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Wortöffnungen

Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans

1216
2024
978-3-3811-1982-0
978-3-3811-1981-3
A. Francke Verlag 
Dirk Weissmann
10.24053/9783381119820

Wie kaum ein anderer Schriftsteller fühlte sich Paul Celan existenziell mit der deutschen Sprache verbunden. Doch wie nur wenige Dichter vor ihm integrierte er zugleich eine Vielzahl anderer Sprachen in seine literarische Praxis. Welche fundamentale Bedeutung dieses Schreiben >zwischen< den Sprachen besitzt, lässt sich aus Biographie, Werk und Poetik des deutsch-jüdischen Lyrikers ableiten. Dabei sind rund ein Dutzend Sprachen in Prozesse involviert, die sich mit den Begriffen >Sprachwechsel<, >Sprachmischung< und >Sprachreflexion< beschreiben lassen. In der vorliegenden Studie wird erstmals der Versuch unternommen, Celans Mehrsprachigkeit differenziert in ihrer gesamten Breite und Tiefe darzustellen. Dabei zeigt sich, dass die translinguale Schreibpraxis des Dichters den Kristallisationspunkt seiner distanziert-kritischen, ja aporetischen Beziehung zur deutschen Muttersprache bildet. Als Trägersprache der Judenvernichtung wird die deutsche Dichtungssprache in seinem Werk multilingual >angereichert<, verfremdet und dekonstruiert. Celans Mehrsprachigkeit führt somit zu einer Poetik der >Wortöffnungen<, deren Konturen es im Einzelnen herauszuarbeiten gilt.

<?page no="0"?> L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M Wortöffnungen: Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans Dirk Weissmann <?page no="1"?> Wortöffnungen <?page no="2"?> Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Genova) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 8 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism <?page no="3"?> Dirk Weissmann Wortöffnungen Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381119820 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-381-11981-3 (Print) ISBN 978-3-381-11982-0 (ePDF) ISBN 978-3-381-11983-7 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 9 1 11 1.1 11 1.1.1 11 1.1.2 16 1.1.3 22 1.2 35 1.2.1 35 1.2.2 41 1.2.3 46 1.3 52 1.3.1 52 1.3.2 57 1.3.3 60 1.3.4 67 1.4 71 1.4.1 71 1.4.2 73 1.4.3 75 1.4.4 77 83 2 85 2.1 85 2.1.1 85 2.1.2 88 2.1.3 95 2.2 101 2.2.1 101 Inhalt I Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie . . . . . Celans Sprache(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Celan und das Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemthema ›Mehrsprachigkeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . Monolinguale Selbstverortung - multilinguale Schreibpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradoxien und Doppelbotschaften . . . . . . . . . . . . . . . . Lyrik als sprachexperimenteller Gedächtnisort . . . . . . . Schicksalhafte Einmaligkeit der Sprache . . . . . . . . . . . . Ansätze und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzer Forschungsabriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff ›Wortöffnungen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Sprachigkeit‹ bei Celan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monolingual - multilingual - translingual . . . . . . . . . . Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauptlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Exemplarische Gedichtinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht . . . . . . . . . . Analyse auf Grundlage der Druckfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . »Huhediblu« im Kontext von Die Niemandsrose . . . . . . Offen sichtbare Mehrsprachigkeit im Gedicht . . . . . . . . Kurzinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgenetische Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit in den Vorstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.2.2 106 2.2.3 110 2.3 112 2.3.1 112 2.3.2 116 2.3.3 119 123 3 125 3.1 127 3.1.1 127 3.1.2 134 3.1.3 137 3.1.4 147 3.1.5 152 3.2 157 3.2.1 157 3.2.2 163 3.2.3 168 3.3 176 3.3.1 176 3.3.2 181 3.3.3 184 4 189 4.1 193 4.1.1 196 4.1.2 199 4.2 205 4.2.1 205 4.2.2 207 4.2.3 210 4.2.4 217 4.3 220 4.3.1 222 Transformative Aneignung der anderssprachigen Hypotexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ›rote Faden‹ der Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gedicht als ›Schmelztiegel‹ der Sprachen . . . . . . . . . . . . . Auflösen und neu Verbinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Translinguale Produktivität der Lexeme . . . . . . . . . . . . Mehrsprachige Transmutation der Verlaine’schen Rosenblüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Systematisch-typologischer Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual . . . . . . . . . . Sprache(n) metalingual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache(n) bei Celan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Nahfremde‹ Muttersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossolalie und Babel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkritik und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachrückgewinnung mehrsprachig . . . . . . . . . . . . . . . Sprachdenken und Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schibboleth als Sprachdifferenz . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Sprachmystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Sprachbeschneidung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metapoesie der translingualen Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom ›Auskleiden‹ der ›Worthöhlen‹ . . . . . . . . . . . . . . . Anleitung zum mehrsprachigen Lesen . . . . . . . . . . . . . . Fremdsprachen als ›Tunneltext‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend . . . . . . . . Celan als multidirektionaler Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzen ins Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rumänisch als Zielsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstübersetzung ins Französische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Status der Eigenübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dichtung und ›Deutschstunden‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzung als Differenzlektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Paraphrase zur Nachdichtung . . . . . . . . . . . . . . Kollaborative (Selbst-)Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Todesfuge« auf Rumänisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.3.2 225 4.3.3 233 4.4 240 4.4.1 244 4.4.2 252 5 265 5.1 266 5.2 276 5.3 281 5.4 288 5.5 296 5.6 304 5.7 312 5.8 318 6 325 6.1 325 6.2 335 6.3 345 6.4 351 6.5 363 6.6 371 6.7 385 6.8 391 399 7 401 7.1 404 7.1.1 406 7.1.2 409 7.1.3 412 Revidierende Rückaneignung französischer Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Todtnauberg« übersetzt von Du Bouchet und Celan . Originale Textproduktion in anderen Sprachen . . . . . . . . . . . Bukarest: »la belle saison des calembours« . . . . . . . . . . »Französisch, ich sprach es so gut« . . . . . . . . . . . . . . . . »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I . . . . . . . . . . Zur (Un-)Sichtbarkeit textinterner Mehrsprachigkeit . . . . . . . Sprachmischung als Heterolingualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Fremd-)Sprachen in den Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterolinguale Gedichttitel und Toponyme . . . . . . . . . . . . . . . Jüdisch-christliche Sprachkonfrontationen . . . . . . . . . . . . . . . . Originalsprachige Zitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exophone Vielstelligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachschöpferische Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II . . . . . . . . . . . . Ausweitung auf latente Formen von Mehrsprachigkeit . . . . . Translatorische Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Translatorische ›Echokammern‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impliziter Bilingualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Kryptohebräisch‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Translinguale Homonymie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphologisch-grammatikalische Transferenzen . . . . . . . . . . Syntaktisch-prosodische und metrische Transferenzen . . . . . IV Ausblick und Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ›Tor‹ des Übersetzers: Einflüsse von Celans translingualer Poetik in der Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martine Brodas Celan-Übersetzungen zwischen Judentum und Sprachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzung und interne Sprachdifferenzen . . . . . . . . . (Rück-)Übersetzung ins Französische . . . . . . . . . . . . . . . Translatorische Spiegelungen von Celans translingualer Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 7.2 414 7.2.1 415 7.2.2 418 7.2.3 420 7.3 423 7.3.1 424 7.3.2 426 7.3.3 429 8 437 8.1 440 8.2 453 8.3 461 475 477 479 481 481 483 485 504 509 511 Yoko Tawadas Radikalisierung von Celans ›Wortöffnungen‹ Eine ›spielpolyglotte‹ Celan-Leserin . . . . . . . . . . . . . . . Sprachabstand und Sprachergänzung . . . . . . . . . . . . . . »Celan liest Japanisch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charles Bernstein: Homophone Übersetzung als Fortleben von Celans Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktive Celan-Rezeption in der US-Lyrik . . . . . . . . ›Oberflächenübersetzung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Todtnauberg« homophon und multilingual . . . . . . . . »In naher, in nächster, in fremdester Zunge«: Bilanz und Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen und mögliche Weiterführungen . . . . . . . . . . . . Nahe fremde Sprache(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstracts & Keywords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen und Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der zitierten Werke Celans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> I Einführung <?page no="11"?> 1 NKG, 438, V. 12-17. 2 Barbara Wiedemann, »›Bis du den Wortmond hinaus-/ schleuderst‹. Paul Celans gegen‐ wärtige Zeugenschaft«. Celan-Perspektiven 21 (2022), S.-123-139, hier S.-137. 3 Siehe hierzu u. a. Anja Stukenbrock, Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617-1945). Berlin-Boston: de Gruyter, 2005. 4 Marie-Luise Kaschnitz, »Rede auf den Preisträger«. In: Dietlind Meinecke (Hrsg.), Über Paul Celan. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.-69-76, hier S.-75. 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie Und kannst, […] sprechen, in naher, in nächster, in fremdester Zunge […] Paul Celan, Entwurf zur »Pariser Elegie« (1961) 1 1.1 Celans Sprache(n) 1.1.1 Celan und das Deutsche In einem ihrer jüngeren Aufsätze schreibt Barbara Wiedemann: »Sich mit Paul Celan befassen heißt […], sich mit dem Deutschen befassen«. 2 Gemeint ist hiermit die Beziehung von Celans Dichtung zur deutschen Sprache, zu sprachli‐ chen Normen und Traditionen sowie zu bestimmten Vorstellungen von sprachli‐ cher ›Reinheit‹, Regelhaftigkeit und Zugehörigkeit. 3 Mit ihrer Aussage verweist die Celan-Herausgeberin und -Kommentatorin auf die häufig gestellte, jedoch äußerst heikle Frage, wie ›deutsch‹ die Sprache des Dichters eigentlich ist. Diese Frage wird zunächst durch die Exterritorialität von Celans Werk motiviert, dessen polyglotter Autor bekanntlich aus der rumänischen Bukowina stammte und nach Zwischenstationen in Bukarest und Wien seine deutschen Gedichte als französischer Staatsbürger in der Wahlheimat Paris schrieb. Darüber hinaus fußt diese Problematik auf Celans spezifischem und unverwechselbarem poetischem Idiom, seinem »vielschichtige[n], vielstimmige[n] Deutsch«, 4 das als singulärer Idiolekt relativ wenig mit dem »Gesamtdeutsch« (Mikrolithen, 28), d. h. der zum supranationalen Standard erklärten bundesdeutschen Varietät, gemein hat. Das Einzigartige von Celans Deutsch, der Basissprache seiner Dichtung, wurde neben den vielfältigen, biographisch determinierten Sprachkontakten <?page no="12"?> 5 Bertrand Badiou, »Editorisches Nachwort«. In: Paul Celan/ Gisèle Celan-Lestrange, Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Éric, aus dem Frz. von Eugen Helmlé. Hrsg. und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Éric Celan. Anmerkungen übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann. Frankfurt-a.-M.: Suhrkamp, 2001, Band-2, S.-9-36, hier S.-10. 6 Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden generell das generische Maskulinum verwendet. Die in diesem Buch verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich - sofern nicht anders kenntlich gemacht - auf alle Geschlechter. 7 Klaus Reichert - Paul Celan, Erinnerungen und Briefe. Berlin: Suhrkamp, 2020, S.-18. 8 Siehe die CD-Aufnahme: Paul Celan/ Jens Harzer, eine Annäherung, speak low, 2020. 9 Oskar Pastior, »Meine Gedichte«. In: Ders., Ingwer und jedoch. Texte aus diversem Anlass. Göttingen: Herodot, 1985, S.-9-17, hier S.-15. 10 Peter Waterhouse, »Un, an, Amen, atmen, Deutschland. Versuch über Paul Celans Ge‐ dicht ›Wolfsbohne‹«. Text+Kritik: Paul Celan, Heft 53-54. Dritte Auflage: Neufassung, 2002, S.-38-47, hier S.-38. und -einflüssennicht zuletzt durch die intensive Übersetzungsarbeit geprägt, die sein Schreiben von Anfang an und durch alle Lebensstationen hindurch begleitet hat. Das Deutsch der Gedichte Paul Celans gilt allgemein als »merkwürdig«, 5 wenn nicht gar befremdlich. Stellvertretend für viele deutschsprachige Leser 6 nicht nur seiner Generation hat Klaus Reichert, Lektor des Autors beim Suhr‐ kamp Verlag und späterer Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seine erste Begegnung mit dieser Lyrik wie folgt charakterisiert: »[H]ier [war] eine Sprache gefunden, die an nichts anknüpfte, was ich kannte, die wie aus einer anderen Welt kam, obwohl sie deutsch war«. 7 Dieser frühe Leseeindruck sollte sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte immer wieder be‐ stätigen - im deutschsprachigen Raum wie auch im Ausland. Für die Gegenwart könnte als prominentes Beispiel die Tatsache angeführt werden, dass ein so begnadeter Schauspieler wie Jens Harzer beim Rezitieren mancher Celan-Texte deutlich an seine Grenzen stößt, wie er es bei der Aufnahme seiner Lesung ausgewählter Gedichte immer wieder freimütig signalisiert. 8 Auch aus der Sicht geübter, ja professioneller Leser, so wird hier deutlich, er‐ scheinen diese Gedichte als sprachlich durchaus ›widerständig‹. In Anlehnung an Oskar Pastiors berühmtes Hölderlin-Diktum liegt es daher nahe zu sagen, das Idiom namens ›Celan‹ sei »eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache«. 9 Der mehrsprachige Lyriker und Celan-Kenner Peter Waterhouse spricht in dieser Hinsicht von dem »andersalsdeutschem Deutsch« 10 des Dichters. Und der amerikanische Poet und Celan-Übersetzer Charles Bernstein, von dem weiter unten ausführlicher die Rede sein wird, merkt seinerseits an: »Celan’s poems 12 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="13"?> 11 Charles Bernstein, »Paul Celan’s Folds and Veils«. Textual Practice, 18: 2, 2004, S.-199- 205, hier S.-199. Hervorhebung in der Quelle. 12 George Steiner, After Babel. Aspects of Language and Translation. Oxford: Oxford University Press, 1975, S.-409. 13 Bernhard Böschenstein, »Celan und Trakl«. In: Adrien Finck/ Hans Weichselbaum (Hrsg.), Antworten auf Georg Trakl. Salzburg: Otto Müller, 1992, S. 107-119, hier S. 109. 14 Siehe Jean Bollack, Interview mit Roger-Pol Droit. Le Monde, 1.2.2007. 15 Der keinesfalls unproblematische Ausdruck ›Holocaust‹ als Bezeichnung für die Vernich‐ tung der europäischen Juden, welche in Celans Gedichten bemerkenswerterweise stets nur als das, »was geschah« (GW I, 269), benannt wird, wird in dieser Studie aus rein pragmatischen Gründen anderen Bezeichnungen wie ›Schoa‹ oder dem im Nachlass des Dichters auftauchenden Wort ›Churban‹ (Mikrolithen, 123) vorgezogen. Eine eingehendere Diskussion dieser divergierenden Bezeichnungen kann im vorliegenden Rahmen nicht erfolgen. Aufgrund der immer wieder vorgetragenen, berechtigten Kritik am Begriff ›Holocaust‹ soll allerdings dessen Verwendung im Folgenden auf ein Mindestmaß reduziert werden. are not so much in German as acts on German.« 11 Distanz zur Muttersprache und Verwandlung des Deutschen sind der gemeinsame Nenner dieser Aussagen. Die Vorstellung einer solchen speziellen ›Arbeit‹ des Dichters an der deutschen Sprache bildet einen der Leitfäden der vorliegenden Studie. In der Forschungs‐ geschichte taucht sie zuvorderst unter solchen Begriffen wie »Meta-Deutsch« 12 oder »Gegensprache« 13 auf. Im Extremfall gipfelt sie in der latent esoterischen Konzeption vom ›Celanischen‹ als eigener (Fremd-)Sprache, die der Leser erst erlernen müsse, womit der Zugang zu den Gedichten prinzipiell den Spezialisten vorbehalten sei. 14 Häufiger trifft man sie jedoch in Gestalt von Stichwörtern wie ›Wortschöpfung‹, ›Neologismus‹, ›Sprachspiel‹ und ›Hermetik‹ an. Dieser Diskurs durchzieht die Aufnahme von Celans Werk von ihren Anfängen bis heute. Als ›heikel‹ ist die Frage nach Celans Deutsch insofern zu bezeichnen, als sie nicht nur auf das vom Dichter hervorgehobene »schicksalhaft Einmalige der Sprache« (GW III, 175) und die im Umfeld seiner Büchner-Preis-Rede (1960) ent‐ wickelte Vorstellung vom Gedicht als »Sichrealisieren der Sprache durch radikale Individuation« (Mikrolithen, 148) verweist. Vielmehr war ihre Formulierung in der Rezeptionsgeschichte von Anfang an mit Ausgrenzungsstrategien verbunden, deren ideologische, ja antisemitische Untertöne kaum zu übersehen sind. Gerade in Dokumenten der frühen Aufnahme seines Werks wurde über den Topos von Celans ›fremd‹ wirkenden sprachlichen Idiosynkrasien immer wieder suggeriert, der jüdische Dichter und Holocaust-Überlebende 15 sei nicht wirklich Teil der deut‐ schen Literatur und Kultur. Für solche diffamierende Zurückweisungen seitens des bundesdeutschen Literaturbetriebs der 1950er und -60er Jahre gibt es eine 1.1 Celans Sprache(n) 13 <?page no="14"?> 16 Paul Celan - Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹. Zusammengestellt, heraus‐ gegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt-a.-M.: Suhrkamp, 2000. 17 Günter Blöcker, »Gedichte als graphische Gebilde«. Tagesspiegel (Berlin), 11.10.1959. 18 Helmut Böttiger, Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist. Berlin: Galiani, 2021, S.-11. 19 Blöcker, »Gedichte als graphische Gebilde«. 20 Siehe u. a. Bertrand Badiou, Paul Celan, Eine Bildbiographie, in Zusammenarbeit mit Nicolas Geibel, mit einem Essay von Michael Kardamitsis. Berlin: Suhrkamp, 2023, S.-216ff. 21 Paul Celan, Brief an Ingeborg Bachmann, 12.11.1959. In: Herzzeit. Ingeborg Bachmann - Paul Celan. Der Briefwechsel. Hrsg. und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, S.-127. große Zahl von Beispielen, die erstmals in der umfangreichen Dokumentation zur sogenannten Goll-Affäre zusammengestellt wurden. 16 Fragwürdiger Berühmtheit erfreut sich in dieser Hinsicht insbesondere Gün‐ ther Blöckers Rezension des Gedichtbandes Sprachgitter, die am 11. Oktober 1959 im Berliner Tagesspiegel erschien. 17 In dieser Besprechung von Celans aus heutiger Sicht »wichtigste[r] Positionsbestimmung auf seinem Weg zu einer neuen, anderen Sprache« 18 bezeichnet der Journalist, der es später immerhin bis zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung bringen sollte, Celans Gedichte als »graphische Gebilde« und »kontrapunktische Exer‐ zitien auf dem Notenpapier«, wobei er die ihnen unterstellte Beliebigkeit, ja Sinnlosigkeit insbesondere auf die »Herkunft« ihres Autors zurückführt: Celan hat der deutschen Sprache gegenüber größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscha‐ rakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade deshalb oft verführt, im Leeren zu agieren. 19 Dieser in der heutigen Forschung berüchtigte Artikel hatte verheerende Aus‐ wirkungen auf Celans Psyche und darf als eine der tiefsten Kränkungen und seelischen Verletzungen bezeichnet werden, die dem Dichter je zugefügt wurden. 20 Dass man Texte wie »Engführung« (GW I, 195 ff.) als artistische Sprachexperimente mit fehlendem Realitätsbezug (»im Leeren […] agieren«) abqualifizieren konnte, empfand er als regelrechten Anschlag auf seine Existenz als Dichter und Überlebender. Im Nachlassgedicht »Wolfsbohne« (GW VII, 45 ff.), das der Lyriker unter dem direkten Eindruck der Rezension schrieb, wird Blöckers Kritik über das Motiv des Mordanschlags auf seine Person und sein Werk sowie des Versuchs der nochmaligen Tötung seiner während der Judenvernichtung ermordeten Eltern verarbeitet. Für einen jüdischen Autor, der »Todesfuge« (GW I, 41 f.) als »Grabschrift« 21 für seine eigene Mutter 14 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="15"?> 22 Uta Werner, Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik. München: Fink, 1998. 23 Siehe hierzu insbesondere Curt Hohoff, »Flötentöne hinter dem Nichts«. In: Ders.: Geist und Ursprung. Zur modernen Literatur. München: Ehrenwirth, 1954, S. 232-243: »Celan kommt aus der rumänischen Sprachisolation in die französische Emigration. Das sind nicht mehr, wie bei der Prager Schule, Randstellungen der Sprache, sondern verlorene Posten« (S. 234), sowie Hans Egon Holthusen, »Fünf junge Lyriker II«. Merkur, 8: 74, 1954, S. 378-390: »In Paul Celan, der am östlichen Rande des deutschen Sprachgebiets, in Czernowitz, geboren wurde, und seit vielen Jahren in Paris lebt, begegnet uns ein Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede.« (S.-385). 24 Siehe u. a. die gegen Blöcker gerichteten und bislang nicht edierten Verse Celans in Badiou, Eine Bildbiographie, S.-217. 25 Siehe hierzu grundlegend den Kommentar von Wiedemann in: Paul Celan - Die Goll-Affäre, S.-408-409. bezeichnet und die meisten seiner Gedichte als »Textgräber« 22 zur nachträgli‐ chen Bestattung der als Asche spurlos verschwundenen Opfer konzipiert hat, glich der Vorwurf formalistischer Beliebigkeit (vgl. »Exerzitien«) schlicht einer symbolische Grabschändung infamster Art. Die von Blöcker verwendeten Argumente, die teilweise an frühere Rezen‐ sionen von Kritikerkollegen anschließen, 23 wurden von Celan als antisemitisch wahrgenommen, was viele Zeitgenossen - darunter selbst enge Freunde - damals als übertrieben und ungerechtfertigt ansahen. Dieser Umstand führte zu zahlreichen irreversiblen Zerwürfnissen und Brüchen, insofern der Dichter angesichts der von ihm empfundenen existenziellen Bedrohung keinerlei Rela‐ tivierung der Angriffe ertragen oder zulassen konnte. In Briefen dieser Zeit an Bekannte und Vertraute wie Max Frisch und Rudolf Hirsch ging er so weit, die Rezension Blöckers mit den Positionen von Hitler und Goebbels (Briefe, 391 u. 389) zu vergleichen. Im Nachlass finden sich darüber hinaus zahlreiche weitere Äußerungen Celans, deren extreme Virulenz die verheerende Wirkung der Blöcker-Rezension eindrucksvoll vermittelt. 24 Auch wenn diese in den Augen vieler zeitgenössischer Beobachter überzogen wirkenden Reaktionen des Dichters zweifellos auf eine psychische Notsituation zurückzuführen sind, wird der Ansicht, der Journalist kolportiere in seiner Rezension antisemitisches Gedankengut, heute in der Forschung weitestgehend zugestimmt. 25 In der Tat erinnern Blöckers Worte an ein altes judenfeindliches Vorurteil, wonach jüdische Bürger, denen die deutsche Zunge im Grunde fremd sei, eine weniger organische, authentische Beziehung zur Sprache hätten als ›echte‹ Deutsche. Ihnen fehle die tiefe Verwurzelung in der ›Volksgemein‐ schaft‹, und der Zugang zur höchsten Dichtkunst der Sprache sei ihnen im Gegensatz zu den ›einheimischen‹ Dichtern versagt. Richard Wagners Schrift Das Judenthum in der Musik (1850/ 1869), in der dieses Vorurteil wirkmächtig 1.1 Celans Sprache(n) 15 <?page no="16"?> 26 Siehe Arndt Kremer, Deutsche Juden - deutsche Sprache. Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893-1933. Berlin-Boston: De Gruyter, 2007, S.-126ff. 27 Siehe u. a.: Interkulturelle Literatur in Deutschland: Ein Handbuch. Hrsg. von Carmine Chiellino. Stuttgart, Metzler, 2007. Siehe auch Yoko Tawada, »Ein ungeladener Gast«. In: Dies., Akzentfrei. Tübingen, Konkursbuchverlag, 2016, S.-43-50, hier S.-48. 28 Siehe unter anderem Michaela Bürger-Koftis/ Hannes Schweiger/ Sandra Vlasta (Hrsg.), Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien, Praesens, 2010. kolportiert wird, stellt nur eines der zahlreichen Dokumente einer langen antijüdischen und antisemitischen Tradition dar. Im Nationalsozialismus wurde dieser sprach- und kulturideologische Aus‐ grenzungsmechanismus schließlich rassistisch radikalisiert - als Bestandteil des Feindbildes vom wurzel- und heimatlosen und damit ›undeutschen‹ Juden, dem als ›Fremdkörper‹ kein Platz in der ›völkischen‹ Sprachgemeinschaft zukomme. In der im Vorfeld der Bücherverbrennung des Jahres 1933 von der »Deutschen Studentenschaft« verbreiteten Hetzschrift Wider den undeutschen Geist heißt es so: »Der Jude kann nur jüdisch denken, schreibt er deutsch, dann lügt er«, wobei gefordert wird: »Jüdische Werke erscheinen nur in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in Deutsch sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen«. 26 Das ist der zeitgenössische Kontext deutscher Literaturpolitik, in dem der Jude Paul Celan in den 1930er Jahren zum Dichter heranwächst. Und unter diesem natio‐ nalsozialistischem Gesichtspunkt wäre seine Lyrik wohlbemerkt entweder als ›Lüge‹ aufzufassen oder als aus einer fremden Sprache ins Deutsche ›übersetzt‹. 1.1.2 Problemthema ›Mehrsprachigkeit‹ An dieser Stelle wird deutlich, wie problematisch und historisch vorbelastet solche Diskurse über sprachliche Herkunft, Identität und Legitimität sind. Hat man diese Traditionslinie im Blick, so werden im vorliegenden Zusammenhang - bildlich gesprochen - irritierende Spiegelungen sichtbar. Denn die Vorstel‐ lung, dass eine herkunftsbedingte Distanz zur deutschen Sprache ein, wie es in der Blöcker-Rezension heißt, ›Mehr an Freiheit‹ gegenüber dem Sprachma‐ terial ermögliche, was über den ›Kommunikationscharakter‹ des literarischen Schreibens hinaus ein verstärktes ästhetisch-formales Innovationspotenzial mit sich bringe, gehört ebenfalls zu den Grundannahmen der Interkulturellen Litera‐ turwissenschaft 27 und speziell der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung. 28 Gerade die minoritär-marginale Position von deutschsprachigen Autoren, die nicht in Deutschland (oder den deutschsprachigen Ländern) geboren sind und vor einem pluralen sprachlich-kulturellen Hintergrund schreiben, mache das Besondere ihrer Werke, ja ihren literarischen Wert aus - so der Tenor der 16 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="17"?> 29 Esther Kilchmann, »›Dichtung - das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache‹. Ce‐ lans Poetologie als Herausforderung literarischer Mehrsprachigkeitsforschung heute«. In: Evelyn Dueck/ Sandro Zanetti (Hrsg.), Mitdenken. Paul Celans Theorie der Dichtung heute. Heidelberg: Winter, 2022, S.-77-94, hier S.-77. 30 Till Dembeck, »Lyrik als kulturelle Differenz«. Zeitschrift für Interkulturelle Germa‐ nistik, 14: 2, 2023, S.-117-123, hier S.-117. Forschungsarbeiten der letzten Dezennien im Bereich ›Literatur und Mehrspra‐ chigkeit‹. Im heutigen akademischen Diskurs über Phänomene der Transkulturalität und Postmigration in der Literatur, so muss man zugestehen, haben sich die Vorzeichen eindeutig ins Positive gekehrt. Die ›fremde‹ Herkunft wird allgemein positiv bewertet und als Mehrwert aufgefasst. Dennoch besteht das alte Distinktionsmerkmal ›deutsch‹ vs. ›nicht deutsch‹ (bzw. ›fremd‹ oder ›aus‐ ländisch‹) weitgehend fort. Wahrscheinlich hätte Paul Celan - wie viele aktuelle Autoren der so genannten Migrationsliteratur - eine solche Differenzierung, sei sie auch noch so gut gemeint, als hochgradig diskriminierend empfunden, insofern er sie vor allem als eine Infragestellung seiner Legitimität als deutscher Dichter wahrgenommen hätte. Diese beinahe unheimlich zu nennende Nähe zwischen politisch-ästhetischer Wertschätzung kultureller und sprachlicher Alterität einerseits und deren xenophob, ja antisemitisch motivierten Ausgren‐ zung aus der deutschen Kultur andererseits ist sicherlich mit einer der Gründe dafür, warum »Paul Celan und sein Werk […] sich für die heutige literarische Mehrsprachigkeitsforschung als ein sperriger und ambivalenter Gegenstand« erweisen, wie Esther Kilchmann treffend schreibt. 29 Bei den intrikaten Problemen, die jede Behandlung von Celans pluraler sprachlich-kultureller Identität aufwirft, spielen auch, so muss ergänzt werden, die nach wie vor wirkmächtigen nationalphilologischen Traditionen mit ihren monolingualen Ordnungskategorien eine gewichtige Rolle. Aus dieser Sicht erscheint literarische Mehrsprachigkeit meist als ein inkommensurabler Son‐ derfall oder gar als ein sprachliches Problem, das seiner ›Lösung‹ harrt. Das gilt insbesondere für die Gattung der Lyrik. Wie Dembeck feststellt, ist die sogenannte Höhenkammlyrik, zu der Paul Celans Gedichte zweifelsohne zu zählen sind, »zu sehr belastet mit Hypotheken einer Kanonbildung bzw. überhaupt einer Bildung, die gewissermaßen auf Kultur ohne Differenz setzt: auf Nationalkultur, die so tut, als sei Lyrik - und überhaupt: Literatur - notwendig einsprachig und Sache der einen Nation«. 30 Auch unter diesem fachgeschichtlichen Gesichtspunkt wird deutlich, warum der Name ›Celan‹ und das Thema ›Mehrsprachigkeit‹ als tendenziell miteinander unvereinbar erscheinen können. 1.1 Celans Sprache(n) 17 <?page no="18"?> 31 »An Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht. Doppelzüngigkeit - ja, das gibt es, auch in diversen zeitgenössischen Wortkünsten bzw. -kunststücken, zumal in solchen, die sich, in freudiger Übereinstimmung mit dem jeweiligen Kulturkonsum, genauso polyglott wie polychrom zu etablieren wissen. Dichtung - das ist das schick‐ salhaft Einmalige der Sprache.« (GW-III, 175). 32 Siehe hierzu u.a: Peter von Moos, »Zur Bedeutungslosigkeit fremder Sprachen im Mittelalter«. In: Ders. (Hrsg.), Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne. Wien-Zürich: LIT-Verlag, 2008, S. 687- 712, hier S.-691-692. Die Hauptursache für das distanziert zu nennende Verhältnis der Celan-Phi‐ lologie zu Forschungsansätzen auf dem Feld der multilingualen Literatur bleiben aber sicherlich die einschlägig bekannten und (vermeintlich) klaren Selbstaus‐ sagen des Dichters, die seit Anfang der 1980er-Jahren einem breiten Publikum zugänglich sind. In seiner oft zitierten »Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris« aus dem Jahr 1961 31 schreibt der Lyriker bekanntlich, er glaube nicht an »Zweisprachigkeit in der Dichtung«, wobei er diese Art des Schreibens mit abwertenden Ausdrücken wie »Doppelzüngigkeit« und »Kulturkonsum« in Verbindung bringt. Durch die negative Verwendung von Begriffen wie »Wort‐ kunst« und »Wortkunststücke« (ebd.) entsteht in diesem Text eine indirekte Verbindung zwischen der Absage an Polyglossie und der vehementen Reaktion auf Blöckers Angriff, er betreibe mit seinen lyrischen ›Gebilden‹ nur poetische ›Exerzitien‹. »Dichtung - das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache« (ebd.), so lautet Celans zentrale Gegenposition in seiner Antwort auf die Frage nach literarischer Mehrsprachigkeit. Durch ihre Abwertung als artifiziell und »polychrom« (ebd.) erscheint Mehrsprachigkeit in diesem prominenten Statement als das exakte Gegenteil der »›graueren‹ Sprache« (GW III, 167), die der Dichter schon 1958 für sein Schreiben eingefordert hatte. Das 1963 entstandene, programmatische Gedicht »Weggebeizt« (GW II, 31) vertieft diese kritische Position, indem es den poeti‐ schen Kampf gegen das »bunte Gerede des An-/ erlebten« (V. 3-4) in den Status einer Poetik erhebt. Nach dem Modell des Kompositums ›Meineid‹ erscheint dort das »hundert-/ züngige Mein-/ gedicht« (V. 4-6) als »Genicht« (V. 6), sprich: als Lüge und Negation von wahrer Dichtung. Über das negative Bild des Polychromen und andere pejorative Formu‐ lierungen verdichtet sich in diesem Celan’schen Textgewebe der frühen 1960er-Jahre ein direkter Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und ›falscher‹ Dichtung. Mit dieser Assoziation, so kann hier angemerkt werden, knüpft der Dichter nolens volens an ein bis ins Mittelalter zurückreichendes Vorurteil mit weitreichenden Folgen an. 32 In der europäischen Kulturgeschichte wurden die ›heuchlerischen‹ Verstellungskünste des Polyglotten immer wieder 18 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="19"?> 33 Zitiert in: Israel Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S.-148. 34 Zur Kritik von Chalfens Umgang mit den Quellen, insbesondere mit diesem Zitat siehe: Matthew Johnson, Biographism and Translingualism: Israel Chalfen’s »Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend«. Yearbook for European Jewish Literature Studies, 11, 2024 (im Druck). 35 Siehe Christopher Hutton, »The Strange Case of Sonderführer Weisgerber«. In: Ders., Linguistics and the Third Reich: Mother-Tongue Fascism, Race and the Science of Language.-London: Routledge, 1998, S.-106-143. 36 Siehe hierzu grundlegend: Claus Ahlzweig, Muttersprache - Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994. der ›wahrhaftigen‹ Identität des Einsprachigen gegenübergestellt. Der auf die Bibel zurückgehende Topos der ›Doppelzüngigkeit‹ besitzt dabei in seiner Rezeptionsgeschichte wohlgemerkt nicht nur fremden-, sondern auch juden‐ feindliche Implikationen, insofern die jüdische Diaspora mit Phänomenen der Mehrsprachigkeit einhergeht, wohingegen die idealisierte Figur des soge‐ nannten Muttersprachlers eng mit dem Konzept der Sprachloyalität verbunden ist. »Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit aussagen, in der Fremdsprache lügt der Dichter«, das habe Celan bereits in seiner Jugend unterstrichen, wie seine Jugendfreundin Ruth Kraft (Lackner) zu berichten wusste. 33 Bei letzterem Zitat, der zweiten Stellungnahme Celans gegen Mehr‐ sprachigkeit, handelt es sich wohlbemerkt um eine Aussage aus zweiter Hand, die allein durch Israel Chalfens Jugendbiographie überliefert wurde. Doch auch wenn diese Bemerkung keine auktoriale Quelle darstellt, 34 scheint sie Celans späteres Statement in gewisser Weise vorwegzunehmen. An dieser Stelle ist von Interesse, dass die dem jungen Dichter zugeschriebene Ansicht prominenten Sprachtheorien dieser Epoche entspricht, insbesondere der Muttersprachenide‐ ologie Leo Weisgerbers, die sich ab den 1920er-Jahren einer großen Resonanz erfreute. Nach der Machtergreifung der Nazis hat sich der Linguist mit seiner Propagierung deutscher Einsprachigkeit bereitwillig in die völkische Ideologie eingereiht. 35 Weisgerbers wirkmächtige Sprachauffassung, deren Einfluss auf die öffent‐ liche Spracheinstellung und die Schulpädagogik in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, wurzelt in einer mythologisch-sakralisierenden Überhö‐ hung der Muttersprache mit der für sie typischen Überblendung der Begriffe ›Sprache‹, ›Geist‹, ›Seele‹, ‹Wesen‹ und ›Volk‹, wie sie dem sprachnationalisti‐ schen Diskurs spätestens seit der Romantik eignet. 36 Dabei kommt es zu der für den modernen Muttersprachendiskurs charakteristischen Verschmelzung von Sprache und ethnischer Herkunft bzw. Nationalität. Das ursprünglich 1.1 Celans Sprache(n) 19 <?page no="20"?> progressive Moment der Emanzipation der Volkssprachen wurde auf diese Weise nationalistisch funktionalisiert und essenzialisiert. Sicherlich ist davon auszugehen, dass der junge Dichter sich solch prägenden Einflüssen seiner Zeit nicht vollständig entziehen konnte, wenngleich er sie nach dem durch die NS-Diktatur verübten Zivilisationsbruch notwendigerweise relativieren musste. In Anbetracht dieses (scheinbar) klaren Votums des deutsch-jüdischen Dich‐ ters für Einsprachigkeit, das wie gesehen sowohl in privater als auch in öffent‐ licher Form überliefert wurde, erscheint die Ausgangslage der vorliegenden Studie als einigermaßen schwierig, wie hier zugegeben werden muss. