. 93 Ibidem, S. 383; vgl. auch ibidem, S. 244, 254, 257, sowie die erste der Kantvorlesung, die den Titel «Methodisches und Intentionen» erhielt - ders., NaS IV, S.-9-24 und passim. 94 Mit Abschnitt c) wird die Versinnbildlichung der Kritik im Block als Analogie interpre‐ tiert werden, die dem kritischen Projekt spekulative Bedeutung als «Metaphysik des Blocks» (Adorno, NaS IV 4, S.-269) verleiht. trägt». 92 Die Selbsteinschränkung des Denkens ist daher keine subjektiv willkür‐ liche Disziplinarmaßnahme, sondern leitet sich aus dem Objektivitätsanspruch der Wissenschaft des Intelligiblen - der Philosophie - ab. Die Entzauberung der mythologischen Verinnerlichung des Äußeren legitimiert dabei die Bezug‐ nahme auf das Transzendente durch die Grenzbestimmung. Also ist die Grenz‐ bestimmung paradoxerweise als Methode konzipiert, um, statt zur Abschottung im Bekannten, eine Verknüpfung mit dem «völlig Unbekannten» herstellen zu können. Nur die Grenzbestimmung erweist sich der ‹Negativität› des Intel‐ ligiblen als angemessen. Dass sich diese Verknüpfung bei Adorno dialektisch ausartikuliert, ändert nichts an dem kritischen Sinn des Grenzbegriffs des Nichtidentischen. Eingeschränkt wird dadurch nicht das spekulative Denken. Das Denken beschränkt sich in der kritischen Philosophie auf das Thema der Grenze als des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz, um den Horizont seiner Immanenz zu erweitern. Eingeschränkt wird also die Begriffsmythologie im Namen der Spekulation. VIII. Adorno spricht sowohl im Zusammenhang mit seiner Kantinterpretation wie auch mit seiner Kantkritik oft von «Kants Intention». 93 Besteht nun diese Intention Kants in der «Konstruktion des Blocks», so ist es angesichts des soeben Erörterten gar nicht mehr so klar, was unter dem Begriff der Intention genau zu verstehen ist. Stellt das Grenzensetzen die subjektive Absicht Kants dar, oder ist die Grenze das objektive Thema der Kritik? Sollte allein ersteres der Fall sein, dann wäre die Kantkritik des nachkantischen Idealismus wohl gerechtfertigt. Wäre aber zumindest auch zweiteres der Fall, dann wäre die Grenzbestimmung Ausdruck des Objektivitätsanspruchs einer Philosophie, die durch Reflexion in Kritik und als Kritik in Spekulation umschlägt. Genau auf diesen dialektischen Umschlag zielt Adorno ab, wenn er den Kantischen Block einer zweideutigen Interpretation als Schranke und Grenze unterzieht. Diese Grenze kann danach nicht mehr bloß jene Verabsolutierung einer Schranke bedeuten, die Hegel und andere in ihm erkennen wollen. 94 Die These lautet: Der Kantische Block ist Adornos Sinnbild für die Grenze dialekti‐ scher Erkenntnis und diese Grenze beschreibt als solche eine Bezugnahme auf die Transzendenz des Nichtidentischen. 226 C. Das Innere und Äußere <?page no="227"?> 95 Dies belegt nicht nur sein Bedeutungswandel innerhalb der Philosophiegeschichte; die Mehrdeutigkeit ist darin selbst wiederholt aufgezeichnet worden, etwa bei Aristoteles, Augustinus, Avicenna und Thomas von Aquin (vgl. Paulus Engelhardt, Art. «Intentio», in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (online), Basel 2017. Fabrizio Amerini, Art. «Intention, Primary and Secondary», in: Henrik Lagerlund (Hg.), Encyclopedia of Medieval Philosophy, Dordrecht 2011. 96 Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt (Bd. 1), Leipzig 2 1924 [1. Auflage 1874], S.-124f. Um also dasjenige, was «Kants Intention» in Adornos Augen alles mit umfasst, nicht vorweg zu vereinseitigen, muss zunächst der Hinweis darauf erfolgen, dass der Begriff der Intention selbst gleich auf mehrfache Weise mehrdeutig ist. 95 Der Begriff der Intention weist nach diesen Entwicklungen mindestens eine zweifache Ambiguität auf; einerseits ist unklar, ob es sich dabei um einen rein handlungspraktischen (Absicht) oder einen theoretischen Begriff (Gegenständlichkeit) handelt, andererseits ist ebenso unklar, ob es sich bloß um konkrete Weisen des Bezugnehmens auf ‹X› handelt oder ob die Intentionalität eine grundlegende Strukturbestimmtheit des Denkens bzw. des Bewusstseins überhaupt offenbart. Die Forschung hat diese Ambiguität von subjektiver und objektiver Inten‐ tion zumal unter praktischem Interesse zu präzisieren versucht. Aber auch die spezifisch erkenntnistheoretische Bedeutung von ‹Intention› ist nicht von unbestechlicher Eindeutigkeit. Der Übergang zur modernen Auffassung des Begriffs der Intention ist an Franz Brentanos Eingriff festzumachen. In seiner (1874 erstmals erschienenen) Psychologie vom empirischen Standpunkt führt Brentano den Begriff zwar eindeutig als «positive Bestimmung, die von allen psychischen Phänomenen gemeinsam gilt» ein. Mit ‹Intention› sei gemeint die «Richtung» des Bewusstseins «auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Rea‐ lität zu verstehen ist)», was deshalb auch «immanente Gegenständlichkeit» ge‐ nannt werden dürfe. 96 Aus dem Bewusstsein verschiedener Intentionsweisen wird spätestens ab Brentano dann aber ein Wesenszug des menschlichen Bewusstseins abgeleitet, der seinerseits dann wieder von der genannten Ambi‐ guität betroffen sein wird. Die Ambiguität des Konzepts der Intentionalität tritt gemäß Adorno etwa bei Husserl als eine stillgestellte Dialektik von Subjekt und Objekt zutage. In Adornos Augen reduziert Husserl die Wechselbestimmtheit von Bewusst‐ seinsimmanenz und transzendentem Gegenstand auf ein Verhältnis der Inten‐ tionalität innerhalb des Bewusstseins - im Sinne der inneren Relation von Intention und Gegenstand, noesis und noema. Damit trachte Husserl «den Subjekt-Objekt-Dualismus zu versöhnen»; aber «nicht, indem er einfach Objek‐ tivität auf Subjektivität reduziert, sondern indem er den Gegensatz selbst in a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 227 <?page no="228"?> 97 Adorno, GS 5, S.-186. 98 Ibidem. ein Umfassenderes - bei Hegel heißt es Geist - tendenziell hineinnimmt». 97 Was von Adorno als Gegensatz von Subjekt und Objekt herausgestellt wird, schlägt sich im Begriff der Intentionalität als immanente Zweideutigkeit nieder: Die Frage, ob das ‹Gerichtetsein auf etwas› nun ein wesentliches Moment des Erkenntnissubjekts oder des Erkenntnisobjekts überhaupt oder eben etwas zwischen beidem bezeichnet, wird gezielt offengelassen. Für Adorno ist klar, dass dieser Schwebezustand der Intentionalität zwischen Innerem und Äußerem die idealistische Philosophie dazu verleitet, im Zuge der Reflexion auf den Bewusstseinsvollzug auf etwas Umfassenderes auszugreifen. Dies sei, schreibt Adorno im Husserlbuch weiter, bei Husserl und Hegel der Fall - denn «bei beiden konstituiert dies Umfassendere sich doch wieder schließlich subjektiv». Ist aber einmal die Intention zwischen Subjekt und Objekt selbst subjektiv konstituiert, dann bleibt kein Objekt übrig, das den Weg von außen herein in die Reflexionsstruktur des intentionalen Bewusstseins finden könnte. Das Äußere beschreibt immer schon eine Funktion der Intentionalität, die als Konzept das Innere und Äußere gemeinsam mit umfasst. Darum seien «beide» - Hegel und Husserl - trotz unterschiedlicher Theorien und «in aller Anstrengung um die Andersheit [des Objekts, C.M.] Idealisten», urteilt Adorno. 98 Da bei Adorno verschiedene Bedeutungsebenen von Intention präsent sind und sein müssen -weil es dabei gerade nicht auf die Eindeutigkeit, sondern auf das Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Bedeutungen ankommt -, soll der ausbleibenden Exegese eine Unterscheidung vorausgeschickt werden, um das Muster in besagtem Spannungsverhältnis nicht zu übersehen: Aus heuristischen Gründen ist es angezeigt, mit Adorno zwischen der subjektiven und der objektiven Intention des Kantischen Blocks zu differenzieren. Unter der subjektiven Intention verstehen wir im Folgenden die handlungspraktische Absicht hinter Kants kritischer Philosophie; unter der objektiven Intention hingegen das Thema der theoretischen Reflexion. Mit Blick auf Kant zeigt sich, dass das wirkungsgeschichtliche Schicksal des kritischen Projekts mitunter durch diese Ambiguität und die daraus entste‐ henden Unsicherheiten gekennzeichnet ist. Verfolgt Kant mit seiner Kritik die Absicht, dem Wissen Grenzen zu setzen? Offenbar bejaht die von Hegel und an‐ deren nachkantischen Idealisten ausgehende Kantkritik dies bis heute, wonach die Grenzbestimmung der Transzendentalphilosophie als Ausdruck einer bloß subjektiven Intention zu lesen sei. Die Kritik stellt danach zwar eine nützliche, letztlich aber inkonsequente Disziplinarmaßnahme gegen die verdinglichenden 228 C. Das Innere und Äußere <?page no="229"?> 99 Kant, KrV, B XXXIX. 100 Ibidem; Hervorhebung C.M. 101 Christoph Georg Paulus, Art. «Intentio», in: Hubert Cancik/ Helmuth Schneider (Hg.), Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart/ Weimar 1998, S.-1029. Prätentionen der Tradition dar; der eigentliche Nutzen der Grenzbestimmungen bestünde aber darin, die spekulative Relevanz des Denkvollzugs (z. B. als Primat der Praxis) herausgestellt zu haben. Offenkundig hat diese Lesart ihre Grundlage in Äußerungen Kants, etwa in der berühmten Bemerkung aus der B-Einleitung der ersten Kritik, wonach Kant «das Wissen aufheben» würde, «um zum Glauben Platz zu bekommen». 99 Oft wird das so gelesen, als ob das Ziel, dem Glauben Platz zu machen, die kritische Untersuchung des Wissens von Beginn weg als Handlungsabsicht anleitete. Diese Lesart beißt sich allerdings mit dem Buchstaben der Kritik. Kant selbst spricht nämlich nicht davon, dass er das Wissen aufheben wollte, sondern dass er dies tun «mußte». 100 Woher diese Notwendigkeit, dem Wissen Grenzen zu setzen, wenn das Grenzensetzen bloß eine subjektive Intention und eine Handlung aus freiem Entschluss sein sollte? Wäre nicht auch das Gegenteil der Kritik möglich, nämlich der Vernunft keine Grenzen mehr zu setzen und dort, wo Kant dem Glauben Platz machten möchte, überall wieder das Wissen einzusetzen? Was aber, wenn umgekehrt das Primat der Praxis bei Kant erst die Konse‐ quenz der theoretischen Intention, mithin das Primat als solches ein bloßes Reflexionsmoment einer theoretischen Einstellung darstellte, die subjektive Intention des kritischen Projekts damit aber eine ganz andere wäre, nämlich eine spekulative Absicht? Anders gefragt: Was, wenn die Kritik die Einlösung des spekulativen Anspruchs der Vernunft wäre? Diese ganz andere Intention der Kritik wird präformiert durch eine al‐ ternative, in der Philosophie bis heute kaum Eingang findende Bedeutung von ‹intentio›. Gemäß der Verwendung im Rahmen der römischen Prozessfor‐ meln bezeichnet ‹intentio› das «Klagebegehren» einer Streitpartei. Durch das Vorbringen der intentio wird gemäß römischen Prozessformeln der Streitgegen‐ stand festgelegt. 101 Die Ausrichtung der kantischen Kritik auf die Grenze ist die Fixierung auf den Streitgegenstand der spekulativen Tradition. Die Grenze wird daher nicht als Sache der Ontologie behandelt, sondern als Prozessgegenstand gegen die Rechtsübertretungen der spekulativen Ansprüche der Tradition ein‐ geklagt. Zwischen dem rechtmäßig beanspruchbaren Innenraum des Denkens und seinem Äußeren anzusiedeln, ist die positive Inanspruchnahme der Grenze nur noch als Bezugnahme durch Limitation zu verstehen. Die Sache selbst wird in dieser Philosophie also entschieden indirekt intendiert. Offensichtlich a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 229 <?page no="230"?> 102 Adorno, NaS IV 2, S.-27. 103 Adorno, GS 5, S.-323. kann die Intention der Kritik daher auch keine willkürliche Handlungsabsicht darstellen. Die Kritik erhebt sich als Prozess über alle willkürlichen Absichten (Intentionen) und befriedet deren Widerstreit. Der Block ist Ausdruck der Intention Kants, nicht weil das Grenzensetzen die Absicht, sondern weil die Grenze, die andere unterschlagen, das eigentliche Thema der Kritik darstellt. Der Block ist Kants Klagebegehren, während das spekulative Reflexionsmodell die leere fröhliche Fahrt antritt und die Dialektik der Grenzbestimmung ohne Prozess auf den Gegenstand projiziert. Danach scheint der untergründige Streit, der die spezifische Anwendung eines Begriffs auf die Welt legitimieren soll, als objektive Bestimmtheit der Werdewelt. Das Losreißen der Riemen von Kafkas Gespann wäre übertragen als das Explizit‐ werden des bei Kant implizit sich vollziehenden Vermittlungsgeschehens der Grenze zu begreifen. Die spekulative Dialektik muss durchgehend den Prozess der Kritik mit dem Prozess verwechseln. Insofern kann Adorno sagen, «dass eigentlich die Dialektik in einem eminenten Sinn die zu ihrem Selbstverständnis, zu ihrem Selbstbewusstsein gekommene Kantische Philosophie sei». 102 Das mag als rückwirkende Bevormundung Kants durch die Dialektik erscheinen, ist aber scharfmöglichste Hegelkritik. Die Kontinuität in der Diskontinuität zwi‐ schen Kant und Hegel hat nämlich weitreichende Folgen für Adornos eigenes dialektisches Programm: Hinter der adornoschen Bestimmung der Dialektik als explizit gewordene Kritik steckt die Forderung, dass sich die Dialektik wieder ihrer Grenze versichere. Die Grundintention der Kritik, Grenzen zu setzen, kann danach nicht mehr nur bedeuten: die Kritik möchte der Spekulation, im schlimmsten Fall aus dem partikularen Eigeninteresse der bürgerlichen Vernunft heraus, Grenzen setzen. Vielmehr gilt: Die Kritik thematisiert die Grenze und weist so - negativ - über sich hinaus. IX. Damit ist für den Hegelianer Adorno freilich auch Hegels Leistung zweideutig geworden. Zwar habe Hegel «das kritische Philosophieren großartig über das formale Bereich hinaus erweitert». Weil diese Erweiterung aber im Grunde schon im Bewusstsein der Grenze, freilich als negative Erweiterung angedacht ist, habe Hegel «in eins damit das oberste kritische Moment, die Kritik an der Totalität, am abschlußhaft gegebenen Unendlichen, eskamotiert». 103 Schließlich heißt es an der betreffenden Stelle aus den Drei Studien zu Hegel: 230 C. Das Innere und Äußere <?page no="231"?> 104 Ibidem, S.-323f. 105 Vgl. Herbert Schnädelbach, «Grenzen der Vernunft? Über einen Topos kritischer Philosophie», S.-293. Selbstherrlich hat er [Hegel, C.M.] dann doch den Block weggeräumt, jenes fürs Bewußtsein Unauflösliche, an dem Kants transzendentale Philosophie ihre innerste Erfahrung hat, und eine vermöge ihrer Brüche bruchlose Einstimmigkeit der Er‐ kenntnis stipuliert, der etwas von mythischem Blendwerk eignet. Die Differenz von Bedingtem und Absolutem hat er weggedacht, dem Bedingten den Schein des Unbedingten verliehen. Damit hat er schließlich doch der Erfahrung Unrecht getan, von der er zehrt. 104 Der Block wird von Adorno hier in Stellung gebracht, um jenem Moment zum Ausdruck zu verhelfen, das Hegel durch seinen Hang zum Positiven nicht verinnerlichen kann. Es ist die Scheinhaftigkeit des Ganzen selbst, das nur als Limitation im Bewusstsein des Scheins zum Ausdruck kommen kann, solange das Denken zum Flug durch Negation des Bedingten ansetzen muss. Das Integral aller Negationszusammenhänge erweist sich durch seine Positivierung als ein mythisches Blendwerk. Was der kantischen Konzeption ein Mangel, ist dem mythischen Blendwerk ein Gewinn - die negative Lehre vom Schein des Unbedingten zur positiven Lehre vom unbedingten Ganzen - geworden. Das macht Kants Philosophie nun allerdings wieder zweideutig in jenem für Adorno ‹großartigen›, d. h. nicht-amphibolischen Sinne. Die Kritik inten‐ diert die Grenze, heißt, sie erschöpft sich notwendigerweise gerade nicht in ihrer inhibierenden Wirkung, sondern die inhibierende Wirkung der Kritik zeitigt noch einmal eine gegenteilige, spekulative Konsequenz - freilich ohne die Vermittlung von Innerem und Äußerem zugunsten des Reflexivwerdens des Vermittlungsgeschehens als solchen positiv zu überformen. Mit anderen Worten: Wenn Adorno die Immanenz des dialektischen Ganzen negativ erwei‐ tern möchte, muss er zu Kant zurückgehen. Nur der kritische Weg nämlich kann in den negativ-dialektischen übergehen, der das Integral der Vermittlung als grenzbegriffliche Funktion auf die Grenze der Vermittlung ausrichtet. Es wäre daher unangemessen, Adorno zu unterstellen, er interpretiere Block und Ding an sich nur als Schranke. 105 Bei Adorno sind eindeutig beide Bedeu‐ tungsdimensionen präsent. Der Kantische Block ist ja nichts anderes als die inbegriffliche Veräußerlichung der grenzsetzenden Intention in ihrem vollen Doppelsinn als subjektive Absicht und objektives Thema der Kritik. Adornos negative Dialektik, könnte man sagen, gewinnt ihr Selbstverständnis durch die Aneignung dieses Doppelsinnes der Grenze. a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 231 <?page no="232"?> Es soll als Nächstes gezeigt werden, dass Adornos Intepretament der groß‐ artigen Zweideutigkeit Kants die folgenreiche, systematische Pointe darin hat, dass der Doppelsinn von Intention als Absicht und Thema der Kritik genau die‐ jenige nicht amphibolische Zweideutigkeit ist, die Adorno gegen die hegelsche Dialektik ins Feld führen muss. Absicht und Thema der negativen Dialektik ist es, die Reflexionsgehalte der traditionellen Dialektik auf die Grenzen der Dialektik zurückzuwenden. Negative Dialektik besagt, dass der Anspruch der traditionellen Dialektik nur dann zu retten ist, wenn der dialektische Weg als der einzig zielführende Weg zur Bestimmung der eigenen Grenzen begriffen werden kann. Kerngehalte wie das Nichtidentische, das Nichtbegriffliche, die Andersheit etc. sind bei Adorno darum nie entweder dialektische oder grenzbe‐ griffliche Gehalte, sondern immer beides: Momente dialektischer Vermittlung und Grenzbestimmungen der dialektischen Vernunft. Der Zusammenfall von vermittelnder und grenzbegrifflicher Funktion wird im Block als Eigenheit der negativen Dialektik offenbart. Insofern ist Adornos dialektische Kantkritik insgesamt als Artikulation einer die Grenze der Dialektik gewahrenden Dialektik der Grenze zu lesen. Das Kant zugeschriebene Bewusstsein des Blocks ist darum auch zweifellos mehr für Adorno als das gemütliche Sich-Einrichten des bürgerlichen Bewusstseins in der eigenen Immanenz, auch wenn (oder gerade weil) der Kritizismus, wie im Folgenden gezeigt werden soll, genau als solches kritisiert werden muss. Dieser Notwendigkeit der Kritik entsprechend kann mit der Zweideutigkeit des Blocks die vielbesagte Differenz zu Hegel veranschaulicht werden. Die hier vertretene These lautete, dass Adorno die Zweideutigkeit im Begriff der Intention auf die Bedeutung zuspitzt, die Kant selbst durch seine Differenzierung von Grenze und Schranke nahelegt; nämlich, dass die Grenzbestimmung in keiner Weise eine Einschränkung des Denkens darstellt, sondern eine subjektive Notwendigkeit. Eingeschränkt wird nur der Themenbereich des spekulativen Denkens auf das Thema der eigenen Grenze. Die Thematisierung dieser Grenze kann danach aber die mannigfaltigsten Inhalte annehmen. Nur das Verhältnis als solches zwischen dem Inneren (Bekannten) und Äußeren (völlig Unbekannten) ist streng formal zu thematisieren, wo sich die Philosophie auf übersinnliche Gehalte beziehen möchte. Wenn Kritik also das Ermessen der Grenze zwischen sinnlich immanenten und nicht sinnlich verbürgten Anspruchsgehalten bedeutet und Dialektik die Entgrenzung des Denkens durch den Nachweis der Vermitteltheit des Äußeren, dann stellt die Engführung von Dialektik und Kritik bei Adorno eine Dialektik von Begrenzung und Entgrenzung heraus, wonach die idealistische Kritik und die idealistische Dialektik denselben Beweisgrund in Anspruch nehmen 232 C. Das Innere und Äußere <?page no="233"?> 106 Adorno, GS 6, S.-174. 107 Ibidem, S.-185. 108 Vgl. ibidem, S.-226-230. müssen, um sich je als das angemessenere Reflexionsmodell zu empfehlen. Die Einheit des Beweisgrundes der Kritik und der Dialektik offenbart sich an dem idealistischen Grundsatz, dass es nichts Objektives gibt, das nicht durch ein Subjekt vermittelt wäre. Dieser Grundsatz ist nicht etwa aufgrund einer vermeidbaren Unschärfe mehrdeutig; er ist an sich ambivalent. Er kann nicht entweder onto‐ logisch oder erkenntniskritisch, sondern muss in beide Richtungen ausgelegt werden können. Alles sei vermittelt kann nämlich einerseits heißen, dass es an sich nichts gibt, was außerhalb des Vermittlungszusammenhangs stünde; ande‐ rerseits kann der Satz heißen, dass nichts je erfahren werden könnte, das nicht schon durch die konstitutive Anlage des erkennenden Subjekts vermittelt wäre. Kant und Hegel scheinen sich zugleich einig und uneinig darüber zu sein, wie die im Grundsatz behauptete Universalität von Vermittlung zu verstehen ist. Die Zweideutigkeit des negativ-dialektischen Reflexionsmodells macht beiden noch einmal den Prozess. Erkennt man nämlich, wie Adorno, beide Sinndimensionen der Vermittlung an, so ergibt sich daraus das für die negative Dialektik gerade konstitutive Paradoxon, dass die Totalität des Vermittlungszusammenhangs als total und begrenzt zu begreifen ist. Diese Zweideutigkeit ist eben nicht in der Dialektizität der positiven Dialektik Hegels, sondern in dem Klagebegehren der reinen Vernunft bei Kant vorgezeichnet. Nur so werden die paradoxen Wendungen von Adorno wie jene von einer «to‐ talitäre[n] und darum partikulare[n] Rationalität» 106 überhaupt verständlich. Diese hier besagt etwa: Weil das identifizierende Denken das Ganze aus Innerem und Äußerem durch Vermittlung zu einem absoluten Innenraum integrieren muss, offenbart die Ganzheit des Vermittlungszusammenhangs die «Insuffizienz des Subjekts», das die Vermittlung vollzieht. 107 Die Allgegenwart des Subjekts gilt dem kritischen Idealismus für das Gleiche wie sein durchgängiges Angewiesensein auf ein Gegebenes, oder wie Adorno mit Blick auf den Block sagt: ein «Hinzutre‐ tendes». 108 Allgegenwart gilt dem transzendentalen Bewusstsein als ein Signum von Begrenztheit. Und so erheischt dieses Bewusstsein im Hegelianer Adorno eine Dialektik des Begriffs, kraft welcher sich zwar a priori auf Nichtidentisches als das Hinzutretende verweisen lässt, es aber gerade unmöglich ist, dieses als Nichtidentisches zur Darstellung zu bringen. Adorno macht also vom Motiv des Blocks Gebrauch, um die Immanenz des idealistischen Vermittlungsganzen von innen heraus durch Negation zu sprengen. Wenn Adorno Kritik an Kant übt, muss das folglich nicht bedeuten, dass die kantische Kritik als das Kritisierte schon seine Geltungskraft eingebüßt a) Der Block als Ausdruck der grenzsetzenden Intention 233 <?page no="234"?> 109 Das Verhältnis zur Kunst wird von Adorno nicht als Überformung der begrifflichen durch die nichtbegriffliche Wahrheit des Kunstwerks, sondern als ein dialektisches Komplementärverhältnis konzipiert. Deutlicher geht es nicht: «Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.» Adorno, GS 7, S. 113. Vgl. Wacyl Azzouz, Die Andersheit des Kunstwerks. Zu Theodor W. Adornos Kunstwerkbegriff in der Ästhetischen Theorie, Tübingen 2023, S.-28-31. hätte; genauso wie es absurd wäre, aus Adornos Begriffskritik darauf zu schließen, dass seine Philosophie nichtbegrifflichen Erkenntnismodi zuneigte oder diesen einen epistemischen Vorrang vor der begrifflichen Erkenntnis einräumen würde. 109 Für Adorno können nur jene Modi von spekulativer Bedeutung sein, welche im Zuge ihrer Ausarbeitung eine doppelte Wirkung zeitigen - jene, welche unsere begrifflichen Intentionen auf das Nichtbegriff‐ liche restringieren und durch diese Restriktion realisieren. In der analogischen Versinnbildlichung der Schranke des Erkennens liegt denn auch der Schlüssel, um Adornos dialektische Kantinterpretation in ihrer ganzen Ambivalenz nachzuvollziehen. Die Ambivalenz einer bestimmten Schranke alles Bestimmens offenbart sich als die Grenze des eigenen Vermitt‐ lungstuns. Die negative weist die positive Dialektik auf diese Grenze hin. Derart musste der Kantische Block bei Adorno letztlich eine systematische Funktion einnehmen. b) Erfahrungsgehalt I. Der Topos des Blocks hat seine Pointe darin, dass er den Einfall der Erkennt‐ niskritik in das dialektische Vermittlungsgeschehen markiert. Der Block veräu‐ ßerlicht die Ambivalenz der grenzsetzenden Intention zu einem Sinnbild, das sich argumentativ sowohl mit Kant gegen Hegel als auch mit Hegel gegen Kant in Stellung bringen lässt und darüber - in Wechselbestimmtheit der kritischen und der vermittelnden Funktion - dem negativ-dialektischen Antisystem als Sachgehalt zufällt. Bei Adorno gilt also, was schon bei Kant und Hegel galt: Der sich zur Darstellung veräußerlichende Vollzug der Kritik ist dem Inhalt der Dialektik nicht nebensächlich, sondern vertritt die Sache selbst. Die Sache der Erkenntnis wird als solche indirekt über den Vollzug der Kritik intendiert, während die Kritik ihrerseits dialektisch verfahren muss, um jene Vermitteltheit von Innerem und Äußerem aufzeigen zu können, die das Vermittlungssubjekt im Namen der Sache als beschränkt entlarvt und den besagten indirekten Bezug ermöglicht. 234 C. Das Innere und Äußere <?page no="235"?> 110 Hierfür wäre der Unterschied zwischen absolut gesetzter Realität (der Dinge an sich) und Realität im Sinne der Sachhaltigkeit eines Urteils zu berücksichtigen (vgl. etwa erläutert durch Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1962, S. 186f.): Der Block hat reale Bedeutung nur innerhalb des kritischen Urteilsvollzugs; als Konzept ist der Block also nicht darum ‹sachhaltig›, weil es ein Ding an sich, ‹den Block›, da draußen gäbe, sondern weil seine inhibierende Wirkung auf die Erkenntnis ein reflexives Verhältnis zum Ausdruck bringt, das seinerseits weder nur ideal noch nur real ist, sondern eben genau zwischen Urteilsvollzug und Erfahrungsgehalt liegt und unaufhörlich zur kritischen Vermittlung zwischen den beiden Konstitutionsmomenten anhält (vgl. Abschnitt C/ 1c). So erklärt sich, weshalb Adorno gerade das Allerrealste, das Tauschverhältnis, mit einem literarischen Motiv zu beschreiben versucht: Adorno versucht, die Realität des Scheins, also etwas Unmögliches zur Darstellung zu bringen. 111 Vgl. Adorno, GS 11, S. 388ff.; dazu Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, S. 69ff. 112 Adorno, GS 11, S.-388. Bei aller ‹konstitutiven› Indirektheit negativ-dialektischer Gehalte kann dem Block allerdings auch eine unmittelbar ‹objektive› Bedeutung zugeschrieben werden. Dies im Rahmen einer materialistischen Gesellschaftstheorie. Im Fol‐ genden soll diese Bedeutung expliziert werden. Dem ist aber wiederum die Frage vorauszuschicken: Wie ist es möglich, dass die unmittelbare Anwendung dieses Motivs auf soziohistorische Tatbestände bei Adorno keinen Rückfall der kritischen in die traditionelle Theorie markiert? Und die Antwort muss auch hier lauten, dass die objektive Bedeutung des Blocks - sein Erfahrungsgehalt - dem Antisystem nicht als inhaltliche Bereicherung, sondern als Grund zur Selbstkritik zufallen muss. Die Anwendung des Blocks auf gesellschaftliche Erfahrungszusammenhänge ist eine Funktion der Selbstkritik der dialektischen Vernunft. In diesem Abschnitt gilt es daher einerseits zu zeigen, welche objektive Bedeutung Adorno dem Topos des Blocks zuspricht, und andererseits eben, dass und weshalb die Sachhaltigkeit 110 des Topos nur als reflexive Selbstkritik des Denkens zur Darstellung gelangen kann. Adorno hat unter «Anleitung» Siegfried Kracauers, des ‹wunderlichen Rea‐ listen›, früh gelernt, die Kritik der reinen Vernunft, statt als Ansammlung zeitloser Gehalte, unter dem Gesichtspunkt des Erfahrungsgehalts auszulegen, der sich in diesen Gehalten ausspricht. 111 Kracauers unorthodoxe Kant-Herme‐ neutik lehre uns, «das Werk nicht als eine bloße Erkenntnistheorie, als Analyse der Bedingungen wissenschaftlich gültiger Urteile» zu behandeln, «sondern als eine Art chiffrierter Schrift, aus der der geschichtliche Stand des Geistes herauszulesen war». 112 Unschwer lässt sich erkennen, wie Adorno diese herme‐ neutische Maxime überall konsequent befolgt - etwa in der Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» oder in den Schlusspartien der Negativen Dialektik. Adornos akademische Auseinandersetzung mit Kant ist von der b) Erfahrungsgehalt 235 <?page no="236"?> 113 Ibidem. 114 Vgl. ibidem, S.-389. 115 Ibidem. 116 Adorno, NaS IV 4, S.-203. 117 Adorno, GS 6, S.-376. Hoffnung beseelt, «dabei etwas von der Wahrheit selber zu gewinnen». 113 Dieser Umweg der dechiffrierenden Kantkritik ist wiederum nötig, weil diese Wahrheit auch nur gebrochen und gespiegelt, d. h. durch ihre gesellschaftlichen Manifes‐ tationen hindurch erscheint. Die Theorie der Gesellschaft ist der kritischen Theorie Adornos kein Selbstzweck; sie dient zur Darstellung jener Wahrheit, die sich eben nicht anders denn als dechiffrierende Kritik des geschichtlichen Gehalts philosophischer Grundbegriffe auf den Begriff bringen lässt. Adorno betont nun, dass es die erkenntniskritische Intention der kantischen Philosophie als solche ist, die den Gegenstand seiner dechiffrierenden Herme‐ neutik bildet. Die erkenntniskritische Intention bringt in den Augen Adornos einen bestimmten historischen Stand des Bewusstseins zum Ausdruck. Es ist aber nicht so, als ob dieser historische Stand dem «System des transzendentalen Idealismus» explizit als Sachgehalt zufiele. Vielmehr seien es «die Brüche» zwi‐ schen «objektiv-ontologische[n] und subjektiv-idealistische[n] Momenten», die das kantische System «beredt» werden lassen. 114 Das Ziel der dechiffrie‐ renden Kant-Hermeneutik, «Kant zum Sprechen» zu bringen, erfordert daher die Anerkennung, dass die «Brüche [der kantischen] Philosophie wesentlicher sind denn die Kontinuität des Sinnzusammenhangs». 115 In der Tat ist «die unermessliche Qualität des Kantischen Denkens» für Adorno zumal daran festzumachen, dass darin Spannungen zum Austrag kommen, die die orthodoxe Kantforschung gerne als historisch vererbte Denkfehler oder korrekturbedürf‐ tige Nachlässigkeiten verbucht. Ihre Zeit in Gedanken gefasst, ist die kantische Philosophie für Adorno «etwas ganz anderes […] denn bloß eine Art von historischer Denkwürdigkeit». 116 II. Das ist keineswegs nur wohlwollend gemeint. Adorno, der Kant hierin gegen den Strich liest, gelangt zu Schlüssen, die dem Selbstverständnis des Kriti‐ zismus bisweilen direkt widersprechen. Während Kant seine Kritik als ‹revolu‐ tionäre› Maßnahme gegen Dogmatismus und Indifferentismus konzipierte, ist für Adorno deutlich geworden, dass die Breitenwirkung der kantischen Kritik der «Wandlung des Bürgertums von einer revolutionären in die konservative Klasse» 117 korrespondiere und so - in einer dialektischen Volte der Aufklärung - erneut zur Konsolidierung einer repressiven Praxis beigetragen hat. Kritik neige 236 C. Das Innere und Äußere <?page no="237"?> 118 Ibidem, S.-386. 119 Ibidem. 120 Ibidem, S.-388. 121 Zur Rolle der Gleichgültigkeit in Gestalt gesellschaftlicher Phänomene wie die zwi‐ schenmenschliche ‹Kälte›, vgl. Tilo Wesche, Adorno. Eine Einführung, S.-86-95. 122 Adorno, GS 6, S.-375. 123 Ibidem, S.-376. 124 Ibidem, S.-386. 125 Kant, AA II, S.-367. 126 Eine Parallelisierung von Kritizismus und Protestantismus erfolgt zuerst in der 7. Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft». Adorno weist dabei auf die Merk‐ dazu, sich «der Tendenz zur Neutralisierung alles Geistigen in Dekor gut sich ein[zufügen], die nach dem Sieg der Revolution, oder, wo diese unterblieb, durch die unmerklich sich durchsetzende Verbürgerlichung, die gesamte Szenerie des Geistes eroberte». 118 Der Kantische Block wäre dann eines jener «Theoreme, die zuvor die bürgerliche Emanzipation als Waffen [gegen den Dogmatismus der Tradition, C.M.] benutzte», 119 dann aber entgegen der ursprünglichen Absicht zu einer «Sozialisierung metaphysischer Indifferenz» 120 führte. Der Block symbolisiert als Symbol metaphysischer Indifferenz paradoxerweise - d. h. entgegen der ursprünglichen Absicht seines Einsatzes - die erneute Versteinerung der kritisch-revolutionären Dynamik zu einem unverrückbaren kategorialen Gehalt dogmatischen Ausmaßes. 121 Die manifeste Wirkung dieser repressiven Tendenz der Kritik sei die «Resignation» der Philosophie vor den eigentlich wichtigen Fragen. Die Kritik laufe auf ein «Verbot, das Absolute zu denken» und letztlich auf «die eminent bürgerliche Bejahung der eigenen Enge» hinaus. 122 Das bürgerliche Bewusstsein aber «will ungestört sein noch bis in die metaphysische Sublimierung hinein, das Absolute wird ihm zur müßigen Sorge». 123 Das Bewusstsein des Blocks sei «die vulgäre Gestalt bürgerlicher Skepsis, deren Solidität es ernst ist nur mit dem, was man sicher in Händen hält». 124 Der Block ist für Adorno also Ausdruck eines partikularen (Klassen-)Inter‐ esses, das zur Erhaltung seiner Herrschaft nicht möchte, dass zu viel gedacht wird. Sonst könnte diesem Bewusstsein nämlich die Amphibolie auffallen, die das Herrschaftsverhältnis mit einer zweiten Natur verwechselt und dadurch begründet. Die «repressive Seite des Kritizismus» wird von Adorno daher auch in Parallele zu protestantischen Verinnerlichungstendenzen gesetzt. Die Ten‐ denz zur Kontrolle aller ‹ausschweifenden› Regungen geht für Adorno so weit, dass der in die «Metaphysik […] verliebt[e]» 125 Kant, in Kontinuität zu Luther, für seine Disziplinarmaßnahme das Register der patriarchalen Sexualmoral be‐ mühe. 126 «Im Ursprung dessen, was noch Nietzsche als intellektuelle Redlichkeit b) Erfahrungsgehalt 237 <?page no="238"?> würdigkeit hin, dass «in der Sprache der Philosophie immer, wenn es sich darum handelt, der Vernunft gewissermaßen Grenzen zu setzen, der Vernunft ihre Anmaßung zurechtzuweisen, […] Ausdrücke aus der erotischen Sphäre wiederkehren von der Art dieses Lutherischen Ausdrucks von der Hure Vernunft». Zu Kants Ausdruck vom ‹Ausschweifen in intelligible Welten› bemerkt Adorno: «Es ist gewissermaßen so, wie wenn die spekulative Neigung des Geistes, nun selber bis ins Absolute zu gehen, sich das Absolute nicht durch eine Wand versperren zu lassen, - wie wenn das gleichsam mit einer Art sexueller Neugierde von Anfang an zusammengebracht würde.» Kant entspräche mit seiner Disziplinierungsmaßnahme also «der Tradition des deutschen Protestantismus, in dem ja, wie Sie wissen, der Begriff der Vernunft außerordentlich eingeschränkt ist zugunsten des Glaubens». Adorno, NaS IV 4, S.-110-112. 127 Adorno, GS 6, S.-376. 128 Vgl. Kant, KrV, A Xf.: «Indessen ist diese Gleichgültigkeit [gegenüber den metaphysi‐ schen Fragen, C.M.], die sich mitten in dem Flor aller Wissenschaften ereignet und gerade diejenigen trifft, auf deren Kenntnisse, wenn dergleichen zu haben wären, man unter allen am wenigsten Verzicht tun würde, doch ein Phänomen, das Aufmerksamkeit und Nachsinnen verdient.» Zugleich wird die Indifferenz von Kant als «die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters» ‹gewürdigt›. - Dazu Adorno in der 5. Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft», Adorno, NaS IV 4, S.-86f. pries, lauert der Selbsthaß des Geistes, die verinnerlichte Protestantenwut auf die Hure Vernunft.» 127 Wie verträgt sich dieses Bild nun mit den Zuschreibungen der Großartigkeit und der unermesslichen Qualität der kantischen Philosophie? Eine Antwort darauf muss wieder in Betracht ziehen, dass sich Adorno der Zweischneidigkeit seiner Kritik am Kritizismus nicht nur vollends bewusst sein dürfte; er setzt diese Zweischneidigkeit vielmehr explizit ein, um den Erfahrungsgehalt der kantischen Philosophie zu artikulieren. Erkennen wir diese Zweischneidigkeit von Adornos Kritik des Kritizismus nicht an, ist die Frage der interpretatori‐ schen Akkuratheit von Adornos Kantbezügen rasch negativ entschieden. Aus kantischer Sicht wäre ja leicht zu entgegnen, dass die Kritik ihrerseits als eine Maßnahme zur Bekämpfung metaphysischer Indifferenz angelegt ist. 128 Dass Adorno aber, wenn er dem Kritizismus die Konsolidierung metaphysischer Indifferenz vorwirft, schlicht nicht gewusst hätte, dass der kantische Buchstabe Gegenteiliges behauptet, ist unplausibel. Inwiefern, sollte stattdessen die Frage lauten, erweist sich gerade die zweischneidige Kritik am Kritizismus dem Umschlagen des Blocks von einem antidogmatischen in ein konservatives Element als angemessen? Und vor allem: Inwiefern kann Adorno den Block in eine antidogmatische Maßnahme zurückverwandeln? Die Adornoforschung hat also zwei Möglichkeiten: Entweder, wir erachten Adornos Kantinterpretation als verfehlt und korrigieren diese im Namen des ‹offiziellen› Kritizismus, wie das Carl Braun versucht hat (dem darin 238 C. Das Innere und Äußere <?page no="239"?> 129 Adorno, NaS IV 4, S.-263f.; Hervorhebung C.M. wohl der überwiegende Teil der heutigen Kantforschung folgen würde). Oder man nimmt den Zusammenhang von Dialektik und Kritik ernst. Hiernach zeigte sich, dass Adornos widersprüchlich scheinende Kantrezeption Teil einer systematischen Kritik der kantisch-nachkantischen Tradition darstellt, deren Wahrheitsanspruch im Antisystem gerettet werden sollte. III. In der 16. Vorlesung zu Kants «Kritik der reinen Vernunft» kündigt Adorno an, «doch noch einige Worte zu sagen über den Kantischen Block, von dem wir schon mehrfach mehr oder minder desultorisch geredet haben». Während die desultorische Rede darin bestand, die Selbsteinschränkung der Vernunft im Kiel‐ wasser Hegels als willkürliche Disziplinarmaßnahme selbstverwaltender Ver‐ nunft zu kritisieren, geht es Adorno jetzt darum, «jene Erfahrungen, die durch die Kantische Philosophie ausgedrückt werden», eigens hervorzuheben. Dabei versucht Adorno einerseits, den Kantischen Block historisch einzuordnen, andererseits, dessen geschichtliche Bestimmtheit anhand unseres Reflexionsbe‐ griffspaars zu reflektieren. Er schlägt vor, daß man diesen Kantischen Block verstehen könnte als den in sich selbst reflektierten, auf sich selbst reflektierenden, aber doch zugleich auch unvermittelt sich durchhal‐ tenden Cartesianischen Dualismus, in dem eigentlich zwischen den Bereichen des Inneren und des Äußeren ein Abgrund klafft, der nicht zu überwinden ist. 129 Zwei Dinge sind hier hervorzuheben; zunächst (1) der Umstand, dass Adorno das Grundmotiv der hegelschen Kantkritik aufgreift, wonach Kant zur vordia‐ lektischen Tradition einer dualistischen Reflexionsphilosophie à la Descartes zu rechnen sei. Dann wäre aber ebenso hervorzuheben, dass (2) Adorno Kant mit einem reflektierten Cartesianismus gleichsetzt und dabei gegen die anti-car‐ tesianische These der hegelschen Dialektik argumentiert, wonach die Trennung durch Vermittlung im Absoluten doch noch zu überbrücken wäre. Die Engfüh‐ rung von Kant und Descartes bedeutet, dass die Vermittlung des Getrennten und die Trennung innerhalb des kritischen Reflexionsmodells vonstattengehen kann. Der reflektierte Dualismus zeichnet also eine paradoxe Koinzidenz von Vermittlung und Unterscheidung des Inneren und Äußeren auf. Entsprechend stellt der Block auch nicht einfach den Dualismus, sondern einen Dualismus dar, der sowohl die Trennung von Innerem und Äußerem unvermittelt durch die Vermittlungen hindurch erhält, als auch beide Seiten durch Reflexion vermittelt. Kurzum: Adorno findet bei Kant ein Vermittlungsgeschehen aufgezeichnet, das eine echte Alternative zu dem positiv ausgehenden Vermittlungsgeschehen bei b) Erfahrungsgehalt 239 <?page no="240"?> 130 Ähnlich wie Adorno, aber auf grundsätzlich andere Weise, reflektiert Charles Taylor in A Secular Age auf eine Verinnerlichungstendenz in der Philosophie, die mit Augus‐ tinus einsetze, bei Descartes methodisiert werde und in praktischer Konsequenz im disengagement des Handlungssubjekts in der Moderne resultiere. Es sei einerseits die theoretische Grundweichenstellung des cogito, die eine methodische Isolation des agent from its field bewirke (Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge MA/ London 2007, S. 257f.; vgl. auch 287), andererseits der cartesische Gedanke der générosité, der eine Verinnerlichung vertikaler Ordnungsprinzipien durch deren Universalisierung darstelle und den säkularen Gedanken der Würde als oberstes Prinzip begründe (vgl. ibidem, S. 694). - Dass das Bedürfnis zur Überwindung der Cartesischen Entzweiung im Denken Hegels virulent war und dies für alle in dessen Wirkungskreis bis heute bleibt, bedarf keines besonderen Nachweises. — Und noch am anderen Ende des Spektrums, bei dem die ‹Bewusstseinsphilosophie› das eine Ende bildet, - in Wittgensteins Sprach‐ philosophie - wird im Rückgriff auf Descartes auf das Verhältnis von Innerem und Äußerem reflektiert. Wittgenstein kritisiert die Verwechslung von Innerem und Äu‐ ßerem im Namen ihres «fundamentalen logischen Unterschiedes» (vgl. Hans-Johann Glock, «Innen und Außen: ‹Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre›», in: Eike von Savigny/ Oliver R. Scholz (Hg., Wittgenstein über die Seele, Frankfurt am Main 1995, S. 233-252, zumal 234); für Wittgenstein stellt zumal das Bild eines geschlossenen Bewusstseinsinnenraums eine unzulässige Assimilierung der beiden Bereiche dar. Dem Bewusstsein des Blocks kommt Wittgenstein dabei recht nahe: «Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.» Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Joachim Schulte (Hg.), Wittgenstein Werkausgabe (Bd.-1), Frankfurt am Main 1984, §115. Hegel und nicht bloß die Vorstufe desselben darstellt. Dieses negativ ausgehende Vermittlungsgeschehen neu zu artikulieren, sich anzueignen und im Zuge der kritischen Selbstreflexion der Dialektik systematisch anzuwenden ist das zentrale Desiderat einer negativen Dialektik. (1) In der geschichtlichen Charakterisierung Kants als Nachfolger Descartes’ kommt zur Geltung, dass das System der Transzendentalphilosophie seine Ei‐ genbestimmtheit nicht über eine intellektuelle Anschauung zeitlos ewiger Geh‐ alte erlangt, sondern über den Umweg der Reflexion auf tradierte Ansprüche. Ein hierüber angeeigneter Gehalt sei der Substanzdualismus Descartes’. So dürfte Descartes’ irreversible Trennung zwischen der in sich kreisenden den‐ kenden Sache (res cogitans) und dem äußeren Zusammenhang der räumlich ausgedehnten Welt (res extensa) als paradigmatischer Anwendungsfall der Reflexionsbegriffe von Innerem und Äußerem gelten. Die cartesische Trennung von Innerem und Äußerem hat die Problemlage und das Selbstverständnis der gesamten philosophischen Moderne über Kant hinaus gewiss dadurch mitbe‐ stimmt, dass besagte Reflexionsbegriffe dabei den Rahmen einer dogmatischen Substanzlehre festlegen. 130 Dass Kants Theorie der Reflexionsbegriffe diese 240 C. Das Innere und Äußere <?page no="241"?> 131 Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S.-135. 132 Vgl. dazu Adorno, NaS IV 1, S.-198ff., 244ff. 133 Adorno, NaS IV 11, S.-222. 134 Adorno, NaS IV 1, S.-245. Dogmatik bekämpft, ohne in einen Monismus zu münden, wird im Kielwasser der Dualismuskritik der nachkantischen Philosophie meist übersehen. Wie Thyen daher richtig bemerkt, stellt Kant für Adorno die Problemlösungs‐ instanz mit Blick auf das Problem einer «nach-cartesianischen Begründung von Erkenntnis» dar. 131 Die Problemlösung erfolgt bei Kant indessen nicht als Anspruch, die Trennung aufheben zu können. Das Grundlagenproblem des Dualismus werde bei Kant vielmehr, so Thyen, «durch eine transzendentale Begründung von Objektivität gelöst». Denn während sich die bloße Wendung auf das Subjekt schon bei Descartes vollzogen hätte, rücke die Kopernikanische Wende auf das Subjekt, anders als die Cartesianische, in letzter Konsequenz das Objekt in den Blick. 132 Kants revolutionäre Tat - das nie dagewesene Neue, das sich im Zuge dieser transzendentalen Wende auf das Subjekt ereignet - besteht für Adorno deshalb darin, daß gerade die Objektivität der Erkenntnis und der Grundtatbestände der Erkenntnis, also alles das, was früher von der alten Ontologie aristotelisch-scholastischen Typus zu einem Ansichseienden gemacht worden ist, daß sich das erhalten soll und das gerettet werden soll gerade durch die Reflexion auf das, was bis dahin in der Geschichte der Philosophie solche Objektivität zersetzt hat, nämlich das Subjekt. 133 Im kantischen Schachzug, «durch eine Analyse des Subjekts Objektivität zu retten», besteht für Adorno das großartig «Paradoxale, das Aporetische dieser Philosophie». 134 Diese Rettung beruft sich, statt auf ein unerschütterliches Fundament, auf die Grundaporie, innerhalb einer reflexiven Einheit von Denken und Sein der Trennung von beidem gewahr zu werden. Dabei wird der cartesi‐ sche Dualismus zuhanden der transzendentalen Reflexion auf das Innere und das Äußere gleichsam ‹logifiziert›. Das kritische Ergebnis dieser Logifizierung der Geschichte lautete bei Kant schon nicht mehr auf eine spekulative Theorie der Vermittlung, sondern darauf, dass die transzendentale Logik die bloß formale Einheit von Logischem und des Alogischen darstellt und insofern darlegt, dass eine Einheit des Getrennten nur im Skopus der Kritik legitim beansprucht werden kann. Die Grundoperation der Kritik deckt hierbei auf, dass jede ‹dog‐ matische› Inanspruchnahme der logischen Einheit das Ausschlussverhältnis zum alogisch Mannigfaltigen in Anspruch nimmt. In der Vermittlung des Inneren und Äußeren denkt die Kritik das Blockiertsein jedes direkten Zugangs zur transzendental-äußeren, intelligiblen Welt. Die Dialektik von innen und b) Erfahrungsgehalt 241 <?page no="242"?> 135 Descartes’ Dualismus der Meditationes wäre indessen bereits als das Resultat einer Reflexion auf das (noch ältere) Dualismusproblem zu begreifen. So sei der cartesi‐ sche «Substanzbegriff […] beinah eine Kantische ‹Kategorie›», meint etwa Paul Na‐ torp, «Die Entwickelung Descartes’ von den ‹Regeln› bis zu den ‹Meditationen›», in: Archiv für Geschichte der Philosophie 10, 2009 [1897], S. 10-28, hier: 24. Das überge‐ ordnete Beweisziel einer vernünftigen Darlegung der Ordnung von Seele und Natur hängt allerdings am gelingenden Existenzbeweis Gottes und intendiert damit eine allumfassende Einheit von Innerem und Äußerem. Dies verträgt sich im Grunde weder außen ist also der Grund zur anti-monistischen Unterscheidung von beidem, Grund zur Kritik. Diese Grundaporie einer gleichzeitigen Vermittlung und Trennung von Innerem und Äußerem durchzieht das gesamte kritische Projekt. Das ehemals noch zu zwei getrennten Relaten hypostasierte Verhältnis von res extensa und res cogitans drückt sich im Skopus der Kritik nur noch als Verhältnis aus. Die Kritik nimmt als Grenzbestimmung indirekt zwar ihrerseits noch zwei ‹Dinge› in Anspruch; aber eben im Zuge des Nachweises, dass diese abseits ihres Verhältnisses zueinander betrachtet nichts sind. Entsprechend vermag Kant sowohl den Anspruch der Naturwissenschaften auf die Sinnenwelt wie den Anspruch der traditionellen Metaphysik auf die intelligible Welt zu retten, indem er die Ansprüche ersterer einschränkt, jene auf eine transzendente Welt aber in Ansprüche auf die Grenzen immanenter Erkenntnis übersetzt. So führt Adornos Reflexion auf die postcartesianische Konfiguration von Subjekt und Objekt bei Kant dazu, dass dem kritischen Bewusstsein die eigene historische Bestimmtheit als Sachgehalt zu eigen gemacht wird. Der Sachgehalt betrifft die synthetische Einheit von begrifflichem Denken und dem Mannig‐ faltigen der Anschauung. Außerhalb des Reflexionszusammenhangs ist dieser Sachgehalt nichtig. Dass es sich beim Kantischen Block also um eine transzen‐ dentale Reflexion im strengen kantischen Sinn handelt, wird daraus ersichtlich, dass im Zuge dieser Reflexion Vermittlung und Trennung kein antithetisches Verhältnis bilden. Vielmehr wird dabei paradox die Wechselbestimmtheit von Begriff und Anschauung aufgewiesen, um den Unterschied von beidem vor Augen zu führen. Zu sagen also, Subjekt und Objekt seien bei Kant ursprünglich getrennt, besitzt Relevanz nur innerhalb des Skopus jener transzendentalen Reflexion, die die Herkunft von Vorstellungsgehalten (Sinnlichkeit oder Denken? ) im Zuge der Explikation von Reflexionsverhältnissen erörtert. Die Trennung wird bei Kant jedoch nicht zum ontologischen Tatbestand verfestigt, sondern als Bruch in die reflektierende Subjektivität eingetragen. Der Cartesianismus - die Zweiheit der Substanzen - wird dabei aber nur noch im Gesichtskreis der sich selbst explizierenden Reflexion positiv in Anspruch genommen. 135 Dabei legt die transzendentale Reflexion jene Dynamik der Vermittlung in ihrem Rücken 242 C. Das Innere und Äußere <?page no="243"?> mit der rezensionsformelartigen Charakterisierung des ‹Substanzdualismus› noch mit Kant. (Die Betonung dürfte bei Natorp daher auf dem «beinah» liegen.) 136 Adorno, NaS IV 4, S.-354; Hervorhebung C.M. 137 Adorno, NaS IV 4, S. 175 spricht von einem «ziemlich kindischen Gewaltstreich» sei‐ tens Descartes, sich dennoch eine Vermittlung zwischen den getrennten Substanzen als influxus physicus zu denken, einer «Kraft, mit welcher die Seelen der Menschen oder frei, die bei Descartes noch als ursprüngliche Einsicht in die alle Disjunktionen überwölbende Existenz Gottes gelten konnte, bei Kant aber nicht einmal mehr als Einsicht zu verbuchen, sondern lediglich noch zur Selbstlimitation des begrifflichen Denkens in Anspruch zu nehmen ist. Das ‹Großartige› an Kants Anverwandlung des Substanzdualismus besteht für Adorno demnach darin, durch reflexive Inanspruchnahme des Bruchs den subjektiven Zugriff auf das Objekt zu limitieren. Die Ursprünglichkeit der Vermittlung wird von Kant offenbar voll anerkannt, stellt jedoch weder ein Argument gegen die cartesische Trennung dar noch für ein Denken der Einheit. Der Dualismus bleibt stattdessen im kantischen Einheitsgedanken erhalten, ohne darüber zu einem Dogma zu versteinern. Indem der kantische Einheitsge‐ danke nämlich «Identität herstellt», müsse «er gleichzeitig die Nichtidentität anerkennen», so Adorno. 136 (2) In der aporetischen Koinzidenz von Vermittlung und Trennung offenbart sich die Einheit als ursprünglich synthetische; denn der Rückgang in den Einheitsgrund von Subjekt und Objekt gelingt nicht - er führt in den Abgrund der uneinholbaren Nichtidentität zwischen Sinnlichkeit und Denken, die sich als solche zwar reflexiv einholen und zur Geltung bringen, nicht aber ‹positiv› in Anspruch nehmen lässt, ohne zugleich restringierend auf diese Inanspruch‐ nahme zu wirken. Der reflexive Dualismus intendiert den Grund zur Kritik an allen Substanzlehren, auch am Dualismus. Wie ist die Koinzidenz von Vermittlung und Trennung nun mit Blick auf den Kantischen Block zu verstehen? Zunächst darf der Block nicht mehr als der Cartesianische Dualismus oder als Inbegriff für einen Substanzdualismus verstanden werden. Der Block ist vielmehr - wie Adorno ja explizit festhält - der bereits in sich reflektierte und immer schon auf sich selbst reflektierende Dualismus. Daraus ergibt sich eine eigenartige Konsequenz: Der Dualismus wird durch die dialektische Reflexion nicht aufgehoben - er bleibt in der Vermittlung als Indiz für eine unüberbrückbare Differenz der vermittelten Momente präsent. Dem Bewusstsein des Blocks gilt der Gedanke einer erneuten Vermittlung des Getrennten als gänzlich widersinnig. Denn die Trennung, die im Block versinnbildlicht wird, ist resultativ und final. 137 Der Kantische Block - der als Inbegriff für das Verhältnis von Kritik und Spekulation innerhalb b) Erfahrungsgehalt 243 <?page no="244"?> Engel die Körper bewegen». Vgl. ibidem, S. 385, zit. n. René Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (übers. v. Arthur Buchenau), Hamburg 1955, S.-52. 138 Mit der Differenzschrift hat Hegel die «Entzweiung» als die «zerrissene Har‐ monie» zum «Quell des Bedürfnisses der Philosophie» (Hegel, GW 4, S. 12-16) erklärt. Die dialektische Vermittlung, die bei jeder reflexiven Differenz die «Unterscheidung und Beziehung von Verschiedenem aufeinander» (vgl. ders., TWA 5, S. 54) ins Auge fasst, beschreibt demnach die Wiedervereinigung der durch Reflexion einander ‹äu‐ ßerlich› gewordenen Momente im Absoluten, das als solches alles Verschiedene in der Idee der absoluten Identität von Identität und Nichtidentität umfasst. Dass aber, wie Adorno meint, Hegel - trotz aller Polemik - gerade der Exekutor einer bei Kant implizit vollzogenen Vermittlungsleistung sei, wird allein schon am kantischen Buchstaben offenbar, wenn in der «Transzendentalen Dialektik» das Zusammenspiel der Prinzipientrias von «Homogenität, Spezifikation und Kontinuität der Formen» (vgl. Kant, KrV, A 657f./ B 685 f.) exponiert wird. Kants Formel einer «Verwandtschaft des Mannigfaltigen, unbeschadet seiner Verschiedenheit, unter einem Prinzip der Einheit» beschreibt doch zweifellos den Gedanken einer dialektischen Vermittlung von der kantischen Philosophie gelten darf - ist danach, wie gesagt, nicht mehr als bloße Vorstufe zur hegelschen Dialektik zu betrachten. Bei Kant käme stattdessen bereits das volle Vermittlungsgeschehen zur Geltung, das dann bei Hegel explizit wird und der positiven Dialektik als ihre eigenste Sache zufällt; freilich eben mit einer negativistischen Pointe. Die kritische Dialektik ist bereits eine Dialektik im strengen Sinne, wenn man bedenkt, dass sich die Reflexion auf den Dualismus bei Kant in eine immanente Reflexionsbewegung zusammenzieht und so die Beziehung des Verschiedenen (Inneres und Äußeres) angesichts ihrer Verschiedenheit (… ein Abgrund klafft) darstellt. In dem Wort «zugleich», das die Wechselbestimmtheit von Vermittlung und Unvermitteltheit anzeigt, stellt Adorno also die Differenz einer kritischen Dialektik von Innerem und Äußerem von jener Hegels heraus. Insofern wird für Adorno im Kantischen Block der höchst paradoxe Umstand offenbar, dass der Kantische Block beides zugleich ist - dualistisch in vorkanti‐ schem und dialektisch in nachkantischem Sinne. Der Block erweist sich damit als der angemessene Ausdruck des transzendentalen Reflexionsgeschehens, das sich einerseits die ursprüngliche Trennung der synthetischen Momente zu Bewusstsein führt und andererseits eine potentiell unendliche Vermittlungstä‐ tigkeit der Dialektik antizipiert, beides dabei aber so zusammendenkt, dass sich die beiden Momente - die dualistische Veräußerlichung und die vermittelnde Verinnerlichung der Momente - aneinander abarbeiten. Adorno reagiert mit seiner reflexionsdualistischen Kantdeutung offenbar auf den gegenteiligen Einsatz der Dialektik bei Hegel. Dort sollte die Dialektik ja die ausgezeichnete Methode sein, um den Hiatus durch Vermittlung zu schließen und das Entzweite in einer höheren Einheit aufzuheben. 138 Das kantische Denken, das gemäß 244 C. Das Innere und Äußere <?page no="245"?> absolut Verschiedenem. Was also, wenn die kantische Innerlichkeit der Vernunft nicht das Resultat einer bloß äußerlichen, sondern bereits einer dialektischen Reflexion im vollen hegelschen Sinne mit allen spekulativen Konsequenzen war? Im Grunde ist diese Möglichkeit durch Adornos Hegelkritik angezeigt; sie wird von der Forschung bislang jedoch nicht ernsthaft erwogen. 139 Dass der kantische Reflexionsdualismus trotz seines kritischen Ergebnisses ein antidualistisches Moment hat, bestätigt die Vorwegnahme Kants in der B-Vorrede, dass die Dialektik die analytisch getrennten Elemente wieder in eine Einheit zu bringen sucht (vgl. Kant, KrV, B XXI). Dass die Trennung bei Kant gerade als angemessene Darstellung der Beziehung des Verschiedenen begriffen wird, ist der Sache der Vernunft (ihrer Gesetzmäßigkeit) geschuldet, sicher aber keinem willkürlichen Bedürfnis der Entzweiung. Die «Transzendentale Dialektik» begreift lediglich die Differenz für not‐ wendig, die die Analytik als Einheitsbegründung impliziert, nur die Ästhetik aber als «die wahre» (ibidem, B XXI) beweist. Adorno in Kontinuität zum cartesischen Denken begriffen werden muss, wird hier zwar von der Warte des durch Hegel informierten Dialektikers als Reflexi‐ onsdualismus kritisiert; das Kritisierte tritt aber zugleich mit der spekulativdialektischen Problemlösung in ein Konkurrenzverhältnis. Adorno ‹verortet› den Block also bestimmt zwischen den Bereichen, die der ontologisch gemeinte Dualismus fein säuberlich trennt; und zwar, um im Zuge der Reflexion auf den Dualismus dem dialektischen Vermittlungstun bestimmt die Grenzen des blockierten Bewusstseins aufzuzeigen. 139 Adorno sieht den Block dabei von Beginn weg derjenigen Dynamik ausgesetzt, die die Dialektik nach Kant nur nach ihrer positiven Seite begreifen kann und darüber mit einem spekulativen Inhalt verwechselt. Wenn nämlich das Bedürfnis zur Aufhebung der cartesianischen Entzweiung aufgrund der reflexiven Vermitteltheit des Entzweiten scheitert, dann sind wir mit dem paradoxalen Umstand konfrontiert, dass es im Grunde zwei verschiedene Wege zur Vermittlung des Entzweiten gibt - einerseits die differenzierende Vermittlung, die die Reflexivität von Innerem und Äußerem als Grund zur Kritik an der spekulativen Verinnerlichung ihres Zusammenhangs im Ganzen beurteilt; und andererseits die spekulative Vermittlung, die diese Reflexivität als Grund zur spekulativen Verinnerlichung der Momente im Ganzen ansieht. Man ist versucht, daran den Unterschied zwischen negativer und positiver Dialektik festzumachen. Aber auch das wäre noch zu einfach. Der Block wird vielmehr erst durch seine inhibierende Wirkung auf die traditionelle Dialektik zum unverzichtbaren Schema für eine spekulative Anwendung der negativen Dialektik. Von der Seite der positiven Dialektik her gedacht: Die Anwendung der Vermittlung auf das Ganze der Wirklichkeit, die der vermittelnde Geist als seine Wirklichkeit für sich beansprucht, hängt immer schon vom Einsatz des Blocks und damit von der reflexiven Erkenntniskritik ab, die das Ganze dem Herrschaftsbereich des Geistes final entreißt, indem b) Erfahrungsgehalt 245 <?page no="246"?> 140 Vgl. Adorno, GS 4, S.-57: «Das Ganze ist das Unwahre». 141 Adorno, NaS IV 4, S.-270f. 142 Ibidem, 264; Hervorhebung C.M. ausgerechnet das Ganze für das Unwahre erklärt wird. 140 Der Block stellt so die Grundaporie des Reflexionsdualismus heraus, ohne diese aufzulösen: Der Block gewinnt seinen überzeitlichen Wahrheitsgehalt allein als verbindliche Darstellung seiner eigenen, im besten Falle kontingenten Unwahrheit. Mit den Betrachtungen unter (1) und (2) wurde ein erster Schritt zur Bestim‐ mung des Erfahrungsgehalts des Blocks getan. Die reflexionsdualistische Aporie kennzeichnet den Modus, in welchem der Block auf einen Erfahrungsgehalt bezogen werden kann. (3) Nun gilt es, diesen Erfahrungsgehalt der modalen Vorgabe gemäß zu bestimmen. Adorno möchte mit dem Topos des Blocks «ein außerordentlich merkwür‐ diges Phänomen an der Kantischen Philosophie» herausstellen. In der Vorle‐ sung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» wird klar, welches: Eine Philosophie ist ja, wie alles Geistige überhaupt, nichts, was außerhalb der Zeit steht, sondern etwas, was in der Zeit steht, - nicht nur in dem Sinn, daß es vergessen wird oder daß es verschieden aufgefaßt wird; sondern daß es seinem eigenen Gehalt nach in der Zeit eigentlich sich entfaltet und daß es dann in den Konstellationen, die es in der Zeit eingeht, unter Umständen aus sich selbst heraus, Bedeutungen entläßt, Bedeutungen produziert, die ihm gar nicht in der Wiege gesunden worden sind. Das gilt nun in einem eminenten Maß für dieses Problem des Blocks […]. 141 Die Bedeutung, die nun der Block aus sich ‹entlässt› ist das Tauschverhältnis. Das Tauschverhältnis ist somit der konkret in Frage stehende Erfahrungsgehalt des Blocks. Der Tausch ‹zeitigt› nämlich reell jenen Abgrund, der bei Kant als der sich durchhaltende cartesianische Dualismus gekennzeichnet wurde und den Adorno mit Marx als Entfremdung begreift. Eben jener Abgrund nun ist der Abgrund der Entfremdung der Menschen von einander und der Entfremdung der Menschen von der Dingwelt, der nun in der Tat gesellschaftlich gezeitigt ist durch das universale Tauschverhältnis. Und durch die Vorstellung, daß wir in unserer Erkenntnis blockiert sind, drückt die Kantische Philosophie zunächst einmal den Tatbestand aus, daß in dieser universal vermittelten, durch den Tausch bestimmten Gesellschaft, in einer Gesellschaft der radikalen Entfremdung, uns nun wirklich das was ist wie durch eine Mauer immer verstellt ist […]. 142 246 C. Das Innere und Äußere <?page no="247"?> 143 Adorno, GS 6, S.-95. 144 Vgl. Abschnitt A/ 3 dieser Arbeit. Adorno stellt hier einen Zusammenhang zwischen dem Reflexionsdualismus, der Entfremdung und dem Tauschverhältnis her. Darüber, dass wir uns vor Augen führen, worin dieser Zusammenhang genau besteht, kann der Erfah‐ rungsgehalt des Blocks exponiert werden. Zwei Fragen gilt es hierbei zu klären - erstens (3.1), worin der Zusammenhang von Tauschverhältnis und Entfremdung genau besteht; und zweitens (3.2), inwiefern der Block sich diesem Zusammen‐ hang als angemessen erweisen kann, wenn sein Inhalt doch besagt, dass uns das Seiende «wie durch eine Mauer immer verstellt ist». Aus unserem Kontext heraus gefragt: Wie kann die inhibierende Wirkung der Kritik dem kritischen Denken als affirmierter Urteilsgehalt zufallen? Die Antwort muss lauten: indem sich der Block von einer bloßen Schranke in eine Grenzbestimmung verwandelt. (3.1) Die Objekte des universalen Tauschverhältnisses ‹sind› das, was sie als Erscheinungen innerhalb des subjektiven Relationsgefüges der Tauschgesell‐ schaft sind - austauschbar. Tauschbar ist aber nur Ungleichartiges, das unter dem Gesichtspunkt der Gleichartigkeit der Relata reflektiert wird. Von Marx lernen wir: Zum Ding, zur Ware kann alles werden, sogar der Prozess der Verdinglichung, die menschliche Arbeit als solche. Nun sind Menschen nicht nur Dingen gegenüber ungleichartig; die Menschen der Tauschgesellschaft sind einander gegenüber und sogar sich selbst ungleichartig - entfremdet. Das Tauschverhältnis etabliert daher eine durchgängig äußerliche, quantitative Gleichartigkeit des Ungleichartigen. Mit Adorno ausgedrückt: «Im universalen Tauschverhältnis werden alle qualitativen Momente plattgewalzt […]» 143 und einander kommensurabel gemacht. Adornos Rede von der Universalität des Tauschverhältnisses ist dabei wörtlich zu nehmen. Der Zusammenhang der Tauschgesellschaft ist die sich vollziehende, synthetische Einheit. Es kann daher kein ‹Außerhalb› des Tauschverhältnisses geben. Noch das Nichtidentische fällt hier, wie in Abschnitt A gezeigt, von Vornherein außer Betracht. Denn was ‹außerhalb› des Verdinglichungszusammenhangs wäre, in dem alle Dinge sein können, was sie sind, nämlich Dinge, bleibt dem verdinglichenden Denken verstellt. Folglich gibt es auch keine positive Bezugnahme auf Dinge als inkom‐ mensurable Größen. Das Inkommensurable bleibt - wie Kants Ding an sich - nur negativ als Grenzbegriff zugänglich. 144 Nun besteht Adornos dialektische Volte in der Einsicht, dass die ganze materialistische Kritik am Tauschverhältnis, am Block, selbst innerhalb der Tauschgesellschaft operiert und folglich unter der inhibierenden Wirkung des Blocks auf das Denken leidet. Der materialistische Anspruch erfüllt sich daher b) Erfahrungsgehalt 247 <?page no="248"?> 145 Vgl. das berühmte Beispiel im Kapital: «Als Werte sind Rock und Leinwand Dinge von gleicher Substanz, objektive Ausdrücke gleichartiger Arbeit.» Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx Engels Werke (= MEW) 23, hg. vom «Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED», Berlin 1962, S.-58. nur als Selbstlimitation des Tauschverhältnisses - also durch seine argumen‐ tative Einbindung in die Erkenntniskritik. Dasjenige nämlich, wovon sich die Menschen entfremden, ist ihr Inneres und das Innere der Dinge. Beides ist, genau wie das Ding an sich in mir und außer mir, nur über die unendlichen Urteilsgehalte des Inkommensurablen und Nichtidentischen, d. h. über eine Limitation des relationalen Zusammenhangs, zu erschließen, indem diese uns erscheinen können - also gar nicht zu ‹erschließen›. Das Scheitern, das die Erkenntniskritik zum Thema hat, ist ja der authentische Ausdruck der real sich vollziehenden Entfremdung. Entfremdung darf daher kein Thema einer positiven Dialektik sein. Denn Entfremdung ist für Adorno als Folge der universalen Vermittlung menschlicher Interaktionen nur in der Tauschgesellschaft zu begreifen. Folglich ist diese Universalität der Vermittlung eine begrenzte. Die Begrenztheit der Vermittlung offenbart sich am universalen Tauschwert der Dinge. Der Tauschwert ist nämlich selbst kein Ding, sondern das abstrakte Immergleiche einer Form, die alles mit allem kommensurabel macht. 145 Entfremdung bedeutet in diesem Kontext, dass die Menschen sich selbst und einander äußerlich werden, insofern sie sich und andere reell - durch Arbeit - unter der Form des Tauschwerts subsumieren. Für Adorno ist der gnoseologische Abgrund zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis, der das dialektische Bewusstsein ursprünglich zur Vermittlung anhält, unmittelbarer Ausdruck dieser realen Gespaltenheit, die die Individuen im Ganzen von einer gelingenden Selbstbestimmung als Individuen abhält. In diesem Ganzen steht nämliches jegliches Innere a priori in Relation zu einem Äußeren. Dieses universale Verhältnis von Innerem und Äußerem ist einerseits die Bedingung der Möglichkeit jeder vermittelnden Kommunikation, weil es den äußeren Nexus zwischen den Menschen, ihren Mitmenschen und den Dingen bildet, dabei aber zugleich der Block, der das Einbringen jeder nicht schon veräußerlichten und deshalb inkommensurablen Innerlichkeit verhindert. Es konnte bereits an Kant gezeigt werden, dass die Reziprozität von Innerem und Äußerem die Unmöglichkeit, das Innere der Dinge durch ein äußerliches Verhältnis (z. B. durch das Kausalverhältnis) zu erschließen (und alle begriffliche Erkenntnis ist ein bloß äußerliches Verhältnis der Dinge), streng impliziert. Diese Unmöglichkeit ist aber gerade die konkrete Erfahrung der Entfremdung der Menschen, die sich als Inkommensurable wie die Produkte ihrer Arbeit a priori ihrem Tauschwert angleichen müssen und 248 C. Das Innere und Äußere <?page no="249"?> 146 Adorno, GS 10.2, S.-742; Hervorhebung C.M. sich in diesem Sinne als vorgeformte und sich selbst entfremdete Subjekte wahrnehmen. (3.2) Die Antwort darauf also, wie ausgerechnet die blockierende Wirkung der Kritik einen positiven Erkenntnisanspruch darstellen kann, nimmt Kontur an: Der Kantische Block macht aus dem Wahrnehmungsurteil der Entfremdung einen Erfahrungsgehalt. Der Block ist die zum erkenntnistheoretischen Dua‐ lismus petrifizierte Erfahrung der Entfremdung. Die erkenntnistheoretische Ausprägung des Problems - der Hiatus zwischen Subjekt und Objekt - ist der Reflex der real-vorliegenden Entfremdung der Menschen von sich, voneinander und von der Welt der austauschbar gemachten Dinge. Aber nochmals gefragt: Wie ist angesichts dessen die Adäquation der kritischen Theorie an die Wirk‐ lichkeit zu verstehen, wenn der Block doch die Identifikation mit einer Sache gerade bestimmt verbietet? Für eine abschließende Antwort müssen wir Adornos paradoxe Einsicht nachvollziehen, dass der Wahrheitsgehalt des Blocks mit der Unwahrheit des Dualismus koinzidiert. Realität und Schein verschränken sich im Bewusstsein des Blocks. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein. Wahr, weil sie im Bereich der Erkenntnis der realen Trennung, der Gespaltenheit des menschlichen Zustands einem zwangvoll Gewordenen Ausdruck verleiht; unwahr, weil die gewordene Tren‐ nung nicht hypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werden darf. 146 Das, was am Kantischen Block ‹wahr› ist, besteht darin, dass er dem Gesamt‐ zusammenhang der versteinerten Verhältnisse einen adäquaten Ausdruck gibt. Dieser Ausdruck aber besteht darin, den Zwangscharakter der Verdinglichungs‐ verhältnisse zu widerzuspiegeln. Die Widerspiegelung ihres Seins durch das Bewusstsein bedeutet der negativen Dialektik keinen Grund zur Spekulation. Eine Theorie der Verdinglichung ist die Dialektik als negative nur, insofern sich der Zwang zur Verdinglichung auf die Theorie als die inhibierende Wirkung der Kritik zurückwirkt. Der Block ist also allein deswegen wahr, weil er die Gewissheit des Bruchs und das anschließende Scheitern der Vermittlung des Getrennten - Subjekt und Objekt - zum Gehalt fixiert. Der Bestimmungsvollzug gelingt im Falle des Blocks also buchstäblich symbolhaft, d. h., insofern die Tren‐ nung zwischen Subjekt und Objekt als solche sachhaltig (real) ist. Unwahr wird der Block hingegen als unreflektierter Schein, d. h. sobald er im Rahmen einer nicht dialektisch verfahrenden, ontologischen Interpretation des Bestehenden b) Erfahrungsgehalt 249 <?page no="250"?> 147 Charles A. Prusik, Adorno and Neoliberalism. The Critique of Exchange Society, London/ New York 2020, S.-9. 148 Ibidem. zur Invariante fixiert wird, statt als inhibierendes Moment jeglicher Fixierung zu fungieren. IV. Die Forschung hat immer wieder versucht, den von Adorno vorgeschlagenen, aporetischen Modus der Bezugnahme auf die Wirklichkeit selbst anhand einer Bezugnahme auf konkrete Verhältnisse nachzuvollziehen. Charles A. Prusik hat jüngst darauf hingewiesen, dass Adornos Denken als Kritik an den Grund‐ aporien des Neoliberalismus Kontur gewinnt. Der Neoliberalismus wird von Prusik, analog zum Tauschverhältnis bei Adorno, als eine objektive Abhängig‐ keitsstruktur (objective dependency) beschrieben, die alles, was ihr ‹verinner‐ licht› wird, zur Äußerlichkeit verdammt. Dieser Prozess des Innerlichwerdens des Äußerlichen und des Äußerlichwerdens des Innerlichen entfalte sich kon‐ kret «through a contradictory dynamic». 147 Der real sich vollziehende Widerspruch, auf den Prusik unter dem Stich‐ wort ‹Neoliberalismus› hinweist, besteht darin, dass die Bewusstseinsformen einzelner, individuierter Menschen durchgängig miteinander vermittelt sind; dass aber das durchgängige Vermittlungsgeschehen darin besteht, die vermit‐ telten Einzelnen dazu zu bestimmen, ihre Vermitteltheit gerade nicht wahrzu‐ nehmen, sondern aus der Bestimmtheit des Einzelnen auszuklammern. Daraus folgt, dass die Einzelperson sich als zunehmend isoliert wahrnimmt, ja dass die Einsamkeit, in der sie sich selbst wahrnimmt - paradox genug - genau das vermittelnde Moment ist, das sie an den Gesamtzusammenhang Einzelner, die Gesellschaft, bindet. Despite this global, impersonal form of objective dependency, individuals in neolibe‐ ralism experience their membership in society through increasingly atomistic, selfinterested modes of identity. […] Today’s social relations are mediated and impersonal, and yet individuals experience their mediation through ist absence—that is, as isolated individuals. How can critical theory grasp this apparently contradictory logic? 148 Vermitteltheit wird im Neoliberalismus offenbar als das genaue Gegenteil von durchgängiger gesellschaftlicher Vermitteltheit erfahren: als Vereinzelung. Das Ausklammern der Gesellschaft aus dem Einzelbewusstsein ist dabei gerade gesellschaftlich vermittelt. Diese Vermittlungslogik besagt nicht bloß in prakti‐ scher Hinsicht: Jeder für sich und dadurch fürs Allgemeine. Die unsichtbare Hand schlägt auf das Bewusstsein der Akteure zurück. Das Allgemeine ist da‐ 250 C. Das Innere und Äußere <?page no="251"?> 149 Adorno, GS 5, S.-289. 150 Adorno, GS 5, S.-289. nach nur als ein sich vereinzelndes Allgemeines zu denken. Hier gilt, mit Adorno zu reden, dass «das Allgemeine […] immer zugleich das Besondere und das Besondere das Allgemeine» ist. 149 Was jedem von uns als eigene Innerlichkeit vertraut ist, kann folglich reflexiv über den Ausschluss der Beziehung auf das gesellschaftliche Äußere positiv bestimmt werden. Das muss, in philosophischer Konsequenz, zur zunehmend paradoxen Isoliertheit des kritischen Reflexions‐ subjekts in der Gesellschaft führen. ‹Paradox›, weil sich die Isolation durch Bewusstmachung in ihr Gegenteil, nämlich universale Vermitteltheit, kehrt, während die Vermittlung dort, wo sie nicht gewusst wird, als Isolation erfahren wird. Unschwer lässt sich erkennen, dass der Kantische Block den Versuch einer Lösung des Problems darstellt, das Prusik zum Ende des Passus aufwirft. Der Block ist die gegenständliche Verkörperung der kontradiktorischen Logik des Tauschs. Das zeigt sich sowohl im Guten wie auch im Schlechten. Denn die Gefahr ist jederzeit groß, dass das positivistisch-ökonomistische Verständnis von Individualität dazu führt, dass der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft seinerseits zur Invariante einer dialektischen Theorie verzaubert wird. Das dialektische Verhältnis von konstituierendem und konstituiertem Be‐ wusstsein ist für Adorno Ausdruck der Tatsache, dass sich Individualität bislang nur unter dem Gesichtspunkt des Ausschlusses aller anderen Individuen, d. h. über ein unendliches Urteil auf ein Gesamtsubjekt ‹positiv› bestimmen lässt. Der Block soll daher jeglichen Positivismus in der Dialektik verhindern; und zwar dadurch, dass er die inhibierende Wirkung der Kritik, die er ‹bedeutet›, selbst ausübt. Die Wirkung des Blocks soll also noch die dialektische Artikulation seines Er‐ fahrungsgehalts miterfassen. Weder Individuum noch Gesellschaft sind danach überhistorische Invarianten, die jenseits ihres historisch kontingenten Oppositi‐ onsverhältnisses irgendetwas Bestimmbares wären: «So wenig wie Subjekt und Objekt», schreibt Adorno in Aspekte, «sind die Kategorien von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Gesellschaft stillzustellen, oder auch nur der Prozeß zwischen beiden als einer zwischen sich selbst gleichbleibenden Polen zu deuten». Vielmehr sei «der Anteil beider Momente, ja was sie überhaupt sind, […] nur in der historischen Konkretion auszumachen». 150 Es wäre also grundsätzlich verfehlt, darauf zu beharren, dass der Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem tatsächlich dem Ganzen ‹inhärierte›; aufgrund seiner nackten Tatsächlichkeit ist der Widerspruch nicht das Ganze. b) Erfahrungsgehalt 251 <?page no="252"?> 151 Zu dieser Einsicht gelangt auch Prusik: «Expanding Marx’s critique of political eco‐ nomy, Adorno’s critical theory is a form of conceptual practice that deciphers the abstractions that rule us, returning them to their genesis in social relations. But Adorno’s concept of totality is immanently self-critical» Charles A. Prusik, Adorno and Neoliberalism, S.-169; Hervorhebung C.M. 152 Vgl. Adorno, GS 4, S. 57: «Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.» Die negative Dialektik des Ganzen begreift die Entfremdung Einzelner voneinander, von sich selbst und von den Dingen mithin nicht als Inhalt einer unkritischen Theorie, sondern als immanent widersprüchliche Aporie, die das theoretische Denken zur permanenten Selbstkritik anhält. 151 Gemeint ist die bei Prusik berührte Aporie, dass sich die Menschen im Tauschverhältnis als Individuen austauschen, also die Form der Individualität als solche annehmen müssen, die qua Form aber universal vermittelt sein muss. Folglich ist jede anscheinend noch so unvermittelt individuierte Erfahrung unser selbst eine universal vermittelte Form unserer Selbsterfahrung qua Subjekte des Tauschs. Die in den Minima Moralia herausgestellte Unverschämtheit, ‹Ich› zu sagen, 152 besteht nicht zuletzt in dem Anspruch, inmitten der Tauschgesellschaft einen unmittelbaren Ichbezug herstellen zu können, der sich ohne Umwege in Form endlicher Urteile (‹Ich bin …›) erfassen ließe. Adorno möchte das Selbstbewusstsein der Subjekte der Tauschgesellschaft der Dynamik einer «zweiten Reflexion der Kopernikanischen Wendung» aus‐ setzen, um den Anspruch, Ich sagen zu können, erfüllen zu können. Ziel dieser erneuten Wendung ist es, die Aporien des Tauschs auf einen objektiven Verhältniszusammenhang einzuschränken, um so zumindest die Idee eines ‹Au‐ ßerhalbs› als eines Raums aufrechtzuerhalten, in dem sich die Subjektivität der Subjekte - anders als in ihrer falschen, vermittelnden Gestalt - tatsächlich frei entfalten könnte. Die zweite Wende auf das Subjekt soll also - wie die kantische Wende das Objekt vor der unrechtmäßigen Objektivierung des Subjekts bewahrt - das inkommensurable Subjekt vor der verdinglichenden Objektivierung zur ‹Individualität› bewahren. Die Individualität des Individuums ist durch Kritik an der Ideologie desjenigen Verhältnisses zur Geltung zu bringen, das dem Individuum seine Individualität als kommunizierbare Ungleichartigkeit vorschreibt. Die objektive Abhängigkeit der Subjekte (als Objekte füreinander und für sich selbst) ist daher nur ein anderer Name für Entfremdung. Subjekte denken sich selbst nach Vorbild des Subjektfremden (d. h. als Objekt - konkret: als arbeitende Ware) und werden sich selbst als Subjekt fremd. Während indessen ‹die Individualität› und die qualitative Binnendifferenz einzelner Wa‐ rentypen nur das Minimum an Ungleichartigkeit sind, das gerade gebraucht 252 C. Das Innere und Äußere <?page no="253"?> 153 Adorno, GS 8, S.-537. 154 Die Einheit von Darstellung und Kritik ist bei Adorno nicht nur als Kritik (der politischen Ökonomie) vollzogen, sondern im Sinnbild des Blocks inhaltlich dargestellt worden, womit sich das Verhältnis von Darstellung und Kritik erheblich verkompliziert. Vgl. den nächsten Abschnitt C/ 2c, der diese Komplexität zu reduzieren versucht. wird, um dieselben als Subjekte beziehungsweise Objekte in das universale Tauschverhältnis einzubinden, scheint die Kritik daran interessiert zu sein, die Abstraktheit des Ganzen an der Möglichkeit bemessen zu wollen, einmal das gänzlich Inkommensurable ohne gewaltsame Assimilierung verinnerlichen zu können. Diese Wende würde, einmal vollzogen, die zur tauschbaren Form entstellte Inkommensurabilität der Menschen und der Dinge zunächst als den nichtidentischen Gehalt dialektischer Kritik darstellen. Die Utopie der Erkenntnis, daran anschließend das Begriffslose begrifflich einzuholen, ohne dieses dem Begriff gleichzumachen, beseelt insofern Adornos Entfremdungskritik. Der gesuchte Zusammenhang zum Tauschverhältnis be‐ steht in der aufgezeigten dialektischen Logik des Tauschs, der die durchgängige Gleichartigkeit des Ungleichartigen etabliert und kein Außerhalb mehr duldet, weil jede Inanspruchnahme von Ungleichartigkeit nur wieder in die Dialektik zurückfällt, die die Ungleichartigkeit des Einzelnen je schon als Moment im Ganzen begreift. Der Block beschreibt dasjenige Moment materialistischer Er‐ kenntniskritik, das uns auch reell verwehrt, den Hiatus zwischen uns, einander und den Dingen zu schließen. Historische Konkretion erst kann dem Block daher sein Wahrheitsmoment verleihen. Diese historische Konkretion lässt sich indessen nicht als reiner Theoriegehalt auf den Begriff bringen. Vielmehr ist der Block ein genuin kritischer Sachgehalt; er spiegelt dem verdinglichenden Bewusstsein das eigene Verdinglichtsein als Grund zur Kritik am Vollzug der Verdinglichung zurück. V. Der Block ist die symbolisch zur Schau gestellte Verdinglichung verdinglich‐ ender Entfremdungsverhältnisse in der Tauschgesellschaft. Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik sind bei Adorno danach durchgehend wechselbestimmt. Diese Wechselbestimmtheit von Theorie und Kritik der Gesellschaft soll ver‐ hindern, dass «das, was bloß Reflex objektiver gesellschaftlicher Gesetzmäßig‐ keiten ist», noch einmal «mit der Basis des gesellschaftlichen Prozesses» 153 verwechselt wird. 154 Adornos ‹realistische› Kantinterpretation wäre insofern mit anderen marxistischen Kantauslegungen zu vergleichen, zumal solchen, die sich dieser Verwechslung schuldig machen. Der im Block erfolgenden Über‐ b) Erfahrungsgehalt 253 <?page no="254"?> 155 Die geistige Bekanntschaft mit Sohn-Rethel ging für Adorno gemäß eigener Angabe mit «der größten geistigen Erschütterung» einher - vgl. Theodor W. Adorno/ Alfred Sohn-Rethel, Briefwechsel 1936-1969, hg. v. Christoph Gödde, München 1991, S. 32. Bio‐ graphisch wäre anzumerken, dass Adornos anfängliche Begeisterung für Sohn-Rethels Kerngedanken durch Horkheimers und Marcuses Ablehnung nachhaltig abgeschwächt, aber nicht gänzlich relativiert wurde. 156 Adorno, GS 6, S. 178. Die Einsicht Sohn-Rethels leitet auch Adornos Hegelinterpreta‐ tion an. In der ersten Hegelstudie «Aspekte» schreibt Adorno, Hegel rücke in der Vermittlung der abstrakten Begriffe «dicht ans Geheimnis, das hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt und sie hinaushebt über die bloße willkürliche Hypos‐ tasis des abstrakten Begriffs. Das jedoch ist nichts anderes als die gesellschaftliche Arbeit.» Adorno, GS 5, S.-265. setzung der erkenntnistheoretischen Problematik in einen sozio-historischen Tatbestand dürfte zumal das Denken Alfred Sohn-Rethels als Vorlage dienen. 155 Nun scheint es alles andere als ausgemacht zu sein, ob sich Sohn-Rethels Denken besagter Verwechslung schuldig macht oder nicht. Denn als Kritik der politischen Ökonomie im doppelten Genitiv wäre Sohn-Rethels Philosophie ebenso gut als eine Spielart des dogmatischen Marxismus wie als eine Spielart des Kantianismus zu charakterisieren. Sohn-Rethels Marxismus ist Kantinter‐ pretation, weil er die kantische Frage nach dem Geltungsgrund von Urteilen stellt und als Antwort darauf die Warenformanalyse des Kapitals konsultiert. Problemgeschichtlich betrachtet stellt das Werk Sohn-Rethels also eine marxis‐ tische Reformulierung des kantischen Reflexionsmodells dar. Das rückt ihn in unmittelbare Nähe zu Adorno. In der Negativen Dialektik wird der Kerngedanke Sohn-Rethels explizit ins Spiel gebracht: «Alfred Sohn-Rethel hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß in ihm, der allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geistes, unabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt.» 156 Wie der Topos des Blocks gewinnt auch dieser Gedanke Bestimmtheit im Zuge der Reflexion auf eine ursprüngliche Trennung. Gemeint ist hier aber nicht eine logisch-strukturelle Trennung, die sich etwa nur innerhalb der Erkenntniskritik geltend macht, sondern die raumzeitlich lokalisierbare Trennung von Kopfarbeit und Handarbeit. Kopfarbeit - das ist das, was alle Philosophen seit Parmenides inklusive Adorno und Sohn-Re‐ thel und auch sonst alle theoretischen Wissenschaften tun. Kopfarbeiter: innen beziehen sich durch Urteile auf die Welt und beanspruchen dadurch Geltung. Sohn-Rethel weist nun aber darauf hin, dass Kopfarbeit bislang immer von Handarbeit begleitet und ermöglicht wird. Wie verhält sich die arbeitsteilige Organisation nun zur Ordnung der Denkformen, in denen sich die Kopfarbeit vollzieht? Die Engführung von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik vollzieht sich bei Sohn-Rethel im Konzept der Realabstraktion. So wie sich bei Adorno die 254 C. Das Innere und Äußere <?page no="255"?> 157 Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, Frankfurt am Main 1971, S.-18. 158 Ibidem, S.-90. 159 Ibidem, S.-124. 160 Zur systematischen Bedeutung des Verhältnisses von Adorno und Sohn-Rethel, vgl. Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S. 155ff.; Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 188-191; Agnès Grivaux, «Le débat entre Adorno et Sohn- Rethel. Le rôle de la controverse du psychologisme», in: Recherches germaniques 15, 2020, S.-35-43; Charles A. Prusik, Adorno and Neoliberalism, S.-24-32 und passim. reale Entfremdung dem Bewusstsein als erkenntniskritisches Moment (Block) mitteilt, so sind für Sohn-Rethel die abstrakten Denkformen Produkte eines Abstraktionsprozesses: der real sich vollziehenden Abstraktion komplexer Ar‐ beits- und Materialisierungsprozesse zur einfachen Warenform. Nun sind aber für Sohn-Rethel der Geltungsgrund, auf den sich die Kopf‐ arbeit beruft, um die abstrakten Denkformen (Kategorien) auf die Welt anzu‐ wenden, und die Realabstraktion ein und dasselbe. Die traditionelle Philosophie, welche nur die Reinheit der Denkform im Blick hat, nicht aber dasjenige, was durch diese Reinheit verdeckt wird - die gesellschaftliche Vermitteltheit derselben -, intendiert in Wirklichkeit also bloß die sich in der Abstraktheit durchhaltende Trennung der Kopfarbeit von der Handarbeit. In den Augen Sohn-Rethels verwechselt der Idealismus die synthetische Einheit also mit einer synthetischen Einheit. Bei den Produkten der Kopfarbeit - den philosophischen Reflexionsbegriffen - handelte es sich folglich um «fetischistisch verzauberte[s] Verdeckungsmaterial». 157 Verdeckt wird die Herkunft der Denkform aus der sie zeitigenden Dynamik. Diese Herkunft ist indessen nichts anderes als die Trennung von Kopfarbeit und Handarbeit als solche - das Ausklammern der gesellschaftlichen Genese aus der Geltungssphäre der Theorie. «Die Lösung», schreibt Sohn-Rethel deshalb, «ist allein in der Genesis dieser Scheidung zu finden, also in der geschichtlichen Erklärung des geschichtslosen Scheins der Wahrheit.» 158 Die Geschichtlichkeit des Geschichtslosen als Zusammenhang zwischen Denkform und Warenform aufzudecken, ist für Sohn-Rethel folglich gleich‐ bedeutend «einer gesellschaftlichen Erklärung des reinen Verstandes». 159 Im Zuge dieser Erklärung verdichtet sich der Gedanke einer realen Grundlage der synthetischen Einheit zu Sohn-Rethels Idée fixe. Diese Idee beschreibt nicht bloß eine inhaltliche Parallele zu Adornos Kantinterpretation, sondern dürfte letztere ursprünglich beseelt haben. 160 Die Idée fixe der Kantinterpretation Sohn-Rethels erwächst einem doppelten Anliegen; einerseits den kantischen Apriorismus der Form so ernst wie nur möglich zu nehmen, Kant selbst aber andererseits auch nur so weit ernst zu nehmen, als uns der Apriorismus angesichts des Bewusstseins seiner eigenen Genese tragen kann. Über sich hinaus gelangt b) Erfahrungsgehalt 255 <?page no="256"?> 161 Vgl. Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abend‐ ländischen Geschichte, Weinheim 1989, S. 153-220, hier 203: «Die konstitutive Synthesis, auf die alle theoretische Erkenntnis logisch sowohl wie genetisch zurückgeht, ist die Verdinglichung und dingliche Vergesellschaftung, die durch die Ausbeutung bewirkt ist. In dem Nachweis dieses Satzes faßt sich die kritische Liquidierung des Idealismus zusammen, im Sinne der Liquidierung der Antinomien, in die ihre eigene ratio die Menschen durch den Fetischismus der Verdinglichung verstrickt.» 162 Vgl. Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 96ff. Die Formulierung ‹Ana‐ mnesis der Genese› wird von Sohn-Rethel als ein «großartige[r] Satz» (ibidem, S. VI) gelobt. Er entstammt den Gesprächsnotizen Adornos (vgl. ibidem, S.-223). 163 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx Engels Werke (= MEW) 13, hg. vom «Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED», Berlin 1961, S. 3-160, hier: 9. der Apriorismus beim Anti-Hegel Sohn-Rethel folglich nicht durch seine Inte‐ gration ins Absolute, sondern durch seine Liquidierung. 161 Liquidiert wird der Apriorismus durch die kritische Erinnerung des historischen Materialismus - die «Anamnesis der Genese». 162 VI. Bei Sohn-Rethel werden die kategorialen Denkformen also nach Maßgabe der bei Marx zu Bewusstsein gelangten Einsicht reflektiert, wonach es «nicht das Bewusstsein der Menschen» sei, «das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesell‐ schaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt». 163 Nun besteht der Schachzug Sohn-Rethels darin, dass er das autoreflexive Moment der materialistischen Dialektik isoliert betrachtet und zum Gegenstand einer Theorie erklärt, die sich dem kantischen Projekt einer Kritik der theoretischen Vernunft stark annähert. Das Sein muss, ebenfalls nach der Vorgabe von Marx, ja eigens als eine durch die Form des Bewusstseins zur Abstraktheit vermittelte Größe begriffen werden. Dasjenige Sein, welches das Bewusstsein des Bestimmtseins durch es hervorbringt, bleibt das gesellschaftliche Sein der Menschen im universalen Zusammenhang der Tauschbeziehungen. Seine Artikulation ist bei Marx aber neu einer Kritik der politischen Ökonomie im Sinne des doppelten Genitivs überantwortet. Nach Sohn-Rethel gilt: Die Denkformen verweisen im Skopus dieser Kritik nicht in intentione recta auf ihren materialen Ursprung - also nicht im Sinne einer traditionellen Theorie, sondern qua ihrer Abstraktheit als Denkformen. Denkformen sind daher keine semantisch intakten Gebilde. In ihrem empirischen Gebrauch verweisen sie auf nichts außer das Unding eines zur abstrakten Form erstarrten Vollzugs: die funktional bestimmte Warenpro‐ duktion. Sohn-Rethel: Es ist also wirklich eine «kopernikanische Wendung», die sich von der einfachen Warenproduktion bis zur fertigen Ausbildung der kapitalistischen Produktionsweise 256 C. Das Innere und Äußere <?page no="257"?> 164 Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, S.-33f. 165 Ibidem, S.-36. 166 Adorno, GS 6, S.-22. für den Bestand der Gesellschaft vollzieht. In der einfachen Warenproduktion ist die Besitzverteilung der Produkte Funktion der an sich geschehenden, nämlich unab‐ hängig vom Warentausch möglichen Produktion, daher auch des gegebenen Daseins der Waren. Im Kapitalismus dagegen ist umgekehrt die Produktion und das Dasein der Waren Funktion der vorgegebenen Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln. 164 Die real sich vollziehende kopernikanische Wendung, wonach die Waren‐ produkte den Gesetzen des Kapitalismus als einer Formgebungsmanufaktur unterworfen werden, veranlasst Sohn-Rethel also zu jener «gewagte[n] Hypo‐ these, die auf schwer abzusehende Konsequenzen» hinauslaufen würde: «Die Hypothese […], daß die Bewußtseinsformen, die wir im rationalen Sinne die Formen der ‹Erkenntnis› nennen, aus der im Warentausch vorliegenden Verdinglichung entsprungen sind.» 165 Sohn-Rethels «Suche nach der Genese des abstrakten Denkens» käme offenbar zu einem Abschluss darin, dass die Idée fixe der Einheit von Warenform und Denkform den real sich vollziehenden Begründungszusammenhang zwischen beidem aufdeckt. Die Reflexion auf die Bedingung der Abstraktheit der Denkform wird spekulativ relevant als Deutung des historischen Gewordenseins der Denkform. VII. Die Hauptschwierigkeit, mit der uns Sohn-Rethels Theorie konfrontiert, er‐ hellt nun eine zentrale Schwierigkeit von Adornos Kantinterpretation: Sie besteht darin zu bestimmen, wie die Beziehung zwischen dem Blockiertsein unserer Erkenntnis und dem Erkannten, zwischen idealer und realer Abstrak‐ tion ‹objektiv› zu bestimmen ist, ohne dass der Block auch die materialistische Erkenntnisabsicht gänzlich durchstreicht. ‹Positiv› intendieren und bestimmen lässt sich dieses Verhältnis durch Reflexion ja wie gesehen nicht unmittelbar. Denn, wie Adorno festhält, sind die Subjekte der Tauschgesellschaft auch sich selbst gegenüber entfremdet: «Ihre eigene Vernunft, welche, bewußtlos wie das Transzendentalsubjekt, durch den Tausch Identität stiftet, bleibt den Subjekten inkommensurabel, die sie auf den gleichen Nenner bringt: Subjekt als Feind des Subjekts.» 166 Dass die Abstraktheit der reflektierenden Subjektivität als solche für konkret und das Konkrete, das diese zeitigt, für abstrakt gelten soll, kann daher nur als ein immer schon im Rücken jeder reflexiven Bestimmung liegendes, ursprünglich das Getrennte vereinheitlichendes Verhältnis - kurz: als synthetische Einheit - in Anspruch genommen werden. Insofern gehen Sohn-Rethel und Adorno gemeinsam zu Kant zurück. Der Unterscheid zwischen b) Erfahrungsgehalt 257 <?page no="258"?> 167 Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S.-156. 168 Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, Brief vom 8.12.1936, in: Adorno, BW I, S. 250. beiden aber, der einer ums Ganze sein dürfte, rührt nun daher: Bei Sohn-Rethel scheint die Inanspruchnahme der synthetischen Einheit - anders als bei Adorno - den Bestimmungsvollzug der Theorie am Ende nicht zu irritieren, sondern nur noch zu ermächtigen. Sohn-Rethel kann - der inhaltlichen Forderung seiner Theorie entsprechend - kein selbstkritischer Kopfarbeiter sein. Auch Thyen macht hier den Unterschied Adornos zu Sohn-Rethel deutlich. Beide würden zunächst zwar darauf abzielen, durch Kritik des logischen Apriorismus die empirische Basis desselben hervorzukehren und als Einspruchsinstanz gegen die Absolutheit der Geltung die soziale Genesis der Denkform zum Bewusstsein zu bringen. «Allerdings folgt Adorno dem Modell der Marxschen Warenanalyse nicht mit der Stringenz, mit der Sohn-Rethel bereit ist, sie auf den Bereich der Erkenntnistheorie anzuwenden.» So sei die Anschmiegung der Kantinterpretation Adornos an Sohn-Rethels kant-marxistisches Programm letztlich nur ein «Zwischenschritt im Übergang von der Erkenntnistheorie in die Geschichtsphilosophie». 167 Spätestens dort aber, in der Geschichtsphilosophie, ist Adornos Denken - trotz unleugbar historisch-materialistischer Momente - zu sehr an einem spekulativen Begriff individueller Freiheit orientiert, als dass sich die adornosche Geschichtsphilosophie ganz von einem historisch-materia‐ listischen Theorieprogramm - und sei es jenem Sohn-Rethels - vereinnahmen ließe. Horkheimer moniert 1936 in einem Brief an Adorno, dass Sohn-Rethels Hypothese auf einen wirtschaftshistorischen Positivismus hinauslaufe, der «zur Geschichte selbst, wie sie ist, auch nicht viel anders steht als irgendein Jas‐ pers oder sonst ein Professor». 168 Die Differenzierung des harten Kerns der kritischen Theorie von der Peripherie einer weniger ‹positivistischen› Marxre‐ zeption dürfte von weitreichenden Folgen gewesen sein. Noch Habermas ist rückblickend darum bemüht, den Unterschied Horkheimers und Adornos zu den Marxismen Lukács’ und Sohn-Rethels hervorzuheben: Horkheimer und Adorno betrachten hingegen diese Bewußtseinsstrukturen, also das, was sie subjektive Vernunft und identifizierendes Denken nennen, als grundle‐ gend; die Tauschabstraktion ist lediglich die historische Gestalt, in der das identifi‐ zierende Denken seine welthistorische Wirkung entfaltet und die Verkehrsformen der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt. Die gelegentlichen Hinweise auf die in Tauschverhältnissen objektiv gewordenen Realabstraktionen können nicht darüber 258 C. Das Innere und Äußere <?page no="259"?> 169 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1), S. 506; vgl. dazu Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-188f. 170 Dazu Frank Engster, «Alfred Sohn-Rethels große Idee und ihr Problem. Das Maß als blinder Fleck der Kapitalismuskritik», in: Recherches germaniques 15, 2020, S.-157-176. 171 Zit. n. Carl Freytag, «Alfred Sohn-Rethel, die Vorsokratiker und die kritische Liquidie‐ rung des Apriorismus», in: Recherches germaniques 15, 2020, S.-69-79, hier: 69. 172 Vgl. Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, S.-32ff. 173 Adorno/ Benjamin 1994, 307; dazu Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, S.-337. hinwegtäuschen, daß Horkheimer und Adorno keineswegs wie Lukacs (und Sohn- Rethel) die Denkform aus der Warenform ableiten. 169 Trotz allem: Die in der Negativen Dialektik explizit vollzogene Annäherung an Sohn-Rethel bleibt ein ungelöstes Problem der Adornoforschung. Denn die Differenzierung der beiden Ansätze will nicht so recht gelingen, wenn man, wie Habermas, betont, es gehe Adorno gar nicht um eine ‹Ableitung› der Denkform aus der Warenform. Was sollte hier ‹Ableitung› denn bedeuten? Ein deduktiver, wirklichkeitsformierender Zusammenhang? Wäre Sohn-Rethel dann nicht Idealist? Die eigentliche Schwierigkeit mit Sohn-Rethel oder - wenn es mit Blick auf den Anspruch seines Denkens tatsächlich erlaubt ist so zu reden - das eigentliche ‹Rätsel› seines Entwurfs besteht offenbar nicht so sehr darin, ob eine untergründige Einsicht in das reale Fundament unserer idealen Kategorien überhaupt möglich ist. «Alfred Sohn-Rethels große Idee und ihr Problem» 170 besteht vielmehr in der Frage, wie das Verhältnis von Warenform und Denkform als solches zu denken ist beziehungsweise, ob es überhaupt, durch Kopfarbeit allein, einer Bestimmung zugeführt werden kann. Die Unmöglichkeit, sich den realen Zusammenhang von Warenform und Denkform denken zu können, beschreibt als solche ja gerade adäquat das Problem der realen Abstraktion. Angesichts der Zumutung dieses Problems scheint für viele klar: «Sohn-Rethel spinnt! » 171 Gegeben aber, Sohn-Rethel spinnt nicht, wie hängen dann logische und reale Abstraktion von Ungleichartigem tatsächlich zusammen? Liegt hier eine Analogie oder ein Begründungszusammenhang vor? 172 Ist die Frage nach dem Wesen der Ableitung bereits unkritisch? Das gänzlich Eigenartige und nicht mehr durch Reflexion Einzuholende scheint indessen dies zu sein: dass die Un‐ möglichkeit einer Antwort auf diese Fragen gerade das Thema von Sohn-Rethels Philosophie darstellt. Insofern wäre der spöttische Übername «So’n-Rätsel» 173 , den Adorno im Briefwechsel mit Benjamin verwendet, tiefgründiger, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Sohn-Rethels Theorie ist ein Fragezeichen, das sich als materialistische Theorie verinhaltlicht. Warum ist es denn der b) Erfahrungsgehalt 259 <?page no="260"?> 174 So wären auch Walter Benjamins Randbemerkungen Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus besser zu verstehen, die da zum Beispiel lauten: «macht wünschens‐ wert» (Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, S. 29), oder: «Es wäre großartig, wenn er Recht hätte» (ibidem, S.-70). 175 Adorno, GS 4, S.-55. 176 Adorno, GS 6, S.-382. Denkform bis Kant unmöglich gewesen, die soziohistorische Genesis der reinen Geltungssphäre einzusehen? Und vor allem, warum wird, außer vielleicht bei Marx, alles dafür unternommen, die Vermitteltheit der metabasischen Sphäre weiterhin zu verdecken? Dass dem so sei, zeigt sich für Sohn-Rethel indessen nur schon daran deutlich genug, dass der idealistische Sprachschatz kein einziges Prädikat bereithält, um den von Sohn-Rethel angedachten Zusammenhang von Warenform und Denkform adäquat artikulieren zu können. Der Vorschlag von Habermas, ihn als Ableitungsverhältnis zu konzipieren, greift definitiv zu kurz. Kein Wunder, würde Sohn-Rethel sagen, das liegt eben daran, dass die Sprache erst später kommt, ihr Primat mit dem Primat jenes ‹ursprünglichen› Verhält‐ nisses verwechselt wird, das gerade als Verhältnis (als materiale Begründung abstrakter Geltung) zur Debatte steht. Die «große Idee» Sohn-Rethels besteht also im Grunde darin, ein Problem aufgeworfen zu haben, das auch er selbst (weil ja auch sein Denken reine Denkformen produzierende Kopfarbeit bleibt) mit transzendentaler Notwen‐ digkeit nicht ‹lösen› kann. Inhalt von Sohn-Rethels Synthesisbegriff ist die Vergeblichkeit der Suche nach einem angemessenen Prädikat oder Zeitwort, um die Synthesisleistung der Wertform als solche vorstellig zu machen. Würde die philosophische Durchdringung der Realabstraktion gelingen, hätte die Denkform keinen Grund mehr, ihre Genesis aus der Warenform zu überdecken. Heraus käme dann wohl die Fülle der intentionslosen Wirklichkeit einer von der Herrschaft befreiten Welt. 174 VIII. In der Tat sollte, trotz vieler Parallelen, aber am Unterschied zwischen Adorno und Sohn-Rethel festgehalten werden. Es zeigt sich nämlich, dass Adorno zwar ebenfalls das Transzendentalsubjekt in der Warenform aufsucht, dass aber die Vermittlung von Denkform und Warenform nicht einseitig ausschlägt, sondern in der Anverwandlung der erkenntniskritischen Intention Kants und Hegels die spekulative Relevanz der Vermittlung zu retten versucht - getreu der Maxime: «Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.» 175 Noch einmal in der Logik des Blocks formuliert: «War die Kantische Lehre vom Block ein Stück gesellschaftlichen Scheins, so ist sie doch so gegründet, wie tatsächlich der Schein herrscht über die Menschen.» 176 Während Sohn-Rethels Idee aber den 260 C. Das Innere und Äußere <?page no="261"?> 177 Adorno, GS 6, S.-15. 178 Adorno, NaS IV 4, S.-264. Schein zur realen Abstraktion objektiviert, bleibt bei Adorno ein im kantischen Sinne subjektiv notwendiger Schein dieser Idee erhalten. Dieser Schein macht den eigenen theoretischen Blick final kritikwürdig. Der Umstand, auf den Sohn- Rethels Rätsel objektiv hinweist, ist für Adorno Grund zur Vorsicht bei der objektiven Inanspruchnahme des Rätsels der Geltung. Es könnte ja trotz allem sein, dass das Bewusstsein zwar an den Trug heranreicht, den Trug aber nicht unmittelbar zu durchschauen weiß. Das Phänomen der Geltung erschöpft sich bei Adorno folglich auch nicht bloß in einem Herrschaftsverhältnis, sondern weist zugleich über alle Herrschaftsverhältnisse hinaus, insofern Geltung eben als Phänomen gar nicht zu fassen ist. Das Bewusstsein des Blocks jedenfalls besagt: Der Hiatus zwischen Denkform und materialer Basis lässt sich innerhalb der Denkform nicht angemessener zum Ausdruck bringen denn als Kritik der Reichweite des Denkens. Diese Kritik will bis zum Ende vollzogen sein, um ihren Gehalt objektiv relevant werden zu lassen; der Gordische Knoten der Bewusstseinsphilosophie lässt sich gemäß Adorno gerade nicht innerhalb der Theorie durch Beschwörung der Praxis durchhauen. Denn nach der ge‐ scheiterten Verwirklichung der Theorie ist auch die «Praxis […] nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte.» 177 Die Einheit, die die Denkformen herstellen, ist als synthetische nämlich stets eine Inanspruchnahme der sich bereits realisiert habenden Entzweiung von innerer Erfahrungswelt und transzendental Äußerem. Beschwört die materia‐ listische Kritik die Einheit mit der verändernden Praxis, dann verwechselt auch sie das Sein und das Sollen ihrer gesellschaftlichen Fundierung. Das Äußere, das der Gegenstand der Urteilshandlung bleibt, auch wenn diese das Innere des Denkens intendiert, lässt sich aufgrund der Angemessenheit des Blocks an das Ganze folglich nicht mehr begrifflich ‹verinnerlichen›, ohne sogleich das Ganze «wie durch eine Mauer» 178 zu verstellen. Nur wenn Negativität nicht zur invarianten Kategorie verzaubert wird, sondern ihre erkenntniskritische Wirkung entfaltet, kann das Scheitern des Erkenntnisvollzugs als ein zwar notwendiger und dennoch kritikwürdiger Mangel begriffen werden und einen objektiven Wahrheitsgehalt gewinnen. Mit anderen Worten: Wahr ist die Dialektik nach Adorno immer nur dort, wo sie ihren Mangel als Theorie der Welt vergegenwärtigt; sonst bleibt sie immer nur hinter dem Anspruch zurück, durch Vermittlung noch das außerhalb b) Erfahrungsgehalt 261 <?page no="262"?> 179 Adorno, GS 6, S.-17. 180 Adorno, NaS IV 11, S.-223. 181 Adorno, GS 6, S.-378. der Grenze Liegende dem Gedanken zu ‹integrieren›. Dem Gedanken ‹inte‐ grieren› lässt sich das Ganze von Innerem und Äußerem dann aber wirklich nur noch als «Index der Unwahrheit von Identität» 179 - kurz, im Bewusstsein des Blocks. Fassen wir also zusammen: Der Block ist in diesem Abschnitt als Symbol der ‹Erstarrung› gesellschaftlicher Verhältnisse zu abstrakten Denkformen dis‐ kutiert worden. Der Gehalt des Blocks ist bei Adorno der Bestimmungsgrund, um die Dialektik auf Erfahrung anzuwenden. Vereinfacht oder ‹abstrakt› formuliert besteht der Erfahrungsgehalt des Blocks für Adorno darin, dass die Abstraktheit der erkenntniskritischen Katego‐ rien als solche mit der real sich vollziehenden Konsolidierung gesellschaftlicher Verhältnisse parallelisiert werden muss. Diese Parallelisierung bedeutet, dass die Reflexion auf die Abstraktheit der Logik Konkretion gewinnt als Reflexion auf die historische Genese der Abstraktion. Sohn-Rethel und Adorno bewegen sich aber noch in kantischen Bahnen, wenn sie den gesellschaftlichen Nieder‐ schlag der kantischen Lehre dialektisch kritisieren. Denn die Abstraktheit der Denkformen im Zuge des Nachweises ihres Eingebundenseins in den Erfah‐ rungszusammenhang zu kritisieren war genau das Ziel der transzendentalen Logik. Trotzdem ist es fraglich, ob die Metabasis letztlich zu rechtfertigen ist, die den abstrakten Erfahrungsbegriff der Transzendentalphilosophie mit der historischen Erfahrung konfundiert. Man kann diese Konfundierung als unrechtmäßige Amphibolie bemängeln; aber dann verpasst man die dialektische Pointe. Man kann sie als verborgene Wahrheit der Transzendentalphilosophie in Anspruch nehmen; aber dann nimmt man die Alternativlosigkeit der Kritik nicht genug ernst. Die Verhältnisse sind also von Beginn an komplexer als das oberflächliche Für und Wider der dialektischen Situation von Adornos Texten vermuten lässt. Während nämlich die klassische Kantkritik Kant diese dialektische Pointe als logische Inkonsequenz ankreiden möchte, erweist sich die negativ-dialektische Kantinterpretation dieser Zweideutigkeit als angemessen. Adorno geht davon aus, dass «bei Kant und gerade in der Kritik der reinen Vernunft der Begriff der Grenze eine so ungeheuer große Rolle spielt, ja daß in einem gewissen Sinn die gesamte Vernunftkritik eigentlich nichts anderes ist als so etwas wie ein Versuch, von sich aus Grenzen zu setzen, Grenzen zu konstruieren». 180 Adorno begreift den «Kantischen Block» darum im streng kantischen Sinne als Analogie für die «Theorie der Grenzen möglicher positiver Erkenntnis». 181 Das 262 C. Das Innere und Äußere <?page no="263"?> 182 Seltsamerweise bietet die auf den ersten Blick abwegige Verbindung zur «block uni‐ verse theory» der modernen Kosmologie (nach Minkovski und Einstein) nicht die schlechteste Kontrastfolie, um die grenzbegriffliche Funktion des Kantischen Blocks zu veranschaulichen. Eine transzendental-idealistische Theorie der Zeit als Block hätte dem transzendentalen Realismus der heutigen Eternalisten keine ‹bessere› Theorie darüber, was Zeit sei, zu entgegnen, sondern würde sich als die angemessenere Reflexion auf das Verhältnis von Zeit und Denken empfehlen. Vgl. Abschnitt D/ 1 dieser Arbeit. Zum Block-Universum vgl. Tim Maudlin, The Metaphysics within Physics, Oxford 2007, Kap. 4 und passim. 183 Adorno, GS 10.2, S.