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen diskriminierend-antisemitischen Tendenzen in der zeitgenössischen Aufnahme seiner Lyrik, so wird hier deut‐ lich, sieht sich jede positive Bewertung von Celans faktischer Multilingualität mit der Gefahr konfrontiert, den Finger in eine Art ›Wunde‹ zu legen. In dieser Gemengelage aus Fremd- und Selbstzuschreibungen könnte nämlich der Verdacht aufkommen, mit dem Topos sprachlicher Alterität und Differenz reproduziere der Mehrsprachigkeitsdiskurs gerade jene diskriminierenden Ar‐ gumentationsmuster, welche die ärgsten Feinde des Dichters zu Lebzeiten gegen ihn verwendet haben, womit sie seinem psychischen Zusammenbruch entschieden Vorschub geleistet haben. In der Tat kann eine direkte Verbindung hergestellt werden zwischen Celans Antwort auf die Flinker-Umfrage und seiner Situation als jüdischer Dichter deutscher Sprache nach der Judenvernichtung. Seine prominenten und häufig zitierten Stellungnahmen gegen literarische Mehrsprachigkeit sind - so eine inzwischen weitverbreitete Forschungsmeinung - über ihre geistes- und kultur‐ geschichtliche Prägung sowie poetologische Valenz hinaus auch oder vor allem als Widerstandsakte gegen die zahlreichen, teils antisemitischen Anfeindungen zu werten, denen er sich ab Ende der 1950er-Jahre verstärkt ausgesetzt sah - zu einem Zeitpunkt, als er gerade auf dem Weg war, mit seiner neuen, anderen Dichtungssprache den endgültigen Durchbruch in der deutschen Literaturwelt zu erzielen. Pointiert ausgedrückt gehört die monolinguale Selbstverortung bei Celan also zu einer Strategie der Selbstbehauptung in einem Literaturbetrieb, in dem er oft als fremd, unauthentisch und illegitim betrachtet wurde. Die Blöcker-Rezension ist dabei nur ein Beispiel von vielen, wie die Rezeptionsforschung in den letzten Jahren nachgewiesen hat. In denselben Zeitraum fällt auch der Höhepunkt der berühmt-berüchtigten Goll-Affäre, einer der »perfidesten, hinterhältigsten Intrigen in der deutschen Literaturgeschichte«, 20 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="21"?> 37 Böttiger, Celans Zerrissenheit, S.-21. 38 Siehe hierzu Paul Celan - Die Goll-Affäre. 39 Siehe ebd. wie Helmut Böttiger es auf den Punkt bringt. 37 Obwohl von zentraler Bedeutung, kann die sogenannte Plagiatsaffäre an dieser Stelle nur sehr knapp umrissen werden: Die Witwe des lothringischen - und mehrsprachigen - Dichters Yvan Goll (1891-1950), den Celan kurz vor dessen Tod 1950 kennengelernt hatte, diffamierte ihn auf Grundlage gefälschter Manuskripte mit aus heutiger Sicht völlig haltlosen Plagiatsvorwürfen. Celans literarischer Erfolg gründe sich auf einer Falsifikation, da seine Lyrik in Wirklichkeit eine Kopie des Spätwerks ihres Mannes darstelle. Durch die Unterstützung konservativer Kreise in der Bundesrepublik fanden diese fingierten Anschuldigungen ein breites Echo in der damaligen literarischen Öffentlichkeit - erneut mit teils eindeutig antise‐ mitischer Färbung. Die lange Zeit unterschätzte Bedeutung der Plagiatsaffäre, die erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Barbara Wiedemann ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Forschung gerückt ist, 38 ist auch im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeitsproblematik relevant. Seit der Publikation der Doku‐ mentation zur Goll-Affäre, die eindrücklich die tiefgreifenden Auswirkungen dieser Diffamationskampagne auf Celans Leben und Werk nachgewiesen hat, ist man sich weitgehend darin einig, in der Abwehr der Plagiatsvorwürfe einen wichtigen Faktor für Celans Zurückweisung von Multilingualität zu sehen. Hinter seiner Positionierung als Einsprachiger, so die These, verbirgt sich nicht zuletzt der Wille, sich vom feindlichen Lager abzugrenzen, handelte es sich doch bei Yvan Goll um einen zweisprachigen, deutsch-französischen Dichter, der im amerikanischen Exil auch Lyrik in englischer Sprache verfasst hatte. Ce‐ lans Gegnerschaft zu der ebenfalls mehrsprachig publizierenden Dichterwitwe Claire Goll (1890-1977) mit ihren von der konservativen Presse unterstützten Machenschaften wirkte sich somit mittelbar auf seine Position gegenüber Mehrsprachigkeit aus. Es kann gar nicht genug unterstrichen werden, dass der Kampf gegen das ›Goll-Lager‹ das zentrale Movens von Celans Handeln in dieser Zeit dar‐ stellt, womit eine Reihe von ›Kollateralschäden‹, wie das Scheitern zahlreicher Projekte und der Bruch mit vielen Freunden und Bekannten, einhergeht. In der Hochphase der Plagiatsaffäre konnte allein die Nennung des Namens Goll zu teils extremen Reaktionen und Konsequenzen führen, wie zahlreiche Dokumente belegen. 39 Durch die infamen Machenschaften der Witwe wurde der einstige Förderer des jungen Celan posthum zu dessen Erzfeind, von dem es sich entschieden abzusetzen galt. Sicherlich eines der traurigsten und tragischsten 1.1 Celans Sprache(n) 21 <?page no="22"?> 40 Zitiert nach Wolfgang Emmerich, Nahe Fremde: Paul Celan und die Deutschen. Göttingen: Wallstein, 2020, S. 186 (Hervorhebung in der Quelle). Der von Jitzchak (Isaak) abgeleitete Name ›Itzig‹ gehört zum festen Repertoire des deutschen Antisemitismus. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde er als stigmatisierender Namenszusatz für jüdische Bürger gebraucht. Kapitel der Lyrikgeschichte des 20. Jahrhunderts, das nicht zuletzt dazu geführt hat, dass die Forschung selbst heute noch davor zurückscheut, beide Autoren in einen positiven Zusammenhang zu stellen, der von den Manipulationen und Diffamationen der Dichterwitwe abstrahiert. 1.1.3 Monolinguale Selbstverortung - multilinguale Schreibpraxis Ohne diese mittlerweile gut erforschte Rezeptionsgeschichte nebst ihrer zeit‐ historischen Zusammenhänge an dieser Stelle weiter auszubreiten, kann als Zwischenbilanz festgehalten werden, dass der Nexus ›Goll-Affäre-Poly‐ glossie-Antisemitismus‹ einigermaßen schwer auf dem Thema ›Celan und Mehrsprachigkeit‹ lastet. Dennoch sollte dies nicht zu einer Tabuisierung von Celans vielgestaltiger und literarisch überaus produktiver Multilingualität führen, wie es in Teilen der früheren Forschung tendenziell zu beobachten ist. Dagegen spricht allein schon die Tatsache, dass der Dichter die Plagiatsaffäre gerade mit den Mitteln der Mehrsprachigkeit zu verarbeiten versucht hat, wie dies an vielen Stellen festzustellen ist. Neben zahlreichen Gedichten (darunter »Huhediblu«, s. Kap. 2) und anderen Texten aus diesem Zeitraum zeigt dies schon eine sarkastisch-polemische Selbstbezeichnung wie »Dein Itzig Plagiator false Paul Celan« aus einem Brief Celans an Reinhard Federmann, in dem er sich direkt auf die Anschuldigungen der Goll-Witwe bezieht. 40 Aus den eben genannten Gründen würde es geradezu tragisch anmuten, wenn der historische Fakt der Instrumentalisierung jüdischer Interkultura‐ lität und Multilingualität zu diskriminierenden Zwecken dazu führte, in der Betrachtung jüdischer Marginalität als Ferment von ästhetischer Innovation und Kreativität den Versuch einer - womöglich antisemitisch motivierten - Verdrängung des jüdischen Dichters aus der deutschen Literatur zu sehen. Ein solcher argumentativer Kurzschluss würde im Grunde bedeuten, die ›Kol‐ lateralschäden‹ der infamen Goll-Affäre auf geradezu fatale Weise zu reprodu‐ zieren. Demgegenüber muss unterstrichen werden, dass Multikulturalität und Multilingualität in der Literatur des 20. Jahrhunderts keineswegs Stigmata darstellen, sondern vielmehr als Rahmenbedingungen ästhetischer Innovation anzusehen sind. Die auf Georg Simmels Soziologie der Fremdheit aufbauende 22 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="23"?> 41 Siehe u. a. Moritz Csaky, Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region. Wien: Böhlau, 2019, S.-277. 42 Durs Grünbein, »Der Spiritus des Lebendigen«. In: Michael Eskin (Hrsg.), »Schwerer werden. Leichter sein.« Gespräche um Paul Celan. Göttingen: Wallstein, 2020, S. 13-51, hier S.-22. 43 Paul Celan/ Franz Wurm, Briefwechsel. Hrsg. v. Barbara Wiedemann, in Verbindung mit Franz Wurm. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, S.-46. 44 Badiou, »Editorisches Nachwort«, S.-12. 45 Max Ryncher, Die Tat. 7.2.1948, S. 11. Einige Jahre später hat sich während der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf (1952) ein ähnliches Missverständnis eingestellt, als die Gattin des Gastgebers Hans Werner Richter Celan zunächst für einen Franzosen hielt und ihm ungeschickterweise zu seinem ausgezeichneten Deutsch gratulierte (PC-GCL, I, 27). ›marginal man‹-Theorie, die der Chicagoer Soziologe Robert E. Park in den 1920er-Jahren entwickelt hat, soll hier als alternative Betrachtungsweise zitiert werden, von der auch gegenwärtig noch wichtige Impulse für die Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung ausgehen können, wie es unter anderem die Arbeiten von Moritz Csaky zeigen. 41 Es sei dahingestellt, ob Paul Celan zurecht als »universeller Migrant« bezeichnet werden kann oder ob seine Dichtung treffend als »ortlos« zu charakterisieren ist, wie es der Lyriker Durs Grünbein jüngst tat. 42 Als anrüchig oder übergriffig ist diese Betrachtungsweise kaum zu bewerten. So könnte im Rahmen des in dieser Studie vorgelegten Ansatzes durchaus die These gewagt werden, Celans literarisches Idiom sei ein Deutsch mit ›Migrations‐ hintergrund‹. Freilich sind all diese Begriffe niemals neutral oder unproblema‐ tisch, dennoch berühren sie mit der von ihnen implizierten Distanznahme gegenüber nationalen Ordnungskategorien wie dem ›Kerndeutschen‹ einen zentralen Punkt von Celans Poetik. Schließlich sind die Selbstaussagen des Dichters einer solchen Charakterisierung als ›Marginaler‹ immer wieder recht nahe gekommen, so zum Beispiel als er sich 1966 in einem Brief gegenüber Franz Wurm als »mehrheimatlich-polypatriotisch Verhedderten« 43 bezeichnete. Solche ›nicht-deutsche‹ Selbstzuschreibungen durchziehen in der Tat sein gesamtes Schaffen. So muss bei der Frage nach Celans kultureller und sprachlicher Verortung immer die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Dichter - für sich selbst, sein lyrisches Werk und sein »Nomaden-Deutsch«, 44 wie es der Nachlassver‐ walter Bertrand Badiou nennt - eine Randstellung festgestellt und seine Rolle als Außenseiter, ›Fremdling‹, ja als »Verbannter« (Briefe, 46) akzeptiert und fruchtbar gemacht hat. Gerade Celans sprachliche Exterritorialität - die den Schweizer Max Rychner 1948 zu der Fehleinschätzung verleitet hatte, das Deutsche sei nicht seine Muttersprache 45 - wurde vom Dichter keineswegs 1.1 Celans Sprache(n) 23 <?page no="24"?> 46 Jánòs Szász, »›Es ist nicht so einfach …‹. Erinnerungen an Paul Celan«. In: Mit den Augen der Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan. Ausgewählt, hrsg. und kommentiert von Petro Rychlo. Berlin: Suhrkamp, 2020, S.-275-287, hier S.-283. 47 Das war der Fall, als er beispielsweise als »rumänische[r] Jude, der in Paris lebt und deutsche Gedichte schreibt« bezeichnet wurde, wie er es 1955 in einem Brief an Rolf Schroers erwähnt. Siehe Paul Celan, Briefwechsel mit den rheinischen Freunden. Heinrich Böll, Paul Schallück, Rolf Schroers. Hrsg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2011, S.-81. 48 Zu diesem Begriff siehe Bill Ashcroft/ Gareth Smith/ Helen Triffin, Post-Colonial Stu‐ dies: The Key Concepts. London-New York: Routledge, 2. Auflage 2007, S.-124-127. 49 »[D]enn der Jud, du weißts, was hat er schon, das ihm auch wirklich gehört, das nicht geborgt war, ausgeliehen und nicht zurückgegeben«, GW-III, 169. als Manko betrachtet. Im Gegenteil hat er betont, »wie sehr seine sprachliche Isolierung der Ausarbeitung der dichterischen Sprache dien[t]«. 46 Durch die Außensicht auf die Muttersprache habe dies »eine Vertiefung des Sprachge‐ fühls« (Mikrolithen, 189) bewirkt. Was als Fremdzuschreibung den Charakter einer unerträglichen, immer wieder (und meist zurecht) als antisemitisch wahr‐ genommenen Exklusion besaß, 47 war als Selbstdistanzierung, als »Recht auf Fremdheit« (Mikrolithen, 56) gegenüber Deutschland (und Österreich) ganz offenbar ein tiefes Bedürfnis und fester Bestandteil seiner Identität als Dichter und Jude. In diesem Zusammenhang erweist sich eine Notiz Celans aus dem Umfeld seines Prosatextes Gespräch im Gebirg (1960, GW III, 169-173) als höchst aufschlussreich. Das in dieser Erzählung verwendete ›Judendeutsch‹ wird in dieser Aufzeichnung als Form sprachlicher Mimikry 48 beschrieben: »Das ›Jüdeln‹ im ›Gespräch im Gebirg‹: mais oui, il faut assumer ce qu’on nous prête! « (sinngemäß: »Man muss zu dem stehen, was einem unterstellt wird«, Mikrolithen, 41). Die in diesem - wohlbemerkt zweisprachigen - Kommentar thematisierte Verwendung eines bewusst jargonisierten (im Sinne von Kafkas Einleitungsvortrag über Jargon, 1912), ›unreinen‹, ja bastardisierten Deutsch, wie sie in der Erzählung zu beobachten ist, unterhält eine direkte Verbindung zu Celans multilingualer Identität und seinen mehrsprachigen Schreibverfahren. Persifliert der Dichter in seinem Prosatext das antisemitische Klischee vom unauthentischen, entwurzelten Juden, 49 so antwortet seine Lyrik auf diese antisemitische Stigmatisierung mit einem singulären, ganz eigenen Deutsch, das er nicht mit der »lyrische[n] Koiné«, dem »lyrische[n] Allerlei unserer Tage« (TCA, M, 170 f.) verwechselt sehen wollte. Auf einer konkret lebensweltlichen Ebene lässt sich dieses Streben nach sprachlicher Distanzierung, ja Singularisierung an der Tatsache festmachen, dass der Dichter sich nach seinem Weggang aus Rumänien weder in Österreich 24 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="25"?> 50 Siehe hierzu u. a. Esther Kilchmann, Poetologie und Geschichte literarischer Mehr‐ sprachigkeit. Deutschsprachige Literatur in translingualen Bewegungen (1900-2010). Jahrhunderts. Berlin: De Gruyter, 2024. 51 Kathrin Wittler, Morgenländischer Glanz. Eine deutsche jüdische Literaturgeschichte (1750-1850). Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, S.-503. 52 Zum Kontext dieser Umfrage siehe auch Kilchmann, Poetologie und Geschichte litera‐ rischer Mehrsprachigkeit, S.-265ff. noch in der Bundesrepublik Deutschland niederließ, sondern ganz bewusst den Schreibort Paris wählte. Ohne den Lebensweg der displaced person Paul Celan auf unzulässige Weise zu romantisieren und zu verklären, dürfen die konstruktiv-kreativen Aspekte dieser Migration nicht außer Acht gelassen werden. Durch die Wahl eines exterritorialen, fremdsprachigen Umfelds führt der Dichter nicht zuletzt eine wichtige Traditionslinie deutsch-jüdischen Schrei‐ bens fort. 50 Die Prozesse jüdischer Emanzipation und Assimilation, wie sie auch in Celans eigener Familiengeschichte nachzuverfolgen sind, müssen nämlich mit dem Umstand zusammengedacht werden, dass jüdisches Schreiben in den deutschsprachigen Ländern ursprünglich aus einem »Neben- und Gegenein‐ ander verschiedener Sprachen« 51 entstanden war. Mit seinem ›Zungenentwur‐ zeln‹ (s. GW III, 73, V. 8) hat Paul Celan - in einem Post-Holocaust-Kontext - auf singuläre Weise an diese mehrsprachige Tradition der jüdischen Diaspora angeknüpft. Nichtsdestoweniger stellt die monolinguale Selbstverortung Celans, d. h. seine explizite Parteinahme für die deutsche Mutterzunge und gegen polyglottes Dichten, ein nicht von der Hand zu weisendes Hindernis dar, wenn man ihn als Autor zwischen den Sprachen und Kulturen zu situieren versucht. Durch das Fehlen anderer expliziter Stellungnahmen - beispielsweise zur offensichtlichen Verwendung von Mehrsprachigkeit in seinen Gedichten - fällt Celans ›Antwort‹ aus dem Jahr 1961 zwangsläufig sehr stark ins Gewicht, sobald es um die Beurteilung seiner Spracheinstellung geht. Der Einfluss dieses Statements, das den wichtigsten Baustein eines gewissen Einsprachigkeit-Paradigmas in der Aufnahme und Betrachtung seines Werkes darstellt, war lange Zeit determi‐ nierend. Seine Wirkmächtigkeit in der Celan-Philologie kann beispielsweise schon an der (nicht unproblematischen) Tatsache abgelesen werden, dass die Historisch-kritische Ausgabe seiner Werke die in anderen Sprachen verfassten Texte bis heute nicht in ihrer Edition berücksichtigt hat (s. HKA, 16, XVIII). Dabei verbirgt sich hinter Paul Celans berühmter Antwort auf die Flinker-Umfrage, »an Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube [er] nicht« (GW III, 175), eine weitaus differenziertere und komplexere Position, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. 52 Zunächst kann festgestellt werden, 1.1 Celans Sprache(n) 25 <?page no="26"?> 53 Siehe Tomás Espino Barrera, »Die pathologisierende Darstellung der Sprachattrition und der Mehrsprachigkeit in der europäischen Exilliteratur des 20. Jahrhunderts«. In: Katharina Fürholzer/ Julia Pröll (Hrsg.), Fluchtlinien der Sprache(n). Migration, Kulturkontakt und Sprachbewegung im Spiegel der ›Medical Humanities‹. Berlin— Boston: De Gruyter, 2023, S.-33-50. 54 Siehe hierzu folgende Passage aus einem Brief an Werner Weber aus dem Jahr 1960: »Sprache, zumal im Gedicht, ist Ethos - Ethos als schicksalhafter Wahrheitsentwurf.« (Briefe, 427). 55 Zu diesem Begriff siehe Georg Kremnitz, Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen. Aus der Sicht der Soziologie der Kommunikation. Wien: Edition Praesens, 2004, S.-14. 56 Siehe hierzu auch eine auf den 22. März 1962 datierte Bemerkung Celans im Brief‐ wechsel mit René Char, in der er Zweisprachigkeit ebenfalls als Synonym für Duplizität benutzt (Paul Celan - René Char, Correspondance, 1954-1968. Hrsg. und kommentiert von Bertrand Badiou. Paris: Gallimard, 2015, S. 152f.). In diesem Brief wendet sich Celan dass der Dichter im Unterschied zu anderen Exil-Autoren 53 die Phänomene Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit nicht als ›unnatürlich‹ pathologisiert. Indem er diese Form des Schreibens in die Nähe der »Doppelzüngigkeit« (ebd.) rückt, moralisiert er sie vielmehr vor dem Hintergrund eines hohen poetischen Ethos. 54 Auf diese Art und Weise wird Einsprachigkeit als Bedingung für dichterische Wahrhaftigkeit ins Feld geführt, wie der Ausdruck »das schick‐ salhaft Einmalige der Sprache« (ebd.) zeigt. Celans Positionsbestimmung in der Flinker-Umfrage unterscheidet sich also grundsätzlich von der essenzialis‐ tischen Einsprachigkeits-Ideologie eines Leo Weisgerber. Außerdem beziehen sich seine Äußerungen bei genauerem Hinsehen nicht auf literarische Mehr‐ sprachigkeit an sich, sondern auf ›Zweisprachigkeit‹ als spezielle Ausprägung mehrsprachigen Schreibens. Zwar benutzt Celan in seiner Antwort durchaus die Vokabel ›polyglott‹, doch seine Ablehnung betrifft eben zuvorderst die von der Umfrage explizit angesprochene »Zweisprachigkeit der Dichtung« im Sinn der sogenannten textübergreifenden Mehrsprachigkeit. 55 Eine solche Ausprägung von Mehrsprachigkeit liegt speziell dann vor, wenn Schriftsteller - wie es insbesondere beim Ehepaar Goll der Fall war - sowohl auf Deutsch als auch in einer oder mehreren anderen Sprache schreiben - in diesem Fall auf Französisch. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wechselt die Literatursprache und mit ihr die Sprache des Werks. Dabei können die betref‐ fenden Texte gegebenenfalls sogar in zwei Sprachversionen parallel existieren, wie es unter anderem bei dem Selbstübersetzer Samuel Beckett der Fall ist, um dieses berühmte Beispiel aus der europäischen Literaturgeschichte zu nennen. Es handelt sich bei der in Celans Flinker-Antwort erwähnten Praxis mithin um Multilingualität im Sinne einer sprachlichen ›Verdoppelung‹, die von Celan in die Nähe einer gewissen, nicht zuletzt moralischen Duplizität gebracht wurde. 56 26 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="27"?> kritisch gegen den Begriff des zweisprachigen Dichters, so wie er beim französischen Lyriker Saint-John Perse (1887-1975) auftaucht. Perse versteht diese Zweisprachigkeit im übertragenen Sinn als Vermittlungstätigkeit zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen. In Celans Bemerkung scheint es jedoch darüber hinaus um konkrete Formen von Sprachwechsel zu gehen. Die französische Übersetzerin Louise Servicen, auf die sich Celan in seinem Brief implizit bezieht, hatte sich nämlich unter dem Vichy-Regime mit Übersetzungen judenfeindlicher NS-Literatur kompromittiert. Ser‐ vicen gehörte im Übrigen zu den fünfzehn AutorInnen, die im Jahr 1961 auf die berühmte Flinker-Umfrage zur Zweisprachigkeit geantwortet hatten. Die Verbindung Antisemitismus—Duplizität—Zweisprachigkeit scheint also erneut im Hintergrund präsent. Dem kann hinzugefügt werden, dass Hugo Friedrich in seiner berühmten Abhandlung über Die Struktur der modernen Lyrik (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1956) gleich auf der ersten Seite (S. 15) diese Idee von Saint-John Perse zitiert. Celan stand dem Bild der modernen Dichtung bei Friedrich, der sie vor allem als ›reine‹, ›absolute‹ und ›hermetische‹ Lyrik begreift, sehr kritisch gegenüber. Auch die von Celan bekämpfte ›Artistik‹ erscheint also über Saint-John Perse und Friedrich mit dem Problem der Zweisprachigkeit verbunden. 57 Paul Celan, Brief an Ingeborg Bachmann, 30.10.1951. In: Ingeborg Bachmann - Paul Celan. Der Briefwechsel, S.-35. Es ist insbesondere diese Duplizität, die der Dichter öffentlich abgelehnt hat, wie unterstrichen werden muss. In seinem Werk lassen sich jedoch darüber hinaus zahlreiche andere Praktiken von Mehrsprachigkeit entdecken. Und selbst die offiziell abgelehnte Zweisprachigkeit lässt sich in seinem Schreiben an vielen Stellen nachweisen, sei es auch in einem privaten Rahmen oder in verdeckter Form. In Bezug auf Wortlaut und Kontext von Celans berühmter Aussage muss dem‐ nach die grundsätzliche Frage aufgeworfen werden, inwieweit seine scheinbar klare Positionsbestimmung neben dem Werk bestimmter Autoren - wie na‐ mentlich Yvan Goll - wirklich die eigene Poetik determiniert. Es muss also gefragt werden, inwiefern es sich tatsächlich um eine poetologisch verallgemei‐ nerbare Frontstellung des Dichters gegen Mehrsprachigkeit handelt. In der Tat lassen sich zahlreiche Gegenargumente gegen eine solche Extrapolation auf Celans Werkpoetik anführen, wie im Anschluss ausführlich zu erörtern sein wird. So hat der Dichter, wie hier bereits angemerkt werden soll, immerhin einmal gegenüber Ingeborg Bachmann erklärt, man müsse seine Texte eigent‐ lich erst einmal ins Deutsche übersetzen. 57 Eine solche Äußerung suggeriert ja fast, er schreibe seine Gedichte in einer Art Fremdsprache. Sei dieses Zitat auch als freundschaftlicher Scherz zu verstehen, so impliziert es durchaus eine Distanznahme zur sogenannten Muttersprache als vordergründig alleinigem Horizont der Dichtung. Generell umfasst literarische Mehrsprachigkeit, wie bereits angedeutet, weit mehr Phänomene als die in der Flinker-Umfrage adressierte textübergreifende 1.1 Celans Sprache(n) 27 <?page no="28"?> 58 John Felstiner, »Mother Tongue, Holy Tongue: On Translating and Not Translating Paul Celan«. Comparative Literature, 38: 2, 1986, S.-113-136, hier S.-121. 59 Siehe hierzu auch Kilchmann, Poetologie und Geschichte literarischer Mehrsprachig‐ keit, S.-244 u. 256. 60 Friederike Heimann, »›Schibboleth‹ oder ›heterologische Öffnung‹? Über das ›Gegen‐ wort‹ des Hebräischen in der Dichtung Paul Celans«. Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 2020- 2021, S.-35-56, hier S.-55. Zweisprachigkeit. Gerade im Werk Paul Celans sind die multilingualen Schreib‐ techniken äußerst facettenreich. Dazu gehören insbesondere Verfahren texti‐ nterner Sprachmischung in Form der Kopräsenz mehrerer (National-)Sprachen innerhalb einzelner Texte. Bemerkenswerterweise nimmt der Einsatz von Poly‐ glossie in seinen Gedichten gerade auf dem Höhepunkt der Goll-Affäre enorm zu, wie insbesondere der Band Die Niemandsrose erkennen lässt, dem John Fels‐ tiner einen »burst of polyglot energy« 58 attestiert hat. Angesichts dieses noch näher auszudifferenzierenden Gesamtbildes ist es notwendig zu unterstreichen, dass Celans isoliertes Votum gegen Polyglossie keineswegs mit romantischen Konzeptionen von Muttersprache und Nationalliteratur gleichzusetzen ist. 59 Die darin zum Ausdruck kommende Notwendigkeit seiner Selbstbehauptung als deutschsprachiger Dichter wird, wie zu zeigen ist, erst vor dem Hintergrund der Singularität seiner existenziellen, sprachlichen und (literatur-)geschichtlichen Situation verständlich. Aus den vorhergegangenen Analysen wird bereits deutlich, dass das im vorliegenden Buch entworfene Porträt Celans als mehrsprachiger Dichter sich zum Teil erheblich von gewissen Gemeinplätzen der Rezeptionsgeschichte unterscheidet. Anstelle einer Festlegung Celans auf Einsprachigkeit soll in diesem Rahmen all das hervorgehoben werden, was ihn vom herkömmlichen Ideal des Dichters als Muttersprachler unterscheidet. In diesem Zusammenhang muss allerdings hervorgehoben werden, dass viele Forschungsbeiträge neueren Datums der großen Komplexität von Paul Celans Beziehung zu Einbzw. Mehrsprachigkeit durchaus Rechnung tragen. So bemerkt beispielsweise Frie‐ derike Heimann in einem rezenten Aufsatz, der Dichter lasse »eine Vorstellung von Einsprachigkeit erkennen, die das Fremde auch als Fremdsprachiges mit umfasst, sodass Muttersprache und Fremdheit letztlich zusammen gedacht werden.« 60 Dabei führt die Öffnung des Deutschen zu einer Relativierung der Opposition ›monovs. multilingual‹. Irene Fußl insistiert ihrerseits in ihrer 2008 erschienenen Monographie auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen ›externer‹ und ›interner‹ Mehrsprachigkeit im Schaffen des Dichters. In diesem Zusammenhang stellt sie fest: »Wohl aber glaubt Celan an Mehrsprachigkeit in einem Gedicht, die über Assoziationen in fremden Sprachen und im Deutschen 28 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="29"?> 61 Irene Fußl, ›Geschenke an Aufmerksame‹. Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung in der Lyrik Paul Celans. Tübingen: Niemeyer, 2008, S. 41. Hervorhe‐ bung in der Quelle. 62 Erwähnt sei an dieser Stelle ebenfalls Celans Beschäftigung als Dolmetscher für die Kommission zur Einquartierung sowjetischer Offiziere in Czernowitz im Jahr 1940. Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-36. über historische Sprachschichtungen und Bedeutungen stattfindet.« 61 Über die Problematik der unaufkündbaren Beziehung zur Muttersprache hinaus gibt es in den deutschen Texten Celans eine durchgängige Praxis der Einflechtung anderer Sprachen, so der Tenor. Die Sichtweisen der beiden hier zitierten Interpretinnen verbindet unter anderem der Umstand, dass sie von der Beobachtung einer - sowohl expliziten als auch impliziten - Präsenz des Hebräischen bei Celan ausgehen, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird. Allerdings bildet diese jüdische Sprache trotz ihrer herausgehobenen, essenziellen, ja existenziellen Bedeutung keinen Einzelfall, sondern gehört zu einem breiten Spektrum sprachlicher Diversität in Celans Schaffen, das weit über den Horizont der deutschen Muttersprache hin‐ ausgeht. Denn trotz der prominenten Selbstaussagen des Autors und jenseits der desaströsen Plagiatsaffäre ist es eine sowohl biographisch als auch literarisch belegbare Tatsache, dass er sich zeitlebens in nicht nur einer, sondern zwischen mindestens drei Literatursprachen hin- und herbewegte: Deutsch, Rumänisch und Französisch. Diese Trias wurde durch eine ganze Reihe weiterer mehr oder weniger zentraler Sprachen ergänzt, auf die Celan als Dichter und Übersetzer zurückgreifen konnte. Dass Paul Celan ein herausragender und passionierter Übersetzer war, der Lyrik und Prosa aus nicht weniger als sieben Sprachen ins Deutsche übertragen hat, ist heute hinlänglich bekannt. Neben Übersetzungen ins Deutsche übertrug er dabei auch Texte in andere Zielsprachen, namentlich ins Rumänische und Französische, was ihm den besonderen Status eines multidirektionalen Überset‐ zers verleiht. 62 Zusätzlich hat er während seiner Bukarester Zeit aus dem Rus‐ sischen ins Rumänische übertragen, also von einer sogenannten Fremdsprache in eine andere. Dieses Beispiel zeigt bereits, dass die Kategorie ›Fremdsprache‹ im Kontext einer multilingualen Sprachbiographie wie derjenigen Celans unzu‐ reichend und problematisch ist. Daneben liegen im Nachlass Aphorismen und poetische Prosa vor, die direkt in rumänischer Sprache geschrieben wurden. Zuletzt gibt es zahlreiche Texte, die Celan auf Französisch verfasst hat: Notizen, Aphorismen, Tagebucheinträge, Briefe, ein auf Französisch geschriebenes Ge‐ dicht, Übersetzungen und Selbstübersetzungen ins Französische sowie eine 1.1 Celans Sprache(n) 29 <?page no="30"?> 63 Zum Begriff siehe u. a. Susan Arndt/ Dirk Naguschewski/ Robert Stockhammer, »Die Unselbstverständlichkeit der Sprache (Einleitung)«. In: Dies. (Hrsg.), Exophonie. An‐ ders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2007, S.-7-2. 64 Im Hinblick auf die Begriffsgeschichte des Wortfelds ›Sprache‹ wird die vorliegende Studie jedoch nicht vollkommen von der Bezeichnung ›Fremdsprache‹ absehen können. Genauso wenig wird sie wegen der wiederholten Verwendung durch den Dichter auf den Begriff ›Muttersprache‹ verzichten können. Zur Distanzierung von dieser problematischen Tradition und zur Relativierung der Leitdifferenz ›Fremd‐ sprache‹ vs. ›Muttersprache‹ werden jedoch Ausdrücke wie ›anderssprachig‹, ›hetero‐ lingual‹ oder ›exophon‹ bevorzugt. 65 Ulrike Draesner, »›Huhediblu«. In: Michael Eskin/ Karen Leeder/ Marko Pajević (Hrsg.), Paul Celan Today: A Companion. Berlin-Boston: De Gruyter, 2021, S. 325-338, hier S.-336. umfangreiche französische Korrespondenz mit seiner Frau Gisèle Celan-Lest‐ range (1927-1991). Die auf Rumänisch und Französisch unternommenen Schreibversuche Ce‐ lans, bzw. die in diesen Sprachen vorliegenden Texte legen es mithin nahe, diese beiden Sprachen nicht mehr als Fremdsprachen, sondern als sekundäre Literatursprachen des Autors zu qualifizieren. Der in der literarischen Mehr‐ sprachigkeitsforschung verbreitete Begriff ›Exophonie‹, 63 der nachfolgend zur Charakterisierung des Schreibens in ›nicht-muttersprachlichen‹ Sprachen über‐ nommen werden soll, dient diesbezüglich unter anderem dazu, den axiologisch bedenklichen Terminus ›Fremdsprache‹ zu vermeiden, der gerade bei der Beschäftigung mit Celans Werk in die Irre zu führen droht. 64 Ähnliches ließe sich über eine Bezeichnung wie ›ausländisch‹ sagen, die aufgrund von Celans Interkulturalität und Extraterritorialität - und der sich daraus ergebenden hybriden Identität des Autors - als unangemessen erscheinen muss. Anhand zahlreicher Dokumente - in Form von Notizen, Briefen und Ge‐ dichten - lässt sich nachverfolgen, wie der Dichter im Laufe seines Lebens immer mehr die Sprachen im Schreibfluss miteinander verwebte. Die deutsche Lyrikerin Ulrike Draesner beschreibt dieses charakteristische Sprachverhalten Celans mit den folgenden Worten: »Most of the time other languages moved through his head«. 65 Und vom ›Kopf‹ fanden diese Sprachen immer wieder ihren Weg ins Schreiben, ja in die publizierten Texte. In einem Brief an Hanne und Hermann Lenz aus dem Jahr 1957 formulierte es der Dichter wie folgt: »Ich wollte, ich könnte jetzt hebräisch oder zumindest lateinisch weiterschreiben, um Euch zu danken.« (Briefe, 273) In Anbetracht der vielen mehrsprachigen Textbefunde ist diese Äußerung nicht nur scherzhaft zu verstehen, auch wenn der betreffende Brief schließlich doch einsprachig bleibt. Gerade während der Entstehungszeit des Bandes Die Niemandsrose ist dieser polyglotte Impetus augenfällig, sodass beinahe der Eindruck entsteht, Mischsprachigkeit entwickle 30 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="31"?> 66 Aris Fioretos, »Zuviel, Zuwenig«. In: Michael Eskin (Hrsg.), Gespräche um Paul Celan, S.-97-131, hier S.-131. 67 Leonard M. Olschner, Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübert‐ ragungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, S.-47. 68 Nach einer unveröffentlichen Chronologie von Ariane Deluze, die Celan an diesem Abend begleitete. Zitiert nach Badiou, Bildbiographie, S.-421. 69 Celans Schreibweise auf diesen Notizbuch-Seiten lässt durchaus an den Begriff des ›Sprachen-Gossip‹ denken, den Uljana Wolf dazu verwendet, um translinguale Lyrik zu charakterisieren. Siehe Uljana Wolf, Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Berlin: kookbooks, 2021. sich bei Celan zu einer Art natürlichem Sprachgestus. Aris Fioretos spricht im Hinblick auf diese Tendenz von einem wahren »Sprachenrausch«, 66 den man oft bei Celan beobachten könne. Anstelle eines monolingualen Habitus ist beim Dichter mithin eine »selbstbe‐ wusste Beweglichkeit innerhalb der Sprachen« 67 zu konstatieren, wie Olschner schon 1985 schrieb. Um dies zu veranschaulichen, kann hier zunächst eine Anekdote wiedergegeben werden, die Badiou unlängst in seiner die Forschung erneuernden Bildbiographie bekannt gemacht hat: Während eines Besuchs in der legendären Pariser Harry’s Bar im Jahr 1966 wird Celan von einem ameri‐ kanischen Gast nach seinem Beruf gefragt. Anstatt wie allgemein üblich mit der Nennung einer Berufsbezeichnung zu antworten, übersetzt der junge Dichter spontan einen englischen Text in gleich vier Sprachen: »[Celan] holt Zettel und Stift hervor, notiert eine Strophe des Sonetts von Shakespeare und übersetzt sie ins Deutsche, Russische, Französische und Rumänische.« 68 Mehrsprachigkeit als Berufung und Existenzform, so wäre man versucht, diese Szene zu umschreiben. Vom klassischen Metier des literarischen Übersetzers unterscheidet sich dieser Gestus gerade durch die Übertragung in andere Sprachen als die sogenannte Muttersprache. Was die Schreibpraxis Celans angeht, kann darüber hinaus auf das sprach‐ liche Patchwork bestimmter Aufzeichnungen verwiesen werden, wie sie zum Beispiel in seinen Notizheften anzutreffen sind. Auf einer Heftseite aus dem März 1962 - um hier nur dieses besonders anschauliche Dokument zu betrachten - bewegt sich der Dichter dabei ganz natürlich und spontan von einem Idiom zum anderen und führt vier verschiedene Sprachen in wenigen Zeilen zusammen (Mikrolithen, 40; siehe Abb. 1): 69 Unter einem auf Französisch ver‐ fassten Aphorismus vom 24. März steht dort ein auf den 27. datierter Eintrag, in dem der Autor zunächst in kyrillischer Schrift einen Vers des russischen Lyrikers Sergej Jessenin (1895-1925) zitiert. Diese russischen Worte kommentiert er dann 1.1 Celans Sprache(n) 31 <?page no="32"?> 70 Dabei bezieht sich dieser Kommentar inhaltlich auf Celans Poetik des Übersetzens: »Ce vers de Essenine […] que j’ai traduit ›librement‹, c’est-à-dire en obéissant à toutes mes lois - qui sont aussi celles de mon époque et celle [sic] du temps vécu.« (»Diese Verse von Jessenin […], die ich ›frei‹ übersetzte, das heißt, indem ich all meinen Gesetzen gehorchte - welche auch die meiner Epoche und die des Durchlebten sind.«, Mikrolithen, 40). 71 Bei diesen Zeilen handelt es sich zum Teil um ein von seiner Frau Gisèle notiertes Diktat Celans. auf Französisch, indem er Auszüge aus seiner eigenen deutschen Übertragung 70 wiederaufnimmt und dabei gleichzeitig eine Parallele zu Kafka anführt, um schließlich am selben Tag noch mit einem (zweisprachigen) lateinischen Zitat fortzufahren. 71 32 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="33"?> Abb. 1: Seite aus einem »Gegenlichter« betitelten Schreibheft aus dem Jahr 1962. Bei den ersten drei Einträgen handelt es sich um ein von Gisèle Celan-Lestrange notiertes Diktat des Dichters (siehe die editorische Notiz in Mikrolithen, 372 f.). Paul Celan, Nachlass Paris. 1.1 Celans Sprache(n) 33 <?page no="34"?> 72 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-1-2. 73 Zu diesem Begriff siehe Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Le Seuil, 1982, S.-13. Entgegen der ebenso wirkmächtigen wie verwickelten Positionierung des Dich‐ ters in seiner Antwort auf die Flinker-Umfrage muss daher an dieser Stelle festgehalten werden, dass Celans Sprachpraxis und sein literarisches Schaffen zutiefst von einem »Sprachenpluralismus« 72 geprägt waren. Dies betrifft nicht zuletzt die Art und Weise, wie er seine Gedichte verfasst hat, was sich an zahlreichen Einzelstellen sowie anhand repräsentativer Texte durch das gesamte Werk hindurch zeigen lässt. Exemplarisch könnten dabei an dieser Stelle Gedichte wie »Erinnerung an Frankreich« (geschrieben 1947, veröffentlicht in Der Sand aus den Urnen, dann in Mohn und Gedächtnis, GW I, 53), »Huhediblu« (entstanden 1962, erschienen in Die Niemandsrose, GW I, 275 ff.) oder »Du sei wie du« (aus dem Jahr 1967, publiziert in Lichtzwang, GW-II, 327) genannt werden. Die diesen Texten gemeinsame Dimension markanter Mehrsprachigkeit spannt einen Bogen vom rumänischen Jugendzum Pariser Alterswerk, also über einen Zeitraum von rund drei Jahrzehnten. Bevor diese Beispiele im Laufe der Studie eingehender analysiert werden, soll ihre multilinguale Faktur an dieser Stelle kurz umrissen werden. Das als erstes zitierte, aus dem Frühwerk gegriffene Gedicht tritt in einen multi‐ lingualen Dialog mit der rumänischen Volkspoesie, die der Autor aus seiner Bukowiner Heimat kannte, sowie mit der französischen Sprache seiner spä‐ teren Wahlheimat. Das letzte, aus dem Spätwerk stammende Beispiel vereint Deutsch (bzw. Mittelhochdeutsch) mit dem Hebräischen, das ab dem mitt‐ leren Werk eine immer wichtigere Rolle spielt. »Huhediblu«, ein Gedicht aus der mittleren Schaffensphase, nimmt schließlich seinen Ursprung in einem originalsprachigen Verlaine-Zitat, aus dem sich mittels einer Reihe weiterer anderssprachiger Hypotexte 73 eine hochkomplexe polyglotte Sprachschöpfung herauskristallisiert. Dieses Gedicht wird in der vorliegenden Arbeit einer detail‐ lierten Analyse im Hinblick auf seine mehrsprachige Konstitution unterzogen (Kap.