-750. bedeutet: Adorno spitzt die Bedeutung der grenzsetzenden Intention daraufhin zu, dass die Kritik die Grenze zum Thema hat. Der Kantische Block ist dann sowohl positiv als Grenze zum Absoluten als auch negativ als Schranke für das Denken das durchgängig zweideutige Thema der dialektischen Selbstkritik des Denkens bei Adorno. Mit dem Gang der Argumentation über die Abschnitte a) und b) wurde versucht, diese Zweideutigkeit der dialektischen Grenzbestim‐ mung auszuartikulieren, ohne sie im Zuge ihrer systematischen Disambiguie‐ rung zu entspannen. Es zeigte sich, dass, wenn die Zweideutigkeit des Blocks als zugleich willkürliche und notwendige Disziplinarmaßnahme begriffen wird, die Gerichtetheit der Erkenntniskritik auf die Grenzen des Erkennbaren in eine negative Erweiterung des Immanenzzusammenhangs umschlägt. Dieser Zusammenhang hat sich zu einem negativen Tatbestand entwickelt, der anhand der objektiven Bedeutung des Blocks exponiert werden kann. Diesem negativen Tatbestand - der Entfremdung des historisch-genetischen Moments von geschichtsloser Geltung - erweist sich das Bewusstsein des Blocks als angemessener, als es einer unkritischen Bezugnahme in intentione recta je möglich wäre. Nicht etwa, weil die Kritik die bessere ‹These› darüber formulierte, was der Fall ist. Der Begriff des Blocks gewinnt an systematischer Verbindlichkeit einzig darüber, dass im Verweis auf das, was der Fall ist, das amphibolische Einheitsdenken bestimmt negiert werden kann. Der Block tritt folglich auch nicht darüber mit der vorkritischen Philosophie in ein Konkur‐ renzverhältnis, dass er das Ganze adäquater auf den Begriff bringen würde. 182 Wenn dem Topos des Blocks spekulative Relevanz zuzuschreiben ist, dann kann er diese nur im Zuge der Selbstkritik des Identitätsdenkens erlangen. Die vollzogene Selbstkritik des Identitätsdenkens ist das, was Adorno ‹negative Dia‐ lektik› nennt; die negative Dialektik wendet die Methode der Vermittlung an, um das «Identitätsdenken» als das «Deckbild der herrschenden Dichotomie» 183 zu entlarven. Ohne diesen Umweg über die Kritik am Identitätsdenken wäre der Unterschied zwischen System und Antisystem verwischt, welcher konstitutiv für das Antisystem ist. Der methodische Negativismus wäre dann nicht die b) Erfahrungsgehalt 263 <?page no="264"?> 184 Adorno, GS 6, S.-376. selbstreflektierte Methode, sondern die negativistische Komplementärthese zum Idealismus, wonach die Verinnerlichung der Welt nach wie vor ungehin‐ dert vonstatten ginge, wenn auch (etwa der historischen Situation angepasst) unter ‹umgekehrtem Vorzeichen›. Die kritische Funktion des Blocks bedeutet aber nichts anderes, als dass gerade das - nämlich die Verinnerlichung des Weltganzen im begrifflich-systematischen Denken - auch unter umgekehrtem Vorzeichen nicht mehr ungehindert vonstatten gehen kann. Der Kantische Block ist eine nichttautologische Figur reflexiver Selbstbe‐ züglichkeit und stellt als solche das Prinzip der Erkenntniskritik dar. Indem Adorno den Block wieder in das Sichtfeld der absoluten Reflexion rückt, hält er deren verinnerlichende Bewegung zur andauernden Vermittlung mit einem transzendenten Äußeren an, ohne das Äußere selbst begrifflich zu überformen. c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung I. Da die reflexive Selbstbezüglichkeit des blockierten Bewusstseins keine tauto‐ logische Einheit darstellt, sondern in sich auf ein Äußeres, Nicht-Integrierbares verweist, kann der im Block freigelegte Erfahrungsgehalt auch nicht das letzte Wort über die Welt darstellen. Eine als Gesellschaftstheorie auftretende Er‐ kenntnistheorie ist mithin kein Selbstzweck. Vielmehr dient der Verbund von Theorie und Kritik der Artikulation des Anspruchs auf Andersheit. Insofern wirkt die Artikulation der Erfahrung des Blockiertseins des spekulativen Voll‐ zugs ermöglichend auf die Bezugnahme auf das ganze Andere. In diesem Abschnitt soll darum die erkenntniskritische Intention (a) mit dem Erfahrungsgehalt (b) des Blocks enggeführt werden. Diese Engführung erfor‐ dert, den Topos eindeutig zweideutig zu verstehen: Einerseits versinnbildlicht der Block die inhibierende Wirkung der Erkenntniskritik auf das spekulative Denken - die «repressive Seite des Kritizismus». 184 Der Hauptanklagepunkt gegen den Kritizismus lautete, dass dieser die transzendentale Subjektivität vermeintlich jenseits aller dialektischen Vermittlungen als eine zeitlos geltende Struktur etabliere, während die Überzeitlichkeit der transzendentalen Bedin‐ gungsstruktur ihrerseits durch ihr funktionales Eingebundensein in Gesell‐ schaft, Erfahrung und Geschichte bedingt sei. Der Kritizismus wird von Adorno demnach als Ausdruck eines kontingenten Herrschaftsinteresses gelesen und kritisiert. Im Zuge dieser Kritik wird, mit Sohn-Rethel zu reden, der formale 264 C. Das Innere und Äußere <?page no="265"?> 185 Adorno, NaS IV 4, S.-335. Idealismus Kants als eine Denkform unter anderen bestimmt - der Anspruch des Apriorismus also relativiert. Die Relativierung des Apriorismus kann nun aber, wie gesagt, nicht das letzte Wort haben. Denn andererseits ist dieselbe Dialektik, die den Bestim‐ mungsgrund zur Identifikation zeitloser und zeitgebundener Denkformen ab‐ gibt, Grund zur Kritik am Vollzug ebenderselben Identifikationsleistung - der Grund dafür, auch im eigenen Falle auf Irritationsmomente zu achten, die das identifizierend-spekulative Denken in die Schranken zu weisen vermögen. Das Attribut ‹negativ› gibt dann keine Information mehr darüber, womit es die Dialektik dem Inhalt nach zu tun hat - etwa mit der ‹Negativität› des Ganzen. Die Inanspruchnahme von Negativität als objektivem Gehalt impliziert bei Adorno stets ein erkenntniskritisches Moment. Dieses Moment fällt der Theorie zwar als Erfahrungsgehalt, dabei aber nicht als inhaltliche Bereicherung einer identifizierend-spekulativen Theorie zu. Der Block ermöglicht also ein Bild der universal gewordenen Entfremdung von Subjekt und Objekt, darum aber keine Ontologie des Ganzen. Die Angemes‐ senheit des Bildes an die sozio-historische Genesis versteinerter Verhältnisse ist ein Argument auch gegen die zeitlose Geltung der Dialektik, die diese Genesis strukturell kennzeichnet. Zeitlose Geltung könnte die Dialektik nur indirekt durch die Einsicht erlangen, dass noch die Universalität der Vermittlung ein Index ihrer partikularen Beschränktheit ist. Beschränkt ist die Vermittlung, weil sie nur die Ontologie des Falschen ist. Diesem Falschen ist aber nun - in reflexiver Reziprozität - zumindest die Idee eines Richtigen (d. h. einer gelingenden Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem) beigegeben. Also werden beide Bedeutungsebenen des Blocks im negativ-dialektischen Reflexionsmodell zusammengeführt. Paradox ausge‐ drückt: Die Selbstreflexion der Dialektik gewinnt über die Inanspruchnahme des Erfahrungsgehalts des Blocks spekulative Relevanz, weil der Block - als Index der Beschränktheit des Ganzen - den Grund zur Kritik an der spekulativen Bewegung verbürgt und die Reichweite der Reflexion negativ erweitert. Der Block ist als Bild des falschen Ganzen das Medium des kritischen Bewusstseins, um sich der Grenze des Ganzen zu versichern und also - mit Kant - den Gedanken der Transzendenz gegen seine Verinnerlichung «zu retten». 185 ‹Ne‐ gative Dialektik› bedeutet hier: Ausgerechnet die Negation der Möglichkeit, das Ganze dem Denken zu verinnerlichen, soll als der angemessenste Ausdruck des Ganzen verteidigt werden. Das heißt: Im Zuge der Einbindung der Dualismus- und Entfremdungskritik in die dialektische Vermittlung soll eine negative Dia‐ c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 265 <?page no="266"?> 186 Kant übernehme, so Hermann Cohen, den Begriff der Analogie zunächst dem mathe‐ matischen Register, wo Analogie stets eine quantitative «Proportion» bedeutet (vgl. Hermann Cohen, Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 86); im Skopus der Kritik nimmt der Analogiebegriffe jedoch eine rein qualitative Bedeutung an. Das heißt, es gibt keine konstitutive Anwendung z. B. des Analogieverhältnisses der Kausalität, nur eine regulative (- sonst hätten wir das Vermögen einer intellektuellen Anschauung). Dabei ist mit Suhm zu betonen, «dass der epistemische Status der Analogien der Erfahrung als synthetischer Urteile a priori deutlich unterschieden ist von demjenigen der empirischen Schlüsse gemäß einer Analogie. Erstere stellen transzendentale Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung dar, letztere sind mehr oder weniger gut begründete Schlüsse induktiven, d. h. nicht notwendigerweise Wahrheit erhaltenden, Charakters.» Christian Suhm, Art. «Analogie», in: Marcus Wil‐ laschek/ Jürgen Stolzenberg/ Georg Mohr (Hg.), Kant-Lexikon, S. 57-59, hier: 59. Das zeigt sich nur schon daran, dass die Analogien keine bloße Induktionsallgemeinheit, sondern strenge Allgemeinheit beanspruchen. 187 Adorno, NaS IV, S.-269. lektik von Innerem und Äußerem ins Auge gefasst werden, die zwar mit Hegel gegen die inhibierende Wirkung der Kritik aufbegehrt, sich jedoch von der integrativen Dialektik Hegels final unterscheidet. Erneut zeigt sich daher, dass sich Adorno diesen negativen Abschlussgedanken nur in Auseinandersetzung mit Kant aneignen kann. Die systematische These lautet, dass die von Adorno in dialektischer Vermitt‐ lung beanspruchte Negation des entfremdeten Subjekt-Objekt-Verhältnisses durch die Zweideutigkeit des Blocks reguliert wird. Regulativ wirkt der Block als Analogie der Erfahrung in kantischem Sinne. 186 Das heißt, der Block etabliert ein durchgängig gleichartiges Verhältnis (die Inhibierung der positiven Erkenntnis), welches aber dazu dient, bewusst radikal Ungleichartiges miteinander zu ver‐ binden - bewusst, weil über diese Verbindung die Ungleichartigkeiten des Un‐ gleichartigen zur Artikulation gelangt. Insofern stellt der Block eine Verbindung zwischen dem Immanenzzusammenhang der Vermittlung und einem unvermit‐ telbaren Äußeren her. Man könnte also sagen, ein spekulativ-dialektisches Re‐ flexionsmodell unterscheide sich von eine negativ-dialektischen gerade darüber, dass das Ziel des zweiten Modells die Darlegung der radikalen Ungleichartigkeit der ins Verhältnis gesetzten Bereiche ist. Explizit spielt Adorno daher mit dem paradoxen Gedanken einer «Meta‐ physik des Blockes». 187 Nach dem Gesagten ist dies eine Metaphysik, die ihre spekulative Relevanz durch Begrenzung ihres Anspruchsgehalts gewinnt und also den Gedanken der Transzendenz im Zuge der Kritik an der erschlossenen Immanenz rettet. Genau wie bei Kant führt die Metaphysikkritik also auch bei Adorno nicht zu deren Abschaffung, sondern zu deren Transformation: Die Unterscheidung selbst ist neu als die angemessenste Form der Beziehung 266 C. Das Innere und Äußere <?page no="267"?> 188 Dem entspricht die in einer Fußnote zur Einleitung der Kritik vorausgeschickte Leitthese darüber, zu welchem Ergebnis die Dialektik führen wird; nämlich zur Einsicht, «daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist». Kant, KrV, B XXI. 189 Vgl. Adorno, GS 6, S.-16, 397ff. 190 Theodor W. Adorno/ Gershom Scholem, Briefwechsel 1939-1969, hg. v. Asaf Angermann, Berlin 2015, S.-407. 191 Adorno, GS 5, S.-47. 192 Vgl. GS 6, S. 386. Die Wendung «metaphysische Relevanz» steht in der Negativen Dialektik zwar im Zusammenhang mit der «Rettung des Scheins» in ‹ästhetischen› Be‐ langen, verweist dabei jedoch unmissverständlich auf das zweideutige Leitmotiv der kantischen Dialektik als einer Lehre vom Schein. Der Begriff des Scheins ist ein Nexus zwischen Ästhetik und Metaphysik im adornoschen Werk (vgl. Andrew Bowie, Adorno and the Ends of Philosophy, Cambridge UK/ Malden MA 2013, S. 135ff.). Adorno beabsichtigt weder die Intellektualisierung der Ästhetik noch eine Ästhetisierung der Metaphysik, sondern bringt die problemgeschichtliche Bestimmtheit der nachkanti‐ schen Metaphysik insofern auf den Punkt, als das Problem des transzendentalen Scheins für eine solche kein Scheinproblem darstellt. - Dazu später an geeignetem Ort sowie vgl. Kap. I.4 dieser Arbeit. des radikal Ungleichartigen (Erscheinung und Ding an sich) zu begreifen. 188 Es geht bei der Analogie des Blocks durchgehend darum, den Unterschied des vermittelnd aufeinander Bezogenen zu vergegenwärtigen. Metaphysisch rele‐ vant wird diese Vergegenwärtigung, sobald der Immanenzzusammenhang als solcher dialektisch identifiziert wird: Denn: «Nichts führt aus dem dialektischen Immanenzzusammenhang hinaus als er selber. Dialektik besinnt kritisch sich auf ihn, reflektiert seine eigene Bewegung; sonst bliebe Kants Rechtsanspruch gegen Hegel unverjährt.» II. Spätestens nach Erscheinen der Negativen Dialektik 1966 ist darum klar, dass die kantische Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik eine der Hauptfragen der kritischen Theorie Adornos bildet. 189 1967 bemerkte Gershom Scholem in einem Brief an Adorno, «noch nie eine keuschere und in sich verhaltenere Verteidigung der Metaphysik gelesen» zu haben. 190 Nun sollte man zunächst meinen, eine Philosophie, die sich der hegelschen Forderung verpflichtet, die eigene Zeit in Gedanken zu fassen und dabei den Leitsatz hervorbringt: «Nicht die Erste Philosophie ist an der Zeit sondern eine letzte.» 191 - dass eine solche Philosophie ausgerechnet mit traditioneller Metaphysik so gut wie nichts mehr anfangen könne. Bei genauerem Hinsehen aber erweist sich Scholems ironische Lesart, wonach bei Adorno die Fülle metaphysischer Erkenntnis durch asketische Kritik verteidigt wird, der Sache nach als treffend. Dass die negative Dialektik Anspruch auf «metaphysische Relevanz» 192 erhebt, ist c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 267 <?page no="268"?> 193 Um hier nur einige Beispiele zu nennen: Adornos Philosophie begreife «metaphysics as a haven for truth» (Espen Hammer, «Metaphysics», in: Deborah Cook (Hg.), Theodor Adorno: Key Concepts, Stocksfield 2008, S. 63-76, hier: 63) - biete «a radical recon‐ ceptualization of the traditional metaphysical enterprise» (Brian O’Connor, Adorno, New York 2013, S. 86) - sei eine «Phänomenologie des Absoluten» (vgl. Marc N. Sommer, «Kritische Theorie als Phänomenologie des Absoluten. Adornos Negative Dialektik», in: Mario Schärli/ Marc N. Sommer (Hg.), Das Ärgernis der Philosophie, S. 279-314) - drehe sich um den ontologischen Gottesbeweis (vgl. Mario Schärli, «Eine jede Philosophie dreht sich um den ontologischen Gottesbeweis? Die Spur natürlicher Theologie bei Adorno», S. 237-278) - führe als Weg der «Radikalisierung der Kriti‐ schen Theorie» in eine «Kritische Metaphysik» (Axel Hutter, «Kritische Metaphysik. Adornos Radikalisierung der Kritischen Theorie», in: Mario Schärli/ Marc N. Sommer (Hg.), Das Ärgernis der Philosophie, S. 219-236) - kulminiere in der «Idee einer negativen Metaphysik» (Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S.-281ff.). 194 Theodor W. Adorno/ Gershom Scholem, Briefwechsel 1939-1969, S.-413. 195 Espen Hammer, «Metaphysics», S.-63. 196 Adorno, GS 6, S.-400. inzwischen auch in der Forschung allgemein anerkannt. 193 Die Forschung tut sich jedoch schwer damit, die grundlegende Weichenstellung des adornoschen Projekts einer einheitlichen Deutung zuzuführen. Hier wird nicht behauptet, dass dies abschließend gelingt; aber: Dass der Kantische Block in keiner dieser Deutungen eine (anti-)systemtragende Rolle spielt, ist zumindest als ein Defizit anzuerkennen. Die auf den metaphysischen Gehalt abzielenden Interpretationen der nega‐ tiven Dialektik besitzen eine unbestreitbare Grundlage in Äußerungen Adornos. Auf der Hand liegt, dass Adorno sich zeitlebens intensiv mit metaphysischen Problemen auseinandergesetzt hat - oder, anders formuliert, dass die Verhei‐ ßungen einer Erkenntnis des Absoluten seine eigene Erkenntnissuche durch‐ gängig beseelt haben dürfte, und zwar auch dort, wo Adorno vermeintlich fernab des Absoluten ‹bloß› materiale Themen bearbeitet. Scholems subtile Bemerkung stößt daher auf Zustimmung bei Adorno: «Die Intention einer Rettung der Metaphysik ist tatsächlich in der Negativen Dialektik die zentrale. Sehr glücklich bin ich darüber, daß das herauskommt, und daß Sie damit sympathisieren.» 194 Zweifellos ist das Metaphysische also, wie Espen Hammer festhält, «a key category in Adorno, and a concept around which his entire philosophical career revolved». 195 III. Die eigentliche Schwierigkeit entsteht nun aus der grundlegenden Ambiva‐ lenz, dass ausgerechnet die kritische Theorie die Metaphysik «im Augenblick ihres Sturzes» 196 retten sollte. Bei Adorno erfolgt die Bezugnahme auf die metaphysische Tradition im vollen Bewusstsein darum, dass der Metaphysik ihr 268 C. Das Innere und Äußere <?page no="269"?> 197 Zit. n. Adorno, GS 6, S. 365: «Wie in der von sämtlichen Bevölkerungen der Erde geschluckten Ideologie die Mittel die Zwecke usurpieren, so usurpiert in der auferstan‐ denen Metaphysik von heutzutage das Bedürfnis das, was ihm mangelt.» 198 Rolf Tiedemann, Niemandsland. Studien mit und über Theodor W. Adorno, München 2007, S.-180. 199 Friedrich Nietzsche, Digital critical edition of the complete works and letters, based on the critical text by G. Colli and M. Montinari, hg. v. Paolo D’Iorio, Berlin/ New York 1967 ff., NF-1883, S.-8[25]. 200 Adorno, GS 6, S.-354-400. 201 Adorno, NaS IV 4, S.-19. ganzer Inhalt abhandengekommen ist. Wie Rolf Tiedemann festhält: «In keinen platonischen Ideenhimmel geleitet Metaphysik mehr»; vielmehr sei sie bei Adorno «nur ein letztes Asyl sowohl gegen die Ideologie ‹der auferstandenen Metaphysik von heutzutage› 197 wie gegen den Kult dessen, ‹was der Fall ist›». 198 Entsprechend schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist es, einen abstrakten Lehrgehalt ‹der adornoschen Metaphysik› herauszuschälen, geschweige denn diesen Gehalt in den Forschungsdiskurs einzubringen. Dasjenige, was bei Adorno an eindeutig kritischen und eindeutig metaphysischen Gehalten vorliegt, lässt sich stets nur als reflexive Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Erkenntnis und Kritik begreifen. Der metaphysische Gehalt der negativen Dialektik ist als eindeutiger notwendig zweideutig. Entsprechend wird bei Adorno das Verhältnis von metaphysischer Er‐ kenntnis und Kritik der Metaphysik auf der einen Seite negativ bestimmt, d. i. aus dem Blickwinkel der Tradition radikaler Metaphysikkritik. Aus den metaphysischen Modellen Adornos hallt noch Nietzsches Einsprache gegen den «Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten» 199 wider. Auf der anderen Seite jedoch läuft bei Adorno die zeitlebens erfolgende, kritische Auseinandersetzung mit Metaphysik auf den Fluchtpunkt der durchaus positiv zu nennenden Konzeption von metaphysischer Erfahrung hinaus. Von dieser Zweideutigkeit zehrend, wollen Adornos «Meditationen zur Metaphysik» 200 den traditionellen, cartesischen Modus des ‹Meditierens› mit jedem Satz gleichermaßen selbst vollziehen wie kompromittieren. Durch das Austragen dieses Spannungsverhältnisses von Metaphysik und Kritik schmiegt sich die kritische Theorie Adornos bewusst an das kantische Projekt einer Kritik der reinen Vernunft an. Wenn wir verstehen wollten, so Adorno, «was in einem gewissen Sinne die ganze Kritik der reinen Vernunft inspiriert, dann ist es das, daß die Anstrengungen der Metaphysik, gewisse Erkenntnisse aus sich selbst heraus, aus bloßem Denken heraus zu spinnen, gescheitert sind […]». 201 Wie die kantische Kritik kommt also auch die kritische Theorie im Bewusstsein c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 269 <?page no="270"?> 202 Vgl. Adorno, GS 6, S.-15. 203 Adorno, NaS IV 14, S. 108; Hervorhebung C.M. Vgl. dazu Gerhard Schweppen‐ häuser, «Negative Metaphysik ist genauso Metaphysik wie positive auch. Zum Meta‐ physikkonzept bei Adorno, Haag und Mensching», in: Julia Jopp et al. (Hg.), Ultima Philosophia. Zur Transformation der Metaphysik nach Adorno, Berlin 2020, S.-17-39. des Scheiterns des überfliegenden Erkenntnisanspruchs der traditionellen Phi‐ losophie an der Wirklichkeit zu sich - das macht der erste Satz der Negativen Dialektik hinreichend klar. Philosophie erhält sich als eine Reflexionspraxis am Leben, die darauf reflektiert, dass der überfliegende Anspruch der philosophi‐ schen Weltbegriffe von der Welt krass widerlegt worden sind. 202 Die Reflexion auf das eigene Scheitern ist für Adorno daher von metaphysi‐ scher Relevanz. Denn die Metaphysik ist, spätestens ab Kant, zur Reflexion auf ihr eigenes Tun bestimmt - und ohne solche Reflexion nicht zu haben. Mithin ist gerade das Scheitern des Anspruchs unserer grundlegendsten und höchsten Begriffe Thema der Metaphysik. Im Rahmen der Vorlesung über Philosophische Terminologie hebt Adorno explizit hervor: Metaphysik kann keine positive Lehre von irgendwelchen Seinsgehalten sein, die da als metaphysische verkündet werden; sie besteht eben in den Fragen, die sich auf solche Wesenheiten beziehen. […] Pointiert gesagt: negative Metaphysik ist genauso Metaphysik wie positive auch. 203 Wenn Metaphysik also noch irgendwie ‹gelingen› könnte, dann gelänge sie als Reflexion auf ihr eigenes Scheitern. Auch hier ist Negativität also keine Inhaltsangabe. ‹Negativ› heißt eine vollständig von Kritik durchsetzte Meta‐ physik. Diese Metaphysik führt konsequent die Fraglichkeit des tradierten Anspruchs vor Augen und zeigt auf, wodurch dieser Anspruch negiert wird. Die material-bestimmte Traditionsnegation verspricht zu leisten, was die intentio recta der Alten auf das Seiende zum Scheitern verurteilt. Es ist die kantische Amphiboliekritik, die Adorno unter veränderten historischen Bedingungen aktualisiert. Die metaphysische Relevanz der negativen Metaphysik hängt folglich vom Gelingen der Reflexion auf die Nichtidentität von Weltbegriff und Welt ab - kurz, von der systematischen Anverwandlung des Kantischen Blocks. Die systematische Anverwandlung des Blocks kommt dabei der prinzipiellen Er‐ kenntnis gleich, dass eine negative Metaphysik allein noch den unendlichen Anspruchsgehalt der Tradition auf das Übersinnliche erfüllen kann. Der Block versinnbildlicht insofern die Reflexionsbestimmtheit der Metaphysik als solche. 270 C. Das Innere und Äußere <?page no="271"?> 204 Adorno, NaS IV 4, S.-19. 205 Vgl. Adorno, GS 6, S. 400. Dazu James G. Finlayson, «Adorno’s Metaphysics of Moral Solidarity in the Moment of its Fall», in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S.-615-630. 206 Adorno, GS 17, S.-271. Das Bewusstsein des Blocks ist ja das Bewusstsein des Scheiterns - daran, ein Unbedingtes «aus bloßem Denken heraus zu spinnen». 204 Adorno hält also aus Solidarität 205 mit der Metaphysik am Kritisierten (an Kant) fest, dem Block, weil sich die Erfahrung der Entzweiung von Erkenntnis‐ subjekt und Erkenntnisobjekt zwar als kritikwürdig erweist, der Entzweiung aber zugleich kein versöhnter Zustand gegenübergestellt werden kann. «Ein‐ gedenk der Unmöglichkeit, das sogenannte Positive irgendwo auszupinseln», 206 haftet dem Block folglich auch bei Adorno eine transzendental zu nennende Notwendigkeit an. Dieselbe Notwendigkeit nämlich, mit der die Vermittlung von Denken und Welt in das grundlegende Dilemma mündet, dass eine Ver‐ mittlung des Entzweiten zwar notwendig an der Zeit ist, das Gelingen der Vermittlung aber mit ebenderselben Notwendigkeit durchkreuzt wird. Der erste Satz der kantischen Kritik bleibt auch nach seiner historisch-materialistischen Korrektur aktuell: Das Denken hat es mit Fragen zu tun, die sich ihm mit eiserner Notwendigkeit stellen, mit ebenderselben Notwendigkeit aber jeglicher Antwort entziehen. Statt aber die Not dieser Grundaporie zur Tugend einer inhaltlichen Erschlie‐ ßung des Weltganzen zu machen, hängt auch hier, wie überhaupt bei Adorno, die ganze Relevanz der Vermittlungstätigkeit (und damit jene der traditionellen Dialektik) daran, dass das dialektische Bewusstsein eine Reflexion auf die Grenzen der Vermittlung vollzieht. Diejenige Dialektik, der noch die Reflexion auf das eigene Scheitern ‹gelingt› - d. h. so gelingt, dass dieses Scheitern an der Sache nicht auf die Sache projiziert wird -, wird, wie die ihr zugehörige Metaphysik, negativ. Wie in Kap. B gezeigt, bedeutet das Negativwerden der Dialektik ja nicht, dass ‹die Negativität› der Dialektik gleichsam als ein reales Prädikat zufällt, durch dessen Inanspruchnahme sie ungehindert in Spekulation übergehen könnte. Negativität als Gehalt (der Block) muss auf die Inanspruch‐ nahme des Gehalts zurückschlagen. Ohne diese erkenntniskritische Wirkung der Negativität ist negative Dialektik nicht zu denken. Negative Dialektik ist eine die Grenzen der Dialektik gewahrende Dialektik der Grenze. Im Lichte der dabei zu erfolgenden Konvergenz von Metaphysik und Metaphysikkritik ist der Vollzug der Grundoperation der Kritik ein notwendiges Kriterium dafür, die affirmative Inanspruchnahme von Negativität rechtfertigen zu können. Jede c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 271 <?page no="272"?> 207 Adorno, GS 6, S.-381. 208 Vgl. die Überlegungen zum Bilderverbot in Abschnitt D/ 3. 209 Adorno, NaS IV 14, S.-20. affirmative Inanspruchnahme des Blocks affirmiert nämlich den erkenntniskri‐ tischen Sinn von Negativität. Der Block versinnbildlicht nun genau dasjenige Moment, durch dessen Funktionalisierung die traditionelle Dialektik bestimmt negiert werden kann - was die negative Dialektik auch explizit mit Blick auf die traditionelle Dialektik zu leisten beansprucht. Folglich muss das kantische «Verbot, das Absolute zu denken» 207 von Adorno sowohl befolgt als auch missachtet werden. Es will befolgt werden, um die Missachter des Verbots, die das Absolute dem Begriff zum Verwechseln ähnlich machen wollen, in die Schranken zu weisen; das Verbot soll indessen verletzt werden, da nur die Aussicht auf eine metaphysische Erfahrung des Verbotenen den Anlass dafür abgeben kann, die identifizierende Bezugnahme auf das Verbotene bestimmt zu verbieten. Gleichsam in äußerster Zweideutigkeit wird bei Adorno am Verbot gegen die Verwechslung aus Zweideutigkeit festgehalten. 208 Das Verhältnis Adornos zur Metaphysik ist nur durch diese Komplexität fassbar und nicht auf Rezensionsformeln herunterzubrechen. Denn einerseits muss die Entwicklung der negativen Dialektik mit einer intensiven Auseinan‐ dersetzung mit der Metaphysik einhergehen. Andererseits ist die Metaphysik, wie gesagt, gerade der Gegenstand - ihr überfliegender Anspruch das Thema der Kritik. Angesichts dieser Wechselbestimmtheit positiver und negativer Momente gewinnt das bestimmte Nein, das die Kritik dem Anspruchsgehalt der traditionellen Metaphysik erteilt, metaphysische Relevanz. In diesem Sinne gilt: Auch die negative Metaphysik ist Metaphysik. IV. In den Augen Adornos erhebt die Kritik der Metaphysik Anspruch auf Objekti‐ vität in strengstem - und das heißt hier metaphysischem - Sinne. Diese Gegen‐ läufigkeit erhellt indessen aus der traditionellen Bestimmung der Metaphysik. Adorno selbst geht von der unkontroversen Grundannahme aus, daß Metaphysiken in einem prägnanten Sinne Lehren sind von Begriffen als einem Tragenden, als einem Konstitutiven und als einer Art von Objektivität, von der dann das, was man so naiverweise ‹das Objektive› nennt, nämlich das zerstreute Einzelding, das zerstreute Seiende, gestiftet wird und eigentlich erst abhängt. 209 Metaphysik prüft und stellt dar die objektiven Konstituentien objektiver Er‐ kenntnis. Eine Erkenntnis ist gemäß diesem konstitutionslogischen Verständnis 272 C. Das Innere und Äußere <?page no="273"?> 210 Vgl. Adornos utopische Formel in der Negativen Dialektik für das Ideal der Er‐ kenntnis: «Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.» Adorno, GS 6, S.-21. 211 Adorno, NaS IV 14, S.-9. 212 Marc N. Sommer, «Einleitung - Das Ärgernis der Philosophie», in: Mario Schärli/ Marc N. Sommer (Hg.), Das Ärgernis der Philosophie, S.-1-9, hier: 1. 213 Adorno, NaS IV 14 S. 9; vgl. dazu Marc N. Sommer, «Einleitung - Das Ärgernis der Philosophie», S.-1ff. 214 Sowohl Heidegger als auch Carnap gehen vom Desiderat einer «Überwindung der Metaphysik» aus - der eine durch «Rückgang in den Grund» ihrer Problematik (vgl. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? , Frankfurt am Main 1949, S. 7ff.); der andere «durch logische Analyse der Sprache» (vgl. Rudolf Carnap, «Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache», in: Erkenntnis 2, 1931, S. 219-241). Die Fluchtpunkte beider Überwindungen verhalten sich antithetisch zueinander - der eine möchte die Vergessenheit überwinden der Wissenschaft vom Seienden über den «Sinn streng genommen nur dann objektiv zu nennen, wenn das Erkenntnisobjekt in seiner ‹zerstreuten› Vereinzelung allgemeinverbindlich zur Geltung gebracht werden kann. 210 Das betrifft auch die philosophische Erkenntnis. Denn: «Nicht die einfachste Operation ließe sich denken», betont Adorno, ja «keine Wahr‐ heit wäre, emphatisch wäre alles nur nichts», wenn nicht überall dieser radikale Objektivitätsanspruch metaphysischen Ranges erhoben würde. Die Metaphysik ist für Adorno daher nichts weniger als «das, um dessentwillen die Philosophie überhaupt existiert». 211 Sie ist, wie Sommer mit Blick auf das Me‐ taphysikverständnis von Adorno festhält, «der Existenzgrund von Philosophie überhaupt». 212 Das bedeutet indessen nicht, dass die Metaphysik damit über alle Zweifel erhaben wäre und die Kritik aufwiegen würde. Im Gegenteil: Der Existenzgrund der Metaphysik ist zugleich ihr «Ärgernis». 213 Das Ärgernis der Metaphysik besteht kurz gefasst darin, dass die Notwendigkeit, mit welcher der Objektivitätsanspruch der Metaphysik im Zuge ihrer Säkularisierung zu negieren ist, dieselbe Notwendigkeit ist, mit der uns die Möglichkeit, der Metaphysik gänzlich zu entkommen, versagt bleibt. Es ist also das kantische Ver‐ ständnis der Metaphysik als eines notwendig sich aufdrängenden und ebenso notwendig sich dem wissenden Zugriff entziehenden Gebiets der Erkenntnis, das hinter Adornos Rede von einem Ärgernis steht. Die keusche Vorsicht und Verhaltenheit der negativ-dialektischen Kritik im Umgang mit der Metaphysik ist also keine Verlegenheit, keine Scham, ein unzeitgemäßes Programm zu verfolgen, sondern Adornos Antwort auf das methodische Dilemma, in dem sich die Philosophie seiner Zeit befindet. Gemeint ist das Dilemma, dass sich die kritische Theorie ihres philosophischen Selbst‐ verständnisses zwischen zwei metaphysikfeindlichen Strömungen versichern musste, die beide je auf ihre Weise eine «Überwindung der Metaphysik» 214 an‐ c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 273 <?page no="274"?> von Sein» durch eine fundamentalere Ontologie, der andere die fundamentale Sinn‐ losigkeit dieses ganzen Logos entlarven. Adorno steht gleichsam im Niemandsland dazwischen; er intendiert in der Fluchtlinie Kants die Grenze des Sinns metaphysischer Erkenntnis, um deren Anspruch zu retten. 215 Adorno, GS 6, S.-10. 216 Kant, KrV, B 113. strebten: Auf der einen Seite der logische Positivismus, für den die Problematik der Metaphysik eine Scheinproblematik darstellt, auf der anderen Seite die neue Ontologie, die jede ‹meta-physische› Transzendenz für einen seinsvergessenen Ausdruck der zeitlich-vollzüglichen Transzendenz des Daseins hält. Es ist be‐ zeichnend, dass Adorno die metaphysische Relevanz seines kritischen Projekts in Annäherung an Kant hervorhebt und dabei zugleich die Distanznahme von Kant antizipiert. Auch mit Blick auf die Metaphysik ist die Doppelstellung Adornos zur Tradition nicht das Resultat eines Auswahlprozesses, was an dieser Tradition noch brauchbar und plausibel scheint und was nicht; vielmehr gewinnt die Bezugnahme als bestimmte Traditionsnegation jene Methodenbes‐ timmtheit, darüber die Engführung von Dialektik und Kritik Erkenntnisse metaphysischen Ranges hervorbringen kann. Die problemgeschichtliche Wei‐ chenstellung des ‹Mit-Kant-gegen-Kant› spiegelt sich deshalb in der systemati‐ schen «Aufgabe» des Buches, «mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen». 215 Das Erfordernis dieser Aufgabe besteht in dem Konzept einer metaphysischen Erfahrung. Dieses Modell von Erfahrung antizipiert, wie es wäre, wenn der Durchbruch, die Sprengung des Blocks, tatsächlich gelingen würde. V. Auch die kantische Metaphysikkritik sucht Wege, auf denen sich der Anspruch der traditionellen Metaphysik dennoch erfüllen ließe. Alle drei Kritiken geben im Grunde aber eine Antwort darauf, wie die Erfüllung dieses Anspruchs möglich ist. Sie lautet auf dessen prinzipielle Einbindung in den Gesamtzusammenhang der Erfahrung. Die Einheit des kritischen Projekts besteht danach in der Ver‐ wandlung der traditionellen Metaphysik samt ihrem überzeitlichen Anspruch von einer bloß «falsch gedolmetscht[en]» 216 Naturanlage in eine Wissenschaft von den Prinzipien der Erfahrung. Die Gewissheit, die der Metaphysik als Wis‐ senschaft zuteilwerden sollte, steht und fällt also mit der Verbindlichkeit, mit der die Artikulation des Ausschlussverhältnisses erfolgt, das den statisch intelligiblen Gegenstandsbereich der Metaphysik von ‹der Natur› (als dynamischem Zusam‐ menhang der Erscheinungen) trennt. Die traditionelle Metaphysik verwechselt ihren Anspruch mit einem Anspruch auf die Erscheinungswelt, immanente entsprechend mit transzendenten Begriffen. Die kritisch geläuterte Metaphysik 274 C. Das Innere und Äußere <?page no="275"?> 217 Kant, KrV, A 703/ B 731; Hervorhebungen C.M. denkt Überzeitliches nur noch als Reflexionsgehalt. Die Kritik ‹weiß›, dass die dogmatisch-vereinseitigenden Hypostasen der Tradition auf der Reziprozität von Immanentem und Transzendentem, also auf einem Reflexionsverhältnis. Die Kritik, müssen wir sagen, kann endlich dieses Verhältnis als solches the‐ matisieren. Statt das Innere oder das Äußere hat nur sie die Grenze zwischen Innerem und Äußerem zum Thema. Die topologisierende Reflexion der ersten Kritik endet darum mit dem (vorläufigen, weil den Übergang in den Bereich der praktischen Vernunft antizipierenden) Ergebnis, daß alle Vernunft im spekulativen Gebrauche mit diesen Elementen niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinaus kommen könne, und daß die eigentliche Bestimmung dieses obersten Erkenntnisvermögens sei, sich aller Methoden und der Grundsätze derselben nur zu bedienen, um der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit, worunter die der Zwecke die vornehmste ist, bis in ihr Innerstes nachzugehen, niemals aber ihre Grenzen zu überfliegen, außerhalb welcher für uns nichts als leerer Raum ist. 217 Der Natur ‹bis ins Innerste nachgehen› zu müssen, dabei aber niemals die Äußerlichkeit unserer relationalen Erkenntnisbezüge ablegen und die Grenzen ihres Gebrauchs überfliegen zu können, wie es der Idee der Metaphysik allein entsprechen würde, - das ist nach Kant die «eigentliche Bestimmung» der spekulativen Erkenntnissuche. Offensichtlich führt diese Bestimmung zunächst zu einer inneren Zerrissenheit des Denkens. Sobald darauf reflektiert wird, dass das Denken die an sie (durch ihre metaphysische Naturanlage) herangetragene Forderung niemals erfüllen wird, fällt die Wahrheit der empirischen Erkenntnis mit ihrer Unwahrheit in metaphysischen Belangen zusammen. Das relational verfahrende Denken kann ja, wie gezeigt, der Forderung niemals genügen, das Innere der Dinge begrifflich zu verinnerlichen. Daraus folgt nun einerseits, dass die empirischen Naturwissenschaften unter der Maßgabe unerfüllbarer Erkenntnisansprüche operieren müssen. Durch Reflexion auf deren Verfahrensweise ist nämlich absehbar, dass die uneinge‐ schränkte Allgemeinheit und Notwendigkeit metaphysischer Ideen bedeutet, dass die Ideengehalte, die den Vollzug der empirischen Wissenschaften regulativ anleiten, selbst niemals gehaltvoll in die empirische Welterschließung einge‐ bunden werden können. So dürfte etwa die Kosmologie niemals das Weltganze als Gegenstand vor sich haben, sondern immer nur Indizes, die nach einer angemessenen Interpretation im Gesamthorizont verlangen. Andererseits folgt aus der inneren Zerrissenheit des Denkens das Paradoxe, dass die Grenzenlosigkeit als solche der transzendentallogischen Geltungssphäre, c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 275 <?page no="276"?> 218 Kant, AA IV, S.-354. 219 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S.-780-781. 220 «Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnli‐ chen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren; so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt in welcher alle ideellen Elemente unserer Erkenntnis restlos anzusiedeln sind, noch einmal eine Grenze daran findet, dass sie als Geltungssphäre an den Vollzug der empirischen Erkenntnis rückgebunden bleibt, indem sie diesen Vollzug prinzipiell anleitet. Betrachten wir die prinzipiellen Elemente dieses Vollzugs einmal losgelöst von ihrer regulativen und konstitutiven Funktion der Erfahrungsermöglichung, d. h., betrachten wir sie als absolute Bestände eines gänzlich anders gearteten Gegenstandsbereichs, so sind sie bestimmt nichts. Kant betont darum, dass der Gegenstandsbereich der Metaphysik «für uns nichts als leerer Raum» sei, also auch kein eigentlicher Gegenstandsbereich ist. Wenn die Kritik diesen leeren Raum als Etwas bestimmen möchte - sagen, was er ist (z. B. der mundus intelligibilis) und sagen, was sich in ihm befindet (z. B. noumena), dann muss sie im selben Zuge sagen, inwiefern dieser ganze Bereich und die Dinge in diesem Raum für uns gerade nichts sein dürfen. Mit anderen Worten: Nur Kritik kann den zweideutigen Anspruch erfüllen, das Transzendente nicht unmittelbar, sondern durch bestimmte Negation des Immanenten auszusagen. Denn nur das richterliche Urteil über die Tradition expliziert das Negationsverhältnis, das die Gegenstände des leeren Raumes einzig angemessen bestimmen kann - nämlich insofern sich die Kritik auf den Kontrast des Nichtsinnlichen zum sinnlich Erfahrbaren bezieht. «Die Sinnenwelt», schreibt Kant in den Prolegomena, sei gleichsam nichts als eine Kette nach allgemeinen Gesetzen verknüpfter Erscheinungen, sie hat also kein Bestehen für sich, sie ist eigentlich nicht das Ding an sich selbst und bezieht sich also nothwendig auf das, was den Grund dieser Erscheinung enthält, auf Wesen, die nicht blos als Erscheinung, sondern als Dinge an sich selbst erkannt werden können. In der Erkenntniß derselben kann Vernunft allein hoffen, ihr Verlangen nach Vollständigkeit im Fortgange vom Bedingten zu dessen Bedingungen einmal befriedigt zu sehen. 218 Die Ansprüche der Wissenschaft auf die Erscheinungswelt geht mit der not‐ wendigen Bezugnahme auf das Außerhalb dieser Erscheinungswelt einher. Zu sagen aber, was ein Gegenstand außerhalb der Erscheinungswelt ist, heißt mit Bestimmtheit zu sagen, dass er nicht Erscheinung ist. Das Ding an sich als «Nou‐ menon» hätte deshalb, schreibt Hermann Cohen, «bei seiner Geburt das Mal der Negation empfangen». 219 Das «Noumenon» definiert sich ja gerade darüber, nicht Gegenstand einer sinnlichen Anschauung sein zu können. 220 Expliziert 276 C. Das Innere und Äußere <?page no="277"?> einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung.» Kant, KrV, B 307. 221 Kant, AA IV, S.-366. 222 Karl Vorländer, «Einleitung», in: Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Leipzig 1920, S. V-XLIII, hier: XXXIIIf. 223 Vgl. Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S.-781. die Grundoperation der Kritik nun das Negationsverhältnis in den positiven Ansprüchen der dogmatischen Metaphysik auf nichtsinnliche Gegenstände, dann werden die geprüften Anspruchsgehalte sogleich von neuem negiert. Die bestimmte Negation des unbedingten Anspruchs der Tradition erweist sich dem Anspruch auf Unbedingtes der Sache nach als angemessener. Kritik ist die erste Wissenschaft des Unbedingten. Der kritische Idealismus verhält sich danach zur idealistischen Tradition im Modus der Entzauberung ihres Unbedingtheitsanspruchs. Und wie bei jeder Entzauberung, gibt es danach kein Zurück mehr, keine Aussicht auf Wiederverzauberung. So viel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Noth vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte. Die Kritik verhält sich zur gewöhnlichen Schulmetaphysik gerade wie Chemie zur Alchymie, oder wie Astronomie zur wahrsagenden Astrologie. 221 Vorländer fügt dem hinzu: «Aber wenn auch die alte dogmatische Metaphysik zweifellos überwunden ist, so ist doch die Wiedergeburt der Philosophie noch nicht vollendet. Wir befinden uns in einem Übergangszustand.» 222 In diesem Übergangszustand - d. h. durch die reflexive Entzauberung transzendenter An‐ sprüche - wird das Unbedingte nicht abstrakt negiert - ‹zermalmt› -, sondern eigentlich zum ersten Mal ‹positiviert› - als limitative Funktion mit Bezug auf die Sinnenwelt, aus welcher heraus das Noumenon zum «Flug» 223 ins Intelligible ansetzt. Kant bedenkt dazu die Erfüllbarkeit der metaphysischen Ansprüche ex negativo von der erkenntniskritischen Frage her, wie es mit den Aussichten auf Realisierung in den empirischen Wissenschaften steht. Die Negation in den unendlichen Urteilsgehalten des Nichtsinnlichen ist dann gleichsam die Leiter, auf der das metaphysische Denken die ihm und dem Gegenstand angemessene Flughöhe erklimmt. c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 277 <?page no="278"?> 224 Adorno, NaS IV 4, S.-269. 225 Ibidem, S.-266. VI. Auch Adornos «Metaphysik des Blocks» 224 will noch ein Denken im Übergang sein, insofern sie nicht schon vorgibt, im Transzendenten heimisch zu sein, son‐ dern als negative Metaphysik den Ausbruch aus dem Immanenzzusammenhang der Dialektik konzipiert. Die engere, «spezifische Bedeutung» des Blocks fällt für Adorno insofern mit dem kantischen Gedanken des Dings an sich zusammen. Im kantischen Grenzbegriff melde sich «etwas an wie die noch gar nicht recht artikulierte Ahnung, daß die Naturwissenschaften uns eigentlich über die Natur nicht das Letzte sagen» 225 - mit anderen Worten also, dass die Verinnerlichung der Natur im Begriff notwendig auf Grenzen stoßen muss, die das begriffliche Denken über sich selbst hinausweisen. Erinnern wir uns, inwiefern die Grenzbestimmung überhaupt zum Thema der Kritik wird. Kant sieht die Vernunft gleich mit einem doppelten Anspruch auf Grenzenlosigkeit konfrontiert. Einerseits beansprucht die traditionelle Me‐ taphysik, sich den grenzenlosen Gegenstandsbereich einer intelligiblen Welt positiv erschließen zu können; andererseits erweist sich der Fortschritt der em‐ pirischen Wissenschaften als prinzipiell grenzenlos, insofern dieser ad infinitum fortschreiten könnte, ohne das Innere der Dinge je vollständig begrifflich er‐ schlossen zu haben. Diese beiden Aspekte der Grenzenlosigkeit unseres Wissens erweisen sich zunächst als unvereinbar; entweder wir bringen in der Metaphysik das Unbedingte und Ewigwährende im Begriff abschließend zur Geltung, oder wir begreifen diese Geltung immer schon als graduelle Anreicherung und Revidierung unserer besten Theorien und Begriffe angesichts fortschreitender Erfahrung. Kants revolutionäre Tat besteht darin - so lautet zumindest das landläufige Narrativ -, einen Rechtsrahmen geschaffen zu haben, innerhalb dessen sich die unvereinbaren Aspekte der Grenzenlosigkeit unseres Wissens zusammendenken lassen. Die Unvereinbarkeit der beiden Aspekte der Grenzenlosigkeit unseres Wis‐ sens musste sich vor der Kritik in der Opposition von Realismus und No‐ minalismus im Universalienstreit niedergeschlagen. Dem Realismus ist die Grenzenlosigkeit begrifflichen Wissens ein Index seines spekulativen Gehalts; dem Nominalismus ist die Unerfüllbarkeit des Anspruchs abstrakter Begriffe ein Grund zur Kritik. Für Adorno ist klar, dass die Gehalte der kantischen Philosophie ihre Bestimmtheit darüber erlangen, dass diese das Verhältnis von Nominalismus und (Universalien-)Realismus thematisieren: 278 C. Das Innere und Äußere <?page no="279"?> 226 Adorno, NaS IV 4, S.-189f. 227 Ibidem, S.-190. 228 Ibidem, S. 265. Die kantische Philosophie stelle darum auch «eine Art historischer Paßhöhe» (ibidem, S. 266) dar. In Adornos eigener Zeit wirkt der Gegensatz zwischen anti-naturwissenschaftlicher Philosophie und anti-philosophischer Naturwissenschaft bewusstseinsbildend, was sich in der Philosophie als Opposition von Angelsächsisch- Analytischer und sogenannter Kontinentaler Tradition niedergeschlagen hat - vgl. dazu Michael Friedman, A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago 2000. Der Dialektiker Adorno, der eindeutig dem Kontinentalen Lager zugerechnet wird, hat diese Oppositionslage in Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus und der phänomenologischen Ontologie vielerorts thematisiert, z. B. explizit in «Wozu noch Philosophie? », Adorno, GS 10.2, S. 462ff. Zu welchem Lager kann also ein Denken gehören, das die Entzweiung der Lager als solche zum Thema hat? Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: die Bedeutung Kants mit Rücksicht auf das Universalienproblem ist die, daß er das Verhältnis des Allgemeinbegriffs und des darunter befaßten Besonderen zum ersten Mal [! ] als ein dialektisches Verhältnis gefasst hat. Ich möchte sagen, er hat es objektiv als ein dialektisches gefasst; das heißt: der Inhalt seiner Theorie läuft auf eine solche Dialektik hinaus, es ist aber nicht dialektisch für ihn, das heißt: seinem Bewußtsein ist eine solche Dialektik noch durchaus fremd; sie setzt sich gewissermaßen gegen seinen Willen oder über seinen Kopf hinweg in der Kritik der reinen Vernunft durch. 226 Adorno glaubt hiermit sogar an «die innerste Struktur der Kritik der reinen Ver‐ nunft» zu rühren. Diese Struktur offenbare die «sehr eigentümliche Doppelheit […]», dass die Gehalte der Kritik zwischen Nominalismus und Begriffsrealismus stehen bleiben. Kants Philosophie befinde sich damit genau auf der «Paßhöhe zwischen Nominalismus und Realismus». 227 Das Nicht-Verwirklichte des An‐ spruchs abstrakter Begriffe antizipiert deren Erfüllung, während der Anspruch auf apriorische Erfülltheit deren Leere besiegelt. Als Begriffe einer Philosophie des methodischen Übergangs sind die Begriffe der Kritik folglich bestimmt weder bloße Laute noch an sich schon sachhaltig. Die Begriffe der Kritik sind - der Formvorgabe des Grenzbegriffs gemäße - Forderungen und Aufgaben. Für Adorno ist die «eigentümliche Doppelheit» der kritischen Begriffsge‐ halte das Resultat der besonderen Nähe der kantischen Philosophie zu den Naturwissenschaften - eine Nähe, die der Philosophie nach Kant mehr und mehr abhandengekommen sei. Kant sei, so Adorno, von den bedeutenden philosophischen Denkern der letzte gewesen, der sich in einem unmittelbaren Einklang mit den Naturwissenschaften gewußt hat und gleichzeitig doch die traditionelle Thematik der Philosophie, also die Thematik der Metaphysik, festgehalten hat. Nach ihm - Hegel ist darin exemplarisch - ist das völlig auseinan‐ dergetreten. 228 c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 279 <?page no="280"?> 229 Adorno, GS 10.2, S.-467. 230 Kant, AA IV, S.-276. 231 Vgl. Kant, KrV, A 247/ B 303: «[…] Grundsätze sind bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen […]». Die Ausbildung der kantischen Lehre vom Block wäre gerade als eine Folge dieser Nähe zu den Naturwissenschaften zu begreifen. Genau genommen reagiert die Lehre vom Block auf die zunehmende «Integration von Philoso‐ phie und Wissenschaft, die virtuell schon in den frühesten Dokumenten der abendländischen Metaphysik sich abzeichnet». 229 Für Kant kann es neben den Naturwissenschaften im weitesten Sinne noch keine andere theoretische Wissenschaft mit demselben Anwendungsfeld, etwa vom Seienden als Seienden, geben, die uns das Letzte über dieses Seiende erschlösse. Die Metaphysik als Wissenschaft des Seienden als Seienden findet ihre Bestimmung also nicht als positive Artikulation eines hyperphysischen Bereichs freischwebender letzter Dinge, sondern in Bezug auf die empirische Naturwissenschaft und deren Monopolstellung als das alleinige Maß gültiger Erkenntnis. Ob die Kritik diesen Bezug zwischen Metaphysik und Physik angemessen erfassen kann oder nicht, entscheidet gemäß Kant über das ‹Schicksal› der Metaphysik als Naturanlage. «Auf die Auflösung dieser Aufgabe nun kommt das Stehen oder Fallen der Metaphysik und also ihre Existenz gänzlich an», 230 heißt es in den Prolegomena. Der Lösungsvorschlag der kritischen Transzendentalphilosophie für diese «Aufgabe» - gemeint ist die «Allgemeine Frage: Wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich? » - besteht folglich darin, dass die kritisierte Tradition als ein System angemessener Antworten auf das Problem angeeignet wird, wie der hyperphysische Anspruch der Metaphysik mit der faktisch fort‐ schreitenden, physikalischen Erschließung der phänomenalen Welt in Einklang zu bringen wäre. Die transzendentallogische Reflexion erwägt Möglichkeiten des Aufweises eines durchgängigen (eben: transzendentalen) Verhältnisses zwischen den tradierten noumenalen Gehalten der Metaphysik und den Ge‐ genständen möglicher Erfahrung, d. h. den Gegenständen der empirischen Naturwissenschaft. Das ‹Metaphysische› an der Metaphysik hängt neu an der Einsicht, dass traditionelle Anspruchsgehalte in Wahrheit urteilsformierende Reflexionsverhältnisse darstellen. Die Kritik exponiert 231 diese Verhältnisse, um die Relevanz der Tradition mit Blick auf den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften sichern können. Nur die Kritik kann angemessen ‹sagen›, wie sich die tradierten Anspruchsgehalte auf die letzten Dinge mit der stets sich erneuernden Erfahrung der Werdewelt zusammendenken lassen. Über die Gegenstände möglicher Erfahrung sagt eine kritische Metaphysik damit freilich nicht mehr das Letzte, sondern das Erste. Die Metaphysik versteht sich hier 280 C. Das Innere und Äußere <?page no="281"?> 232 Adorno, GS 6, S.-381. 233 Adorno, NaS IV 4, S.-266; Hervorhebungen C.M. vor allem als Wissenschaft von den Begründungsanfängen der physikalischen Naturwissenschaft. In den Augen Adornos bestätigt die Lehre vom Block daher das Erkenntnis‐ monopol der Naturwissenschaft. «Der Kantische Block projiziert auf Wahrheit die Selbstverstümmelung der Vernunft, die sie sich als Initiationsritus ihrer Wis‐ senschaftlichkeit zufügte.» 232 Misst die Kritik fortan alle Erkenntnisansprüche an dem einen Maßstab gültiger Erkenntnis, schränkt sie ihre eigene Reichweite in metaphysischen Belangen ein. Folgen wir Adorno, spricht aus der Lehre von den Grenzen möglicher Erkenntnis daher das Verbot, das Unbedingte überhaupt noch zu denken. Auch hier hat aber die Kritik am Kritizismus nicht das letzte Wort; sie ist vielmehr als Moment des Vermittlungsgeschehens der negativen Dialektik zu begreifen. Nicht, dass damit das kritische Moment getilgt wäre. «Daß» näm‐ lich «die Idee der Wahrheit dem szientifischen Ideal Hohn spricht», meint Adorno, «hätte Kant schwerlich bestritten». Kant selbst - hält Adorno in der 16. Vorlesung über die Kritik der reinen Vernunft fest - weiß doch, oder lassen Sie mich nicht sagen: ‹er weiß›; es ist eine metaphysische Erfah‐ rung, die in der Lehre vom Block in der Kritik der reinen Vernunft sich anmeldet, daß der Gegenstand der Natur, den wir durch unsere Kategorien bestimmen, eigentlich nicht die Natur selbst ist; sondern daß unser Wissen von der Natur durch die Forderung von deren Beherrschbarkeit, (wie sie in dem Hauptmittel der Naturerkenntnis, dem Experiment, exemplarisch mitgesetzt ist) eigentlich schon so präformiert ist, daß wir gewissermaßen von der Natur immer nur soviel erkennen, wie wir beherrschen können. Aber es steckt dahinter auch das Gefühl, daß, während wir unsere Netze stellen und immer mehr einfangen, gleichzeitig die Sache in einem gewissen Sinn immer weiter von uns zurücktritt, immer weiter sich von uns entfernt; daß gewissermaßen je mehr die Natur uns zu unserer eigenen Sache wird, gleichzeitig die Natur selber ihrem wesentlichen Gehalt nach uns immer fremder wird. 233 Adorno spricht hier nun explizit von einer «metaphysischen Erfahrung», die im Kantischen Block «sich anmeldet». Offenbar zielt Adorno hier auf eine Dialektizität des kantischen Denkens ab, die jeder synthetischen Aufhebung spottet. Denn eine metaphysische Erfahrung würde doch dem Begriff nach, d. h. als ‹metaphysische› im kantischen Sinne gedacht, jene Unmöglichkeit darstellen, die «in der Lehre vom Block» gerade mit aller Bestimmtheit verboten wird. Die aus der Konvergenz von Metaphysik und Erfahrung erwachsende c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 281 <?page no="282"?> 234 Das Konzept der metaphysischen Erfahrung tritt in den veröffentlichten Schriften erst ab der Negativen Dialektik (vgl. Adorno, GS 6, S. 366-400) und dann nochmals in der Ästhetischen Theorie (vgl. ders., GS 7, S. 317) auf. Vgl. allerdings in den Vorlesungen dess., NaS IV 14, S.-220. 235 Hegel, TWA 9, S.-20. 236 Adorno, NaS IV 1, S.-296. 237 Adorno, GS 10.2, S.-462. 238 Hegel, TWA 9, S.-20. Zweideutigkeit scheint als solche gewollt und ausschlaggebend dafür zu sein, was Adorno in Gestalt einer «Metaphysik des Blocks» vorschwebt. Die These lautet daher: Der Block stellt eine limitative Bezugnahme auf das Ganze her, weil er das Nicht-begreifen-Können des Ganzen zur Darstellung bringt. Es dürfte darum kein Zufall sein, dass der Terminus «metaphysische Erfahrung» hier, d.-h. im Zuge der Exposition des kantischen Blocks, fällt. 234 Doch zurück zum Zitat. Zunächst ist hervorzuheben, dass das «Netz», von dem Adorno spricht, nicht das «diamantene Netz» des logischen Gefüges der hegelschen Metaphysik ist, «in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen». 235 Das Netz der Kategorien ist hier, strenger analog zu weltlichen Kontexten gedacht, ein Mittel zur Beherrschung von Natur. Es ist «ein Netz, das wir [der Welt, C.M.] überstülpen, das aber mit den Sachen selbst von sich aus eigentlich gar nicht so viel zu tun hat». 236 Dieses kategoriale Netz ruft deshalb von selbst den amphibolischen Schein hervor, dass die in ihm eingefangene Welt eine Welt der Dinge an sich statt eine Welt bloßer Erscheinungen derselben wäre. «Je verdinglichter die Welt, je dichter das Netz, das der Natur übergeworfen wurde, desto mehr beansprucht ideologisch das Denken, das jenes Netz spinnt, seinerseits Natur, Urerfahrung zu sein.» 237 Adorno entwickelt an der «Lehre vom Block» also gleichsam die Umkehrfigur der integrativen Logik Hegels. Die alles beherrschende Logik des Je-mehrdesto verbietet es dem Bewusstsein, den von den «allgemeinen Denkbestim‐ mungen» 238 umspannten Bereich für das Ganze zu halten. Denn je ganzheitlicher sich die Logik aufspreizt, desto weniger wird das Nichtbegriffliche auf den Begriff gebracht. Diese Logik ist auf eine andere Weise dialektisch zu nennen als bei Hegel. Die Dialektik, die die Logik des Blocks expliziert, ist die einer reflexiven Verinnerlichung mit adverse effect. Wenn Adorno und Horkheimer die Dialektik der Aufklärung ursprünglich als eine dialektische Logik konzipiert hatten, dann haben sie indirekt diese Logik des Blocks vor Augen gehabt. Adorno folgt dabei der hermeneutischen Maxime, wonach Kants Philosophie aufgrund der «Struktur seines gesamten Denkens als eine Dialektik von Aufklärung zu lesen ist, die der Dialektik par excellence, Hegel, nicht gewahrt, weil er im Bewusstsein der einen Vernunft 282 C. Das Innere und Äußere <?page no="283"?> 239 Ibidem, S.-628. 240 Adorno, GS 6, 398; Hervorhebung C.M. 241 Der Begriff ‹Spekulation› kann etymologisch sowohl von ‹speculum› (lat. Spiegel) wie auch von ‹speculari› (lat. [umher-]spähen) abgeleitet werden - vgl. Sabrina Ebbers‐ meyer, Art. «Spekulation», in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Phi‐ losophie (online), Basel 2017. Für das Verhältnis der zwei Bedeutungsdimensionen von Spekulation: Hans Friedrich Fulda, «Spekulatives Denken und Selbstbewußtsein», in: Konrad Cramer et al. (Hg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt am Main 1987, S. 444-479, hier zumal: 452; ausführlicher Hans-Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart 2005, S. 227-242; zuletzt Gunnar Hindrichs, «Letztbegründung als Theorie der Andersheit. Nachwort von Gunnar Hind‐ richs», in: Wolfgang Cramer, Das Absolute und das Kontingente. Untersuchungen zum Substanzbegriff, Frankfurt am Main 3 2019 [1. Auflage 1959], S.-119-132, hier: 126. 242 Im nächsten Abschnitt (D) soll gezeigt werden, dass die subjektiven Formen des Denkens nur dann überhaupt Anspruch auf materiale Erfüllung erheben dürfen, wenn sie den Objektbezug über die Selbstkritik der Form herstellt. deren Grenze tilgt». 239 Die Verinnerlichung der Natur durch Reflexion führt zu deren Äußerlich- und Fremdwerden. Kein Sich-in-die-Natur-Entlassen der Logik hilft danach, das Verlorene wieder einzufangen - die Logik des Blocks negiert dies allgemeinverbindlich. In der Negativen Dialektik ist diese negative, gegenläufige Logik von Welt‐ verinnerlichung/ Weltentfremdung allgegenwärtig. Vollends tritt sie an einer Stelle gegen Ende des Buches hervor: Der Erkenntnisprozeß, der dem transzendenten Ding asymptotisch sich annähern soll, schiebt es gleichsam vor sich her und entfernt es von dem Bewußtsein. Die Identifizierungen des Absoluten transponieren es auf den Menschen, von dem das Identitätsprinzip herstammt; sie sind, wie sie zuweilen eingestehen und wie Auf‐ klärung jedesmal schlagend ihnen vorhalten kann, Anthropomorphismen. Deshalb verflüchtigt sich das Absolute, dem der Geist sich nähert, vor ihm: seine Näherung ist Spiegelung. 240 Näherung als Spiegelung - darin ist eine Engführung von Kritik und Spekulation angedacht, insofern der Begriff des Spiegelns, der ja im Begriff der Spekulation ebenso wie in dem der Reflexion enthalten ist, 241 einen entschieden kritischen Sinn annimmt: Der Geist schlägt durch die Annäherung an sein Fremdes in die Tautologie dialektischer Selbstbezüglichkeit um. In Kapitel A wurde bereits gezeigt, dass der Gedanke des Nichtidentischen für Adorno darum mit dem des Absoluten konvergieren muss. Das Nichtidentische kann per se nur über den methodischen Umweg einer Selbstkritik des sich in seinem Anderen spiegelnden Subjekts intendiert werden. 242 Die Wendung zum Schluss des zitierten Passus bestätigt diese Lesart ex negativo. ‹Spekulativ› im eigentlichen Sinne kann c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 283 <?page no="284"?> 243 Adorno, GS 10.2, S.-753. 244 Adorno, GS 6, S.-378. danach nur jene Reflexion sein, die als Kritik der amphibolischen Spiegelung Gestalt annimmt. Die Dialektik von Innerem und Äußerem, die Kant selbst exemplarisch gegen Leibniz und Locke als nichtamphibolische Zweideutigkeit der Begriffe ins Feld führt, stellt ihrerseits das Wissen dar, dass jede Annäherung an das Innere der Dinge dieses nur desto weiter von dem es verinnerlichenden Erkenntnissubjekt entfernt. Bei Adorno heißt es analog dazu: «Als in Wahrheit Nichtidentisches wird das Objekt dem Subjekt desto ferner gerückt, je mehr das Subjekt das Objekt ‹konstituiert›.» 243 Danach kann nur noch der Gedanke einer strengen Wechselbestimmtheit von Reflexion und Selbstkritik davor bewahren, die Denkform mit der in dieser Form als Anderes gespiegelten Sache zu verwechseln. Bei Adorno ist es die asymptotische Annäherung an das Absolute als Nichtidentisches, welches die nichtamphibolische Selbstspiegelung des Erkenntnissubjekts einfordert. Diejenige Zweideutigkeit, die sich von der Zweideutigkeit durch Verwechslung abhebt, ist eine, die den Anspruch des Spekulativen mit der Fähigkeit zur Selbstkritik zusammendenkt. Erfolgt keine radikale Kritik an der spekulativen Bewegung im Zuge der Reflexion, besteht auch keine Aussicht auf gelingende Spekulation. Das Verinnerlichungstun der Reflexion muss deshalb, wie Adornos ‹keusche› Verteidigung der Metaphysik offenlegt, auf ihr eigenes Scheitern reflektieren, um objektiv relevant zu bleiben. Eine Annäherung an das Ding an sich als Nichtidentisches kann nicht gelingen, solange dieser untrennbare Nexus zwischen kritischer Begrenzung und speku‐ lativer Entgrenzung des reflexiven Horizonts nicht gesehen und hinreichend gewürdigt wird. Wird der Nexus von Spekulation und Kritik aber anerkannt, so wird verlangt, dass der Nexus sich überall kritisch artikuliert; sonst bleiben die unendlichen Urteilsgehalte leer. Die negative Dialektik qua kritische Theorie ist eine solche Artikulation. Aber war es auch schon die kantische Kritik? Nun - während auf der einen Seite die klassisch gewordene Kantkritik Kant diese Zweideutigkeit seit jeher als logische Inkonsequenz ankreiden möchte, erweist sich die negativ-dialektische Kantinterpretation dieser Zweideutigkeit als angemessen. Wie gezeigt begreift Adorno den «Kantischen Block» im streng kantischen Sinne als ‹Analogie› für die «Theorie der Grenzen möglicher posi‐ tiver Erkenntnis». 244 Der Kantische Block ist dann sowohl positiv als Grenze zum Absoluten als auch negativ als Schranke für das Denken das durchgängig zweideutige Thema der dialektischen Selbstkritik des Denkens bei Adorno. Identität und Differenz fallen in der Analogie des Blocks zusammen, ohne dass dieser Zusammenfall ein letztgültiger Inhalt absoluter Reflexion wäre - im 284 C. Das Innere und Äußere <?page no="285"?> 245 Kant, AA IV, S.-357. 246 Ibidem, S.-358. Gegenteil: dieser Zusammenfall ist das erste und finale Argument der Kritik, die sich freilich dialektisch ausartikulieren muss, um das Absolute in den Blick zu bringen. Mit dem Gang der Argumentation über die Abschnitte a) und b) wurde ver‐ sucht, diese Zweideutigkeit der dialektischen Grenzbestimmung auszuartiku‐ lieren, ohne sie im Zuge ihrer systematischen Disambiguierung zu entspannen. Es zeigte sich, dass, wenn die Zweideutigkeit des Blocks als zugleich willkürliche und notwendige Disziplinarmaßnahme begriffen wird, die Gerichtetheit der Erkenntniskritik auf die Grenzen des Erkennbaren in eine negative Erweiterung des Immanenzzusammenhangs umschlägt. VII. Folgen wir Adornos Lesart des Blocks, dann war sie das indirekt. Denn dass das Absolute den versteinernden Blick des identifizierenden Denkens flieht, zeigt sich nicht erst bei Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung. Es ist das Problem des Anthropomorphismus, das bereits Kant umtrieb und das er durch den Nexus von Spekulation und Kritik zu lösen hoffte. Das Motiv des Anthropomorphismus nimmt im Zuge der «Grenzbestimmung der reinen Vernunft» in den Schlussparagraphen der Prolegomena eine zentrale Rolle ein. Kants Lösung des Problems besteht in der Unterscheidung zwischen dogmatischem und symbolischem Anthropomorphismus. Die Kritik am dogmati‐ schen Anthropomorphismus veranlasst dabei den Einsatz der Erkenntnis durch Analogie. Kant kontrastiert dem dogmatischen Anthropomorphismus die Idee eines symbolischen Anthropomorphismus, insofern die Inanspruchnahme der Transzendenz Gottes durch sprachliche Analogien so lange legitim (d. i. mit der Grenzbestimmung der Kritik vereinbar) ist, als die Analogie das Ausschlussver‐ hältnis von Transzendenz und Immanenz thematisiert, statt Transzendenz an sich zu identifizieren. Im symbolischen Anthropomorphismus «eignen wir dem höchsten Wesen keine von den Eigenschaften an sich selbst zu, durch die wir uns Gegenstände der Erfahrung denken». 245 Wir berühren also das Transzendente durch immanente Begrifflichkeiten zum Zweck der Vergegenwärtigung seiner irreduziblen Differenz. Hingegen übertragen die dogmatischen Anthropomor‐ phisten «Prädicate aus der Sinnenwelt auf ein von der Welt ganz unterschie‐ denes Wesen» 246 im Glauben an die Ähnlichkeit und ohne das Bewusstsein der radikalen Differenz. Wie bei der Vermeidung der Verwechslung von Reflexionsbegriffen, ist es auch hier die kritische Selbstreflexion des Denkens, die allein den Schlüssel zur c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 285 <?page no="286"?> 247 Kant, AA V, S.-352ff. 248 Kant, AA IV, S.-357; Hervorhebung C.M. Lösung der ganzen Problematik bereithält. Nota bene aber wieder, ohne dass der Anthropomorphismus im Zuge der Lösung des Problems abstrakt negiert würde. Die Lösung besteht stattdessen in der bestimmten Negation des Ähnlich‐ keitsgedankens und der damit einhergehenden, dialektischen Transformation der illegitimen Dogmatik in eine die Legitimität der Inanspruchnahme reflektie‐ rende Praxis der Kritik. Passend dazu schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft, Symbole enthielten im Gegensatz zu den Kategorienschemata nur «indirecte Darstellungen des Begriffs». Denn während die Kategorienschemata «demons‐ trativ» zwischen Anschauung und Begriff vermitteln, operieren Symbole «ver‐ mittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient)». Die Urteilskraft verrichte so «ein doppeltes Geschäft» - und zwar, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden. 247 Die etwas verwinkelte Formulierung stellt im Grunde nur heraus, was Kant zuvor schon in den Prolegomena als Erkenntnis «nach der Analogie» definiert hatte - Verähnlichung zum Zwecke der Vergegenwärtigung der radikalen Differenz «eine[s] ganz andern Gegenstand[s]». So ist die Erkenntnis «nach der Analogie […] nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweener Dinge, sondern eine vollkommene Ähn‐ lichkeit zweener Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen». 248 Die kriti‐ sche Transformation der Verähnlichungsdogmatik in legitime Symbolik erfolgt darüber, dass sich die Intention des Denkens weg von den analogisierten Dingen hin auf das analogisierende Verhältnis zwischen den Dingen richtet. Das Verhältnis nämlich kann im Gegensatz zum bloß Symbolisierbaren (i.e. nicht Schematisierbaren) mit transzendentallogischer Gewissheit bestimmt werden. In den Prolegomena wird die Erkenntnis nach der Analogie demnach ins Spiel gebracht, um das Nicht-begreifen-Können des Absoluten zu thematisieren, mithin um die Grenzbestimmung der reinen Vernunft zu vollziehen. Auch hier gilt indessen, dass die Einheit unseres Erfahrungshorizontes seiner Be‐ schränktheit geschuldet ist. Das zeigt sich konkret an einem Zentralgehalt der Kritik, der Kausalitätsrelation: Die Pointe der kantischen Argumentation besteht darin, die durchgängige Notwendigkeit des Grund-Folge-Verhältnisses als Notwendigkeit für unseren Erfahrungsvollzug auszuweisen, damit aber gegen den skeptischen Zweifel an der Notwendigkeit der Kausalrelation abzu‐ 286 C. Das Innere und Äußere <?page no="287"?> 249 Vgl. Kant, KrV, B 294: «Alle Grundsätze des reinen Verstandes sind nichts weiter als Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, und auf letztere allein beziehen sich auch alle synthetischen Sätze a priori, ja ihre Möglichkeit beruht selbst gänzlich auf dieser Beziehung.» 250 Es wird z. B. selten gesehen, dass für Kant die apriorische Vorstellung einer absoluten Zeit ein Lückenbüßer für die Unerkennbarkeit der Zeit ist: «Da aber Erfahrung ein Erkenntnis der Objekte durch Wahrnehmungen ist, folglich das Verhältnis im Dasein des Mannigfaltigen, nicht wie es in der Zeit zusammengestellt wird, sondern wie es objektiv in der Zeit ist, in ihr vorgestellt werden soll, die Zeit selbst aber nicht wahrgenommen werden kann, so kann die Bestimmung der Existenz der Objekte in der Zeit nur durch ihre Verbindung in der Zeit überhaupt, mithin nur durch a priori verknüpfende Begriffe, geschehen.» Kant, KrV, A 176/ B 219; Hervorhebung C.M. 251 Kants Lösungsvorschlag sollte konkret die Rettung des von Hume kritisierten Theismus leisten (vgl. Kant, AA IV, S. 356ff.). Für Kant ist die personale Rede von Gott (Als-ob) legitim, solange man, um mit der ersten Kritik zu reden, alle Stufen der dialektischen Verwandlung des transzendentalen Ideals eingedenkt, die zur Realisierung, Hyposta‐ sierung und Personalisierung der omnitudo realitatis geführt haben - vgl. Kant, KrV, A 582/ B 610 f. 252 Kant, AA IV, S.-357. schirmen. Entscheidend ist: Kant beansprucht zugleich, durch den Nachweis der Analogizität der Kausalrelation deren Universalität gegen die skeptischen Angriffe Humes zu verteidigen, wie andererseits, die Kausalrelation auf die Immanenz der phänomenalen Welt als des Bereichs möglicher Erfahrung ein‐ geschränkt zu haben. Im Grunde liegt hiermit ein wichtiger Teil der Antwort auf die Hauptfrage der ersten Kritik vor: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Die so simple wie weitreichende Antwort der kantischen Grundsatz‐ lehre besagt - indem sie auf Gegenstände möglicher Erfahrung angewendet werden. 249 Auf das Innere der Dinge sind die Relationskategorien aufgrund ihrer verhältnisbestimmten Äußerlichkeit freilich nicht mehr anwendbar. Die Nichtunmittelbarkeit des Anschauungsbezugs macht, dass Kant jederzeit eine Abstraktionshandlung voraussetzen muss, um zeitliche Verhältnisse überhaupt als durchgängig ‹gleichartig› (etwa durch Zahlenverhältnisse) darstellen zu können. Die Apriorizität der transzendentalen Erfahrungsstruktur und ihre Limitiertheit bilden Wechselbestimmungen. 250 Die Lösung des Anthropomorphismusproblems besteht nach Kant folglich in der Möglichkeit zur Reflexion auf die Inhaltsleere des analogischen Anthro‐ pomorphismus. 251 Der gute unterscheidet sich vom schlechten Anthropomor‐ phismus nicht darüber, dass er keiner mehr wäre, sondern lediglich darüber, dass er sich in jedem Als-ob der Limitation bewusst ist; der dogmatische hingegen verwechselt das Negationsverhältnis der Grenze mit einem Ding. Anthropomorphe Begriffe gehen gemäß Kant also «in der That nur die Sprache und nicht das Object selbst» 252 an. c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 287 <?page no="288"?> 253 Kant, AA IV, S.-356. 254 Vgl. den Passus zum Ende von § 57 der Prolegomena: «Wenn ich sage: wir sind genöthigt, die Welt so anzusehen, als ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei, so sage ich wirklich nichts mehr als: wie sich verhält eine Uhr, ein Schiff, ein Regiment zum Künstler, Baumeister, Befehlshaber, so die Sinnenwelt (oder alles das, was die Grundlage dieses Inbegriffs von Erscheinungen ausmacht) zu dem Unbekannten, das ich also hiedurch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Theil bin, erkenne.» Kant, AA IV, S.-357; Hervorhebungen C.M. 255 Vgl. Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Berlin 1911. Das Als-ob zu denken, bedeutet bei Kant stets auch, das Negationsverhältnis zu thematisieren, dadurch das Denken als solches über jeden unmittelbaren Praxisvollzug in der Erscheinungswelt hinaus erhoben wird. Das Grenzbegriffsdenken verwehrt dann durch seinen methodischen Negativismus jede pragmatistische oder fiktionalis‐ tische Reduktion der Transzendenz. Adorno nennt Vaihingers Deutung entsprechend zwar eine «relativistische Mißdeutung der Kritik der reinen Vernunft», befindet die Formel allerdings für treffend, weil sie den «eigentümlichen Schattencharakter» gut beschreibt, den die Erscheinungswelt durch ihr Negationsverhältnis zum Ansichsei‐ enden gewinnt. Vgl. Adorno, NaS IV 4, S.-169f. 256 Kant, KrV, A 583/ B 611. Es zeigt sich: Kants Verbot, das Transzendente als Objekt durch Sprache zu verinnerlichen, nimmt im Grunde nur den Inhaltsanspruch der Transzendenz ernst. Seine Zweideutigkeit verliert das Verbot dadurch freilich nicht. Das Verbot entspricht dem repressiven Gebot, «alle transzendente Urteile der reinen Vernunft zu vermeiden». 253 Das Resultat ist dann das Als-ob der Kritik, in dessen Horizont noch die Gottesidee eingetreten ist. 254 Man muss Kants Philosophie deswegen aber noch nicht auf eine lebenspraktische Philosophie des Als-ob reduzieren. 255 Das führt uns gerade Adornos dialektische Kantinterpretation vor Augen, die die Lehre vom Block nicht als nützliche Fiktion, sondern als eine negativistische Grundfigur mit spekulativer Relevanz auslegen lehrt. Das Verhältnis dieser negativen Erkenntnis zu den Ansprüchen der Lebens‐ welt bleibt dabei geradezu gezielt negativ. Das analogische Bewusstsein des Als-ob soll keine Fiktion etablieren, die das Transzendente ähnlich macht, sondern ‹lediglich› verhindern, dass das Absolute als Inbegriff aller Realität vergegenständlicht und «mit dem Begriffe eines Dinges verwechselt wird». 256 Jede Analogie für das Absolute wäre als ein unendliches Urteil im Sinne einer Positivierung des Ausschlussverhältnisses von Gegenständlichem und Nicht- Gegenständlichem zu begreifen. Der eigentliche Sinn des Als-ob ist dann aber der einer analogischen Selbstlimitation des Erkenntniszugriffs auf den in den Skopus des Als-ob gesetzten Gegenstand. Das spekulative Denken, das sich im Als-ob auf das Thema der Grenze beschränkt, intendiert keine Fiktion, sondern 288 C. Das Innere und Äußere <?page no="289"?> 257 Adorno, GS 6, S.-293. 258 Ibidem, S.-88. nimmt das ‹Nicht-› im Nichtsinnlichen als Artikulation der Transzendenz des betreffenden Gegenstandes ernst, indem es dabei bestimmt der Zweideutigkeit durch Verwechslung vorbeugt. VIII. Adorno eignet den Kantischen Block seinem Reflexionsmodell folglich als Inbegriff der systematischen Verweigerung zu, die verdinglichende Rede auf Transzendenz auszuweiten. Dasjenige spekulative Reflexionsmodell nämlich, das seine Anwendung auf das Ganze als wechselbestimmt durch die Selbstkritik des Modells denkt, «weigert sich einer Sprache, welche die Stigmata des Sei‐ enden trägt». 257 Damit kann nun die eigentliche Hauptthese dieses Abschnitts vorgebracht werden. Sie besagt, dass die Analogie des Blocks die metaphysische Erfahrung ermöglicht, so wie sie von Adorno in der Negativen Dialektik konzipiert wird. Der Block nämlich sieht ein negatives Verhältnis, wo die traditionelle Metaphysik glaubte, das Außersinnliche im Denken verinnerlicht vorfinden zu können. Damit hatte die traditionelle Metaphysik der Verinnerlichung der Andersheit gerade entegengewirkt. Ihre Näherung war stets Spieglung im schlechten (d. h. amphibolischen) Sinne - Tautologie. So übersetzt die Lehre vom Block die tradierten Ansprüche auf transzendente Gehalte (Metaphysik) in Artikulationen dieser Grenze. Sie begreift die Wissenschaft vom Seienden als Seienden als Grenzbestimmung. Bestimmt wird dabei, der Grundoperation der Kritik gemäß, keine jenseitige Welt, sondern das negative Ausschlussverhältnis zwischen Im‐ manenz und Transzendenz. In positivem und emphatischem Sinne thematisiert die Kritik damit eben nicht zwei für sich bestehende Bereiche, sondern ‹nur› die Wechselbestimmtheit beider Bereiche als Momente der Reflexion. Die Kritik, die also die Grenzen der Verstandesimmanenz dialektisch thematisiert, legt auf jedem spekulativen Gehalt das «Stigma reflektierender Intelligenz» 258 frei und erweitert so die eigene Reichweite negativ - durch analogische Selbstlimitation dieser Intelligenz. Damit - als Limitationshandlung - begreift sich diese Refle‐ xion nicht mehr als Verinnerlichung der beiden Momente, die sie voneinander abgrenzt, sondern setzt mit der Positivität der Grenze zugleich die vollkommene Andersheit des Vermittelten. Das heißt, das erkenntniskritische Negationsver‐ hältnis allein kann die Grenze durchgängig und verbindlich bestimmen, die unsere sinnlich verbürgten Erfahrungsvollzüge vom Außersinnlichen trennt, als Grenzbestimmung aber die Vermittlung zwischen beidem analogisch darstellt. Die angemessene Artikulation von Transzendenz, die somit das Ziel einer c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 289 <?page no="290"?> 259 Adorno, NaS IV 4, S.-192. 260 Ibidem. 261 Vgl. ibidem, S.-161-163. 262 Adorno, GS 10.2, S.-464. kritischen Metaphysik bleibt, ist nur noch analogisch im strengen kantischen Sinne möglich. Adorno spricht deshalb nicht nur von der grenzsetzenden Intention der Kritik, sondern auch von ihrer «Intention auf Rettung». 259 Die Pointe, die die vorliegende Diskussion des Blocks abschließen soll, besteht darin, dass die Intention auf Rettung die eigentlich subjektive Intention, die Grenzziehung die objektive Intention im Sinne des Themas der Kritik darstellt. Kants Engführung von subjektiv-grenzsetzender Intention und objektiv-rettender Intention «kul‐ miniert» deshalb im «Versuch, Objektivität in Subjektivität zu begründen», aber mit dem Ziel, Objektivität freizusetzen. 260 Gerettet werden sollte der Gedanke der Objektivität vor der absoluten Verinnerlichung durch die transzendentale Subjektivität, und dies - dialektisch oder paradox genug - über die Begrün‐ dungsleistung der Subjektivität. Begründung ist hier gleich Rettung, weil die kantische Verinnerlichung der Welt eine Verinnerlichung der Welt im Skopus der Kritik ist. Wenn das eigentliche Thema der Kritik nämlich das Ausschluss‐ verhältnis als solches ist - welches bei Kant als Grenze und bei Adorno im Block versinnbildlicht wird -, dann erfolgt die Begründung der Objektivität so, dass das weltverinnerlichende Subjekt eine Stellung zur objektiven Welt einnimmt, bei der die Reflexionsbewegung gleichsam gegen sich selbst anrennt. Der Block ist die Vergegenständlichung des Gegen-sich-selbst-Anrennens der Reflexion. Folgen wir Adornos Engführung von subjektiver und objektiver Intention, dann denkt im Grunde schon Kant mit Kant gegen Kant. Betrachten wir Kants grenzsetzende Intention derart durch die Brille Adornos, so erweist sich die Ansicht als verkürzt, wonach das Grenzensetzen nur eine repressive Maßnahme darstellen kann; genauso wie es verkehrt ist, in der kritischen Philosophie Kants nur die Negation von Transzendenz zu sehen. Beides nämlich bedeutete, der Negation und der Kritik vorweg jegliche speku‐ lative Relevanz abzusprechen. Warum sollte aber ausgerechnet bei Adorno am Ende nur das Positive zählen? Diese Ansicht erweist sich aus zwei Gründen als unangemessen. Zum einen aus dem offensichtlichen Grund, dass Adornos Programm für nichts anderes so emphatisch einsteht wie für die «Kritik der positiven Negation». 261 Dies mit dem Ziel, die Erkenntnisrelevanz der Philoso‐ phie in ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik zu begründen. «Ist Philosophie noch nötig, dann wie von je als Kritik», lautet Adornos unzweideutige Antwort auf die grundsätzliche Frage «Wozu noch Philosophie? ». 262 Zum anderen beinhaltet 290 C. Das Innere und Äußere <?page no="291"?> der Anspruch einer dialektischen Philosophie im kantisch-nachkantischen Sinne, dass jede Vereinseitigung ihrer Intention - entweder in destruktiver oder in konstruktiver Hinsicht - hinter den Anspruch der dialektischen Tradition zurückfallen wird, welcher spätestens seit Kant darin besteht, im Widerstreit der Lehrmeinungen nicht Position beziehen zu müssen, sondern den Grund des Widerstreits zum Zweck seiner Befriedung zu erfassen. Damit dürfte sich auch der Vorwurf an Kant, der Block offenbare bloß eine vorübergehende Verengung des theoretischen Blicks mit verkappter hand‐ lungspraktischer Absicht, als gänzlich verfehlt erweisen. Das heute noch vor‐ herrschende historische Narrativ ‹von Kant bis Hegel›, wonach erst ab Hegel ein Reflexionsniveau erreicht worden sei, das die Vollzugsbestimmtheit unserer logischen Kategorien reflexiv in ihrer dialektischen Dynamik erfasst, wird durch Kants dialektische Grenzbestimmung krass widerlegt. Begreifen wir nämlich, wie es Adornos Kantinterpretation nahelegt, schon die Grenzbestimmung als den paradoxen Ausdruck einer aller idealistischen Subjektivierung der Welt zuwiderlaufenden Tendenz zur subjektiven Begründung nichtidentischer Ob‐ jektivität, dann hat das spekulativ-dialektische Korrektiv das Problem, durch den als verengt kritisierten Blick der Kritik noch einmal negativ erweitert zu werden. Müsste man also aus spekulativen Gründen am Kantischen Block festhalten? Nichts anderes jedenfalls als diese negative Erweiterung des speku‐ lativ-dialektischen Reflexionsmodells wäre als Grundintention der negativen Dialektik vorzuschlagen. Wenn die negative Dialektik also einen Vorschlag formuliert, wie das Innere des Reflexionszusammenhangs mit seinem Äußeren in Bezug zu setzen wäre, dann ist der Block der Begriff für die Beziehung zwischen beidem. Das Differenzverhältnis der beiden Momente Subjekt und Objekt in ihrer Vermittlung intendierend, müssen wir darum mit Blick auf Adorno sagen: Der Block ist die Analogie der metaphysischen Erfahrung. IX. Die These, der Block sei die Analogie metaphysischer Erfahrung, besagt mit Blick auf Adorno: Der Block reguliert durchgängig das In-Bezug-Setzen dialek‐ tischer Gehalte mit der Transzendenz des Nichtidentischen; denn er konstituiert einen analogischen Erfahrungszusammenhang, der die Geschlossenheit der Erfahrungsimmanenz als wechselbestimmt durch die absolute Ungleichartigkeit der Transzendenz begreift. Indem sich der Block überall vor die Transzendenz schiebt (und wer wollte dies bestreiten? ) - den Anspruch auf Transzendentes also durchgängig negiert -, verrät der Block das immanentisierte Ganze als Begrenztes und stellt so - als Grenzbestimmung - eine indirekte Bezugnahme auf das völlig Unbekannte dar. Das Darstellungsmoment des Blocks offenbart somit deutlich genug, worin der dialektische Umschlag bestehen sollte, wonach c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 291 <?page no="292"?> 263 Kant, AA IV, S.-357. 264 Kant, AA IV, S.-354. 265 Kant, KrV, B 113. die grenzsetzende Intention der Kritik zu einer metaphysischen Erfahrung statt zur willkürlichen Beschränkung des spekulativen Vollzugs des Denkens führen sollte. Die Logik des Blocks stellt zudem das Missverständnis Hegels bloß, wonach die inhibierende Wirkung der Kritik darauf reduziert werden könne, was Kant eine Schranke nennt, während hinter der Einschränkung des spekulativen Denkens bei Kant immer schon das spekulative Interesse der Grenzbestimmung stand. Die Grenzbestimmtheit des metaphysischen Denkens indessen verlangt, das metaphysische Denken auf das Thema der Grenze (und also nicht das Denken innerhalb der Grenze! ) einzuschränken. In Kants Worten: «Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil bloß auf das Verhältnis einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntnis liegt.» 263 Sich auf die Grenze einschränken bedeutet also schon vor Hegel etwas zutiefst ‹Dialektisches› - etwas eindeutig Zweideutiges: Die Grenze der Vernunft stellt für Kant nämlich «etwas Positives» dar, insofern dabei eben «eine wirkliche Verknüpfung des Bekannten mit einem völlig Un‐ bekannten (was es auch jederzeit bleiben wird)» hergestellt wird. Auch wenn durch die Positivität der Grenze «das Unbekannte auch nicht im mindesten bekannter werden sollte - wie denn das in der Tat auch nicht zu hoffen ist», so könne doch, schreibt Kant, «der Begriff von dieser Verknüpfung bestimmt, und zur Deutlichkeit gebracht werden können». 264 Dass die Kritik die Intention der Grenzsetzung verfolgt, heißt also gerade nicht, dass sie Grenzen ziehen möchte, wo keine sein müssten. Vielmehr wird nun endlich thematisiert, was immer schon das Thema der überfliegenden Ansprüche der Tradition gewesen sein dürfte, aber, mit Kant zu reden, «falsch gedolmetscht worden» 265 ist - das negative Ausschlussverhältnis der beiden Welten. Es zeigt sich nämlich, dass die Grundoperation der Kritik auch hier greift: die Unbedingtheit des Unbe‐ dingten, die Übersinnlichkeit des Übersinnlichen, ist der Hypostasierung eines negativen Prädikates geschuldet. Allein Kritik kann daher die Unbedingtheit des Unbedingten positiv bestimmen, ohne die Negativität des Negativen mit einer inhaltlichen Bestimmung zu verwechseln. X. Kommen wir als Letztes dazu, zu erläutern, was Adorno also unter einer Metaphysik des Blocks versteht. Adorno führt die negativ-erweiternde Gedan‐ kenoperation des Blocks an einer entscheidenden systematischen Überlegung 292 C. Das Innere und Äußere <?page no="293"?> 266 Adorno, GS 10.2, S.-467. 267 Adorno, NaS IV 4, S.-268f. 268 Ibidem, S.-269. 269 Kant, KrV, A 30/ B 45. aus, die den Höhepunkt der Diskussion des Blocks im Rahmen der Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» darstellt. Die Überlegung betrifft das Verhältnis des Denkens zum Ganzen. Die metaphysische Relevanz des Blocks hängt gemäß Adorno an der Eigenart der «Integration von Philosophie und Wissenschaft» 266 bei Kant. Mit seiner (im Namen des Geltungsmonopols naturwissenschaftlicher Erkenntnis gezogenen) Unterscheidung zwischen phaenomena und noumena setze sich Kant dem bereits diskutierten Vorwurf der Inkonsequenz aus. Inkonsequent bleibe die Integration philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis deswegen, weil Kant auf der einen Seite «nicht bis zum Äußersten gehe» und uns dann «wenigstens etwas über diese eigentliche, uns entgleitende Welt und ihre Gestalt» sagen würde, welche immerzu indirekt in Anspruch genommen wird; «daß er dann aber auf der anderen Seite auch wieder nicht die Konsequenz des Positivisten habe, der sich wirklich an das Gegebene […] hält und alles, was darüber hinausgeht, als Gespensterei, als Spuk verfemt». 267 Adorno weist hier darauf hin, dass die Kritik einerseits eine noumenale Welt in Anspruch nehmen muss, um an ihrer grenzsetzenden Intention konsequent festzuhalten, andererseits aber die Konsequenz verweigert, uns etwas Positives über diese intelligible Welt zu sagen. Die Unterscheidung von Erscheinungswelt und intelligibler Welt führt also weder zu einer dogmatischen Metaphysik noch zu einem Positivismus des Gegebenen. «Diesen beiden Alternativen [zwischen Metaphysik und Posi‐ tivismus, C.M.] gegenüber», so Adorno, «ist Kant in der Tat, wenn Sie so wollen, ein schwankender, ein unentschiedener Denker». Und so gelte es zu betonen, daß genau dieses Moment des Nicht-bis-zum-Äußersten-gehen der Ausdruck, man könnte fast sagen: einer Metaphysik des Blockes überhaupt ist. Bis zum Äußersten gehen würde ja im Grunde immer heißen: eben diesen Block, die Erfahrung dieses Blockes zu leugnen; also eine eindeutige Identität im Sinne der Herrschaft des Verstandes herzustellen, - während in Kant eben doch entscheidend lebt die ἀνάμνησις daran, daß eine solche Übereinstimmung nicht möglich ist. 268 Wie bei Kant «der transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raume eine kritische Erinnerung» 269 daran ist, dass das Angeschaute nicht die Sache an sich ist, so ist der Block für Adorno eine kritische Erinnerung («ἀνάμνησις») daran, dass eine Identifikation des Transzendenten «nicht möglich ist». Die metaphysische Relevanz des Blocks besteht also in seiner Funktion als Kritik c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 293 <?page no="294"?> 270 Adorno, NaS IV 4, S.-269. 271 «Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn.» Hegel, TWA 3, S.-24. 272 Adorno, GS 5, S.-323f. 273 Adorno, NaS IV 4, S.-26f.; Hervorhebungen C.M. 274 Hegel, TWA 5, S.-164, 212. des identifizierenden Denkens. Die metaphysische Lehre, die daraus gezogen werden kann, besteht darin, die Nichtidentität von Erscheinungswelt und intelligibler Welt über Artikulationen der Unmöglichkeit zur Identifikation zu begreifen (was ja nach dem bisher Gesagten durchaus dem Paradox der Methodenbestimmtheit negativer Dialektik korrespondiert). Das heißt, die negative Metaphysik wäre die Lehre vom Unterschied der beiden Welten - ihr durchgängiges Thema, auf das sie sich beschränkt: die Grenze dazwischen. Gerade die ‹Inkonsequenz› Kants also, bei der kopernikanischen Rückbindung der Objektivität an die transzendentale Subjektivität nicht bis zum Äußersten gegangen zu sein, sondern das Ding an sich als ein dem Denken notwendig Aufgegebenes und ebenso notwendig Entzogenes einzuräumen, wird als die eigentlich spekulative Erkenntnishaltung anerkannt. «Denn bis zum Äußersten Gehen heißt für die Philosophie eigentlich soviel wie: den Block verleugnen und eine absolute Identität behaupten.» 270 Jene absolute Identität wird im spekulativen Reflexionsmodell Hegels als die Wahrheit des Ganzen in seinem Werden einbegriffen. 271 Adorno setzt die limi‐ tative Funktion des Blocks darum gezielt zur Differenzierung der negativen von der hegelschen Dialektik ein. «Selbstherrlich» habe, so Adorno, Hegel «dann doch den Block weggeräumt, jenes fürs Bewußtsein Unauflösliche, an dem Kants transzendentale Philosophie ihre innerste Erfahrung hat», heißt es zum Ende von «Erfahrungsgehalt», der zweiten der Drei Studien zu Hegel. 272 Diese Erfahrung ist für Adorno aber eigentlich das Tiefste, was es an Kant überhaupt gibt: nämlich daß er auf der einen Seite an der Intention der Philosophie festhält, das Ganze zu begreifen, das Ganze zu enträtseln; zugleich aber dann doch auch ausdrückt, daß der Gedanke eben das nicht vermag, sondern daß die einzige Form, in der das Ganze begriffen werden kann, der Ausdruck dessen ist, daß es nicht begriffen werden kann. 273 Es ist die «Sichselbstgleichheit» 274 des Ganzen, die dem spekulativen Begriff durch Hegel als inhaltlicher Gewinn zufällt, im Bewusstsein des Blocks aber den Mangel des begrifflichen Denkens offenbart. Nur die Annäherung an das kantische Reflexionsmodell kann die negative Dialektik folglich davor 294 C. Das Innere und Äußere <?page no="295"?> 275 Adorno, NaS IV 4, S.-270. 276 Ibidem. 277 Adorno, GS 6, S.-370. bewahren, die Brüche im System auf die Sache selbst zu projizieren und als inhaltliche Bereicherung zu interpretieren. Stattdessen begreift Adornos negative Dialektik das Ganze als das Unwahre, will heißen, sie versteht ihre identifizierende Annäherung an die Welt als Spiegelung im schlechten Sinne. Der Block wird paradoxerweise zum angemessenen Ausdruck des Ganzen, weil er diejenige Reflexion der Reflexion darstellt, die vonnöten ist, um die schlechte Spiegelung in eine gelingende zu verwandeln. Die gelingende Spiegelung der Welt wäre für Adorno indessen nicht die spekulative Dialektik als solche, sondern diejenige Dialektik, die ihre Vermittlungen als Ausdruck des «Nichtineinander-Aufgehens» und «Blockiertseins» verstünde. Adorno sieht in seiner Interpretation des Blocks darum nichts Geringeres als Legitimation des Ver‐ fahrens, das von Adorno in der Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Ver‐ nunft» zur Exegese, Kritik und Anverwandlung kantischer Motive angewandt wird. Wie bereits dargelegt, läuft dieses Verfahren darauf hinaus, auf «Antino‐ mien» und «Brüche» im kantischen System zu achten statt «auf seine einstim‐ mige synthetische Gestalt - nämlich eben deshalb, weil diese Brüche selbst eigentlich die kantische Philosophie sind». 275 Der positive Begriff der kantischen Philosophie ist - als die Erfahrung des Blocks -, «daß das Ganze, das der Geist eben noch begreifen kann, nur das ist, daß er als Geist das Ganze nicht begreifen kann; daß er aber dieses Nichtbegriffene und dieses Nicht-begreifen-Können selber in einem gewissen Sinn eben doch noch zu begreifen vermag». 276 Das heißt, das Bewusstsein des Blocks reicht an seinen eigenen Trug heran. Auch die negative Dialektik versteht ihre Artikulationen dann als Ausdruck dieses Bewusstseins. Sie identifiziert die Hindernisse und Brüche in der Welt, die es dem Denken innerhalb derselben unmöglich machen, einen Bereich außerhalb dieser Welt positiv in Anspruch zu nehmen. Von diesem Außerhalb kennt es nur die «versprengte Spur im negativen Ganzen». 277 Diese Spuren zeigen in ihrer wesentlichen Indirektheit nur die Grenze an, auf die die Verinnerlichung der Welt durch das Denken stößt. Der Sinn des negativen Bezugs auf das Absolute besteht also in der gemäß Adorno zutiefst kantischen Einsicht, «daß die einzige Form, in der das Ganze begriffen werden kann, der Ausdruck dessen ist, daß es nicht begriffen werden kann». Der adäquate Ausdruck des Ganzen erfordert eine Wechselbestimmung von Dialektik und Kritik. Schließen wir den Bogen: Der Block wurde eingeführt, um ebendiesen Kontrast an der eigenen spekulativen Bewegung von der Dialektik zur Kritik zu erhellen und so den kantischen von dem nachkantischen Spekulations‐ c) Der Block als Analogie der metaphysischen Erfahrung 295 <?page no="296"?> 278 Vgl. dazu die Stelle aus der «Methodenlehre» der ersten Kritik: «Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen.» Kant, KrV, A 738/ B 766. 279 Adorno, GS 6, S.-385. 280 Ibidem, S.-10. 281 Rolf Tiedemann, Niemandsland, S. 180f., zit. n. Adorno, NaS IV, S. 14, 108; Hervorhebung C.M. modus zu differenzieren. Wie Kant das Ding an sich möchte Adorno die im Nichtidentischen ‹verbegrifflichte› Grenze der Vermittlung als Thema einer schrankenlosen Kritik reetablieren. 278 Mit der Analogie des Blocks versucht Adorno folglich, den identitätskritischen Zug des kantischen Idealismus «aus dem Panzer der Methode» 279 zu befreien und dem negativ-dialektischen Reflexi‐ onsmodell wieder als ‹revolutionäres› Moment zuzueignen; mit dem erklärten Ziel, die hegelsche Dialektik im Zuge ihrer Selbstreflexion «im Sinn einer Ach‐ sendrehung der Kopernikanischen Wendung durch kritische Selbstreflexion» 280 negativ - dadurch aber wieder metaphysisch relevant werden zu lassen. So zeigt sich, was metaphysische Relevanz bedeutet: Sie ist nichts anderes als das Zergehen der verinnerlichenden Tendenz der Reflexion als solcher, ihre Umkehr in einen Ausbruch. Wie Rolf Tiedemann im Verweis auf eine Stelle aus der Vorlesung über Metaphysik festhält: «Reflexion auf die Grenzen, in die Denken eingesperrt ist, das war Adornos Hoffnung, vermag das Ge‐ fängnis um ein Geringes zu öffnen: ‹[…] Denken über sich selbst hinaus, ins Offene, genau das ist Metaphysik›.» 281 Freilich wird dabei die Notwendig‐ keit des Grenzensetzens gerade nicht noch einmal als eine unverrückbare transzendentallogische Notwendigkeit etabliert, sondern in die Dynamik der geschichtsphilosophischen Reflexion hineingerissen. Einmal zum Gegenstand einer dialektischen Kritik geworden, verwandeln sich die unbedingten Grenzen des eigenen Vermittlungstuns in bedingte, verrückbare Verhältnisse zurück. Der Hinweis auf diese Bedingtheit ist aber nicht als Gewinn einer selbstzufriedenen Theorie zu verbuchen, sondern stellt zugleich die aporetische Unmöglichkeit vor Augen, aus diesen Verhältnissen heraustreten zu können. Der Ausbruch ist für Adorno stets möglich und unmöglich zugleich. Deswegen wird auch die Notwendigkeit der Grenze im Zuge der historisch-materialistischen Reflexion auf dieselbe um nichts relativiert. Wie gesehen, ist der vorderhand widersprüch‐ liche Gedanke einer bedingten Notwendigkeit aber gar nicht so weit von Kants transzendentallogischem Beweisverfahren entfernt. Und darum kann auch die erkenntniskritische Intention Kants bei Adorno notwendiges Moment der dialektischen Reflexion bleiben. Was dabei freilich ‹relativiert›, im wörtlichen Sinne von in ein Verhältnis gesetzt wird, ist die holistisch sich zum Ganzen 296 C. Das Innere und Äußere <?page no="297"?> 282 Adorno, GS 6, S. 368. - Vgl. zum Stellenwert dieser Frage bei Adorno - Ulrich Müller, Theodor W. Adornos «Negative Dialektik», Darmstadt 2006, S. 171; Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 405; Peter Eli Gordon, «Adorno’s Concept of Metaphysical Experience», in: Peter E. Gordon/ Espen Hammer/ Max Pensky (Hg.), A Companion to Adorno, S. 549-564, hier: 560 f.; Till Seidemann, «Konstitutive Subjekti‐ vität und metaphysische Erfahrung. Adornos Überschreitung der Erkenntnistheorie», in: Julia Jopp et al. (Hg.), Ultima Philosophia, S.-79-100, hier: 97. aufspreizende Reflexionsstruktur. Sie ist es, die als absolutes Ganzes im Zuge der negativ-dialektischen Reflexion in die Dynamik der Geschichte hineingerissen und unmissverständlich als amphibolischer Schein kritisiert wird. Der Sinn von Negation, der sich im Titel Negative Dialektik mitteilt, kann daher nicht mit Hegel allein entfaltet werden, sondern involviert eine Reflexionshandlung, die nur im Zuge der Differenzierung des hegelschen von einem kantischen Reflexionsmodell nach- und mitvollzogen werden kann. Es zeigte sich dabei, dass die historisch-materialistische Kantinterpretation Sohn-Rethels - die dialektische Identifikation der kategorialen Denkformen am Leitfaden der Analytik der Warenform -, Adorno zwar den wesentlichen Impuls zu seiner dialektischen Identifikation der transzendentalen Denkformen gibt, Sohn-Rethel sich aber am Ende nicht wesentlich von Kant zu entfernen vermag. Adorno bleibt mit Blick auf das Desiderat einer Differenzierung negativer von positiver Dialektik nur übrig, die dialektische Situation der kantischen Kritik noch einmal durchzuspielen. Hier zeigte sich der volle Unterschied zwischen einem spekulativen und einem erkenntniskritischen Reflexionsmodell. Der Abschlussgedanke des letzteren ist ein gänzlich anders gearteter Gedanke als bei Hegel. Er lautet auf die Unwahrheit des Ganzen. Die Vermittlungsbewegung läuft danach nicht mehr auf den Fluchtpunkt einer finalen Integration von Innerem und Äußerem hinaus, sondern auf das Gegenteil verinnerlichter Trans‐ zendenz. Das Tiefste an Kant sei, dass er einen negativistischen Begriff des Ganzen entwickelt hätte. Dieser Begriff bewahrt das Nichtidentische durchge‐ hend vor der Verinnerlichung durch begriffliches Denken. Der Reflexionsmodus der Kritik führt uns mit transzendentaler Notwendig‐ keit auf die Frage: «Ist das denn alles? » 282 - thematisiert in dieser Frage aber vollkommen angemessen: das Ganze. 2. Was ist metaphysische Erfahrung? I. Die Auseinandersetzung Adornos mit der Metaphysiktradition kulminiert in der widersprüchlichen Konzeption der metaphysischen Erfahrung. Adorno ex‐ 2. Was ist metaphysische Erfahrung? 297 <?page no="298"?> 283 Adorno, GS 6, S. 354-400, zumal 366-368. Vgl. Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, S. 281-288; Jay M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, S. 415-456 (Ch. 9); Georg W. Bertram, «Metaphysik und Metaphysikkritik», Richard Klein/ Johann Kreuzer/ Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, S. 405-413; Asaf Angermann, Beschädigte Ironie, S. 212ff.; Ansgar Martins, Adorno und die Kabbala, Potsdam 2016, S. 124-142; Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 385ff.; Stefano Marino, «Adorno über Kant und das Verhältnis von Ästhetik und Metaphysik», S. 81f.; Peter Eli Gordon, «Adorno’s Concept of Metaphysical Expe‐ rience», S. 549-564; Till Seidemann, «Konstitutive Subjektivität und metaphysische Erfahrung. Adornos Überschreitung der Erkenntnistheorie», S.-79-100. poniert diese Konzeption in den Schlusspartien der Negativen Dialektik, zumal in der 4. Meditation. 283 Allerdings ist im Kontext unserer Fragestellung zu betonen, dass das Konzept in der Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» von 1959 zum ersten Mal in ausgereifter Gestalt vorliegt. Metaphysik und Erfahrung - könnte man unter Berufung auf die Diskursi‐ vität des Denkens zunächst einwenden -, das dürfte sich doch wechselseitig ausschließen. Kantisch ausgedrückt: Erfahrung, die nicht leer sein möchte, erfordert die Konkreszenz von Begriff und sinnlicher Anschauung. Bei metaphy‐ sischen Intentionen handelt es sich dagegen um bloß subjektive Vorstellungen von Nichtsinnlichem; ‹bloß subjektiv›, weil der objektive Anspruchsgehalt dieser Vorstellungen ausgerechnet die Negation des wichtigsten Kriteriums des Erfülltseins einer Vorstellung impliziert - des Sinnlichen. Erfahren werden kann nur etwas und nie nichts; die metaphysische Erfahrung intendiert jedoch das Nichts des Nichtsinnlichen als etwas. Die metaphysische Erfahrung löst die Konkreszenz der konstitutionslogisch aufeinander angewiesenen Momente von Sinnlichkeit und Denken auf, um den reinen Begriff geradewegs so zu intendieren, als ob dieser nicht einfach nur leer, sondern gleichwohl mit etwas erfüllt sein würde. Wir können folglich auch keinen legitimen Anspruch darauf erheben, das Metaphysische objektiv zu ‹er‐ fahren›, ohne uns sogleich in eine konstitutionslogische Aporie zu verstricken. Der Gegenstand metaphysischer Erfahrung ist ein Nicht-Gegenstand. Oder, mit Bezug auf das unseren Überlegungen übergeordnete Reflexionsverhältnis ausgedrückt: Eine metaphysische Erfahrung erfordert, das Außersinnliche dem auf Sinnlichkeit angewiesenen Begriff zu verinnerlichen. Sie erfordert den Verstoß gegen den Block. II. Dass die Aporetik dieser Forderung keineswegs einen Einwand gegen die Sache darstellt, sondern der Sache nach genau trifft, was Adorno mit metaphysischer Erfahrung meint, offenbart der Einsatz des Konzepts in der 10. Kantvorlesung. 298 C. Das Innere und Äußere <?page no="299"?> 284 Adorno, NaS IV 4, S.-170f. 285 Ibidem, S.-104. 286 Adorno, GS 6, S.-368. 287 Ibidem, S.-367. Dort exponiert Adorno einen Umstand, den er auch in der Negativen Dialektik an Kant hervorheben möchte, nämlich dass im Skopus der kritischen Philosophie mehr (wie man heute sagen würde) an existentiellem, an Erfahrungs-Gehalt [sic] erscheint als überall dort, wo die Erfahrung thematisch wird, - und damit freilich auch einen gewissen Charakter der Zufälligkeit des jetzt und hier Erfahrenen annimmt, den sie eben bei Kant in derselben Weise nicht besitzt. 284 In der Kargheit der transzendentalphilosophischen Abstraktionen soll also ein Mehr an nichtkontingenten Erfahrungsgehalten zur Geltung kommen, als es anhand direkter Bezugnahmen auf Existenzielles möglich wäre. Denn indem «das kritische Denken sich der Illusion entäußern will, daß Vernunft rein aus sich heraus Absolutes hervorbringt», 285 den Anspruchsgehalt der widerlegten Tradition aber zugleich nicht einfach aufgibt, ergibt sich von selbst die benannte Frage, ob das, was uns die besten Argumente der fortge‐ schrittensten Wissenschaften als die in sich abgeschlossene Erfahrungswelt präsentieren, wirklich ‹alles› sei. Der Erfahrungsgehalt, Existenz als solche, tritt der Wissenschaft als nicht integrierbarer Gehalt unverfälschter gegenüber, als der selbstsicheren ‹Existenzphilosophie›. Wohlgemerkt intendiert die kritische Philosophie mit ihrem Ist-das-denn-alles? nicht unmittelbar Übersinnliches. Sie möchte nicht einmal die besten und fortgeschrittensten Wissenschaften wider‐ legen; sie setzt lediglich ein Fragezeichen hinter den holistischen Anspruch des Verstandes - bleibt also auf das Negativ der bestehenden Welt fixiert, auch wenn sie dieselbe durch eine andere Welt kontrastiert. Die metaphysische Erfahrung vollzieht sich auch nicht als Sprung in diese andere Welt, sondern: «Sie hält sich negativ in jenem Ist das denn alles? , das am ehesten im vergeblichen Warten sich aktualisiert.» 286 Im Warten darauf also, dass sich der Anspruch der metaphysischen Tradition im Hier und Jetzt erfüllt. III. Nach Kant scheint eine metaphysische Erfahrung im Hier und Jetzt aber ein Ding der Unmöglichkeit. Dessen ist sich Adorno bewusst, wenn er schreibt: «Wer indessen an derlei Erfahrung naiv sich erlabt, als hielt er in Händen was sie suggeriert, erliegt Bedingungen der empirischen Welt, über die hinaus er will, und die ihm doch die Möglichkeit dazu allein beistellen.» 287 Die Kritik eignet sich aber zum Überstieg über das Bestehende, weil auch sie 2. Was ist metaphysische Erfahrung? 299 <?page no="300"?> 288 Adorno, NaS IV 4, S.-171. zwar das Ganze thematisiert, zugleich das Ganze aber über den Gedanken seiner Unbegreifbarkeit intendiert und so eine bestimmte Negation der empi‐ rischen Welt darstellt. Die kantische Logik des Blocks hat uns dabei gelehrt: Weil sich der geschlossene Erfahrungszusammenhang zum Ganzen aufspielt, kann er nicht das Ganze sein. Weil Kritik aber im Negativen terminiert, setzt sie der empirischen Welt noch keine andere gegenüber; sie ist Zwei- Welten-Lehre nur insofern sie die Fraglichkeit aller holistischen Ansprüche herausstellt. In dieser Fraglichkeit unserer besten Begriffe vom Ganzen kann die Kritik die Offenheit des Weltlaufs thematisieren, ohne die geschlossenen Kausalzusammenhänge darin zu leugnen oder zu relativieren. Adorno zielt mit seinem widersprüchlichen Konzept einer metaphysischen Erfahrung zu‐ nächst ‹nur› darauf, mit Kant die Grenzen des Zusammenhanges möglicher Erfahrung zu ermitteln. Allerdings zielt die dialektische Grenzbestimmung nun entschieden auf Vergegenwärtigung eines Äußeren. Entsprechend deutet Adorno die kritische Grenzbestimmung anders als die nachkantische Tradi‐ tion nicht als Tilgung, sondern als Rettungsversuch der Transzendenz. So sei die Denkart der Kritik der reinen Vernunft gar in einem sehr prägnanten Sinn als Rettung zu verstehen: nämlich als Rettung in dem Sinn, daß gleichsam durch die Versenkung in das Innerliche, durch die Versenkung in das Subjekt eben, etwas von jenem Licht könnte gefunden werden, das dann doch durch diese metaphysische Nacht hindurchleuchtet. 288 Adorno kann nur eingedenk dessen, was im vorigen Abschnitt als analogische Bezugnahme auf transzendente Gehalte herausgestellt wurde, so reden wie hier - nämlich von Licht und Nacht und Versenkung. Sonst wäre das alles sofort zu existenziell eingefärbt. Die Indirektheit erst, die sich über die Kantexegese herstellt, legitimiert die Bezugnahme auf traditionelle Topoi der meditierenden Metaphysik. Das ganze Meditationskapitel der Negativen Dialektik zeichnet sich über diese Indirektheit aus. Hier ist es die kantische Versenkung in das Innerliche, die uns als Verknüpfung mit dem Intelligiblen als dem transzendental Äußeren in Erinnerung gerufen werden soll. Wir können die Erscheinungswelt nur als das Andere einer an sich betrach‐ teten Welt positivieren und wissen angesichts dieser grundlegenden Reflexivität alles Realen in der Erkenntnis, dass der Anspruch des Realismus nicht das Letzte über diese Welt sagt. Der kritische Idealismus führt nach Adorno deshalb zu einer Verdopplung der Dinge in Erscheinende und Ansichseiende und damit letztlich zur Verdopplung der Welt: Solange die beiden Bereiche aber nicht 300 C. Das Innere und Äußere <?page no="301"?> 289 Ibidem, S.-167. 290 Adorno, NaS IV 4, S.-167f. ontologisch fixiert werden, scheint es nicht nur zulässig, die Welt in einen objektiv erschließbaren und einen jenseitigen Gegenstandsbereich einzuteilen. Es scheint geradezu die Bedingung zu sein, ein kritisches Verhältnis zur Welt zu gewinnen. Adornos Konzept metaphysischer Erfahrung gewinnt deshalb Profil im Lichte der kritischen Verdopplung der Welt. Metaphysische Erfahrung, hält Adorno explizit fest, sei gerade nicht die Erfahrung der Welt, wie sie an sich ist. Vielmehr sei «metaphysische Erfahrung […] eigentlich eins mit der Verdopplung selber». 