-2). In den eben erwähnten drei Gedichten sind insgesamt über ein halbes Dutzend Sprachen auszumachen. Solche Beispiele sprachmischender Dichtung sind bei Celan freilich nicht die Regel. Sie sind aber ebenso wenig die absolute Ausnahme, sondern stellen eine translinguale Kontinuitätslinie seines Werkes dar. Mit ›translingual‹ wird in diesem Zusammenhang die Fähigkeit der Spra‐ chen benannt, im Medium der Literatur miteinander zu interagieren, einander 34 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="35"?> 74 ›Translingual‹ versteht sich also im Folgenden im Sinne von ›über die Grenzen einer einzelnen Sprache hinaus‹, insbesondere wenn mehr als zwei Sprachen involviert sind. Dabei steht das Prozesshafte des Sprachkontakts im Vordergrund. Alternativ kommt die Bezeichnung ›interlingual‹ dann zum Einsatz, wenn es um die Beziehung bzw. Prozesse zwischen genau zwei Sprachen geht. Zielt die Verwendung des Terminus ›translingual‹ darauf ab, die Vorstellung fester Sprachgrenzen zu relativieren und die dynamischen Interaktionen zwischen den Sprachen - zuweilen innerhalb eines einzelnen Wortes - in den Vordergrund zu stellen, so steht ›mehrsprachig‹ (synonym auch: ›multilingual‹ und ›polyglott‹) seinerseits als Oberbegriff für alle möglichen Formen von Sprache im Plural. Auf die Literatur bezogen gilt dies auf individueller Ebene (sprachbiographisch), auf der Ebene des Gesamtwerk (textübergreifend) sowie auf der einzelner Texte (textintern). Zusätzlich werden im Folgenden Begrifflichkeiten von Michail M. Bachtin (›heteroglott‹ und ›polyphon‹) und Rainier Grutman (›heterolingual‹) verwendet. Näheres dazu weiter unten. 75 Im Gegensatz zur sprachwissenschaftlichen Forschungstradition wird dieser Terminus in der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung auch auf die Schriftsprache ange‐ wandt. Siehe hierzu u. a. Penelope Gardner-Chloros/ Daniel Weston, »Code-switching and multilingualism in literature«. Language and Literature, 24: 3, 2015, S.-182-193. zu beeinflussen und zu verändern. 74 Die Texte ›queren‹ gleichsam mehrere »Sprachräume« (Mikrolithen, 146), wobei sie die engen Grenzen der Einspra‐ chigkeit durch zwischensprachliche Prozesse infrage stellen. Gerade dieses ›Miteinander‹ verschiedener Sprachen innerhalb der Grundsprache Deutsch verleiht der Dichtung Paul Celans ihr einzigartiges Profil. Zu diesen Praktiken des Dichters, in denen sein Schreiben als Raum einer permanenten sprachlichen Aushandlung zwischen seiner deutschen Muttersprache und seinen ›anderen‹ Sprachen erkennbar wird, gehören neben der textinternen Sprachmischung bzw. dem Codeswitching (oder: Codemixing) 75 auch Formen des Sprachwechsels von Text zu Text, wie das Schreiben und Übersetzen in andere(n) Sprachen inklusive der Selbstübersetzung. 1.2 Deutsch als Aporie 1.2.1 Paradoxien und Doppelbotschaften Anlässlich des im Jahr 2020 - und leider während der Hauptphase der COVID-19-Pandemie - begangenen Dichter-Doppel-Jubiläums, bei dem parallel Celans hundertstem Geburts- und fünfzigstem Todestag gedacht wurde, hat die für polyglotte Stimmen höchst sensible Lyrikerin Ulrike Draesner unterstri‐ chen, wie dissonant Celans ostentative Ablehnung von Multilingualität wirkt. So stellt sie fest: »[Seine] Spracherfahrung, seine Sprachwahrnehmung und 1.2 Deutsch als Aporie 35 <?page no="36"?> 76 Ulrike Draesner, »Die Poesie reizt das Extrem«. In: Michael Eskin (Hrsg.), »Schwerer werden. Leichter sein«, S.-133-170, hier S.-155. 77 Ebd. 78 Theo Buck, Muttersprache - Mördersprache. Celan-Studien I. Aachen: Rimbaud, 1993. 79 Siehe hierzu Jenny Willner, Wortgewalt. Peter Weiss und die deutsche Sprache. Konstanz University Press, 2014. seine Arbeitsweise sprechen auch andere Sprachen«. 76 Gleichzeitig erkennt die promovierte Germanistin in dieser »unfreiwilligen Wahl« des Deutschen eine biographische und historische »Lebens-Notwendigkeit« 77 ihres Dichterahnens. Die einzig mögliche (Haupt-)Sprache seiner Gedichte war eben das Deutsche, an dem er mit allen Mitteln, ja um jeden Preis festhielt. Die deutsche Sprache ist Celans Mutter-›Zunge‹ in einem emphatischen und sehr konkreten Sinn als Sprache seiner während der NS-Herrschaft ermordeten Mutter, die ihn allererst die deutsche Sprache und ihre Literatur lieben gelernt hatte. Die existenzielle Dimension des Schreibens in dieser einen Sprache steht im Zentrum seiner Poetik. Angesichts des Todes, der als »Meister aus Deutschland« (»Todesfuge«, GW I, 41 f.) sein Leben, das seiner Familie und des gesamten jüdischen Volkes auszulöschen beabsichtigte, wird das Festhalten am Deutschen, so könnte man sagen, zum notwendigen Akt der Selbstbehauptung und zum einzigen Mittel, der Pflicht des Erinnerns adäquat nachzukommen. »[I]ch will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben«, mit diesen Worten wendet er sich 1946 an Max Rychner, »aber mein Schicksal ist dieses: deutsche Gedichte schreiben zu müssen« (Briefe, 27). Die hier angesprochene ›Schwere‹ des dichterischen Sprechens, die unter anderem im Gedicht »Huhediblu« (GW I, 275 ff.) thematisiert wird, findet schon in den frühesten Texten Celans ihren Ausdruck. Dieser mit der klassischen Antithese »Muttersprache-Mördersprache« 78 auf den Punkt gebrachte poetisch-biographische Sprachkonflikt führte bei Celan indes nicht zum Bruch mit dem Deutschen und damit zum Wechsel in eine andere, exophone Literatursprache. Hierin unterscheidet sich der Dichter von anderen nicht nur jüdischen (Exil-)Schriftstellern des 20. Jahrhunderts - man denke beispielsweise an Hannah Arendt (1906-1975), Klaus Mann (1906-1949), Georges-Arthur Goldschmidt (*1928) oder Aharon Appelfeld (1932-2018) -, die der deutschen Sprachen während der NS-Zeit vorrübergehend oder endgültig den Rücken zugekehrt haben. Ähnlich wie Peter Weiss (1916-1982), 79 wenn‐ gleich im Rahmen einer ganz anderen Poetik, wurde Celan durch sein eigenes Schicksal zu einem bewussten und schwierigem, ja schmerzlichen Festhalten am Deutschen veranlasst, obwohl ein Sprachwechsel für ihn - im Gegensatz 36 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="37"?> 80 Siehe Bertrand Badiou, »D’une main - et d’une autre main, préface«. In: Celan/ Char, Correspondance, S.-15. 81 Der Begriff ›Zweitsprache‹ versteht sich hier und im Folgenden nicht als Mittel der Hierarchisierung von Sprachen, sondern als neutrale Bezeichnung für neben dem Deutschen zentrale Sprachen der literarischen Arbeit bei Celan. Eine ›Zweitsprache‹ ist in dem Sinne keine ›zweite‹ (oder dritte usw.) Sprache, sondern eine ›andere‹ Sprache als die so genannten Muttersprache. 82 Petro Rychlo, »Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe …«. Deutschjüdische Dichter der Bukowina. Stuttgart: Ibidem, 2024, S.-9. 83 Diese mehrsprachige Prägung lässt sich allgemein in der rumänischen Literaturge‐ schichte beobachten, siehe Iulia Dondorici, »Plurilingualism in 19 th -Century Romanian Literatures«. In: Jana-Katharina Mende (Hrsg.), Hidden Multilingualism in 19 th -Century European Literature. Traditions, Texts, Theories. Berlin/ Boston: De Gruyter, 2023, S.-47-67. 84 Emmerich, Paul Celan und die Deutschen, S.-17-18. 85 Siehe u. a. Dorothea Müller-Altneu, »Erinnerungen an den jungen Paul Celan«. In: Rychlo (Hrsg.), Mit den Augen der Zeitgenossen, S.-41-45, hier S.-42. zu anderen, weniger polyglotten Autoren - von seinen Sprachkompetenzen her durchaus realisierbar gewesen wäre. 80 Zugleich ist das Deutsche aber eben nicht die einzige Sprache des gebürtigen Rumänen Celan, der mehrere andere Sprachen fließend und mitunter als regel‐ rechte Zweitsprachen beherrschte, 81 wie das Französische als Sprache seiner Pariser Wahlheimat. Diese bemerkenswerte Vielsprachigkeit des Dichters findet ihre Wurzeln in seiner (post-)habsburgischen Herkunft und seiner Sozialisation in der Bukowiner (und heute ukrainischen) Stadt Czernowitz, damalige Hoch‐ burg der Bildung, mit einer »einzigartige[n] Symbiose germano-romano-sla‐ wisch-jüdischer Kultur« 82 , wo Multilingualität den Normalfall darstellte. 83 Der Celan-Biograf Wolfgang Emmerich bringt diese mehrsprachige Prägung wie folgt auf den Punkt: »Dem jungen Mann aus einfachen Familien- und Bil‐ dungsverhältnissen stand eine kaum glaubliche Vielzahl von Sprachen zur Verfügung.« Sie begleiteten ihn durch sein ganzes Leben«, 84 wobei Emmerich neben dem Deutschen das Jiddische, Hebräische, Rumänische, Französisch, Lateinische, Griechische, Englische und Russische erwähnt. Diese Liste könnte man noch um das Ukrainische ergänzen, 85 das gerade im Lichte aktueller Ereignisse nicht mit dem Russischen verwechselt werden sollte. Celans multilinguale Prägungen und Kompetenzen sind herausragend und scheinen einmalig. Vor dem Hintergrund seiner Czernowitzer Sozialisation und seines späteren Lebenswegs über Bukarest nach Paris lassen sie sich jedoch zum Großteil kontextuell herleiten und erklären. In erster Linie relevant ist im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache, dass sich diese Sprachbiographie - mitsamt der ihr eingeschriebenen Brüche - direkt auf seine Literaturpraxis 1.2 Deutsch als Aporie 37 <?page no="38"?> 86 Jacques Derrida, Le monolinguisme de l’autre, ou la prothèse d’origine. Paris: Galilée, 1996, S.-130. 87 Draesner, »›Huhediblu‹«, S.-337. ausgewirkt hat. Kaum ein Autor der jüngeren deutschen Literaturgeschichte, so könnte man sagen, fühlte sich so existenziell an das Deutsche gebunden wie Paul Celan. Doch andererseits hat kaum ein Autor deutscher Zunge in seinem Schreiben so intensiv auf andere Sprachen zurückgegriffen wie er. So lautet eine der vielen Doppelbotschaften, die sich aus dem für sein Schaffen grundlegenden Konflikt zwischen Muttersprache und Mördersprache ergeben. Der französische Philosoph Jacques Derrida, der Celan in den 1960er-Jahren als Kollege in der Pariser École Normale Supérieure kannte, hat hierfür folgende schöne Formulierung gefunden: Celan, ce poète-traducteur qui, écrivant dans la langue de l’autre et de l’holocauste, inscrivant Babel dans le corps même de chaque poème, revendiqua pourtant expres‐ sément, signa et scella le monolinguisme poétique de son œuvre. [Celan, dieser Dichter-Übersetzer, der, obwohl er in der Sprache des Anderen und des Holocausts schrieb und Babel direkt in den Körper jedes einzelnen Gedichts einschrieb, ausdrücklich die dichterische Einsprachigkeit seines Werkes für sich beanspruchte.] 86 In Derridas Perspektive, der in der vorliegenden Untersuchung weitestgehend gefolgt werden soll, gehen ›Babelisierung‹ der Dichtungssprache und erklärte Einsprachigkeit demnach Hand in Hand. Mag das vom Philosophen bemühte Bild der babylonischen Sprachverwirrung zunächst etwas überzogen wirken, ist die Präsenz dieser anderen - und nur unzureichend als ›fremd‹ bezeichneten - Sprachen in Celans Schreiben in der Tat auffällig, frappierend, ja zum Teil massiv. Das Deutsche als Matrixsprache - im doppelten Sinne des Ausdrucks: als Trägersprache in einem multilingualen Kontext sowie als ›mütterliche Zunge‹ (lingua matrix) - bildet in seinem Werk die Basis, auf der sich eine Vielzahl und Vielfalt multilingualer Vorgänge abspielt. Der herausragende Stellenwert von Celans Mehrsprachigkeit als integraler Bestandteil seiner Elaboration eines radikal neuen, ›unerhörten‹ Sprechens innerhalb der ererbten Muttersprache steht damit in einem engen Zusammen‐ hang mit der eben skizzierten, sprachlichen Double-Bind-Situation des Dichters gegenüber dem Deutschen. Wie Draesner im Hinblick auf das Gedicht »Hu‐ hediblu« schreibt, kämpft der Autor in seinem Werk mit den Mitteln seiner singulären Dichtungssprache gegen die Illusion, sich von der deutschen Sprache loslösen zu können (»the illusion of escaping the German language«). 87 Somit 38 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="39"?> 88 Siehe Max Brod/ Franz Kafka, Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M.: Fischer, 1989, S. 360. Kafka spricht dort von der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, und der Unmöglichkeit, anders zu schreiben. 89 Bertrand Badiou, »Editorisches Nachwort«, S.-11. 90 Petre Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească. Bukarest: Kriterion, 1987, S. 277. 91 Patrice Djoufak bringt Celans Schreiben sogar in die Nähe solcher Begriffe wie ›Kreolisierung‹ im Sinne Edouard Glissants. Siehe Patrice Djoufak, Entortung, hybride Sprache und Identitätsbildung. Zur Erfindung von Sprache und Identität bei Franz Kafka, Elias Canetti und Paul Celan. Göttingen: V&R Unipress, 2010. 92 Siehe Jürgen Brokoff, »›Auf welchen Umwegen! ‹ Der frühe Paul Celan und die europäische Avantgarde«. In: Stephanie Bung/ Susanne Zepp (Hsrg.), Migration und Avantgarde: Paris 1917-1962. Berlin-Boston, De Gruyter, 2020, S. 209-221, hier S. 214. finden seine multilingualen Schreibtechniken ihren Ursprung nicht zuletzt in einer entfernt an Kafka erinnernden doppelten Unmöglichkeit: Der Unmöglich‐ keit, als Jude nach der NS-Zeit weiter wie gewohnt auf Deutsch zu schreiben, und der Unmöglichkeit, als deutschsprachiger Jude einfach auf das Deutsche zu verzichten. 88 In diesem Sinne könnte das Einflechten anderssprachiger Wörter, Aus‐ drücke und Zitate, wodurch Celan das Deutsche gleichsam von innen heraus mit ›Fremdem‹ durchsetzt, als Teil einer grundsätzlichen Strategie begriffen werden, die darin besteht, dass er »durch den einzigartigen und kritischen Ge‐ brauch, den er von dieser Sprache macht, die Gewaltsamkeiten der Geschichte gegen die Sprache selbst richtet«, 89 wie Bertrand Badiou es ausdrückt. Celans Jugendfreund Petre Solomon hingegen erkennt in dieser multilingualen Arbeit am Deutschen weniger den aggressiv-destruktiven Gestus als den Willen, eine einzigartige Synthese der Sprachen und Kulturen zu erzeugen. 90 Beide Perspektiven - die sprachkritische und die kosmopolitische - schließen sich keineswegs gegenseitig aus. Als Medium von kritischer Distanzierung, sprachli‐ cher Verfremdung sowie interkultureller Hybridisierung 91 wird Multilingualität bei Celan gleichsam zur notwendigen Bedingung des (Weiter-)Schreibens deut‐ scher Gedichte. 92 Auf diese Art führt Celan autonomieästhetische Ansätze der Subversion herrschender Maßstäbe, Sichtweisen und Normen - man denke nur an die Theorie der Verfremdung (остранение/ ostranenie) bei den russischen Formalisten - weiter, wobei er diese literarische Ästhetik auf Grundlage seiner existenziellen Situation als deutsch-jüdischer Dichter nach dem Zivilisations‐ bruch der Judenvernichtung ›aktualisiert‹. In diesem Sinne könnte eine solche Öffnung auf sprachliche Alterität und Pluralität als indirekte Antwort auf Theodor W. Adornos viel zitiertes Diktum 1.2 Deutsch als Aporie 39 <?page no="40"?> 93 Theodor W. Adorno, »Kulturkritik und Gesellschaft«. In: Ders., Gesammelte Schriften. Band-10.1, Frankfurt-a.-M.: Suhrkamp, 1977 [1949], S.-11-30, hier S.-30. 94 Theodor W. Adorno: »Wörter aus der Fremde«. In: Ders., Noten zur Literatur. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt-a.-M.: Suhrkamp, 1981 [1959], S.-216-232. 95 Böttiger, Celans Zerrissenheit. 96 Emmerich, Nahe Fremde, S.-211. 97 »1. On ne parle jamais qu’une langue — ou plutôt un seul idiome. / 2. On ne parle jamais une seule langue — ou plutôt il n’y a pas d’idome pur.« Derrida, Le monolinguisme de l’autre, S.-23. gesehen werden, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei »barbarisch«. 93 Denn der berühmte Philosoph der Frankfurter Schule, dessen Worte aus dem Jahr 1949 Celan zugleich bestürzt und herausgefordert haben, bezieht sich in diesem Zitat implizit auf eine bestimmte (monolinguale) Tradition klassisch-ro‐ mantischer Lyrik, durch die er geprägt wurde. Von dieser - wie Celan als Reaktion auf Adorno notierte - »Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive« (Mikrolithen, 122) wollte sich der Dichter mit seiner eigenen, polyphon-mul‐ tilingual verfremdeten Dichtungssprache gerade absetzen. Adornos spätere Ausführungen zu den »Wörtern aus der Fremde« 94 als Antidoton gegen einen sich als naturhaft-ursprünglich gebenden »Jargon der Eigentlichkeit« erlauben es aber letztlich, eine Verbindung zwischen den Konzeptionen beider Autoren zu ziehen. Angesichts von »Celans Zerrissenheit« 95 erscheint es im Rahmen der vorlie‐ genden Untersuchung als wenig fruchtbar, den Widerspruch zwischen dem öffentlichen Statement gegen Mehrbzw. Zweisprachigkeit und der konkreten multilingualen Arbeits- und Schreibweise des Dichters zu Gunsten eines ein‐ zigen Poles auflösen zu wollen. Das Paradox von theoretischer Einsprachigkeit und praktischer Mehrsprachigkeit muss vielmehr in seiner Produktivität akzep‐ tiert werden. Ist es doch gerade die Tatsache des Festhaltens am Deutschen beim gleichzeitigen Versuch, der »Falle Muttersprache-Mördersprache« 96 zu entkommen, die den verstärkten Rückgriff auf andere Sprachen in seinem Schreiben notwendig zu machen scheint, sodass beide Perspektiven unauflös‐ lich miteinander verbunden sind. Zugespitzt formuliert, gibt es letzten Endes in Celans Schreiben keinen apodiktischen Gegensatz von ›einsprachig‹ und ›mehrsprachig‹, sondern vielmehr ein ebenso facettenreiches wie poetisch fruchtbares Neben- und Miteinander beider Positionen. Frei nach dem von Derrida in seinem sprachphilosophischen Hauptwerk Le monolinguisme de l’autre formulierten Sprachdenken könnte man die vor‐ liegende Problematik auch als Antinomie formulieren: Celan schreibt immer nur Deutsch - Celan schreibt nie nur Deutsch. 97 Die seit Jahrzehnten geführte Debatte um die Einreihung des Autors in den Kanon ein- oder mehrsprachiger 40 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="41"?> 98 Siehe Böttiger, Celans Zerrissenheit. Literatur scheitert letzten Endes an der aporetischen Verfasstheit seines Werks. Seine Situation als jüdischer Dichter im Deutschen ist grundsätzlich ausweglos (a-poria), was beim Leser (und Literaturwissenschaftler) die Bereitschaft vor‐ aussetzt, die für dieses Werk konstitutiven Spannungen auszuhalten. Wie der Dichter selbst in einer poetologischen Notiz schrieb, sind seine Gedichte grund‐ sätzlich paradox (Mikrolithen, 96). Und solche Paradoxien tragen sicherlich nicht unerheblich zu der Faszination bei, die seine Texte bis heute auf ihre Leser ausüben. Drei von diesen Paradoxien und die daraus resultierenden Doppelbotschaften wurden schon angesprochen: Erstens wollte Celan grundsätzlich nicht als Außenseiter abgestempelt werden, nahm aber selbst immer wieder dezidiert eine singuläre Randposition ein. Er wehrte sich vehement gegen jeden Aus‐ grenzungsversuch, blieb indessen stets auf kritische Distanz zu Deutschland, Österreich und dem deutschsprachigen Literaturbetrieb bedacht. Zweitens blieb Celan dem Deutschen als Mutter- und Dichtungssprache treu, hat es aber gleichsam von innen heraus verändert, verfremdet und dekonstruie‐ rend an seine Grenzen gebracht. Er schrieb auf Deutsch, doch in einer von ›nicht deutschen‹ Einflechtungen durchzogenen und den Deutschen gleichsam fremden Sprache. Drittens sprach sich Celan gegen mehrsprachige (bzw. text‐ extern-zweisprachige) Dichtung aus, doch sind sogenannte Fremdsprachen in seinem literarischen Schaffen stark präsent - in bestimmten Texten oder Schreibphasen treten sie sogar massiv auf. Er opponierte offen gegen polyglotte Dichtung, bewegt sich aber gleichzeitig permanent auf der Grenze zwischen den Sprachen, wobei er eine einzigartige Öffnung der deutschen Dichtungssprache gegenüber sprachlicher Alterität und Pluralität betrieb. 1.2.2 Lyrik als sprachexperimenteller Gedächtnisort Wie man sieht, trägt Paul Celans Œuvre insofern widersprüchliche Züge, als es eine Reihe heterogener bis antagonistischer Traditionen und Paradigmen in sich vereint, wobei einzelne Positionen trotz ihrer wichtigen und durchaus positiven Rolle immer wieder zurückgewiesen, ja bekämpft werden, wie es u. a. beim Problem der Zweisprachigkeit der Fall ist. Helmut Böttiger hat diese paradoxale Funktionsweise jüngst anhand von Celans zwiespältiger Beziehungen zu kul‐ turkonservativen Kreisen in der Bundesrepublik Deutschland - insbesondere zu Martin Heidegger und dessen Umfeld - beispielhaft dargestellt. 98 Einen weiteren zentralen Bezugspunkt bildet in diesem Zusammenhang die (im weitesten 1.2 Deutsch als Aporie 41 <?page no="42"?> 99 Reichert - Celan, Erinnerungen und Briefe, S.-174. Sinne) avantgardistische Tradition der deutschsprachigen Literatur, ausgehend von der Rezeption des französischen Symbolismus während der Jahrhundert‐ wende, über Expressionismus, Dadaismus, Futurismus und Surrealismus bis hin zu den Nachkriegs-Avantgarden der 1960er-Jahre. Im Rahmen seiner »radikale[n] In-Frage-Stellung der Kunst« (GW III, 192 f.), wie sie explizit in Der Meridian, seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises (1960), thematisiert wird, hat sich der Dichter wiederholt von dieser Traditi‐ onslinie und ihren Nachkriegsrepräsentanten distanziert - beispielhaft von Gottfried Benn und dessen ästhetizistischer Poetik (s. Mikrolithen, 143). Weder in die Nähe des Paradigmas ›reiner Poesie‹ noch in die Nachbarschaft akus‐ tisch-visueller Experimente, wie sie unter anderem von der Konkreten Poesie und vom Lettrismus praktiziert wurden, wollte er gebracht werden. An seinen damaligen Lektor Klaus Reichert schrieb er: »›Artistik‹: nein, das sind, obwohl mir das wiederholt und ausgesprochen wohlmeinend attestiert wurde, meine Arbeiten in keiner Hinsicht.« 99 Genauso bestand der Autor nachdrücklich auf der Abgrenzung vom Surrealismus - sei er französisch, rumänisch oder deutsch - damit die Literaturkritik nicht den »Unsinn« weiter verbreite, seine Gedichte seien »surrealistisch«, wie er 1958 in einem Brief an Günther Neske schreibt (Briefe, 331). Dabei muss in Erinnerung gerufen werden, dass gerade Yvan Goll literaturhistorisch als einer der Gründerväter des Surrealismus gilt. An dieser Stelle wird eine zentrale Verbindungslinie erkennbar zwischen: 1. der literaturgeschichtlichen Zugehörigkeit des Poeten Yvan Goll zum Sur‐ realismus, 2. den von dessen Witwe erhobenen Plagiatsvorwürfen (mitsamt der sich daran anschließenden öffentlichen, antisemitisch geprägten Diffama‐ tionskampagne) und 3. der Beurteilung von Celans Lyrik durch die Kritik als artistisch, beliebig und realitätsfern, so unter anderem bei Günter Blöcker. All diese Punkte bildeten in den Augen Paul Celans einen umfassenden Verwei‐ sungszusammenhang, der sich im Laufe der Zeit immer klarer abzeichnete und in dessen Zentrum eine Leugnung des Wahrheitsgehalts seiner Dichtung ›nach Auschwitz‹ stand. Wie beim Thema ›Zweisprachigkeit‹ besteht also auch bei der ›Artistik‹ eine enge Verbindung zu Celans Kampf gegen die wiederholten Anfeindungen vonseiten des deutschen Literaturbetriebs. Wie aus zahlreichen und zum Teil bereits zitierten Textstellen hervorgeht, konzipierte Celan seine Gedichte in erster Linie als Gedächtnisort für die sechs Millionen ermordeten Juden Europas, angefangen bei seiner eigenen Mutter. Der ›Realismus‹ seiner Texte in Bezug auf die Geschichte des Genozids, seiner historischen Vorläufer und ideologischen Quellen liegt klar auf der 42 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="43"?> 100 Badiou, Bildbiographie, S.-326. 101 Siehe Hans-Peter Bayerdörfer, »Poetischer Sarkasmus. ›Fadensonnen‹ und die Wende zum Spätwerk«. Text und Kritik: Paul Celan, Heft 53-54, 1. Auflage, 1977, S.-42-54. Hand, was viele zeitgenössische Kritiker allerdings zunächst übersahen oder besser gesagt zu ignorieren suchten. Heutzutage steht die Rezeption von Celans Werk hingegen ganz im Zeichen dieses memoriellen Ansatzes, wodurch viele seiner Gedichte eigentlich erst ›lesbar‹ werden. Im Kontext der apologetischen Tendenzen der jungen Bundesrepublik fehlte das Bewusstsein für das ›Wirk‐ lichkeitswunde‹ (s. GW-III, 186) dieser Lyrik hingegen offensichtlich bei vielen deutschen Lesern, was der Dichter immer wieder feststellen musste. Auf diese Weise wird ersichtlich, dass Celans Kritik am ›Wortkunststück‹ der literarischen Polyglossie - über das naheliegende Ziel Yvan und Claire Goll samt ihrer vielen Helfershelfer hinaus - auch auf die allgemeine Verdrängung der NS-Verbrechen im Deutschland der 1950er und -60er Jahre abzielt. Daher tendieren Ausdrücke wie ›Artistik‹, ›Doppelzüngigkeit‹ oder ›Zweisprachigkeit‹ unter seiner Feder letztlich dazu, zu einem alternativen Begriff für die sogenannte Auschwitz-Lüge zu werden. Exemplarisch für eine solche begriffliche Assoziation ist das weiter oben erwähnte poetologische Gedicht »Weggebeizt« (GW II, 31), in dem das »bunte Gerede des An-/ erlebten« (V. 3-4) als ›Meineid‹ (»hundert-/ züngige Mein-/ gedicht«, V.-4-6) dargestellt wird. Gegenüber einer solchen, stark antagonistischen Konzeption der verschie‐ denen ästhetischen Positionen, durch die Celans Werk nahezu aus seinen literaturhistorischen Zusammenhängen herausgelöst zu werden droht, muss allerdings betont werden, dass sein Schreiben durchaus eine hohe Affinität zur Tradition der Avantgarde, ja dem Sprachexperiment erkennen lässt. Dieses nachweislich bei ihm präsente sprachexperimentelle Erbe ist ebenso problem‐ belastet wie grundlegend für seine Dichtung. Celans Bukarester Jugendfreund Petre Solomon war einer der Ersten, der die nachhaltige Bedeutung der sprach‐ experimentell-sprachspielerischen Tradition für sein Schreiben unterstrichen hat. Ganz ähnlich bestätigte Bertrand Badiou später unter biographischer Perspektive: »[Celan] liebt[e] es, mit Worten zu spielen«. 100 Die Belege für diesen Zug seines Schreibens lassen sich in vielen Texten aus seinem Frühwerk finden. Aber auch zahlreiche Briefe und Gedichte seines mittleren und späten Werkes lassen diese Traditionslinie klar erkennen. 101 Nicht anders als seine Beziehung zur deutschen Sprache und zur Mehrspra‐ chigkeit ist Paul Celans Verhältnis zum Sprachexperiment also zutiefst ambig. Unter dem Namen ›Artistik‹ wird es von ihm abgelehnt, gleichzeitig sind sprachspielerische Ansätze in seinem Schreiben äußerst produktiv, wie schon 1.2 Deutsch als Aporie 43 <?page no="44"?> 102 Siehe Christoph Perels, »Erhellende Metathesen. Zu einer poetischen Verfahrensweise Paul Celans«. In: Winfried Menninghaus/ Werner Hamacher (Hrsg.), Paul Celan. Frank‐ furt a. M.: Suhrkamp, 1988, S.-127-138. 103 Siehe hierzu auch Badious Ausführungen zu Tristan/ Tantris als ursprünglichem Vorbild dieses Anagramms (Badiou, Bildbiographie, S. 58). Im späteren Werk besitzen diese Schreibverfahren häufig eine polemische Funktion, wie die mehrmals von ihm benutzte mehrsprachige Signatur »Pawel Lwowitsch, / russkij poët in partibus nemestkich infidelium« (Briefe, 540) zeigt. 104 Günter Saße, Sprache und Kritik. Untersuchung zur Sprachkritik der Moderne. Göt‐ tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1977, S.-71ff. 105 Im Sinne einer solchen Verbindung von Offenheit und Präzision könnte womöglich auch der von Hugo Huppert überlieferte und oft zitierte Ausdruck »Mehrdeutigkeit ohne Maske« verstanden werden. Siehe Hugo Huppert, »›Spirituell‹. Ein Gespräch mit Paul Celan«. In: Menninghaus/ Hamacher (Hrsg.), Paul Celan, S.-319-324, hier 321. sein häufiger Gebrauch von Assonanz, Reim und Metathese zeigt. 102 In diesem Zusammenhang kann auf spielerisch-ironische Gedichte wie »Abzählreime« (GW III, 133) und Scherzgedichte wie »Großes Geburtstagsblaublau mit Reim‐ zeug und Assonanz« (GW III, 134) verwiesen werden. Nicht zuletzt Celans Künstlername - ein Anagramm seines Geburtsnamens Antschel - zeugt von der fast intimen Bedeutung solcher Figuren. 103 Seine späten Übertragungen von Lautgedichten des russischen Futuristen Velimir Chlebnikov (1885-1922, GW V, 293-301) sind ein weiteres Indiz für seine weit über die rumänische Periode hinausreichende Affinität zum Sprachexperiment und zur Erkundung der Mög‐ lichkeiten und Grenzen der Sprache. Daher ist es auch fraglich, ob der Dichter wirklich zur »sprachtraditionellen Moderne« zu zählen ist, wie es Günther Saße einst behauptet hat. 104 Vielmehr sollte gerade die sprachexperimentelle Dimension seiner Lyrik stärker gewürdigt werden als das bisher im Gros der Forschung der Fall war. Durch diese ambivalente Haltung gegenüber der ›Wortkunst‹ ergibt sich schließlich für sein gesamtes Œuvre ein latenter Widerspruch zwischen Ge‐ dächtnisort und Sprachexperiment bzw. eine weitere Paradoxie, die man wie folgt formulieren könnte: Celans Lyrik zielt auf einen konkreten und präzisen Sinn ab, doch gleichzeitig ist sie nicht zuletzt aufgrund der in ihr zum Einsatz kommenden experimentellen Mittel intrinsisch mehrdeutig. In seiner bereits zitierten Antwort auf eine frühere Umfrage der Librairie Flinker hat der Lyriker diese Spannung 1958 wie folgt auf den Punkt gebracht: »Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision.« (GW III, 167). »Vielstelligkeit«, sprich: die Mehrdeutigkeit des Gedichts, und »Präzi‐ sion«, also der genaue Sinn, der Verweis auf Daten und Ereignisse sowie die Gedächtnisarbeit müssen demnach in seiner Dichtung stets zusammengedacht werden. 105 44 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="45"?> 106 Werner, Textgräber, S.-39. 107 Siehe hierzu seine Kritik an der »Mischsprache der Anderthalbstarken der Lyrik« und am »Poundchinesisch« (als Chiffre für den polyglotten Still des amerikanischen Dichters), TCA, M, 170-171. 108 Zur Beziehung Celans zu Joyce siehe Badiou, Bildbiographie, S.-81-82. Diese Hervorhebung einer notwendigen »Vielstelligkeit des Ausdrucks« durch Celan führt zur Problematik der Mehrsprachigkeit zurück, die - wie diese Studie nachzuweisen beabsichtigt - in seinem Werk gerade als eines der her‐ ausragenden Mittel zur Herstellung von sprachlicher »Mehrfachbelichtung« 106 fungiert. Dabei tritt erneut die komplexe Ambivalenz seiner literaturhistori‐ schen und -ästhetischen Positionierung zutage. Denn wie gesehen stellt sich der Dichter einerseits gegen die teils avantgardistische, teils modische Polyglossie der Literatur seiner Zeit, wie auch allgemein gegen eine auf den Dadaismus zurückgehende literaturhistorische Traditionslinie multilingualer Literatur, was neben der berühmten Flinker-Umfrage auch aus anderen Quellen hervorgeht. 107 Gleichzeitig wurzelt aber sein Schreiben - insbesondere dessen mehrsprachige Affinitäten - in einer mit den historischen Avantgarden und deren multilingu‐ alem Habitus durchaus vergleichbaren Sprachkrise und Sprachskepsis - freilich in zwei historisch nur begrenzt vergleichbaren Kontexten. Dieses literarische Erbe wird ergänzt durch individuelle, (sprach-)biographische, ja existenzielle Motive, die sich aus seiner besonderen historischen Situation Celans als jüdi‐ scher Dichter nach der Judenvernichtung ergeben und ihn von den Avantgarden des beginnenden 20.-Jahrhunderts unterscheiden. An diesem Punkt wird die doppelte historisch-biographische Quelle sichtbar, aus der sich die Multilingualität des Dichters speist: Das avantgardistische Paradigma der radikalen Sprachkrise, so wie es nach der Jahrhundertwende insbesondere im Dadaismus zum Ausdruck kommt, aktualisiert durch die (Sprach-)Biographie des Autors und die mit ihr verbundene historisch-litera‐ rische (Sprach-)Erfahrung als Überlebender der Judenvernichtung. Insofern werden die von den historischen Avantgarden eingeführten Techniken, die über die Rezeption solcher Autoren wie James Joyce 108 und T. S. Eliot von der deutschen Nachkriegsliteratur aufgenommen wurden, vom jüdischen Dichter nicht rundweg verworfen; vielmehr werden sie in einen anderen, spezifischen Kontext überführt, in dem sie dann zum Teil ganz neue Funktionen erfüllen. Gleichsam als literaturhistorisches Mittelglied fungieren in diesem Zusammen‐ hang die Auseinandersetzung um Muttersprache und fremde Sprachen in der deutschsprachigen Exilliteratur, in deren Rahmen bereits »ein vorsichtiges Ex‐ 1.2 Deutsch als Aporie 45 <?page no="46"?> 109 Kilchmann, Poetologie und Geschichte literarischer Mehrsprachigkeit, S. 150. Siehe auch Doerte Bischoff/ Christoph Gabriel/ Esther Kilchmann (Hrsg.), Sprache(n) im Exil. Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch, 32, 2014. München: Text+Kritik, 2014. 110 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand hrsg. und kommentiert von Elke Fröhlich. Stuttgart: Reclam, 2020 [1947]. perimentieren mit translingualen Öffnungen des Deutschen« 109 zu beobachten ist, wie Esther Kilchmann gezeigt hat. Unter dem Blickwinkel der literarischen Mehrsprachigkeit stellt die Epoche der Exilliteratur demnach nicht nur einen Bruch dar, sondern hat in gewisser Weise auch als Katalysator multilingualer Schreibweisen gewirkt. 1.2.3 Schicksalhafte Einmaligkeit der Sprache Paul Celans gespanntes, kompliziertes, ja paradoxales Verhältnis zur deutschen Sprache, so wie es eben umrissen wurde, lässt sich anhand zahlreicher Passagen aus seinen poetologischen Texten illustrieren. Bereits im frühesten der grundle‐ genden Dokumente seiner Poetik, der Rede anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises aus dem Jahr 1958, wird dieser Aspekt deutlich sichtbar. Dort bezeichnet der Dichter die (bzw. seine) »Sprache« als etwas »Nah[es]« und »Unverloren[es]« (GW III, 185). Wie er schreibt, »blieb« die Sprache, trotz aller Verluste. Gleichzeitig gab sie aber »keine Worte her für das, was geschah«. Die Sprache trat in »furchtbares Verstummen« angesichts der »tausend Finsternisse todbringender Rede« (GW III, 185-186). Hinter dieser Formulierung lässt sich unschwer ein Verweis auf die von Victor Klemperer beispielhaft beschriebene Lingua Tertii Imperii (LTI) 110 ausmachen. Aber auch die unmittelbare Verbindung zwischen deutschem Befehl und massenhafter Ermordung in den NS-Lagern sowie andernorts wird durch diese Formulierung benannt. Überleben der (deutschen) Sprache und notwendiges Verstummen stehen sich demnach in Paul Celans Bremer Rede zunächst nahezu unvereinbar gegenüber. Die Sprache blieb erhalten, jedoch war sie gleichsam wortlos angesichts der neuen, unfassbaren Realität. Erst die folgenden Zeilen der Rede eröffnen einen Ausweg: Die deutsche Sprache »ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem.« (GW III, 186) In der Meridian-Rede wird Celan zwei Jahre später in ganz ähnlicher Weise - und erneut vor dem Hintergrund der »Neigung zum Verstummen« - vom Gedicht als »aktualisierter Sprache« (GW-III, 197) sprechen, wobei er ebenfalls auf die Semantik des Gedenkens zurückgreift. Diese ›Anreicherung‹ bzw. ›Ak‐ tualisierung‹ der Sprache, die freilich als sprachliche Bewahrung historischer Erfahrung, namentlich der Gräuel des sogenannten Dritten Reichs, zu begreifen 46 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="47"?> 111 Siehe Salomon Korn, Geteilte Erinnerung. Beiträge zur ›deutsch-jüdischen‹ Gegenwart. Berlin: Philo-Verlag, 1999, S.-201. 