289 Es steht also hinter der Verdopplung zunächst einmal das, daß unsere Welt, die Welt der Erfahrungen, nun tatsächlich zu einer uns vertrauten geworden ist; daß die Welt, in der wir als Erfahrende leben, nicht länger von Rätselhaftem, Unerklärtem durchherrscht ist, sondern daß wir sie eigentlich ganz und gar als unsere Welt in dem Sinn erfahren, daß uns in ihr nichts begegnet, was nicht eigentlich von vornherein unserer eigenen Rationalität angemessen wäre. […] Die Entzauberung der Welt, wenn Sie wollen, nimmt der Welt ihre Unheimlichkeit. ‹Die Welt›, das ist für Adorno die wissenschaftlich erschließbare, die entzau‐ berte Welt, wie Adorno im Anschluss an Max Weber festhält. Man muss sich deshalb im Vorhinein von der Vorstellung befreien, dass Adorno mit der Konzeption einer metaphysischen Erfahrung der fortschreitenden Entzau‐ berung der Welt durch die Wissenschaften irgendeinen Rest an Positivem gegenüberstellen wollte, der sich dann durch einen ausgezeichneten Zugang als ‹das Metaphysische› erfahren ließe. Metaphysische Erfahrung ist ‹ledig‐ lich› die entzauberte Erfahrung, dass es angesichts der Erfahrungsstruktur erkennender Subjektivität als solcher einen Überschuss über das Bestehende gibt, der verhindert, das unleugbar Bestehende ontologisch zu einem unver‐ rückbar Seienden zu fixieren. Die Entzauberung der Welt, wenn Sie so wollen, nimmt der Welt ihre Unheimlichkeit. […] Aber - und das ist nun wohl das entscheidende Motiv, ich meine: objektive Motiv, das Motiv metaphysischer Erfahrung, das Motiv des Stands der welthistorischen Sonnenuhr, das Kant, der über die logischen Schwierigkeiten dieser Verdopplung ganz gewiß sich nicht getäuscht hat, trotzdem dazu bewogen hat, die Konzeption der Verdopplung vorzunehmen: indem die erfahrene Welt, die Immanenz, das Diesda uns kommensurabel wird, indem sie unsere Welt gewissermaßen wird, wird dadurch gleichzeitig etwas wie radikale metaphysische Entfremdung [sic] bewirkt. 290 2. Was ist metaphysische Erfahrung? 301 <?page no="302"?> 291 Adorno, GS 6, S.-168. 292 Adorno, GS 6, S.-367. Erneut bemüht Adorno die Logik des Je-mehr-desto: Je mehr wir in der Welt heimisch werden, desto fremder wird uns das Ansichsein dieser Welt. Je mehr wir die Welt dem Begriff verinnerlichen, desto äußerlicher das Verhältnis des Begriffs zu derselben. Keine andere Philosophie neben Kant bringt diese seltsame Gegenläufigkeit der begrifflichen Welterschließung so prägnant zum Ausdruck wie Kants transzendentaler Idealismus. Das Bewusstsein nämlich, das allein objektiv relevante, metaphysische Erfahrungen im adornoschen Sinne haben kann, ist das Bewusstsein des Blocks. Das «Licht», von dem Adorno an zitierter Stelle spricht, ist der Widerschein des Absoluten im Dunkel der kosmischen Nacht und jede Spur von Glück nur das flüchtige Kontrastmoment zum «Trauerspiel des Seienden». 291 Gerade darin möchte Adorno Kant folgen, der das Intelligible nicht in intentione recta, sondern angesichts des Geltungs‐ monopols der mathematisch verfahrenden Naturwissenschaften in intentione obliqua retten wollte. In der 4. «Meditation» der Negativen Dialektik erfolgt eine entspre‐ chend ‹oblique› Exposition dessen, was metaphysische Erfahrung sei. Dabei wird die an Kant entwickelte Gegenläufigkeit erneut zum Ausgangspunkt gewählt, um die Erfüllung eines metaphysischen Anspruchsgehalts zu legi‐ timieren. Allerdings hält Adorno in der Negativen Dialektik auch unmiss‐ verständlich fest: «Der Begriff metaphysischer Erfahrung ist anders noch antinomisch, als die transzendentale Dialektik Kants es lehrt.» 292 Adornos Auseinandersetzung mit der kantischen Zwei-Welten-Lehre beschreibt eine subtile Umdeutung derselben - sie soll darlegen, dass die metaphysische Erfahrung wesentlich eine Auseinandersetzung mit dieser Welt, der Werde‐ welt und ihrer abgründig gewordenen Geschichte, bedeutet. Dabei wird die Grenzbestimmung als solche inhaltlich relevant; sie beschreibt den einzigen Modus der Bezugnahme auf die entzauberte Welt, der das dieser grundsätzlich Inkommensurable vergegenwärtigen kann. 302 C. Das Innere und Äußere <?page no="303"?> 293 Die Anlehnung an Proust wird verständlich, wenn wir den folgenden Kommentar Adornos zu jener Stelle im zweiten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit her‐ anziehen, wo Proust die Kleidungsgewohnheiten von Odette Swann beschreibt. Adorno darüber: «Dürfte man ohne Angst naturwissenschaftliche Gleichnisse brauchen, man könnte sagen, Proust bemühe sich um geistige Atomzertrümmerung, trachte, kleinste Elemente des Wirklichen als Kraftfelder aufzuschließen, in denen alle Gewalt des Lebens zusammenschießt. […] Das Außerordentliche einer solchen Passage liegt aber nicht nur in der hingerissenen Exaktheit der Phantasie, sondern darin, daß man davon sich angesprochen fühlt wie von ererbter Erinnerung, einem jäh aufblitzenden Bild etwa in einer fremden Stadt, das längst vor der eigenen Geburt von den Eltern schon einmal muß wahrgenommen worden sein. Noch das erwachsene Leben wird von Proust mit so staunenden und fremden Augen angeschaut, daß unter dem versunkenen Blick das gegenwärtige sich in Vorzeit, in Kindheit gleichsam verwandelt.» (Adorno, GS 11, S. 671f.) - Die Fülle des Erinnerungsgehalts bei Proust ist für Adorno zugleich Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber jeglicher Form von «Bergsonianismus», d. h. von unmittelbarer Zeit- und Lebenserfahrung (vgl. Adorno, GS 6, S.-371). 294 Kant, KrV, A574/ B 602. Konkret erfolgt diese grenzbegriffliche Vergegenwärtigung bei Adorno - in scharfem Kontrast etwa zu ‹religiösen Urerlebnissen› - durch eine an Proust 293 geschulte, ephemere Erfahrung verloren geglaubten Glücks: Was metaphysische Erfahrung sei, wird, wer es verschmäht, diese auf angebliche religiöse Urerlebnisse abzuziehen, am ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen. Dennoch ist man nicht enttäuscht; eher fühlt man, nun wäre man zu nah, und darum sähe man es nicht. Mit Kant als sachliches Problem betrachtet, bestünde eine metaphysische Erfah‐ rung also darin, dass das Besondere einer objektiven Anschauungsmannigfal‐ tigkeit durch einen allgemeinen Begriff a priori so erfasst würde, als ob dabei schon eine vollständige Erfahrung des Dings an sich vorläge. «Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre.» Ortsnamen dienen hierbei - ähnlich und doch nicht ganz wie bei Walter Benjamin - als Platzhalter für die unmögliche Erfahrung des einmal versprochenen Inhalts. Nur der Name erinnert also noch an das Versprechen des Begriffs. Die Erfahrung des im Namen Verheißenen bestünde in einer vollständigen Vergegenwärtigung des Inhalts eines Individuenbegriffs. Eine vollständige Bestimmung einer Sache läge nach Kant dann vor, wenn im «Begriff von einem einzelnen Gegenstande […], der durch die bloße Idee durchgängig bestimmt ist», 294 zugleich das «All der Realität» mitgegeben wäre. Der Unterschied von 2. Was ist metaphysische Erfahrung? 303 <?page no="304"?> 295 Adorno, GS 6, S.-366. 296 Ibidem. 297 Ibidem. 298 Vgl. Kant, KrV, A 576/ B 604. 299 Peter Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, S.-770. 300 Kant, AA XXVIII, S.-568. 301 Vgl. Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, S. 113f., hier: 114: «Die Gesamtheit aller möglichen Bestimmungen bleibt eine Konstruktion.» Allgemeinem und Besonderem wäre aufgehoben. Mit Adorno gesprochen wäre das metaphysische Modell von Erfahrung dasjenige «eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen abge‐ zogene». 295 Die Formnatur des Begriffs - seine Allgemeinheit - würde dabei nicht mehr in Konflikt mit der Individualität des Begriffenen stehen. Eine metaphysische Erfahrung wäre die Erfahrung des Dings an sich als des «ab‐ solut, unauflöslich Individuierten» 296 - eine identifizierende Bestimmung des Nichtidentischen. «Einzig angesichts des absolut, unauflöslich Individuierten ist darauf zu hoffen, daß es genau dies schon gegeben habe und geben werde; dem nachzukommen erst erfüllte den Begriff des Begriffs.» 297 Die gebrochene Erinnerung des Glücks spiegelt insofern das Verhältnis des transzendentalen Idealismus zur Welt zurück. Denn die von der metaphysischen Tradition verheißene Erfüllung nichtsinnlicher Begriffe ist, für Kant wie für Adorno, selbstredend eine transzendentale Unmöglichkeit, die bei Kant als transzendentales Ideal gleichwohl eine unverzichtbare Rolle als Moment der Er‐ fahrungsstruktur darstellt. 298 Wird diese Unmöglichkeit als unmittelbar erfüllter Gehalt beansprucht, so liegt eine unrechtmäßige «Hypostasierung des Inbe‐ griffs des Möglichen» 299 vor. Die omnitudo realitatis, die Idee uneingeschränkter Sachhaltigkeit, «in welche[r] keine Negationen sind, d. i. keine Limitationen» 300 , ist nur als Gegenstand der reflektierenden Urteilskraft im unendlichen Urteil angemessen zu thematisieren. Als kantische Idee ist das All kein Gegenstand identifizierender Bezugnahmen, sondern nur (im Bewusstsein darum, dass es sich dabei zunächst um eine bloße «Konstruktion» 301 des identifizierenden Denkens handelt) als Voraussetzung identifizierender Bezüge einzuholen. Die Allheit des Alls indiziert in positivem Sinne nur die Begrenztheit der Reichweite der bestimmenden Reflexion. Das transzendentale Ideal beschreibt damit aber auch, wie Adornos Ortsnamen, die eigentümliche Konvergenz von besonderen und allgemeinen Bestimmungsmomenten. So sei dieses nach Kant auch «das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist; weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt, und als die Vorstellung von einem Individuum 304 C. Das Innere und Äußere <?page no="305"?> 302 Kant, KrV, A 576/ B 604. 303 Vgl. GS 6, S. 370: «Das totum ist das Totem»; oder eben GS 4, 57: «Das Ganze ist das Unwahre». 304 Für den Begriff der unreduzierten Erfahrung vgl. Adorno, GS 6, S.-25. 305 Adorno, GS 6, S.-366. 306 Adorno, GS 13, S. 294 weist mit Blick auf Mahlers Lied von der Erde darauf hin, «daß in der Jugend unendlich Vieles als Versprechen des Lebens, als antezipiertes Glück wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde, durch die Erinnerung hindurch, erkennt, daß in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind». 307 Adorno, GS 6, S.-366. erkannt wird». 302 Der Inbegriff des Alls ist für das diskursive Denken also ein Grenzbegriff eines Dings an sich, das als Urbild jeder konkreten Bestimmung seiner mangelhaften Kopien als Regel dient, selbst aber nicht ‹ektypisch› (d.-h. diskursiv) erfasst werden kann. Adornos dialektische Reflexionen auf das Ganze scheinen die Grenzbegrifflichkeit des Ganzen stets als das Scheitern der refle‐ xiven Verinnerlichung thematisieren zu wollen - die endliche Enttäuschung, das im Anspruchsgehalt des Ideals Versprochene nicht vergegenwärtigen zu können. 303 IV. Es ist diese Unmöglichkeit unreduzierter Erfahrung, die sich als Glücksverspre‐ chen tarnt, die Adornos metaphysische Erfahrungskonzeption beseelt. 304 Das von Ortsnamen hingerissene Kind beansprucht ja - retrospektiv betrachtet - etwas Unmögliches, nämlich das Individuelle eines Ortes als Individuelles zu vergegenwärtigen. Es ist «hingerissen […] an dem einen Ort, ohne aufs Allgemeine zu schielen». 305 Damit wird sein Blick zum Idealtypus theoretischer Welterschließung. Für das Kind ist nämlich noch nicht entscheidend, dass sein Bestimmungsvollzug im Konkreten scheitert; dass das verheißene Glück der Jugend in der Verheißung selbst bestand, das Verheißene sich dann aber jeder Annäherung entziehen wird und endlich in Enttäuschung umschlägt. 306 Die Allgemeinheit der metaphysischen Glückserfahrung ist eine überhaupt nur als radikal individuiert denkbare Form des Glücks. Entsprechend heißt es in der Negativen Dialektik mit Blick auf die kindliche Erfahrung: Dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen abgezogene. 307 Der Überschuss des Ortsnamens «stiftet» also «das Modell der Erfah‐ rung» überhaupt - im Modus einer Idealisierung, die dann in konkreten 2. Was ist metaphysische Erfahrung? 305 <?page no="306"?> 308 Vgl. Kant, KrV, A 578/ B 606. 309 Vgl. den Abschnitt «Mangel als Gewinn» in der Negativen Dialektik (Adorno, GS 6, S. 83f.), der als Heideggerkritik konzipiert ist. Die Logik von Adornos dialektischer Ontologiekritik ist die: Der Mangel an Seiendem im Begriff des Seins wird als berei‐ chernder Gewinn einer vermeintlich fundamentaleren Intention auf das Sein verbucht; Dialektik, wie sie Adorno im Gegensatz zur Ontologie vorschwebt, geht stattdessen von der kritischen Erinnerung aus: «Kein Sein ohne Seiendes» (ibidem, S. 139) - geht also, wie Hegels Logik, von der Selbstwiderlegung des Fundamentalen aus und ‹je schon› zur Vermittlung über. 310 Adorno, NaS IV 14, S.-220. 311 Adorno, GS 6, S.-368. 312 Für eine theologische Lesart der metaphysischen Erfahrung bei Adorno, zumal mit Blick auf das Motiv des Versprechens, vgl. Edgar Thaidigsmann, «Das Versprechen: Metaphysische Erfahrung bei Theodor W. Adorno», in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 106/ 1, 2009, S.-118-136. Erfahrungszusammenhängen enttäuscht werden muss, insofern wir es dabei nur mit Ektypen des anfänglichen Gegenstandsideals zu tun haben werden. 308 Dabei sollte nicht der Mangel ausbleibender Erfüllung in einen Gewinn uminterpre‐ tiert werden - als ob etwa der ‹Entzugscharakter› des Glücks einen Wesenszug darstellte; es soll vielmehr das Ausbleiben der Verheißung inhaltlicher Fülle aufgezeichnet und zur Kritik am falschen Ganzen eingesetzt werden. 309 «Fehl‐ barkeit würde ich sagen, ist die Bedingung der Möglichkeit […] metaphysischer Erfahrung. Und sie scheint gerade am Schwächsten und am Hinfälligsten zu haften», 310 heißt es in der Metaphysikvorlesung von 1965. Das Faktum der enttäuschten Verheißung konnte den Gehalt des Verheißenen und damit auch die Verheißung als solche nicht gänzlich tilgen. Die Reflexion auf den Irrtum des Kindes parallelisiert daher das Schicksal, das die metaphysische Erfah‐ rung bei fortschreitender Rationalisierung der Erfahrung ereilt: «Unverkennbar wird reine metaphysische Erfahrung blasser und desultorischer im Verlauf des Säkularisierungsprozesses, und das weicht die Substantialität der älteren auf.» 311 Der Aufweichprozess, dem alle versprochenen Gehalte der Tradition ausgesetzt sind, ist eins mit der Verweigerung des Glücks im Bestehenden. Adorno konzipiert die metaphysische Erfahrung deshalb explizit im Modus einer bloßen Verheißung. 312 Verheißen wird das Aufgehen des Besonderen im Allgemeinen, ohne dass das Besondere in seiner Besonderheit durch einen allgemeinen Begriff überformt würde, kurz: der utopische, da versöhnte Zustand von Subjekt und Objekt, von Begriff und Begriffslosem, der jede metaphysische Bestimmung des Seienden als Seienden in den Augen Adornos anfänglich als Ideal anleitet. Der «Begriff des Begriffs» ist für Adorno ein «Versprechen des Glücks» - des Glücks seiner inhaltlichen Erfüllung - «während die Welt, die 306 C. Das Innere und Äußere <?page no="307"?> 313 Adorno, GS 6, S.-366f. 314 Adorno, GS 7, S.-271. 315 Adorno, GS 6, S.-368. 316 Ibidem, S. 391. An der Anwendung kritischer Funktionen zur Öffnung des Denkens hängt denn auch das Moment metaphysischer Erfahrung. Vgl. Till Seidemann, «Kon‐ stitutive Subjektivität und metaphysische Erfahrung. Adornos Überschreitung der Erkenntnistheorie», S.-99. es [das Glück, C.M.] verweigert, die der herrschenden Allgemeinheit ist». 313 Selbstredend sieht Adorno den versöhnten Zustand im Bestehenden als nicht erreichbar an; vielmehr bringt er das Bestehende mit Blick auf das angesichts gescheiterter Verwirklichungsversuche unerfüllt gebliebene Ideal der Versöh‐ nung von Allgemeinem und Besonderen auf den Begriff. Auf diesen Horizont zubewegen kann sich freilich nur eine Dialektik, die sich, wo nötig, gegen den eigenen Anspruch auf Allgemeinheit richten kann. «Die Dialektik des Allgemeinen und Besonderen steigt nicht nur in den Schacht des Allgemeinen, mitten im Besonderen, hinab. Ebenso bricht sie die Invarianz der allgemeinen Kategorien.» 314 Im Bewusstsein des Blocks kommt der Bruch der Invarianz als Bruch zur Geltung. Der Block steht deshalb sinnbildlich für die Trauer um den Bedeutungs‐ verlust traditioneller Gehalte, der seinerseits Zeugnis jener Furie des Verschwin‐ dens ist, die sich historisch im Tod des Besonderen Ausdruck verschafft hat. Der Block ist als der erkenntniskritische Ausdruck jenes Verlusts zugleich Aus‐ druck einer metaphysisch zu nennenden Verzweiflung, deren Unausdenkbarkeit Adorno zum Ende der Negativen Dialektik als das Geheimnis der kantischen Philosophie bezeichnet. Unausdenkbarkeit der Verzweiflung bedeutet, dass die Verzweiflung von den idealen Beständen des Denkens ferngehalten wird - kein geschichtsloser Inhalt wie eine conditio humana aus ihr zu zimmern ist. Unausdenkbar muss die Verzweiflung daher auch nach Kant noch bleiben, damit die Kritik am Bestehenden möglich bleibt. Denn: «Die Verzweiflung an dem, was ist, greift auf die transzendentalen Ideen über, die ihr einmal Einhalt geboten.» 315 Folglich darf das Ideale nicht mit dem Grund der Verzweiflung - der Welt - verwechselt werden. V. Hiermit offenbart sich zuletzt die kritische Pointe metaphysischer Erfahrung in aller Deutlichkeit: Nur eine Reflexion, für die Selbstbezüglichkeit als solche ein Spiegelbild des falschen Ganzen darstellen kann, bleibt offen für deren Veränderung. Denn: «Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.» 316 Um also das Ganze sinnentleerter Immanenz nicht mit dem Ganzen zu verwechseln, sondern in ein Verhältnis zu einem möglichen Anderen setzen 2. Was ist metaphysische Erfahrung? 307 <?page no="308"?> 317 Adorno, GS 6, S.-378. 318 Ibidem. 319 Ibidem, S.-22. 320 Ibidem, S.-385. zu können, schmiegt Adorno sein negativ-dialektisches Reflexionsmodell als Philosophie des Absoluten der großartigen Zweideutigkeit Kants an. Die Eng‐ führung von Metaphysik und Erfahrung ist dann gar nicht mehr so unkantisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen musste. Genötigt von der Konvergenz aller Gedanken in einem Absoluten, beließ [Kant] es nicht bei der absoluten Grenze zwischen dem Absoluten und dem Seienden, die zu ziehen er nicht minder genötigt war. Er hielt an den metaphysischen Ideen fest und verbot dennoch, vom Gedanken des Absoluten, das einmal so sich verwirklichen könne wie der ewige Friede, überzuspringen in den Satz, das Absolute sei darum. 317 Genau diese «großartige […] Zweideutigkeit», 318 die Adorno im Verhältnis der kantischen Philosophie zum Absoluten entdeckt, möchte er dem negativdialektischen Reflexionsmodell als Sachgehalt zueignen. Einerseits kritisiert Adorno dadurch die verwirklichte Vernunft in entfremdeter Gestalt. Denn die Dialektik ist nichts als eine «Ontologie des falschen Zustandes». 319 Zugleich darf auch eine negative Dialektik vom Absoluten nicht ablassen, weil sonst das, was ist, schon alles wäre. Es soll also, wie bei Kant, die Nichtigkeit jenes Denkens eingesehen werden, «welches das Gedachte mit Wirklichem verwechselt». 320 Dafür muss das Denken seine Grenze ziehen und am Verbot der Verinnerlichung des Absoluten festhalten; nur so kann die Absolutheit des Absoluten ange‐ messen zum Ausdruck gelangen. Der angemessene Ausdruck des Absoluten ist darum der radikal negativistische, der die großartige Zweideutigkeit von Grenzbestimmungen als Selbstkritik der amphibolischen Verwechslung von Gedachtem und Wirklichem begreift. Die Konzeption einer metaphysischen Erfahrung ist des Weiteren vorgebildet im kritischen Begriff der Aporie einer transzendentalen Erfahrung bei Husserl. Es ist darauf hinzuweisen, dass nämlich eben das, was Adorno der phänomeno‐ logischen Sphäre als deren Aporetik vorhält, in der Negativen Dialektik spekula‐ tive Relevanz annimmt, insofern diese Aporetik gerade affirmiert wird. Freilich darf man hierbei nicht vergessen, was hierbei affirmiert wird: das Moment der kritischen Selbstreflexion einer sich notwendig in Aporien verfangenden Erkenntnistheorie. Es ist diese Aporetizität, die auch mit Kant dann gegen Hegels spekulativen Anspruch auf das Ganze ins Feld geführt wird. Für Adorno ist klar: «Spekulativ 308 C. Das Innere und Äußere <?page no="309"?> 321 Adorno, NaS IV 1, S.-241. 322 Adorno, GS 6, S.-385; Hervorhebung C.M. denken heißt, würde ich sagen, aporetisch denken.» 321 Im Namen der negativen Dialektik (die ja im Programmtitel eine Aporie zum Ausdruck bringt) erfolgt die Bezugnahme auf das Ganze von Genesis und Geltung, von System und Geschichte, nicht mehr integrativ, sodass das Gewordensein des Systems dem‐ selben als Inhalt zufiele, sondern im Zuge der wechselseitigen Negation dieser Reflexionspaare. Beides, die Genesis der Geltung wie die Geltung der Genesis, wird dabei verhältnisbestimmt gedacht, ohne dass das eine durch das andere integriert werden könnte. Dadurch erlangen die Verhältnisbestimmungen ihre erkenntniskritische Dimension wieder, die bei Hegel zwischenzeitig durch die fröhliche Fahrt der Vermittlung von System und Geschichte überformt worden war. Der Block ist das Sinnbild für die Wiedererlangung des erkenntniskriti‐ schen Sinns von Negativität - als bestimmte Verneinung jedes unmittelbaren sowie jedes vermittelten Wissens vom Ganzen. In der Negativen Dialektik findet denn auch eine Formel Eingang, die den kantischen Geist in Kontrast zu seiner nachkantischen Gestalt anhand des Negationsverhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem bestimmt: Um Geist zu sein, muß er [der Geist, C.M.] wissen, daß er in dem, woran er reicht, nicht sich erschöpft; nicht in der Endlichkeit, der er gleicht. Darum denkt er, was ihm entrückt wäre. Solche metaphysische Erfahrung inspiriert Kants Philosophie, bricht man sie einmal aus dem Panzer der Methode heraus. Die Erwägung, ob Metaphysik überhaupt noch möglich sei, muß die von der Endlichkeit erheischte Negation des Endlichen reflektieren. 322 Der Block ist als Schranke und Grenze in einem die Versinnbildlichung der Limitiertheit unserer Erkenntnis des Ganzen und insofern die erkenntnisregulie‐ rende Analogie metaphysischer Erfahrung. Metaphysische Erfahrung bedeutet danach, die Negation des Endlichen an konkreten Inhalten reflektiert zu sehen. Diese Inhalte für eine negative Erweiterung unseres Horizonts in Anspruch zu nehmen, ist das Anliegen Adornos, wenn er in seiner kritischen Theorie meta‐ physische Meditationen anstellt. Dialektik als spekulative Kritik konzipieren heißt folglich, die Grenzen der eigenen Vermittlungstätigkeit als spekulativ relevante Funktionen zur Erfassung von Objektivität in Anspruch zu nehmen. Dass diese indirekte Bestimmung der Intelligibilität des Intelligiblen letztlich angemessener ist als es eine direkte Bezugnahme auf das Intelligible je sein könnte, ist als die spekulative These Kants rekonstruiert worden. Adorno muss diese These von der Indirektheit spekulativer Erkenntnis von neuem 2. Was ist metaphysische Erfahrung? 309 <?page no="310"?> 323 Adorno, GS 6, S.-16. 324 Vgl. die besprochenen Amphibolievorwürfe in Adorno, GS 6, S.-175, 307f. artikulieren, um die spekulative Relevanz seiner Dialektik gegen die positive Dialektik einzuklagen. Adorno muss darum bemüht sein, dem transzendenten Äußeren einen sol‐ chen Namen zu geben, der dessen Vermitteltheit mit der Erfahrungsimmanenz thematisch werden lässt und zugleich als Äußeres angemessen zum Ausdruck bringt. Der nächste Abschnitt arbeitet den Vorschlag aus, die Analogie des Niemandslandes, das Adorno im Zuge seiner Kantinterpretation entwickelt, als diesen angemessenen Ausdruck zu begreifen. 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik I. Die zuletzt erfolgte Annäherung an das Konzept der metaphysischen Erfahrung hat zweierlei gezeigt: Zum einen, dass die als ‹metaphysisch› erfahrenen Geh‐ alte nicht über affirmative Bezugnahmen, sondern über Grenzbestimmungen intendiert werden. Zum anderen, dass damit das Verhältnis zwischen dem Inneren der Sinnenwelt und dem transzendentalen Äußeren zum eigentlichen Thema der Metaphysik geworden ist. Damit ist Adornos Philosophie insgesamt als Antwort auf die Frage ausgelegt worden, «ob und wie [Metaphysik] nach dem Sturz der Hegelschen überhaupt noch möglich sei». Adorno fragt nach der Möglichkeit von Metaphysik daher explizit «so wie Kant der Möglichkeit von Metaphysik nach der Kritik am Rationalismus nachfragte». 323 Seine Antwort lautet: als negative Dialektik. Adorno schmiegt sein Denken auch dort noch dem kantischen Projekt an, wo es sich als eine durch Hegel informierte, dialektische Kantkritik von diesem wegzubewegen scheint. Wie die nichtamphibolische Zweideutigkeit der Refle‐ xionsbegriffe von Kant bloß in Kontrast zu Leibniz und Locke artikuliert werden konnte, gewinnt die negative Dialektik nur als Kritik der Lehre vom Ganzen Profil. 324 Eine solche Dialektik zwischen Kant und Hegel muss sowohl die Grenzbestim‐ mung als auch den spekulativen Überstieg mitvollziehen können. Positiv ge‐ wendet: Sie muss die Grenzbestimmung als spekulativen Überstieg konzipieren. In der kritisch-dialektischen Auseinandersetzung mit der Tradition im Ausgang von Kant und Hegel hält Adorno einerseits also an der Intention auf einen 310 C. Das Innere und Äußere <?page no="311"?> 325 Kants Meinung darüber, welches Gebiet die Philosophie für sich beanspruchen darf, ist eindeutig: «[D]er Boden, auf welchem ihr Gebiet errichtet, und ihre Gesetzgebung ausgeübt wird, ist immer doch nur der Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung, sofern sie für nichts mehr als bloße Erscheinungen genommen werden; denn ohne das würde keine Gesetzgebung des Verstandes in Ansehung derselben gedacht werden können.» Kant, AA V, S.-174. 326 An dieser Stelle der Hinweis, dass Adornos dialektische Platonkritik nicht als sachge‐ mäße Platonauslegung zu konsultieren wäre. Offensichtlich war Platon selbst kein Platonist, insofern er nicht geradewegs die intelligible Welt zu intendieren beansprucht, sondern auf formaler Ebene den Dialog, auf inhaltlicher Ebene die Lehre der Wieder‐ erinnerung als Maßnahmen zur indirekten Darstellung seiner ‹Lehre› dem Gehalt derselben einschrieb. Hierbei ist nur auf die Merkwürdigkeit hinzuweisen, dass die Tradition nach Platon den Vorzug der reflexiven Indirektheit stets im Zuge einer ablehnenden Platonkritik konzipiert. So etwa auch Kant, der den praktischen Twist seiner Ideenlehre nicht ohne das Kontrastverhältnis zu Platon profilieren kann - vgl. Kant, KrV, A 317/ B 374: «Denn welches der höchste Grad sein mag, bei welchem die Menschheit stehenbleiben müsse, und wie groß also die Kluft, die zwischen der Idee und ihrer Ausführung notwendig übrigbleibt, sein möge, das kann und soll niemand bestimmen, eben darum, weil es Freiheit ist, welche jede angegebene Grenze übersteigen kann.» - Adorno dürfte diesen Gedanken verinnerlicht haben; nicht zuletzt bezeugt das die Durchführung und der Gehalt einer Lehrveranstaltung unter dem Titel «Kants Ideenlehre» ein Jahr vor dem Erscheinen der Negativen Dialektik. Ohne auf die Beweiskraft der Seminarprotokolle zu setzen, sei hier eine für das vorliegende Problem exemplarische ‹Erkenntnis› von Gerhard Stamer angeführt: «Genau das, wo‐ durch Kant die Grenze setzt, nämlich die Trennung von Intelligiblem und Sinnlichem, führt zum Überschreiten der Grenze.» Dirk Braunstein (Hg.), Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Gesammelte Sitzungsprotokolle 1949-1969 (Bd. 4), Berlin/ Boston 2021, S.-127. 327 Vgl. Abschnitt B im vorliegenden Kapitel. übersinnlichen Raum fest. 325 Der sachlich begründete Modus der bestimmten Traditionsnegation erfordert aber, dass jede affirmative Bezugnahme auf dieses Gebiet verboten bleibt. So bringt negative Dialektik den Ideenhimmel 326 der Alten, oder kantisch geläutert: den mundus intelligibilis zwar zum Ausdruck; der Ausdruck muss aber durch und durch negativ bleiben. Der ‹positive› Ausdruck (oder besser: die Analogie) Adornos für den mundes intelligibilis lautet deshalb: Niemandsland. II. Erneut können uns Adornos Kantbezüge in ausgezeichneter Weise darüber informieren, was Adorno unter diesem Begriff versteht. Hierbei ist zunächst Adornos Deutung der ersten Kritik als ein «Kraftfeld» relevant. 327 Adornos Interpretament des «Kraftfeldes» soll nämlich darlegen, dass bereits Kant den Schritt zur nicht affirmativen Bezugnahme auf die intelligible Welt vollzogen hatte. Diese Kant-Lesart gewinnt jenseits der etablierten Alternativen in der 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 311 <?page no="312"?> 328 Adorno, NaS IV 1, S.-118. 329 Kant, KrV, A 406/ B 433. 330 Adorno, NaS IV 4, S.-220. 331 Kant, KrV, A 504. Die dialektische Opposition dient Kant z. B. zur «Kritischen Ent‐ scheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst» - vgl. ibidem, A 497-507/ B 525-535. Der Streit entscheidet sich, weil der Widerspruch der einander opponierenden Parteien auf einer geteilten, aber illegitimen Grundlage beruht (i.e. dass das Weltganze ein quantitativ bestimmbarer Gegenstand sein soll); die Kritik dieser Grundlage vergegenwärtigt ein Drittes, das fortan die Sache des transzendentalen Idealismus bildet. 332 Adorno, NaS IV 4, S.-55. 333 Ibidem, S.-220. 334 Ibidem; Hervorhebung C.M. Forschung Profil. Gemäß Adornos Kantinterpretation ließe sich nämlich mit Bestimmtheit nicht sagen, die Kritik laufe eindeutig auf eine Erkenntnistheorie, eine Wissenschaftstheorie, eine Zwei-Welten- oder eine Fundamentalontologie oder sogar auf eine reformierte Schulmetaphysik hinaus. Erst im Angesicht der Zerrissenheit der Streitparteien auf dem Kampfplatz erlangt die kritische Vernunft ihre Einheit. Das betrifft noch das Verhältnis der Kritik zu ihren konfligierenden Rezeptionslinien. Für Adorno ist die Kritik der reinen Ver‐ nunft daher ein «Kraftfeld schwierigster Art»; 328 dies, insofern sich darin all die erwähnten ‹Intentionen› (als Klagebegehren), die man ihr unterstellt, geradezu aneinander abarbeiten. Die Kritik fügt dem Konkurrenzverhältnis einnehmender Ansprüche daher nur den einen Anspruch hinzu, nichts gelten zu lassen, was «der Feuerprobe der Kritik» 329 nicht standhalten kann. Für Adorno kulminieren die immanenten Spannungsverhältnisse der Kritik der reinen Vernunft entsprechend in der «merkwürdigen transzendentalen Kon‐ zeption, die da gegenüber der Alternative des Logischen und des Psychologi‐ schen bei [Kant] ein Drittes darstellt». 330 Um dieses Dritte zu verstehen, gilt es, noch einmal einen bereits berührten Gedanken aus Kants «Transzenden‐ taler Dialektik» zu erinnern. Nach Kant bildet jede Alternative, die durch gegenseitige Widerlegung ein Drittes in den Raum des Denkbaren holt, eine dialektische Opposition. Anders als bei analytischen Oppositionen «können von zwei dialektisch einander entgegengesetzten Urteilen alle beide falsch sein.» 331 Adorno versucht in seinen Vorlesungen nun immer wieder, über solche dialektischen Oppositionen jenen «Bereich» zu erschließen, «in dem der Kantische Gedanke sich abspielt». 332 Darüber soll «die eigentlich spekulative Sphäre» 333 der Transzendentalphilosophie herausgestellt werden. Die Subjekti‐ vität stellte ja, wie gezeigt, im Gedanken eines sowohl überindividuellen als auch konkreten ‹Wir› «ein Drittes» dazwischen dar. 334 Was also ist nun dieses 312 C. Das Innere und Äußere <?page no="313"?> 335 Vgl. die spekulative Leitfrage «Worin sind wir? » bei Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, S.-15f. 336 So die Schlussworte der 15. Erkenntnistheorie-Vorlesung - Adorno, NaS IV 1, S.-247. 337 Adorno, NaS IV 4, S.-332; Hervorhebung C.M. 338 Adorno, NaS IV 4, S.-55; Hervorhebung C.M. Dritte in objektiver Bedeutung? Wo die transzendentale Sphäre, darin sich dieses sowohl abstrakte als auch konkrete ‹Wir› der Subjektivität befindet? 335 Um diese Fragen zu beantworten, veranschaulicht Adorno den Begriff des Transzendentalen nicht mehr nur angesichts der konkurrierenden Ansprüche von Logik und Psychologie, sondern an dem, was über diese Bereiche hinaus in «die eigentlich spekulative Sphäre» führt. Adorno exponiert hierfür die dialektische Opposition von Begriff und Anschauung. Was sich in der kanti‐ schen Wendung auf das Subjekt «darstellt», sei nämlich der «Versuch einer Rekonstruktion des zerfallenden objektiven Kosmos aus reiner Vernunft». 336 Niemandsland ist Adornos Name für diesen im Zerfall begriffenen Kosmos. Im Folgenden gilt es deshalb, über eine knappe Exposition der dialektischen Alternative den Topos des Niemandslandes einer Bestimmung zuzuführen. III. Adornos negativ-dialektische Topik verortet das Geschehen transzendentaler Kritik in dem Niemandsland «zwischen der Sphäre der Logizität [des Begriffs, C.M.] und der Sphäre der Anschauung»: 337 Die ganze Kritik der reinen Vernunft spielt in einem eigentümlichen Niemandsland sich ab: auf der einen Seite darf sie keine bloße formale Logik sein, denn sonst wären ja die Sätze, um die sie sich dreht, keine synthetischen Sätze; auf der anderen Seite aber dürfen sie auch keinen eigentlichen Inhalt haben, denn sonst wären sie ja empirische Sätze, und sie wären keine synthetischen Sätze a priori. 338 Mit dem Begriff ‹Niemandsland› gibt Adorno der argumentativen Grundaporie der Vernunftkritik einen topologischen Ausdruck. In der 20. Vorlesung über Kants «Kritik der reinen Vernunft» dient der Begriff zunächst einer didaktischheuristischen Absicht. Was sich mit Blick auf den Gedanken transzendentaler Subjektivität als Dialektik von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem rekonstruieren lässt, lässt sich diesem Passus korrespondierend auch am Urteilsgehalt überhaupt exponieren. Der Urteilsgehalt überhaupt nämlich of‐ fenbart sich als synthetisch oder analytisch beziehungsweise apriorisch oder aposteriorisch, wenn dieser gemäß dem Kriterium der konstitutionslogischen Reziprozität von Begriff und Anschauung geprüft wird. «Gedanken ohne In‐ halt sind leer» - ergo kann die Forderung der Kritik nicht erfüllt werden, 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 313 <?page no="314"?> 339 Kant, KrV, A 51/ B 75. 340 Rolf Tiedemann, Niemandsland, S.-9. synthetische Sätze a priori freizulegen, solange die Reflexion im Bereich der bloß formalen Logik verbleibt. Ein synthetischer Satz ist ein Satz, der dem Satzsubjekt ein neues Prädikat hinzufügt. Neu zu nennen ist nur dasjenige, was nicht schon ‹im Subjekt enthalten› ist. Auf die Sphäre des Transzendentalen angewandt bedeutet dies, dass ‹in diese› Sphäre stets etwas von außerhalb Kommendes Einzug finden und die Selbstgenügsamkeit der transzendentalen Geltunggssphäre stören muss. Andererseits gilt aber auch: «Anschauungen ohne Begriffe sind blind» - ergo darf die Logik der Erfahrung nicht einen einzigen konkret-sinnlichen Erfahrungsgehalt im Skopus synthetischer Urteile a priori verorten. Nicht ausgeschlossen indessen wird darin die Sinnlichkeit als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Sinnlichkeit überhaupt schreibt sich in die transzendentale Sphäre a priori so ein, dass sie deren Grenze bildet - wie umgekehrt sich die Idealität der kategorialen Struktur nur über den Vollzug des Grenzensetzens im sinnlich Mannigfaltigen überhaupt rekonstruieren lässt. Also ist die transzendentale Sphäre als solche, über deren Eingang «Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind» 339 steht, nur als Grenze zwischen Begriff und Anschauung überhaupt als etwas bestimmbar. Denken wir uns diese Grenze zwischen Begriff und Anschauung nun als einen Raum, dann haben wir den Gedanken des Niemandslandes erfasst. IV. Zu sagen aber, was oder wo das Niemandsland ist, muss genau genommen bedeuten, sich das Scheitern des eigenen Bestimmungsvollzugs zu vergegen‐ wärtigen. Das Niemandsland ist als Topos ein aporetischer Gedanke. Darin liegt die Pointe von Adornos Interpretament. Das Niemandsland soll der Un-Ort in Reinform sein - ein Ortsname für einen inexistenten Ort. Darin wäre daher nur dasjenige zu verorten, was von jeder verortenden Bezugnahme ausgeschlossen bleiben und stattdessen als unendlicher Urteilsgehalt versprachlicht werden muss - das Nichtidentische. In dem Topos des Niemandslandes gelangt also eine sinnbildliche Konfiguration von Innerem und Äußerem zur Sprache, die sowohl für Adornos Kantinterpretation als auch für die Verortung des negativdialektischen Reflexionsmodells in der Welt unverzichtbar ist. Im Skopus der kritischen Theorie Adornos gewinnt das Niemandsland nur in Kontrastverhältnissen an Profil. Zunächst im Kontrast zum ‹falschen Zustand›. Wie Rolf Tiedemann schreibt: «Das Niemandsland darf man sich als Gegenteil der verwalteten Welt ausmalen. Verwaltete Welt hieß in der Kritischen Theorie die lückenlos vergesellschaftete Gesellschaft.» 340 Die zitierte Formulierung des 314 C. Das Innere und Äußere <?page no="315"?> 341 Vgl. Adorno, GS 17, S.-271. 342 Adorno, GS 13, S.-154. 343 Adorno, GS 6, S.-374. 344 Ibidem, S.-399. 345 Ibidem, S.-374. 346 Ibidem. Ausmalens ist glücklich gewählt. Denn zunächst scheint sie gegen Adornos negativistische Logik der Utopie, d. i. gegen das Verbot, die Utopie «auszupin‐ seln», zu verstoßen. 341 Es ist aber das Gegensatzverhältnis, das die Konzeption des Niemandslandes von dem Bilderverbot ausnimmt, das die Utopie sonst konsequent betrifft. Utopie und Niemandsland sind für Adorno offenbar nicht dasselbe. «Denn das Bild» - schreibt Adorno in Auseinandersetzung mit der Musik Mahlers -, «das dem Durchbruch sich entgegenstreckt, bleibt versehrt, weil er in der Welt ausblieb wie der Messias. Ihn musikalisch realisieren heißt zugleich, sein reales Misslingen bezeugen. Wesentlich ist es der Musik, sich zu überfordern. Sie errettet die Utopie in ihrem Niemandsland.» 342 Das Niemandsland ist offenbar ‹nur› das rettende Exil der Utopie inmitten der verwalteten Welt; es ist der Ort der utopischen Kritik in dieser Welt, keine Insel der Glückseligen. Denn: «Solange die Welt ist, wie sie ist, ähneln alle Bilder von Versöhnung, Frieden und Ruhe dem des Todes.» 343 Und dass gerade das Bild vom Niemandsland die Sphäre des Todes berührt, liegt auf der Hand. Die aporetische Sphäre der negativen Metaphysik ist deshalb auch kein lieblicher Ort, sondern «Metaphysik als Zuflucht vor der Totale». 344 Genau das träfe auch zu, wenn Adorno in der Negativen Dialektik mit Blick auf Beckett von der «Zuflucht der Hoffnung» in einem «Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts» 345 spricht. Das Nichts des Niemands‐ landes wird dabei freilich nicht als Selbstzweck und Ziel der nihilistischen Reflexionsbewegung bejaht: «Solcher Nihilismus impliziert das Gegenteil der Identifikation mit dem Nichts.» 346 Es gibt zwei mögliche Antworten darauf, was dieses ‹Gegenteil einer Identifikation mit dem Nichts› bedeuten kann, je nachdem, worauf man die Betonung setzt - auf die Identifikation mit dem Sein oder auf die bestimmte Negation des Nichts. Beim kantischen ‹Nihilismus› ist Letzteres der Fall. Das wichtigste Kriterium der transzendentalen Sphäre, dass die darin enthaltenen Formen durch ihre Abstraktheit durchgängig und ver‐ bindlich die Fülle der Erfahrung antizipieren müssen, bewahrt die Denkformen gerade von der absoluten Leere. Das ‹Wahrsein› der transzendentalen Logik hängt an der bestimmten Negation der Abstraktheit der bloß formalen Logik. Ähnlich möchte Adorno dem abstrakten Nihilismus keine Identifikation mit dem Sein entgegenhalten. Wie Kant seine Topologie des Nichts exakt am 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 315 <?page no="316"?> 347 Adorno, GS 6, S.-374. 348 Ibidem. 349 Adorno, GS 6, S.-9. 350 Kant, KrV, A 176/ B 218. 351 Adorno, GS 6, S.-380. 352 Vgl. die treffende Bemerkung bei Andreas Arndt, Dialektik und Reflexion. Zur Rekon‐ struktion des Vernunftbegriffs, Hamburg 1994, S. 224, dass «an die Abstraktion selbst die Forderung zu stellen» sei, «daß an ihr kenntlich bleibt, wovon sie abstrahiert. So angesehen, beruht die absolute Reflexion auf einem Mangel an ‹endlicher›, ‹subjek‐ tiver› Reflexion, die eben diese Rechtfertigung der Abstraktion zu leisten hätte.» 353 Adorno, GS 6, S.-373. Übergang von Analytik und Dialektik gegen die Ideologie der Leere in Stellung bringt (- das Nichts der Form als eine Art ‹Exil› der antizipierten Fülle an Sach‐ haltigkeit gedacht -), avanciert nun Adorno zum Advokaten eines kritischen Nihilismus. «Der Gedanke hat seine Ehre daran, zu verteidigen, was Nihilismus gescholten wird.» 347 Der ehrbare Nihilismus opponiert den unehrbaren «Nihi‐ listen […], welche dem Nihilismus ihre immer ausgelaugteren Positivitäten entgegenhalten, durch diese mit aller bestehenden Gemeinheit und schließlich dem zerstörenden Prinzip selber sich verschwören». 348 Beide, Kant und Adorno, wollen mit ihrem kritischen Nihilismus trotz verschiedenster Ausgangslage dasselbe erreichen - nämlich in der Intention auf das Nichts den Nachweis er‐ bringen, dass dieses Nichts tatsächlich nichts ist, wenn es an sich selbst betrachtet schon für ‹etwas› gehalten wird. Denn ohne das «Hinzutretende» bleibt der transzendentale Gedanke leer. Dieser transzendentale Gedanke, könnte man deshalb in freier Variation des adornoschen Gedankens sagen, habe seine Ehre daran, in der Abstraktheit der Form das alogische Moment der Anschauung zu verteidigen, das die Ideologie der Abstraktheit ihm austreiben und a priori in die Fülle des Seins einschreiben möchte. Wie Adornos negative Dialektik die «Eis‐ wüste der Abstraktion» durchquert, um zu konkretem Philosophieren bündig zu gelangen», 349 muss die Transzendentalphilosophie das logische Formminimum intendieren - um «alles übrige [an Sachhaltigem] der Erfahrung [zu] über‐ lassen». 350 Die Kantkritik im Satz «Die Höhe ihres Geltungsanspruchs aber ist ihr eins mit dem Niveau der Abstraktion» 351 ist am Ende keine Kantkritik; sie bringt lediglich den kritischen Gedanken zum Ausdruck, dass die Abstraktion der idealen Formen tatsächlich an und für sich nichts sein darf. 352 Die Wahrheit des Abstrakten misst sich folglich schon bei Kant daran, wie das Verworfene Eingang in die notgedrungene Abstraktion finden kann. Denn, so Adorno: «Im Nichts kulminiert die Abstraktion, und das Abstrakte ist das Verworfene.» 353 Die transzendentale Logik Kants ist nichts anderes als eine gegenstandsorientierte Rechtfertigung des eigenen Abstraktionsniveaus. Adornos Kantkritik artikuliert 316 C. Das Innere und Äußere <?page no="317"?> 354 Adorno, NaS IV 4, S.-335f. 355 Ibidem, S.-335. 356 Zum Verhältnis Adornos zur negativen Theologie vgl. Martin Shuster, «Adorno and negative theology», in: Graduate Faculty Philosophy Journal 37/ 1, 2016, S.-97-130. daher nur die Wahrheit der transzendentalen Abstraktion, indem sie dem undialektisch verstandenen Kant seine Unwahrheit zurückspiegelt und dadurch dessen Dialektizität vor Augen führt. V. In der Erwartung oder dem Versprechen, dass die Leere des abstrakten Gedan‐ kens in die Fülle der Erfahrung umschlagen muss, gewinnt das Niemandsland der Abstraktion metaphysische Relevanz. Für Adorno ist klar, dass der Skopus der Grenzbegriffe bei Kant am Ende doch transzendiert [wird] zur Metaphysik; und daß damit nun in der Tat die Kritik der reinen Vernunft ihrem innersten Punkt nach eine Metaphysik ist, - nämlich eine Metaphysik, welche versucht, in der Wendung auf das Subjekt, wenn Sie so wollen: in der Innerlichkeit der Subjektivität, das Ansichsein der Transzendenz zu bergen oder, eigentlich, zu retten. 354 Insofern sei «schon bei Kant im Begriff des Transzendentalen» das er‐ reicht, «was dann schließlich bei Hegel thematisch wird unter dem Namen der Identität der Logik und der Metaphysik». 355 Aber: Das durch Hegels spekulative Überbietung vergessen gegangene Irritationsmoment Kants besteht eben darin, Logik und Metaphysik nur so lange miteinander zu identifizieren, als sich die Logik als Metaphysikkritik artikulieren lässt. Man wird sagen, dass das bei Hegel auch der Fall sei; aber damit tut man sich aus hegelianischer Sicht keinen Gefallen. Denn dann würde sich doch jene Grenzbestimmung wieder als aktuell erweisen, die die dialektische Kritik am Bewusstsein des Blocks für überwunden hält. Anders gesagt: die Begriffsarbeit der positiven Dialektik wäre nicht einmal eine fröhliche Fahrt, sondern bleibe ein folgenloses Meißeln am Kantischen Block. Kants Rettung der Transzendenz ist folglich der Horizont, in dem Adorno gegen die Erhebung der Negativität zum positiven Reflexionsgehalt protestiert und auf dem Irritationsmoment des Negativen im Erkenntnisvollzug pocht. Die Transzendenz bleibt eben nur dann transzendent, wenn das Denken, das sich auf diese bezieht, diese Bezugnahme als Selbstkritik vollzieht. Der negative Transzendenzbezug ist indessen keine sich in unendliche Urteile ergießende negative Theologie. 356 Kein Logos des Absoluten ließe sich aus der negativen Dialektik herausdestillieren, der nicht die spezifische Wechselbestimmtheit von 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 317 <?page no="318"?> 357 Adorno, GS 6, S. 113. Das wäre also die Funktion des Ontologiekapitels der Negativen Dialektik (ibidem, S. 65-134) - nämlich der Dialektik in Opposition zur Ontologie ontologische Relevanz zu verschaffen. Dialektik und Kritik bedenken müsste, die als solche die positive Bezugnahme auf Transzendenz verwehrt. Die Bezugnahme auf Transzendenz gelingt der negativen Dialektik dann und nur dann, wenn sie die unendlichen Urteile anderer kritisieren und als «verabsolutierte Immanenz» entlarven kann. 357 Noch einmal: Die kritische Auseinandersetzung mit fremden Anspruchsgehalten ist der Sache der negativen Dialektik eben nicht nebensächlich. Nicht unähnlich den platonischen Dialogen, hätte die adornosche Dialektik keinen Gehalt - nicht einmal einen negativen - wenn sie nicht jenen hätte, den sie dialektisch limitiert. Nirgends beansprucht sie auch mehr zu leisten. Ihre Gestalt als Theorie kann die negative Dialektik - wie der Gerichtshof der Vernunft bei Kant - nur darüber erlangen, dass sie sich auf Anspruchsgehalte anderer einlässt. Und das gilt auch dort, wo man sie frei von der Anspruchsprüfung glaubt, in der Auseinandersetzung mit materialen Gehalten. VI. Zuletzt gilt es, den von der Kantexegese losgelösten, systematischen Einsatz des Begriffs des Niemandslandes bei Adorno nachzuvollziehen. Auch im Falle des Niemandslandes ist die Aneignung des kantischen Gehalts bei Adorno nämlich erst dann als vollendet zu betrachten, wenn dieser auf materiale Gehalte Anwendung findet. Beim Niemandsland zeigt sich nun, dass der Gedanke eine Art logischen Raum der Kritik eröffnet, dessen Wahrheit davon abhängt, ob er in die versprochene materiale Fülle umschlagen kann. Das Niemandsland wird wörtlich zum Ort, worin das antisystematische Denken heranreifen kann. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Adorno in den Parva Aesthetica unter der Überschrift «Amorbach» auf die infantile Bezugnahme auf das Nie‐ mandsland reflektiert. Zwischen Ottorfszell und Ernsttal verlief die bayerische und badische Grenze. Sie war an der Landstraße durch Pfähle markiert, die stattliche Wappen trugen und in den Landesfarben spiralig bemalt waren, weiß-blau der eine, der andere, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, rot-gelb. Reichlicher Zwischenraum zwischen beiden. Darin hielt ich mit Vorliebe mich auf, unter dem Vorwand, an den ich keineswegs glaubte, jener Raum gehöre keinem der beiden Staaten, sei frei, und ich könne dort nach Belieben die eigene Herrschaft errichten. Mit der war es mir nicht ernst, mein Vergnügen darum aber nicht geringer. In Wahrheit galt es wohl den bunten Landesfarben, deren Beschränkendem ich zugleich mich entronnen fühlte. Ähnlich empfand ich auf Ausstellungen wie der ›Ila‹ im Anblick der zahllosen Wimpel, die da 318 C. Das Innere und Äußere <?page no="319"?> 358 Adorno, GS 10.1, S.-305. 359 Für eine biographische Einordnung (um die es hier nicht gehen soll, auch wenn sie gemäß der Logik metaphysischer Erfahrung gerade nicht nebensächlich, sondern die Sache selbst wäre) vgl. Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt am Main 2003, S.-69. 360 Adorno, GS 6, S.-87. einverstanden nebeneinander flatterten. Das Gefühl der Internationale lag mir von Haus aus nahe, auch durch den Gästekreis meiner Eltern, mit Namen wie Firino und Sidney Clifton Hall. Jene Internationale war kein Einheitsstaat. Ihr Friede versprach sich durch das festliche Ensemble von Verschiedenem, farbig gleich den Flaggen und den unschuldigen Grenzpfählen, die, wie ich staunend entdeckte, so gar keinen Wechsel der Landschaft bewirkten. Das Land aber, das sie umschlossen und das ich, spielend mit mir selbst, okkupierte, war ein Niemandsland. Später, im Krieg, tauchte das Wort auf für den verwüsteten Raum vor den beiden Fronten. Es ist aber die getreue Übersetzung des griechischen - Aristophanischen -, das ich damals desto besser verstand, je weniger ich es kannte, Utopie. 358 Die kindliche Intention auf das Niemandsland zeitigt in erinnerter Form die metaphysische Erfahrung desselben. Erneut ist dies keine intersubjektiv-veri‐ fizierbare und beliebig nachvollziehbare Erfahrung, sondern eine, die an das persönliche Erlebnis des Autors gebunden bleibt. 359 Ihre allgemeinverbindliche Form wächst der Erinnerung anderswoher zu. Daher, dass die Artikulation als Erinnerung strukturell jene Stelle im ‹System› besetzen kann, die bei Kant die im ‹Ich denke› aufgespeicherte «Erinnerung an seiendes Bewußtsein, ‹Ego‐ ität›» 360 einnahm. Was sich der transzendentalen Subjektivität jedoch nur in abstrakter Gestalt einschreiben kann, nimmt hier durch die allgemeine Form der Reflexion auf Kindheit eine antisystematische, weil durch die Individualität des Inhalts inkommensurabel gedachte Gestalt an. Es ist der Gedächtnisraum des Kindes, der das sich erinnernde erwachsene Reflexionssubjekt aus seiner Vereinzelung herausholt. Das damals so naheliegende Niemandsland schlägt um in eine Fremde, der sich auch andere in Erinnerung an ihre ‹Egoität› als einer verlorenen Nähe annähern können. Treffen können sich der reflektierende Erwachsene und das naive Kind einzig noch im Niemandsland. Dieses hat inzwischen aber die abgründige Ambivalenz angenommen, einerseits die ge‐ treue Übersetzung der aristophanischen Utopie, andererseits die grässliche Realität des Stellungskriegs darzustellen. Insofern hat Adornos Rückblick nichts Schwärmerisches - ja nicht einmal Nostalgisches an sich. Vielmehr korrespon‐ diert der kindlichen Utopie die Dystopie des Stellungskrieges, ohne dass der Sinn der einen den Unsinn der anderen verklären würde. Dass aber weder die kindliche Vorstellung der Internationalen vom Grauen der Geschichte korrigiert 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 319 <?page no="320"?> 361 Die Kritik an der Fundamentalontologie lautet: «Ontologie gerät aus eigener Konse‐ quenz in ein Niemandsland. Die Aposteriorien muß sie eliminieren, Logik, als eine Lehre vom Denken und eine partikulare Disziplin, soll sie ebensowenig sein […].» (Adorno, GS 6, S. 85) Also zunächst alles wie bei Kant - aber (! ): «Heidegger umgeht, womit fertig zu werden eines der Motive der Dialektik ist, indem er einen Standpunkt jenseits der Differenz von Subjekt und Objekt usurpiert, in welcher die Unangemessenheit der ratio ans Gedachte sich offenbart. […] Darum wird Heideggers Wahrheitsmoment [i.e. das Sein als Niemandsland konzipiert zu haben, C.M.] auf weltanschaulichen Irrationalismus nivelliert.» Für Adorno gilt darum umso mehr: «Philosophie erheischt heute wie zu Kants Zeiten Kritik der Vernunft durch diese, nicht deren Verbannung oder Abschaffung.» Ibidem, S.-92. 362 Adorno, GS 8, S.-283. noch das Grauen im Lichte des Spiels verklärt wird, liegt daran, dass der Begriff des Niemandslandes genau die abgründig zweideutige Stelle zwischen unschuldigen und schuldigen Grenzpfählen bezeichnet. Intendiert wird also auch hier bewusst die Zweideutigkeit des Niemandslandes. Dass sie sich einmal als der Schrecken des Realen im Antagonismus der Staaten, einmal in der kindlichen Vision des ewigen Friedens zeigt, gehört zum Sinn des Begriffs, gerade das Verhältnis zwischen beidem zu thematisieren. Das Einzige also, was Adorno an dieser Stelle über die Kindheit ‹schwärmen› lässt, ist der Gedanke, dass dasjenige, was dem reflektierten Bewusstsein nur noch ein Nichts ist, zumindest einmal nicht Nichts gewesen ist. Das Nicht-Nichts deshalb schon für ein Etwas zu halten, steht dem negativ-dialektischen Reflexionsmodell aber genauso wenig zu, wie der kantischen Kritik eine Zwei-Welten-Ontologie zusteht. VII. Der abgründigen Ironie, dass das Niemandsland etwas zwischen Utopie und warzone sein sollte, entspricht der durchgehend zweischneidige Einsatz des Be‐ griffs im Werk Adornos. Einmal dient der Begriff als Utopie in Reinform, einmal als Dystopie - in der Negativen Dialektik dann, außer an der zitierten Stelle über Beckett, als Kampfbegriff (vorwiegend gegen die Fundamentalontologie). 361 Die utopische Konnotation etwa findet sich in einer Bemerkung zum Positi‐ vismusstreit in der deutschen Soziologie: «Ein geistiger Ort wäre zu finden, wo man aufeinander eingehen kann, nicht jedoch einen in der Kontroverse selbst thematischen Regelkanon akzeptiert; ein Niemandsland des Gedankens.» 362 Was bei Habermas zum Leitbild der tatsächlichen Einrichtung dieses Raumes erklärt wird - die ideale Sprechergemeinschaft -, war für Adorno noch an die Bedingung geknüpft, dass diese Idealität sich negativ konstituieren sollte, d. h. daran, dass die ‹Bewohner› dieses idealen ‹Ortes› alle zunächst den Schritt heraus aus der verwalteten Welt vollziehen müssten. Der Gedanke entfaltet 320 C. Das Innere und Äußere <?page no="321"?> 363 Vgl. Rolf Tiedemann, Niemandsland, S.-9f. 364 Adorno, GS 10.1, S.-276. 365 Vgl. Kant, KrV, A 277/ B 333: «Allein, das schlechthin, dem reinen Verstande nach, Innerliche der Materie ist auch eine bloße Grille; denn diese ist überall kein Gegenstand für den reinen Verstand, das transzendentale Objekt aber, welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ist ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen könnte.» 366 Adorno, GS 10.1, S.