112 Vgl. Georges-Arthur Goldschmidt, Die Absonderung. Zürich: Ammann, 1991. ist, bildet, so lässt sich hier festhalten, die Grundlage für die Konstituierung von Celans singulärem Idiom. Paul Celan - das soll an dieser Stelle grundsätzlich betont werden - hat also nicht etwa den Deutschen ›nach Auschwitz‹ ihre alte Dichtungssprache, die eines Hölderlin beispielsweise, zurückgegeben - als Versöhnungsgeschenk sozusagen. War die deutsche Sprache »unverloren«, wie er in der Bremer Rede schreibt (GW III, 185), so konnte sie auch nicht einfach ›wiederge‐ funden‹ werden. Tatsächlich war ja die deutsche Dichtungssprache niemals verschwunden, auch nicht während der NS-Zeit, wie die Literaturgeschichte zeigt. Als jüdischer Überlebender musste sich Celans diese Sprache allerdings nach der in deutschem Namen verübten Judenvernichtung erst wieder neu aneignen. Und im Zuge dieses Prozesses hat er sie bewusst mit seiner ganz eigenen, ›fremden‹ Prägung versehen. So wie ein dauerhaftes Miteinander zwischen Deutschen und Juden nach dem, »was geschah« (GW III, 186), nur im Bewusstsein des dauerhaft Trennenden möglich zu sein scheint, 111 gehört der - insbesondere mit den Mitteln der Mehrsprachigkeit erzeugte - Prozess sprachlicher ›Absonderung‹ 112 fest zur Poetik Celans als deutsch-jüdischem Dichter nach 1945. An dieser Stelle ist auf das »schicksalhaft Einmalige der Sprache« (GW III, 175) zurückzukommen, das Celan in seiner Antwort auf die Flinker-Frage ins Feld führt. Der Begriff ›Einmaligkeit‹ dient in diesem Zusammenhang der Zurückweisung der von der Umfrage thematisierten ›Zweisprachigkeit‹ - gleichsam als Gegenüberstellung von Singular(ität) und Plural (bzw. Dual). Über das Motiv des ›Schicksals‹ verweisen seine Worte gleichzeitig auf die individuell-biographische Dimension seines Schreibens. Denn wie Celan an anderer Stelle schreibt, geht der Dichter »mit seinem Dasein zur Sprache« (GW-III, 186), er spricht unter dem »Neigungswinkel seiner Existenz« (GW-III, 168). Es ist also »niemals die Sprache selbst, die Sprache schlechthin am Werk« (GW III, 167-168), was sich als indirekte Kritik an Heideggers Sprachdenken verstehen ließe. Stattdessen geht es um »radikale[] Individuation« (GW III, 197) in der Sprache, d. h. um ein individuelles Sprechen im Medium der Dichtung. Diese für Celans Dichtungskonzeption wesentliche Verbindung von poetischer Sprache und individuellem Schicksal wird auch in folgender Notiz aus dem Nachlass deutlich: »Im Gedicht: Vergegenwärtigung einer Person als Sprache, Vergegenwärtigung der Sprache als Person.« (TCA, M, 114). 1.2 Deutsch als Aporie 47 <?page no="48"?> 113 Interessanterweise wird der Begriff ›Anreicherung‹ auch in der heutigen Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit benutzt. Siehe Natalia Blum-Barth, Poietik der Mehrsprachigkeit. Theorie und Techniken des multilingualen Schreibens. Heidelberg: Winter, 2021, S.-101. 114 Siehe Rokem Na’ama, »German-Hebrew Encounters in Yehuda Amichai and Paul Celan«. Prooftexts, 30: 1, 2010, S.-97-127. 115 Zitiert nach Israel Chalfen, »Paul Celan in Jerusalem«. In: Rychlo (Hrsg.), Mit den Augen der Zeitgenossen, S.-326-328, hier S.-327. Wie man sieht, sind es gerade Celans eigenes Dasein und individuelles Schicksal, welche die Grundlage seiner ›einmaligen‹ Dichtungssprache dar‐ stellen. Die ›Anreicherung‹ 113 der »wirklichkeitswund[en]« (GW III, 186) Sprache verschiebt sich, so zeigen die zitierten Passagen, von der sprachhisto‐ rischen auf die individuelle, poetische Ebene. Es geht mithin um den ganz persönlichen Ausweg des Dichters aus der historisch bedingten »Neigung zum Verstummen« (GW III, 197), das ihm als jüdischer Dichter deutscher Zunge nach dem in deutschem Namen verübten Genozid an den europäischen Juden drohte. Und dieser individuelle Ausweg aus der geschichtlichen Sackgasse der deutsch-jüdischen Literatur gründet sich, so ein ganz wesentlicher Punkt seiner Poetik, nicht zuletzt auf Mehrsprachigkeit, welche bei Celan keinen Abweg und keine Verirrung darstellt, sondern eben einen möglichen Weg zu sich selbst und zu einer authentischen Stimme. Oder wie es in der Meridian-Rede heißt: »Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.« (GW-III, 200). Der als Ludwig Pfeuffer 1924 in Würzburg geborene Jehuda Amichai (1924- 2000), einer der bedeutendsten modernen israelischen Dichter - dem Paul Celan, wie hier angemerkt werden kann, während seiner Israel-Reise begegnet ist 114 -, hat einmal von dessen Idiom gesagt, es sei »weder das Deutsche der Deutschen noch die Sprache der Bukowina; sie sei Celans eigenes Deutsch.« 115 Diese Bemerkung greift in gewisser Weise die vom Lyriker selbst getroffene Unterscheidung zwischen dem »Gesamtdeutsch« (als Name für den Standard der deutschsprachigen Länder, insbesondere Deutschlands), der »Sprache« (im Sinne der von der Mutter ererbten Erst- und Schriftsprache) und dem »schick‐ salhaft Einmalige[n] der Sprache« (als individuelles Sprechen im Medium der Dichtung) wieder auf. Auf Grundlage dieser Differenzierung gilt es insbeson‐ dere zwei Entwicklungen zu beschreiben: Zum einen den Weg von der »Sprache der Bukowina« als prägendem Einfluss von Kindheit und Jugend zu »Celans eigene[m] Deutsch«; zum anderen die Abgrenzung des Dichters gegenüber dem »Deutsch der Deutschen«, wie es Amichai ausdrückt. Dabei sind, so muss hervorgehoben werden, sowohl Celans ›eigenes‹ Deutsch als auch die eben angesprochene »Sprache der Bukowina«, also das Deutsch seiner Herkunft, untrennbar mit der Präsenz einer Vielzahl anderer Sprachen verbunden. 48 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="49"?> 116 Siehe Olga Matiychuk, »Mehrsprachigkeit/ Zweisprachigkeit.« In: Andrei Corbea-Hoişie/ Steffen Höhne/ Olga Matiychuk/ Markus Winkler (Hrsg.), Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina. Stuttgart: Metzler, 2023, S.-119-136. 117 Rose Ausländer, »Bukowina II«. In: Dies., Gesammelte Werke. Hrsg. von Helmut Braun. Frankfurt a. M.: Fischer, Bd. 4, 1984, S. 72. Siehe hierzu u. a. Maryse Staiber, »Heimat in der Sprache, Sprache in der Heimat? Zu Rose Ausländers Bukowina-Gedichten«. Recherches germaniques, 35, 2001, S.-97-112. Sprachbiographisch betrachtet spielt Multilingualität für Paul Celans Buko‐ winer Sozialisation zweifellos eine herausragende Rolle. 116 Die urbane Poly‐ glossie seiner Geburtsstadt Czernowitz darf dabei keinesfalls als bloße Außen‐ seite einer an sich monolingualen Schriftstelleridentität verstanden werden. Das von Amichai angesprochene Deutsch der Bukowina war, wie die historischen Darstellungen übereinstimmend zeigen, über seinen Status als extraterritoriale Varietät hinaus der lebendige Kreuzungs- und Verflechtungspunkt einer Vielfalt von Sprachen, darunter Rumänisch, Ukrainisch, Jiddisch und Polnisch, mit denen das Deutsche ständig interagierte. Diese mehrsprachige Lebenswelt der Bukowina, wie sie noch in den 1920er und 30er Jahren existierte, war die der deutsch-jüdische Bevölkerung der Stadt Czernowitz im Besonderen und die der sie umgebenden Region im Allgemeinen. Rose Ausländer, jene andere berühmte Czernowitzer Lyrikerin (und Freundin Celans), spricht in diesem Zusammenhang rückblickend - und dabei sicherlich leicht verklärend - von den »Viersprachig verbrüderten Liedern«, die die Luft ihrer Heimat erfüllt hätten. 117 Daher wird Paul Celans Schreiben nicht nur von den Werken der zahl‐ reichen von ihm im Laufe seines Lebens übersetzten Autoren ›gerahmt‹, gleichsam als Gegenpart seiner mutmaßlich einsprachigen Sprachidentität und Literaturpraxis. Darüber hinaus werden, wie die im Laufe der vorliegenden Untersuchung analysierten Beispiele zeigen, seine eigenen Gedichte immer wieder von vielen anderen Idiomen durchzogen, die sich größtenteils mit den Sprachen seiner Sozialisation und seines Lebensweges überschneiden. An dieser Stelle müssen primär Rumänisch, Hebräisch, Jiddisch und Französisch genannt werden, die auf gleichsam ›natürliche‹ Weise in das »Gedicht als gelebte Sprache« (Mikrolithen, 124) einfließen, wie es in einer poetologischen Notiz aus dem Jahr 1969 heißt. Wie so oft bei Celan muss an dieser Stelle beim Wort ›Sprache‹ der Plural mitgedacht werden. Die ›Sprache‹ seiner Dichtung ist gleichsam stets eine und mehrere zugleich. Oder, wie der Dichter selbst schreibt: »die Sprache der Dichtung ist immer auch schon die andere Sprache« (Mikrolithen, 102, Hervorhebung in der Quelle). Auf Grundlage dieser ersten Beobachtungen könnte man so weit gehen - und damit ist eine der leitenden Hypothesen dieser Studie benannt -, Multilin‐ 1.2 Deutsch als Aporie 49 <?page no="50"?> 118 Markus May/ Peter Goßens/ Jürgen Lehmann, »Vorwort«. In: Dies. (Hrsg.), Celan-Hand‐ buch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2. Aufl., 2012, S.-XI-XII, hier S.-XI. 119 Olschner, Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen, S.-49. 120 Siehe Yasemin Yildiz, Beyond the Mother Tongue. The postmonolingual condition. New York: Fordham University Press, 2012. 121 Jürgen Trabant, »Sprach-Passion. Derrida und die Anderssprachigkeit des Einspra‐ chigen«. In: Susan Arndt/ Dirk Naguschewski/ Robert Stockhammer (Hrsg.), Exophonie, S.-48-65, hier S.-60. gualität als integralen Bestandteil von Celans Suche nach einer neuen, unver‐ wechselbaren poetischen Ausdrucksform zu bezeichnen. Die Mehrsprachigkeit des Dichters erscheint somit als eine der Hauptquellen des »schicksalhaft Einmalige[n]« (GW III, 175), das er nachdrücklich für sein poetisches Idiom beansprucht hat. Einmalig und singulär wäre dieses Deutsch demzufolge gerade durch die vielen ›anderen‹ Sprachen ihres Autors, die sowohl biographisch als auch poetisch darin verankert sind. Wird seine Lyrik von der Kritik oft als »Sprachkosmos eigener Art« 118 bezeichnet, ist das sicherlich zu einem nicht unerheblichen Teil ebendieser singulären Polyglossie geschuldet. Insofern stellt Celans Sprechen im Medium der Lyrik grundlegend eine »Synthese rezipierter Sprache« 119 dar, wie bereits Olschner treffend bemerkt hat. Auf der in seinen poetologischen Texten immer wieder unterstrichenen existenziellen Ebene des Schreibens scheint Celans Weg zu einer »radikale[n] Individuation« der Sprache mithin nur über die konsequente Einbeziehung seiner Sprachbiographie von Czernowitz über Bukarest und Wien bis Paris be‐ greifbar. Wie der Schriftsteller seiner Jugendfreundin gegenüber Ilana Schmueli betont hat: »Es gibt keine Zeile meiner Gedichte, die nichts mit meiner Existenz zu tun hätte« (Briefe, 315). Und Mehrsprachigkeit ist wie gesehen von Kindheit an tief in diese Existenz eingeschrieben. Nimmt man Paul Celans Definition von Dichtung als »Lebensschrift« (TCA, M, 113) ernst, kann ›seine‹ Sprache bzw. sein poetisches Sprechen kaum im Rahmen des »monolingualen Paradigmas« 120 betrachtet werden. Obwohl der Dichter das Bedürfnis verspürt hat, sich öf‐ fentlich von der (u. a. mit Yvan Goll assoziierten) Figur des Polyglotten zu distanzieren, handelt es sich bei ihm zweifelsohne um eine »Einsprachigkeit vom Fremden her«, 121 die nicht zuletzt an klassisch zu nennende Techniken mehrsprachiger Literatur anknüpft. Aufgrund der Tatsache, dass Celans Rückgriff auf andere Sprachen sowohl biographisch als auch poetologisch verankert ist, wohnt Mehrsprachigkeit und ihren Repräsentationen im Werk immer eine doppelte, zugleich mime‐ tische (lebenswirkliche) und ästhetische (frei kreative) Funktion inne. Die 50 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="51"?> 122 Michaela Wolf, Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Wien: Böhlau, 2012, S.-62. 123 Zu diesem Begriff siehe Rainier Grutman, Des langues qui résonnent: hétérolinguisme et lettres québécoises. Paris: Classiques Garnier, 2019 [1997], sowie Myriam Suchet, L’imaginaire hétérolingue. Ce que nous apprennent les textes à la croisée des langues. Paris: Classiques Garnier, 2014. 124 Zu diesem Begriff siehe u. a. Giulia Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit. Sprach‐ wechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin: Akademie Verlag, 2011, S.-61ff. 125 Siehe u. a. Leslie Morris, »Deutsch-jüdische lengevitch. Eine plurilinguale Poetik der Verflechtung«. In: Martin A. Hainz (Hrsg.), Paul Celan - »sah daß ein Blatt fiel und wußte, daß es eine Botschaft war«. Neue Einsichten und Lektüren. Berlin: Frank & Timme, 2022, S.-125-152. Herkunft des Autors aus dem »habsburgische[n] Babylon« 122 , seine Teilhabe an der (mittel-)europäischen Multilingualität, wie sie auch im österreichischen Deutsch ihre Spuren hinterlassen hat, verbunden mit den Schreibweisen der literarischen Moderne bis hin zur mehrsprachigen Avantgarde, bilden die Basis seiner Verwendung von einem Dutzend Idiomen innerhalb und außerhalb seiner Tätigkeit als Dichter und Übersetzer: Deutsch, Mittelhochdeutsch, Rumänisch, Französisch, Hebräisch, Jiddisch, Lateinisch, Griechisch, Englisch, Russisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Dänisch und Schwedisch. Der Einsatz all dieser Sprachen nimmt viele verschiedene Gestalten an, für die in der Forschung ein breites Begriffsinstrumentarium zur Verfügung steht: Übersetzung (nebst kollaborativer und Selbstübersetzung), Sprachwechsel, Sprachmischung, Hete‐ rolingualität, 123 latente bzw. implizite Mehrsprachigkeit (unter anderem als verdeckte Übersetzung) 124 usw. Der Reichtum dieses Sprachkosmos und der aus ihm erwachsenden multilin‐ gualen Praxis, deren verschiedene Formen nachfolgend einzeln zu definieren und darzustellen sein werden, erklärt nicht zuletzt, warum Paul Celans Œuvre trotz seiner monolingualen Selbstverortung (und trotz lange anhaltender Vor‐ behalte in der universitären Forschung) während der letzten Jahrzehnte zu einem regelrechten Modellfall für mehrsprachiges Schreiben geworden ist, auf den sich immer wieder multilingual arbeitende Lyriker und Lyrikerinnen unter anderem im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum beziehen. 125 Einige der erhellendsten Kommentare zu Celans Mehrsprachigkeit stammen im Üb‐ rigen aus der Feder dieser in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen Dichter. In diesem Zusammenhang wären unter anderem die Namen Caroline Bergvall, Charles Bernstein, Marcel Beyer, Anne Blonstein, Alexandru Bulucz, Anne Carson, Joshua Corey, Ulrike Draesner, Mark Goldstein, Geoffrey Hill, Edward Hirsch, Pierre Joris, Thomas Kling, Erín Moure, NourbeSe Philip, George State, Yoko Tawada, Peter Waterhouse und Uljana Wolf zu nennen. Solche 1.2 Deutsch als Aporie 51 <?page no="52"?> 126 Walter Jens, »Zu einem Gedicht von Paul Celan«. Merkur, 15: 3, März 1961, S. 297-299. kreative Rezeptionsformen sollen am Ende des Buchs anhand ausgewählter Beispiel eingehender gewürdigt werden (s.-Kap. 7). 1.3 Ansätze und Begriffe 1.3.1 Kurzer Forschungsabriss Die im Zuge der bisherigen Ausführungen benutzten Termini - wie Sprach‐ wechsel, Sprachmischung, Heterolingualität, manifeste und latente Mehrspra‐ chigkeit nachfolgend, insbesondere im typologisch-systematischen Hauptteil, durch weitere, teils der Literaturwissenschaft, teils der Sprachwissenschaft entlehnte Konzepte ergänzt werden. Dabei soll zugleich versucht werden, den Begriffsapparat so einfach und anschaulich wie möglich zu halten, um zu gewährleisten, dass die in der Mehrsprachigkeitsforschung allgemein sehr intensiv betriebene Begriffsdiskussion nicht zum Selbstläufer gerät, sondern pragmatisch an den Bedürfnissen des konkreten Korpus orientiert bleibt. Bei allen in dieser Studie zum Einsatz kommenden Begriffen handelt es sich wohlbemerkt immer nur um Annäherungen, da sich die Textbefunde stets unter divergenten Gesichtspunkten analysieren lassen und die begriffliche Trennschärfe nie als absolut angesehen werden darf. Diesbezüglich kann angemerkt werden, dass sich selbst in rein kontaktlinguistisch konzipierten (sprich: sprachwissenschaftlichen) Arbeiten in dieser Hinsicht beobachten lässt, wie die Beschreibungsmodi ähnlicher, ja identischer Phänomene teils erheblich voneinander abweichen. Wie bis hierhin erörtert wurde, führt die Frage von Celans Ein- oder Mehr‐ sprachigkeit direkt ins Zentrum seiner Poetik. Es überrascht daher nicht, dass die Relevanz anderer Sprachen für sein Schreiben schon früh von Kritik und Forschung bemerkt wurde. Bereits in den 1960er-Jahren - also mehrere Dezen‐ nien vor der eigentlichen Herausbildung des internationalen Forschungsgebiets ›Literarische Mehrsprachigkeit‹ - machten feinfühlige und gut informierte Interpreten wie Walter Jens 126 auf die herausragende Bedeutung einzelner fremdsprachiger Begriffe in Celans Lyrik aufmerksam. Ende der 1970er-Jahren begann die amerikanische Germanistin Elizabeth Petuchowski auf Grundlage 52 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="53"?> 127 Elizabeth Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan.« Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 52, 1978, S. 635-651. Siehe auch die unpublizierte Dissertation von Peter Mayer, Paul Celan als jüdischer Dichter. Heidelberg 1969. 128 Petuchowski, »A New Approach to Paul Celan’s ›Argumentum e Silentio‹«. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 52, 1978, S. 111- 136. 129 Martine Broda, Dans la main de personne. Essai sur Paul Celan. Paris: Éditions du Cerf, 1986; Ferdinand von Ingen, »Das Problem der lyrischen Mehrsprachigkeit bei Paul Celan«. In: Joseph P. Strelka (Hrsg.), Psalm und Hawdalah. Zum Werk Paul Celans. Bern: Peter Lang 1987, S. 64-78; Hans-Peter Bayerdörfer: »›Sprachen Rag-time‹? Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945«. In: Dieter Breuer (Hrsg.), Deutsche Lyrik nach 1945. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 43-64; Klaus Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans«. In: Winfried Menninghaus/ Werner Hammacher (Hrsg.), Paul Celan, S. 156-169; Dieter Schlesak, »Die verborgene Partitur. Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie«. In: Dietmar Goltschnigg/ Anton Schwob (Hrsg.), Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Tübingen: Francke, 1990, S. 333-354; Gerhard Damblemont, »Mehrsprachige Autoren zur Einmaligkeit ihrer Dichtungssprache«. In: Günther Holtus/ Johannes Kramer (Hrsg.), Das zweisprachige Individuum und die Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft. Stuttgart, Steiner, 1991, S. 45-64; Heike Kristina Behl: »References to Hebrew in Paul Celan’s ›Kleide die Worthöhlen aus‹.« Monatshefte, 87: 2, 1995, S.-170-186. 130 Nicht in diesem Überblick berücksichtigt werden die früheren Aufsätze und Studien zu Celans Übersetzungswerk, da sie zu einem eigenen Forschungsgebiet mit differenten Fragestellungen und Zielsetzungen gehören. von Stellenkommentaren 127 sowie anhand kompletter Textinterpretationen 128 damit, die Analyse mehrsprachiger Verfahrensweisen (sie sprach damals vor allem von »Wortspielen«) in Celans lyrischem Œuvre auf eine breitere Textbasis zu stellen. In den 1980er und -90er Jahren vermehrten sich dann essayistische und wissenschaftliche Beiträge, die die zentrale Rolle anderer Sprachen für Celans Leben und Werk analysierten, 129 wobei nun erstmals versucht wurde, den Lyriker mit anderen mehrsprachigen Autoren zu vergleichen und sein Schreiben in die Traditionslinie des polyglotten Gedichts einzuordnen. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Forschung stark interdisziplinär geprägt und ging weit über die Fachgrenzen der Germanistik hinaus, wobei insbesondere die Komparatistik einen wertvollen Beitrag geleistet hat. 130 Ab dem Beginn einer systematisch angelegten und historisch ausgerichteten Mehrsprachigkeitsforschung in der 1.3 Ansätze und Begriffe 53 <?page no="54"?> 131 Heinrich Stiehler, Interkulturalität und literarische Mehrsprachigkeit in Südosteuropa. Das Beispiel Rumäniens im 20. Jahrhundert. Wien, Praesens, 2000; Kremnitz, Mehr‐ sprachigkeit in der Literatur; Yildiz, Beyond the Mother Tongue; Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit. Zum Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur. Heidelberg: Winter, 2016; Till Dembeck/ Rolf Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2017; Kilchmann, Poetologie und Geschichte literarischer Mehrsprachigkeit. 132 Yildiz, Beyond the Mother Tongue. 133 Siehe Kilchmann, »Celans Poetologie als Herausforderung literarischer Mehrsprachig‐ keitsforschung heute«, S.-89. 134 Dem Autor sei es hier erlaubt, in einer persönlichen Note anzumerken, dass er selbst bereits Ende der 1990er Jahre zum ersten Mal mit dieser Forschungsfrage in Berührung kam, dann aber schließlich auch über zwei Jahrzehnte gewartet hat, bevor er die Arbeit an einer Gesamtdarstellung in Angriff nahm. Einzelne Abschnitte der vorliegenden Studie beruhen auf persönlichen Vorarbeiten, die teilweise bis zu meiner 2003 abgeschlossenen Dissertation zurückreichen. Diese wurde jedoch im vorliegenden Rahmen vollständig überarbeitet, so dass sie nicht einzeln als Neuveröffentlichung angeführt werden. An den entsprechenden Stellen sowie in der Abschlussbibliographie Literaturwissenschaft nach der Jahrtausendwende taucht Celans Name in na‐ hezu allen Darstellungen zur Multilingualität in der deutschen Literatur auf. 131 Die aktuell vorliegende und kontinuierlich sich vermehrende Forschungsli‐ teratur erlaubt es heute, Paul Celans Mehrsprachigkeit nicht nur werkimma‐ nent-poetologisch zu betrachten, sondern es vergleichend in die Geschichte der multilingualen Literatur einzuordnen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die - kontrovers diskutierte - Frage gestellt, inwiefern der Ausdruck ›mehrsprachig‹ überhaupt für Celans Lyrik zutreffend sei, wobei sowohl quan‐ titative als auch qualitative Kriterien angelegt werden. In den Augen vieler Kritiker gilt der Dichter dabei als Paradebeispiel für die »postmonolingual condition« 132 der deutschen Kultur und Literatur, wie sie von Yasmin Yildiz in ihrer wegweisenden Studie dargestellt wurde. Andere Kommentatoren sind im Gegenteil der Meinung, dass der Textbefund - sowohl quantitativ als auch qualitativ - dieses Urteil nicht zulasse, wobei sie die Unterschiede gegenüber solchen Autoren herausstellen, die affirmativ-sprachspielerische Formen von literarischer Polyglossie im Sinne eines ›glücklichen Babel‹ praktizieren. 133 Trotz dieser anhaltenden Diskussionen, durch die nicht zuletzt die große Relevanz der Fragestellung herausgestellt wird, gehört eine umfassende Analyse von Mehrsprachigkeit in Celans Œuvre - von den rumänischen Texten seiner Jugend über seine Selbstübersetzungen bis zu den sprachmischenden Gedichten der mittleren und späten Schaffensphase - rund ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen der ersten Beiträge noch immer zu den Desiderata der Forschung. Dafür sollen an dieser Stelle einige Gründe angeführt werden. 134 54 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="55"?> wird allerdings auf die entsprechenden Publikationen hingewiesen, insbesondere wenn sich dort genauere oder weiterführende Angaben befinden. 135 Siehe Von Ingen, »Das Problem der lyrischen Mehrsprachigkeit bei Paul Celan«, S.-65, Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, S. 486, Fußnote 14, Blum-Barth, Poietik der Mehrsprachigkeit, S.-68. 136 So repräsentieren die im Laufe der vorliegenden Studie zitierten Gedichte fast ein Drittel des lyrischen Gesamtkorpus Paul Celans inklusive Nachlass. Zuallererst erschweren, ja verhindern die schon eingehend erwähnten Selbstaussagen Celans sowie der allgemeine Status seiner Lyrik als deutscher Erinnerungsort grundsätzlich eine problemlose, affirmative Einordnung in die Geschichte mehrsprachiger Schreibweisen. Zu sehr scheint die Traditionslinie multilingualer Literatur mit komischen, spielerischen und somit ›unseriösen‹ Aspekten verbunden. In der Forschung führen zweitens gewisse definitori‐ sche Vorentscheidungen dazu, dass große Teile der relevanten Texte und Passagen häufig außerhalb des Blickfelds bleiben. Dazu gehören nicht nur die unveröffentlichten Texte, Vorstufen und Materialien aus dem Nachlass, der Untersuchungsgegenstand wird zudem häufig auf sogenannte manifeste, ›harte‹ Formen von Sprachdifferenz eingegrenzt. 135 Sobald jedoch die Bedeu‐ tung niedrigstufiger, ›versteckter‹ bzw. latenter Spielarten von Multilingualität im autorisierten Werk sowie die zentrale Rolle von Polyglossie in der Textgenese anerkannt wird, nimmt das Korpus drittens Dimensionen an, die den einzelnen Forscher fast abschrecken müssen, insofern in diesem Fall gleich Hunderte von Textstellen berücksichtigt werden müssen. 136 Neben Celans prominenten Selbstaussagen stellt dieser letzte Punkt sicher‐ lich einen der Hauptgründe dar, weshalb das Projekt einer umfassenden Unter‐ suchung zum Thema ›Mehrsprachigkeit bei Celan‹ lange Zeit auf sich warten ließ. Den wenigen immer wieder in der Forschung zitierten ›Paradebeispielen‹ sprachmischender Gedichte bei Celan stehen unzählige andere relevante Text‐ stellen im Korpus gegenüber, deren Bewältigung allein auf quantitativer Ebene eine große Herausforderung darstellt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Sprachkompetenzen des einzelnen Forschers - und dies schließt selbstredend den Autor dieses Buches ein - niemals vollkommen mit denen des Dichters deckt, insoweit zur Bearbeitung der Forschungsfrage Sprachkenntnisse nicht nur in Französisch, Englisch, Latein, sondern mindestens auch in Rumänisch und Hebräisch erforderlich sind. Glücklicherweise gibt es aber gerade zur Rolle des Hebräischen mittlerweile eine ganze Reihe von Einzelanalysen, auf die sich die Forschung heute interdisziplinär stützen kann. Eine weitere Herausforderung für jede Untersuchung zu Celans Multilin‐ gualität besteht in der Existenz einer unvermeidbaren ›Grauzone‹ zwischen 1.3 Ansätze und Begriffe 55 <?page no="56"?> 137 Zur Begrifssbestimmung siehe Susan Gass, »Transference and Interference«. In: Hans Goebl u. a. (Hrsg.), Kontaktlinguistik/ Contact Linguistics/ Linguistique de contact. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung/ An International Handbook of Contemporary Research/ Manuel international des recherches contemporaines. Berlin- New York: De Gruyter-Mouton, 1996-1997, Bd.-2, S.-558-566. den eindeutig nachweisbaren Manifestationen, Spuren und Einflüssen anderer Sprachen auf der einen Seite und den nicht auf produktionsästhetischer Ebene, d. h. anhand konkreter Materialien zu belegenden Hypothesen zu möglichen sprachlichen Interbzw. Transferenzen auf der anderen Seite. 137 Dabei muss festgestellt werden, dass eine strikte Grenzziehung zwischen philologischer Strenge bzw. Rationalität und freieren, ja spekulativen Formen der Deutung nicht durchweg möglich ist. Das gilt umso mehr, als davon ausgegangen werden muss, dass einige translinguale Bezüge aufgrund des weiten Sprachhorizonts des Autors gleichsam automatisch und unbewusst im Schreibakt entstanden sind. Das Kriterium der (angenommenen) Intentionalität kann demnach nicht als alleiniger Maßstab gelten. Hinzu kommt noch die Schwierigkeit, dass die ›Wahrnehmungsschwelle‹ der verschiedenen implizierten Sprachen durchaus rezepientenabhängig ist. Das gilt für den professionellen Leser nicht weniger als für den lesenden ›Laien‹. Alle diese philologischen Risiken ließe sich - wenn überhaupt - nur durch eine rigorose Ausgrenzung aller ›schwacher‹, unter‐ schwelliger Formen von Mehrsprachigkeit ausschalten, was aber in Anbetracht der nachweislichen Bedeutung dieser Phänomene bei Celan nicht sinnvoll, ja schlicht kontraproduktiv wäre. Ein letztes grundsätzliches Hindernis auf dem Weg zu einer umfassenden Zu‐ sammenschau der verschiedenen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit in Paul Celans Schreiben besteht schließlich in der starken Kontextabhängigkeit der Befunde. Die Erfassung und Bewertung multilingualer Verfahren und Techniken stellt nicht nur hohe Ansprüche an die Sprach- und Decodierungskompetenzen seitens des Rezipienten, sie ist zudem nicht von der grundlegenden Arbeit der Textexegese zu trennen. Jede Einzelstelle ist somit grundsätzlich vor dem Hintergrund des jeweiligen Textes mit dem ihm eigenen produktions- und rezeptionsästhetischen Kontext zu interpretieren. Aus diesem Grund soll das in der vorliegenden Studie auf systematisch-typologische Weise dargestellte Analyseraster und Begriffsinstrumentarium vorab anhand der ausführlichen Gesamtanalyse eines einzelnen Gedichtes - »Huhediblu« aus Die Niemandsrose - veranschaulicht werden (s. Kap. 2). Dabei handelt es sich vom Ansatz her um eine Form des Close Reading unter multilingualen Gesichtspunkten. Nur durch eine solche Herangehensweise kann die Integration der Mehrsprachigkeitsprob‐ lematik in den Gesamtzusammenhang des Gedichts gewährleistet werden. Eine 56 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="57"?> 138 Zur Problematik der Zugehörigkeit bei Celan siehe auch Badiou, Bildbiographie, S. 50. 139 Siehe Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-145f. über eine schmale Sammlung einzelner Textinterpretationen hinausgehende Zusammenschau sämtlicher für diese Studie relevanter Textstellen ist jedoch nur um den Preis einer relativen Abstraktion vom jeweiligen Gedichtkontext zu erzielen. Anders gesagt lässt sich das im zweiten Kapitel praktizierte Modell nicht auf die gesamte Studie ausweiten. Auf heuristischer Ebene muss dieses Problem wohl oder übel in Kauf genommen werden, insofern nur auf diesem Weg eine Darstellung von Celans mehrsprachiger Poetik auf Grundlage des Gesamtwerks überhaupt möglich erscheint. 1.3.2 Zum Begriff ›Wortöffnungen‹ Über Paul Celans poetologische Texte hinaus, auf die bereits mehrmals ver‐ wiesen wurde, lassen sich auch in seiner Lyrik eine Reihe von Termini, Ausdrü‐ cken und Formulierungen finden, die im Hinblick auf die für sein Schreiben zentrale Mehrsprachigkeitsproblematik gelesen werden können. So referiert etwa ein Begriff wie ›Schibboleth‹ aus dem gleichnamigen Gedicht im Band Von Schwelle zu Schwelle (1955) nicht von ungefähr auf sprachliche Idiosynkrasien, welche die Wechselbeziehung von Sprecher und Sprachgemeinschaft betreffen. »Ruf ’s, das Schibboleth hinaus / in die Fremde der Heimat« (GW I, 131, V.-21- 23), heißt es dort bezeichnenderweise, womit unmittelbar die Frage von sprach‐ licher Zugehörigkeit bzw. Ab- und Ausgrenzung aufgeworfen wird. 138 Die im Gedicht angesprochene Fremdheit inmitten der Sprachgemeinschaft lässt sich dabei durchaus als Verweis auf Celans ›fremdes‹ Deutsch, ja auf seine ›anderen‹ Sprachen auffassen (s.-3.2.1). 139 Solche für die Mehrsprachigkeitsproblematik relevante Begriffe sind in einer ganzen Reihe von Gedichten Celans auszumachen. So wird etwa im Gedicht »Einem, der vor der Tür stand« aus dem Band Die Niemandsrose (1963) zu einer ›Beschneidung‹ des (deutschen) Wortes aufgerufen. Die in den Kontext der berühmten Golem-Legende eingefügte Anweisung ergeht dabei an die Figur eines Rabbiners: »Rabbi / Löw: / / Diesem / beschneide das Wort« (GW I, 242, V. 14-17). Vor dem Hintergrund von Celans Rückgriff auf (ost-)jüdische Sprachen in seinem Schreiben verweist diese ›Beschneidung‹ der deutschen Zunge durch einen jüdischen Würdenträger nicht zuletzt auf die mehrsprachige Dimension seines Schreibens (s. 3.2.3). Im Gedicht »Kleide die Worthöhlen aus« schließlich, das sich in der späten Sammlung Fadensonnen (1968) befindet, richtet der Text die explizite Aufforderung an den Leser, er solle den Bedeu‐ 1.3 Ansätze und Begriffe 57 <?page no="58"?> 140 Behl, »References to Hebrew in Paul Celan’s ›Kleide die Worthöhlen aus‹«. 141 Yoko Tawada, »Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch«. In: Dies, Talisman. Tübingen: Konkursbuchverlag, 1996, S.-125-138, hier S.-130. 142 Siehe Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans«, S.-162. 143 Yoko Tawada, »Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2016«. Kleist-Jahrbuch 2017, S.-11-16, hier S.-12. tungsraum der Wörter »erweitern« und dem »zweiten Ton« dieser Wörter »lausche[n]« (GW II, 198, V. 7). Dabei greift der Dichter neben Grundsätzen der jüdischen Sprachmystik erkennbar auf morphologische Prinzipien der hebräischen Sprache zurück, wie Heike Kristina Behl schon 1995 ausführlich dargestellt hat. 140 Der Leser bzw. das lyrische Gegenüber scheinen somit dazu aufgerufen, den deutschen Text über die ›fremde‹ Sprache zu lesen und so seine multilinguale Mehrdeutigkeit zu erkunden (s.-3.3.2). Schibboleth - Beschneidung des Wortes - Auskleiden der Worthöhlen: All diese Begriffe, Denkfiguren und Tropen, die nachfolgend noch näher kontextu‐ alisiert und beleuchtet werden sollen (s. Kap. 3), hätten neben anderen Zitaten aus dem Werk - wie »mitgewanderte Sprache[n]« (GW II, 85, V. 10) oder »Krypta« (GW II, 65, V. 4) - als Motto oder Titel über der vorliegenden Studie stehen können. Da aber im Laufe der vorliegenden Untersuchung stets die (mehrsprachige) Rezeptionsseite mit berücksichtigt werden soll (s. Kap. 7), wurde der titelgebende Ausdruck ›Wortöffnungen‹ bei Yoko Tawada, einer der wichtigsten und originellsten Celan-Leserinnen der letzten Jahre, entlehnt. In ihrem 1996 erschienenen Essay »Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch«, von dem am Ende der Studie noch ausführlich die Rede sein wird (s. 7.2), schreibt Tawada: »Celans Wörter sind keine Behälter, sondern Öffnungen«. 141 Mit diesem Satz gibt sie nicht nur der Vorstellung Ausdruck, wonach der Dichter seine Wörter über ihre vermeintlichen Ränder hinaus ›hinüber- und herüberschillern‹ lässt, wie es auch Reichert festgestellt hat. 142 Vielmehr fasst sie an dieser Stelle speziell ihre Überzeugung zusammen, dass dem deutsch-jüdischen Lyriker die Fähigkeit eignet, beim Schreiben ›fremde‹ Sprachen in seinen Texten ko-präsent zu machen. Mit anderen Worten geht es darum, Celans singuläres Sprechen und seine komplexe Relation zum Deutschen vor dem Hintergrund der seiner Dichtungssprache inhärenten sprachlichen Alterität und Pluralität zu beschreiben. Wichtig ist dabei der Umstand, dass Literatur aus Sicht der japanisch-deut‐ schen Autorin generell in einem translingualen Rahmen entsteht: »Der Raum zwischen zwei Sprachen ist kein Zwischenraum, sondern der eigentliche Raum, in dem die Literatur geschrieben wird.« 143 In diesem Sinne ist auch ihre Charakterisierung von Celans Wörtern als ›Öffnungen‹ zu verstehen. Diese 58 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="59"?> 144 Siehe hierzu allgemein Adam Paulsen, »Monadischer Holismus. Zur Genese und Rezeption von Herders Kulturtheorie«. In: Beate Allert (Hrsg.), J.G. Herder: From Cognition to Cultural Science/ Von der Erkenntnis zur Kulturwissenschaft. Heidelberg: Synchron Verlag 2016, S.-317-332. lassen sich auf der Ebene einzelner Wörter untersuchen, sie können aber auch größere Segmente oder ganze Diskurse betreffen. So bezieht sich der Terminus ›Wortöffnungen‹ im vorliegenden Zusammenhang nicht nur auf das Einzelwort, sondern auch auf ›Wort‹ im Sinne der dichterischen Rede. Folglich werden im Folgenden nicht nur Phänomene der (textinternen) Sprachmischung mit isolierten Einsprengseln angesprochen, sondern auch solche des (textübergreif‐ enden) Sprachwechsels, wenn beispielsweise ganze Texte in anderen Sprachen vorliegen. Innerhalb der einzelnen Texte sind dabei neben der Lexik auch Grammatik, Phonetik und Metrik in mehrsprachiger Hinsicht relevant. Mit dem gegenteiligen Terminus ›Behälter‹ scheint Tawada auf das soge‐ nannte ›Containermodell‹ anzuspielen, das in den kulturwissenschaftlichen Debatten zum Thema ›Integration‹ zur Bezeichnung von auf Geschlossenheit und Homogenität fußenden Repräsentationen von Kultur, Sprache und Literatur benutzt wird. Diese auf Johann Gottfried Herders oft zitiertes ›Kugelmodell‹ 144 zurückgehende Konzeption führt zur oben skizzierten Problematik der litera‐ rischen Ein- und Ausgrenzung zurück, mit der sich Celan als jüdischer und exterritorialer Autor zeit seines Lebens konfrontiert sah. Auf sprachlich-litera‐ rischer Ebene wurde das Containermodell - bzw. das Bild der auf sich selbst zentrierten Kugel - seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Form solcher Begriffe wie ›Muttersprache‹ und ›Nationalliteratur‹ weiterentwickelt. Während der NS-Herrschaft integrierte die ›völkische‹ Ideologie diese Ordnungskategorien in eine umfassende, auf dem pseudowissenschaftlichen Rasse-Begriff beru‐ henden Konzeption des ›Deutschen‹ als hermetisch nach außen abschlossener Sphäre vermeintlicher Reinheit. Einer solchen Auffassung von Sprache und Literatur als ›Behälter‹ deutsch‐ nationaler, ja rassistischer Ideologie steht Paul Celans Dichtung, die sich permanent im Austausch mit diversen Sprachen, Kulturen und Literaturen befindet, selbstredend diametral gegenüber - sowohl aus historischen und biographischen als auch aus intrinsisch ästhetischen Gründen. So ist seine viel beschworene Poetik des Dialogs nicht zuletzt eine Poetik des Dialogs mit an‐ deren Sprachen und Kulturen, was an zahlreichen Stellen sichtbar wird. Wie er in einer auf die Meridian-Rede vorausweisenden Notiz schreibt, ist »die Sprache der Dichtung […] immer auch schon die andere Sprache« (Mikrolithen, 102, Hervorhebung in der Quelle). Sprachpuristischen und ethnonationalen Konzep‐ tionen stellt sein dichterisches Sprechen konsequenterweise eine »unzüchtige 1.3 Ansätze und Begriffe 59 <?page no="60"?> 145 Adorno, »Wörter aus der Fremde«, S.-218. 146 Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Berlin: De Gruyter, Bd.-1, 2000, S.-5. Rede« (GW 220, V. 9) entgegen, die sich einer »Exogamie der Sprache« 145 hingibt, um einen an dieser Stelle perfekt passenden Ausdruck Theodor W. Adornos aufzugreifen. 1.3.3 ›Sprachigkeit‹ bei Celan Aufgrund der im europäischen Sprachdenken - und insbesondere im deut‐ schen Sprachnationalismus - verankerten Begriffsgeschichte auf dem Gebiet ›Sprache und Identität‹ drängen sich im Deutschen bei der Behandlung der vorliegenden Problematik fast zwangsläufig Termini wie ›Fremdsprache‹ und ›Muttersprache‹ auf. Im Unterschied zur Translationswissenschaft und der Sprachdidaktik, wo sich mittlerweile alternative Bezeichnungen wie ›Erst- und Zweitsprache‹, bzw. ›A-, B- und C-Sprache‹ eingebürgert haben, sind diese traditionellen Begriffe in der Literaturwissenschaft nach wie vor weit verbreitet. Und wie oben gesehen gehörten sie ebenfalls zum Vokabular des Lyrikers Paul Celan, der offensichtlich zumindest teilweise unter dem Einfluss romantischer Kultur- und Sprachkonzeptionen stand. Die diesen Begrifflichkeiten zugrunde liegende Antinomie ›Eigenes‹ versus ›Fremdes‹ stellt indessen eine schwer wiegende Hypothek beim Zugang zum Phänomen literarischer Mehrsprachig‐ keit dar. Dies gilt insbesondere für die Analyse der spezifischen ›Sprechweise‹ des deutsch-jüdischen Dichters. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass Paul Celan - mehr als andere Schriftsteller, vielleicht sogar mehr als jeder andere Lyriker deutscher Sprache - in seinen Texten immer wieder den (Um-)Weg über andere Sprachen nimmt, sodass sich der Sinn seiner Gedichte erst in diesem polyphon-poly‐ glotten Raum voll entfaltet. Dennoch wäre es dabei auf methodologischer Ebene wenig fruchtbar, eine essenzialistische Trennung zwischen ›deutschen‹ und ›fremden‹ Wörtern vornehmen zu wollen, wie das im ideologisch stark vorbelasteten Modell der deutschen Fremdwörterbücher der Fall ist. Obwohl die Leitdifferenz ›deutsch‹/ ›fremdsprachig‹ oberflächlich betrachtet als pertinent erscheinen könnte, würde das an überkommene sprachpuristische Positionen anknüpfende Fremdwort-Paradigma mit seiner strikten Grenzziehung zwischen dem Deutschen und den anderen Sprachen in Wahrheit unweigerlich in eine methodische Sackgasse führen. Neben dem allgemeinen Befund des Deutschen als »Mischsprache« 146 - auf Grundlage sprachhistorischer und -soziologischer Untersuchungen zu den Phänomenen Sprachkontakt, Entlehnung, Varietät usw. 60 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="61"?> 147 Till Dembeck/ Rolf Parr, »Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung«. In: Dies. (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S. 9-14, hier S. 10. Siehe auch Remigius Bunia, Metrik und Kulturpolitik. Verstheorie bei Opitz, Klopstock und Bürger in der europäischen Tradition. Berlin: Ripperger & Kremers, 2014, S.-232. 148 Siehe hierzu auch den zweisprachigen Aphorismus: »Gedichte sind Durchgänge: À toi de passer, Vie! « (Mikrolithen, 23). 149 In der von Celan selbst verwendeten Bezeichung ›Judendeutsch‹ (HKA, 11, 403) wird diese Unterscheidung implizit in Frage gestellt. Siehe hierzu auch den Schlussteil der vorliegenden Studie (8.3). 150 Siehe hierzu allgemein Niku Dorostkar, (Mehr-)Sprachigkeit und Lingualismus. Die diskursive Konstruktion von Sprache im Kontext nationaler und supranationaler Sprachenpolitik am Beispiel Österreichs. Göttingen, V&R Unipress, 2013. Siehe auch Susan Arndt/ Dirk Naguschewski/ Robert Stockhammer (Hrsg.), »Einleitung. Die Un‐ selbstverständlichkeit der Sprache«. In: Dies., Exophonie, S.-7-27. -, welcher die Vorstellung einer grundlegenden inneren Mehrsprachigkeit des Deutschen nahelegt, sowie der in der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung mittlerweile prominenten Meinung, »dass es letztlich definitorisch kaum mög‐ lich ist, zu sagen, was ein einsprachiger Text eigentlich ist«, 147 gibt es hierfür werkimmanente Gründe, die nun näher ausgeführt werden sollen. Dass Paul Celan dezidiert an einer Erweiterung der Grenzen des Deutschen bis hin zu deren Auflösung gearbeitet hat, ist unbestreitbar und wurde bereits von der zeitgenössischen Kritik der 1960er Jahre bemerkt. Im Laufe der Werk‐ geschichte, hauptsächlich ab dem mittleren Werk, d. h. insbesondere ab dem Band Sprachgitter (1959), macht er seine Texte zunehmend gegenüber anderen Sprachen bzw. Sprachformen ›durchlässig‹. In einer poetologischen Notiz aus dem Umfeld der Meridian-Rede schreibt er dazu: »Das Gedicht = offen, porös, spongiös.« (TCA, M, 104). In der Sprache der Lyrik Celans, bzw. in seinem poetischen Sprechen, gibt es demnach Platz für viele verschiedene ›Stimmen‹. 148 Doch wo die ›fremden‹ Sprachen anfangen und also das Deutsche aufhört, lässt sich dabei nicht immer klar bestimmen. Bei der Analyse zu vermeiden ist die verdinglichende Auffassung, Sprachkontakte fänden zwischen geschlossenen, statischen, ja monolithischen Entitäten statt. Anstatt von festen Sprachgrenzen muss im vorliegenden Fall eher von sprachlichen Grenzbzw. Zwischenräumen gesprochen werden. Das gilt nicht nur für die Unterscheidung verwandter Sprachen untereinander, wie etwa Deutsch und Jiddisch, 149 sondern in einem noch viel allgemeineren Sinne. Über die Abgrenzung ›fremd‹ versus ›deutsch‹ (bzw. ›germanisch‹) hinaus scheint Celans Schreiben damit die heute in der Sprachsoziologie diskutierte Problematik der ›Sprachigkeit‹ 150 zu adressieren. Unter diesem Stichwort wird die Frage nach den Kriterien sprachlicher Zugehörigkeit von Diskursen bzw. von deren Produzenten verhandelt, sowie die Frage nach der Pertinenz sprachlicher 1.3 Ansätze und Begriffe 61 <?page no="62"?> 151 Siehe hierzu auch Oskar Reichmann, »Nationalsprache als Konzept der Sprachwis‐ senschaft«. In: Andreas Gardt (Hrsg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin-New York: De Gruyter, 2000, S. 419- 469, sowie Naoki Sakai, »How do we count a language? Translation and discontinuity«. Translation Studies, 2: 1, 2009, S.-71-88. 152 Celan war im Übrigen ein Arno Schmidt-Leser. Spuren dieser Lektüren lassen sich in Gedichten wie »Schneebett« (GW I, 168) ausmachen (s. NKG., 754). Trotz des grundsätzlichen Gattungsunterschieds, der den Prosaautor Schmidt vom Lyriker Celan trennt, ließen sich durchaus einige Parallelen bezüglich der von beiden Autoren benutzen mehrsprachigen Tropen und Figuren ausmachen, womit ein Desideratum der Forschung benannt wäre. 153 Vgl. Till Dembeck, »Sprachwechsel/ Sprachmischung«. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Lite‐ ratur und Mehrsprachigkeit, S.-125-166, insbesondere S.-141ff. 154 Über den zeitgenössischen Kontext hinaus könnte hier zum Vergleich Heines Lyrik herangezogen werden. Siehe hierzu Anna Danneck, »›Kapabel, miserabel, aimabel‹. Funktionen der französischen Sprachelemente in Heinrich Heines Lyrik«. In: Weertje Willms/ Evi Zemanek (Hrsg.), Polyglotte Texte, Komparatistik Online, 2, 2014. URL: https: / / www.komparatistik-online.de/ index.php/ komparatistik_online/ article/ view/ 14 1 (zuletzt besucht am 1.4.2024). Auch Goethes West-östlicher Divan wäre als historisches Beispiel für eine durch Heterolingualität gekennzeichnete lyrische Schreibweise zu nennen, mit der sich der ›Klassiker‹ deutlich vom puristischen Stil vieler Zeitgenossen absetzt. Siehe hierzu u.a. die Ausführungen in meinem Essay: Les langues de Goethe. Essai sur l’imaginaire plurilingue d’un poète national. Paris: Kimé, 2021, S.-151ff. Diskretheit und Grenzziehung. 151 Vereinfacht gesagt geht es um die Hinterfra‐ gung der vermeintlich selbstevidenten Zuordnungen sprachlicher Äußerungen zu einzelnen (National-)Sprachen. Angesicht der Allgegenwart hochkomplexer Phänomene wie historischem Sprachwandel und sprachlicher Varietät erfordert eine solche Kategorisierung grundsätzlich einen enormen Grad an Abstraktion und Formalisierung, ja, sie kann eigentlich nur über einen Akt der Setzung erfolgen. Bei genauer Betrachtung ist die Zuordnung einzelner Lexeme oder Wörter zu einer bestimmten Sprache daher nie einfach apodiktisch gegeben, sondern muss immer erst diskursiv hergestellt oder eben kritisch hinterfragt werden. Grundsätzlich besteht zwar im Medium der Literatur (sowie bei verwandten Textsorten aus dem Bereich der Geisteswissenschaften) ein für den Leser relativ leicht wahrzunehmender Unterschied darin, ob ein bestimmter Text von einem Wortschatz germanischen Ursprungs dominiert wird oder ob der Autor sein Schreiben verstärkt mit sogenannten Fremdwörtern, fremden Anklängen oder Formen sprachlicher Varietät durchzieht. Der erste Fall liegt etwa in den Schriften des Philosophen Martin Heidegger mit ihrem dezidiert archaischem, ja ›rustikalen‹ Stil vor. Der zweite Fall liegt hingegen bei Arno Schmidt 152 oder anderen zeitgenössischen Autoren 153 vor. 154 Die beiden Extrempole von sprach‐ puristischer ›Hypergermanisierung‹ einerseits und polyglotter Hybridisierung 62 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="63"?> 155 Siehe hierzu auch Till Dembeck, »›No pasaran‹ - Lyrik, Kulturpolitik und Sprachdiffe‐ renz bei T. S. Eliot, Paul Celan und Rolf Dieter Brinkmann«. Arcadia, 48: 1, 2013, S. 1-41. 156 Marcel Beyer, »Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan«. Text+Kritik: Paul Celan, Heft 53/ 54, Dritte Auflage: Neufassung, 2002, S.-48-65, hier S.-49. andererseits lassen sich also verhältnismäßig einfach - gleichsam idealtypisch - darstellen. Im konkreten Fall von Paul Celans poetischem Idiom gestaltet sich eine polarisierende Gegenüberstellung ›deutsch‹ versus ›fremd‹ allerdings als durchaus problematisch, wie es zahlreiche Beispiele im Laufe dieser Studie zeigen werden. Pointiert gesagt dient der Begriff ›Sprachigkeit‹ im Kontext der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung also dazu, die Kategorie ›einsprachiger Text‹ als (problematische) Idealisierung zu entlarven. Hervorgehoben wird dabei die Spannung zwischen den zentrifugalen und zentripetalen Kräften sprachlicher Identität - insbesondere im Bereich avancierter Literatur. In diesem Sinn kann ein gegebener Text sowohl unter dem Blickpunkt seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache als auch unter demjenigen seiner sprachlichen Grenzüberschreitung hin zu einer Vielzahl anderer Sprachen betrachtet werden. Den Sprachordnungen der institutionalisierten Einzelbzw. Nationalsprachen mit ihren Normierungsbestrebungen steht ein gerade für die moderne Lyrik typischer kulturpolitischer Impetus entgegen, der darauf abzielt, Sprache zu ver‐ fremden und auf diese Weise immerfort neue Sprachdifferenzen zu erzeugen. 155 Somit kann ein Celan-Gedicht einerseits auf seine Zugehörigkeit zur deutschen Basissprache hin gelesen werden, andererseits kann aber auch die Dimension sprachlicher Differenz, Alterität und Pluralität in ihm wahrgenommen und akzentuieren werden. Auch im poetologischen Diskurs der aktuellen Literaturszene kommt der Begriff ›Sprachigkeit‹ zum Einsatz - zum Teil mit konkretem Bezug auf die Dichtung Paul Celans, der dadurch eine gewisse Modellfunktion zukommt. In einer mit der sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschung vergleichbaren Weise versteht so der deutsche Lyriker Marcel Beyer unter ›Sprachigkeit‹ die komplexen »Wechselverhältnisse […] zwischen Fremd-, Eigen-, Zwei- und Mehrsprachigkeit« 156 in den Texten des deutsch-jüdischen Dichters. Laut Beyer zeichnet sich Celans Lyrik gerade dadurch aus, dass sie sich nicht auf Dichoto‐ mien wie ›eigensprachig versus fremdsprachig‹ reduzieren lässt. Im Anschluss an diese verschiedenen Positionen aus Wissenschaft und Literatur sollte bei der Untersuchung von Celans Lyrik und Poetik also nicht von sprachlichen ›Substanzen‹ ausgegangen werden, denen eine klare Identität innewohnt. Vielmehr muss sich das Augenmerk auf Relationen, Zwischenräume und Öffnungen (zwischen-)sprachlicher Art richten. So führt die spezifische 1.3 Ansätze und Begriffe 63 <?page no="64"?> 157 Siehe u. a. Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Berlin: De Gruyter, Bd.-3, 1999, S.-398. 158 Siehe Oskar Reichmann, »Nationalsprache als Konzept der Sprachwissenschaft«, S. 456. Verfasstheit von Celans Dichtungssprache mithin dazu, dass bestimmte Wörter mehreren Sprachen gleichzeitig angehören können, wobei solche ›Durchgänge‹ keineswegs dem Zufall geschuldet, sondern Teil einer umfassenden Poetik der Vieldeutigkeit sind. Bei solchen Wörtern liegt in gewisser Weise eine ›offenen‹ Sprachigkeit vor, die sich eindimensionalen Zuordnungen entzieht. Die somit skizzierte Problematik von Celans poetischem Idiom beginnt schon bei der starken Präsenz von in der heutigen Sprachwissenschaft als ›eurolateinisch‹ 157 bezeichneten Lexemen wie »Äon« (GW I, 129, V. 12), »La‐ pilli« (GW I, 258, V. 10) »Vigilie« (GW I, 265, V. 2, 282, V. 13), »Balme« (GW II, 351, V. 3) oder »Glottis« (GW II, 388, Titel). Das nachhaltige Interesse Celans für diese Varietätengruppe rührt unter anderem daher, dass sie sich als sprachideologisch weitgehend ›resistent‹ erwiesen haben, so dass sie in der deutschen Sprachgeschichte kaum national vereinnahmt wurden. 158 Trotz ihres lateinisch-griechischen Ursprungs sind diese Wörter allerdings fester und unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Wortschatzes. Solche eurolateinische Begriffe, die Celans unglaublich ausdifferenziertes, zu Dichtungssprache um‐ funktioniertes Fachvokabular veranschaulichen, wirken häufig fremd auf den Leser, sind aber zugleich durchaus als ›deutsch‹ anzusehen. Die notwendige Relativierung der traditionellen Leitdifferenz zwischen ›ein‐ gewanderter‹ und ›heimischer‹ Lexik betrifft ebenfalls eine Reihe von Wörtern germanischen Ursprungs wie »Wuhne« (GW I, 96, V. 12), »blakend« (GW I, 167, V. 8) oder »vermurt« (GW II, 212, V. 5, GW II, 339, V. 3). Insofern sie in den Bereich von Idio- und Soziolekten gehören, machen solche Wörter den Rückgriff auf Lexika häufig viel stärker nötig als der Einsatz fremdsprachiger Einschübe oder Zitate wie »love« (GW I, 277, V. 4), »no paseràn« (GW I, 131, V. 23 u. GW I, 270, V. 4) oder »Et quels / amours! « (GW I, 287, V. 57-58), die meist zum bildungsbürgerlichen Allgemeinwissen gehören. Anders gesagt kann selbst eine ursprünglich deutsche bzw. germanische Herkunft von Lexemen sehr wohl starke Fremdheitseffekte mit sich bringen. Auf dieser Ebene spielt in einigen Texten ebenfalls die diachrone Mehrsprachigkeit innerhalb des Deutschen eine Rolle, wie der Rückgriff auf das Mittelhochdeutsche zeigt (s. »Du sei wie du«, GW-II, 327). Wie oft unterstrichen wurde, arbeitet Celans Lyrik zudem intensiv mit den vielfältigen Möglichkeiten der deutschen Wortbildung, was dazu führt, dass bestimmte Wortschöpfungen wie »halbschürig« (GW I, 242, V. 6-7), »Lichtknecht« (GW I, 245, V. 14) oder »Treckschutenzeit« (GW II, 326, V. 1) 64 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="65"?> 159 Yoko Tawada, Eine Zungengymnastik für die Genderdebatte. Tübingen: Konkursbuch‐ verlag, 2023, S.-142-143. 160 Ann Carson, Economy of the Unlost (Reading Simonides of Keos with Paul Celan). Princeton: Princeton University Press, 1999, S.-28. 161 Till Dembeck, »Sprachliche und kulturelle Identität«. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Lite‐ ratur und Mehrsprachigkeit, S. 27-33, hier S. 31. Siehe auch Ofelia García/ Li Wie (Hrsg.), Translanguaging: Language, Bilingualism, and Education. New York: Palgrave MacMillan, 2014. weitaus fremder wirken können als die Präsenz von anderssprachigen Wörtern im eigentlichen Sinne. Unter dem kritischen Blickwinkel des Kriteriums ›Spra‐ chigkeit‹ wird letztlich die bequeme Unterscheidung ›deutsch vs. fremd‹ sowie die Vorstellung muttersprachlicher ›Sprach-Beherrschung‹ zutiefst fragwürdig: »Die Illusion einer idealen Leserschaft, die ohne Wörterbuch alle Wörter im Ge‐ dicht verstehen kann, wird infrage gestellt, und durch diesen seltsamen Umweg erreicht es eine Offenheit für alle«, so bringt es Yoko Tawada auf den Punkt. 159 Wohlbemerkt geht es dabei weniger um die Idee eines ›Celanischen‹, also einer Art von Privatsprache, die man gleich einer Fremdsprache erlernen müsse, als um die Tatsache, dass Celans poetisches Sprechen mehrere Rezeptionsebenen enthält, durch die Leser mit unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Horizonten impliziert werden - weit über die nationalsprachlichen Grenzen des Deutschen hinaus. Was den Einsatz moderner Fremdsprachen angeht, lässt sich darüber hinaus bei Celan feststellen, dass seine Texte mit Mehrfachcodierungen und Mitteln ›versteckter‹ Multilingualität wie Paronymie, Homonymie, Metathese und implizitem Bilingualismus arbeiten. Wie in Kapitel 5 im Einzelnen dargelegt werden soll, lassen viele Wörter seiner Lyrik eine intern mehrsprachige Dimension erkennen, was eine eineindeutige Zuordnung unmöglich macht. Dazu merkt die kanadische Autorin Anne Carson an: »Celan is a poet who uses language as if he were always translating«. 160 In diesem Zusammenhang spricht die Forschung auch vom Verfahren des ›translanguaging‹ 161 als einer Form von Sprachverwendung, die eine klare Zuordnung zu einer einzelnen Sprache unterläuft und auf der Knüpfung sprachlicher Querverbindungen basiert. Im Unterschied zu aktuellen Theorien der World Literature geht es hierbei wohlbemerkt nicht um die Idee einer generellen Austauschbarkeit oder Konvertierbarkeit der Sprachen, sondern vielmehr um einen Prozess der Singularisierung des poetischen Idioms durch ›Quersprachigkeit‹. Ein bekanntes und seit langem regelmäßig in der Forschung zitiertes Beispiel bildet das Wort ›Neige‹ im Gedicht »Bei Wein und Verlorenheit« (GW I, 213), das sich - trotz Großschreibung - sowohl über das Deutsche als auch über das Französische (neige = Schnee) lesen lässt. Daneben kann ein Bezug 1.3 Ansätze und Begriffe 65 <?page no="66"?> 162 Die Verwendung des Begriffs in diesem Sinne ist im vorliegenden Zusammenhang abzugrenzen von der u. a. aus der Physiologie und der Telekommunikation stammenden temporalen Bedeutung im Sinne einer Verzögerung. zum englischen ›neigh‹ für ›wiehern‹ hergestellt werden (s. 6.6). Durch die Verbindung zum Topos des ›Wiehern‹ wird in diesem Gedicht zuletzt auch eine sprachreflexive Dimension eröffnet. Wie dieses Beispiel zeigt, erschließen sich solche mehrsprachige Aspekte von Celans Schreiben oft erst auf dem Weg linguistischer und textgenetischer Nachforschungen unter Hinzuziehung von Quellen und Textzeugen. Das ›Kryptische‹ und nicht sofort Sichtbare, das allgemein als eines der Hauptmerkmale von Celans Lyrik gelten darf, ist somit auch im vorliegenden Problembereich von Mehrsprachigkeit äußerst relevant. Die bis hierhin aufgezählten Gründe machen deutlich, warum ein rein quantitativer, also die Anzahl von ›Fremdwörtern‹ zählender, und auf manifeste, d. h. unmittelbar augenfällige Polyglossie reduzierter Ansatz viel zu kurz greifen würde. Tatsächlich ist die Kategorisierung einzelner Wörter als ›deutsch‹ oder ›fremd‹ nie allein phänomenologisch zu lösen, sodass Celans Mehrsprachigkeit bei weitem nicht so einfach zu definieren ist, wie es zunächst scheinen mag. Der Versuch einer Verortung des Sprachmaterials innerhalb (oder außerhalb) des Deutschen muss verschiedenste Parameter berücksichtigen. So können an‐ derssprachige Einsprengsel oder Segmente entweder gleichsam unassimilierbar als Stolpersteine fungieren, wenn etwa das Hebräische oder das Jiddische zum Einsatz kommen. Sie können aber ebenfalls einen relativ geringen Alteritäts- oder Differenzeffekt besitzen, wenn es sich um das Basisvokabular weitverbrei‐ teter Fremdsprachen, ja so genannter Weltsprachen wie das Englische handelt. Pointiert gesagt: Auch die - empirisch noch zu verifizierende - lexikographi‐ sche Hypothese, mehr als 95 % von Celans Wortschatz sei ›deutsch‹, würde hier letztlich viel zu kurz greifen, da angesichts der Problematik von Latenz (d. i. die verborgene oder verdeckte Seite der Mehrsprachigkeit) 162 und Spra‐ chigkeit (d. i. die intrikate Problematik sprachlicher Zugehörigkeit) durch ein solches Argument überhaupt kein Urteil über die Poetik Celans gefällt wäre. Aus diesem Grund soll in der vorliegenden Studie bei der Bearbeitung des Korpus weitestgehend auf eine quantifizierende Perspektive verzichtet werden. Die Vielfalt und Breite der im systematisch-typologischen Hauptteil erfassten Erscheinungsformen und Textbeispiele spricht für sich, auch wenn gleichzeitig keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Doch sind allein im lyrischen Werk über ein Fünftel der vom Autor selbst publizierten Gedichte und Nachlassgedichte für die vorliegende Untersuchung relevant, d. h. unter dem Blickwinkel von Polyglossie bedeutsam. Die exophone Textproduktion und die Übersetzungen des Dichters werden dabei noch nicht einmal mitgezählt. 66 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="67"?> Das hierbei zutage tretende Paradoxon, die Unterscheidung ›eigen vs. fremd‹ infrage zu stellen und gleichzeitig darauf abzuzielen, sprachliche Differenz und Alterität in den (deutschen) Texten herauszuarbeiten, muss in Kauf genommen werden. Auf dieser Ebene bleibt Mehrsprachigkeitsforschung in dem Dilemma verhaftet, dass sich über sprachliche Differenzen nicht forschen lässt, ohne selbst zu ordnen und zu benennen und damit Grenzen zu ziehen. Anders gesagt, lässt sich Mehrsprachigkeit nicht unabhängig von der Kategorie der Ein‐ sprachigkeit betrachten. Die sprachlichen Aporien, die Celans Werk zugrunde liegen, verstärken diese letztlich nicht aufzulösenden Paradoxien der Forschung, was aber mithilfe eines ausdifferenzierten und leistungsfähigen Begriffsinst‐ rumentariums pragmatisch durchaus gemeistert werden kann. Allein schon wegen der oben dargelegten Ausgrenzungsproblematik kann es jedenfalls kaum darum gehen, eine Celan’sche ›Fremdwörterkunde‹ zu betreiben und eine Liste ›nicht-deutscher‹ Begriffe aus seiner Lyrik zu extrahieren, um auf dieser Basis die Frage zu beantworten, ob seine Lyrik als mehrsprachig zu bezeichnen ist. Nicht die Frage »Ist es deutsch/ mehrsprachig oder nicht? « soll im Folgenden im Vordergrund stehen, oder »Wie hoch ist der Anteil fremdsprachiger Wörter im Gesamtkorpus von Celans Lyrik? «, sondern vielmehr die Frage: Inwiefern gibt Celans teils klar sichtbare, teils verdeckt-untergründige Praxis von Mehr‐ sprachigkeit Auskunft über sein Verhältnis zum Deutschen? Was macht der jüdische Dichter in seinen Texten mit dem Deutschen durch den Einsatz ›an‐ derer‹ Sprachen sowie seinen Rückgriff auf sprachliche Varietät und Diversität? Inwiefern verändert der Einsatz ›fremder‹ Sprachen nicht nur den Blick auf die deutsche Sprache, sondern auch deren Identität? Über das Kriterium der Grenzziehung hinaus braucht es hierzu einen Funktionsansatz, der es erlaubt zu untersuchen, welche Rolle bestimmte Sprachen und Wörter in Bezug auf die Frage kultur-sprachlicher Identität und vor dem Hintergrund der deutsch-jüdi‐ schen Geschichte spielen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, aufzuzeigen, dass Celans impliziter Leser ein mehrsprachiger Leser ist oder zumindest ein Leser, der dazu bereit ist, die Grenzen seines eigenen sprachlichen Horizontes fragend und forschend zu überschreiten. 1.3.4 Monolingual - multilingual - translingual Unter der Zielsetzung, Paul Celans Mehrsprachigkeit in ihrer ganzen Vielfalt und Komplexität zu beleuchten, vereint die vorliegende Studie drei Unter‐ suchungsebenen miteinander: Sprachreflexion, Sprachwechsel und Sprachmi‐ schung. Die mit diesen verschiedenen Ebenen angesprochenen Erscheinungs‐ formen stellen jeweils spezifische Anforderungen an die Analyse. Tritt der 1.3 Ansätze und Begriffe 67 <?page no="68"?> 163 Uljana Wolf, »Wovon wir reden, wenn wir von mehrsprachiger Lyrik reden«. In: Dies., Etymologischer Gossip, S.-127-147. 164 Ebd., S.-130-131. 165 Ebd., S.-128. Unterschied von Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit im Fall eines Sprach‐ wechsels von Text zu Text offen zutage - etwa wenn der Dichter Prosagedichte auf Rumänisch schreibt -, ist die Sprachdifferenz bei Phänomenen textinterner Sprachmischung oft weit weniger evident. Die Beurteilung, wo genau ›fremde‹ Sprachen im Text sichtbar werden, stößt hier, wie bereits angesprochen, auf grundsätzliche, definitorische Probleme. Ähnliches gilt für die metapoetische Ebene der Sprachreflexion, d. h. im Fall von im weitesten Sinne poetologischen Aussagen über ›Sprache‹, in denen der konkrete Bezug zum Deutschen bzw. zu anderen Sprachen nicht immer eindeutig zu bestimmen ist. Generell, so muss betont werden, tritt die mehrsprachige Dimension von Celans Texten nicht überall offen zutage, sondern ist häufig gleichsam untergründig präsent. Die im Laufe der Studie immer wieder zu diskutierende Frage der (Un-)Sichtbarkeit der verschiedenen Sprachen in seinem Werk stellt die Methodik vor besondere Herausforderungen. Die 1979 geborene und in der sprachexperimentellen Tradition stehende Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf hat mit ihrem 2018 gehaltenem Vortrag Wovon wir reden, wenn wir von mehrsprachiger Lyrik reden  163 einen wichtigen Beitrag zur Komplexitätssteigerung bei der Untersuchung literarischer Mehr‐ sprachigkeit geleistet. Im Anschluss an Derridas Sprachdenken unternimmt Wolf in diesem Text eine Unterscheidung zwischen dem ›mehrsprachigen‹ und dem ›translingualen‹ Gedicht, die für die vorliegende Studie von grundlegender Bedeutung ist, insofern sie sich gegen eine Einschränkung auf eine bestimmte Art manifester, ›vordergründiger‹ Polyglossie wendet. So schreibt Wolf: »Wenn wir von translingualer Lyrik sprechen, heißt das nicht zwangsläufig, dass wir nur von einer quantitativ messbaren Präsenz mehrerer Sprachen im Gedicht sprechen müssen«. 164 ›Translinguales‹ Schreiben bedeutet für sie vielmehr eine »poetische Verstörung der Muttersprache oder Einzelsprache und der damit verknüpften Identitätsdiskurse«, die sich nicht notwendigerweise mit der Differenz ›einsprachig vs. mehrsprachig‹ deckt, denn »ein einsprachiges Gedicht kann in seinem Denken mehrsprachig sein«, wie Wolf bemerkt. 165 Auf Celan bezogen gibt es in seiner Lyrik in der Tat Beispiele für (oberfläch‐ lich betrachtet) einsprachige Gedichte, wie das bereits erwähnte »Kleide die Worthöhlen aus« (GW II, 198), deren Funktionsweise und Sinnerzeugung jedoch durch und durch auf translingualen Logiken basieren - im zitierten Beispiel auf der Morphologie des Hebräischen (s. 3.3.1). Im Sinne von Uljana Wolf geht es in 68 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="69"?> 166 Ebd., S.-131. 167 Draesner, »Die Poesie reizt das Extrem«, S.-155. 168 Zum Begriff der Latenz siehe auch Hans-Ulrich Gumbrecht/ Florian Klinger (Hrsg.), Latenz: Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. einem translingualen Gedicht also nicht bloß um »mehrsprachige Polyfonie« oder eine »quasi touristisch[e]« (oder ›dekorative‹) Verwendung fremdspra‐ chiger Namen oder Äußerungen. Vielmehr geht es, wie sie schreibt, um eine »Vieldeutigkeit zwischen Sprachen, eine Art des Durch-Sprachen-Schreibens oder Schreibens am Rand, auf der Kippe, der Zungenspitze von Einzelsprachig‐ keit«. 166 Dieser Ansatz erlaubt es, die berüchtigte Fremdwörterproblematik mit dem ihr eigenen Sprachpurismus zu umgehen und »Celans Gegenbewegung des Sprechens-im-zerbrochenen-Deutsch«, 167 wie es ihrerseits Ulrike Draesner ausdrückt, differenzierter in ihrer ganzen Komplexität darzustellen. In diesem Sinne wird in der vorliegenden Studie eine Einbeziehung aller latenten, verborgenen oder kryptischen Formen sprachlicher Alterität und Pluralität innerhalb der ›anderen‹ Einsprachigkeit Celans angestrebt. ›Trans‐ lingualität‹ als tiefgründiges »Durch-Sprachen-Schreiben« tritt als erweiterte Perspektive an die Stelle einer vornehmlich ›horizontalen‹ Quantifizierung von Multilingualität. Denn gerade das scheinbar nur Latente 168 oder ›Krypto‐ mehrsprachige‹ stellt sich auf der Ebene poetischer Quer-Sprachigkeit oft als besonders bedeutsam heraus. In Anbetracht der Geschichte der literarischen Hermeneutik, deren erklärtes Ziel es stets gewesen ist, die nicht offen sichtbaren Tiefenstrukturen der Texte zu erfassen, wäre es literaturwissenschaftlich ge‐ sehen ohnehin äußerst inkohärent, sich bei der Betrachtung von Multilingualität auf die ›Oberfläche‹ der Texte zu beschränken. Allerdings wurden solch restriktive Positionen in der Vergangenheit wie‐ derholt von der Mehrsprachigkeitsforschung vertreten, zweifelsohne zum - durchaus verständlichen - Zweck der Komplexitätsreduzierung. Allein eine adäquate Betrachtungsweise des Celan’schen Schreibens - seiner vielfältigen Resonanzräume, seiner Verschränkung verschiedener Sprachschichten und seiner paradoxen Bedeutungsstruktur - dürfte damit nicht zu leisten sein. Das hat die avancierte Celan-Forschung über das letzte halbe Jahrhundert hinweg immer wieder bewiesen. Vieles, was früher von den Lesern und Kritikern nicht wahrgenommen wurde, besitzt aus heutiger Sicht nahezu einen Evidenzeffekt. Und dieses heuristische Prinzip lässt sich zweifelsohne auf die Mehrsprachig‐ keitsproblematik übertragen. In diesem Sinne darf sich der hier vorgelegte multilinguale Analyseansatz als eine konsequente Weiterentwicklung wichtiger 1.3 Ansätze und Begriffe 69 <?page no="70"?> 169 Mikrolithen, 217. Siehe hierzu Lydia Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Schoa. Mainz: Matthias Grüne‐ wald-Verlag, 1997. 170 In diesem Punkt weist Celans Schreibpraxis auf die sogenannte Migrationsliteratur der heutigen Zeit voraus: »Durch den Sprachwechsel und/ oder das Schreiben mit einer anderen Sprache ›Im Ohr‹ unterlaufen die Repertoires die Dichotomie von sprachlich richtig und falsch, zudem entziehen sich die Texte vereinfachenden kultu‐ rellen Zuschreibungen bzw. sie spielen damit. Implizit klingt immer etwas Abwesendes mit: andere Räume oder Zeiten, Sprachen, Varietäten und Zeichen, an denen sich Autorinnen und Autoren in ihrem Schreiben orientieren.«, Eva-Maria Thüne, »Der Umgang mit Sprache in der Migrationsliteratur«. In: Anne Betten/ Ulla Fix/ Berbeli Wanning (Hrsg.), Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin-Boston: De Gruyter, 2017, S.-531-549, hier 531. 171 Thomas Kling, »Sprach-Pendelbewegung. Celans Galgen-Motiv«. Text+Kritik: Paul Celan, Heft 53/ 54, Dritte Auflage: Neufassung, 2002, S.-25-37, hier S.-30. 172 Siehe u. a. Claire Placial, »Biblical Myths of Translation«. In: Lieven D’hulst/ Yves Gambier (Hrsg.), A History of Modern Translation Knowledge. Amsterdam: John Benjamins, 2018, S.-45-50. Traditionslinien einer notwendigerweise hochkomplexen Celan-Philologie ver‐ stehen. Denkt man an die zentrale Rolle jüdischer Sprachen (sprich: des Hebräischen und des Jiddischen) in Paul Celans Lyrik, könnte in diesem Zusammenhang - unter Rückgriff auf eine berühmte Selbstaussage des Dichters (Briefe, 880) - von einer nicht bloß thematisch-motivischen (d. i. lexikalisch-phänomenalen), sondern gleichsam ›pneumatischen‹ 169 Präsenz anderer Sprachen gesprochen werden. Gegen eine solche Sichtweise spricht zwar, dass der Begriff ›pneumati‐ sche Sprache‹ eng mit christlichen und neutestamentarischen Repräsentationen des Heiligen Geistes verbunden ist - insbesondere über die Vorstellung der ›Er‐ füllung‹ der Apostel mit der göttlichen Botschaft am Pfingsttag. Ein gewichtiges Argument für diese Betrachtungsweise stellt jedoch Celans eigene Verwendung des griechischen Ausdrucks dar, der in Bezug auf die Sprachproblematik so verstanden werden könnte, dass der Dichter selbst dort, wo dies nicht offen zutage tritt, andere Sprachen anklingen lässt und diese in seinen Texten präsent und ›spürbar‹ macht. 170 ›Pneumatisch‹ wäre Celans Mehrsprachigkeit demnach insofern zu nennen, als der Eindruck entsteht, hinter dem Deutschen würden fremde, allophone Stimmen aus dem ›Off‹ mitsprechen, wie es der Dichter Thomas Kling unter Verweis auf die Technik des Voice-Over suggeriert. 171 Nicht zuletzt zeichnet sich der Pfingstmythos gerade dadurch aus, dass in ihm Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit gleichsam zusammenfallen, wie die Ge‐ schichte seiner Exegese zeigt, 172 wodurch sich interessante Anknüpfungspunkte zu Celans Poetik ergeben. 70 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="71"?> 173 »Inscrivant Babel dans le corps même de chaque poème«, Derrida, Le monolinguisme de l’autre, S.-130. 1.4 Gang der Untersuchung 1.4.1 Hauptlinien Ausgehend von den bisher ausgeführten theoretischen und methodologischen Grundlagen soll im Folgenden Paul Celans Mehrsprachigkeit möglichst in ihrer ganzen Breite und Tiefe erfasst werden. Die letztendliche Zielsetzung der Arbeit besteht darin, eine translinguale Poetik aus seinem Werk herauszuarbeiten. Damit wird keineswegs postuliert, jedes einzelne Gedicht des Œuvres sei mehrsprachig. An diesem Punkt muss sich die philologische Vorgehensweisen, der diese Studie verpflichtet ist, von der philosophischen Verve eines Derrida abgrenzen. 173 Im vorliegenden Zusammenhang geht es insbesondere um die analytische Herausarbeitung rekurrenter und für sein Schreiben exemplarischer Prozesse ›zwischen‹ den Sprachen. Im Vordergrund soll dabei nicht Anders‐ sprachigkeit in Form sprachlicher Abgrenzungen stehen, sondern das Prinzip sprachübergreifender Wortöffnungen als ›translanguaging‹. Nicht sprachliche Grenzziehung auf Basis einer schematischen Taxonomie des Wortmaterials steht im Zentrum des Interesses, sondern die Tatsache, dass Celans Schreiben über Sprachgrenzen hinweg bzw. im Grenzraum zwischen den Sprachen ope‐ riert. Das Augenmerk der Untersuchung richtet sich zuvorderst auf die literarische Performanz von Texten, d. h. auf die Präsenz verschiedener Sprachen im Schreiben, wobei die individuelle Sprachkompetenz ihres Autors prinzipiell eine untergeordnete Rolle spielt. Andererseits erscheint die sprachbiographische Perspektive - von Celans ursprünglich polyglottem Czernowitzer Milieu über seinen Verzicht auf eine Ansiedlung im deutschsprachigen Gebiet und sein bewusst gewähltes Exil in Frankreich bis hin zur Rolle jüdischer Sprachen in seinem Leben - als durchaus relevant, insofern Celans Sprachverhalten stets auch in dieser persönlichen und lebensweltlichen Dimension erfasst werden muss. Denn der Einsatz sprachlicher Vielfalt ist bei dem jüdischen Dichter nie bloß artistischer Selbstzweck oder freies Spiel mit dem Sprachmaterial. Spätestens seit der Ermordung seiner Eltern in der Deportation ist seine Haltung zur Sprache biographisch, ja existenziell verankert. In diesem Sinne erweist sich eine sprachspezifische Herangehensweise an manchen Stellen als ebenfalls nützlich und notwendig. Die beteiligten Sprachen besitzen jeweils eigene literarische, historische und symbolische Funktionen, wodurch erhebliche Differenzen sichtbar werden - insbesondere zwischen 1.4 Gang der Untersuchung 71 <?page no="72"?> dem Rumänischen und dem Hebräischen, um nur diese beiden zu nennen. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich ebenfalls die Frage der Einbeziehung der Zeitachse, also der Relevanz der Sprachen je nach Werkphase. In Bezug auf die wichtigsten der vertretenen Sprachen kann dabei vereinfacht eine zunehmende Präsenz des Hebräischen bei gleichzeitiger Marginalisierung des im Jugendwerk so bedeutenden Rumänischen festgestellt werden. Demgegenüber bildet das Französische schon früh eine sprachliche Konstante in Celans Schaffen, die sich bis an das Lebensende des Dichters fortsetzen sollte. Auch die werkgeschichtliche Evolution und diachrone Verteilung der ver‐ schiedenen literarischen Mittel, Verfahren und Techniken zur Erzeugung von Mehrsprachigkeit stellt eine interessante Perspektive dar. Den Ausgangspunkt der Entwicklung von Paul Celans Sprachverhalten als Lyriker bildet dabei sein jugendlicher Wunsch nach einer Identifikation mit der deutschen Mutterzunge und Dichtungstradition, trotz des ihn umgebenden (post-)habsburgischen Spra‐ chenbabels. Nach der Ermordung der Eltern und der Flucht aus Czernowitz folgte während der Bukarester Jahre eine vorübergehende Einbzw. Ausklam‐ merung des Deutschen und die Erprobung des Rumänischen als literarische Zweitsprache. Nach dem Entschluss, die Aporien des Dichtens auf Deutsch als jüdischer Lyriker bewusst auf sich zu nehmen, verschärfte sich im Pariser Exil unter extraterritorialen Bedingungen der Prozess einer Art sprachlichen ›Desassimilation‹, in dessen Verlauf sich ein neues literarisches Idiom heraus‐ bildet: Celans ganz eigenes Deutsch. Dieses singuläre Deutsch verschränkt sich in der Folge immer stärker mit anderen Sprachen - teils manifest, an der Textoberfläche, teils latent, untergründig, verdeckt oder verborgen, in den sprachlichen Tiefenschichten. Unter diesem Blickwinkel bildet der Band Die Niemandsrose (1963) zweifels‐ ohne einen quantitativen wie qualitativen Höhepunkt in der Werkgeschichte. Allerdings markiert schon der frühere Band Sprachgitter (1959) mit Gedichten aus der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine deutliche Wende in der Sichtbarkeit von Mehrsprachigkeit in Celans Gedichten. Nach dem Höhepunkt manifester Mehrsprachigkeit in den um 1960 entstandenen Texten setzt sich diese Entwick‐ lung bis in die späten Gedichtbände vom Ende der 1960er Jahre fort, wie unter anderem Beispiele wie »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154) und »Du sei wie du« (GW II, 327) aus den letzten Lebensjahren zeigen, auf die noch näher einzugehen sein wird. 72 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="73"?