-279. seine unregulierte Gestalt nicht gänzlich anderswo, sondern als bestimmter Kontrast zur herrschenden Gewohnheit. Der Gedanke eines «Niemandsland[s] des Gedankens» besagt also: keine Idealität ohne Kritik an der «endgültig vermessenen Welt». 363 Das beträfe noch den pragmatischen Idealismus der idealen Sprechergemeinschaft. Die transzendentale Sphäre des Niemandslandes ist nämlich keine, die durch nichts von außen her Kommendes kontaminiert zu werden droht; vielmehr bleibt ihre Innerlichkeit immer durch das Äußere wechselbestimmt. Der Verwendung des Topos als Utopie einer idealen Sprechergemeinschaft kontrastiert zumal die abgründige Dystopie eines Zwischenreichs zwischen Leben und Tod - die nicht zufällig in der Auseinandersetzung mit Kafka entwickelt wird. Die veräußerlichte Innerlichkeit der kafkaschen Figuren verleihe, so Adorno, «Kafkas Prosa den abgründigen Schein nüchterner Ob‐ jektivität». 364 Wie beim Block entsteht der objektive Schein durch Reflexion. Reflektiert wird dabei auf das «äußerliche Bestimmtsein inwendiger Figuren» - will sagen: auf den Zustand der Entfremdung der Menschen von den Dingen und voneinander dadurch, dass sie, wie Odradek, im Zwischenreich zwischen inkommensurabler Innerlichkeit und der Äußerlichkeit der Verhältnisse, die sie zu Individuen bestimmen, selbst zu ‹Dingen›, d. h. verdinglichten Verhält‐ nissen werden. Odradek ist für Adorno gleichsam der Mensch gewordene Block - die personifizierte Unmöglichkeit, sich seines Innern (als eines Dings an sich) angesichts seiner verdinglichten Gestalt noch zu versichern. Kafkas Figuren sind die dramatisierte Version von Kants «Grille» 365 - dialektische Verwandlungen der Grenze zwischen dem verdinglichenden Verhältniszusam‐ menhang und einer diesem Zusammenhang inkommensurablen Innerlichkeit; diese werden dabei - wie Kants transzendentales Ideal - zuerst realisiert, dann hypostasiert, dann personifiziert. Der Schock des ‹Kafkaesken› bestünde also darin, dass die Darstellung der abgeschlossen personifizierten Gestalt die Anamnese der dialektischen Verwandlung von Verhältnissen in Personen in Gang bringt und dennoch zum Abschluss kommt. «Die großen Werke [Kafkas, C.M.] sind gleichsam Detektivromane, in denen die Entlarvung des Verbrechers mißlingt.» 366 Was sich etwa in der Verwandlung auf der Ebene 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 321 <?page no="322"?> 367 Ibidem, S.-279. 368 Adorno, GS 10.1, S.-286. 369 Benjamin, GeS II 2, S.-431. 370 Franz Kafka, Die Sorge des Hausvaters, in: Wolf Kittler/ Hans-Gerd Koch/ Gerhard Neumann (Hg.), Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt am Main 1996, S.-283-284, hier: 284. 371 Adorno, GS 10.1, S.-276. der Handlung unmetaphorisch vollzieht, ist in diesen Werken daher auch sonst überall von Bedeutung. Bei Kafka werde «Rettung gesucht» darin, dass den Figuren der Erzählung die «Kraft des Gegners» ‹einverleibt› werde. «Der Bann von Verdinglichung soll gebrochen werden, indem das Subjekt sich selbst verdinglicht. Was ihm widerfährt, soll es vollziehen.» 367 So spiegeln und spielen Kafkas Figuren den verdinglichenden Verhältnissen das melodielose Verdinglichungsgeschehen zurück - und gewinnen, wie der Kantische Block, einen objektiven Wahrheitsgehalt. Kafka will durch die Verdinglichung des Subjekts, die ohnehin von der Welt verlangt wird, diese womöglich noch überbieten: Totenhaftes wird zur Botschaft der sabbat‐ ischen Ruhe. Das ist die Kehrseite der Kafkaschen Lehre vom mißlingenden Tod: daß die beschädigte Schöpfung nicht mehr sterben kann das einzige Versprechen von Unsterblichkeit, das der Aufklärer Kafka nicht mit dem Bilderverbot ahndet. Es knüpft sich an die Rettung der Dinge; derer, die nicht länger in den Schuldzusammenhang verflochten, die untauschbar, unnütz sind. […] Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Autofriedhof stattfinden. 368 Walter Benjamin erkannte seinerseits in «Odradek […] die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt.» 369 Statt das Nichtsterben-Müssen wäre die Verdinglichung also ein Nicht-sterben-Können und, gemäß dieser Logik, die Verdinglichung die entstellte Form von Unsterblichkeit. Kafka schreibt über Odradek: «Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu.» 370 Adorno wiederum: Die Zone des Nichtsterbenkönnens ist zugleich das Niemandsland zwischen Mensch und Ding: in ihm begegnet sich Odradek, den Benjamin als einen Engel Kleeschen Stils betrachtete, mit Gracchus, dem bescheidenen Nachbild Nimrods. 371 Als Bewohner des Niemandslandes «zwischen Mensch und Ding» ist die Figur des Odradek das exakte Gegenteil der «Ideologie des Besonderen» in der mo‐ dernen Literatur. In seinem «Offenen Brief an Rolf Hochhuth» in der FAZ vom 10.6.1967 kritisiert Adorno diese Ideologie als «eine Konzentration auf unverwechselbare Menschen, als ließe sich von ihnen noch so sich erzählen 322 C. Das Innere und Äußere <?page no="323"?> 372 Adorno, GS 11, S.-591f. 373 Franz Kafka, Die Sorge des Hausvaters, S.-283. 374 Adorno, GS 10.1, S.-284. 375 Franz Kafka, Die Sorge des Hausvaters, S.-283. 376 Ibidem, S.-284. wie anno dazumal». 372 Odradek ist dagegen der nach den Produktionsmethoden gemodelte Einzelmensch, dessen qualitative Bestimmtheit als Einzelner voll‐ kommen hinfällig und damit ‹unerzählbar› geworden ist - das Individuum als Ware. Gegenüber den nicht aus Fadenspulen und Querstäbchen Gemodelten hat Odradek aber an Menschlichkeit voraus, dass er sein Inneres darstellt als das Nichts des Gegenstandes ohne Begriff. (Die Sorge des Hausvaters setzt mit einer etwas gleichgültig wirkenden und letztlich erfolglosen Etymologie des Wortes ‹Odradek› ein.) Die organische Einheit von Odradek erinnert dabei auch nur noch an das Substrat einer «zweckmäßigen Form». 373 Adorno hält deshalb in Rückgriff auf einen Zentralgedanken der Kritik der Urteilskraft fest: «[…] die Welt wird [durch Kafkas antinomistische Theologie, C.M.] als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectus archetypus wäre.» 374 Die Form von Odradek erscheint uns darum zugleich als zweckfrei und in sich stimmig - in Kafkas Worten: «[D]as Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen.» 375 Im Horizont dieser inversen Teleologie, im Ganzen der Verdinglichungsverhältnisse, bleibt die Figur Odradek als erscheinendes Bild des an sich Inkommensurablen daher zugleich sinn- und ortlos - a-topisch. «Wie heißt du denn? » fragt man ihn. «Odradek», sagt er. «Und wo wohnst du? » «Un‐ bestimmter Wohnsitz», sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint. 376 Wie das Holz des Tisches, der im Kapital von sich aus eher noch zu tanzen be‐ ginnen, als dass sich das Holz zur Ware verwandeln würde, und also an sich zum Rätsel wird, ist das entstellte Industrieprodukt Odradek die aporetische Form des inkommensurablen Rests desjenigen, was sonst im Verweisungszusammenhang der Gesellschaft vollkommen aufgeht. Für Adorno wird das Subjekt-Objekt Odradek daher zu einem Bewohner des Niemandslandes - des Gegenstücks des alten mundus intelligibilis. Damit zeigt sich aber: Kafkas literarische Verarbeitung von Verdinglichung kommt der Idee der Unsterblichkeit ex negativo näher, als es eine noch intakt geglaubte Bezugnahme auf Transzendenz vermochte. Wie schon bei Kant kann 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 323 <?page no="324"?> 377 Vgl. Adorno, GS 10.1, S.-283ff. 378 Adorno, GS 10.1, S.-276. 379 Vgl. Benjamin GeS I 2, S.-691-704. also auch in Adornos Auseinandersetzung mit Kafkas «[a]ntinomistisch[er] […] Theologie» 377 nur eine Vergegenwärtigung der Grenze der Immanenz über diese hinausführen. Kurz - der Gedanke des Niemandslandes ist tatsächlich, auch auf werkimmanenter Ebene bei Adorno, nicht diesem oder jenem Anwendungsfeld primär zuzuordnen, sondern exakt zwischen den Zuständigkeitsbereichen von theoretischer und ästhetischer Vernunft anzusiedeln. Auch die Parallele zum Engel der Geschichte aus dem Zitat zu Kafka hilft darum, das Niemandsland weiter zu erschließen. Adorno schreibt: «Die Grenze zwischen dem Menschlichen und der Dingwelt verwischt sich. Das macht den Grund der oft bemerkten Verwandtschaft [Kafkas, C.M.] mit Klee aus.» 378 Wie Kafkas Theologie für Adorno «antinomistisch» ist, gewinnt Benjamins (resp. Klees) Bild erst durch sein Herausfallen aus dem Paradies seine Eigenbestimmt‐ heit. So exponiert Klees ‹Gestalt› - derselben Logik wie Odradek folgend - die abgründige Ambivalenz seiner Inkommensurabilität mit jenem Kausalzusam‐ menhang, den der «Engel der Geschichte» doch gerade ‹darstellen› sollte. Der Engel ‹flieht› somit vor der Erfüllung seiner eigenen Darstellungsfunktion; er möchte nicht eins werden mit seinem Inhalt. Dadurch schaffen es Benjamin und Klee gemeinsam, das Reich der Geschichte als ein Reich der Freiheit auch ohne Idealismus der Freiheit thetisch - mithin negativ - darzustellen. 379 Wie Adorno auf die Naivität der kindlichen Okkupation des Niemandslandes ange‐ sichts des objektiven Bedeutungsumschlags im Ersten Weltkrieg reflektiert, so symbolisiert Klees Engel den permanenten Umschlag des Paradiesischen in den Trümmerhaufen der Geschichte. VIII. So gewinnt der Drang der kritischen Theorie ins Offene im Topos des Nie‐ mandslandes an Konkretion. Der Sinn des Niemandslandes - ob Utopie oder Dystopie - erschließt sich indessen nur der utopischen Kritik. Müsste man sich festlegen und sagen, wo es sich befindet - die einzig angemessene Antwort würde daher lauten: im Skopus der Kritik. Trotz aller Kritik in die Metaphysik zurückfliehen und gleichsam das Transzendentale zu einem eigenständigen Raum ‹positivieren› würde nämlich heißen, die spekulative Relevanz des Nie‐ mandslandes durchzustreichen. Daraus wird auch verständlich, weshalb Adorno in seiner Ästhetischen Theorie den Ort des authentischen Kunstwerks das Niemandsland nennt. «[D]ie Flucht ins Niemandsland ist kein Bockssprung des Aristophanes sondern we‐ 324 C. Das Innere und Äußere <?page no="325"?> 380 Adorno, GS 7, S.-335. 381 Adorno, GS 6, S.-397. 382 Adorno, GS 7, S.-67. 383 Stefan Müller-Doohm, «Denken im Niemandsland: Theodor W. Adornos bürgerliche Antibürgerlichkeit», in: Leviathan 25/ 3, 1997, S. 381-395, hat die Stellung Adornos zur bürgerlichen Gesellschaft in der Formel einer «bürgerlichen Antibürgerlichkeit» zu‐ sammengefasst. Stolz auf ihre Paradoxie, setzt sich diese Formel natürlich der topolo‐ gisierenden Kritik vom «Grandhotel Abgrund» (ausgehend von Lukács) aus. sentliches Moment seiner Form.» 380 Das Niemandsland ist der Un-Ort, an welchem das Kunstwerk zuhause sein kann, ohne in irgendeine andere Sphäre funktional verstrickt sein zu müssen. Nicht die Gesetzlosigkeit, die Autonomie ist also das Kriterium, um ein antibürgerlicher Bürger des Niemandslandes zu werden. Die Funktions- und Ortlosigkeit der Kunst innerhalb der Gesellschaft und die Eigengesetzlichkeit ihrer Form sind eines; beides - Funktionslosigkeit und Eigengesetzlichkeit - lässt sich nur im Niemandsland beieinander denken. Die Dialektik von Innerem und Äußerem gelangt in diesem Raum zum Ab‐ schluss; bloß um den Abschlussgedanken der Immanenz als den vollendeten Schein zu offenbaren, der über die Immanenz - negativ - hinausführt. «Daher hat die Rettung des Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche Relevanz». Denn: «Im [kritisch reflektierten, C.M] Schein verspricht sich das Scheinlose.» 381 Die dreifache ‹Topologie› des Niemandslandes als Skopus der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen Kritik sollte zeigen: Adorno eignet sich das Motiv wesentlich in Auseinandersetzung mit Kants kritischem Projekt an. Die Verhältnisnahme auf das transzendentale Niemandsland als gedanklichen (Un-)Ort intendiert jenen locus, den eine nachkantische Metaphysik des Intel‐ ligiblen besetzen und verteidigen sollte. Während die Erkenntniskritik dem Denken das Niemandsland als einen Un-Ort erschließt, «geleitet die neue Kunst in ein Niemandsland, stellvertretend für die bewohnbare Erde». 382 Die Kunst okkupiert den Ort, bringt zur Darstellung, was Philosophie qua Kritik nur negativ darstellen kann. Der antibürgerliche Bürger wird zu einem Bürger beider Welten, der verwalteten und ihres Gegenteils, indem er das Verhältnis beider Welten im Vollzug der Kritik zugleich als eine dargestellte Dialektik der Grenze thematisiert. 383 Die dreifache Selbstverortung im Skopus der Kritik führt am Ende - paradox genug - zu einer Metaphysik des Niemandslandes. Diese zeichnet sich darüber als Metaphysik aus, dass darin die spekulative Relevanz der Dialektik mit Kritik enggeführt wird, ohne das eine Moment durch das andere überformen zu lassen. Negative Dialektik artikuliert die 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 325 <?page no="326"?> 384 «Im richtigen Zustand wäre alles, wie in dem jüdischen Theologumenon, nur um ein Geringes anders als es ist, aber nicht das Geringste läßt so sich vorstellen, wie es dann wäre.» Adorno, GS 6, S.-294. 385 Adorno, GS 6, S.-38. 386 Vgl. Wolfram Hogrebe, Das Zwischenreich (τὸ μεταξύ), Frankfurt am Main 2020, S. 102- 109. Spannung zwischen der verwalteten Welt und jener im richtigen Zustand. 384 In der topologischen Hypostasierung dieses Spannungsverhältnisses zu einem Niemandsland wird deshalb ‹klar›, was es heißen kann, dass «[d]ie Katego‐ rien der Kritik am System […] zugleich die [sind], welche das Besondere begreifen»: 385 Das Niemandsland ist derjenige logische Raum, dessen Positivie‐ rung - z.-B. als einer Kritik der reinen Vernunft - hinreicht, um den vollständig negativen Sinn der eigenen Abstraktheit offenzulegen. Das Niemandsland ist die Versinnbildlichung der Grenze aller Abstraktion als Ort. Dass sich negative Dialektik die Grundoperation der Kritik folglich als inhaltliches Moment zu eigen machen muss, um sich von der traditionellen zu differenzieren, lässt sich daran zeigen, dass Adorno in seiner Kantinterpretation den gesamten transzendentallogischen Bereich als zugleich in Anspruch genommenen und negierten Bereich konzipiert. Adornos Interpretament beschreibt hierbei einen Nachvollzug der kantischen Engführung von unendlichem Urteilsgehalt und Limitation. Wenn also gesagt wird, die Kritik spiele sich in einem Niemandsland ab, dann heißt das, dass die im Skopus der Kritik gebundenen Gehalte nichts außer Grenzbestimmungen sind, ihr noumenaler Sinn also vollkommen darin aufgeht, dem Negationsverhältnis zwischen Erscheinung und Ding an sich einen kritisch geläuterten Ausdruck zu geben. Die Einheit der Synthesishandlung, die einem affirmierten Ausschlussverhältnis zugrunde liegt, ist nichts anderes als die Grenzbestimmung der reinen Vernunft. Die abschließende These über Adornos Interpretation des logischen Raums der Kritik als ein Niemandsland lautet darum wie folgt: Dadurch, dass die Grundoperation der Kritik die Grenze zum Thema erhebt, offenbart sie ein metaphysisch relevantes Wissen darüber, dass der Ort, den sie sich als etwas erschließt, ein Nichtseiendes ist. Dass dieses Kant-Interpretament eine sachliche Rolle für die Idee negativer Dialektik spielt, liegt nun auf der Hand. Es ist das utopische Ideal der Erkenntnis, das Nichtbegriffliche dem Begriff zu erschließen, ohne es dem Begriff zu assimilieren, das den transzendentallogischen Raum des Niemandslandes eröffnet. Nun könnte man zwar versucht sein zu denken, damit sei klar, dass Adorno auf eine Metaphysik des Zwischenreichs (τò μεταξύ) abziele. 386 Die Bezugnahme auf Kant aber verrät Gegenteiliges. Es ist 326 C. Das Innere und Äußere <?page no="327"?> nur der übertragen ‹limitative› Sinn der Vernunftkritik, der sich als adäquate Artikulation des Zwischenreichs empfiehlt. Durch die analogische Anwendung der Grenzbestimmung auf das Gebiet, in dem die Vernunft ‹einheimisch› ist, rührt die Vernunft an das transzendentale Äußere dieser Welt. Das Zwischensein des abstrakten Gehalts der Philosophie ist für Adorno indessen nur als dialektische Darstellung der abgründigen Ambivalenz zu haben, die das Niemandsland als Sehnsuchtsort und warzone in einem kenn‐ zeichnet. In dieser Ambivalenz gewinnt das Niemandsland Bestimmtheit als der Zwischenraum zwischen Wissenschaft und objektivem Ungeist, in dem sich die kritische Theorie abspielt. Dieser Raum ist daher in Wirklichkeit kein Raum, sondern eine Grenze und damit eigentlich niemandes Sache. Der im Werk Adornos zweischneidig ausfallende Bezug auf das Niemandsland ist somit als dessen angemessene Darstellung zu begreifen. Diese Darstellung erlangt metaphysische Relevanz dadurch, dass sie eine spekulative Sphäre zwischen den Reflexionsbegriffspaaren okkupiert. Die Reflexionsbegriffe des Inneren und Äußeren nehmen in dieser Sphäre jene nichtamphibolische Zweideutigkeit an, die ihnen nur in der problemgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Kant zuteilwerden konnte. 3. Das Niemandsland als Skopus der Kritik 327 <?page no="329"?> 1 Adorno, NaS IV 4, S. 148. Adorno ‹bekennt› sich vielerorts explizit zur Reziprozitäts‐ these. Vgl. zumal ibidem, S. 148ff., 344, 351; aber auch ders., NaS IV 2, S. 21, 73, 98 ff.; ders., GS 5, S. 37f., 147 ff., 305 f.; ders., GS 6, S. 140, 148, 326, 379; sowie ders., GS 7, S.-432ff. 2 Vgl. Adornos Interpretation der «Transzendentalen Ästhetik», die in Abschnitt 1 rekonstruiert wird. 3 Kant, KrV, A 51/ B 75. 4 Ibidem. 5 Adorno, GS 6, S. 531. Auch wenn nämlich die Begriffe ‹Materie› und ‹Inhalt› ontologisch betrachtet natürlich nicht auf derselben Ebene zu verorten sind, ist deren einheitliche Verwendung im Skopus der Kritik sowohl beabsichtigt als auch vollkommen legitim. In Kants Worten ist bei dem vierten Begriffspaar Materie und Form eben «beides in transzendentalem Verstande» zu nehmen, «da man von allem Unterschiede dessen, was gegeben wird, und der Art, wie es bestimmt wird, abstrahiert.» Kant, KrV, A 266/ B 322. Oder: «Was wir auch nur an der Materie kennen, sind lauter Verhältnisse.» Ibidem, A 285/ B 341. - «Was Materie für ein Ding an sich selbst (transzendentales Objekt) sei, ist uns […] gänzlich unbekannt.» Ibidem, A 366. - «Die Materie […] der Erscheinungen, wodurch uns Dinge im Raume und der Zeit gegeben werden, kann nur in der Wahrneh‐ D. Materie und Form Dass Adornos negative Dialektik eine bestimmte Interpretation des ‹Und› in den vier Reflexionsbegriffsverhältnissen darstellt, erweist sich insbesondere beim vierten Reflexionsverhältnis als fruchtbare These. Wären wir nämlich gezwungen, die negative Dialektik auf einen systematischen Kerngehalt herun‐ terzubrechen, so wäre hierfür die These der konstitutionslogischen Reziprozität von Form und Materie vorzuschlagen. Bei Form und Materie gilt nach Adorno in besonderer Weise: «beide Momente sind aufeinander irreduktibel». 1 Die konstitutionslogische Reziprozitätsthese stellt - mit Blick auf Materie und Form - zunächst wieder die Unmöglichkeit heraus, die beiden ins Ver‐ hältnis gesetzten Momente losgelöst voneinander als Vereinzelte, d. h. als nicht durch einander Vermittelte denken zu können. Form ist für uns (d. i., kantisch gesprochen, für diskursiv denkende Wesen) immer Form eines Inhalts, Inhalt immer Inhalt einer Form. 2 Eine jegliche Bestimmung eines Sachverhalts bliebe bestimmungslos ohne ein Bestimmbares - kantisch: «Gedanken ohne Inhalt sind leer[…]». 3 Und umgekehrt erweist sich jeder bestimmbare Inhalt überhaupt nur unter dem Gesichtspunkt seiner Bestimmung als Bestimmbares - denn: «[…]Anschauungen ohne Begriffe sind blind». 4 So ‹ist› noch der Be‐ griff ‹Materie› zunächst etwas ganz anderes als Materie, nämlich deren be‐ grifflich vermittelte Form. In den Worten Adornos: «Selbst Materie ist eine Abstraktion.» 5 Materie als solche ist daher nur indirekt als das «Andere der <?page no="330"?> mung, mithin aposteriori vorgestellt werden.» Ibidem, A 720/ B 748. Materie tritt in den Gesichtskreis der apriorisch verfahrenden Reflexion als ein logischer Ort und bleibt als Inhalt des Begriffs ‹Materie› zunächst notwendig verhältnisbestimmt zur Form. Dem scheint auch Hegels Wesenslogik beizupflichten: «Wenn von allen Bestimmungen, aller Form eines Etwas abstrahiert wird, so bleibt die unbestimmte Materie übrig. Die Materie ist ein schlechthin Abstraktes. (Man kann die Materie nicht sehen, fühlen usf.; was man sieht, fühlt, ist eine bestimmte Materie, d. h. eine Einheit der Materie und der Form.)» Hegel, TWA 6, 88. 6 Vgl. Hegels Bestimmung von «Form und Materie» in der Wesenslogik: «Die Materie ist also die einfache unterschiedslose Identität, welche das Wesen ist, mit der Bestimmung, das Andere der Form zu sein.» Hegel, TWA 6, 88. 7 Diese Überlegungen gehen zurück auf Heinrich Rickert, der in «Das Eine, die Einheit und die Eins» auf die Binnendifferenziertheit des logischen Gegenstands überhaupt in Form und Inhalt reflektiert. Rickert sagt, Form sei angesichts ihrer unauflöslichen Wechselbestimmtheit mit Inhalt eigentlich nur als Form der Form, Inhalt nur als Inhalt des Inhalts zu denken, wobei das Genitivobjekt jeweils das gegenteilige Reflexi‐ onsmoment indiziert. Die logische Form wäre die Form eines Inhalts namens ‹Form›; der alogische (d. h. denkfremde) Inhalt wäre dasjenige, was durch am logischen Ort der Form ‹Inhalt überhaupt› antizipiert wird. Vgl. Heinrich Rickert, «Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs» (1924), in: ders., Sämtliche Werke (Bd. 1), hg. v. Rainer A. Bast, Berlin/ Boston 2020, S. 101-220, hier: 123, 124 f., 132-135. Rickerts subtile Argumentation läuft auf einen «antidialektischen Kritizismus» hinaus (vgl. Siegfried Marck, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart (1. Halbband), Tübingen 1929, S. 60-64; ders., Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart (2. Halbband), Tübingen 1931, S. 107-116). Dieser richtet sich gegen die von der Dialektik eingeklagte Ursprünglichkeit antithetischer Negation. - Im Folgenden wird die negative Dialektik systematisch mit einem Grundzug dessen enggeführt, was von Heinrich Rickert im Zuge dessen als heterothetisches Prinzip herausgearbeitet wird. Heterothesis besagt, dass das Gegensatzverhältnis des logischen und des alogi‐ schen Reflexionsmoments deren ursprüngliche Eigenbestimmtheit streng mitimpliziert und diese insofern nicht erst durch das gegenseitige Negationsverhältnis sind, was sie sind, nämlich Negationsglieder. Vielmehr sei die Heterothesis ursprünglicher als die dialektische Negation, die dialektische Negation im heterothetischen Prinzip fun‐ diert. «Die Andersheit geht der Negation logisch voran.» (Heinrich Rickert, «Das Eine, die Einheit und die Eins», S. 129) Oder: «Die Negation vermag das Andere vielleicht zu entdecken, aber nie zu erzeugen.» (Ibidem, S. 130) - Natürlich müssen darum die Unterschiede zwischen Heterothesis und Dialektik geltend gemacht werden, wie es in der Kontroverse zwischen Richard Kroner und Werner Flach geschehen ist. Vgl. chronologisch: Richard Kroner, «Anschauen und Denken. Kritische Bemerkungen zu Rickerts heterothetischem Denkprinzip», in: Logos 13, 1924/ 25, S. 90-127; Werner Flach, «Kroner und der Weg von Kant bis Hegel. Die systematischen Voraussetzungen der Kronerschen Kantkritik», in: Zeitschrift für philosophische Forschung 12, 1958, S. 554-579; Werner Flach, Negation und Andersheit. Ein Beitrag zur Problematik der Letztimplikation, München/ Basel 1959; Richard Kroner, «Zur Problematik der Hegel‐ Form» 6 zu denken; umgekehrt ist das, was hier Form genannt wird, bereits der Inhalt einer Form (das Bestimmbare der Bestimmung ‹Form›) - Form als solche also nur als das Andere des Inhalts zu denken. 7 330 D. Materie und Form <?page no="331"?> schen Dialektik: Bemerkungen im Anschluß an eine Schrift von Werner Flach», in: Hegel-Studien 2, 1963, S. 303-314. Dazu Reiner Wiehl, Rez. «W. Flach: Negation und Andersheit. Ein Beitrag zur Problematik der Letztimplikation», in: Philosophische Rundschau 10, 1962, S. 120-134; Wolfgang Bonsiepen, Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, Bonn 1977, S. 16f.; Kurt Walter Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantia‐ nische Systematik R. Hönigswalds, W. Cramers, B. Bauchs, H. Wagners, R. Reiningers und E. Heintels, Bonn 1995, S. 61; Christian Krijnen, Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts, Würzburg 2001, S. 275 (Fußnote 48); zuletzt ders., «Verabsolutierte äußere Reflexion? Gegenwärtige Transzendentalphilosophie im Spiegel der Hegelschen Logik», in: Klaus Vieweg/ Folko Zander (Hg.), Logik und Moderne. Hegels Wissenschaft der Logik als Paradigma moderner Subjektivität, Leiden/ Boston 2021, S. 37-61. - Zugleich ist aber mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Adorno mit dem Vorrang des Objekts (vgl. im Vorliegenden, Abschnitt 2), trotz unverkennbarer Differenz der Form nach, dem Inhalt nach in unverwechselbare Nähe zum Gedanken der Heterothesis tritt. Beide, Adorno und Rickert, kritisieren unisono den holistischen Anspruch der antithetisch verfahrenden Vermittlungslogik. Beide lassen die transzendentale Reflexion auf Form und Inhalt auf «Theorien der Andersheit» hinauslaufen (vgl. Hindrichs 2019a, 130 ff.; wobei der systematische Zusammenhang zwischen Adorno und Rickert von Hindrichs 2019b, 126 f., zumal mit Blick auf deren Unterschied, in Ansätzen herausgestellt wird). Insofern wären sie nicht nur scharf voneinander zu trennen, sondern miteinander ins Gespräch zu bringen. Vgl. Conrad Mattli, «Negative Dialektik als Heterologie? Adorno und Rickert», in: Felix Brandner/ Till Seidemann (Hg.), Zwischenwelten der Kritischen Theorie. Beiträge zu Systematik und Geschichte, Baden-Baden 2024, S.-183-203. Mit der wechselseitig verursachten Denkunmöglichkeit von Form und Inhalt ist gleichsam alles antizipiert, wozu sich die negative Dialektik im Konkreten ausartikulieren kann. Die Reziprozität von Form und Inhalt ist nämlich die Grundlage dafür, dass der Fundamentalanspruch einer Ersten Philosophie als nicht länger vertretbar ausgewiesen und stattdessen die Alternativlosigkeit der Dialektik vertreten werden kann. Der Anspruch der Ersten Philosophie bestand stets darin, dass dem Konstituierenden (worin auch immer dieses bestand) der Vorrang über das Konstituierte erteilt wird. Dialektische Philosophie geht dagegen von der ihrerseits fundamental zu nennenden Wechselbestimmtheit der Konstitutionsmomente aus. Genauso, wie nichts Konstituiertes unberührt von der konstituierenden Leistung der Subjektivität auch nur vorgestellt werden könnte (nur schon die Darstellung des Konstituierten als Gehalt beschreibt ein Vermittlungsgeschehen), wäre das Konstituierende seinerseits für uns nichts ohne das Konstituierte. Insofern führt jede Erstbegründung von Konstitutions‐ verhältnissen in dieselbe Aporie, dass das Konstituierte als ein konstitutives Element des Konstituierenden zu betrachten ist, ansonsten das Konstituierende seine konstitutive Funktion einbüßen würde. D. Materie und Form 331 <?page no="332"?> 8 Adorno, GS 6, S.-155. 9 Adorno, GS 5, S.-36. 10 Adorno, GS 6, S.-155. 11 Adorno, GS 5, S.-305. Übertragen auf reine Form und reine Materie bedeutet diese Dynamik der wechselseitigen Konstitution, dass wir es mit aporetischen Grundbegriffen zu tun haben, sobald wir diese isoliert voneinander betrachten. Grundlegend zu nennen ist - angesichts des aporetischen Status beider Momente als Vereinzelter - einzig das wechselseitige Konstitutionsverhältnis der Reflexionsmomente. Damit drängt sich die Rückfrage auf, ob denn die durchgängige Reziprozität von Form und Materie, und mit dieser von Subjekt und Objekt im Allgemeinen, nicht einfach einen neuen erstphilosophischen Begründungsanfang darstellt, worauf sich dann ebenfalls alles, was uns an Inhalten begegnen kann, zurück‐ führen ließe - die Dialektik gleichsam als Erste Philosophie re-installiert würde. Oder, wie Adorno in Vorwegnahme dieses Vorwurfs schreibt: «Solche bloß for‐ male Umkehrung indessen ließe Raum für die fehlgeleitete Annahme, Dialektik sei trotz allem prima philosophia als ‹prima dialectica›.» 8 Fehlgeleitet ist diese Annahme, da für Adorno «das finsterste Geheimnis der Ersten Philosophie» seit Sokrates ganz einfach darin besteht, dass «das Einschließende des Systems[…] immer zugleich ausschließt». 9 Der Nachweis, dass es sich nicht um eine Sub‐ reption handelt, wenn die Dialektik das Primat der Vermittlung einklagt, muss also darin bestehen, dass das Primat der Vermittlung nicht mehr so an die Stelle des Systems der Ersten Philosophie tritt, dass die Vermitteltheit von Form und Inhalt einen konkurrierenden positiven Fundamentalanspruch artikulierte. Die Negativität des Ausgeschlossenen ist stattdessen nur noch zu ‹haben›, wenn sich der Fundamentalanspruch der Dialektik über die Anwendung der Grundoperation der Kritik einlöst - d. h., wenn die Inanspruchnahme der Ver‐ mittlungsgehalte im Zuge einer Selbstlimitation aktualisiert wird. Denn: «Die Wendung zum Nichtidentischen bewährt sich in ihrer Durchführung; bliebe sie Deklaration, so nähme sie sich zurück.» 10 Wenn wir nämlich fragen, inwie‐ fern die Form der Vermittlung das Primat über die zu vermittelnde Materie beanspruchen kann, und als Antwort darauf geben: ‹insofern Form und Materie in ein negativ-dialektisches Reflexionsverhältnis eintreten›, dann zeigt sich, dass der Fundamentalanspruch der Vermittlung nur negativ eingelöst werden kann. Die Dialektik von Form und Inhalt zu artikulieren verlangt dann aber, sich als Selbstkritik der formbestimmten Vermittlungsbewegung zu vollziehen - «anstatt bei der propädeutischen Prüfung epistemologischer Möglichkeiten sich zu bescheiden». 11 332 D. Materie und Form <?page no="333"?> 12 Vgl. ibidem, S. 47. Dazu Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-429-439. 13 Vgl. Marc N. Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik, S.-430. 14 Adorno, GS 6, S.-24. Wenn nun aber die Einbindung in den Vollzug der Kritik der inhaltlichen Relevanz der Dialektik nicht nebensächlich ist, muss die Vermittlung von Form und Materie deren Unterschied streng mitimplizieren. Das Dialektische der negativen Dialektik indiziert eine Gegenläufigkeit im Begründungsakt der Vermittlung. Begründet ist nur die Einsicht, dass der Fundamentalanspruch der Ersten Philosophie als Kritik am eigenen Fundamentalanspruch - und sonst gar nicht mehr eingelöst werden kann. Wir müssen Adornos Kritik der Ersten Philosophie folglich als Einlösung des Fundamentalanspruchs derselben lesen lernen. Adornos Kritik der Ersten Philosophie spricht sich nun zwar für die alleinige Aktualität einer Letzten Philosophie 12 aus. Die Einsprache gegen den Anspruch der Ersten Philosophie auf Ausschließlichkeit wird angesichts ihrer Durchgän‐ gigkeit bei Adorno letzten Endes aber selbst zum philosophischen «Ausschließ‐ lichkeitsanspruch». 13 Dieser Anspruch besagt einerseits: alles ist dialektisch vermittelt, darum die Dialektik alternativlos; während die Universalität der Vermittlung andererseits überall zur Selbstkritik der vermittelnden Tätigkeit angehalten wird. Der kritische Weg ist für Adorno daher allein noch als der dialektische Weg offen, wie umgekehrt der dialektische Weg mit dem kritischen konvergieren muss, um ins Offene zu verlaufen. Die Dialektik wird kritisch, wenn sie die Ursprünglichkeit der Trennung als Denkunmöglichkeit gegen jene ins Feld führt, die die Ursprünglichkeit der Trennung unter dem Aspekt ihrer Ursprünglichkeit statt jenem ihrer Trennung zu betrachten vorziehen - Hegel, Husserl, Rickert, Heidegger, um Beispiele zu nennen. Entsprechend darf das Programm einer negativen Dialektik die idealistische Formreflexion nicht gänzlich hinter sich lassen; vielmehr hält uns Adornos Dialektik mit jeder ihrer Vermittlungen dazu an, den theoretischen Blick des formbestimmten Denkens dem kantischen Fingerzeig folgend in Richtung der Urteilsmaterie zu drehen: «Diese Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik.» 14 Die negativ-dialektische Reziprozität von Form und Materie ist also insofern als Auslegung des ‹Und› in den Reflexionsverhältnissen zu verstehen, als sie das notwendig konjunktivische (wechselbestimmte), darin aber notwendig apore‐ tische Verhältnis einer Vermitteltheit von radikal Unterschiedenem konzipiert. Diese paradoxale Konzeption fordert durch ihre Veranschaulichung an materi‐ alen Gehalten, überall die Ungleichartigkeit in der Gleichartigkeit der Momente D. Materie und Form 333 <?page no="334"?> 15 Bei Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der Neueren Zeit, 3. Bd.: Die Nachkantischen Systeme, Darmstadt 1974, S. 7 lautet diese Einsicht wie folgt: «Die Isolierung der beiden Momente [von ‹Form› und ‹Stoff›, C.M.] gegeneinander würde jedem einzelnen von ihnen seine Funktion und seine Leistung für die Erkenntnis rauben; während andererseits gerade in der Forderung ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit zugleich die prinzipielle Verschiedenheit ihrer begrifflichen Bedeutung aufrechterhalten bleibt.» - Durch die Koinzidenz von Vermittlung und Trennung tritt Adornos negative Dialektik - der Struktur nach - also in frappante Nähe zu den neukantianischen Linienverlängerungen beider Schulen. Man sollte sich mit Blick auf die thematische Nähe zwischen Adornos und Cassirers Kantauslegung also nicht zu sehr von den im Zusammenhang des Instituts für Sozialfor‐ schung aufgetretenen Spannungen zu Cassirer blenden lassen - vgl. dazu Stefan Müller- Doohm, Adorno. Eine Biographie, S.-298. Adorno selbst schlägt die thematische Brücke angesichts sonst unüberbrückbarer Differenzen in der 25. Erkenntnistheorievorlesung. Adorno gibt Cassirer den zentralen Punkt zu, «daß man die einzelnen Teile der Kritik der reinen Vernunft nicht voneinander isolieren, sondern daß man sie schon also immer in ihrer Bezogenheit auf die gesamte Konstruktion verstehen muß». Adorno, NaS IV 1, S. 385. Genau dies versucht Adorno, wenn er die transzendentale Ästhetik als eine Funktion der Logik liest. 16 Adorno, GS 5, S.-257. 17 Ibidem, S.-323. zu erkennen. 15 Die Dialektik Adornos ist letztlich die konsequente Explikation der bereits berührten problemgeschichtlichen Koinzidenz von Vermittlung und Unterscheidung im kantischen Form-Inhalt-Dualismus und seiner Kritik durch Hegel. «Hegel hat den Kantischen Kritizismus zu seinem Recht gebracht, indem er den Kantischen Dualismus von Form und Inhalt selber kritisierte», schreibt Adorno. 16 Aber Adorno schreibt eben auch: Hat Hegel, vermöge seiner Kantkritik, das kritische Philosophieren großartig über das formale Bereich hinaus erweitert, so hat er in eins damit das oberste kritische Moment, die Kritik an der Totalität, am abschlußhaft gegebenen Unendlichen, eskamotiert. 17 Diese Gegenläufigkeit des Verhältnisses Adornos zur dialektischen Tradition musste sich in den Kern der negativen Dialektik einschreiben - und zwar so, dass die Erweiterung des formalen Bereichs durch Dialektik am Ende eine negative Erweiterung in kantischem Sinne darstellt. Adorno geht infolgedessen von einer grundlegend asymmetrischen Reflexionssituation aus; sie besteht darin, dass jegliche durchgängig sich erhaltende Form unserer Erkenntnisse immer schon eine Vermittlung von Ungleichartigem darstellt, keine Vermittlung deshalb die Ungleichartigkeit in ihrer ‹Ursprünglichkeit› aufheben könnte. In Adornos Augen weist Kants Kritik der reinen Vernunft diesen Grundzug unmissverständlich genug auf. Das Werk sei, heißt es zum Ende der letzten (21.) Kantvorlesung, «der erste Versuch größten Stils, dieses Moment eines 334 D. Materie und Form <?page no="335"?> 18 Adorno, NaS IV 4, S.-353f. 19 Adorno, GS 6, S.-78. 20 Ibidem, S.-9. 21 Kant, KrV, A 266/ B 322. nicht weiter Reduktiblen […], das nicht rein in Form aufgelöst werden kann, mit dem Gedanken der universalen Vermittlung durch die Form eben doch zusammenzubringen». Kants Kritik stelle damit letztlich auch den ersten großen Versuch dar - oder vielleicht auch den letzten und zum Scheitern verurteilten -, das, was im bloßen Begriff sich nicht bewältigen lässt, durch den bloßen Begriff doch zu bewältigen, indem durch den Begriff selbst ausgedrückt wird: daß, indem er die Identität herstellt, er gleichzeitig die Nichtidentität anerkennen muß. 18 Die kritische Lehre von der Vermitteltheit von Form und Materie ist nur dann zu Ende gedacht, wenn dabei die Nichtidentität von beidem anerkannt wird. Gemäß Adorno kehrt sich die Richtung der Konstitutionsreflexion innerhalb der ersten kantischen Kritik, und zwar, wie zu zeigen ist, bereits im ersten Teil der Elementarlehre, radikal in Richtung Nichtidentität um. So zeichnet sich ab, dass Adorno die Fundamentalität der Reziprozität von Form und Materie als eine fundamentale Asymmetrie in die Vermittlungs‐ struktur einträgt und als Argument gegen die spekulative Amphibolie jeder nachkantischen «Metaphysik, die den Begriff mit seiner eigenen Wirklichkeit verwechselt», 19 ins Feld führt. Und das betrifft sogar noch die Dialektik selbst. Dialektik ist folglich als negative jene universale Formbestimmtheit des Den‐ kens, die im Vollzug ihrer Selbstkritik in Materialismus umschlägt, wobei keine der Stationen des Vermittlungs- und Umschlagsgeschehens entbehrlich wäre für den dabei artikulierten Gehalt. Negative Dialektik ist wesentlich eine Durchgangsfigur - eine Art dialektischer Formalismus, der sich nicht bei der Formbestimmtheit der Dialektik beruhigen darf, sondern diese Unfähigkeit zur Beruhigung als einzig gangbaren Weg verteidigt, «um zu konkretem Philoso‐ phieren bündig zu gelangen». 20 Das Nichtidentische ist der Abschlussgedanke dieser Bewegung, die als Selbstkritik des begrifflichen Denkens inauguriert wird und ins Offene hinaus zu den Sachen selbst möchte; idealerweise ohne diese Sachen auf die Form zu reduzieren, die sie als deren Sachhaltigkeit antizipierbar und ihr selbst ähnlich werden lässt. Die abschließenden drei Abschnitte dienen dazu, die These zu entwickeln, dass die Struktur der asymmetrischen Vermittlung wiederum idealtypisch bei Kant vorliegt. Für Kant selbst sind die Begriffe von Materie und Form nämlich solche, «welche aller anderen Reflexion zum Grunde gelegt werden» - «so sehr sind sie mit jedem Gebrauch des Verstandes unzertrennlich verbunden». 21 Die D. Materie und Form 335 <?page no="336"?> 22 Vgl. § 18 der Jäsche-Logik zu «Materie und Form der Urtheile», Kant, AA IX, S. 101: «Zu jedem Urtheile gehören als wesentliche Bestandstücke desselben Materie und Form. In den gegebenen, zur Einheit des Bewußtseins im Urtheile verbundenen Erkenntnissen besteht die Materie, in der Bestimmung der Art und Weise, wie die verschiedenen Vorstellungen, als solche, zu Einem Bewußtsein gehören, die Form des Urtheils.» 23 Vgl. Kant, AA IV, S. 374. Danach ist es eigentlich kaum mehr nachvollziehbar, wie man die anti-idealistische Pointe des formalen Idealismus und die daraus resultierende Zweideutigkeit des kantischen Idealismus weiterhin systematisch missverstehen kann. 24 Kant, KrV, A 371. spezielle Gewichtung dieses Begriffspaars ist aus zwei Gründen nachvollziehbar. Zum einen wäre die Idee einer Geltungsreflexion, wie sie uns in Gestalt der drei Kritiken vorliegt, nicht zu denken ohne eine anfängliche Differenzierung zwischen Urteilsform und Urteilsmaterie. 22 Zum anderen klärt uns nur dieses Differenzverhältnis über die kritische Pointe der transzendentalen Reflexion auf. Denn die Apriorizität, die Kant im Sinne der Tradition der Form zuschreibt, wird durch die transzendentale Reflexion radikal relativiert; sie verdankt sich neu dem Ausschlussverhältnis, das im vierfachen Reflexionsdualismus thema‐ tisch wird und die Dualität der Erkenntnisstämme begründet. Die Pointe des formalen Idealismus besteht danach, so die mit Adorno zu verteidigende These, in einer analogischen Anwendung der Kategorie der Limitation auf die Form‐ bestimmtheit des Denkens. Wenn die sich kritisierende Subjektivität nämlich die Worte ‹rein›, ‹apriorisch›, ‹abstrakt›, ‹isoliert› etc. in den Mund nimmt, dann meint sie nicht, sich ein Jenseits positiv erschlossen zu haben. Vielmehr intendiert die Kritik darin jeweils einen unendlichen Urteilsgehalt, was erst möglich ist, wenn das reflektierende Denken angefangen hat, in der formalen Abstraktion die eigene Beschränktheit wieder zu erkennen. Das ‹formal› im Ausdruck ‹formaler Idealismus› zeigt demnach eine kritische Selbst-Limitation des Idealismus an. Nur so wird verständlich, wie Kant von seinem eigenen Idealismus sagen kann, dieser sei «das Gegenteil von jenem eigentlichen Idea‐ lism» 23 ; wobei der «eigentliche Idealism» jenem transzendentalen Realismus gleichzusetzen ist, der im Zuge der transzendentalen Reflexion Form und Materie verwechselt. So sei «der transzendentale Idealist ein empirischer Rea‐ list», während die transzendentale Realistin alles Empirische zum idealistischen Standpunkt aufhebt. Die bloße Formbestimmtheit des Idealen macht nämlich, dass «der Materie, als Erscheinung, eine Wirklichkeit zu[zugestehen ist], die nicht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird». 24 Mit anderen Worten: Der transzendentale Idealismus impliziert streng den Unterschied eines Wirklichkeitsbezuges aus bloßer Vernunft einerseits und aus sinnlicher Wahrnehmung andererseits; aber nicht um jenen Unterschied zu einem dualistischen Weltbild zu fixieren, sondern um jeden Anspruch auf 336 D. Materie und Form <?page no="337"?> Einheit, der sich dem Ausschluss einer der beiden Seiten verdankt, als leer zu durchschauen. Diese Verschränkung des Inhalts der Theorie (die Zwei-Stämme- Lehre) mit dem Horizont der Selbst-Kritik ist, was Adorno von Kant und nicht von Hegel gelernt haben dürfte. Wenn wir das Problem der Formbestimmtheit allen Denkens nämlich von Adorno her denken, dann besteht die Pointe seiner kritischen Theorie der Form darin, den ‹kopernikanisch› vindizierten Vorrang der Form mit dem Vorrang des Objekts in seiner irreduziblen Gegebenheit zusammenzudenken, ohne aber das Zusammengedachte mit einer synthetischen Erkenntnis des Ganzen zu verwechseln. So gilt es nach Adorno, im Zuge der theoretischen Identifikation des synthetischen Ganzen an der Möglichkeit zur Unterscheidung des Ganzen von etwas anderem festzuhalten. Im Folgenden gilt es, (1.) Adornos dialektischen Formalismus von Raum und Zeit als Interpretation der «Transzendentalen Ästhetik» und also als Interpre‐ tation des transzendentalen Unterschieds von Erscheinung und Ding an sich zu rekonstruieren, um (2.) den am Vorrang des Objekts festzumachenden, bilder‐ losen Materialismus Adornos (3.) als Linienverlängerung des grenzbegrifflichen Negativismus Kants zu begreifen. 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik I. Blicken wir zuerst auf Kant. Die «Transzendentale Elementarlehre» der Kritik der reinen Vernunft teilt sich in zwei systematisch gleichwertige Teile - die (in der B-Auflage 40 Seiten umfassende) «Transzendentale Ästhetik» und die (658 Seiten umfassende) «Transzendentale Logik». Diese Einteilung entspricht der Natur der Sache: Wenn jede nicht leer sein sollende, d. h. inhaltliche Erkenntnis eine Zusammenkunft von Sinnlichkeit und Denken erfordert, dann hat die re‐ flexive Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit dieser Erkenntnis eben einerseits die Bedingungen der Möglichkeit der sinnlichen Anschauung und andererseits die Bedingungen der Möglichkeit der Verstandesbegriffe sowie der (auf diesen Begriffen aufbauenden) vernünftigen Urteile und Schlüsse zu ermit‐ teln. All dies ist indes Teil des großen «Experiments der reinen Vernunft», das Kant angesichts des zu prüfenden Einheitsanspruchs der Metaphysik im Zuge der analytischen Unterscheidung der Anspruchsbestimmtheit von Sinnlichkeit 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 337 <?page no="338"?> 25 Den Experimentalcharakter der Vernunftkritik untersucht Jelscha Schmid, The methods of metaphilosophy: Kant, Maimon, and Schelling on how to philosophize about philosophy, Frankfurt am Main 2022. 26 Kant, KrV, B XXI. und Denken durchführt. 25 Dieses Experiment erfolgt bekanntlich in Analogie zu den chemischen Verfahren der Analyse und Synthese von Stoffen. Das Verfahren der Dialektik besteht anders als dasjenige der Analytik in der Synthese, insofern die Dialektik beweist, dass die zuvor künstlich vorgenommene Trennung zweier logischer Orte «die wahre ist»: Dieses Experiment der reinen Vernunft hat mit dem der Chemiker, welches sie manchmal den Versuch der Reduktion, im allgemeinen aber das synthetische Verfahren nennen, viel Ähnliches. Die Analysis des Metaphysikers schied die reine Erkenntnis a priori in zwei sehr ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen, und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der notwendigen Vernunftidee des Unbedingten und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist. 26 Einen Bezug zur Wahrheit unterhält die Dialektik bei Kant aber nur Kraft ihrer zuvor in der Analytik begründeten Funktion als Erkenntniskritik. Denn wahr ist die Trennung ja nur deshalb, weil die «Einhelligkeit [von Erscheinung und Ding an sich, C.M.] niemals anders, als durch jene Unterscheidung heraus‐ komme» - also niemals anders als durch eine transzendentale Reflexion auf urteilsförmige Erkenntnis. Die Trennung erweist sich dabei als das reflexive Implikat des Anspruchs auf Einhelligkeit - und umgekehrt. Die Dialektik bleibt bei Kant also noch als Ort der Synthese wesentlich negative Vernunft‐ kritik, insofern synthetische Einheiten selbst nur in Analogie zum chemischen Verfahren, d.-i. nur als reflexiv konstruierte Einheiten von Ungleichartigem, kurz: nur im Zuge der Grenzbestimmung der Philosophie als Einheiten bean‐ sprucht werden dürfen. Dass der formale Idealismus kein ‹eigentlicher Idealism› sein kann, erhellt vollends daraus, dass sich die «Transzendentale Ästhetik» in der kantischen System-Architektonik dem großen logischen Experimentallabor von Analysis und Synthesis gegenüber wie der Eingang des Instituts verhält. Die architekto‐ nische Ordnung Ästhetik-Logik und der damit implizierte Prius des Sinnlichen hat allerdings eine sachliche Grundlage. Denn: Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, 338 D. Materie und Form <?page no="339"?> 27 Kant, KrV, B 1. 28 Kant, KrV, A 31/ B 46. geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an. 27 Eine transzendentale Ästhetik sollte sich also - der Sache nach - noch nicht mit dem Vermittlungstun von Verstand und Vernunft beschäftigen, sondern mit dem genetischen Ursprung von Erkenntnisgehalten in dem mannigfaltigen Material, das uns in konkreten Erfahrungszusammenhängen unvermittelt zufällt. Wenn die Vermittlungstätigkeit des Verstandes nicht diese stoffliche Mannigfaltigkeit hätte, an der sie sich abarbeiten kann, käme gleichsam nur das Nichts des themenlosen Gedankens heraus. Die synthetische Einheit des Gedankens wäre eine leere und niemals vergegenwärtigte Form ohne das Mannigfaltige des sinnlichen Anschauungsmaterials. Grundsätzlich gilt: Jede begriffliche Vermitt‐ lung eines Inhalts wird durch Rührung der Sinne veranlasst worden sein. Kants transzendentale Ästhetik hat insofern den unmittelbaren Anfang der begrifflich-vermittelnden Erkenntnis in der Sinnlichkeit zum Thema. Nun zeigt sich aber, dass sich sofort ein intermittierendes Moment in die Thematisierung des Anfangs aller Erkenntnis einschleicht. Wenn die unmit‐ telbare Rührung der Sinne tatsächlich der Zeit nach der Form vorhergehen muss, dann ist die Zeit eine «notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt». 28 Der Anspruch auf den genetischen Vorrang der sinn‐ lichen Affektion folgt also bereits einer Formvorgabe; sofort erscheint es nun unklar, ob sich das unmittelbar Gegebene danach richten muss, um überhaupt mit dem Denken in Vermittlung treten zu können, oder ob sich die zeitförmige Reflexion auf den Anfang danach richten muss, weil sie sich sonst nichts unter dem ‹Anfang› aller Erfahrung denken könnte. Das Problem des Anfangs wird bei Kant also dahingehend verkompliziert, dass das genetische Prius der unmittelbaren Empfindung bereits als vermittelt durch den geltungslogischen Formvorrang der Anschauungsform ‹Zeit› begriffen werden muss. Es ist also ausgerechnet die Notwendigkeit des unmittelbaren Anfanges der Erkenntnis in der Zeit, welche anfänglich dem logischen Prius der Form zu kontrastieren scheint, die dann notwendig auf das Zugrundeliegen einer Form zurückverweist. Die Notwendigkeit der Form erwächst der Not, 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 339 <?page no="340"?> 29 Kant, KrV, A 357. 30 Vgl. Adorno, NaS IV 1, S.-389. 31 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der Neueren Zeit, S.-7. 32 Ibidem. sich den Anfang der Erfahrung nicht anders denn zeitlich oder durch zeitliche Metaphern vorstellen zu können. Die erste Lektion der «Transzendentalen Ästhetik» lautet daher: Die Unmit‐ telbarkeit des unmittelbaren Anfangs ist bereits als Index eines Vermittlungsge‐ schehens zu begreifen. Dieses Vermittlungsgeschehen bedeutet ausformuliert, dass die Form der Anschauung notwendig darauf angewiesen ist, dass sie anfänglich durch etwas affiziert wird, was sie selbst nicht zur Verfügung stellen kann - eine hinzutretende Materie. Der unendliche Urteilsgehalt ‹Unmittelbarkeit› würde im Falle der Anschauungsformen nämlich nichts bedeuten - d. h., die Formen hätten keine Realität, wenn sie nicht ihre Vermittlung mit der Anschauungsmaterie antizipieren würden. ‹Primär› ist im Grunde also nicht die Form als solche, sondern das exponierte Verhältnis von Vermittlungsstruktur und Unmittelbarkeit. Es geht der Unbedingtheit und Unendlichkeit von Raum und Zeit voran. Daraus erklärt sich das doppeldeutige Ergebnis der «Transzendentalen Ästhetik», ausgerechnet über den Vorrang der Anschauungsformen vor allem Angeschauten den transzendentalen Unterschied von anschaulich ver‐ bürgter Erscheinungswelt und einem nicht anschaulichen Grund «unleugbar bewiesen» zu haben. 29 Die Isolierung der Sinnlichkeit, die das Kapitel «Tran‐ szendentale Ästhetik» konkret vornimmt, ist darum von Beginn weg als das janusköpfige Unternehmen nachzuvollziehen, am genetischen Prius der sinnli‐ chen Affektion den geltungslogischen Formvorrang von Raum und Zeit offen‐ zulegen. Ohne ein hinreichendes Verständnis dieser ‹anfänglichen› Vermittlung von Geltung und Genesis scheitert jede Interpretation des ‹formalen Idea‐ lismus›. Selbst der «apologetische[…] Kantianer» 30 Ernst Cassirer betont, dass nach Kant «das einzige Datum, auf das das Begreifen und Wissen sich stützt, […] eben die notwendige Bezogenheit dessen, was die Kritik den ‹Stoff› und dessen, was sie die ‹Form› der Erkenntnis nennt [sei]; nicht aber das, was jedes von ihnen vor und außerhalb dieser Beziehung sein mag». 31 Für sich und isoliert betrachtet sind beide Momente hingegen so gut wie nichts: «Die Isolierung der beiden Momente [von ‹Form› und ‹Stoff›, C.M.] gegeneinander würde jedem einzelnen von ihnen seine Funktion und seine Leistung für die Erkenntnis rauben.» 32 340 D. Materie und Form <?page no="341"?> 33 Adorno, NaS IV 4, S.-351. 34 Ibidem. 35 Ibidem, S.-337. 36 Adorno, GS 5, S.-150. II. Offenbar hat Adorno das sehr ernst genommen. Die entscheidende Wei‐ chenstellung nämlich, um Adornos Interpretation der «Transzendentalen Äs‐ thetik» nachzuvollziehen, besteht in dem Gedanken, «daß die ‹Transzendentale Ästhetik› eine Funktion der ‹Transzendentalen Logik› ist». 33 Diese Aussage kann nun unterschiedlich ausgelegt werden. Aus dem Kontext der beiden Stellen in der Kantvorlesung heraus ergibt sich aber ein eindeutiges Bild dessen, was Adorno hiermit meint. Er meint damit den Umstand, dass im Grunde schon bei Kant (und nicht erst bei Hegel) eine «starre Trennung» von Anschauen und Denken «unhaltbar» sei. 34 Mit anderen Worten, um es einmal ganz kraß zu formulieren: […] die ‹Transzenden‐ tale Ästhetik› selber - also die Theorie […] der reinen Anschauung -, die hängt ihrerseits eigentlich ab von der Logik; es ist ein bloßer Schein in der Kritik der reinen Vernunft, daß auf der ‹Transzendentalen Ästhetik› die Logik sich aufbaut. Das ist nun wirklich die schulmeisterliche Vorstellung, daß es da Formen gibt, in die das Einströmende, die Affektionen aufgenommen werden, - und dann kommt der Verstand und verarbeitet es und formt es. Ich habe Ihnen das zu Anfang erzählt, weil es so im Büchel steht, aber natürlich tut das den Motiven der Kritik der reinen Vernunft in gar keiner Weise Gerechtigkeit an. Und ich glaube, […] daß also hier an dieser Stelle versucht wird, nochmals und entscheidend die Aporie zwischen Anschauung und der Logik aufzulösen […]. 35 So bilde sich bereits hier, bei Kant, eine Dialektik von Constituens und Consti‐ tutum in Reinform ab. Diese Dialektik ist der Gegenstand von Adornos Tradi‐ tions-Kritik. In der Metakritik der Erkenntnistheorie heißt es: «Die Kantische transzendentale Ästhetik findet mit dem quid pro quo von Constituens und Constitutum sich ab, indem sie die Sinnlichkeit entsinnlicht.» 36 Gemäß Adorno haben wir es mit einer kritikwürdigen Dialektik zu tun, da die Vermitteltheit der beiden Momente Sinnlichkeit und Denken bei Kant dazu führe, dass die Sinnlichkeit entsinnlicht und das geltungslogische Moment den Vorrang be‐ haupten kann vor der Genesis in der sinnlichen Affektion. Dieses Resultat bringt Adorno aber nur kritisch gegen Kant in Stellung, um in der durchgängigen Reflexionsbestimmtheit der Sinnlichkeit, ihrer formalen Relevanz, einen Index zu erkennen, der die Sinnlichkeit in ihrem Eigenrecht als ein dem Gedanken heterogenes Feld zur Geltung zu bringen vermag. Als Funktion der Logik 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 341 <?page no="342"?> 37 Den Vorwurf hat zuerst Goethes Schwager Johann Georg Schlosser formuliert. Kant greift den Vorwurf in Von einem neuerdings erhobenen Ton in der Philosophie auf. Vgl. Kant, AA VIII, S. 398, 404; dazu Peter Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, S. 9f. Baumanns’ polemische Bemerkung, dass dieses Missverständnis von der Form‐ gebungsmanufaktur, als Erkenntnisphysiologie, noch heute «die Standard-Beurteilung des Kantischen Fundamentalwerks» wiedergebe, schlägt in die gleiche Kerbe wie Adornos Polemik gegen schulmeisterliche Lesarten der Kritik. Baumanns: «Die Kritik der reinen Vernunft zählt in der Zerrform der Formgebungsmanufaktur zum bestens bekannten Gemeingut, über das man verfügt und zu verfügen berechtigt zu sein glaubt. Man ist sicher, daß der Grundgehalt des Grundbuches der neueren Philosophie am Tage liegt, keiner Erschließung bedarf.» Ibidem, S.-10. 38 Die Analogisierung von kategorialer und gesellschaftlicher Arbeit (vgl. Abschnitt C/ 1b) sollte nur den Gehalt der kantischen Analogie (zwecks materialistischer Kritik) erhellen, nicht aber deren Eigenlogik. Diese erweist sich für Adorno als erheblich komplexer. 39 Vgl. die vier Thesen mit Blick auf den Raum bei Kant, KrV, A 23-25/ B 38-40; mit Blick auf die Zeit sind es allerdings fünf Thesen, vgl. ibidem, A 30-32/ B 46-48. 40 Das Folgende bezieht sich auf die Darstellungen beider Vorlesungsnachschriften, mit Rücksicht auf einige Bemerkungen aus der Negativen Dialektik. ist die Auseinandersetzung mit dem Unmittelbaren der Anschauung nämlich eine Vermittlung, die sich als der notwendig scheiternde Vermittlungsversuch präsentiert, die besagte Aporie von Anschauung und Logik aufzulösen. Form und Inhalt sind danach ja sowohl getrennt als auch vermittelt zu denken. Adorno macht mit seiner aporetischen Auslegung der «Transzendentalen Äs‐ thetik» also vorneweg klar, dass er sich mit seiner materialistischen Kantinter‐ pretation gegen das Zerrbild der Kritik als einer «Formgebungsmanufaktur» 37 richten möchte, das von Kant selbst schon 1796 als Fehlinterpretation entlarvt wurde. 38 Die Ästhetik als Funktion der Logik zu lesen verlangt das Gegenteil der naiv-vollzugsgläubigen Lesart, wonach die Kritik beschreiben würde, was tatsächlich vor sich geht, wenn das Anschauungsmaterial auf die Anschauungs‐ form trifft. Der kantische Buchstabe allein lieferte genügend Gründe, um die Formgebungsthese zu widerlegen, die hier nicht thematisiert werden können. Als eine solche Widerlegung aber beginnt Adornos dialektische Auslegung des Verhältnisses von Logik und Ästhetik aufzuleuchten. Adorno verfährt in seiner Auslegung der «Transzendentalen Ästhetik» zunächst aber ungewöhnlich orthodox. Schon in der Erkenntnistheorievorlesung von 1958 hatte Adorno die transzendentale Ästhetik auf eine Leitthese und vier Grund‐ thesen heruntergebrochen, die der Text der «Transzendentalen Ästhetik» in der metaphysischen Erörterung der Anspruchsgehalte von Raum und Zeit explizit vorgibt. 39 Diese Darstellung wiederholt Adorno in seiner letzten Kantvorlesung unter geringen Abweichungen. 40 Es ist hervorzuheben, dass Adorno in beiden Vorlesungen jeweils erst dann zur transzendentalen Ästhetik stoßen möchte, wenn 342 D. Materie und Form <?page no="343"?> 41 Vgl. zumal Adorno, NaS IV 4, S.-336. 42 Adorno, NaS IV 4, S.-338f. 43 Adorno hält mit Blick auf Raum und Zeit bei Kant entsprechend fest: «Es sind also Formen der Anschauung, nicht Formen des begrifflichen Denkens; das heißt, es sind Formen, in denen sich unmittelbar meine Erfahrung ordnet, ohne daß ich selber intellektiv durch Denkoperationen, durch Abstraktion, durch Schließen, durch was immer es sei, irgend etwas darüber vermag, irgend etwas hinzufüge.» Adorno, NaS IV 1, S.-365. bereits die Grundzüge der Erkenntnislogik der ersten Kritik erläutert worden sind. In beiden Fällen erfolgt zudem explizit die Rechtfertigung, dass dies aufgrund der systematischen Anlage des Werks angebracht sei. 41 III. Zunächst aber zu Adornos Referat der kantischen Leitthese, der Apriorität von Raum und Zeit, da die Stelle einen wichtigen hermeneutischen Vorgriff darstellt: Es ist die These von der Apriorität von Raum und Zeit, und zwar von ihrer Apriorität nicht im Sinne von Begriffen, die die Kategorien sind, also nicht im Sinn von Formen des Denkens; sondern von Formen der Sinnlichkeit, von reinen Formen der Anschauung, durch die wir alles, was uns unmittelbar gegeben ist, notwendig aufnehmen, ohne daß dabei das Moment der Aktivität, das Moment der Spontaneität, mit anderen Worten: das Moment des Denkens bereits involviert wäre. 42 Der Vorgriff besteht in der folgenden Einsicht: Wir brauchen in der Geltungs‐ reflexion die Vermittlung von Materie und Form nicht selbst zu vollziehen, um das Vermittlungsgeschehen raum-zeitlich sich konkretisierender Erfahrung nachzuvollziehen. Raum und Zeit weisen einen unhintergehbaren Gegebenheits‐ charakter auf, insofern sie ihre vermittelnde Kraft im Rücken jeder konkreten Anschauung auszuüben scheinen und insofern uneinholbar sind für das reflek‐ tierende Denken. Darin besteht die Passivität des Gemütsvermögens, das Kant Sinnlichkeit nennt, dass die Sinnlichkeit derjenige logische Ort ist, demgemäß das Gegebensein einer Form überhaupt erst denkbar wird. 43 In der sinnlichen Passivität teilt sich also der unwillkürliche Charakter einer zugleich subjektiven und vermeintlich (! ) an sich vorliegenden Form der Erkenntnis mit. Adorno hebt hier anerkennend hervor, dass damit ein Grundzug der kantischen Erkenntnis‐ theorie zum Tragen kommt, nämlich dass Kant - nicht etwa wie Fichte später - gar nicht erst den Versuch unternehme, alles aus einem Prinzip abzuleiten. Statt‐ dessen habe Kant die Anschauungsformen in ihrem eigentümlichen Charakter des Vorgegebenseins - analog zur Unhintergehbarkeit des ‹Ich denke› oder 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 343 <?page no="344"?> 44 Vgl. ibidem, S.-367f. 45 Ibidem, S.-367. 46 Ibidem, S.-363. 47 Schopenhauer schreibt in seiner Kritik der Kantischen Philosophie: «Die transscendentale Aesthetik ist ein so überaus verdienstvolles Werk, daß es allein hinreichen könnte, Kants Namen zu verewigen. Ihre Beweise haben so volle Ueberzeugungskraft, daß ich die Lehrsätze derselben den unumstößlichen Wahrheiten beizähle, wie sie ohne Zweifel auch zu den folgenreichsten gehören, mithin als das Seltenste auf der Welt, nämlich eine wirkliche, große Entdeckung in der Metaphysik, zu betrachten sind. Die von ihm streng bewiesene Thatsache, daß ein Theil unserer Erkenntnisse uns a priori bewußt ist, läßt gar keine andere Erklärung zu, als daß diese die Formen unseres Intellekts ausmachen: ja, dies ist weniger eine Erklärung, als eben nur der deutliche Ausdruck der Thatsache selbst.» Arthur Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, in: ders., Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden (Bd.-2), Zürich 1977, S.-537. 48 Geml sieht eine unvermeidliche Zweideutigkeit in der Wendung «Bedingung unserer selbst», wonach diese nicht nur bedeutet, dass Raum und Zeit Bedingungen für uns sind, sondern «dass der Mensch ein Urheber eben jener Strukturen ist, in die er sich zugleich als in eine ‹zweite Natur› gebannt erfährt.» Gabriele Geml, Adornos Kritische Theorie der Zeit, Berlin 2020, S. 73-78, hier: 74. Insofern bemerkt Geml, in Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik werde sein «eigenes Motiv kenntlich, die Anschauungsformen Raum und Zeit - und dabei insbesondere die Zeit - in ihrer Korrelation mit der menschlichen Praxis zu begreifen.» Ibidem, S. 73. Dem ist nur bedingt beizupflichten, wobei die Bedingung lautet, dass diese «Korrelation» ein Verhältnis darstellt, welches Gegenstand einer transzendentalen Reflexion auf Form und Materie bleibt. Sonst wäre Adorno Durkheim. 49 Adorno, NaS IV 1, S.-363. auch der Kategorien - «einfach registriert». 44 In dieser «weisen Naivität» 45 - der Weisheit, die Formen der Erkenntnis hinzunehmen, wie sie ‹sind›, ohne sie aber ontologisch zu hypostasieren - spricht für Adorno «das eigentlich metaphysische Element in der Kantischen Philosophie sich aus». 46 Adorno setzt den kritischen Idealismus der Anschauungsformen deshalb explizit mit der metaphysischen Tradition in Verbindung. Es gibt wahrscheinlich kaum ein Theorem von Kant, in dem er […] mit der meta‐ physischen Tradition der östlichen Spekulation wie auch der platonischen, so sehr zusammenhängt wie gerade an dieser Stelle. Raum und Zeit sind also wirklich, wie es dann bei Schopenhauer 47 heißt, der Schleier der Maja, das principium individuationis, durch das uns alles erscheint, ohne daß wir daraus irgend heraustreten können, und von dem wir doch wissen, daß es nur eine Bedingung unserer selbst 48 sei und nicht eine absolute Entität. Und wenn man sagt, daß in gewisser Weise der Platonische Unterschied von Realität und bloßer Erscheinungswelt von der Kantischen Philoso‐ phie in aufgeklärter Gestalt wiederhergestellt worden sei, dann hat das ganz sicher auf weniges so große Anwendung wie hierauf. 49 344 D. Materie und Form <?page no="345"?> 50 Kant, KrV, A 27/ B 43. 51 Ibidem, A 27f./ B 43f. 52 Kant, KrV, A 35/ B 52. Die kantische Philosophie von Raum und Zeit vertritt also die metaphysische Tradition «in aufgeklärter Gestalt». Kants transzendentale Ästhetik ist demnach als das Reflexionsgeschehen nachzuvollziehen, durch das ehemals dogmatisch beanspruchte Anschauungsformen über sich selbst aufgeklärt werden. Diese Aufklärung erfolgt als Nachweis ihrer transzendentalen Idealität. Dieser Nachweis offenbart zunächst, dass die unbedingte Allgemeinheit von Raum und Zeit «lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung» darstellt, weil beide als Resultate des bei A 27/ B 43 (d. h. innerhalb der «Transzendentalen Ästhetik»! ) herausgestellten Grundsatzes der Kritik begriffen werden. Zur Erin‐ nerung: «Wenn wir die Einschränkung eines Urteils zum Begriff des Subjekts hinzufügen, so gilt das Urteil alsdenn unbedingt.» 50 Entsprechend begreift Kants aufgeklärte Theorie von Raum und Zeit die Unbedingtheit eines Urteilsgehalts im regressiven Nachvollzug als aufgehobene Subjektivierung einer anfänglich prädikativen Einschränkung. Mit Blick auf den Raum schreibt Kant: Der Satz: Alle Dinge sind neben einander im Raum, gilt unter der Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung genommen werden. Füge ich hier die Bedingung zum Begriffe, und sage: Alle Dinge, als äußere Erscheinungen, sind nebeneinander im Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschränkung. 51 Wenn die Uneingeschränktheit der Form eine Wechselbestimmtheit ihrer Ein‐ geschränktheit als Bedingung sinnlicher Erfahrung ist, dann kann nur die Kritik die Universalität von Raum und Zeit angemessen erklären. Mit Blick auf die Zeit schreibt Kant ganz analog: Wir können nicht sagen: alle Dinge sind in der Zeit, weil bei dem Begriff der Dinge überhaupt von aller Art der Anschauung derselben abstrahiert wird, diese aber die eigentliche Bedingung ist, unter der die Zeit in die Vorstellung der Gegenstände gehört. Wird nun die Bedingung zum Begriffe hinzugefügt, und es heißt: alle Dinge, als Erscheinungen (Gegenstände der sinnlichen Anschauung), sind in der Zeit; so hat der Grundsatz seine gute objektive Richtigkeit und Allgemeinheit a priori. 52 Entscheidend für die kritisch-idealistische Raum-Zeit-Theorie ist also, dass das notwendig zu fällende Urteil, dass Raum und Zeit universal, notwendig, a priori und unendlich homogen sind, eigentlich eben nur unter der Einschränkung auf uns einen legitimen Anspruch auf Geltung über uns hinaus erheben darf. Paradox ausgedrückt: Raum und Zeit sind universal, weil sie als Bedingungen möglicher Er‐ 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 345 <?page no="346"?> 53 Vgl. Adorno, NaS IV 1, S.-372-375; ders., NaS IV 4, S.-339-342. 54 Adorno, NaS IV 1, S.-372. fahrung limitiert sind; und sie sind als limitierte Formbestimmtheiten zu verstehen, weil sie jene Universalität aufweisen, die nur das Resultat einer aufgehobenen (subjektivierten) Einschränkung (wechselseitige Negation der einzelnen Raum- und Zeitpunkte) sein kann. Kurz, wir haben es jeweils mit einer Wechselbestimmtheit von raum-zeitlicher Bestimmung und raum-zeitlich Bestimmbarem zu tun. Anders als über diese notwendig zweideutige Wechselbestimmtheit begrenzender und entgrenzender Momente lässt sich das kritische Ergebnis der transzendentalen Ästhetik schlicht nicht seiner positiven Seite nach auffassen. IV. Die Crux, um die sich der vorliegende Abschnitt dreht, besteht darin, zu sehen, dass in der sinnlichen Materie der Erkenntnis eine formvermittelte Unmittelbar‐ keit vorliegt, die den Universalitätsanspruch der Form zugleich begründet und einschränkt. Adornos Rekonstruktion des kantischen Raum-Zeit-Arguments zielt jedenfalls darauf ab, diese Zweideutigkeit als die Sache selbst zu begreifen, was allerdings heißen würde, dass gerade die dialektische Interpretation als ernst zu nehmende Auslegung der kantischen Problemstellung und kritischen Problemlösung in Betracht zu ziehen wäre - etwas, das bislang in der Kantfor‐ schung nicht geschehen ist. Die vier Grundthesen der transzendentalen Ästhetik lauten gemäß Adorno: (1) Raum und Zeit sind keine empirischen Abstraktionen. (2) Raum und Zeit sind apriorische und notwendige Vorstellungen. (3) Raum und Zeit sind keine diskursiven Begriffe, sondern reine Anschauungsformen. (4) Raum und Zeit sind als unendliche Größen gegeben. ad (1): 53 Raum und Zeit sind keine empirischen Abstraktionen. - Adorno kündigt in der 24. Erkenntnistheorievorlesung an, die These, dass Raum und Zeit «keine abgezogenen empirischen Begriffe» seien, «als ein Wahrheitsmoment in einem […] vielschichtigen und komplexen Zusammenhang […] begreiflich zu ma‐ chen». 54 Diesen Zusammenhang stellt Adorno in der Kantvorlesung kritisch als eine Art Schulfall des Problems von Genesis und Geltung heraus. Adorno verweist dabei zunächst einmal auf ontogenetische und phylogenetische Evi‐ denzen, wonach Raum und Zeit durchaus konkreten Lebens- und Gesellschafts‐ kontexten entspringen könnten. Ein Kind sei offensichtlich noch nicht einer reinen Anschauung des Raums und der Zeit fähig, sondern verfüge nur über die Vorstellung eines bestimmten «Dies hier». Erst durch «Abstraktion» (! ) und «Transzendieren» des unmittelbar Gegebenen gelangten wir allmählich 346 D. Materie und Form <?page no="347"?> 55 Adorno, NaS IV 4, S.-340. 56 Ibidem, S.-339. 57 Ibidem, S.-255. 58 Ibidem, S.-256. 59 Kant, KrV, A 22/ B 35. 60 Vgl. Kant, KrV, A 30/ B 46 ff.; des Weiteren ibidem, A 183/ B 226; A 215/ B 262 und A 431/ B 459 f.; ganz anders noch Isaac Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, Darmstadt 1963, S. 25: «Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.» dazu, auch eine vermittelte Vorstellung von Zeit und Raum schlechthin zu haben. Ebenso macht Adorno mit der Durkheim-Schule stark, es sei durchaus plausibel anzunehmen, «daß die Raumvorstellungen und Zeitvorstellungen selber sich ei‐ gentlich erst bilden mit der Entwicklung bestimmter Eigentumsverhältnisse». 55 Kants Intention auf die Reinheit der Anschauungsformen offenbare angesichts dieser genetischen Evidenzen «eine Art Nötigung, eine Art Zwang […], die konstitutiven Bedingungen, die er herausschälen will in der transzendentalen Analyse, rein zu halten gewissermaßen von allem Empirischen». 56 Soweit die zu erwartende Kantkritik. Dass Adornos Argument bei solchen Zugeständnissen an die Entwicklungspsychologie und die Durkheim-Schule aber nicht stehen bleiben kann, dürfte den Zuhörenden klar gewesen sein, da er zuvor dem Soziologismus Durkheims genau darin ein Reflexionsdefizit vorgeworfen hatte: «Durkheim hat nun im Ernst den Versuch gemacht, Raum, Zeit und eine Reihe von Kategorien, insbesondere die Formen der logischen Klassifikation, gesellschaftlich abzuleiten […].» Dieser Versuch sei jedoch «in sich selbst antinomisch». 57 Adorno spricht von einem «Fehler bei Durkheim», der sich «ganz einfach daran greifen» ließe, «daß die Beschreibung der gesell‐ schaftlichen Ursprünge etwa von Raum und Zeit selber immerzu Begriffe verwendet, die ihrerseits auf die - im Kantischen Sinn - Anschauungsformen von Raum und Zeit bereits verweisen». 58 Adorno ist sich offenbar nur zu bewusst, dass Kants Punkt gerade nicht gewesen war, Raum und Zeit losgelöst von den genetischen Erfahrungsvollzügen zu hypostasieren. Die ganze Übung der transzendentalen Ästhetik, «zuerst die Sinnlichkeit [zu] isolieren», 59 um sie als losgelöste Bestimmtheiten zu thematisieren, hat die subtile kritische Pointe, dabei die Wechselbestimmtheit von Sinnlichkeit und Denken nie aus den Augen lassen zu können. Die Absolutheit als solche der formalen Ordnungsprinzipien, die Newton noch für unbezweifelbar hielt, soll neu zum Gegenstand der Kritik werden. 60 Dabei stellt die kantische ‹These›, dass Raum und Zeit rein ideale Vor‐ stellungen, gleichwohl keine begrifflichen Abstraktionen von raum-zeitlichen Erfahrungsgegenständen seien, geradezu einen notwendigen Zusammenhang 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 347 <?page no="348"?> 61 Kant, KrV, A 36/ B 52. Vgl. ähnlich auch A 369 f.; A 491/ B 519; sowie A 543/ B 571. 62 Ernst Cassirer, «Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Be‐ trachtungen», in: Ernst Cassirer Werke (Hamburger Ausgabe) 10, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2010, S.-72. 63 Adorno, NaS IV 4, S.-39; Hervorhebung C.M. 64 Kant, KrV, B 41; Hervorhebung C.M. zwischen der Reinheit der Formen und konkreten Bestimmungsvollzügen her. Kant gibt Newton zwar zu, dass die Absolutheit von Raum und Zeit durch nichts zu relativieren wäre, weil sie eben keine Abstraktionen sind, sondern einen absoluten Vorrang genießen. Aber er deckt die ambivalente Bedeutung dieses Vorrangs auf, indem er zeigt, inwiefern es überhaupt legitim ist, sie als absolute Größen objektiv in Anspruch zu nehmen. Dafür muss Kant aber gerade auch das Gegenteil dessen implizieren, dass sie unabhängig von allen Gegenständen ab‐ solut subsistierende Größen ‹sind›. Raum und Zeit sind vielmehr «gar nichts» - d. i., «wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung absieht». 61 Wie es bei Cassirer mahnend heißt: «Wer nach einem absolut dinglichen Korrelat für beide verlangt, der hascht nach Schatten.» 62 Die Aufge‐ klärtheit der kantischen Raum-Zeit-Theorie besteht demnach darin, dass sie gegen die vereinseitigten Ansprüche auf deren Absolutheit (oder auch auf deren Relationalität) die geradezu metaphysisch notwendige Zweideutigkeit der Form einklagt. Erst die reflexive Kritik ihrer Schattenexistenz kann die Form dem Denken als Inhalt verinnerlichen - indem die Reflexion die Zeit zur Form des inneren Sinnes bestimmt, d. h. als unbedingte Vorgabe vergegenwärtigt, nach der sich das Geschehen der Reflexion zu vollziehen hat. Oder, wie dies Adorno mit Blick auf die Transzendentalphilosophie im Allgemeinen ausdrückt: Es ist also gewissermaßen der Begriff des Transzendenten durch seine Übersetzung in das Transzendentale wesentlich eingeschränkt; und er ist zugleich wesentlich verin‐ nerlicht, das heißt, er ist aus einem den Menschen gegenüber jenseitigen, dogmatisch postulierten Prinzip zu einem Prinzip des Geistes selber und der Beschaffenheit damit eben des menschlichen Bewußtseins überhaupt geworden. 63 Auch hier ist die Stellung der Aufklärung zur metaphysischen Tradition nicht nebensächlich für Form und Inhalt der Kritik. Der Schritt von der metaphy‐ sischen zur transzendentalen Erörterung von Raum und Zeit zeichnet dies unzweideutig genug als notgedrungene Zweideutigkeit auf. Die These, dass die Formen «bloß im Subjekte» 64 sind, stellt zunächst nur fest, inwiefern es der Tradition überhaupt möglich gewesen war, die Formbestimmtheit unserer Erfahrung falsch zu dolmetschen. Die Transzendentalphilosophie stellt der metaphysischen Tradition somit kein konkurrierendes Modell mehr gegenüber, 348 D. Materie und Form <?page no="349"?> 65 Ernst Cassirer, «Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Be‐ trachtungen», S.-72. 66 Vielleicht könnte man also mit Nietzsche sagen, die «Transzendentale Ästhetik» sei oberflächlich aus Tiefe. Die Griechen waren für Nietzsche «oberflächlich - aus Tiefe! », weil diese bereit gewesen seien, «tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben» Friedrich Nietzsche, Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, Berlin/ New York 1988, S. 352. - Adorno jedenfalls scheint dieser Lesart zugeneigt, wenn er den Aspekt der Tiefe bei Kant irrationalistischen Tendenzen der Tiefe gegenüberstellt. Es könne «keinem Zweifel unterliegen, daß der übliche und in Deutschland sehr verhängnisvolle Begriff der Tiefe, nämlich der antiaufklärerische, der irrationalistische: daß also tief ein Denken dann sei, wenn es auf irgendwelche andere Kräfte als auf die Vernunft sich bezieht, - daß der zunächst einmal, um es ganz bescheiden zu sagen, im krassen Widerspruch zu der ausgesprochenen Intention der Kantischen Philosophie steht; und daß Kant darauf würde geantwortet haben, daß das tiefste Moment, auf das seine Philosophie sich gründe, eben die Vernunft als das Moment der Einheit in all ihren Bereichen sei, und daß etwas Tieferes als die Vernunft überhaupt nicht gelten gelassen werden könne.» Adorno, NaS IV 4, S.-281-282. wie Raum und Zeit an sich beschaffen sein sollen. Die Transzendentalphiloso‐ phie fragt nicht einmal nach deren Realität; Transzendentalphilosophie fragt, wie Cassirer meint, «nach der objektiven Bedeutung der beiden Begriffe für den Gesamtaufbau unserer empirischen Erkenntnis. Sie betrachtet Raum und Zeit nicht mehr als Dinge, sondern als ‹Erkenntnisquellen›». 65 Die Transzendental‐ philosophie suspendiert also den objektiven Anspruch darauf, was anderen noch die Substanz oder die Inhärenz von Raum und Zeit gewesen war. Offenbar ist diese Frageweise nach den Erkenntnisquellen aber nicht so unschuldig und neutral, wie dies Cassirers Formulierung an Ort und Stelle vermuten lässt. Die Fragestellung in Richtung der Quellen der Erkenntnis allein ist kritisch. Die transzendentale Frage, wie etwas möglich sei, ist als Kritik gedacht an jenen, die nach Schatten haschen. Transzendentale Reflexion ist Kritik der Geisterseherei. Denn sie impliziert das Bewusstsein um die Unmöglichkeit, die Tiefe des Erörterten erschöpfen zu können. Die kantische Intention auf die Quellen der Erkenntnis wendet sich als kritische Erinnerung daher vor allem gegen diejenigen, die meinen, im Zuge einer metaphysischen Erörterung von Raum und Zeit auf deren Grund gestoßen zu sein. 66 Das dialektische Hin und Her von Adornos Rekonstruktion dient indessen selbst einer solchen transzendentalen Erörterung. Die Umwegigkeit der dialek‐ tischen Darstellung erörtert, was sich sonst gar nicht thematisieren lässt. Sie thematisiert die Zweideutigkeit einer Ästhetik, die zugleich eine Kritik am und die Vindikation des Absolutheitsanspruchs von Raum und Zeit darstellt. 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 349 <?page no="350"?> 67 Adorno, NaS IV 1, S.-363. Kant isoliert die objektive Bestimmtheit von Raum und Zeit von allem empi‐ risch Bestimmbaren, bloß um zu zeigen, dass sie als subjektive Bestimmungen einen notwendigen Bezug auf objektiv Bestimmbares aufweisen, indem sie unseren Bestimmungsvollzug durchgängig vorformieren. Adornos dialektische Interpretation der ersten These wiederum kehrt diesen Doppelsinn als eine Dialektik zwischen den konstituierenden und den konstituierten Momenten der Erfahrungsstruktur heraus: Sie können hier wieder sehen sozusagen den einen Gedanken, wenn Sie mir die Monomanie verzeihen, den ich durch alle Probleme der Erkenntnistheorie hindurch Ihnen hier immer wieder versuche vor Augen zu stellen, nämlich daß es ein Erstes eben nicht gibt, sondern daß die Momente, auf welche die herkömmlichen Erkennt‐ nistheorien die Phänomene als erste reduziert haben, in Wirklichkeit wechselseitig auf einander verwiesen sind, und ohne einander nicht vorgestellt werden können. 67 Wir dürfen uns von dem hegelianischen Grundzug von Adornos Interpretation hier indessen nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass, was hier nach seiner positiven Seite hin aufgefasst wird («in Wirklichkeit [! ] wechselseitig auf einander verwiesen»), für Adorno genau wie für Kant ein Argument gegen die ontologische Inanspruchnahme von Raum und Zeit darstellt. Die nicht abstraktive Reinheit der Anschauungsformen offenbart nämlich eigens wieder die Reziprozität von Form und Inhalt. Dass Adorno hier darauf zurückkommen muss - genau dieses Müssen meint er mit der ‹Monomanie› der dialektischen Gedankenführung. Adorno stellt seine eigene Monomanie zur Schau, um eben zu zeigen, dass ein Misstrauen gegen Dialektik am Platz wäre - das kantische Misstrauen darüber, dass sich die Wirklichkeit als durchgängig formbestimmt präsentiert. Wenn nämlich die Wirklichkeit nur das Wechselverhältnis von Form und Wirklichkeit darstellt, dann muss sie bloße Erscheinung sein. Kurzum, die Dialektik von empirischen und abstrakten Momenten hält die dialektische Vernunft unbedingt zur Selbstkritik an, weil sie ihren Anspruch, den formalen Bereich der transzendentalen Selbstreflexion vermittelnd zu erweitern, sonst nicht einlösen kann. Die Monomanie der dialektischen Vernunft spiegelt letztlich Kants Stellung zwischen den Extremen der absolutistischen und relationalistischen Positionen, die sich nur als eine dialektische Vermittlung der Extreme angemessen nach‐ vollziehen lässt: Wenn ich es also wieder einmal überspitzt sagen wollte, so müßte ich es in der Form ausdrücken, daß man zu sagen hätte, daß ebenso der Raum den Gegenständen 350 D. Materie und Form <?page no="351"?> 68 Ibidem, S.-374. 69 Man könnte im Rückblick auf Abschnitt C auch sagen: Kants transzendentale Reflexion verortet Raum und Zeit an sich im Niemandsland. Nur deswegen können die Formen des inneren und des äußeren Sinnes miteinander korrespondieren, was ja bei jeder konkreten Erfahrung erfordert ist. 70 Adorno, NaS IV 1, S.-365. 71 Der Hönigswald-Schüler Wolfgang Cramer, der in der Nachkriegszeit Kollege von Adorno am Philosophischen Seminar der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main war (und, wie die kürzlich erschienenen Seminarprotokolle belegen, sogar Adornos Seminar über «Transzendentale Dialektik bei Kant» im Wintersemester 1949/ 50 besuchte und ein Referat über Mengenantinomien hielt [vgl. Dirk Braunstein (Hg.), Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Gesammelte Sitzungsprotokolle 1949-1969 (Bd. 1), S. 45-48], hat diesen Punkt seinerseits starkgemacht in der (im selben Jahr wie Adornos Erkenntnistheorievorlesung 1957 erschienenen! ) Grundlegung einer Theorie des Geistes. Cramers Grundlegungsargument geht von der Undefinierbarkeit der Zeit aus und schließt daraus in einem komplexen Gedankengang auf die transzen‐ dentale Realität der Zeit. Cramer führt die Zeit dann mit dem Gedanken des Absoluten eng, da in der Undefinierbarkeit der Zeit die Lösung der genannten «Aufgabe aller Aufgaben» vorgezeichnet scheint, wie sie sich später dann in Gottesbeweise und ihre Kritik formuliert findet - vgl. Wolfgang Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik. S. 19f. Die Undefinierbarkeit der Zeit lenkt den Begründungsgang zum Absoluten in die Bahn, weil sie die Koinzidenz von Notwendigem und Kontingentem offenbart. Dass inhäriert, wie umgekehrt der Raum die Bedingung aller möglichen Gegenstände überhaupt ist. 68 Die Inanspruchnahme der Absolutheit von Raum und Zeit bleibt also auch bei Adorno notgedrungen doppelsinnig. Ihr (Un-)Ort liegt zwischen den kon‐ tingenten Einzeldingen und deren absoluter Formbestimmtheit. Die Absolutheit der Formbestimmtheit unserer Erfahrung besteht aber in der Wechselbestimmt‐ heit als solcher zwischen dem empirischen und dem abstrakten Moment dieser Formbestimmtheit. 69 Dieser dialektische Doppelsinn der Absolutheit von Raum und Zeit drücke sich bereits bei Kant deutlich genug als irreduktibel aus; und zwar darin, dass die transzendentale Ästhetik deren Undefinierbarkeit vor Augen führt. Adorno kommt sowohl in der Erkenntnistheorieals auch in der Kantvorlesung darauf zu sprechen, um die Einseitigkeit der genetischen Reduktion durch die Geltungs‐ reflexion dialektisch zu vermitteln. In der 24. Vorlesung zur Erkenntnistheorie heißt es: «[ J]eder Versuch, Raum und Zeit zu definieren - wenn jemand die Torheit begehen sollte, das zu versuchen -, jeder derartige Versuch ist zum Scheitern verurteilt.» 70 Jede Definition müsste nämlich je schon raum-zeitliche Bestimmungen wie ‹vor› und ‹nach› in Anspruch nehmen, um zu sagen, was Raum und Zeit an sich seien, nämlich das formale Neben- und Nacheinander von Raum- und Zeitpunkten. 71 Wären Raum und Zeit Abstraktionen, dann 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 351 <?page no="352"?> die Zeit undefinierbar sei (vgl. Wolfgang Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Frankfurt am Main 1957, S. 11) verbürgt nach Cramer letzten Endes, dass die Zeit jenes notwendige Differenzierungsgeschehen des Kontingenten ist, das als das Absolute zu begreifen wäre. In diesem Schluss von einer Denkunmöglichkeit auf das Sein der Zeit - von deren Idealität auf deren Realität - liegt der Clou von Cramers transzendentaler Ontologie, die auf den ersten Blick ein ähnliches Unding darstellt wie eine negative Dialektik oder eine kritische Theorie. So gäbe es weitere Parallelen zwischen Adornos und Cramers Zeittheoremen, auf die eigens hinzuweisen wäre. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das, was Cramer unter der zweiten Bestimmung seiner Grundlegung fasst - «Die Zeit denken, heißt, die Zeit aufheben» (ibidem) -, kommt dem transzendentalen Argument sehr nahe, das im adornoschen Gedanken der «Entzeitlichung der Zeit» (vgl. Adorno, GS 6, S. 325-327) impliziert ist: «Ohne solche Entzeitlichung der Zeit wäre wiederum diese nie objektiviert worden», schreibt Adorno (ibidem, 326). 72 Vgl. Kant, AA IX, S. 99: «Ein jeder Begriff kann allgemein und besonders (in abstracto und in concreto) gebraucht werden. In abstracto wird der niedere Begriff in Ansehung seines höhern, in concreto der höhere Begriff in Ansehung seines niederen gebraucht.» 73 Kant exponiert den Begriff des Definierens wie folgt: «Definieren soll, wie es der Ausdruck selbst gibt, eigentlich nur so viel bedeuten, als, den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen.» Kant, KrV, A 727/ B 755. Kant wendet sich damit explizit gegen die Möglichkeit, durch Definieren von Begriffen zu mehr als nur formalanalytischen Erkenntnissen zu gelangen. - Vgl. dazu Adorno in der 4. und (v. a.) in der 5. Vorlesung über Erkenntnistheorie, wo er den Passus der Methodenlehre ausformuliert vorträgt und wie folgt kommentiert: «Also Sie sehen, dieses Motiv bei Kant trifft auf etwas außerordentlich Tiefes, daß nämlich gerade das Verfahren des Definierens, das doch den Anspruch der Strenge und der Verbindlichkeit so sehr zu erfüllen scheint, in Wirklichkeit diesen Anspruch nur erfüllt auf Kosten einer Art von Willkürlichkeit, also auf Kosten dessen, daß es sich hier um selbstgemachte Spielmarken handelt, die von ihrer Beziehung auf die Bewegung der Sache selbst eigentlich losgerissen sind.» Adorno, NaS IV 1, S.-79-85, hier: 80. wären sie nicht undefinierbar. Definierbar ist nämlich nur dasjenige, das auf Begriffe gebracht werden kann, mit denen nicht schon auf die Bestimmtheiten des Definiendums referiert werden muss. Abstraktionen von empirischen Ge‐ halten sind definierbar, weil die via abstractionis das Absehen von niedereren Bestimmungen bedeutet - Bestimmungen, die dann zur Erläuterung höherer Bestimmungen angeführt werden können. 72 Das funktioniert bei Raum und Zeit nicht. Als extensive Größen verweisen raum-zeitliche Gehalte nämlich schon im ‹Niedereren› auf das Ganze des Raumes und der Zeit. 73 Wenn ich also die Differenz einzelner Raumausschnitte als Definiens dafür anführe, um zu sagen, was der davon ‹abstrahierte› Raum im Ganzen ist, dann spreche ich im Grunde immer schon über den einen Raum im Ganzen. Der Raum ist also zunächst einmal mindestens für gleichursprünglich zu erachten wie die vereinzelten Raumabschnitte und mithin - was zu beweisen war - keine Abstraktion. Und dasselbe gilt für die undefinierbare Zeit. 352 D. Materie und Form <?page no="353"?> 74 Vgl. ibidem, S.-375-377; ders., NaS IV 4, S.-342-344. 75 Kant, KrV, A 24/ B 38f. 76 Ibidem. 77 Adorno, NaS IV 1, S.-376. ad (2): 74 Raum und Zeit sind apriorische und notwendige Vorstellungen. - Diese These sei der ersten These eng verwandt, hebt Adorno hervor, gleichsam aber ins Positive gewendet worden. Dem kritischen Geist seiner dialektischen Kant‐ deutung entsprechend, erklärt Adorno diese positive Formulierung wiederum freilich ex negativo. Eine reine Anschauung von Raum und Zeit ist für Adorno unvorstellbar, wenn das Kriterium lautet, dass ‹ich› mir eine solche Vorstellung machen müsste. Diese Deutung, die das Sein der Form ex negativo erschließen sollte, hat eine Grundlage im kantischen Buchstaben: «Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.» 75 Aus der Koinzidenz der Denkunmöglichkeit der absoluten Leere («daß kein Raum sei») mit der schieren Definition dessen, was uns allein ‹Leere› heißen kann («daß keine Gegenstände darin angetroffen werden»), schließt Kant mit transzendentallogischer Gewissheit darauf, dass der objektive Gehalt des absoluten Raumes nur «als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen» werden muss. Der Raum sei darum «eine Vorstellung a priori, die notwendiger Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt». 76 Die Notwendigkeit der Anschauungsformen Raum und Zeit, an der Kant nicht im Geringsten zweifelt, ist also nichts anderes als die Notwendigkeit für uns - die Notwendigkeit, mit der wir unsere inneren und äußeren Wahrnehmungen nach Maßgabe des Neben- und Nacheinanders formieren müssen. Diese transzendentalphilosophische Interpretation der Notwendigkeit der Anschauungsformen weist für Adorno ein großes spekulatives Potential auf. In gewisser Hinsicht erscheint die Notwendigkeit durch ihre Rückbindung an die erkennende Subjektivität immer auch zufällig. Adorno erwägt explizit in seiner Auseinandersetzung mit Kant, dass «das Allernotwendigste, das, dem ich mich schlechterdings nicht entziehen soll können, zugleich im Sinne dieser Kantischen Philosophie das absolut Zufällige, das absolut Kontingente ist.» 77 Hier kann der Dialektiker Adorno anknüpfen: Denn wir finden bei Kant nun einen dialektischen Umschlag von absolut Notwendigem in absolut Zufälliges vor, der sich gegen die positiv-dialektische Vermittlung im Absoluten ins Spiel bringen lässt. Der kritische Idealismus der Anschauungsformen ist danach ebenso ein Idealismus der Freiheit, wie es der absolute Idealismus zu sein vor‐ gibt. Denn wenn die transzendentale Ästhetik im transzendentalen Unterschied 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 353 <?page no="354"?> 78 Kant, KrV, A 536/ B 564. 79 Vgl. Adorno, NaS IV 1, S.-379-384; ders., NaS IV 4, S.-344-348. 80 Adorno, NaS IV 1, S.-366. 81 Peter Schulthess, Relation und Funktion. Eine systematische und entwicklungsgeschicht‐ liche Untersuchung zur theoretischen Philosophie Kants, Berlin/ New York 1981, S. 117; Hervorhebung C.M. von Ding an sich und Erscheinung den Unterschied von Notwendigem und Zufälligem mitbegründet, dann stellt die Ästhetik den wichtigsten Schritt zur Bewältigung der dritten Antinomie dar. Kants Auflösung der Antinomie der Freiheit - dass Freiheit nicht unmöglich ist - führt ja zu einer rückwirkenden Bestätigung des Arguments der Ästhetik: «Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.» 78 Es passt insofern zusammen: Erstens, dass Adorno Kant die Rettung der kritisierten Traditionsgehalte zutraut; zweitens, dass diese Rettung darüber erfolgt, dass dabei der transzendentale Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich bewiesen wird; und drittens, dass sich die Rettung der Freiheit darin vollendet, dass Notwendigkeit und Zufälligkeit im Horizont einer grenzbegrifflichen Dialektik des Absoluten thematisiert werden, die die Totalität des sinnlichen Kosmos als total und eingeschränkt erscheinen lässt. ad (3): 79 Raum und Zeit sind keine diskursiven Begriffe, sondern reine Anschau‐ ungsformen. - Gerade die Undefinierbarkeit von Raum und Zeit stelle nun «ein außerordentlich starkes Argument dafür, daß diese Begriffe wirklich a priori sind», so Adorno. 80 Dass sie «wirklich a priori sind», bedeutet letzten Endes nämlich, dass sie gar keine Begriffe im strengen Sinne, sondern reine Anschau‐ ungen sind. Worin besteht der Unterschied? Der Unterschied von Begriff und reiner Anschauung offenbart sich uns, wenn wir den Charakter der Allge‐ meinheit näher betrachten, den beide auf ihre Weise mit konkreten Inhalten vermitteln. Die Allgemeinheit des diskursiven Begriffs ist, wie Schulthess mit Blick auf Kant festhält, eine «Abstraktionsallgemeinheit». Denn «Abstraktion ist immer Abstraktion von der Verschiedenheit der Objekte, die unter dem Begriffe enthalten sind». Insofern sei die «Verschiedenheit der unter einen Begriff fallenden Objekte […] die Schranke des Inhalts.» 81 Will heißen, die Abstraktionsallgemeinheit des diskursiven Begriffs ist auf das Hin- und Her‐ gehen zwischen Sinnlichkeit und Verstand angewiesen, bevor es Allgemeinheit erlangt. Die Allgemeinheit geht also nicht voran. Die Allgemeinheit der Form hingegen gehört zum Undefinierbaren - sie intendiert gleichsam je schon einen schrankenlosen Inhalt -, wodurch sie nicht via abstractionis zustande kommt, sondern als Ganzheit dem Verschiedenen des Inhalts vorhergehen muss. Das Verschiedene der Raum- und Zeitstellen ist, wie gezeigt, nur als Ein‐ 354 D. Materie und Form <?page no="355"?> 82 Kant, KrV, A 24f./ B 39. 83 Ibidem, A 162/ B 203. 84 Adorno, NaS IV 1, S.-379. 85 Kant, R 2881, in: ders., AA XVI, S. 558; dazu Peter Schulthess, Relation und Funktion, S.-117ff. schränkung des Ganzen, mithin als Bestimmtes nur nachrangig zum zugrunde liegenden Ganzen denkbar. Kant hebt mit Blick auf den Raum entsprechend hervor, dass man sich erstens «nur einen einigen Raum vorstellen» könne, was so viel bedeutet, wie dass «wenn man von vielen Räumen redet, […] man darunter nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes» verstehe. 82 Die Monomanie unserer Raumauffassung macht gleichsam dessen objektive Formnatur aus. Das Formsein des Räumlichen besteht darin, eine extensive Größe mit Alleinheitsanspruch vorstellig zu machen; Gleiches gilt für das Zeitliche. «Eine extensive Größe nenne ich diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht (und also notwendig vor dieser vorhergeht).» 83 «Das nichtbegriffliche Wesen von Raum und Zeit», so Adorno in der 25. Vorlesung über Erkenntnistheorie, lasse sich «zunächst einmal ganz einfach einsehen». 84 Adorno spricht von Begriffen anschließend als «Merkmalseinheit[en] der darunter befassten Gegenstände». Damit meint Adorno das, was soeben mit Schulthess als Abstraktionseinheit herausgestellt wurde: Begriffe schränken ein Mannigfaltiges (z. B. einzelne Pferde) auf den Begriff (Pferd) als inhaltliche Merkmalseinheit ein. Das Allgemeine einer Merk‐ malseinheit ist gleichsam der Erkenntnisgrund, der seine Begründungsleistung dann vollbringt, wenn es darum geht, ein konkret erscheinendes Pferd als Pferd wiederzuerkennen. «Die allgemeinheit beruht nicht darauf, daß der Begrif ein theilbegriff, sondern ein Erkenntnisgrund ist - daran werde ich Dich kennen.» 85 Die Allgemeinheit von Raum und Zeit hingegen ist kein Daranwerde-ich-Dich-Kennen. Niemand geht umher und wird plötzlich gewahr, dass er es wieder mit Räumlichem zu tun hat. Ebenso denkt niemand und wird plötzlich gewahr, dass seine Gedanken kontinuierlich aufeinander folgen. Vielmehr ist es doch so, dass sich das Nebeneinander-sich-Befinden der Dinge und das Nacheinander-Folgen der Gedanken von selbst und unmittelbar aus jedem Erfahrungsvollzug ergibt, sich gleichwohl aber nur reflexiv - als subjektive Voraussetzungen dieses Vollzugs - erschließen lassen. Die Unmittelbarkeit des Gegebenseins der raum-zeitlichen Verfasstheit von Vorstellungen ist gleichsam nur nachzuvollziehen. Denn wir schauen ja nicht das Ganze des Raumes und denken ja nicht das Ganze der Zeit, wenn wir es lediglich mit Ausschnitten von beidem zu tun haben. Und das haben wir gemäß Kant durchgehend. Es ist also auch nur indirekt möglich - durch besagte Aufhebung der gegenseitigen 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 355 <?page no="356"?> 86 Kant, KrV, A 25/ B 39. 87 Adorno, NaS IV 1, S.-383; Hervorhebung C.M. Einschränkung der Ausschnitte -, dass wir des Ganzen von Raum und Zeit in reiner Anschauung gewahr werden. Danach entdecken wir gleichwohl mit Kant, dass die einzelnen Ausschnitte von Raum und Zeit gar nicht solche gewesen sein könnten, wenn sie nicht immer schon Einschränkungen eines Ganzen gewesen wären. Das Raumganze bedeutet für Kant daher - an sich betrachtet - nur das Resultat der Aufhebung aller wechselseitigen Einschränkungen von Einzelräumen. Das raum-zeitliche Weltganze ist eine Limitationsfigur. Daher seine limitative Anspruchsbestimmtheit als «subjektive Bedingung der Sinnlichkeit». «Hieraus folgt» aber für Kant, «daß in Ansehung seiner [des Mannigfaltigen im Raum, C.M.] eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zum Grunde liegt». Ebenso folgt daraus - und mit ebenderselben transzendentallogischen Notwendigkeit -, dass «[d]er Raum nichts anders» sei, «als nur [! ] die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne». 86 Für Adorno ist klar, dass wir es hierbei mit einer Paradoxie des kantischen Erfahrungsbegriffs zu tun haben. Raum und Zeit sind von Kant im Zuge seiner transzendentalen Reflexion als reine Anschauungen gekennzeichnet worden. Nun hat sich aber gezeigt, dass eine eigentliche Anschauung ihrer gar nicht möglich ist. Adorno legt den Finger auf diese Gegenläufigkeit, die im Konzept einer reinen Anschauung von Anfang an angelegt war. Die Unmittelbarkeit des Reinen ist für Adorno nämlich ein Unding, das sich nur dialektisch auf den Begriff bringen lässt. «Mit anderen Worten», versucht Adorno zu resümieren: Sie stoßen also hier […] auf eine Paradoxie, die wahrscheinlich in dieser Schärfe gar nicht genügend beachtet worden ist, daß nämlich die beiden Formen der Anschau‐ ungen oder reinen Anschauungen hinauslaufen auf eine Erfahrung, die zugleich gar keine Erfahrung sein soll. 87 Adorno spricht auch von einer «erfahrungsfreien Erfahrung», um den not‐ wendigen Bezug der reinen Anschauungsformen auf die Erfahrung und ihre Erfahrungsunabhängigkeit zusammenzudenken. Damit möchte Adorno keines‐ wegs in Abrede stellen, dass zwischen diskursiven Begriffen und reinen An‐ schauungen ein wesentlicher Unterschied besteht. Vielmehr geht es darum, im transzendentalen Idealismus von Raum und Zeit den «unaufgelösten Wi‐ derspruch» zu erkennen, der danach die Dialektik auf den Plan ruft. Adorno zeigt aber gegen die Geschichte der nachkantischen Dialektik, dass die Expli‐ kation dieses Widerspruchs nicht als Revision seiner erkenntnislimitativen Konsequenz, sondern als angemessene Artikulationsweise seiner negativ-spe‐ 356 D. Materie und Form <?page no="357"?> 88 Adorno, NaS IV 4, S.-348. 89 Vgl. Adorno, NaS IV 1, S.-384-387; ders., NaS IV 4, S.-348-351. 90 Kant, KrV, A 25/ B 40. kulativen Relevanz vorgesehen gewesen war. In der Kantvorlesung schließt Adorno sein Referat der dritten These entsprechend mit der Bemerkung, dass das Konzept einer nichtbegrifflichen Anschauung eine spekulative Konstruk‐ tion sei, «der also irgendein Etwas, woran sie überhaupt identifiziert oder bestimmt werden könnte, eigentlich abgeht». 88 Nach unseren Erwägungen zum Niemandsland sollten wir genau allerdings hier hellhörig werden: Es ist die eigentümliche Weise, mit der die Sphäre des Nichtbegrifflichen bei Kant sowohl mit Nachdruck in Anspruch genommen als auch vollkommen im Offenen gelassen wird, die Adorno bei Kant als spekulativen Zug im ‹guten›, d. h. im negativen Sinne, hervorheben möchte. ad (4): 89 Raum und Zeit sind als unendliche Größen gegeben. - Kant selbst formuliert diese These in der metaphysischen Erörterung des Raumes dahingehend aus, dass der Raum «als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt» werden müsse. Wäh‐ rend zwar jeder Begriff eine unendliche Merkmaleinheit darstellt und es potentiell also unbegrenzt viele Vorstellungen geben können muss, die unter die jeweilige Einheit fallen können, könne kein Begriff derart konzipiert werden, «als ob er eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthielte». 90 Kant kann diesen Unter‐ schied zwischen Fallen-können-Unter und In-Sein mit Blick auf Begriffe machen, weil er schon gezeigt hat, dass der Begriff des Raums keine Abstraktion und kein diskursiver Begriff, sondern eine notwendige Vorstellungseinheit darstellt, die nur a priori in Anspruch genommen werden darf. Beim all-einigen Raum wäre es nun so, dass dessen Bestandteile nur als in diesem vorzustellen sind. Das erhellt sich daraus, dass Teile des Raums eben nur als Einschränkungen des Raumganzen zu konzipieren sind. Die Differenz der Raumstellen etwa, die mein linkes und mein rechtes Auge einnehmen, ist schon hinreichend, um das Ganze des Raums zu ver‐ gegenwärtigen. Warum? Weil «alle Teile des Raumes ins Unendliche […] zugleich [sind]» und insofern die Affirmation des Ausschlussverhältnisses zwischen zwei Raumstellen schon das Ganze als unendlichen Urteilsgehalt mitaffirmieren muss. Wenn ich sage ‹das linke Auge›, dann sage ich zugleich ‹nicht das rechte› - und letztlich auch ‹das Nicht-linke-Auge›, womit denn sogleich das Ganze des Raumes mitbezeichnet wäre. Kein Raumabschnitt irgendwo wäre folglich, was er ist, wenn sein Dort-und-nicht-hier-Sein nicht den ganzen Möglichkeitsraum des Anderswo- Seins ausschließen würde. Und diese ausschließende ‹Handlung› ist wiederum nur möglich aufgrund der unendlichen Homogenität des Raums. Daraus folgt für Kant, dass die Affirmation eines begrenzten Raumabschnitts im Grunde dessen 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 357 <?page no="358"?> 91 Mehr lässt sich ausgehend von Bestimmtem nicht über das unbestimmte Ganze sagen, als dass es das affirmierte Negationsglied des jeweilig Bestimmten ist (wovon auch immer wir ausgehen mögen). Der Terminus ‹un-endlich› stellt diesen Sachverhalt deutlich genug zur Schau. 92 Die in der «Transzendentalen Ästhetik» einsetzende Paragraphierung endet mit dem «Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe» nach § 27. 93 Kant, KrV, A 32/ B 47f. Differenz zum ganzen restlichen Raum in einem unendlichen Raum mitintendiert. Eine konkrete Raumstelle schließt alle anderen aus und ist nur als Einschränkung des Ganzen zu haben. 91 Dies hat die eigenartige Konsequenz, die bereits berührt wurde, nämlich, dass das Ganze als Un-endliches ‹nur› der Gesamtzusammenhang von sich gegenseitig einschränkenden, endlichen Raumabschnitten ist. Erst in der Dia‐ lektik wird Kant dieser Unbestimmtheit des Ganzen ein Gesicht geben - in der regulativen Idee des Weltganzen, die unsere Bestimmungsvollzüge nie bei einem Bestimmten ruhen lässt. Hier in der Ästhetik bleibt Kant vorerst dabei stehen, den unendlichen Urteilsgehalt des negativen Verweisungszusam‐ menhangs von Raumstellen - trotz seiner konstitutiven Unbestimmtheit - als homogene Formbestimmtheit für den Beweisgang der Deduktion positiv in Anspruch zu nehmen. 92 Der Beweisgang der transzendentalen Ästhetik trägt zu dieser Deduktion zweierlei bei; erstens, dass die unendlich homogene Form des Nebeneinanders zwingend Form unserer Sinnlichkeit sein muss, ansonsten die durchgängige Homogenität und unendliche Gegebenheit nicht möglich wäre; und zweitens, dass infolgedessen jede Intention auf einen begrenzten Raum eine Einschränkung des Ganzen vollzieht, sowie umgekehrt, dass das Ganze der Erscheinungswelt nur der indirekt (durch Reflexion) erschließbare Gesamtzusammenhang einander sich gegenseitig ausschließender Raumstellen sein kann. Die metaphysische Erörterung der Zeit kann dann dieses Ergebnis der zweifachen Erörterung des Raums schon antizipieren. Die These, dass die Zeit unendlich gegeben sei, wird von Kant bereits als Implikat einschränkender Urteilshandlungen eingeführt: «Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei»- weshalb «die ursprüngliche Vorstellung Zeit unendlich gegeben sein müsse». 93 Wie beim Raum gewinnt auch diese ursprüngliche Vorstellung erst in der «Tran‐ szendentalen Dialektik» Kontur. Dort zeigt sich, noch mehr als beim Raum, dass die Positivierung der unendlichen Unbestimmtheit als unmittelbar gegebene Vorstellung bislang rein problematisch erfolgen musste: Die raum-zeitliche Form des Ganzen der Erscheinungswelt ist insofern kein Problem für die Freiheit, als 358 D. Materie und Form <?page no="359"?> 94 Ibidem, A 429/ B 457. 95 Ibidem, A 39/ B 56. 96 Adorno, NaS IV 4, S.-350. 97 Adorno, NaS IV 4, S.-350. sie ‹lediglich› die Form von erscheinenden Inhalten zu sein vorgibt. Das Ganze der Erscheinungswelt wird zum Problem erst als Ding an sich. Das ‹Es-muss-sosein› mit Blick auf die Beschaffenheit von Raum und Zeit wäre ein Erfordernis der «Transzendentalen Ästhetik», das die Vernunft in der «Transzendentalen Dialektik» nicht einlösen kann. Denn die aktuale Unendlichkeit der Zeit wird im Zuge der Erwägung, ob die Welt einen Anfang in der Zeit haben kann, apagogisch als ein Ding der transzendentalen Unmöglichkeit entlarvt. Kant: «[E]ine unend‐ liche Zeit müßte, in der Durchzählung aller koexistierenden Dinge, als abgelaufen angesehen werden; welches unmöglich ist.» 94 Die leere fröhliche Fahrt ans Ende des Universums ist also auch für Kant konsequenzlos. Der Anspruchsgehalt der Unendlichkeit von Raum und Zeit hat nur eine Art Schein- und Schattendasein im Skopus der Kritik; er ist notwendiges Erfordernis als Formbestimmtheit der Erscheinungen, während ein unendlicher Raum und eine unendliche Zeit an sich selbst betrachtet «Undinge» 95 sind. Adorno weist nun in beiden Vorlesungen mit Nachdruck auf die Merkwür‐ digkeit hin, dass Kant in der «Transzendentalen Ästhetik» positiv in Anspruch nimmt, was er später in der «Transzendentalen Dialektik» als antinomische Konzeption kritisiert - die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Adorno kritisiert die Vorstellung als antinomisch, dass Raum und Zeit unendlich gegeben seien. Etwas Unendliches kann man sich nicht vorstellen; und alle Vorstellung ist begrenzt. Etwas Endliches aber duldet jederzeit seine Überschreitung durch die Vorstellung. Und damit ist wohl die These von der unendlichen Gegebenheit von Raum und Zeit, wie sie Kant uns vorbringt, tatsächlich nicht zu halten, sondern ist in der Tat eine Art von Konstruktion. 96 Die kritische Pointe dieser offen inkonsistenten Unendlichkeitskonzeption erhellt zum Ende von Adornos Referat der vierten These. Durch die Entwick‐ lungen der neueren Physik (d. i. die Relativitätstheorie und die Quantentheorie) sei es, so Adorno, «dem Gedanken gelungen […], ein kleines Guckloch zu finden, durch das wir aus dem Gefängnis herausschauen können». 97 Adorno sieht in Kants Konstruktion also eine Intention vorliegen, die mit dem Desiderat der negativen Dialektik zusammenfällt - das Denken aus dem Gefängnis des Banns der Determiniertheit ausbrechen zu lassen. Denn insofern die «Transzendentale Ästhetik» einen Beweis für den transzendentalen Unterschied von Erscheinung und Ding an sich und dieser Beweis seinerseits eine notwendige Bedingung 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 359 <?page no="360"?> 98 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 207, kommt übrigens auch zum Schluss, dass man die «Transzendentale Ästhetik» nicht losgelöst von den Einsichten der transzendentalen Logik betrachten sollte. 99 Kant, KrV, A 266/ B 323. der Freiheit darstellt, wird deutlich, dass diese Intention keine andere als die ist, die wir mit Adorno bereits als Kants Absicht identifiziert haben; nämlich den Transzendenzgedanken dem Denken derart zu verinnerlichen, dass dessen Inhalt vor der restlosen Immanentisierung gerettet werden kann. V. Es zeigt sich hiermit von neuem mit aller Deutlichkeit, dass die kantische Kritik für Adorno spekulative Relevanz gewinnt, wenn sie die Wechselbestimmtheit der grundlegenden Modalitäten unserer Erkenntnis angemessen thematisiert, während die intentio recta nur fehlgehen kann, weil die direkte Intention auf das positive Unendliche nach Schatten haschen muss. Betrachten wir aber, bevor wir die nötigen Schlüsse für die adornosche Dia‐ lektik ziehen, noch einmal die kantische Diskussion des Reflexionsbegriffspaars Materie und Form. Zwei Dinge gibt es festzuhalten, die beide unmissverständlich dafürsprechen, dass die transzendentale Ästhetik in der Tat, wie Adorno sagt, eine Funktion der Logik darstellt. (i) Erstens gibt es hinreichende Gründe dafür, die transzendentale Ästhetik als Anwendungsfall des Reflexionsbegriffspaars Form und Materie zu verstehen. 