> 174 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-2. 1.4.2 Ausgangsthese In ihrer Grundkonzeption geht die vorliegende Studie von der Prämisse aus, dass es sich beim Thema ›Mehrsprachigkeit‹ um eine der zentralsten und gleichzeitig komplexesten Fragen handelt, die Celans Werk aufwirft. Die Problematik ist insofern zentral für den Dichter, als sie über die Beziehung der Muttersprache zu den sogenannten Fremdsprachen die fundamentale Frage seiner Einschreibung in die Traditionen der deutschen Literatur- und Sprachgeschichte aufwirft. Ce‐ lans Verhältnis zu Theorie und Praxis der Mehrsprachigkeit, so die Leitidee, ist also keineswegs marginal zu nennen, sondern berührt vielmehr den Kern seiner Poetik, in all ihrer Komplexität und mit den sie auszeichnenden Spannungen und Dissonanzen, ja Paradoxien. Zunächst spiegelt sich, so kann hier vorausgeschickt werden, in Celans Rückgriff auf Verfahren der Mehrsprachigkeit sein distanziert-kritisches, ja aporetisches Verhältnis zur deutschen Sprache. Die Phänomene des Sprach‐ wechsels, der Sprachmischung und der multilingualen Sprachreflexion, so wie sie in seinem Werk zu beobachten sind, können grundsätzlich als Reaktion auf dieses gestörte Verhältnis angesehen werden. Unter Verwendung von postdadaistischen Verfahren und in Anlehnung an die jüdische Sprachmystik benutzt der Dichter Mehrsprachigkeit dabei insbesondere zur Erzeugung einer »Vielstelligkeit des Ausdrucks« (GW III, 167) mittels sprachlicher Superposition und multilingualer Mehrfachcodierung bei gleichzeitiger Dekonstruktion des Deutschen als Trägersprache der Judenvernichtung. Die markante Art, wie der Lyriker verschiedene Sprachen übereinander schichtet, miteinander verwebt und zusammenklingen lässt, ist Teil einer allgemeinen poetischen Strategie, die darauf abzielt, Disparates und Dissonantes ›engzuführen‹ (s. GW-I, 195, Titel). »Gedichte sind Paradoxe«, schreibt Celan in diesem Sinne in einer poetolo‐ gischen Notiz aus der Mitte der 1950er-Jahre (Mikrolithen, 96). Das gilt nicht zuletzt, so kann hier ergänzt werden, für das Zusammenspiel von Ein- und Mehrsprachigkeit in seiner lyrischen Produktion. Es kann beobachtet werden, wie der Dichter in seinem Schreiben immer wieder verschiedene Sprachen mit dem Deutschen ›In eins‹ setzt, wie es das gleichnamige Gedicht (GW I, 270) programmatisch vorführt. Zum Teil überlagern sich dabei multiple Sprachen im selben Wort. »Mit einem einzelnen Wort, einem Kompositum oder einer Phrase gelingt es Celan, verschiedene Welten zu öffnen, die mehrere Lesarten nebenein‐ ander, parallel zueinander, sich überlappend oder gar einander widersprechend erlauben«, 174 so fasst Irene Fußl treffend diese Poetik der Vielschichtigkeit 1.4 Gang der Untersuchung 73 <?page no="74"?> 175 Bayerdörfer, »Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945«, S.-52. 176 Ezra Pound, ABC of Reading. New York: New Directions, 2010 (1934), S.-28. 177 Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-194. 178 Zur Unterscheidung Semiodiversität vs. Glossodiversität in der Mehrsprachigkeitsfor‐ schung siehe u. a. Till Dembeck, »Sprachwechsel/ Sprachmischung«. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-125-166, hier S.-152. zusammen, als deren integraler Bestandteil die Mehrsprachigkeit aufzufassen ist. Mehrsprachigkeit, so kann man folgern, dient in Celans Werk fundamental zur Erzeugung von Mehrdeutigkeit bzw. von »Vielstelligkeit« (GW III, 167), um einen Begriff des Dichters zu verwenden. Dadurch geraten seine translingualen Verfahren in die Nähe der Figur der Amphibolie, verstanden als Spiel mit mehrfachen Bedeutungsebenen. Dieser Zug bringt es unter anderem mit sich, dass Mehrsprachigkeit in seinen Texten niemals ›dekorativ‹ (oder als reine ornatio) wirkt, da sie nicht als redundante ›Verdoppelung‹ von ohnehin auf deutsch ausgedrückten Inhalten auftritt, sondern generell dem Text immer etwas Neues hinzufügt. Als Mittel der sprachlichen Steigerung und Sinnpoten‐ zierung avanciert Multilingualität bei Celan zum »poetologischen Prinzip«, wie es Hans-Peter Bayerdörfer bereits 1988 festgestellt hat. 175 Sie dient der Realisie‐ rung von Dichtung als »language charged with meaning to the utmost possible degree«, 176 um es mit den Worten Ezra Pounds, eines anderen polyglotten Dichters, auszudrücken - auch wenn der jüdische Autor diesen Vergleich aus ethisch-politischen Gründen kaum geduldet hätte. 177 Im Anschluss an die Begrifflichkeiten von M. A. K. Halliday könnte Celans Sprache bzw. dichterisches Sprechen als hochgradig ›semiodivers‹ bezeichnet werden, was sich insbesondere seiner Polyphonie und Polyglossie verdankt. Damit ist gemeint, dass sein Schreiben auf eine größtmögliche ›vertikale‹ Komplexität des Codes - quer durch die Sprachen - abzielt. 178 Es geht dabei nicht so sehr um den ›Grad‹ der Fremdheit von Celans Zunge, sondern darum, dass die interne Vielfalt und Multiplizierung der Sprachen über Steigerungseffekte eine Vertiefung der Sinndimension ermöglicht. Diese multilinguale ›Anreicherung‹ der Sprache betrifft zuvorderst Phänomene der internen Sprachmischung. Doch auch der Prozess des Sprachwechsels gehört dazu, insofern sich dabei das lite‐ rarische Schreiben im Spiegel sprachlicher Fremdheit verwandeln kann, wenn Celan sich beispielsweise selbst in seine französische Zweitsprache überträgt. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass all diese multilingualen Aspekte bei Celan immer wieder zum Gegenstand metapoetischer Reflexionen werden. 74 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="75"?> 179 Werner, Textgräber, S.-180. 180 Siehe Jacques Derrida, »La langue n'appartient pas. Entretien avec Evelyne Grossman«. Europe (Paul Celan), 861-862, 2001, S.-81-91, hier S.-84. Trotz der durchaus wichtigen Affinitäten Celans zu Sprachspiel und Sprachexpe‐ riment muss die Funktion mehrsprachiger Verfahren in seinem Werk abgegrenzt werden von Witz und Komik sowie vom Formalismus. Dennoch ist Mehrsprachig‐ keit, so muss grundsätzlich unterstrichen werden, seiner Poetik mitnichten fremd, sondern steht - samt ihrer spielerisch-experimentellen Aspekte - in deren Dienste. Neben der Sinnpotenzierung besteht ihre Rolle insbesondere in der Einschreibung von (traumatischer) Geschichte und Erinnerung in die deutsche Sprache. Indem anderssprachige Lexeme gleichsam wie mnemonische Stolpersteine in das Deutsche eingebettet und ›fremde‹ Sprachen in den Gedichten - sei es auch nur unterschwellig - hörbar gemacht werden, besitzt Multilingualität in Celans Schaffen durchaus auch die Dimension eines subversiven ›Writing-back‹ durch einen osteuropäischen Juden deutscher Kultur und Sprache, dessen Assimilierung durch den Zivilisationsbruch der Judenvernichtung zutiefst infrage gestellt wurde. Mit ihrem Effekt hochgradiger Überdeterminierung dienen multilinguale Techniken - insbesondere implizite, latente - bei Celan nicht zuletzt als Mittel der Hermetik, in einem positiven Sinne verstanden als »kongenitale Dunkel‐ heit« des Gedichts (Mikrolithen, 132). Dadurch, dass sie das Lesen in ein Studium verwandelt, dient die Hermetik der Aufmerksamkeitssteigerung beim Leser und somit letztlich dem Totengedenken, indem sie diese orphische Dichtung gleichsam »in stets neuer Sprache« 179 sprechen lässt. Daher verfolgt diese ›sprachöffnende‹ Poetik nicht nur das Ziel einer ›Beschneidung‹, Dekonstruk‐ tion oder gar Destruktion des Deutschen, indem es ihm Verletzungen, Brüche und Gewaltsamkeiten einschreibt. 180 Die mehrsprachige Arbeit am Deutschen stellt auch einen der Wege dar, um gegenüber dem sogenannten ›Gesamtdeut‐ schen‹ ein neues (sprach-)politisches Handlungspotenzial zu erlangen. Trotz aller Negativität in Celans Schreiben zeugen seine multilingualen Techniken daher auch von einer gewissen Vitalität bzw. Re-Vitalisierung des Deutschen als Dichtungssprache: »Es sind / noch Lieder zu singen«-… (GW-II, 26, V.-5-6). 1.4.3 Korpus Im Mittelpunkt der Analysen der vorliegenden Studie sollen alle zu Lebzeiten von Paul Celan publizierten Gedichte stehen - von seinem ersten Band Der Sand aus den Urnen (1948), aus dem große Teile in Mohn und Gedächtnis (1952) übernommen wurden, bis zur noch von ihm für den Druck eingerich‐ 1.4 Gang der Untersuchung 75 <?page no="76"?> 181 Lichtzwang (1970) besitzt genauer gesagt einen Sonderstatus, da Celan die Korrektur‐ fahnen nicht mehr bearbeiten konnte und der Band in der publizierten Form nur bedingt als autorisiert gelten kann. 182 Siehe Axel Gellhaus/ Karin Herrmann, »Vorwort«. In: Dies., (Hrsg.), »Qualitativer Wechsel«. Textgenese bei Paul Celan. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010, S.-7-10, hier S.-9. 183 Peter Szondi, Celan-Studien. Frankfurt-a.-M.: Suhrkamp, 1972, S.-135. teten Gedichtsammlung Lichtzwang (1970) . 181 Ergänzend hierzu sollen die vom Dichter veröffentlichten Prosatexte herangezogen werden, wie sie 1983 in Band drei der Gesammelten Werke vereint wurden. Dazu zählen einerseits Celans (Preis-)Reden sowie andere im weitesten Sinne poetologische Texte, anderer‐ seits literarische Prosa wie das Gespräch im Gebirg (1960). In zweiter Linie müssen alle erhaltenen Textzeugen des Gedichtkorpus sowie der poetologischen Schriften hinzugezogen werden, so wie sie in den vergangenen Jahrzehnten von der Bonner (HKA) sowie von der Tübinger Celan-Ausgabe (TCA) erschlossen wurden. Zwar hatte es sich der Dichter zum Vorsatz gemacht, nie über die Entstehung seiner Texte zu sprechen (s. Mikrolithen 141), doch hat er seine Leser immer wieder dazu animiert, sich für die Grundlagen, Bedingungen und Quellen seines Schreibens zu interessieren, ja hat einen solchen Zugang zu seinem Schreiben sogar gleichsam metapoetisch konzeptualisiert, wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird (s.-3.3). Eine textgenetische Betrachtung der Gedichte erweist sich schon allein deswegen als unverzichtbar, da bestimmte mehrsprachige Verfahrensweisen erst auf dieser Ebene offen sichtbar bzw. komplett verständlich werden. Celans öffentlicher Habitus als monolingualer Dichter sowie sein stetes Bemühen, keine falschen Eindeutigkeiten zu erzeugen, haben zu Mechanismen der Selbst‐ korrektur, ja -zensur geführt, die es mit sich bringen, dass die Finalversionen der Gedichte in der Regel stärker ›eingedeutscht‹ sind und daher weniger manifest mehrsprachige Wörter enthalten als die Vorstufen. Diese Vorgehensweise entspricht einer allgemeinen Tendenz im Schreiben Celans, der Verweise auf konkrete biographisch-historische Zusammenhänge meist nur verschlüsselt in die publizierte Version übernommen hat. 182 Dennoch verschwindet selbst bei ›Verwischung‹ solcher Spuren die Multilingualität nicht einfach im Laufe der Textgenese, sondern bleibt in ihrer Latenz als virtuelle Bedeutungsebene erhalten und gerät gleichsam als »Schmuggelware« 183 in die Endfassung. Paul Celans öffentliche Selbstdarstellung als deutscher und einsprachiger Dichter erklärt des Weiteren, warum anderssprachige und stark sprachmi‐ schende Gedichte verstärkt im Nachlass auftauchen. Tatsächlich treten gerade in vielen dieser zu Lebzeiten unveröffentlichten Texte seine mehrsprachigen 76 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="77"?> 184 Siehe u. a. Marko Pajević, Zur Poetik Paul Celans: Gedicht und Mensch - die Arbeit am Sinn. Heidelberg: Winter, 2000, Chiara Caradonna, Opak. Schatten der Erkenntnis in Paul Celans ›Meridian‹ und im Gedicht ›Schwanengefahr‹. Göttingen: Wallstein, 2020, und Michael Hermann, Einspruch! Akutes Gegenwort. Studien zur späten Dichtung Paul Celans. Diss. Tübingen 2016. Schreibtechniken besonders deutlich hervor, weshalb das posthume Œuvre nicht aus dem Korpus dieser Studien ausgeschlossen werden darf. Wie die Herausgeber der Lyrik aus dem Nachlass festgestellt haben, können gerade diese Texte als »Rück- und Kehrseite des autorisierten Werkes« dabei »helfen, die Ästhetik des autorisierten Werkes schärfer zu bestimmen.« (GW VII, 334). Zu diesen mehrsprachigen Nachlassdokumenten zählen unter anderem Celans auf Rumänisch und Französisch verfasste Texte sowie seine Selbstübersetzungen, die ebenfalls berücksichtigt werden sollen. Liegt der Fokus dieser Arbeit auch auf dem autorisierten Œuvre, so ergibt sich ein schlüssiges Gesamtbild letztlich erst durch die Einbeziehung textgenetischer Abläufe und der literarischen Praxis in ihrer gesamten Breite, wozu nicht zuletzt auch die nachgelassene Prosa sowie die Briefe gehören. 1.4.4 Aufbau Zur Untersuchung dieser verschiedenen Textsorten und der in ihnen zum Einsatz kommenden Sprachen und multilingualen Gestaltungsmittel gliedert sich die vorliegende Studie in vier Hauptteile und acht Kapitel. Der nun zum Abschluss kommende erste Teil (I. Einführung) diente wie gesehen der Präsen‐ tation von Thema, Problemstellung und Methode der Studie. Nach dieser ersten Einführung soll im zweiten Teil (II. Exemplarische Gedichtinterpretation) eine exemplarische Analyse des Gedichts »Huhediblu« unter dem Gesichtspunkt der translingualen Poetik Celans vorgelegt werden (2. »Solve et coagula«: Celans »Huhediblu« als translinguales Gedicht). Die Fokussierung auf ein einzelnes, besonders relevantes und komplexes Gedicht ist eine in der Celan-Forschung mittlerweile erprobte Vorgehensweise. 184 Vor der systematischen Erarbeitung des Gesamtkorpus soll diese eingehende Betrachtung eines Einzeltextes auf konkrete und anschauliche Weise vorführen, inwiefern Celans Mehrsprachig‐ keit eine starke Triebfeder seines Schreibens darstellt. Die vier folgenden Kapitel gehören zum dritten Teil der Studie (III. Syste‐ matisch-typologischer Hauptteil), in welchem eine möglichst detaillierte und umfassende Behandlung aller Erscheinungsformen von Mehrsprachigkeit bei Paul Celan angestrebt wird. Die unten abgebildete Tabelle (Tab. 1) bietet eine synoptische Darstellung der in diesem Teil angesprochenen Aspekte, Phäno‐ 1.4 Gang der Untersuchung 77 <?page no="78"?> 185 Siehe u. a. Elke Sturm-Trigonakis, Global Playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007; Werner Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit; Natalia Blum-Barth, Poietik der Mehrsprachigkeit. 186 Dies gilt insbesondere für die Unterscheidung zwischen ›textübergreifend‹ und ›texti‐ ntern‹, bei der eigentlich genauer zwischen den verschiedenen Bezugsebenen (Autor, Werk bzw. Einzeltext) differenziert werden müsste. mene und Verfahren. Wohlbemerkt handelt es sich dabei nicht um den Versuch einer allgemeinen Typologie mehrsprachiger Schreibweisen in der Literatur, von denen mittlerweile eine ganze Reihe vorliegen, 185 sondern um ein auf Celans Poetik zugeschnittenes Instrumentarium auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes. Natürlich hat Celan all diese mehrsprachigen Mittel, die teils auf eine lange literaturgeschichtliche Tradition zurückblicken können, nicht eigens erfunden. Allerdings hat er sie auf eine für seine Generation einzigartige Weise verallgemeinert und dabei mit einer sprachkritischen Poetik der Erinnerung verbunden. Bei der im Hauptteil der Studie zur Anwendung kommenden Methode handelt es sich also genauer gesagt um einen Mittelweg zwischen korpusori‐ entierter und typologischer Betrachtungsweise. Auf diese Weise soll versucht werden, Möglichkeiten zum Vergleich mit anderen mehrsprachigen Autoren zu schaffen, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der spezifischen Merkmale von Celans Werk. Diese erstmalige Zusammenschau, die trotz ihrer angestrebten Tiefe und Breite keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, geht aus einer heute mehrheitlich anerkannten und angewandten Kategorisierung hervor. Diese unterscheidet wie bereits angekündigt zwischen drei Ebenen: 1. einer metalingualen und metapoetischen Reflexionsebene (Kap. 3. »Kleide die Worthöhlen aus«), 2. der Ebene textübergreifender Mehrsprachigkeit, d. h. dem Auftreten von Sprachdifferenzen zwischen einzelnen Texten (Kap. 4. »Brücken über Abgründe«), und 3. der Ebene textinterner Mehrsprachigkeit, also der Mischung, Durchdringung und Überlagerung der Sprachen im Innern der Texte. Aufgrund der großen Menge relevanter Beispiele wird diese dritte Untersuchungsebene in zwei getrennten und aufeinanderfolgenden Kapiteln (Kap. 5. »Mitgewanderte Sprache[n]« und Kap. 6. »Mitlaut am Genannten«) abgehandelt. Aus pragmatischen Gründen wird an dieser Stelle von einer eingehenden Diskussion der einzelnen, zumeist aus früheren Studien übernommenen Ka‐ tegorien abgesehen, insofern sie trotz einiger ›Unschärfen‹ 186 durchaus ihre Funktionstüchtigkeit bewiesen haben, wie die Mehrsprachigkeitsforschung der letzten Jahre belegt. Dabei schließt diese dreigliedrige Aufteilung natürlich keineswegs punktuelle Überschneidungen aus, denn die verschiedenen Ebenen 78 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="79"?> 187 Siehe Perels, »Erhellende Metathesen«, S.-130. treten im Korpus keineswegs überall isoliert und im ›Reinzustand‹ auf. Das immer wieder ›überbordende‹ Sprachverhalten des Dichters stellt sich einer solchen strikten Abtrennung grundsätzlich entgegen. Am Rande ergeben sich dadurch an manchen Stellen einige unvermeidbare Wiederholungen, insofern bestimmte Textstellen auf allen drei Ebenen (Sprachreflexion, Sprachwechsel und Sprachmischung) relevant sein können. Die Komplexität der behandelten Phänomene macht einen solchen Multiperspektivismus bei aller Mühe um Vermeidung von Redundanz letztlich unabdingbar. Auf der metalingualen und metapoetischen Ebene (Kap. 3) geht es zunächst darum zu erörtern, inwiefern der in diesem Buch praktizierte Ansatz aus Celans poetologischen Positionen selbst hergeleitet werden kann. Innerhalb der textübergreifenden Mehrsprachigkeit (Kap. 4) werden dann Fremd- und Eigenübersetzungen, kollaborative (Selbst-)Übersetzungen sowie die originale Textproduktion in anderen Sprachen behandelt. Im Untersuchungsrahmen der textinternen Mehrsprachigkeit (Kap. 5+6) spielt schließlich die Unterscheidung zwischen manifester, d. h. an der Textoberfläche unmittelbar sichtbarer, und impliziter bzw. latenter, d. h. erst vom Kommentator und Interpreten sichtbar zu machender Mehrsprachigkeit eine strukturierende Rolle. Die genauere Fein‐ einteilung des Analyserasters wird weiter unten in den entsprechenden Kapiteln vorgestellt. Grundsätzlich ergibt sich bei dem hier praktizierten Ansatz das Problem, dass sämtliche der zu beobachtenden Erscheinungsformen von Mehrsprachig‐ keit erst innerhalb ihres Wirkungskontextes, sprich: im einzelnen Gedicht, ihr volles Sinnpotential entfalten. Die Isolierung dieser Elemente ist zweifels‐ ohne ein notwendiger und unumgänglicher Schritt bei der Erarbeitung einer systematischen Typologie als zentrales Forschungsdesiderat. Dennoch muss grundsätzlich darauf bestanden werden, dass die mehrsprachigen Mittel nicht vom Gedichtkontext zu trennen sind und jede Stelle erst im Kontext ihres Quell‐ textes voll interpretierbar, ja beschreibbar wird. 187 Eine komplette Erschließung aller multilingualer Erscheinungsformen auf Grundlage einer konsequenten Kontextualisierung würde allerdings Dutzende von weiträumigen Textanalysen erfordern, was den Rahmen einer monographischen Behandlung definitiv sprengen würde. Die Aufgabe soll sich daher darauf beschränken, den analy‐ sierten Stellen und Passagen unter weitestmöglicher Berücksichtigung des Kontextes eine funktionale Bedeutung zu entnehmen. Dabei wird grundsätzlich weder Anspruch auf Eindeutigkeit noch auf Vollständigkeit erhoben. 1.4 Gang der Untersuchung 79 <?page no="80"?> Im letzten Teil der Studie (IV. Ausblick und Bilanz) werden zunächst anhand einzelner Beispiele aus verschiedenen Sprachräumen mehrsprachige Rezept‐ ionsprozesse der Lyrik Paul Celans vorgestellt (6. Das ›Tor‹ des Übersetzers: Einflüsse von Celans translingualer Poetik in der Gegenwartsliteratur). Diese Formen kreativer Aufnahme knüpfen an Celans translinguale Poetik an und führen diese auf unterschiedlichen Wegen weiter. Eine kurze Bilanz (7. »In naher, in nächster, in fremdester Zunge«: Bilanz und Schlussbetrachtungen) führt abschließend die Fäden des Buches nochmals zusammen, formuliert offene Forschungsfragen und zeigt - insbesondere anhand von Celans unvollendetem Projekt der »Pariser Elegie« - weiterführende Perspektiven auf. 80 1 Wortöffnungen: Thema, Problemstellung und Methodik der Studie <?page no="81"?> M E TAM U L TI ‐ LIN G UAL - T E XTÜB E R ‐ G R E I F E N D T E XTIN T E R N manifest latent Bedeutungsanalogien Formanalogien Sprach(be)nennung Übersetzungen ins Deutsche (sieben Aus‐ gangssprachen) Sprachenviel‐ falt an der Text‐ oberfläche, He‐ terolingualität Translinguale Palimpsest‐ struktur - Translinguale Homonymie, Paronomasie, Homophonie Sprachkritik, Sprachskepsis, Sprachkrise Übersetzen vom Russi‐ schen ins Ru‐ mänische Mehrschrift‐ lichkeit Translatori‐ sche Textge‐ nese, translato‐ rische ›Echokammern‹ Morpholo‐ gisch-gramma‐ tikalische Transferenzen - Sprachregres‐ sion, Glosso‐ lalie, Sprach‐ verlust Übersetzen vom Deut‐ schen ins Ru‐ mänische Heterolinguale Gedichttitel Impliziter Bilin‐ gualismus, Logik der (Rück-)Überset‐ zung Syntaktisch-pro‐ sodische und me‐ trische Transfe‐ renzen Babel-Motive Selbstüberset‐ zungen ins Französische Heterolinguale Toponyme - Sprachrück‐ gewinnung über Mehr‐ sprachigkeit Kollaborative (Selbst-)Über‐ setzung ins Ru‐ mänische Sprachmi‐ schung als Sprachkonfrontation Sprachmystik, jüdisches Sprachdenken Kollaborative (Selbst-)Über‐ setzung ins Französische Multilingua‐ lität und Inter‐ textualität, an‐ derssprachige Zitate Kabbalistische Sprachtheorie Originale Text‐ produktion auf Rumänisch Exophone Vielstelligkeit, Mehrdeutigkeit im fremden Wort Metapoetik der Sprachla‐ tenz, Anlei‐ tung zur translingu‐ alen Lektüre Originale Text‐ produktion auf Französisch Sprachspieleri‐ sche, sprach‐ schöpferische Mehrsprachig‐ keit Tab. 1: Überblick über die im dritten Teil der Studie behandelten multilingualen Aspekte, Phänomene und Verfahren im Werk Paul Celans, nach Analyseebenen gegliedert. 1.4 Gang der Untersuchung 81 <?page no="83"?> II Exemplarische Gedichtinterpretation <?page no="85"?> 188 Die hier vorgelegte translinguale und textgenetische Analyse dieses Gedichts fußt ursprünglich auf einem meiner französischsprachigen Aufsätze: »Monolinguisme - multilinguisme - translinguisme, à propos de la genèse du poème ›Huhediblu‹ de Paul Celan«. Genesis (manuscrits-recherche-invention), 46, 2018, S. 35-50. Die hier publizierte Version geht jedoch in vielen Punkten substanziell über die französische Erstfassung hinaus, weshalb es sich um eine komplette deutsche Neufassung der Gedichtanalyse handelt. 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 2.1.1 »Huhediblu« im Kontext von Die Niemandsrose Nach dieser allgemeinen Einführung in die Grundlagen der Mehrsprachigkeits‐ problematik bei Paul Celan - und vor dem Übergang zum systematisch-typo‐ logischen Hauptteil auf Basis des Gesamtwerks (Kap. 3-6) - soll nun anhand einer kompletten Gedichtanalyse auf exemplarische Weise veranschaulicht werden, wie sich die soeben skizzierte translinguale Poetik des Dichters in einem einzelnen Text realisieren kann. 188 Die Wahl fiel dabei auf das im September 1962 in der französischen Normandie entstandene und im Jahr darauf im Band Die Niemandsrose veröffentlichte Gedicht mit dem sprachschöpferischen Titel »Hu‐ hediblu« (GW I, 275 ff.). Exemplarisch ist diese Textanalyse insofern zu nennen, als sich anhand dieses einen Gedichts aus der mittleren Schaffensperiode des Lyrikers eine ganze Reihe multilingualer Phänomene in konzentrierter Form darstellen lassen, die Celans gesamtes Schreiben vom Frühbis zum Spätwerk durchziehen. Im Kontext des in dieser Studie praktizierten Analyserahmens ist bei »Hu‐ hediblu« vor allem das Ineinandergreifen textinterner (also sprachmischender) und textübergreifender (in diesem Fall: translatorischer) Mehrsprachigkeit von Interesse. Daneben ist die Verbindung von manifesten (also offen sichtbaren) mit latenten (sprich: untergründigen oder verdeckten) Erscheinungen von zentraler Bedeutung. Gegenstand der Betrachtung ist dabei sowohl die Inhaltsals auch die Formebene, zunächst auf Grundlage der Endfassung und dann unter Einbe‐ ziehung aller bekannter Vorstufen des Gedichts. Die metamultilinguale Ebene (d. h. die Selbstreflexion über Mehrsprachigkeit) ist ebenfalls in »Huhediblu« präsent, insofern sich die explizite Kritik an der ›Mördersprache‹, so wie sie im Text zutage tritt, über den Rückgriff auf andere Sprachen artikuliert. Auf <?page no="86"?> 189 Siehe Werner, Textgräber, S.-116, Fußnote 1. diese Weise versammelt das Gedicht einen beachtlichen Teil der in Celans Lyrik insgesamt zu beobachtenden Erscheinungsformen von Mehrsprachigkeit in sich. Trotz dieser impliziten Herausstellung gegenüber dem Rest des Korpus soll dem Gedicht »Huhediblu« allerdings kein absoluter Sonderstatus innerhalb von Celans Gesamtwerk zugesprochen werden, zumal sicherlich auch persön‐ liche Vorlieben des Interpreten bei der Auswahl eine Rolle gespielt haben. Ebenso wenig wird mit dieser Entscheidung suggeriert, dieses Gedicht sei der ›mehrsprachigste‹ Text des Dichters überhaupt. »Huhediblu« kommt, anders gesagt, kein Alleinstellungsmerkmal gegenüber dem Rest des untersuchten Korpus zu. Nichtsdestoweniger handelt es sich beim vorliegenden Beispiel um eines von denjenigen Gedichten Celans, in denen besonders viele Fäden der in der vorliegenden Arbeit behandelten Problematik zusammenlaufen. In diesem Sinne erlaubt es daher gerade dieser Text, auf anschauliche Weise darzustellen, wie stark Celans Dichtung von multilingualen Übertragungen, Überlagerungen und Verschränkungen geprägt ist. Das Prinzip ›Solve et coagula‹, der alchimistischen Tradition entnommen und vom Dichter zum poetologischen Prinzip erhoben, 189 soll dabei als Sinnbild für die Art und Weise dienen, wie das Gedicht Elemente aus anderen Sprachen ›löst‹ und neu miteinander ›verbindet‹. So notierte Celan im Umfeld der rund zwei Jahre vor »Huhediblu« entstandenen Meridian-Rede: »Das Fremdeste ist, als das Unbekannte, das schlechthin Freundliche; und im Gedicht wird auch das Nächste, Unmittelbare, indem es ins Fremdeste tritt, zum Allernächsten. Solve et coagula.« (TCA, M, 65) Wie man sieht, wird die alchimistische Losung hier zum Inbegriff der Begegnung des Eigenen mit dem Fremden, wobei die beiden Pole sich gegenseitig zu relativieren scheinen, um sich schließlich wie in einem Schmelztiegel miteinander zu vereinen. Angefangen mit seinem sprach‐ spielerisch-translingualen Titel stellt gerade »Huhediblu« ein Paradebeispiel für einen solchen Prozess sprachlicher Auflösung und Neukomposition dar. Dennoch lassen sich die Resultate der Textanalyse dieses einzelnen Gedichts nicht uneingeschränkt verallgemeinern und auf das Gesamtwerk übertragen. Das rührt allein schon daher, da es sich bei dem ausgewählten Beispiel eher um einen Höhepunkt in Sachen Mehrsprachigkeit als um einen für alle Werkteile repräsentativen Text handelt. Nicht von ungefähr stammt »Huhediblu« aus dem Band Die Niemandsrose, der allgemein als die am meisten durch Mehrspra‐ chigkeit gekennzeichnete Gedichtsammlung des Autors gilt. Jürgen Lehmann 86 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="87"?> 190 Jürgen Lehmann, »Die Niemandsrose«. In: May/ Goßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Handbuch, S.-80-89, hier S.-84. 191 Die Häufigkeit solcher Titelformen bei Celan könnte im Übrigen ebenfalls translingual hergeleitet werden, da dieses Formprinzip ursprünglich auf die hebräische Tora zurück‐ geht, deren verschiedene Teile bekanntlich mit ihrem Anfangswort betitelt werden. 192 Zum Begriff ›heterolingual‹, s. Kap. 5.2. 193 Derrida, Le monolinguisme de l’autre, S.-130. stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die »spezifisch lexikalische Kontur« 190 von Die Niemandsrose maßgeblich auf der Polyglossie der dort versammelten Gedichte basiert. Lehmanns Perspektive beschränkt sich dabei - wie die vieler anderer Kommentatoren - auf manifeste, unmittelbar sichtbare Phänomene in der Druckfassung des Bandes. Im Folgenden soll darüber hinaus anhand der Vorstufen beschrieben werden, wie sich die gesamte Textgenese des Gedichts »Huhediblu« - vom allerersten Entwurf an - aus einer Vielfalt an Sprachen speist, weshalb zusammenfassend von einem trans-lingualen, also gleichsam ›zwischen‹ den Sprachen entstandenen und sich bewegenden Text gesprochen werden kann. Die bemerkenswerte und häufig unterstrichene mehrsprachige Dimension der Gedichte aus Celans Die Niemandsrose hat in der Forschung dazu geführt, dass dem Band in dieser Hinsicht ein besonderer Platz im Gesamtwerk zuge‐ wiesen wird. In der Tat lassen sich in auffällig vielen Texten dieser Sammlung auf Anhieb Wörter aus dem Französischen, Englischen, Lateinischen, Jiddischen, Russischen und Hebräischen ausmachen, auf die im Laufe dieser Studie zurück‐ zukommen sein wird. Sichtbar wird diese prononcierte Polyglossie schon auf der Ebene der Gedichttitel (inkl. sogenannter Incipit-Titel, d. h. titelgebender Gedichtanfänge 191 ), von denen rund ein Viertel als heterolingual - also sprach‐ lich different oder ›fremd‹ - bezeichnet werden können. 192 Viele der Gedichte aus Die Niemandsrose greifen außerdem auf andersspra‐ chige Zitate zurück (s. »Benedicta«, GW I, 249 f., »Anabasis«, GW I, 256 f.,-»In eins«, GW I, 270), integrieren übersetzte Texte (s. »In eins«, GW I, 270, »Ein Wurfholz«, GW I, 258) oder benutzen translinguale Redefiguren (s. »Bei Wein und Verlorenheit«, GW I, 213). Damit stellt Die Niemandsrose zweifelsohne den Werkteil dar, auf den am besten die oben zitierte Aussage Derridas zutrifft, wo‐ nach Celan zwar demonstrativ die poetische Einsprachigkeit seines Schreibens betont, gleichzeitig aber die (postbabylonische) Sprachenvielfalt in den Körper seiner Gedichte einschreibt (»inscrivant Babel dans le corps même de chaque poème«). 193 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 87 <?page no="88"?> 194 Bei den russischen Namen wird der Einfachheit halber anstelle aktueller philologischer Transliterationsverfahren der Schreibweise in den Gesammelten Werken (GW) gefolgt. Insbesondere beim Namen ›Mandelstamm‹ (Mandel'štam) weicht die von Celan verwendete Graphie von der damals und heute praktizierten Norm ab. Mit dieser Schreibweise wollte der Dichter auf die gemeinsame Abstammung aus dem Judentum - als gemeinsamer ›Stamm‹ sozusagen - hinweisen, was durch das Symbol der Mandel unterstützt wird. Dieser Intention soll hier durch die Wahrung von Celans Schreibweise gefolgt werden. 195 Siehe Christine Ivanović, »Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung mit Mandel'štam«. In: Dies., Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren. Berlin-Boston: Niemeyer, 1996, S.-212-260. Neben den französischen und jüdischen Quellen prägend ist dabei der Bezug zur russischen Literatur, insbesondere zu Ossip Mandelstamm (1891-1938), 194 der als (jüdischer) »Bruder Ossip« (s. GW VII, 371) eine regelrechte Identifikationsfigur des Autors darstellt. 195 Angesichts der Anfeindungen, denen sich Celan zu dieser Zeit im deutschen Literaturbetrieb ausgesetzt sah, wurde die russische Literatur für ihn zu einer Art geistigem Exil. Die Beschäftigung mit Mandelstamms Poetik sowie die gleichzeitige Arbeit an deutschen Übertragungen seiner Gedichte (GW V, 48-161) sind in Die Niemandsrose weithin spürbar und stellen eine bedeutende Quelle der Translingualität dar. Wie insgesamt festgestellt werden kann, sind in keinem anderen Band des Dichters Schreiben und Übersetzen (bzw. deutsche Dichtung und fremdsprachige Quellen) derart intensiv miteinander verschränkt. 2.1.2 Offen sichtbare Mehrsprachigkeit im Gedicht Diese Feststellung trifft speziell auf das nun im Detail zu analysierende Gedicht »Huhediblu« zu, in dessen Entstehungsprozess das Zitieren anderssprachiger Quelle sowie der Rückgriff auf translatorische Schreibverfahren eine tragende Rolle spielen. Wie zu sehen sein wird, steht dabei der eben erwähnte Einfluss der russischen Sprache und Literatur gleichsam im Schatten der französischen Quellen, die den Text klar dominieren. Dennoch ist das für Die Niemandsrose so wichtige Russische im Gedicht durchaus auf latenter Ebene präsent, beachtet man, dass es sich bei dem Terminus »Achsenton« (V. 32 u. 36) höchstwahrscheinlich um die Transposition eines Mandelstamm-Verses aus dem 1937 entstandenen Gedicht »Вооруженный зреньем узких ос« (»Mit Sehsinn leiser Wespen reich versehen«) handelt (s.-HKA, 828). Ähnliches gilt für die jüdischen Begriffe und Symbole, die im Text ebenfalls eher im Hintergrund präsent sind, ohne jedoch bedeutungslos zu sein. Ergänzt werden diese verschiedenen Einflüsse noch durch ein deutlich erkennbares englisches Zitat von zentraler Bedeutung. In einem ersten Schritt soll sich die vorliegende Analyse auf die offen sicht‐ baren, also manifest mehrsprachigen Aspekte des Gedichts in seiner Endfassung 88 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="89"?> konzentrieren, bevor die translinguale Dimension seines Entstehungsprozesses und damit auch die latenten Formen von Multilingualität näher beleuchtet werden. Für eine erste Bestandsaufnahme der manifesten Mehrsprachigkeit im fertigen Text sei das Gedicht hier in seiner 1963 in der Gedichtsammlung Die Niemandsrose im S. Fischer-Verlag publizierten Endfassung wiedergegeben. Ei‐ nige Editoren des Celan’schen Werkes gehen davon aus, dass in der Erstauflage (wie in allen Folgeausgaben) des Bandes ein Vers des Gedichts (zwischen V. 24 und V. 25) durch einen fehlerhaften Korrekturvorgang versehentlich gelöscht wurde (siehe NKG, 827). Die kommentierte Wiedemann-Ausgabe (NKG, 160 f.) und die Bonner Ausgabe (HKA, 6.1., 77 f.) drucken daher einen um diese fehlende Zeile ergänzten Text. Die Tübinger Ausgabe hält dagegen an der Version der Erstauflage fest (s. TCA, NR, 117 f.). Dafür spricht die Tatsache, dass der Dichter - abweichend von vergleichbaren Fällen - diesen möglichen bzw. vermeidlichen Satzfehler an keiner Stelle (z. B. in seinem Handexemplar) korrigiert hat. Diese editionsphilologische Diskussion ist allerdings im Zusammenhang der nun fol‐ genden Gedichtanalysen nicht von Belang, da Inhalt und Form der betreffenden Zeile (Wortlaut: »du liest und du,«) unter multilingualen Gesichtspunkten nicht ins Gewicht fallen. Aus Gründen der Einfachheit soll daher - wie generell in der vorliegenden Studie - der Ausgabe Gesammelte Werke (GW) der Vorrang gegeben werden, welche der Erstausgabe von 1963 folgt: - HUHEDIBLU - - - Schwer-, Schwer-, Schwer- - fälliges auf - Wortwegen und -schneisen. - - - Und - ja - 5 die Bälge der Feme-Poeten - lurchen und vespern und wispern und vipern, - episteln. - Geunktes, aus - Hand- und Fingergekröse, darüber 10 schriftfern eines - Propheten Name spurt, als - An- und Bei- und Afterschrift, unterm - Datum des Nimmermenschtags im September -: - - - Wann, 15 wann blühen, wann, 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 89 <?page no="90"?> wann blühen die, hühendiblüh, - huhediblu, ja sie, die September - rosen? - - - Hüh - on tue-… Ja, wann? - - 20 Wann, wannwann, - Wahnwann, ja Wahn, - - Bruder - Geblendet, Bruder - Erloschen, du liest, 25 dies hier, dies: - Dis- - parates -: Wann - blüht es, das Wann, - das Woher, das Wohin und was 30 und wer - sich aus- und an- und dahin- und zu sich lebt, den - Achsenton, Tellus, in seinem - vor Hell- - hörigkeit schwirrenden 35 Seelenohr, den - Achsenton tief - im Innern unsrer - sternrunden Wohnstatt Zerknirschung? Denn - sie bewegt sich, dennoch, im Herzsinn. - - 40 Den Ton, oh, - den Oh-Ton, ah, - das A und das O, - das Oh-diese-Galgen-schon-wieder, das Ah-es-gedeiht, - - - auf den alten 45 Alraunenfluren gedeiht es, - als schmucklos-schmückendes Beikraut, - als Beikraut, als Beiwort, als Beilwort, - ad- - jektivisch, so gehn 50 sie dem Menschen zuleibe, Schatten, 90 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="91"?> 196 Der Begriff ›Heterolingualität‹ wird in den folgenden Kapiteln noch eingehender diskutiert (s.-5.2.1). 197 Paul Verlaine, Œuvres poétiques complètes. Hrsg. v. Yves-Gérard Le Dantec und Jacques Borel. Paris: Gallimard, 1938, S.