98 Wenn Kant selbst im Amphiboliekapitel die Wichtigkeit des vierten Reflexions‐ begriffspaars Materie und Form eigens hervorhebt, indem er sagt, «[d]ieses sind zwei Begriffe, welche aller anderen Reflexion zum Grunde gelegt werden, so sehr sind sie mit jedem Gebrauch des Verstandes unzertrennlich verbunden», 99 dann kann er das nur sagen, weil ihr durchgängiger Gebrauch nicht vor der Ästhetik haltmacht. Dass das vierte Reflexionsbegriffspaar den Anwendungen aller anderen Reflexionsbegriffe zugrunde gelegt werden muss, ergibt sich überdies schon aus der programmatischen Bestimmtheit der transzendentalen Reflexion. Wenn diese erfordert, darüber nachzudenken, «in welcher Erkenntniskraft [bestimmte Vorstellungsgehalte, C.M.] subjektiv zueinander gehören, ob in der Sinnlichkeit oder dem Verstande», dann verlangt das Ins-Verhältnis-setzen- Können der beiden Momente stets eine Antwort darauf, wie sich ein Vorstel‐ lungsgehalt angesichts der Doppelheit von Bestimmung und Bestimmbarem ausnimmt. Was anderes ist transzendentale Ästhetik nun als eine transzenden‐ tale Reflexion darauf, wie die Universalität des Raumes und der Zeit beschaffen 360 D. Materie und Form <?page no="361"?> 100 Adorno, NaS IV 1, S.-365. 101 Ibidem. 102 Marcus Willaschek, «Phaenomena/ Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbe‐ griffe (A235/ B294 -A292/ B349)», S. 341. Gemeint ist die Unterscheidung von usus realis und usus logicus in Kant, AA II, S.-393. sein muss - d. h., wo das raum-zeitliche Ganze verortet muss: im Ermöglich‐ ungsraum der Sinnlichkeit oder in einer Welt an sich. Und nicht nur das: Wie Adorno festhält, ließe sich derselbe Gedanke auch schon mit Blick auf das Innere und Äußere durchspielen. Die Zeit ist bekannt‐ lich die Form des inneren Sinnes, der Raum die Form des äußeren Sinnes. Adorno macht das Auditorium in der 24. Erkenntnistheorievorlesung «auf die Schwierigkeit aufmerksam, […] daß nämlich der Begriff des Äußeren und des Inneren ja selber bereits so etwas wie Raum eigentlich voraussetzt, daß also der Versuch, Raum und Zeit dadurch zu bezeichnen, in gewisser Weise zirkelschlüssig ist, weil er bereits räumlicher und zeitlicher Vorstellungen bedarf». 100 Offenbar erfordert die Verortung eines inneren und eines äußeren Sinnes bereits eine Anwendung des dritten Reflexionsbegriffspaars, während das Reflexionsverhältnis seinerseits wiederum die Vertrautheit mit räumlichen Verhältnissen aus konkreter Erfahrung voraussetzt. Was also war das Erste? - Allein schon die Frage ist unkritisch. Ebenso unkritisch wäre es aber, «Kant daraus [d. i. aus dieser Zirkelschlüssigkeit, C.M.] einen Strick zu drehen, denn es wäre ja hier wirklich der Versuch gemacht, an einer Stelle nach einem absolut Ersten zu fragen, wo Kant ein solches absolut Erstes nicht geben kann». 101 In dem Zirkelschluss, den Kant als die aufgeklärteste Theorie von Raum und Zeit hinstellt, liegt für Adorno denn auch die aporetische Dialektik von Constituens und Constitutum in vollen Zügen vor; ohne Raum und Zeit als innerlich zu gewahrende Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung keine äußere Erfahrung - ohne äußere Erfahrung keine Chance, die Bedingungen überhaupt als ‹innerliche› Bedingung von ‹Äußerem› zu gewahren. Dass Adorno - nicht trotz, sondern aufgrund dieser Aporie sagen kann, die Ästhetik sei eine Funktion der Logik, liegt daran, dass die Reziprozität von Constituens und Constitutum gerade das Thema des Reflexionsbegriffskapitels ist und insofern die Aporien von Sinnlichkeit und Denken immer schon in den Skopus einer transzendentalen Logik fallen müssen. Damit wird die transzenden‐ tale Ästhetik aber endgültig als Anwendungsfall der Logik zu betrachten sein. Und insofern kann man auch in dem objektiven Vergleich von Form und Inhalt nicht mehr, wie z. B. Willaschek, jenes «Überbleibsel aus ‹vorkritischer› Zeit vermuten, das sich nicht ohne weiteres in die ‹kritische› Urteilstheorie der Kritik einfügt». 102 Stattdessen sollte man der kantischen Reflexionsleistung 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 361 <?page no="362"?> 103 Vgl. zum Hintergrund Marcus Willaschek, «Phaenomena/ Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbegriffe (A235/ B294-A292/ B349)», S.-349: «Leibniz entwickelt seinen rela‐ tionalen ‹Lehrbegriff› von Raum und Zeit ausführlich in seinem Briefwechsel mit Clarke. Danach handelt es sich bei Raum und Zeit um ein System von ‹äußerlichen› Relationen, das vollständig auf ‚innere› Bestimmungen der Monaden zurückführbar ist. Kant sieht darin einen Vorrang der ‹Materie› (des ‹Bestimmbaren›) vor der ‹Form› (der ‹Bestim‐ mung›) und setzt dem seine eigene Auffassung von Raum und Zeit als Anschauungs‐ formen entgegen, die der Materie (der Empfindung) vorausgehen.» 104 Vgl. KrV A 266f./ B 322f. unter dem Titel einer transzendentalen Ästhetik zugestehen, dass sie bereits eine im nachkantischen Sinne dialektische Vermittlung von Form und Materie vollzieht, ohne dass damit das kritisch-idealistische Resultat dieser Vermittlung - i.e. dass es sich bei deren Gegenstand objektiv betrachtet um subjektive Bedingungen der Sinnlichkeit handelt - zu revidieren wäre. So dient Kants transzendentale Ästhetik der negativen Dialektik als Idealtyp einer logischen, aber final negativ ausgehenden Vermittlungsleistung - einer Konstruktion, die ihre eigene Abschlussgestalt nicht mit dem Ganzen verwechselt. (ii) Zweitens ist auf den scheinbar nebensächlichen, aber doch seltsamen Um‐ stand hinzuweisen, dass Kant das vierte Reflexionsbegriffspaar nicht in der zu erwartenden und heute etabliert scheinenden Reihenfolge darstellt. Es heißt bei Kant Materie und Form, und nicht, wie es doch der Kopernikanischen Wendung allein angemessen wäre, Form und Materie. Dieser Hinweis wäre eine reine Spitzfindigkeit, würde die Leibnizkritik im Amphiboliekapitel nicht genau diese Umkehrung inhaltlich vollziehen. Kant rechnet Leibniz unter anderem vor, sein Relationalismus von Raum und Zeit entstehe deshalb, weil dieser in vorkopernikanischer Manier denkt, die logi‐ sche Materie des Begriffs gehe der Form von bestimmten Einzeldingen voran. 103 Die Materie wäre dann etwas an sich Bestehendes, das gleichwohl formbestimmt wäre - aus kantischer Sicht eine contradictio in adiecto. Leibniz aber konnte die Erscheinungen (gleichsam in leerer fröhlicher Fahrt) ‹intellektuieren›, weil er die radikale Ungleichartigkeit von Sinnlichkeit und Denken nicht hinreichend würdigte. Die Erscheinungen zu intellektuieren bedeutet, sie nach Maßgabe des Denkens zu interpretieren - d.-h., das reflexive Verhältnis von Materie und Form mit einem dynamischen Erscheinungszusammenhang zu verwechseln. Im Ver‐ stand geht nämlich, gemäß Kant und den aristotelischen Logikern, «die logische Materie» dem «Verhältnis derselben» vor, insofern das lose Begriffsmaterial «ver‐ mittelst der Copula» erst zur spezifischen Urteilsform verbunden werden muss. 104 Der Verstand erfordert also zur Ausübung seiner Legislativgewalt, dass ihm etwas zur Bestimmung vorgelegt werde (Allgemeinbegriffe), das er zu bestimmen 362 D. Materie und Form <?page no="363"?> 105 Kant, KrV A 275/ B 331. 106 Ibidem. 107 Kant, KrV, A 267f./ B 323f. vermag, indem er es zu einem Urteil verbindet. Dieses Erfordernis auf die Dingwelt projizieren heißt, das Verhältnis zwischen den Dingen analog zum Verstand als sekundär zu deren Gegebenheit zu konzipieren. Der Relationalismus von Raum und Zeit besteht folglich darin, die Dinge als Materie ihrem formalen Verhältnis in Raum und Zeit vorhergehen zu lassen. Danach kann für den Rationalisten Leibniz kein Zweifel bestehen, dass die Dinge im Raum Grundlage des Raums sind und nicht umgekehrt. Der relationalistische «Lehrbegriff desselben [Leibniz, C.M.] von Zeit und Raum, darin er diese Formen der Sinnlichkeit intellektuierte», sei deshalb aus einer «Täuschung der transzendentalen Reflexion entsprungen», meint Kant. 105 Gemeint ist die Täuschung, wonach die ordnungsprinzipielle Notwendigkeit von Grund-Folge-Verhältnissen mit einer «Ordnung in der Ge‐ meinschaft der Substanzen» verwechselt und die Zeit für «die dynamische Folge ihrer Zustände» gehalten wird. 106 Kants Amphiboliekritik muss entsprechend darauf bestehen, dass das Ver‐ hältnis von Materie und Form kopernikanisch umgewendet wird und die Form ihr Prius einfordert. Denn: Der Intellektualphilosoph konnte es nicht leiden: daß die Form vor den Dingen selbst vorhergehen, und dieser ihre Möglichkeit bestimmen sollte; eine ganz richtige Zensur, wenn er annahm, daß wir die Dinge anschauen, wie sie sind (obgleich mit verworrener Vorstellung). Da aber die sinnliche Anschauung eine ganz besondere subjektive Bedingung ist, welche aller Wahrnehmung a priori zum Grunde liegt, und deren Form ursprünglich ist: so ist die Form für sich allein gegeben, und, weit gefehlt, daß die Materie (oder die Dinge selbst, welche erschienen) zum Grunde liegen sollte (wie man nach bloßen Begriffen urteilen müßte), so setzt die Möglichkeit derselben vielmehr eine formale Anschauung (Zeit und Raum) als gegeben voraus. 107 Mit anderen Worten, die transzendentale Ästhetik vollzieht die kopernikanische Umwendung des logischen Materie-Form-Verhältnisses in ein transzendentallogi‐ sches: Die Form (Raum und Zeit) geht dem Räumlichen und dem Zeitlichen zwar nur als Erscheinung für uns (! ) voran; die Dinge an sich aber werden in Ruhe gelassen und damit vor der Verwechslung mit der Form ‹Materie› bewahrt. Wie auch bei den anderen Reflexionsverhältnissen geht die Amphiboliekritik auch mit Blick auf Materie und Form mit einer weitreichenden Unterscheidung einher: den Unterschied von Sinnlichkeit und Denken, den die Intellektualisten und Sensualisten zwanghaft einebnen müssen, «da sie einander doch so schön 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 363 <?page no="364"?> 108 Ibidem, A 501/ B 529. 109 Vgl. z.B. Hans Cornelius, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Erlangen 1926, S.-8-23. 110 Vgl. Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S.-230. widerlegen können». 108 Kants Gedanke der Form aber denkt die beiden An‐ sprüche als wechselseitig bestimmt: Die Form ist in der transzendentalen Ästhetik als Form der Erscheinungsmaterie ausgewiesen worden; die Materie als substantia phaenomenon - zunächst einfach mal ohne den «negativen Nebengedanken» des Dings an sich. Der Gedanke des Dings an sich erhält seinen ‹positiven Sinn› als ‹negativer› Gedanke, wie in Abschnitt A/ 3 gezeigt, aus der Dynamik der Kritik. Diese Dynamik haben wir soeben als die Umkeh‐ rung des Prioritätsverhältnisses zwischen Materie und Form gekennzeichnet. Im kritischen Idealismus soll neu also die Form der Materie vorangehen. VI. Ist damit aber nicht das Gegenteil eines transzendentalen Idealismus bezeichnet, nämlich ein transzendentaler Realismus, wenn der Materie ihr Eigenrecht in diesem Gefüge aberkannt und diese auf eine Wechselbestimmtheit der subjek‐ tiven Form reduziert wird? So zu fragen, bedeutet, die Pointe des kritischen Idea‐ lismus zu verkennen. Die idealistische Kritik am transzendentalen Realismus versteht sich nämlich immer schon als die zweideutige Maßnahme, das Objekt der Erkenntnis im Modus der Rückwendung auf die konstituierende Leistung einer transzendentalen Subjektivität zu thematisieren, ohne mit der Intention auf Subjektivität einen ontologischen Anspruch zu erheben. Die formalistische Reduktion des Seienden gemäß der Formvorgabe der Subjektivität führt daher ein weitreichenderes wechselbestimmtes Implikat mit sich - den erwähnten negativen Nebengedanken des Dings an sich. Während es Tendenzen im Neu‐ kantianismus gab, die diesen als den «Grundfehler der Kritik» 109 wegargumen‐ tieren wollten, besteht Adornos Kantinterpretation auf der Emphase, dass ohne diesen Nebengedanken der kritische Idealismus tatsächlich ein unkritischer Realismus der Form wäre. Der kopernikanische Formalismus allein vermag nämlich, die Vieldeutigkeit der materialen Welt in sich zu fassen. Denn nur er kann die Materie durch Reflexion auf deren durchgängig einfältige Vorfor‐ miertheit nach Maßgabe des Subjekts thematisieren. Die zur Schau gestellte Einfalt der formbestimmten Bezugnahme auf Materie überformt damit nicht mehr länger die Gegenstände der Sinnlichkeit als formbestimmte Dinge an sich. Der nicht mehr wegzudisputierende ‹negative Nebengedanke› 110 anerkennt das Konstituierte in seiner Wechselbestimmtheit durch die Form und damit zugleich, freilich indirekt, in seinem Eigenrecht als sinnliche Materie. Oder, wie Kant es in 364 D. Materie und Form <?page no="365"?> 111 Kant, AA IV, S.-374. 112 Die Antwort auf die Frage, die Kant selbst im Text gleich nachfolgend liefert, besteht nicht zufällig in einem Hinweis auf das Resultat der ‹Transzendentalen Ästhetik›: «Die Auflösung dieser Schwierigkeit beruht auf etwas, was man sehr leicht aus dem Zusammenhange der Schrift hätte einsehen können, wenn man gewollt hätte. Raum und Zeit, samt allem, was sie in sich enthalten, sind nicht die Dinge, oder deren Eigenschaften an sich selbst, sondern gehören bloß zu Erscheinungen derselben; bis dahin bin ich mit jenen Idealisten auf einem Bekenntnisse. Allein diese, und unter ihnen vornehmlich Berkeley, sahen den Raum vor eine bloße empirische Vorstellung an, die ebenso, wie die Erscheinungen in ihm, uns nur vermittelst der Erfahrung oder Wahrnehmung, zusamt allen seinen Bestimmungen bekannt würde; ich dagegen zeige zuerst: daß der Raum (und ebenso die Zeit, auf welche Berkeley nicht Acht hatte) samt allen seinen Bestimmungen a priori von uns erkannt werden könne, weil er sowohl, als die Zeit uns vor aller Wahrnehmung, oder Erfahrung, als reine Form unserer Sinnlichkeit beiwohnt, und alle Anschauung derselben, mithin auch alle Erscheinungen möglich macht.» Kant, AA IV, S.-374f. 113 Adorno, NaS IV 4, S.-353. 114 Ibidem. Reaktion darauf, dass man seinen Formalismus als unkritischen Formidealismus lesen wollte, in den Prolegomena ausdrückt: Der Grundsatz, der meinen Idealism durchgängig regiert und bestimmt, ist da‐ gegen: ‹Alles Erkenntnis von Dingen, aus reinem bloßen Verstande, oder reiner Vernunft, ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit.› Das ist ja aber gerade das Gegenteil von jenem eigentlichen Idealism; wie kam ich denn dazu, mich dieses Ausdrucks zu einer ganz entgegengesetzten Absicht zu bedienen, und wie der Rezensent, ihn allenthalben zu sehen? 111 Adornos Philosophie liefert eine Antwort auf die Frage zum Schluss dieses Passus. 112 Der kritische Idealismus läuft für Adorno nämlich darauf hinaus, dass in die Vermittlungsstruktur von Form und Materie ein «Unterschied der Gewichte» 113 eingetragen wird, der jeden absoluten Idealismus krass widerlegt. Dieser Unterschied ist von größter Wichtigkeit für die Frage, wie negative Dialektik möglich ist. Sie ist es nämlich nur als Inanspruchnahme dieses Unter‐ schieds der Gewichte. Der Unterschied besagt gemäß Adorno das Folgende: «Es ist etwas ganz anderes zu sagen, daß die Formen vermittelt sind durch die Inhalte, auf die sie sich beziehen, als zu sagen, daß die Inhalte vermittelt sind durch die Formen, auf die sie sich beziehen.» Denn: Die Formen, in der Tat, sind wesentlich durch Inhalte vermittelt und können ohne Inhalte überhaupt nicht gedacht werden. In den Inhalten aber steckt immer auch etwas drin wie der Hinweis auf das, was in Form nicht ganz aufgeht, was in Form eigentlich nicht ganz sich erschöpft. 114 1. Constituens und Constitutum (ii): Adornos Interpretation der transzendentalen Ästhetik 365 <?page no="366"?> 115 Ibidem. Mit Blick auf die Anschauungsformen Raum und Zeit konnte leicht nachge‐ wiesen werden, dass sie wesentlich durch Inhalte vermittelt sein müssen, ansonsten die Allgemeinverbindlichkeit der Form gar nichts zu bedeuten hätte. Dass in dem Inhalt des durch die Anschauungsformen Vermittelten also mehr drinsteckt, dürfte der Kant der «Transzendentalen Ästhetik» ebenfalls ohne Umwege zugeben. Denn darin vollzieht Kant eine Vermittlung der Vorausset‐ zungen von Erkenntnis mit den Erkenntnisgegenständen, die den holistischen Anspruch der Vermittlung mit dessen Limitation zusammenzudenken vermag - ohne je das Objekt der Erkenntnis, das raumzeitlich Konkrete, aus den Augen zu verlieren. So sieht Adorno im formalen Idealismus latent ein materialistisches Motiv ausgedrückt: nämlich eben das, daß die Vermitteltheit des Unmittelbaren doch in gewisser Weise etwas anderes, nicht dasselbe ist wie die Vermit‐ teltheit der Formen durch die Unmittelbarkeit selber ihrerseits; wie die Vermitteltheit des Vermittelten. Dieses Moment ist nun wohl im Tiefsten identisch mit […] dem Moment des Blocks, von dem ich Ihnen so oft gesprochen habe, daß es hier einen Vorrang gegenüber der Form gibt, der eigentlich gar nichts anderes besagt, als daß unsere Erkenntnis eben doch sich nicht in ihrer reinen Vermittlung, in ihrem reinen Formsein erschöpft, sondern daß sie gebunden bleibt an etwas, worauf sie sich bezieht. 115 Die «Transzendentale Ästhetik» Kants dient Adorno als Vorlage einer bündigen Artikulation des Vorrangs dessen, was nicht im Formsein aufgeht, - des zeitlich und räumlich Differenzierten, von dem Kant schreibt, es genüge seine Stelle innerhalb des Formgefüges, um einzusehen, dass es in seiner Besonderung mehr enthält, als unsere auf Allgemeingültigkeit drängenden Begriffe, Urteile und Schlüsse einfangen könnten. Die in der transzendentalen Ästhetik erörterte Formbestimmtheit noch des Unmittelbarsten gemäß Raum und Zeit artikuliert indirekt den Vorrang der Materie der Erkenntnis - sonst wäre Kant ein trans‐ zendentaler Realist. Die Indirektheit, mit welcher Kant die Absolutheit von Raum und Zeit versieht, wäre folglich nachzuvollziehen als die Einsicht, dass die Formen des Nebeneinanders und Nacheinanders ein grundsätzlich undenkbares Differenzierungsgeschehen kommensurabel machen. Dass diese Kommensura‐ bilität eine Wechselbestimmtheit des Inkommensurablen und Nichtidentischen der Materie darstellt, daraufhin tastet Adorno den kantischen Formalismus ab. Es dürfte danach nicht mehr schwer sein, zu sehen, inwiefern die Kantausle‐ gung Adornos eine Aneignung systematischer Momente beschreibt. Während die adornosche Philosophie überall der Vermitteltheit von Form und Inhalt detekti‐ visch nachspürt, zieht sie die Konsequenz aus den Indizien der Vermitteltheit 366 D. Materie und Form <?page no="367"?> 116 Adorno, NaS IV 4, S.-263. 117 Hermann Cohen, «Zur Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer», in: Zeitschrift Für Völkerpsychologie Und Sprachwissenschaft 7, 1871, S.-249-296, hier: 250. von Form und Inhalt: deren Wechselbestimmtheit und irreduktible Differenz. Zu einem früheren Zeitpunkt in der Kantvorlesung hieß es entsprechend, «es wäre eine Aufgabe, die einmal wirklich ernsthaft angefaßt werden müßte, zu zeigen, wie gerade der scheinbar extreme Formalismus der Kantischen Philo‐ sophie in sich Momente eines Umschlags ins Materiale geradezu enthält». 116 Der Formalismus der transzendentalen Ästhetik gibt dabei durch die Subtilität seines Reflexionsgeschehens vor, wie sich die Dialektik aus sich heraus limitieren kann, ohne etwas von dem Nachdruck der hegelschen Dialektik, das Formale zu erweitern, einbüßen zu müssen. Cohen hatte also nicht nur mit Blick auf seine Zeitgenossen Trendelenburg und Fischer recht, wenn er sagte: «[W]er nicht in Kant’s transcendentaler Aesthetik heimisch ist, wird sich an den spekulativen Scheidewegen nicht zurecht finden.» 117 Dass dies auf Adorno dann in besonderem Maße zutreffen wird, hat dieser Abschnitt zu zeigen versucht. Negative Dialektik bedeutet angesichts dessen, dass der idealistische An‐ spruch auf die Wahrheit der Form zu seiner Einlösung von der Möglichkeit abhängt, das Formale durch Selbstkritik, d. h. negativ, zu erweitern und durch Kritik in inhaltlichen Reichtum umschlagen zu lassen. Die Möglichkeit des dialektischen Umschlags leerer Form in materiale Fülle soll anhand zweier Zentralgehalte der negativen Dialektik geprüft und nachvollzogen werden, des Vorrangs des Objekts (2.) und des bilderlosen Materialismus (3.). 2. Der Vorrang des Objekts I. Bei Kant ist jener Vermittlungsmodus vorgebildet, der dem negativ-dialekti‐ schen Reflexionsmodell seine spezifische Differenz gegenüber dem positivdialektischen Reflexionsmodell geben soll. Zuletzt wurde versucht, diesen Vermittlungsmodus anhand Kants Theorie der Anschauungsformen zu erhellen. Dabei wurde der formale Idealismus der transzendentalen Ästhetik als ein aufgeklärter Formalismus verteidigt. Dessen Aufgeklärtheit besteht darin, in der durchgängigen (raumzeitlichen) Formbestimmtheit aller Gegenstände keine ontologische Bestimmung, sondern - im Gegenteil - einen Index der Einfalt und des Mangels des formbestimmten Denkens zu erkennen. Die Selbsterkenntnis des formbestimmten Denkens gelangt bei Kant zu einer Darstellung, die sich nur als Kritik an all jenen angemessen verstehen lässt, welche vorgeben, über die 2. Der Vorrang des Objekts 367 <?page no="368"?> 118 Kant, KrV, A 275/ B 331. 119 Ibidem, A 280/ B 336. Verhältnisbestimmtheit der Erscheinungswelt hinaus etwas, das nicht verhält‐ nisbestimmt zur Form wäre, d. h. an sich positiv zu erfassen. Der Formalismus Kants ist eine kritische Darstellung der Form, insofern hier deren Universalität und deren Beschränktheit zusammengedacht werden. Die ‹Gegenstände› der transzendentalen Ästhetik - die Sinnlichkeit und ihre Formen - sind hiernach als Anwendungsfälle des Reflexionsverhältnisses Ma‐ terie und Form zu begreifen. Denn das formbestimmte Denken kann nur sagen, was Raum und Zeit sind, wenn es in deren Universalität seinen eigenen univer‐ salen Anspruch auf die Erscheinungswelt gespiegelt sieht. Diese (Selbst-)Refle‐ xion im Gegenstand offenbart an der durchgängigen Verhältnisbestimmtheit der Sinnenwelt, statt die transzendentale Realität von Raum und Zeit, den transzendentalen Unterschied von Form und Materie. Raum und Zeit werden hierüber als notwendig in Anspruch zu nehmende Undinge ausgewiesen. Undinge - denn als reine Formen der Anschauung sind Raum und Zeit zugleich ideal und real, unendlich und endlich, universal und eingeschränkt. Die problematische Inanspruchnahme solcher Undinge in der «Ästhetik» an‐ tizipiert den regulativen Anspruch der spekulativen Idee des Weltganzen in Erweiterung zur physikalisch-naturwissenschaftlichen Welterschließung: Den dialektischen Ideen des raumzeitlichen Ganzen korrespondiert ja gerade nichts Gegenständliches - sie bleiben die Undinge der «Ästhetik»; wohl aber beschreibt die dialektische Kritik der Metaphysik dann einen Modus der Reflexion, in dem sich diese Undinge indirekt als etwas an sich Seiendes thematisieren lassen, ohne das Ansichseiende subjektiv zu überformen. Die Brücke zwischen «Ästhetik» und «Dialektik» schlägt dann der sich selbstlimi‐ tierende Formalismus des Amphiboliekapitels. Dieser wurde zum Schluss des vorigen Abschnitts am kopernikanisch gewendeten Form-Materie-Verhältnis veranschaulicht. Durch die Priorität der Form vermag das aufgeklärte Denken, zwischen seiner verhältnisbestimmten Zugabe und den Dingen selbst zu unterscheiden, mithin «die Täuschung der transzendentalen Reflexion» 118 zu vermeiden, von der sonst sogar «der scharfsichtigste […] unter allen Philoso‐ phen» nicht verschont blieb. 119 Entsprechend hat sich gezeigt, dass Adornos hermeneutischer Vorgriff auf die ursprüngliche Vermitteltheit von Form und Materie bei Kant der Sache angemessen ist. Das Prius der Form als solches ist nur als Gegenstand der transzendentallogischen Reflexion verwechslungsfrei in Anspruch zu nehmen. Wäre Kants transzendentale Ästhetik nicht bereits eine Funktion der Logik, 368 D. Materie und Form <?page no="369"?> 120 Kant, AA IV, S.-289. 121 Adorno, GS 10.2, S.-741. 122 Vgl. Adorno, GS 6, S. 185: «[…] nicht zufällig mahnt subiectum, das zugrunde Liegende, an eben das, was die Kunstsprache der Philosophie objektiv nannte.» dann wäre Kant Berkeley. Generell lässt sich daher sagen: Kant bringt mit dem Amphiboliekapitel die logische Unmöglichkeit zum Ausdruck, den objektiven Gehalt eines Reflexionsbegriffs als getrennt vom jeweils anderen zu intendieren. Dies betrifft daher auch alle ‹transzendentalen› Verhältnisse zwischen Form und Materie der Erkenntnis; das eine impliziert das andere, ohne dass das wechselseitige Implikationsverhältnis von Form und Materie eine ontologische Bestimmung darstellen würde. Es bleibt ein bloßes Reflexionsverhältnis. Wer Kant dennoch den ‹Formalismus› zum Vorwurf machen möchte, hat daher primär ein Problem mit Kritik - und nur sekundär mit dem Mangel der Abstraktheit, der ohnehin auch den eigenen Ansatz einholen wird. Der formale Idealismus aber genügt dem obersten Kriterium, dem (gemäß Adorno) die Dialektik zu genügen hätte: Er kann sich gegen sich selbst wenden, ohne sich preiszugeben. Mehr noch: Er gewinnt sein Selbstverständnis als Idealismus erst in der Wendung gegen den Idealismus: «Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegentheil davon.» 120 II. Die Unmöglichkeit, Reflexionsbegriffe unabhängig voneinander zu intendieren, ohne sogleich den anderen Begriff über das Ausschlussverhältnis mitzumeinen, überträgt sich im Zuge von Adornos dialektischer Transformation des kanti‐ schen Reflexionsmodells auch auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Weder Subjekt noch Objekt sind, ohne einander mitzumeinen, für sich zu denken. «Denn: beide Bedeutungen bedürfen einander reziprok; kaum ist die eine ohne die andere zu fassen.» 121 Subjekt und Objekt sind für Adorno deshalb Wechselbestimmungen. Deren Wechselbestimmtheit ist zunächst sogar alles, was wir haben, um die Bedeutung von Subjekt und Objekt zu spezifizieren; das Subjekt ist nicht das Objekt, das Objekt ist nicht das Subjekt. Ihre konkrete Be‐ deutung kann sich erst aus der Sachlage eines konkreten Bestimmungsvollzugs ergeben. So kann in der Philosophie mit ‹Subjekt› mal das Erkenntnissubjekt, mal die Sache selbst gemeint sein, welche ersterem gegenüber gerade das Objekt wäre (z. B. das ὑποκείμενον eines Urteils) 122 , während wir umgekehrt, etwa in Selbstbewusstseinsdebatten, oft einer Redeweise begegnen, die das Erkenntnissubjekt scheinbar problemlos als ihr Objekt zu thematisieren vermag. Ohne hier zu prüfen, was wo rechtens wäre, ist es doch augenfällig, dass die offenbare Mehrdeutigkeit der Begriffe ‹Subjekt› und ‹Objekt› ihrer Bestimmt‐ 2. Der Vorrang des Objekts 369 <?page no="370"?> 123 Adorno, GS 10.2, S.-741. 124 Ibidem, S.-746. 125 Zur Problematik des Definierens bei Kant vgl. den vorigen Abschnitt und bei Adorno zumal ders., NaS IV 1, S.-72ff. 126 Adorno, GS 10.2, S.-742. heit keinen Abbruch tut. Es scheint fast, als ob wir vorweg wissen, was mit Subjekt und Objekt gemeint ist, weil wir nicht konkret sagen können, was das genau ist. Die Allgemeinheit und die Unbestimmtheit von Subjekt und Objekt scheinen ihrerseits wechselbestimmt: Subjekt und Objekt müssen sich überall vergegenwärtigen lassen können und dürfen doch nirgendwo konkret an einem Etwas festzumachen sein. Adorno sieht im Fall von Subjekt und Objekt deshalb eine konstitutive Mehrdeutigkeit vorliegen: «Die Äquivokation ist nicht einfach durch terminologische Klärung wegzuräumen.» Er verwendet als Beispiel für diese konstitutive Mehrdeutigkeit einmal mehr die Mehrdeutigkeit im Begriff des Subjekts, wonach dieses als Allgemeines nie nur allgemein sein kann, sondern das Mal des Besonderen - «bei Schelling Egoität genannt» 123 - tragen muss, um uns in seiner abstrakten Allgemeinheit überhaupt etwas zu bedeuten; wie umgekehrt jedes Einzelsubjekt durch das Allgemeine einer Subjektivität vermittelt gedacht werden muss, ansonsten nicht einmal ‹Ich› gesagt werden könnte. «Nicht nur fetischistisch ist Denken dem Einzelnen vorgeordnet.» 124 Adorno schreibt den Begriffen Subjekt und Objekt deshalb, wenn sie für sich betrachtet werden, einen aporetischen Grundzug zu. «Wollte man […] die beiden Termini [Subjekt und Objekt, C.M.] definieren, so geriete man in eine Aporie, die zu der von der neueren Philosophie seit Kant stets wieder gewahrten Problematik des Definierens hinzutritt.» 125 Die Aporetizität von Subjekt und Objekt wiederum führt Adorno auf deren «Priorität vor aller Definition» zurück: In gewisser Weise nämlich haben die Begriffe Subjekt und Objekt, vielmehr das, worauf sie gehen, Priorität vor aller Definition. Definieren ist soviel wie ein Ob‐ jektives, gleichgültig, was es an sich sein mag, subjektiv, durch den festgesetzten Begriff einzufangen. Daher die Resistenz von Subjekt und Objekt gegens Definieren. Ihre Bestimmung bedarf der Reflexion eben auf die Sache, welche zugunsten von begrifflicher Handlichkeit durchs Definieren abgeschnitten wird. 126 Es wäre folglich auch sinnlos zu sagen, was ‹das Subjekt› und was ‹das Ob‐ jekt› sei, ohne «Reflexion auf die Sache» - d. h., ohne auf den subjektiven Bestimmungsvollzug zu achten, über den allein die Begriffe ‹Subjekt› und ‹Ob‐ jekt› objektive Bedeutung erlangen können. ‹Subjekt› und ‹Objekt› sind unde‐ finierbare Bestimmungen, die das durch sie Bestimmbare als unbestimmte 370 D. Materie und Form <?page no="371"?> 127 Ibidem. 128 Adorno, GS 10.2, S.-747. 129 Ibidem, S.-742. Forderung in sich tragen. Durch diese konstitutive Unbestimmtheit sind die Termini Subjekt und Objekt zunächst eben nur wechselbestimmte Reflexions‐ momente und gerade aufgrund ihrer Wechselbestimmtheit an nichts Konkretem festzumachen; ohne diese Wechselbestimmtheit aber, die sie der Konkretisie‐ rung anfänglich enthebt, wären Subjekt und Objekt aber nur nichts. «Deshalb empfiehlt es sich», meint Adorno in Zu Subjekt und Objekt, «die Worte Subjekt und Objekt zunächst so zu übernehmen, wie sie die Geschichte an die Hand gibt; nur freilich nicht bei solchem Konventionalismus zu verharren, sondern kritisch weiter zu analysieren». 127 Subjekt und Objekt sind für Adorno problemgeschichtlich bestimmte Bestimmungen, die erst dann als gehaltvolle Bestimmungen zu erachten sind, wenn sie innerhalb einer Reflexionsstruktur bestimmbar werden, die um die vorgängige Leere der überlieferten Begriffe weiß. Deren inhaltliche Erfüllung erfordert folglich eine Reflexion darauf, dass die formale Allgemeinheit der Reflexionsbestimmungen nur im Konkreten bestimmbar ist, ansonsten deren Allgemeinheit und deren Konkretion mitein‐ ander verwechselt werden. Konkretion bedeutet hier das Hinzutreten des Bestimmbaren zum apriorisch äquivoken Einerlei der Begriffe: «Denn einzig als Bestimmtes wird das Objekt zu Etwas.» 128 III. Wie aber kann nun Reflexivität als solche zum Objekt werden und gleichsam als «Etwas» hinzutreten, um die Begriffe ‹Subjekt› und ‹Objekt› mit Bestimmt‐ heit zu erfüllen? Das subjektive Reflexionsgeschehen soll ja gerade jeder Bestim‐ mung vorausliegen. Wie erlangen die Begriffe ‹Subjekt› und ‹Objekt› also jene Konkretion, die sie uns durch ihre konstitutive Unbestimmtheit antizipieren lassen? Adorno: Anzuheben wäre mit der angeblich naiven, wenngleich selber schon vermittelten Ansicht, daß ein wie immer auch geartetes Subjekt, ein Erkennendes, einem gleichfalls wie immer auch gearteten Objekt, dem Gegenstand, gegenüberstehe. 129 Anzuheben wäre also, mit anderen Worten, bei der problemgeschichtlichen Bestimmtheit der Begriffe durch die kantische Erkenntnistheorie. In der Tat ist demnach das, was man Adorno gerne vorwirft, also wahr: Gemäß Adorno hat sich die Philosophie den Aporien der Bewusstseinsphilosophie zu stellen. Denn: Derlei Aporien zu meistern ist die perennierende Anstrengung der Erkenntnistheo‐ rien, und keiner will es gelingen; eine jegliche steht unter dem Fluch des Anaximander, 2. Der Vorrang des Objekts 371 <?page no="372"?> 130 Adorno, GS 5, S. 32. Adorno verweist hier auf das berühmte vorsokratische Frag‐ ment Anaximanders, wonach alles, was an Bestimmtheit gewinnt aus dem Unbe‐ stimmten entsteht, um darin auch wieder zugrunde zu gehen, weil es sich durch seine Bestimmtheit an der Unbestimmtheit des Ganzen des gleichförmigen Nacheinan‐ ders ‹verschuldet› hat (es ist, kantisch gesprochen, nur als Einschränkung des unbe‐ stimmten Ganzen bestimmt) und insofern ‹die Strafe› seines Untergangs entrichten muss. In Nietzsches Übersetzung aus Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie‐ chen: «Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen nach der Notwendigkeit, denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.» Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV, Nachgelassene Schriften 1870-1873, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, Berlin/ New York 1988, S. 818. Für Adorno ist dieser Rechtsbegriff die Äquivalenzform des Unrechts: «Recht, das sich als Buße des Unrechts bestimmt, gleicht diesem an sich und wird damit selber zum Unrecht […].» Adorno, GS 13, S. 112. Vgl. dazu Adorno mit kritischem Blick auf Wagner sowie auf die Übersetzung und Interpretation bei Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1956, S. 296-345; Adorno, GS 13, S. 112f. - und mit kritischem Blick auf die herakliteisch verfahrende Dialektik, vgl. ders., GS 8, S. 234. Adorno hat den Spruch durchgehend kritisch rezipiert und - für das Vorliegende bedeutsam - als Kontrastfolie benutzt, um die Differenz zwischen Kant und Hegel zu bestimmen: «Noch an Hegel bewährt sich jenes Philosophem, daß dem, was zugrunde geht, sein eigenes Recht widerfährt; als urbürgerlicher Denker untersteht er dem urbürgerlichen Spruch des Anaximander. Ohnmächtig wird die Vernunft, das Wirkliche zu begreifen, nicht bloß um der eigenen Ohnmacht willen, sondern weil das Wirkliche nicht die Vernunft ist.» Adorno, GS 5, S.-323. 131 Entsprechend hat das, was bei Adorno ‹Metakritik› heißt, nicht viel mit der Tradition einer vorkritischen Metakritik zu tun, sondern ist aus einer an Kant orientierten Reflexionspraxis heraus zu verstehen. Vgl. die Bemerkung in der Einleitung zu Der Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre: «Wo Erkenntnis nicht angestrebt wird, sondern die Erkenntnisse nach dem Maß anderer, von Erkenntniskri‐ terien unabhängiger Maßstäbe gemessen werden, hat wissenschaftliche Kritik ihr Recht und ihr Interesse verloren. Wir finden den vorkritischen Gegensatz gegen die Bewußt‐ seinsphilosophie Kants am reinsten ausgeprägt bei Hamann, dessen mythologischer Sprachbegriff, Instrument der Bekämpfung der Kantischen Dualität von Sinnlichkeit und Verstand und damit eines der Grundprinzipien rechtsausweisender Bewußtseins‐ analyse, unvermittelt und unkritisch aus der Offenbarungslehre übernommen ist. Vorkritisch scheint uns auch die an Hamann orientierte Metakritik von Herder dessen Seinsphilosophie, eine der frühesten, gleichsam das spätere Schicksal aller weissagte. 130 Man könnte nun meinen, mit diesem Schritt von der erkenntnistheoretischen Kritik zur Metakritik der Erkenntnistheorie sei auch die Aporetik als Problem erledigt. Eine Metakritik der Erkenntnistheorie kann jedoch nicht so auf das Reflexionsgeschehen im Rücken der Erkenntnistheorie zugreifen, als ob sie selbst eine Theorie der Erkenntnis wäre, d. h., über Maßstäbe verfügte, die unabhängig von den reflexiv ermittelten Erkenntniskriterien wären. 131 Vielmehr 372 D. Materie und Form <?page no="373"?> und ebenso nimmt die Gefühls-Glaubenslehre von Jacobi nicht in einer Weise von den Problemstellungen der Vernunftkritik als einer Begründung wissenschaftlicher Erkenntnis ihren Ausgang, die ihre Behandlung im Rahmen einer Auseinandersetzung mit den Philosophien des Unbewußten als wissenschaftlichen Philosophien notwendig machte.» Adorno, GS 1, S.-92. 132 Adorno, GS 5, S.-32. gilt es, die Aporien der Erkenntnis zunächst (! ) als Schicksal anzuerkennen und auf dieses zu reflektieren, ohne das Ziel der Erkenntnis aus den Augen zu lassen, das darin besteht, dem Schicksal zu entkommen und die Leere von Subjekt und Objekt ins Materiale umschlagen zu lassen. Kurz: Metakritik der Erkenntnistheorie erheischt die konstruierende Reflexion ihres Zu‐ sammenhangs als eines von Schuld und Strafe, von notwendigem Fehler und vergeb‐ licher Korrektur. Mit anwachsender Entmythologisierung wird der philosophische Begriff immer spiritueller und immer mythischer zugleich. 132 Die Metakritik hat also das Problem, dass das Reflexionsgeschehen, das sie zum Objekt der Untersuchung macht, selber bereits vermittelt ist durch Reflexion. Anders gesagt, auch die Metakritik tritt nicht aus der Dialektik der Kritik heraus; sie kann sich dem Umschlag der entmythologisierten Allgemeinheit in unwahre Partikularität nicht entziehen und muss folglich in den Zusammenhang «von notwendigem Fehler und vergeblicher Korrektur», den sie hinter sich lassen möchte, selber korrigierend eingreifen. Wie soll sich die metakritische Philosophie der problemgeschichtlich ver‐ erbten Aporetik des Subjekt-Objekt-Verhältnisses also stellen? Soll sie das Sub‐ jekt-Objekt-Verhältnis aufgrund seiner Allgegenwart als ontologische Grund‐ bestimmtheit in Anspruch nehmen dürfen? Oder sollte sie in der Allgegenwart durch Unbestimmtheit einen Mangel erkennen, mithin als Anlass nehmen zu einer Engführung der Reflexion mit korrigierender Selbstkritik? IV. Die Reflexionsmodelle Adornos und Kants jedenfalls stellen den Umstand, dass die Allgegenwart des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ihrer Undefinierbarkeit - kurz: einem Mangel an Erkenntnis - geschuldet ist, als einen Grund zur Kritik dar. Erst die Durchführung der reflexiven Kritik würde dann den universellen Anspruchsgehalt des Subjekt-Objekt-Verhältnisses einlösen. Andere versuchen dagegen (Kant zum Trotz), in der Mehrdeutigkeit der Reflexionsverhältnisse die philosophische Dignität des Universellen wiederzuerkennen. Letztere stellen entweder direkt in Abrede, dass es sich bei den Reflexionsbegriffen überhaupt um Aporien handelt. Oder sie fassen die Definitionsaporien in ihrer positiven Seite auf und möchten die spekulative Relevanz der Reflexion gegen Kant 2. Der Vorrang des Objekts 373 <?page no="374"?> 133 Um drei Beispiele zu nennen: 1. Die Abneigung Habermas’ gegen das aporetische Philoso‐ phieverständnis Adornos dürfte bekannt sein: «Die negativ-dialektische Selbstaufhebung des philosophischen Denkens führt in Aporien, die zu der Frage Anlaß geben, ob nicht diese Argumentationslage nur die Konsequenz eines der Bewußtseinsphilosophie verhafteten, an das Verhältnis von Subjektivität und Selbsterhaltung fixierten Ansatzes ist.» Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Bd.-1), S.-490. Eine jüngere Adornointerpretation zielt ebenfalls auf den Nachweis, dass Dialektik ohne Aporie zu haben ist. Vgl. Andrea Kern, «Begriffe und Kategorien I. Wahrnehmung, Anschauung, Empfindung», in: Axel Honneth/ Christoph Menke (Hg.), Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, S. 49-69, hier: 64: «Nach der dialektischen Lesart [des Vorrangs des Objekts, C.M.] gibt es keine Aporie des Erkennens. Der Gedanke, der Begriff der Erkenntnis sei aporetisch, teilt mit dem von ihm kritisierten philosophischen Subjektivismus vielmehr eine Prämisse, die wir zurückweisen können: Es ist die Prämisse, daß die Idee begrifflicher Fähigkeiten grundlegender ist als die Idee einer sinnlichen Erkenntnisfähigkeit. Aus der Perspektive der dialektischen Lesart ist die aporetische Lesart inkonsequent. Sie denkt ihre Kritik am ‹Dogma vom Vorrang des Subjekts› nicht konsequent zu Ende.» 2. Die erste und wichtigste Weichenstellung von Heideggers ontologisch gewendeter Hermeneutik des Daseins in Sein und Zeit besteht wohl darin, den Zirkel des Verstehens zu rehabilitieren, der für andere einen logischen Mangel darstellt. «Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ‹empfinden›, heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen. […] Der ‹Zirkel› im Verstehen gehört zur Struktur des Sinnes, welches Phänomen in der existenzialen Verfassung des Daseins, im auslegenden Verstehen verwurzelt ist. Seiendes, dem es als In-der-Welt-sein um sein Sein selbst geht, hat eine ontologische Zirkelstruktur.» Martin Heidegger, Sein und Zeit, S.-153; kursiv im Original. Ohne jede Polemik lässt sich also sagen: Was für andere einen Mangel darstellt, gereicht Heidegger zum ontologischen Strukturbeschrieb von Seiendem. - 3. Hans-Heinz Holz hat im Zuge des Versuchs einer Grundlegung der Dialektik Adorno offen dafür kritisiert, die Reflexionsbestimmtheit von tradierten Anspruchsgehalten als Grund zur Selbstkritik statt als spekulative Ermächtigung des Denkens zu interpretieren: «Die Natur des Denkens, Beziehungen herzustellen und also die Vielheit der Erscheinungen als Momente systematischer Ganzheiten zu verstehen, muß nicht als ein von der gegenständlichen Welt unabhängiges Vermögen des Verstandes, mithin als Eigenheit des Subjekts gesetzt werden (wie Kant das tat), sondern kann auch als eine ontologische Struktur vom Typus Widerspiegelung gedeutet werden; eine solche Deutung bedarf der Begründung in einer Ontologie, die sich auf die Erfahrungsgehalte des Mensch-Welt-Verhältnisses (oder des Verhältnisses von Denken und Sein) stützt und eine größere Erklärungskompetenz besitzen muß, als sie dem cartesischen Dualismus zukommt, der doch prima vista den Schein von Plausibilität für sich hat.» Hans-Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion, S. 110. apologetisch verteidigen, teils, indem sie sich den Gedanken der transzenden‐ talen Subjektivität ontologisch anverwandeln, teils, indem sie Reflexion und Spekulation unmittelbar miteinander engführen. 133 All jene, die die Aporien der Erkenntnistheorie nicht anerkennen, behaupten in den Augen Adornos - ob das nun deren Selbstverständnis entspricht oder nicht - den Vorrang des Subjekts. Das Reflexionsmodell Adornos beansprucht dagegen den Vorrang des Objekts. Die These lautet, dass sich dieses Reflexions‐ 374 D. Materie und Form <?page no="375"?> 134 Vgl. Adorno, GS 6, S. 86, wo Adorno gegen die Fundamentalontologie einwendet: «Weil aber Subjektivität ihre Vermittlungen nicht aus der Welt denken kann, wünscht sie Stufen des Bewußtseins zurück, die vor der Reflexion auf Subjektivität und Vermitt‐ lung liegen. Das mißlingt.» - Von Hegels spekulativer Dialektik sagt Adorno ibidem, S. 175: «Es restauriert die Verfahrungsweise des Denkens, welche Kant am älteren Rationalismus als Amphibolie der Reflexionsbegriffe mit Grund tadelt. Sophistisch wird die Hegelsche Dialektik, wo sie mißlingt.» 135 Adorno, GS 10.2, S.-747. 136 Adorno, GS 6, S.-188. 137 Adorno, GS 10.2, S.-747. modell wesentlich an Kant orientiert, was sich an den Kantbezügen Adornos klar darlegen lässt. Adorno begreift die hegelsche Reflexion der Reflexion nämlich kantisch, d. i. als gleichbedeutend einer Selbstkritik des Denkens. Im Folgenden gilt es, Adornos These vom Vorrang des Objekts aus der Dynamik einer solchen Selbstkritik heraus zu begreifen; diese These richtet sich gegen den amphibolischen Anspruch eines Reflexionsmodells, das dialektische Be‐ stimmungen unmittelbar für ontologisch relevant hält. Man kann der Dialektik seit Kant ja nur dann in positivem Sinne ontologische Relevanz zusprechen, wenn man das einmal fundierte Misstrauen gegen den Vorrang des Subjekts durch eine spekulative Vermittlung von Subjekt und Objekt wieder rückgängig machen und die intentio obliqua der Erkenntniskritik über eine Reflexion der Reflexion als intentio recta auf das Sein re-installieren würde. Warum dies nicht gelingt, möchte das Programm einer negativen Dialektik erörtern. 134 Der Vorrang des Objekts sei deshalb, so Adorno, «die intentio obliqua der intentio obliqua, nicht die aufgewärmte intentio recta; das Korrektiv der subjektiven Reduktion, nicht die Verleugnung eines subjektiven Anteils». 135 Die These vom Objektvorrang kann daher wieder nur nur indirekt - als Kritik am teils explizit gemachten, teils implizit bleibenden «Dogma vom Vorrang des Subjekts» 136 - Profil gewinnen. Wäre Adornos These direkt, gleichsam naiv, auf das Objekt anstatt auf das Subjekt gerichtet, wäre diese nur «die aufgewärmte intentio recta» einer vorkritischen Subjektivitätsphilosophie. Entsprechend haben wir zwei Vorgaben gefasst, gemäß derer Adornos These vom Vorrang des Objekts zu rekonstruieren ist. Die erste Vorgabe besteht darin (1), dass die Bestimmung ‹Objekt› als Funktion innerhalb der subjektiven Reflexionsdynamik Bestimmtheit erlangen muss, um überhaupt als «Objekt ungeschmälerter Erfahrung» 137 thematisiert werden zu können. Auch nach Darlegung des Vorrangs des Objekts kann das Objekt nicht direkt intendiert werden - «nicht die Verleugnung eines subjektiven Anteils» wird hier angestrebt, sondern die Revision der notwendigen «Vorentscheidung für 2. Der Vorrang des Objekts 375 <?page no="376"?> 138 Vgl. Adorno, GS 6, S.-531. 139 Im Zuge der Edition der Negativen Dialektik ist der dreiseitige Abschnitt mit dem Titel «Vorrang des Objekts» versehen worden (vgl. Adorno, GS 6, S. 184-187). Das Problem wird zudem im Aufsatz Zu Subjekt und Objekt (ders., GS 10.2, S. 741-758) abgehandelt, woraus bereits mehrfach zitiert worden ist. 140 Adorno, GS 6, S.-185. den Idealismus». 138 Die zweite Vorgabe besteht darin (2), dass die besagte Reflexionsdynamik als problemgeschichtlich artikulierte Kritik der spekulativen Dialektik nachzuvollziehen ist, ansonsten der spezifisch negativistische Sinn von Adornos dialektischem Objektbegriff gänzlich unsagbar bliebe. ad (1): Adornos These vom Vorrang des Objekts ist zunächst dem Grundge‐ danken nach darzulegen. Sie findet ihre prägnanteste Ausformulierung in dem betreffenden Abschnitt der Negativen Dialektik. 139 Für das Verständnis der Formulierung ist es allerdings unerlässlich, sie von der erwähnten dialektischen Wechselbestimmtheit von Subjekt und Objekt her zu lesen; Subjekt und Objekt bleiben zunächst untrennbar miteinander vermittelt. Aber: Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein. 140 Der Schlüssel, um die These vom Vorrang des Objekts zu verstehen, liegt in dem mittleren Satz versteckt: «Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes […].» Zunächst geht dieser Satz von der Trivialität aus, dass kein Objekt denkbar ist, außer jenes, auf das sich ein Subjekt bezieht. Kein Objekt ohne Subjekt. Worin besteht dann aber der Vorrang des Objekts? Die Antwort Adornos lautet: Während das Objekt nicht anders zu denken ist als «durch Subjekt», ist das Objekt auf der anderen Seite zugleich als selbstständig gegenüber dem Subjekt zu begreifen. Es «erhält sich» dem Subjekt «gegenüber immer als Anderes». Hierin liegt offensichtlich ein Widerspruch vor, auf den Adornos Argument gezielt hinaus möchte: Das Objekt nicht als wechselbestimmt durch das Subjekt zu denken, ist unmöglich; das ist strengstens so gemeint! Noch derjenige Objektbegriff, den Adorno in der Wendung vom «Vorrang des Objekts» verwendet, ist kein anderer als jener, der durchgängig wechselbestimmt durch das Subjekt ist. Der Schlüssel zur negativen Dialektik von Subjekt und Objekt kann also nicht in einem mysteriösen Objektgegenstand liegen. Nur schon die benannte Äquivozität 376 D. Materie und Form <?page no="377"?> 141 Vgl. Hegel, TWA 6, S.-55; ähnlich zuvor in ders., TWA 5, S.-276. 142 Hegel, TWA 5, S.-52. und die Austauschbarkeit der Begriffe ‹Subjekt› und ‹Objekt› verwehren eine solche Verwechslung des Objekts mit einem konkreten Gegenstand. Auch bei Adorno gilt - wie bei Kant: Das Objekt der Erfahrung ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Die Negativität der negativen Dialektik liegt folglich darin begründet, was Adorno unter dem «Vorrang» dieses Objekts versteht. Er meint damit den Umstand, der im zweitletzten Satz des vorigen Zitats erläutert wird. Zwar elliptisch, aber dennoch deutlich genug, besagt dieser sinngemäß: Der Idee nach sei das Subjekt vom Objekt wegzudenken, während die Idee eines Subjekts, das nicht zum Objekt werden könnte, widersinnig wäre. Der Vorrang des Objekts besagt also nicht, dass das Objekt tatsächlich ohne Subjekt zu denken ist (er besagt sogar das Gegenteil - ohne Subjekt ist Objekt nicht zu denken). Kein Objekt ohne Subjekt benennt also eine reine Denkunmöglichkeit; das subjekt‐ lose Objekt als Idee aber fasst diese Denkunmöglichkeit in seiner positiven Seite auf und nimmt ernst, was sie unterstellt: dass es dem Denken unmöglich ist, das Objekt restlos zu verinnerlichen. ‹Vorrang› heißt folglich, dass es zum Sinn von ‹Objekt› gehört, dass das Subjekt von demselben der Idee nach (nicht realiter! ) weggedacht werden könnte. Der folgenreiche Schluss, den Adorno aus diesem Befund zieht, lautet: Also muss alles Vermittlungsgeschehen zwischen Subjekt und Objekt - und selbst dasjenige, das uns den Vorrang des Objekts vor Augen führt - bloß subjektiv sein. Die Formbestimmtheit, die besagt, dass in jedem möglichen Gedanken ein Subjekt und ein Objekt unterschieden und aufeinander bezogen werden können, erfasst niemals das Ganze. Denn das Objekt ist aufgrund seiner möglichen Selbstständigkeit nicht notwendig auf die Vermittlung durch das Subjekt angewiesen; die notwendige Vermitteltheit des Objekts («Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden») ist eine Notwendigkeit nur für die erkennende Subjektivität. Diese Notwendigkeit wird bei Adorno folglich wie bei Kant zur Modalität einer erkennenden Subjektivität erklärt - oder, wie Hegel mit kritischem Seitenblick auf Kant festhielt, sie wird «in die subjektive oder äußere Reflexion geschoben». 141 Wahrlich «ein sonderbares Resultat»: 142 Der Vorrang des Objekts beansprucht die Selbstständigkeit des Objekts als eine von seiner Denkunmöglichkeit streng implizierte Möglichkeit. Das Subjekt kann diese Selbstständigkeit indessen unmöglich für sich beanspruchen. Das Objekt wird auch dann zugegen sein, wenn das Subjekt das Objekt vom Subjekt wegdenkt. 2. Der Vorrang des Objekts 377 <?page no="378"?> 143 Adorno, GS 6, S.-185. 144 Ibidem; Hervorhebung C.M. In der Negativen Dialektik verweist Adorno (wie schon zuvor bei Zu Subjekt und Objekt gezeigt wurde) darauf, dass das Subjekt qua denkendes Ich seine objektive Vermitteltheit gleichsam auf der Stirn trägt. Dies wiederum aufgrund der konstitutiven Zweideutigkeit, als allgemeines Ich das vereinzelte Ich mitzu‐ meinen: Das seiende Ich ist Sinnesimplikat noch des logischen ‹Ich denke, das alle meine Vor‐ stellungen soll begleiten können›, weil es Zeitfolge zur Bedingung seiner Möglichkeit hat und Zeitfolge nur ist als eine von Zeitlichem. Das ‹meine› verweist auf ein Subjekt als Objekt unter Objekten, und ohne dies ‹meine› wiederum wäre kein ‹Ich denke›. Der Ausdruck Dasein, synonym mit Subjekt, spielt auf solche Sachverhalte an. Von Objektivität ist hergenommen, daß Subjekt sei; das leiht diesem selber etwas von Objektivität; nicht zufällig mahnt subiectum, das zugrunde Liegende, an eben das, was die Kunstsprache der Philosophie objektiv nannte. 143 Aufgrund der aporetischen Koinzidenz von Zeitlosem und Zeitlichem also ist Subjektivität in sich immer schon eine Art Subjekt-Objekt. Was anderen ein spekulativer Inhalt gilt, ist für Adorno ein Index der (jeden spekulativen Idealismus widerlegenden) Vorrangigkeit des Objekts. So ist ein Kerngedanke aller kantisch-nachkantischen Theorien der Subjektivität - die alles begleitende und damit alles in sich fassende Apperzeption - bei Adorno gerade Grund zur Kritik am Vorrang des Subjekts. ‹Das Objekt ist dem Subjekt vorrangig›, bedeutet dagegen: Anders als das Subjekt, das immer schon auf ein Objekt bezogen ist, wird das Objekt «auf Subjektivität erst in der Reflexion auf die Möglichkeit seiner Bestimmung bezogen». 144 Ist dieses ‹erst› nun als zeitliche oder - gemäß der kantischen Differenzierung zwischen zeitlichem und logischem Vorrang - als logische Abfolge zu verstehen? Es bedeutet zunächst: Erst unter dem reflexiv themati‐ sierten Aspekt seiner Bestimmung erweist sich das Objekt als Bestimmbares; zugleich erweist es sich für die Bestimmung als immer schon Bestimmbares. Die Bestimmbarkeit als solche - ihre passivische Form - ist Index dafür, dass das Objekt von der Spontaneität des Subjekts ‹je schon› überformt ist und dass deshalb der Ausdruck ‹das Bestimmbare› dem Bestimmbaren als solchem, für sich betrachtet, nicht gerecht werden kann. Betrachteten wir nämlich einmal das Subjekt als das Bestimmbare, dann müssten wir sagen: Das Zeitliche am Ich kann der subjektiven Reflexion nicht restlos integriert werden. Denn die Vermittlung von allgemeinen und besonderen Momenten der Subjektivität 378 D. Materie und Form <?page no="379"?> 145 Vgl. Adorno, GS 10.2, S.-744. 146 Es ist daher möglich und dennoch verfehlt, im Vorrang des Objekts jene nichtmensch‐ liche Vorzeitigkeit zu suchen, die bei Meillassoux unter dem Terminus ‹ancestral› ge‐ fasst ist. Vgl. Quentin Meillassoux, After Finitude. An Essay on the Necessity of Contin‐ gency, London/ New York 2008, S. 10: «I will call ‹ancestral› any reality ante