-274. vernimmt man, war - alles Dagegen - - Feiertagsnachtisch, nicht mehr, -: - - - Frugal, 55 kontemporan und gesetzlich - geht Schinderhannes zu Werk, - sozial und alibi-elbisch, und - das Julchen, das Julchen: - daseinsfeist rülpst, 60 rülpst es das Fallbeil los, - call it (hott! ) - love. - - - Oh quand refleuriont, oh roses, vos septembres? (GW-I, 275 ff.) Wie schon eine erste Lektüre erkennen lässt, zeichnet sich die Endfassung von »Huhediblu« durch einen hohen Grad an Heterolingualität aus. 196 Der aufmerksame, sprachsensible oder polyglotte Leser konstatiert sofort eine starke Präsenz von Sprachmaterial, das nicht aus dem Deutschen zu stammen scheint bzw. nicht-standardsprachlichen Formen des Deutschen entspricht. So enthält der Text eine ganze Reihe von Wörtern, Ausdrücken und Segmenten aus dem Französischen, Englischen und Lateinischen (inklusive eurolateinischer Lehnwörter), verschiedene Varietäten des Deutschen sowie einen wortspieler‐ ischen Titel (nebst seiner im Gedichttext folgenden Variationen), der sprachlich zunächst nicht klar zuzuordnen ist. Auf den ersten Blick fallen hauptsächlich zwei französische Passagen ins Auge, die auf den Ausgangspunkt der noch näher zu beleuchtenden Entstehungsgeschichte des Textes verweisen. Diese beiden zentralen französischen Textstellen sollen zunächst näher präsentiert werden. Erstens enthält die letzte Zeile von Celans Gedicht (V. 62) einen französischen Vers aus Paul Verlaines (1844-1896) Poem »L’espoir luit«, erschienen 1880 in dem Gedichtband Sagesse. 197 Dieser Text, in dem sich der französische Dichter gemäß der autobiographischen Lesart nach seiner im September 1871 kennengelernten großen Liebe Arthur Rimbaud (1854-1891) zurücksehnt (auf den er bekanntermaßen mit dem Revolver geschossen hatte), wurde von Celan während seiner Czernowitzer Jugendzeit übersetzt. Allerdings wurde diese 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 91 <?page no="92"?> 198 Siehe Barbara Wiedemann, »Im alten Garten - Septemberrosen. Noch einmal zu Paul Celan und Paul Verlaine«. Celan Jahrbuch, 5, 1993, S. 279-292. Dort ist auch die vollständige Übersetzung des Verlaine-Gedichts abgedruckt. 199 Siehe Werner Hamacher, »Die Sekunde der Inversion: Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte«. In: Hamacher/ Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, S.-81-126. 200 Evtouchenko [ Jewtuschenko], »Verlaine«. Übersetzt v. Tania Soucault. Esprit, nouvelle série, Dezember 1961, S.-901-902. frühe Übersetzung nicht zu Lebzeiten veröffentlicht. 198 In der Endfassung von »Huhediblu« wird der sehnsuchtsvolle Schlussvers dieses Verlaine-Gedichts (»Ah! quand refleuriront les roses de septembre«) im französischen Originalton übernommen, jedoch mittels einer signifikanten Vertauschung der beiden fran‐ zösischen Hauptwörter ›rose‹ und ›septembre‹. Neben dieser für Celans Dich‐ tung grundlegenden Figur der Inversion 199 wird das »Ah! « des Verlaine-Verses durch ein »Oh« sowie das Ausrufezeichen am Ende durch ein Fragezeichen ersetzt. In dieser signifikant verwandelten Gestalt (»Oh quand refleuriont, oh roses, vos septembres? «, V. 63) schließt das Zitat das deutsche Gedicht gleich einem Schlusswort ab. Wie die textgenetische Betrachtung weiter unten zeigen wird, liegt der französische Verlaine-Vers mit seinen verschiedenen originalsprachigen und übersetzten Variationen dem gesamten Entstehungsprozess des Gedichts »Hu‐ hediblu« zugrunde. Die starke, fast respektlos wirkende Umgestaltung dieses Zitats, wie sie in der Endfassung des Textes sichtbar wird, ist neben textinternen und poetischen Kriterien, auf die zurückzukommen sein wird, sicherlich auch der biographisch-historischen Kluft der NS-Zeit geschuldet, die Celan als Juden, Dichter und Übersetzer von seiner (relativ unbeschwerten) Jugend trennte, als er das Verlaine-Gedicht zuerst übersetzt hatte. Das zweite, nicht weniger zentrale französischsprachige Segment im Text besteht aus dem Wortspiel »Hüh - on tue« (V. 19). Über das französische Verb ›tuer‹ (töten) bringt diese kurze Passage zwei weitere zentrale Quellen von »Huhediblu« zum Vorschein. Zum einen verweist das Verb ›töten‹ wortwörtlich auf einen Vers aus Jewgeni Jewtuschenkos (1932-2017) Gedicht »Верлен« (»Verlaine«), das Celan auf Grundlage einer wenige Monate zuvor publizierten französischen Übertragung zitiert. 200 Mit Jewtuschenko verband den deutsch-jü‐ dischen Dichter unter anderem die Übersetzung seines Gedichts über den Massenmord in der Schlucht von Babi Jar (GW IV, 280-281), dem 1941 rund 100 000 Juden zum Opfer fielen. Wie Briefe belegen, schrieb Celan den Spruch »On tue les poètes / Afin de les citer plus tard« fälschlicherweise direkt Verlaine zu (s. NKG, 827 f.), was erklärt, warum er den russischen Wortlaut der Quelle unberücksichtigt ließ. Nur das französische Adjektiv ›russe‹, das in der ersten 92 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="93"?> 201 Guillaume Apollinaire, Œuvres poétiques complètes. Hrsg. v. Marcel Adéma und Michel Décaudin. Paris: 1956, S.-117-118. 202 Hans Magnus Enzensberger, »call it love«. In: Ders., verteidigung der wölfe. Frank‐ furt-a.-M.: Suhrkamp, 1957, S.-21. Handschrift auftaucht, deutet im vorliegenden Material auf diesen Ursprung hin (HKA, 6.2, 249). Zum anderen unterhält das Motiv des Tötens in »Hüh - on tue« eine enge Verbindung zum Gedicht »Schinderhannes« aus Guillaume Apollinaires (1880- 1918) berühmter Sammlung Alcools (1913). Die Titelfigur dieses französischen Gedichts wird dabei namentlich in Celans Text genannt (V. 55). Ferner über‐ nimmt der Autor Bestandteile der letzten Strophe aus Apollinaires Gedicht, in dem das antisemitische Morden nach ›deutscher Art‹ verbalisiert wird, wobei das mit ›tuer‹ verwandte Verb ›assassiner‹ (morden) zum Einsatz kommt: »On mange alors toute la bande / Pète et rit pendant le dîner / Puis s’attendrit à allemande / Avant d’aller assassiner«. 201 In Celans 1954 erschienener Übertra‐ gung lautet diese Stelle wie folgt: »So hält man Tafel rund im Kreise / und f…t und lacht beim Abendschmaus, / und wird ganz schwach, nach deutscher Weise, / und geht und bläst ein Leben aus« (GW-IV, 789). Die für Celans Dichtung und speziell für dieses Gedicht bezeichnende Nähe von Übersetzen und Schreiben wird also bereits anhand der publizierten Endfas‐ sung des Textes deutlich. Zusammen mit dem Verlaine’schen Motiv des Blühens (der Rosen), das den gesamten Text durchzieht, wird das Schinderhannes-Thema des (antisemitischen) Mordens nebst der Thematik des bedrohten Dichters in ein vielschichtiges multilinguales Gewebe eingebettet, das sich aus den Wörtern ›fleurir‹ resp. ›blühen‹ und ›tuer‹ resp. ›töten‹ sowie einer Reihe mehrsprachig-hybrider Varianten und Komposita zusammensetzt. Ein kom‐ plexes, mehrsprachiges Kompositum wie »hühendiblüh« (V. 16) lässt dabei das leitende Prinzip ›Solve et coagula‹ sinnfällig werden, insofern die erwähnten französischen Zitate gleichsam ›aufgelöst‹ und neu ›zusammengesetzt‹ werden, wie noch näher zu beleuchtet sein wird. Diese manifest mehrsprachige Dimension von »Huhediblu« wird durch ein drittes anderssprachiges Zitat - diesmal in englischer Sprache - verstärkt, das ebenfalls von Celan bearbeitet und abgewandelt wurde. Dabei handelt es sich um den Titel eines zeitgenössischen Liebesgedichts von Hans Magnus Enzensberger (1929-2022) »call it love«, 202 aus dessen viel beachteten Debütband verteidigung der wölfe (1957). Diese dritte Quelle verweist demnach auf einen bereits in sich mehrsprachigen Text, zumindest was den Titel betrifft. In »Huhediblu« taucht der englische Gedichttitel in der abgewandelten Form »call it (hott! ) / love« (V. 60-61) auf. Celan ergänzt hier das Enzensberger-Zitat verfremdend durch 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 93 <?page no="94"?> 203 Diese Bedeutung ist allerdings nicht die aktuell wichtigste dieses Wortes, welches heutezutage vor allem zur Bezeichung des Sacks des Weihnachtsmanns benutzt wird. 204 Siehe hierzu auch die Verse »floß deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen« im Gedicht »La Contrescarpe« (GW I, 282, V. 32-33), das sich im Band Die Niemandsrose in unmittelbarer Nähe zu »Huhediblu« befindet, sowie die zentrale Rolle der Rauch-Semantik in Celans lyrischem Werk insgesamt. 205 Apollinaire, Œuvres poétiques complètes, S.-118. ein in Klammern gesetztes, polysemes Wortelement (»hott! «), das eine Relation zwischen dem englischen ›hot [love]‹, dem deutschen ›[hüh] hott‹, sowie dem französischen ›hotte‹ (in der Bedeutung von ›Rauchfang‹ oder ›Abzugs‐ haube‹ 203 ) herstellt. Durch die Homonymkette ›hot-hott-hotte‹, die gleichsam von sinnlicher Frivolität zum Rauch der Verbrennungsöfen führt, wird auf die nationalsozialistischen Vernichtungslager sowie die Geschichte antisemitischer Morde verwiesen. 204 Kontextuell verstärkt wird dieser Effekt vom Intertext des Apollinaire’schen Poems, in dem die historische Figur des Schinderhannes ankündigt: »Il faut ce soir que j’assassine / Ce riche juif au bord du Rhin« 205 (»Denn heut, wenns dunkel wird am Rheine, / bring ich den reichen Juden um.«, GW-IV, 789, V.-25-26). Auf Grundlage dieses allerersten Überblicks wird bereits deutlich, dass sich die Mehrsprachigkeit von »Huhediblu« aus einer komplexen Form von (heterolingualer) Intertextualität speist. Zu den zur Verwendung kommenden Quellen gehören dabei Auszüge aus Gedichten, die Celan in einer früheren Schaffensperiode übersetzt hatte, sowie eine Reihe weiterer anderssprachiger Zitate. Diese französischen und englischen Passagen, die sich deutlich von der deutschen Hauptsprache abheben, werden zudem von Wörtern ergänzt, die zwar nicht im eigentlichen Sinne fremdsprachig sind, aber den Gesamteindruck sprachlicher Hybridität verstärken. Dazu gehören Wörter mit lateinischen Wurzeln (»episteln«, V. 7, »After-», V. 12, »Dis-/ parates«, V. 26-27, »Tellus«, V. 32, »frugal«, V. 54, »kontemporan«, V. 55), diastratische und diaphasische Varietäten (»rülpst«, V. 59-60 und »sozial«, V. 57) sowie eine Reihe von Ono‐ matopoetika, darunter die Interjektion »hüh« (V. 19), die mehreren lexikalischen Neuschöpfungen im Text (V. 16-17) zugrunde liegt. Dazu zählt natürlich nicht zuletzt der Titel »Huhediblu«, der eine Art hybrides Hapax darstellt, entstanden gleichsam in einem sprachlichen Schmelztiegel, in dem Lexeme, Bedeutungen und etymologische Spuren aus verschiedenen Sprachen miteinander verbunden werden. 94 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="95"?> 206 Der bis dato umfangreichste Kommentar zum Gedicht stammt von Ulrich Konietzny, »Huhediblu«. In: Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Heidelberg: Winter, Vierte Auflage, 2003, S. 295-319. Zur Aktualisierung kann ergän‐ zend der Kommentar von Barbara Wiedemann (NKG, 826-829) herangezogen werden. 207 Celan, Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Nachwort von Beda Allemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968. 208 Siehe u. a. Bayerdörfer, »Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945« und Perels, »Erhellende Metathesen«. 2.1.3 Kurzinterpretation Das am 13. September 1962 an einem einzigen Tag im Ferienhaus des Ehe‐ paars Celan in der Normandie entstandene Gedicht »Huhediblu« zeugt von einer außergewöhnlichen Sprachkraft und einem beeindruckenden verbalen Erfindungsreichtum. Die deutsche Muttersprache des Dichters wird dabei ganz gezielt dem Einfluss ›fremder‹ Idiome ausgesetzt. Im Zuge dieser multilingualen Hybridisierung kommen zahlreiche Verfahren - von der Metathese über Homo‐ nymie und Paronomasie bis zur Lautmalerei - zum Einsatz. Diese Formen sollen im Kontext der vorliegenden Untersuchung zuvorderst unter multilingualen Gesichtspunkten betrachtet werden. 206 Damit die Rolle der Multilingualität im vorliegenden Gedicht nachvollzogen und begriffen werden kann, scheint es allerdings unerlässlich, dem Leser zunächst einige Verständnishilfen an die Hand zu geben. Bevor die Analyse der verschiedenen Erscheinungsformen von Mehrsprachigkeit in »Huhediblu« auf textgenetischer Ebene vertieft wird, soll daher im Folgenden versucht werden, eine knappe Gesamtdarstellung in Form einer Kurzinterpretation vorzulegen. Mit seinen 62 Versen (bzw. 63, s. NKG, 160 f. u. HKA, 6.1., 77 f.) stellt »Huhe‐ diblu« eines der längsten je von Celan verfassten Gedichte dar. Doch gehört es keineswegs zu den berühmtesten Texten des Dichters. Das liegt vielleicht zual‐ lererst daran, dass dieser es nicht in die 1968 erschienene Auswahlausgabe seiner Gedichte aufgenommen hat. 207 »Huhediblu« gehörte also wohl nicht zu Celans eigenem ›Best-Of‹. Ebenso wenig zählt es zu den am häufigsten kommentierten und interpretierten Texten des Gesamtwerks. Vielmehr scheint das Gedicht hauptsächlich diejenigen Leser, Kritiker und Literaturwissenschaftler zu inter‐ essieren, die sich mit formalen und insbesondere multilingualen Verfahren bei Celan befassen. 208 Hinzu kommt der Faktor, dass die sprachspielerischen, laut‐ malerischen, ja ›Nonsense‹-Aspekte des Textes bestimmten Repräsentationen von Celan als ›todernstem‹ Dichter der »Todesfuge« widersprechen, was zu der Annahme verleiten kann, der Text sei im Werkzusammenhang als marginal einzustufen. 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 95 <?page no="96"?> 209 Konietzny, »Huhediblu«, S.-301-302. Siehe auch NKG, 828. 210 Markus May benutzt in diesem Zusammenhang im Anschluss an Jürgen Lehmann den Begriff der Karnevalisierung. Siehe Markus May, »Politik der Paronomasie. Kritische Potenziale sprachspielerischer Dichtung von Celan bis Jandl«. Jahrbuch für Internatio‐ nale Germanistik, 43: 2, 2012, S.-9-35, hier S.-24. Nichtsdestoweniger darf »Huhediblu« als einer der zentralen Texte aus Die Niemandsrose bezeichnet werden. Dafür spricht insbesondere die Tatsache, dass dieses Gedicht viele repräsentative Themen der Sammlung in sich vereint, darunter Judentum, Antisemitismus, Plagiatsaffäre sowie Sprachreflexion. Mit der ›Rose‹ enthält es außerdem das Hauptmotiv des Gedichtbandes nebst einem Verweis auf dessen Widmungsträger (s. GW I, 207), den russischen Poet Ossip Mandelstamm, der bereits in der ersten Niederschrift des Textes auftaucht (HKA, 6.2, 249). Bis in die Endfassung hinein bleibt Mandelstamm als »Bruder« (V. 23) im Gedicht präsent, nicht zu vergessen das Wort »Achsenton« (V. 32 u. 36), das, wie oben erwähnt, translatorisch auf eines der Gedichte des Russen verweist. 209 An dieser Stelle sei am Rande auf eine interessante, wenn auch womöglich zu‐ fällige Verbindung zwischen zwei der oben erwähnten Hypotexte des Gedichts hingewiesen, und zwar Mandelstamms »Вооруженный зреньем узких ос« (»Mit Sehsinn leiser Wespen reich versehen«) und Verlaines »L’espoir luit«. Beide in »Huhediblu« zitierten Gedichte verwenden nämlich das Motiv der Wespe, was angesichts der im Vergleich zur Biene literaturgeschichtlich viel selteneren Erwähnung dieses Insekts in der Dichtung einigermaßen erstaunlich wirkt. Dabei scheint die ›stechende‹ Aggressivität der Wespe durchaus auf eine Eigenschaft der Sprache von »Huhediblu« zu verweisen, was eine zusätzliche intertextuelle (und interlinguale) Wechselbeziehung zwischen dem Gedicht und seinen Quellen eröffnet. Auffällig an »Huhediblu« ist in der Tat vor allen Dingen sein aggressiver Sprachduktus, in dem sich eine ausgeprägte verbale Heftigkeit und verzwei‐ felt-beißende Schärfe der Verse mit einer gewissen sprachlichen ›Verspieltheit‹ verbindet. Dieses Merkmal tritt bereits im Titel hervor und durchzieht dann den gesamten Gedichttext in Form von teils ironisch, teils sarkastischen Wort‐ spielen. Die Art und Weise, wie in dem Gedicht ernste und tragische Themen wie Verleumdung, Verfolgung und Mord mit an Konkrete Poesie und Lettrismus erinnernden Sprachspielen und Lautmalereien zum Ausdruck gebracht werden, ist wahrscheinlich - neben seiner ausgeprägten Mehrsprachigkeit - das heraus‐ ragende Charakteristikum von »Huhediblu« im Kontext des Gedichtbandes, ja des Gesamtwerkes. Dieser wild-vitale, anarchistische und offensive Sprachgestus, 210 der bis zu zynisch-satirischen Tönen, ja vulgärsprachlichen Elementen geht, bildet als 96 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="97"?> 211 Siehe Paul Celan - Die Goll-Affäre. 212 Britta Eisenreich, Paul Celans Kreidestern. Ein Bericht. Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 127. gleichsam »unzüchtige Rede« (GW 220, V. 9) einen Gegenpol zur existenziellen Niedergeschlagenheit, aus dem sich das Schreiben zunächst herauszuentwi‐ ckeln scheint. So hebt das Gedicht bezeichnenderweise mit dem Polyptoton »Schwer-, Schwer-, Schwer-/ fälliges auf / Wortwegen und -schneisen.« (V. 1- 3) an. Insofern handelt es sich um einen Text, der von Anbeginn eine tiefe Verunsicherung gegenüber der schwierigen Aufgabe des Gedichteschreibens artikuliert. Wie Celan an anderer Stelle auf Französisch festgehalten hat, war das Verfassen von Gedichten für ihn durchaus eine »chose ardue« (Mikrolithen, 222), also eine »schwere Aufgabe«, was das vorliegende Gedicht poetisch zu veranschaulichen scheint. Auf biographischer Ebene kann »Huhediblu« in der Tat als Verarbeitung einer schweren persönlichen Krise gelesen werden, für die es zahlreiche Belege gibt, wie nun kurz dargestellt werden soll. Nach der Verleihung des Büchner-Preises, dem bis heute wichtigsten Literaturpreis für deutschsprachige Autoren, im Herbst 1960 führten die wiederholten Plagiatsvorwürfe Claire Golls, die seit Längerem von der Presse mit zum Teil eindeutig antisemitischen Untertönen kolportiert wurden, beim Autor zu extremer psychischer Anspan‐ nung. 211 Konsequenterweise hat Celan so auch den gesamten Gedichtband Die Niemandsrose als Dokument einer Krise charakterisiert. 212 In »Huhediblu« lässt die zweite Versgruppe des Gedichts den Kontext dieser boshaften und diffamierenden Angriffe deutlich erkennen - unter anderem in Form der pejorativen Ausdrücke »lurchen« (V. 6), »vipern« (V. 6) und »Afterschrift« (V. 12). Paul Celan fühlte sich trotz seiner öffentlichen Anerkennung als einer der bedeutendsten Dichter seiner Generation herabgesetzt, ausgegrenzt, ja verfemt und verfolgt. Ab 1962 verschlechterte sich sein seelischer Zustand zunehmend, sodass er sich bald in stationäre psychiatrische Behandlung begeben musste. Innerhalb des Gedichts wird seine sich rapide verschlechternde psychische Verfassung - wortspielerisch - in Gestalt der Variationen über das ›Wann‹ und den ›Wahn‹ (s. »Wahnwann«, V.-21) reflektiert. Das Gedicht »Huhediblu« wurde also unter der akuten Erfahrung der Goll-Affäre geschrieben und lässt - vor dem Hintergrund eines wiedererwach‐ enden (Neo-)Nazismus in der damaligen Bundesrepublik - eine hochgradig kon‐ fliktreiche Beziehung zum deutschen Literaturbetrieb erkennen. Letztere kris‐ tallisiert sich im Text unter anderem im Begriff der ›vipernden‹ »Feme-Poeten« (V. 5) heraus, deren implizite Gegenfigur der ›poète maudit‹ darstellt. Mit dieser Figur hat sich Celan wiederholt identifiziert, wie er es zeitnah seiner 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 97 <?page no="98"?> Frau gegenüber zum Ausdruck bringt: »Vous êtes, vous le savez bien, la femme d’un poète maudit: doublement, triplement ›juif‹«, wie er in einem Brief an sie schreibt (PC-GCL, I, 157). Eine solche Verbindung von Jüdischkeit und Verfemtwerden ist natürlich alles andere als nebensächlich. Bei dieser Selbstcharakterisierung als ›poète maudit‹ spielt neben dem für diesen Topos emblematische Autor Verlaine auch der in einem Arbeitslager umgekommene jüdische Dichter Mandelstamm eine zentrale Rolle. Ergänzt werden diese beiden Projektions- und Identifikationsfiguren durch den Prager deutschen (und wohlbemerkt ebenfalls jüdischen) Schriftsteller Franz Kafka, der in den ersten Gedichtentwürfen über das Notat »Strafkolonien und Landärzte« (HKA, 6.2, 250-257, TCA, NR, 118-119) präsent ist. Bemerkens‐ wert ist hierbei, dass die Wahl dieser zwei berühmten Kafka-Erzählungen (In der Strafkolonie und Ein Landarzt) auf das ihnen gemeinsame Tötungsthema verweist, das wie gesehen auch in Celans Gedicht zentral ist. Letztere Kafka-Er‐ zählung enthält zudem die Figur der Magd Rosa, deren Name bekannterweise der lateinischen Form der ›Rose‹ entspricht. Kafka wird demzufolge als weiterer, wenn auch nicht unmittelbar sichtbarer Hypotext dieses Gedichts aus Celans Band Die Niemandsrose sichtbar. Eine der zentralen Aussagen von »Huhediblu« - insofern sich das Gedicht auf eine solche Aussage festlegen lässt -, die übrigens ganz ähnlich im zeitnah entstandenen Gedicht »Hinausgekrönt« (GW I, 271) zu erkennen ist, lautet somit, dass Celans Leistungen als Dichter nur gelobt werden, um ihn danach umso besser verleumden, anzugreifen, ja vernichten zu können. Wenige Wochen vor der Entstehung von »Huhediblu« brachte der Autor diese Position in einem Brief an Erich Einhorn auf den Punkt: »Die Literaturpreise, die mir verliehen wurden […] sind letzten Endes nur das Alibi derer, die […] mit anderen, zeitge‐ mäßen, Mitteln fortsetzen, was sie unter Hitler begonnen bzw. weitergeführt haben«, schreibt er dort (NKG, 828). Wie man sieht, liegen die Parallelen zum Gedicht auf der Hand (s. u. a. »[A]libi«, V. 55, und »kontemporan [zeitgemäß]«, V. 57). Das Verb ›vespern‹ im Gedicht (V. 6) kann in diesem Zusammenhang als eine Anspielung auf den Nazidichter Willi Vesper gelesen werden (s. NKG, 826). Wie so oft bei Celan verblüfft hier die starke interne Sinnkohärenz des Gedichtes mit seinen zahlreichen, vielschichtigen und verschiedenartigen, indes perfekt ineinandergreifenden Verweisen. Das Thema ›Sprache‹ tritt im Laufe des Gedichts immer stärker als dessen Mittelpunkt hervor. Das Sprachproblem verweist dabei nicht nur auf die oft von Celan thematisierte Bürde des Dichterberufs, speziell auf die Schwierigkeiten für den Holocaust-Überlebenden, weiter Gedichte auf Deutsch zu schreiben, sondern klagt auch eine bestimmte Form von (deutscher) Sprache an, sich mit 98 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="99"?> 213 Konietzny, »Huhediblu«, S.-296. 214 Bayerdörfer, »Poetischer Sarkasmus«, S.-44-45. den Mördern zu verbünden und somit zu einem Instrument des Tötens zu werden. 213 Diese metasprachliche Ebene im Gedicht ist eng mit dessen charak‐ teristischen Sprachduktus verbunden, der wie gesagt zu verbaler Heftigkeit und verzweifelt-beißender Schärfe tendiert. Wie Hans-Peter Bayerdörfer anhand verschiedener Texte Celans festgestellt hat, zu denen auch »Huhediblu« zählt: »Wann immer von dem unheilvollen, latent verbrecherischen Wort und Gedicht die Rede ist, verfällt der Dichter in die Diktion der Verbitterung, vornehmlich in der Form des Zynismus und des Sarkasmus.« 214 In »Huhediblu« verstärkt sich dieser Gestus zuweilen bis hin zu vulgärsprachlichen Elementen, wie es am Ende des Gedichts (s. V.-59-60) zu beobachten ist. Die in Paul Celans Œuvre häufig auftauchende Vorstellung von der deutschen Sprache als Mördersprache verdichtet sich im vorliegenden Gedicht primär in dem Neologismus »Beilwort« (V. 47), welches im Text ikonisch durch die Wortbrechung »ad-/ jektivisch« (V. 48-49) gespiegelt wird. Der trennende Bindestrich mit darauffolgendem Zeilensprung versinnbildlich an dieser Stelle gleichsam das virulente »Beilwort«. In Vers 19 taucht das Bild der todbringenden Sprache erneut auf, in Form der bereits erwähnten deutsch-französischen Sprachmischung mit interlingualem Binnenreim: »Hüh - on tue …«. Im Grunde ist diese sprachlich-klangliche Verbindung von ›Sprache‹ und ›Töten‹ aber von Anfang an im Gedicht präsent. Wie noch im Einzelnen zu erörtern sein wird, vereint nämlich der hybridsprachliche Titel »Huhediblu« in sich die Lexeme ›blühen‹ (als Allegorie der Poesie), ›hüh‹ resp. ›huer‹ (für ›ausbuhen‹) und ›tuer‹ (also ›töten‹). Im Laufe des Gedichts wird das Akute der Bedrohung (»on tue«, V. 19), mit der sich der jüdische Dichter konfrontiert sah, dem Leser durch Bilder wie ›Galgen‹ (V. 43) oder ›(Fall-)Beil‹ (V. 47, V. 60) drastisch vor Augen geführt. Diese existen‐ zielle Dringlichkeit wird vor allem durch die quälende Frage nach dem ›Wann‹ unterstrichen, die auf die potentielle Rückkehr der Mörder vor dem Hintergrund der Geschichte von Antisemitismus und Judenverfolgung verweist. So kann das insistierende Wiederholen von ›Wann‹ durchaus als Anspielung auf die fatale Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 interpretiert werden, diesem für Celans Schreiben zentralem Datum, an dem die sogenannte ›Endlösung der Judenfrage‹ von den deutschen Machthabern beschlossen wurde. Der Ausdruck »Nimmermenschtag im September« (V. 13) scheint seinerseits auf die Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935 zu verweisen. Allgemein kann in diesem Zusammenhang angemerkt werden, 2.1 Analyse auf Grundlage der Druckfassung 99 <?page no="100"?> 215 Lehmann, »Vorwort«. In: Ders. (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«, Heidelberg, Winter, 2005, S.-15-65, hier S.-55. dass der September in Celans gesamtem Œuvre eher als ›unheilvoller‹ Monat erscheint. Insofern lässt sich die auf Verlaine zurückgehende französische Frage am Ende des Gedichts (»Oh quand refleuriront, oh roses, vos septembres? «, V. 63) als Ausdruck existenzieller Zukunftsängste interpretieren, die in Gestalt der Vision eines ›wiederaufblühenden‹ Nazismus auftreten. Verweist der Monat September bei Verlaine auf die Begegnung mit dem Freund Rimbaud und die daraus erwachsene Passion, so verwandelt sich dieses Datum bei Celan in eine äußerst unheilvolle Chiffre. Erinnert man sich jedoch daran, dass die besagte Dichter-Passion mit einem Tötungsversuch endete, ist dieser Subtext eigentlich schon in der französischen Quelle vorhanden. Der Monat September, der das Gedicht bezeichnenderweise beschließt, er‐ scheint somit als hochgradig überdeterminiert. In der französischen Frage »Oh quand refleuriront, oh roses, vos septembres? « verbindet sich der September 1962, in dem Celan unter dem Eindruck der Plagiatsaffäre und der Konflikte mit dem deutschen Literaturbetrieb das Gedicht schrieb, mit dem Verweis auf die Nürnberger Rassegesetzen vom September 1935, einem zentralen historischen Datum auf dem Weg zur Vernichtung der deutschen Juden, sowie der Imagina‐ tion zukünftiger Septembermonate, denen die Gefahr eines Wiedererstarkens nationalsozialistischer Tendenzen innezuwohnen scheint. Diese Mehrfachco‐ dierung des Septembers verdeutlicht beispielhaft den Nexus von Plagiatsaffäre, Verleumdung, Antisemitismus und Massenmord, so wie er das gesamte Gedicht durchzieht. Die Tatsache, dass sich dieser Nexus insbesondere in der französischen Schlusszeile des Gedichts herauskristallisiert, ist dabei nicht unbedeutend. Denn die fatale Bedeutung des September wird formal durch die homophone Wech‐ selbeziehung zwischen frz. ›quand‹ (wann) und frz. ›camp‹ (Lager oder auch KZ) verstärkt. In Anbetracht der zentralen Bedeutung von Homonymie in der Dichtung des französischen Staatsbürgers Celan (s. Kap. 6.6) kann hier durchaus von einem ›Mitklingen‹ der Konzentrationslager hinter dem Fragepronomen ausgegangen werden. Überhaupt wird im Laufe der vorliegenden Studien immer wieder auf die zentrale Bedeutung des Klangs bei Celans Engführung verschiedener Sprachen zurückzukommen sein. 215 Im konkreten Fall müsste somit aus der quälenden Frage nach dem ›Wann‹ immer auch die Erinnerung an den ›Wahn‹ der Judenvernichtung herausgehört werden. Ohne diese Interpretation an dieser Stelle weiter auszuführen, dürfte deutlich geworden sein, dass Celans Poetik der Mehrfachcodierung auf das Engste mit 100 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="101"?> 216 Wolf, »Wovon wir reden, wenn wir von mehrsprachiger Lyrik reden«, S.-131. mehrsprachigen Verfahren verbunden ist, was nun im Folgenden anhand einer textgenetischen Analyse von »Huhediblu« vertieft werden soll. 2.2 Textgenetische Vertiefung 2.2.1 Mehrsprachigkeit in den Vorstufen Wie aus dieser (Kurz-)Interpretation hervorgegangen ist, handelt es sich bei »Huhediblu« um ein Gedicht von enormer Komplexität, das im Kontext dieser Studie kaum erschöpfend beschrieben, kommentiert oder interpretiert werden kann. Wie angekündigt besteht das Ziel der hier vorgelegten Analysen vor‐ nehmlich darin, die translinguale Komposition dieses Textes herauszuarbeiten und die dabei zum Einsatz kommenden formalen Mittel zu beschreiben. Zu diesem Zweck soll nun in einem zweiten Schritt die textgenetische Perspek‐ tive hinzugezogen werden. Durch die Betrachtung der Vorstufen soll gezeigt werden, inwiefern sich das Gedicht seine »Wortwege und -schneisen« (V. 3) gleichsam zwischen den Sprachen bahnt. Auf diese Weise wird eine Logik des »Durch-Sprachen-Schreiben[s]« 216 sichtbar, welche den eigentlichen ›Motor‹ des Schreibaktes darstellt und deren maximale Verdichtung, wie man sehen wird, im Titel des Gedichts vorliegt. Bereits anhand der Druckfassung von »Huhediblu« wurde deutlich, dass die ein Jahr zuvor in der Antwort auf die Flinker-Umfrage erfolgte Stellung‐ nahme des Dichters gegen »Zweisprachigkeit« (GW III, 175) keinesfalls einen Verzicht auf mehrsprachige Schreibverfahren nach sich zog. Die fundamentale Mehrsprachigkeit des vorliegenden Gedichts wird noch um einiges deutlicher, betrachtet man seine Vorstufen. Wie die Textzeugen belegen, speist sich die Gedichtentstehung aus Zitaten der bereits erwähnten französischen Gedichte von Verlaine (»L’espoir luit«) und Apollinaire (»Schinderhannes«), ergänzt durch den englischen Gedichttitel von Enzensberger (»call it love«) sowie das - im Original russische - Zitat von Jewtuschenko (»On tue les poètes …«). Es handelt sich dabei um anderssprachige Quellen, die gleichsam die Matrix der Textgenese darstellen, wobei man ihre Einarbeitung und Verwandlung schritt‐ weise anhand der Textzeugen vom ursprünglichen Zitat bis zum hochgradig elaborierten hybridsprachlichen Gedichttitel nachverfolgen kann. Die Analyse der Gedichtentstehung wird sich im Folgenden sowohl auf die Tübinger als auch die Bonner Celan-Ausgabe stützen. In beiden Fällen handelt es sich bekanntlich um textgenetische Editionen. Ein grundsätzlicher Unterschied 2.2 Textgenetische Vertiefung 101 <?page no="102"?> zwischen den von diesen beiden Ausgaben vorgelegten Fassungen des Gedichts besteht in der schon erwähnten Problematik des womöglich fehlenden Verses »du liest und du« zwischen den Zeilen 24 und 25 des publizierten Gedichttextes. Dieser Vers wird nur von der Bonner Ausgabe korrigierend in die Endfassung eingefügt. Darüber hinaus weichen die beiden Ausgaben auch in ihrer editori‐ schen Konzeption voneinander ab, was hier kurz erläutert werden soll. Die von der Bonner Arbeitsstelle edierte Historisch-kritische Ausgabe (HKA) dokumentiert gemäß ihrem konzeptuellen Anspruch alle erhaltenen Textzeugen (HKA, 6.2, 248-258). Konkret handelt es sich dabei um acht Dokumente - vom ersten Entwurf bis zur 1963 publizierten Endfassung. Diese werden in der Edition allesamt in diplomatischer Umschrift dargeboten. Mit H6 und H5 werden dort die ersten erhaltenen Handschriften des Gedichts bezeichnet. Bei H4, H3 und H2 handelt es sich um Typoskripte mit handschriftlichen Korrekturen des Autors. Die übrigen Textzeugen umfassen den Fahnenabzug (d 1 ), den Umbruch (d) sowie die in der Erstauflage von Die Niemandsrose abgedruckte Version (D*). Im Gegensatz zur Bonner HKA beschränkt sich die Tübinger Celan-Ausgabe (TCA) ihrerseits auf drei Textzeugen, namentlich H6, H5 und H3, also zwei Handschriften und ein Typoskript, zuzüglich der publizierten Endfassung. Gleichzeitig erlaubt dieser Verzicht auf Vollständigkeit in Verbindung mit dem Prinzip des synoptischen Abdrucks eine bessere Überschaubarkeit der verschiedenen Textstufen und lässt den Entstehungsprozess dadurch auf An‐ hieb deutlicher hervortreten. Zusätzlich weicht die Tübinger Ausgabe in ihrer Transkription der Handschrift Celans an einigen Stellen von der HKA ab. Daneben enthält die TCA ein hochinteressantes Faksimile von H6, das den Schreibvorgang von »Huhediblu« auf sehr plastische Art und Weise vor Augen führt (siehe Abb. 2+3). 102 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="103"?> Abb. 2: Vorderseite des ersten erhaltenen Entwurfs von »Huhediblu« (H6). Herausge‐ bersignatur AE 8.3,1r. DLA D.90.1.112. 2.2 Textgenetische Vertiefung 103 <?page no="104"?> Abb. 3: Rückseite des ersten erhaltenen Entwurfs von »Huhediblu« (H6). Herausgeber‐ signatur AE 8.3,1v. DLA D.90.1.112. 104 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="105"?> Dank des überlieferten textgenetischen Materials ist es möglich, die Entste‐ hung des Gedichts »Huhediblu« genau nachzuzeichnen und somit insbesondere darzustellen, wie aus den drei Ausgangssprachen - Deutsch, Französisch und Englisch - ein mehrsprachiges Textgewebe entstanden ist. Zu diesen drei Sprachen kommt das Russische als implizite Sprache einer der Hauptquellen des Gedichts hinzu. Gleichsam wie Fäden laufen diese verschiedenen Quellen des Textes schließlich im Titel »Huhediblu« als dem Endpunkt eines fast alle Textstufen durchziehenden Transformationsprozesses zusammen. Wie aus den Vorstufen hervorgeht, stand nämlich zunächst der Titel »Alraunenflur« über dem Gedicht. Der Endtitel »Huhediblu« wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt gewählt, als sich der Text schon sehr nahe an seiner endgültigen Fassung befand. Die Wahl dieses sprachlich singulären Titels ist demnach als Endprodukt einer Verkettung von multilingualen Sprachspielen anzusehen, die sich in ihm verdichtet haben, wie es jetzt im Einzelnen darzulegen gilt. Zum Verständnis der Art und Weise, wie dieses Gedicht nicht nur im übertragenen, sondern in einem sehr konkreten Sinne ›zwischen‹ mehreren Sprachen entstanden ist, soll nun an den Anfang der Textgenese und damit zum ersten erhaltenen Entwurf (H6) zurückgekehrt werden. Wie man ohne größere Schwierigkeiten anhand der textgenetischen Editionen oder direkt im Faksimile der ersten Niederschrift (Abb. 2 und 3) erkennen kann, enthält dieses erste Manuskript fünf fremdsprachige Stellen, die hier zunächst im Einzelnen erfasst werden sollen: 1. Das französische Originalzitat des Schlussverses aus Verlaines Gedicht »L'espoir luit« (»Oh, quand refleuriront les roses de septembre«), ganz oben auf der Vorderseite des Blattes. Dieses vermutlich erste Notat, aus dem sich höchstwahrscheinlich der gesamte Schreibakt entwickelt hat, wurde - wie klar in der Handschrift ersichtlich - noch im selben Arbeitsvorgang wieder gestrichen. 2. Derselbe Verlaine-Vers, jedoch in stark abgeänderter Form, ganz unten auf der Rückseite dieser frühesten Handschrift. Die Verschiebung und Umformung des Zitats noch im ersten Entwurf erklärt zweifelsohne die Streichung von 1, denn es ist davon auszugehen, dass die beiden Schreib‐ vorgänge direkt miteinander verbunden sind. 3. Ein Auszug aus dem vorletzten Vers von Apollinaires französischem Gedicht »Schinderhannes« (»… à l'allemande, avant …«), ganz oben auf der Vorderseite, direkt unter dem Verlaine-Vers. Dieses Zitat wird erst in späteren Textstufen weiter in den Gedichttext eingearbeitet. Originalwort‐ laut und -sprache verschwinden zwar in diesem Prozess, doch bleibt der Verweis auf den Apollinaire-Text im Gedicht weiterhin deutlich erkennbar. 2.2 Textgenetische Vertiefung 105 <?page no="106"?> 4. Das englischsprachige Zitat des Titels aus dem Enzensberger-Gedicht »call it love«, ganz unten auf der Rückseite des Manuskriptblatts. Auf der ersten Niederschrift des Textes erscheint dieser Titel noch ohne Zusatz, in unbearbeiteter, sozusagen neutraler Form, bevor er dann durch den ent‐ scheidenden Zusatz »hott« in das translinguale Textgewebe des Gedichts integriert wird. 5. Ein in französischer Übersetzung zitierter Auszug aus Jewgeni Jewtu‐ schenkos Gedicht »Verlaine« auf der Mitte der Vorderseite des Blattes. Wie oben erwähnt, dachte Celan wohl fälschlicherweise, der von Jewtuschenko auf Russisch verfasste Spruch gehe auf Verlaine selbst zurück. Die Zitation dieser französischen Verse umfasst schon in der ersten Niederschrift mehrere Korrekturschichten. Die (vereinfachte) Ausgangsform scheint zu lauten: »On tue les poètes / pour les citer après«, was leicht - wenn auch ohne wesentliche Veränderung des Sinns - von der Quelle (»On tue les poètes / Afin de les citer plus tard«) abweicht. Bezeichnenderweise lässt der Dichter das vorangehende, abschwächende Adverb »parfois« (= manchmal) weg: »Je pense avec douleur que parfois [sic] / On tue les poètes …«, heißt es nämlich in der offensichtlich als Quelle dienenden französischen Übersetzung. Zwar legt der Zeilensprung diese Abtrennung nahe, jedoch wird die Originalaussage dadurch klar verschärft. 2.2.2 Transformative Aneignung der anderssprachigen Hypotexte Wie aus den gerade aufgeführten Zitaten ersichtlich wird, praktiziert Celan in »Huhediblu« keine originalgetreue Reproduktion, sondern vielmehr eine trans‐ formative Aneignung der von ihm verwendeten Hypotexte. Es handelt sich um eine in Die Niemandsrose und darüber hinaus weitverbreitete Vorgehensweise des Lyrikers, die später unter dem Begriff ›translatorische Textgenese‹ (s. 6.2) auf einer breiteren Textbasis betrachtet werden soll. Anderssprachige Zitate bzw. deren deutschsprachige Einbettung, so lässt sich allgemein feststellen, sind bei ihm nie bloß Kopien oder Nachbildungen eines Originals, sondern haben stets eine kommentierende und produktiv-kreative Funktion. Im Fall von »Huhediblu« werden die ursprünglichen Quellen, so wie sie in der ersten Nie‐ derschrift erscheinen, umgehend einem Prozess translatorisch-translingualer Umarbeitung unterzogen, der jetzt näher analysiert werden soll. Der französische Verlaine-Vers steht zwar eingangs einem Motto gleich über dem ersten handschriftlichen Entwurf des Gedichts. Allerdings wird er, wie gesehen, umgehend wieder gestrichen und in einer nahezu sinnverkehrenden 106 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="107"?> Fassung an das Ende der Erstschrift (H6) verschoben: »Oh quand refleuriront, oh roses, vos septembres« (TCA, NR, 116-118, HKA, 6.2, 249-250). Dieser Platz am Textende entspricht dem des Verses in der französischen Vorlage, nur wird, wie man sieht, die Aussage dieser Schlusszeile bei Celan geradezu umgedreht. Was Enzensbergers englischen Gedichttitel betrifft, so wird dieser zwar nicht umgehend im ersten Entwurf, jedoch bereits in der zweiten Handschrift (H5) mit dem alles andere als unbedeutenden Zusatz »hott« versehen (TCA, NR, 118, HKA, 6.2, 253). Diese Abwandlung wirkt dabei im Grunde ebenso tiefgreifend wie die Umkehrung der Relation von September und Rosen im Verlaine-Zitat. Was das französische Apollinaire-Zitat betrifft, so ähnelt es dem Ver‐ laine-Zitat insofern, als es in der ersten Handschrift vom Rest des Textes abgesetzt erscheint, was nahelegt, dass es als zweite schreibauslösende Quelle gedient hat. Nach den ersten Textstufen (H6-H4) verschwindet es ab H3 (TCA, NR, 116-119, HKA, 6.2., 249-257) in seiner Originalform. Allerdings bleibt das französische Poem über den berüchtigten deutschen Räuber in Gestalt bestimmter Eigennamen (»Schinderhannes«, V. 57 und »Julchen«, V. 59) in der Druckfassung präsent. Auch in Form der Einbettung von Celans an anderem Ort publizierter Übersetzung des Gedichts ist es in den Versen 58-60 (s. »Das Julchen rülpst-…«, GW IV, 787, V. 9) in der Endfassung erkennbar. Prägend bei diesem Intertext ist hauptsächlich die Thematik des Judenmordes bei Apollinaire, die auf diese Weise in das deutsche Gedicht eingearbeitet wird. In Celans offizieller Übersetzung lautet die Passage wie folgt: »Denn heut, wenns dunkel wird am Rheine, / bring ich den reichen Juden um« (GW IV, 789, V. 25-26), wobei entfernte Anklänge an »Todesfuge« hörbar werden (s. »der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland […]«, GW-I, 41 f., V.-6). Durch den Zusatz »kontemporan« (V. 46) wird das Apollinaire-Gedicht außerdem gleichsam aktualisiert, wobei die historische Schinderhannes-Figur vom Ende des 18. Jahrhunderts auf das Deutschland des 20. Jahrhunderts und die Zeit Paul Celans bzw. das Jahr 1962 übertragen wird. Durch diese neue Kontex‐ tualisierung wird ein enger Bezug zwischen dem Thema des antisemitischen Mordens bei Apollinaire und dem in französischer Übersetzung zitierten Auszug des Jewtuschenko-Gedichts hergestellt. Aus letzterem geht anschließend (ab H4) der in die Endfassung übernommene Teilvers »Hüh - on tue« (V. 19) hervor (TCA, NR, 117, HKA, 6.2., 254). Gegenüber dem Original bleibt also lediglich das zentrale Verb ›tuer‹ erhalten. Dabei schafft das Wort ›Wann‹ in der zweiten Vershälfte (»Hüh - on tue … Ja, wann? «) zusätzlich eine Verbindung zu Verlaines Septemberrosen, was bezeichnend ist für die translinguale Verwebung der Intertexte in »Huhediblu«. 2.2 Textgenetische Vertiefung 107 <?page no="108"?> 217 Bayerdörfer, »Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945«, S.-52. 218 Konietzny, »Huhediblu«, S.-305. 219 Siehe Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, Bd.-3, S.-287. 220 Siehe Hermann H. Wetzel, »Verlaine et les poètes de langue allemande«. In: Pierre Brunel/ André Guyaux (Hrsg.), Paul Verlaine. Paris: Presses de l’Université Paris-Sor‐ bonne, 2004, S.-132-149. Beim Vergleich dieser vier anderssprachigen Quellen werden also bedeutende Unterschiede in Bezug auf den Umgang mit den zitierten Autoren deutlich. Handelt es sich bei Apollinaire und Jewtuschenko um ein grosso modo affirma‐ tives Verhältnis zur Quelle, wobei Celan sich die Aussagen seiner Vorgänger zu eigen macht, wird im Fall von Verlaine und noch mehr bei Enzensberger eine ironisch-kritische, ja polemische Distanz zu den Quellen sichtbar. Dass er dem Titel des zeitgenössischen Dichterkollegen nicht nur eine (scheinbare) Floskel wie ›hot‹ zufügt, sondern über die Doppelung des Konsonanten eine direkte Verbindung zum Mord-Motiv schafft (»Hüh - on tue« - »call it (hott! ) / love«) ist von großer Virulenz. Zusätzlich wird die Wirkung dieses Eingriffs durch die unmittelbare Nähe des in Aktion tretenden Fallbeils (V.-60) verstärkt. Höchstwahrscheinlich spielt der von Enzensberger praktizierte ›dekorative‹ Einsatz der Fremdsprache in Form eines »englischen Allerweltszitats« 217 eine Rolle bei dieser Entstellung des Zitats, da eine solche Verwendung von Mehr‐ sprachigkeit aus der Sicht Celans einer »Form unauthentischen Sprechens« 218 zu entsprechen scheint. Enzensbergers eher oberflächlich zu nennender Gebrauch des Englischen kann als ein Zeugnis für das Bedürfnis der jungen Generation im Westdeutschland der 1960er-Jahre gelten, an Internationalität zu gewinnen. 219 Celans Polyglossie hingegen eignet eine größere historische Tiefe sowie eine weitaus existenziellere und kritischere Dimension. Das polemisch transfor‐ mierte Zitat zeugt darüber hinaus auch von einer grundsätzlichen Animosität gegenüber dem damals kometenhaft aufsteigenden Autor und Intellektuellen, von dem Celan sicherlich mehr Unterstützung in seinem Kampf gegen die Anschuldigungen des Goll-Lagers erwartet hatte. Der Bezug zu Verlaine ist demgegenüber um einiges komplexer und ambiva‐ lenter. Als ›poète maudit‹ fungiert er zunächst zweifelsohne als positive Identifi‐ kationsfigur, was auch durch die parallel zitierten Verse Jewtuschenkos deutlich wird, die ja ursprünglich aus einer Hommage an den französischen Dichter stammen. Zum Gedicht »L’espoir luit« und seinen symbolistisch überhöhten, blühenden Septemberrosen hat Paul Celan als jüdischer Post-Holocaust-Dichter indessen zwangsläufig ein eher gebrochenes Verhältnis. 220 Dieses drückt sich anschaulich in der Behandlung des Zitats »Oh, quand refleuriront les roses 108 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="109"?> de septembre« aus. Der als ein Höhepunkt moderner französischer Lyrik zu betrachtende Vers wird dabei in seiner ursprünglichen Form gleichsam negiert, indem er noch in der ersten Niederschrift gestrichen und umgewandelt wird. Nur in travestierter, sinnentstellender, ja zerstückelter Form taucht er in der finalen Version auf. Die vollendete Kunstfertigkeit von Verlaines Lyrik sowie die große »Hoff‐ nung«, die im Eingangsvers seines in Alexandrinern verfassten Sonetts »L’e‐ spoir luit« wortwörtlich »aufscheint«, werden verständlicherweise von Ce‐ lans Dichtung und Poetik infrage gestellt. Nicht nur die Rosen blühen in »Huhediblu«, sondern ihre neuen ›Früchte‹, nämlich die unheilschwangeren Septembermonate. Nicht Musikalität und Eloquenz bilden den Ausgangspunkt seines Textes, sondern das »Schwer-, Schwer-, Schwer-/ fällige« (V. 1-2) des Schreibens von (deutschen) Gedichten. Verlaines hoffend-wehmütige Frage nach dem ›Wann‹ verwandelt sich zudem paronymisch in eine verzweifelt wirkende Variation über das Motiv des Wahns (V. 14-24), in Verbindung mit der sich über die französische Quelle herstellenden phonetischen Nähe zur Realität der KZs (›quand‹ - ›camp‹). Die kritisch-distanzierende Einarbeitung des Zitats, wie sie hier erkennbar wird, sollte dennoch nicht als generelle Ablehnung der symbolistischen Lyrik Verlaines durch den deutsch-jüdischen Dichter gewertet werden. Eher ent‐ spricht sie einer freien Aneignung der französischen Quelle im Dienste eines spezifischen Kompositionsverfahrens, wie es in Celans Schreiben nahezu allge‐ genwärtig ist. Trotzdem markiert der Lyriker hier bei aller Anerkennung der Leistungen des Ahnen zweifellos einen historisch notwendigen Bruch gegen‐ über diesem Beispiel einer ›schönen‹, ›wohlklingenden‹ und ›polychromen‹ Form des Schreibens, wie er sie in seiner ersten Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker (1958) als nunmehr unzeitgemäß abgelehnt hatte. So erscheint die Textgenese von »Huhediblu« gleichsam als poetische Umsetzung der dortigen Standortbestimmung: Die deutsche Lyrik geht […] andere Wege als die französische. Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie […] nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem »Schönen«, sie versucht, wahr zu sein. Es ist […] eine »grauere« Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre »Musikalität« an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem «Wohlklang« gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte. (GW-III, 167, s. a. TCA, M, 55). 2.2 Textgenetische Vertiefung 109 <?page no="110"?> 221 Konietzny, »Huhediblu«, S.-297. 2.2.3 Der ›rote Faden‹ der Textgenese Celans Einarbeitung der anderssprachigen Hypotexte in das vorliegende Ge‐ dicht ist noch um vieles komplexer, als im Vorangegangenen beschrieben werden konnte. Die verschiedenen Zitate werden nicht nur jedes für sich umgeformt und in den Text eingebettet. Zwischen den einzelnen Sequenzen auf Deutsch, Französisch und Englisch bildet sich ein vielschichtiges Bedeu‐ tungsnetz heraus. Dieses besteht hauptsächlich aus den Lexemen ›Quand‹, ›Wann‹, ›Wahn‹, ›blühen‹ ›hüh, ›hot[t]‹ und ›tuer‹, welche in wechselnder Form das Gedicht durchziehen. Besonders sinnfällig wird die Funktionsweise dieses mehrsprachigen ›Wortnetzes‹ bei der allmählichen Herausbildung des Gedichttitels »Huhediblu«. Dieser stellt nämlich weit mehr dar als das »Nonsen‐ sewort« 221 für das er häufig gehalten wird. Als deutlich erkennbarer Warnruf vor einer Wiederholung der Geschichte verkörpert der Titel ›Huhediblu‹ vielmehr die Quintessenz der multilingualen Verfasstheit dieses Celan-Textes, der augen‐ scheinlich alles andere als ein ›Spaßgedicht‹ darstellt, sondern auf dem Ansatz beruht, poetische »Präzision« mit multilingualer »Vielstelligkeit« (GW III, 167) zu paaren. Versucht man den Entstehungsprozess dieses Titels nachzuzeichnen, wird, wie nun näher gezeigt werden soll, eine Art ›roter Faden‹ erkennbar, der von den Quellen des Schreibens zur publizierten Endfassung des Gedichtes führt. Während die oben identifizierten Hypotexte den Ausgangspunkt des Schreibprozesses bilden, stellt der Titel »Huhediblu« gleichsam den Flucht‐ punkt der Textgenese dar, der zum Großteil als ein Vorgang sprachlicher Hybridisierung - auf der klanglichen Oberfläche wie in der semantischen Tiefenstruktur - begriffen werden kann. Vereinfacht gesagt führt dieser Wort‐ bildungsprozess vom Verb ›blühen‹, das der deutschen Teilübersetzung von Verlaines Rosenblüten-Vers entspricht, über das französische Verb ›tuer‹ - aus dem Jewtuschenko-Gedicht - zum Motiv der Tötung, verbunden mit dem antreibenden (Pferde-)Ruf »Hüh«. Entlang dieser lexikalischen Hauptachse spielen sich auf Grundlage der vielfältigen Möglichkeiten des Deutschen als Wortbildungssprache hochkomplexe phonetische und morphologische Prozesse zwischen den verschiedenen Sprachen ab, die jetzt im Einzelnen dargestellt werden sollen. Der entscheidende Schritt der lautlichen Verkettung von ›blühen‹ und ›töten‹ (resp. ›fleurir‹ und ›tuer‹) geschieht bereits in der zweiten Handschrift des Gedichts (H5), in der die Jewtuschenko-Verse (in frz. Übersetzung: »On tue les poètes / afin de les citer plus tard«) durch die binnenreimende zweisprachige 110 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="111"?> Kurzformel »Hü - on tue« (TCA, NR, 116, HKA, 6.2, 250) ersetzt werden. In dieser Fassung erscheint ›Hüh‹ zunächst ohne Dehnungs-h, was dann im Anschluss (in H3) korrigiert wird. Dabei unterstreicht Celan - wohl in einer Geste spontaner Emphase - den französischen Teil »on tue« (man tötet / es wird getötet). Der Befehlston von »Hü[h]« verleiht dieser ›Tötungsformel‹ einen martialischen Charakter. Daneben ergibt sich im sprachlichen Rahmen des Französischen eine klangliche Assoziation mit dem Verb ›huer‹ (= ausbuhen), das mit dem Motiv des Verfemens (»Femepoeten«, V. 5) korrespondiert. Die zentrale Verbindung zu Verlaines Rosen (»quand refleuriront« / »wann blühen wieder«) ergibt sich schließlich durch die phonetische Verkettung von ›Hüh‹ und ›blü[hen]‹ sowie über die Präsenz von ›Wann‹ im zweiten Versteil: »Hüh - on tue-… Ja, wann? «. In diesem Sinne könnte der Gedichttitel »Huhediblu« zunächst als die Verwand‐ lung von Verlaines Rosenblüte in ein (scheinbares) Nonsensewort gesehen werden, hinter dem sich allerdings eine tödliche Bedrohung zu verbergen scheint. In deutlichster Form wird diese Todesgefahr im Gedicht durch die Lexeme »Galgen« (V.-43), »Beilwort« (V.-47) und »Fallbeil« (V.-60) verkörpert. Die mit dem Motiv der Rosenblüte verbundene Wachstumsmetapher, die in der gesamten Gedichtsamm‐ lung präsent ist, wird an dieser Stelle mit starker Negativität aufgeladen, wie es schon im Bandtitel Die Niemandsrose zu beobachten ist. Ganz ähnlich verwandelt sich das Fragewort ›Wann‹ in den bedrohlichen ›Wahn‹ und der spätsommerliche September in eine Chiffre für Verfolgung und Vernichtung (»Nimmermenschtag im September«, V. 13), vor dem Hintergrund der schon erwähnten Klangverwandt‐ schaft zwischen Wann (›quand‹) und Lager (›camp‹). Im Laufe der ersten drei Textstufen (H6-H4) ist außerdem zu beobachten, wie der Dichter die homonyme Verkettung Wann/ Wahn über den - bezeichnender‐ weise falsch geschriebenen - Ortsnamen »Wansbek« (HSK, 6.2, 249, V. 15, 251, V. 21) weiterführt (Wann—Wahn—Wan[d]sbek). Dieses Toponym verweist auf den Romantitel Das Beil von Wandsbek (1947), ein Werk des als »Bruder Arnold« in der Textgenese präsenten jüdischen Autors Arnold Zweig (1887-1968). Dieser in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, entstandene Roman, der auch über die Erwähnung des ›[Henker]Beils‹ in Celans Text präsent ist, besitzt bezeichnenderweise einen dezidiert antinazistischen Charakter (s. NKG, 828). Wie so oft greifen Form- und Inhaltsebene an dieser Stelle eng ineinander. Die vom Gedicht erzeugte Assoziation von Rosen und Tod wird durch die bereits kommentierte Befehlsformel »Hüh - hott« unterstrichen. Wie Wiede‐ mann anmerkt (NKG, 817), treten diese beiden Ausdrücke häufig als Wortpaar in Celans Schriften auf, wobei sie die (politischen) Pole rechts und links verkör‐ pern. Insofern kann man sagen, dass im Gedichttitel »Huhediblu« das ›Hott‹ 2.2 Textgenetische Vertiefung 111 <?page no="112"?> in gewisser Weise im ›Hüh‹ mitklingt. Über die oben erwähnte interlinguale Paronomasie ›hott‹/ ›hotte‹ (= Rauchfang) entsteht somit im Titelwort eine bedrohlich-mörderische Nähe zu den Schornsteinen der Vernichtungslager. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Enzensbergers floskelhaft-weltmännische Liebesformel in englischer Sprache durch den Zusatz »(hott! )« (V. 60) in Celans Gedicht gewissermaßen negiert wird. Auf Grundlage dieser textgenetischen Erkundung wird schließlich deutlich, dass der alles andere als unschuldig-wortspielerische Titel »Huhediblu« auf sämtliche der vier anderssprachigen Hypotexte des Gedichts zurückverweist. Zur Übersicht und als Zwischenbilanz soll an dieser Stelle eine schematische Darstellung des besagten ›roten Fadens‹ angeboten werden (Abb. 4), bevor einzelne Aspekte dieses Verwandlungsprozesses zum Abschluss auf formaler Ebene weiter vertieft werden. In dem abgebildeten Schema stehen die vier anderssprachigen Hypotexte unterstrichen links (Verlaine) und rechts (Apol‐ linaire, Jewtuschenko und Enzensberger) an den beiden Enden bzw. Seiten. Zwischen ihnen befinden sich die wichtigsten Stationen der Transformation, als deren implizites Zentrum, in dem alle Fäden verdichtet zusammenlaufen, der Gedichttitel »Huhediblu« mitgedacht werden muss. Die Sprachdifferenzen wurden durch die Unterscheidung zwischen römischer Schrift für Deutsch, Kursivschrift für Französisch sowie Fettschrift für Englisch hervorgehoben: Abb. 4: Die textgenetischen Quellen des Gedichttitels »Huhediblu« mit den lexikalischen Hauptelementen aus den verschiedenen Sprachen 2.3 Das Gedicht als ›Schmelztiegel‹ der Sprachen 2.3.1 Auflösen und neu Verbinden Bei der hier vorgelegten Darstellung der Textgenese von Celans »Huhediblu« wurde bisher der Bedeutungsebene der Vorzug gegeben. Die Zielsetzung be‐ stand darin, auf semantischer Ebene den ›roten Faden‹ des Gedichts von den 112 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="113"?> 222 Siehe Lehmann »›Gegenwort‹ und ›Daseinsentwurf‹. Paul Celans ›Die Niemandsrose‹. Eine Einführung«. In: May/ Goßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Handbuch, S. 11-35, hier S.-21. 223 Bayerdörfer, »Poetischer Sarkasmus«, 42. Quellen bis zur Druckfassung sichtbar und damit gleichsam greifbar zu machen. Doch genügt bereits ein Blick auf den singulären sprachspielerische Titel, um zu begreifen, dass gerade formale Aspekte im Text eine tragende Rolle spielen. Dieser Umstand wurde bereits an mehreren Beispielen deutlich und wird sich später anhand des gesamten Gedichtkorpus bestätigen lassen (s. 6.6-6.8). In dieser Hinsicht ist »Huhediblu« trotz seiner sprachlichen Radikalität durchaus repräsentativ für die Gedichtsammlung Die Niemandsrose, zu deren ästhetischen Grundprinzipien insbesondere das Spiel mit Klang-Bedeutungs-Relationen ge‐ hört, was zum »Auflösen […] festgelegter Zeichenrelationen« 222 führt, wie es Lehmann ausdrückt. Im speziellen Fall von »Huhediblu« kommt hinzu, dass diese auf morphologischer und phonetischer Ebene ablaufenden Prozesse nicht nur das Deutsche betreffen, sondern konsequent sprachübergreifend operieren. Vom ersten Entwurf an, so kann man in den Handschriften beobachten, unterwirft der Lyriker die mehrsprachige Lexik seines Gedichts verschiedenen formalen Verfahren wie Inversionen, Metathesen und Paronomasien. Daneben sind Alliterationen, Assonanzen, Homonymie und Onomatopoetik zu erkennen. Die »sinnkonstituierende[] Bedeutung des Sprachspielerischen« bei Celan, 223 wie sie zuerst von Bayerdörfer unterstrichen wurde, wird in diesem multilin‐ gualen Setting als Kern seiner Sprachgestaltung erkennbar. Alle Textzeugen bis zur Endversion erhalten zahlreiche Wortspiele, bei denen die Wortelemente sich dekonstruierend auflösen, um dann verdichtet neu zusammengesetzt zu werden. Klang und Bedeutung der verschiedenen an der Gedichtentstehung beteiligten Sprachen werden dabei gleichsam miteinander verschmolzen. Auf das Gesamtwerk bezogen können solche Verfahrensweisen mit dem Oberbegriff ›sprachschöpferische Mehrsprachigkeit‹ bezeichnet werden, worauf weiter unten zurückzukommen sein wird (s.-5.8). Zur Verdeutlichung solcher zum Teil an Dadaismus und Lettrismus erin‐ nernder Formaspekte des Gedichts soll nun die Entstehung der Verse 14 bis 21, aus denen schließlich der Titel »Huhediblu« hervorgehen wird, unter die translinguale ›Lupe‹ genommen werden. Da dazu die Gesamtheit aller Textzeugen von Belang ist, wird sich die Analyse im Folgenden vornehmlich auf die Bonner Ausgabe stützen, deren Editionsprinzip wie erwähnt auf der vollständigen Wiedergabe aller erhaltenen Vorstufen beruht. Hier zunächst zur Erinnerung die entsprechenden Gedichtzeilen aus der Druckfassung (nach GW-I, 275): 2.3 Das Gedicht als ›Schmelztiegel‹ der Sprachen 113 <?page no="114"?> […] - Wann, 15 wann blühen, wann, - wann blühen die, hühendiblüh, - huhediblu, ja sie, die September - rosen? - - - Hüh - on tue-… Ja, wann? - - 20 Wann, wannwann, - Wahnwann, ja Wahn, - - […] Wie aus den erhaltenen Textzeugen hervorgeht, findet bereits in der ersten Niederschrift (H6) dieser Passage ein formales Verwandlungsspiel auf Basis der deutschen Version des Verlaine’schen Hypotextes (»Oh, quand refleuri‐ ront…«) statt. Ab dem frühesten Stadium der Textgenese beginnt so der Dichter damit, die einzelnen Wörter des übersetzten Verlaine-Zitats miteinander zu verschränken, wobei er sie zunächst agglutiniert, wie in diesem Auszug zu be‐ obachten ist: »- wann blühen, wann, / wannblühen die, wannblühen wiederdie […] Septemberrosen« (HKA, 6.2., 249, V. 8-9). In der folgenden Handschrift (H5) werden dann Bestandteile anderer Hypotexte hinzugenommen, wodurch sich allmählich komplexere Wortverbindungen herausbilden. Zunächst handelt es sich dabei um das Wortelement ›Hü‹, das sich sowohl aus der Formel ›Hüh hott‹ als auch - onomatopoetisch - aus dem Verlaine’schen Verb ›blühen‹ ab‐ leiten lässt: »Wann, / wann blühen, wann, / wannblühendie, hühendi[eb]∫blüh« (HKA, 6.2, 251, V. 10-12). Bei dieser translingualen Amalgamierung heterogener Hypotexte benutzt der Dichter neben der linearen Kontraktion von Wörtern auch permutative und anagrammatische Verfahren, die mit dem Oberbegriff der Metathese benannt werden können. ›Hüh[en]‹ und ›blühen‹ werden auf diese Weise miteinander zu »hühendi[eb]∫blüh« verschmolzen (ebd.). Zwei Zeilen weiter unten kommt es dann noch in demselben Entwurf zur entscheidenden Assoziation: »Hü - on tue« (V. 14). Besonders bemerkenswert bei diesem Vorgang ist die Tatsache, dass im Zuge dieser Umformung der Neologismus ›hühen‹ im Wortmaterial erkennbar wird (s. ebd.), der dem französischen Verbum ›huer‹ (= buhen) nachempfunden zu sein scheint. An dieser Stelle drängt sich der Anklang an das ›Ausbuhen‹ geradezu auf, zumal sich dieser Bezug nahtlos in das Bedeutungsnetz des Gedichts einfügt, in dem es bekanntlich um Diffamation, Anfeindung und Verfemung geht. Beim 114 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="115"?> 224 Draesner, »›Huhediblu‹«, S.-337. Übergang von H5 zu H4, dem ersten Typoskript unter den Vorstufen, kommen die Verse dann ihrer letzten Fassung schon sehr nahe: »Wann, / wann blühen, wann, / wann blühendie, hühendiblüh« (HKA, 6.2, 254, V. 12-14). In dieser Phase der Textgenese tritt durch die Streichung der Tremata über dem ›u‹ und die Elision des Dehnungs-H die abgeleitete Form »huhendiblu« (V. 14) hinzu. Aus dieser kristallisiert sich dann schließlich in der vierten Textstufe (H3) mittels einer Synkope (Streichung des als ursprüngliches Infinitiv-N auffassbaren Kon‐ sonanten) der Titel »Huhediblu« heraus, der an die Stelle des ab H4 präsenten Titelentwurfs »Alraunenflur« tritt (HKA, 6.2, 256). Die genaue textgenetische Betrachtung dieser Versgruppe erlaubt es dem‐ nach, eine der Ausgangsthesen der vorliegenden Gedichtanalyse zu bestätigen, wonach der zunächst wunderlich und unverständlich anmutende Titel keinerlei ›Nonsense‹ darstellt. Vielmehr ist er durch die Verschmelzung der beide Bedeu‐ tungskomponenten ›blühen‹ und ›töten‹ motiviert, so wie sie aus den vier an‐ derssprachigen Hypotexten des Gedichts (Verlaine, Apollinaire, Jewtuschenko und Enzensberger) hervorgehen. Spiel und Ernst gehen bei diesem Prozess eine ästhetisch hoch interessante Verbindung ein. Eine der relevantesten Verwandlungen des Sprachmaterials im Entstehungs‐ prozess des Gedichts besteht im Wegfall der Tremata beim Übergang von »hühendi[eb]∫blüh« zu »Huhediblu« (in Textstufe H4), wodurch die deutsche Aussprache des Wortes sich von [hy: ədi: bly: ] zu [hu: ədi: blu: ] verschiebt. Fast könnte man hier an das dem Hebräischen entlehnte Prinzip der wechselnden Vokalisierung denken, auf das Celan in mehreren Gedichten anspielt (s. 3.3). Mit wechselnder Vokalisierung wechselt hier die Bedeutung des Wortes bzw. seine sprachliche Verortung zwischen dem Deutschen und dem Französischen. Durch diese ›Lautverschiebung‹ wird somit eine Art sprachliches Paradoxon kreiert: Nach dem Wegfall der ›Punktierung‹ müsste der Titel des Gedichts nun eigentlich französisch ausgesprochen werden (wobei ›u‹ als [y] realisiert wird), damit die deutschen Wortbestandteile ›Hüh‹ und ›blühen‹ hörbar bleiben, wohingegen die ›normale‹ deutsche Aussprache die originären Bausteine des Titels nahezu unkenntlich macht. Anders gesagt scheint der sprachliche ›Umweg‹ über das Französische gera‐ dezu konstitutiv für das Titelwort zu sein, das somit in seiner doppelsprachigen, deutsch-französischen Verfasstheit erkennbar wird. Draesner geht in ihrer Deu‐ tung des Gedichts in dieselbe Richtung, indem sie das Titelwort »Huhediblu« als »French counterpart« 224 des Bandtitels Die Niemandsrose bezeichnet. Durch die plausible Annahme, dass das Wortelement ›blu‹ - also ein ursprünglich 2.3 Das Gedicht als ›Schmelztiegel‹ der Sprachen 115 <?page no="116"?> 225 Ebd., S.-332. aus dem Französischen Verlaines übersetztes Wort (fleurir—blühen) - über das Französische als [bly] zu lesen sei, wird zudem die eingangs formulierte Hypo‐ these bekräftigt, dass im Gedichttitel das französische Verb ›huer‹ mitzulesen ist: »Hue[r]diblu«. Im Deutschen würde dieses französische Verb wie oben erwähnt dem ›(Aus-)Buhen‹ entsprechen. Dementsprechend wurde es in die obige Darstellung (s. Abb. 4) mit aufgenommen. 2.3.2 Translinguale Produktivität der Lexeme Wie die oben dargestellten Prozesse lexikalischer Amalgamierung durch Ver‐ schmelzung von Elementen aus mehreren Sprachen zeigen, werden diese Lexeme unterschiedlichster Provenienz während der Entstehung des Gedichts allesamt außerordentlich produktiv. Quer durch die Sprachen hindurch wird das Wortmaterial innerhalb einer Verschränkung der Rosenblüte mit dem blutigen Morden aufgelöst und neu zusammengesetzt. Celan bringt in diesen Versen die deutsche Sprache sichtlich an ihre Grenzen. Die vielfältigen Bedeutungsaspekte, die sich durch diese sprachlichen Hybridisierungen ergeben, haben extrem inspirierend auf viele Kommentatoren und Interpreten gewirkt. Gerade der Gedichttitel »Huhediblu« eröffnet weit mehr Möglichkeiten zur Auslegung als bisher gezeigt werden konnte. Wie oft in der vorliegenden Studie ergibt sich daraus die intrikate Frage, ob den mehrsprachigen Deutungen Grenzen gesetzt werden müssen, um allzu hypothetisch und spekulativ erscheinende Überinterpretationen zu vermeiden. Erneut veranschaulicht »Huhediblu« damit auf exemplarische Weise eine im Rahmen dieser Studie rekurrente Problematik. Bereits in einem einsprachigen Rahmen lässt das ›blu‹ aus dem Titelwort des Gedichts das deutsche Wort ›Blut‹ anklingen, welches über das Motiv des Tötens und die rote Farbe der Rose ohnehin im Text omnipräsent ist. Allerdings könnte ›blu‹ über andere Sprachen wie das Englische oder Italienische noch ganz andere, ja konträre Assoziationen wie ›blau‹ oder in Anlehnung an den ›blues‹ - Melancholie, Traurigkeit oder Trauer hervorwecken. Was das Englische angeht, scheint das Todesmotiv ebenfalls als ›to die‹ im Wortelement ›di‹ mitzuschwingen. Ebenfalls über die englische Sprache liest Draesner das ›hu‹ homophon als Fragepronomen ›who‹ (wer? ), wodurch die Frage der Verantwortlichkeit für das Blühen (und das Morden) adressiert wird. 225 Über das Französische wiederum könnte ›di‹ auf das Verbum ›dire‹ (als ›je dis‹, ›tu dis‹ usw.) verweisen, wobei es als ›dire poétique‹ (dichterisches Sprechen) nicht zu‐ letzt in die Richtung einer metapoetischen Dimension deutet. Zusammenfassend 116 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="117"?> 226 Perels, »Erhellende Metathesen«, S.-131. 227 Siehe Konietzny, »Huhediblu«, S.-304. 228 Ebd., S.-301. können all diese Phänomene als translinguale Homonymien konzeptualisiert werden, wie sie immer wieder in Celans Werk auftauchen (s.-6.6). Christoph Perels hat seinerseits im Vers »Hue - on tue … Ja, wann? « (V. 19) neben der Rose noch eine andere Blume, nämlich die ›Hüh-Jazinthe‹, zu entdecken gemeint. So schreibt er: »Die Sprachbewegung von ›huhediblu‹ über ›hühendiblü‹ führt von sich aus zu ›blühendihü‹; das ›hüh‹ muß deshalb abgetrennt werden, damit der Sprecher nicht zum falschen Blumennamen gelangt, den Hyazinthen.« 226 Über den französischen Blumennamen ›jacinthe‹ ergibt sich hier zudem eine interessante Verbindung zum Wort »ad-/ jektivisch« (V.-48-49). Die markante Durchtrennung diese Adverbiums führt nämlich über den lateinischen Stamm ›iacere‹ zur Bedeutung ›werfen‹ bzw. ›fallen‹, 227 was auf das in den Vorstufen und der Druckfassung stark präsente ›Beil‹ verweist. Sind die Wörter ›jacinthe‹ und ›iacere‹ auch etymologisch nicht miteinander verwandt, ergibt sich doch eine gewisse Nähe zwischen Perels Lesart von »Hüh - on tue … Ja, wann? « als ›falscher‹ bzw. unterdrückter Blumenname ›Hyazinthe‹ (Hüh-Jazinthe) und dem Wort »ad-/ jektivisch«, das nicht mehr bloß Beiwort, sondern eben vor allem ein »Beilwort« (V.-47) ist. Die gerade aufgezählten Beispiele für assoziative Deutungen vonseiten verschiedener Kommentatoren und Interpreten können zwar mitunter recht gewagt wirken oder sogar als Überinterpretationen gewertet werden. Jedoch beweisen sie vor allen Dingen, wie entschieden Celans mehrsprachige Verfahren die von ihm eingeforderte Suche nach der »Vielstelligkeit des Ausdrucks« (GW III, 167) befördern. Dabei muss neben der vom Dichter vorausgesetzten »Präzision« (ebd.) ebenfalls von einer konstitutiven Offenheit der Gedichte ausgegangen werden, was ihren sprachlichen Resonanzraum angeht. Die quer durch die Sprachen führenden »Wortwege und -schneisen« (V.-3) des Gedichts kommen auf diese Weise fast einem Labyrinth nahe, wie nun an weiteren Bespielen für mehrsprachige Interpretationsansätze gezeigt werden soll. So vermutet Konietzny etwa in seinen Ausführungen zu »Huhediblu«, dass die Silbenabtrennung »Dis-/ parates« (V. 26-27) auf Dantes Höllenstadt ›Dite‹ aus dem achten Gesang des Inferno verweist, die in den deutschen Überset‐ zungen dieses Werks meist als ›Dis‹ wiedergegeben wird. 228 Gleichzeitig ließe sich die Vorsilbe »dis« über das Französische als zweite Person Singular Präsens des Verbs ›dire‹ interpretieren: ›tu dis‹. Die Insistenz des Gedichts auf dem homonymen Demonstrativartikel ›di[e]s‹ (»dies hier, dies: / Dis-», V. 25-26) unterstützt diese Hypothese. Unter Rückgriff auf einen Begriff der klassischen 2.3 Das Gedicht als ›Schmelztiegel‹ der Sprachen 117 <?page no="118"?> Rhetorik könnte in diesem Fall von einer translingualen Paronomasie (s. 6.6) gesprochen werden. Dieses ›Sprechen‹ würde durchaus zum vorangehenden Verb ›lesen‹ passen. Als Aufruf an den »Bruder« (Arnold Zweig bzw. Ossip Mandelstamm, V. 22-23) könnte ihm außerdem eine metapoetische Dimension zukommen. Denn lateinisch ›paratus‹ bedeutet ja nicht nur ›bereit‹, sondern auch ›gerüstet‹, sprich ›wehrhaft‹, was im deutschen Lehnwort ›parieren‹ anklingt. In einer solchen Lesart könnte »Dis-/ parates« also letztlich als ›ver‐ teidigendes Sprechen‹ verstanden werden. Bei den gerade skizzierten Auslegungen kam immer wieder eine große interpretatorische Kreativität zum Ausdruck, was nicht zuletzt an der Kürze der sprachlichen Elemente lag. Weniger spekulativ erscheint hingegen Wiedemanns Vermutung einer lautlichen Relation zwischen dem Ausdruck »[Finger]Ge‐ kröse« (V. 9) und dem französischen Wort ›creux‹ (= hohl, das Hohle). Diese Assoziation kann sich auf den vorletzten Vers des Verlaine’schen Gedichts stützen: »L’espoir luit comme un caillou dans un creux« (in Celans Übersetzung: »Hoffnung glimmt wie Kies in einer Grube«, s. NKG, 827). Bei dem kleinen Wort ›creux‹ würde es sich demnach um ein weiteres Element aus dem französischen Hypotext handeln, das translatorisch in das Gedicht eingearbeitet wurde. Wortwörtlich ergibt sich bei »Hand- und Fingergekröse« dabei die Assoziation mit ›hohler‹, d. h. inhaltsleerer Rede. Zudem stellt sich ein Bezug zum bei Celan zentralen Motiv des Grabens (frz. creuser) ein. An dieser Stelle scheint sich also die translatorische Verfahrensweise mit dem Prinzip der translingualen Homonymie zu verbinden. Auch auf sprachgeschichtlicher Ebene lassen sich solche bedeutungserwei‐ ternde Interpretationen sprachlicher Kurzelemente nicht nur mittels freier Krea‐ tivität erzeugen, sondern argumentativ-philologisch fundieren. So besitzt etwa das im Gedicht so zentrale Wort ›Wahn‹ in seiner mittelhochdeutschen Form ›wān‹ auch die Bedeutung ›Erwartung‹ und ›Hoffnung‹. Über diese historische Sprachstufe gelesen erscheint das Wort ›Wahn‹ auf einmal wesentlich offener als in seinem aktuellen, weitgehend pejorativem Sinn. Unter Hinzunahme des Bedeutungsaspekts ›Erwarten‹ wird dabei die ›Wahnhaftigkeit‹ der im Gedicht artikulierten Befürchtung von einer Rückkehr der Mörder weitaus stärker in der Realität verankert als es bei einer tendenziell pathologisierenden Auffassung des Wortes der Fall wäre. Wie zudem wiederholt in der Forschung bemerkt wurde, waren Celan solche etymologische Nebenbedeutungen durchaus bewusst. 118 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="119"?> 229 Bayerdörfer, »Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945«, S.-52. 2.3.3 Mehrsprachige Transmutation der Verlaine’schen Rosenblüte Wie in diesem Kapitel gezeigt, veranschaulicht das Beispiel von »Huhediblu« auf eindrucksvolle Weise, welch fundamentale Rolle Mehrsprachigkeit in Paul Celans Dichtung spielen kann - auf metamultilingualer, textinterner und tex‐ tübergreifender Ebene. Wie selbstverständlich kombiniert der untersuchte Text in seinem Entstehungsprozess die deutsche Hauptsprache mit anderen, mehr oder weniger nahen und vertrauten Sprachen. So hat es die Rekonstruktion der Textgenese erlaubt, exemplarisch nachzuzeichnen, wie die verschiedenen Sprachen seines Lebensweges, seiner Lektüren und Übersetzungen ihren Weg in sein Schreiben finden. Neben dem Französischen und Englischen, deren Präsenz im Text ins Auge sticht, spielen die russische Sprache und Literatur eine wichtige Rolle, sowie verschiedene Formen sprachlicher Varietät. »Huhediblu« macht somit deutlich, wie polyglott tatsächlich der Horizont von Celans Schreiben ist, wobei sich dieser Umstand insbesondere seiner multilingualen Sozialisation, sprachlichen Bildung und exterritoriale Schreibsituation verdankt. Mit Hilfe der vorgelegten Gedichtanalyse konnten zudem einige zentrale Aspekte von Celans mehrsprachigem Schreiben vorgestellt werden. Dazu gehören das Phänomen der Heterolingualität, die Rolle der Übersetzung in der Textgenese, der implizite Bilingualismus der Lexik, sprachschöpferische Formen von Mehrsprachigkeit, sowie sprachübergreifende Formanalogien, ins‐ besondere durch lautliche Annäherung. Neben einer Vielfalt von Sprachen und Formen tritt dabei im Gedicht eine durchaus kritische Haltung der deutschen Sprache gegenüber in Erscheinung. Dazu schreibt Bayerdörfer treffend: »[D]ie poetische Voraussetzung [von »Huhediblu«] besagt, daß in einer Zeit nach dem von Deutschland ausgegangenen Genozid, die eine, deutsche Sprache der historischen Situation nicht mehr gewachsen ist«. 229 Vor dem Hintergrund von Celans Situation als deutsch-jüdischer Lyriker nach der NS-Zeit lässt der Text somit eine neuartige Verbindung von Sprachkritik, Sprachskepsis und Sprachschöpfung erkennen. So macht »Huhediblu« auch deutlich, dass Celans Schreiben nicht - wie manche frühe Interpreten es sich insgeheim erhofften - als Weiterführung der ›pontifikalen Linie‹ (Brecht) der deutschen Lyrik angesehen werden kann. Celan ist kein neuer Hölderlin oder neuer Rilke. Dafür ist der mit ›Auschwitz‹ benannte historische Bruch, der auch die Sprache und Literatur in ihren Grund‐ 2.3 Das Gedicht als ›Schmelztiegel‹ der Sprachen 119 <?page no="120"?> 230 Siehe hierzu u. a. folgende Notiz aus den Meridian-Materialien: »Erst wenn du mit deinem allereigensten Schmerz bei den krummnasigen und mauschelnden und kiel‐ kröpfigen Toten von Auschwitz und Treblinka und anderswo gewesen bist, dann begegnest du auch dem Aug und seiner Mandel« (TCA, M, 127). 231 Draesner, »›Huhediblu‹«, S.-330. 232 Yildiz, Beyond the Mother Tongue, S.-18. festen erschütterte, zu extrem. 230 Durch seine Dichtung wurde den Deutschen ihre Sprache nach dem sogenannten Dritten Reich nicht als ›genesene‹ oder ›geheilte‹ zurückgegeben. Unter Verweis auf das Wort »sprach-/ pockig« (GW II, 70, V. 7-8) aus einem Gedicht des Bandes Atemwende könnte eher von einer mit (hässlichen) ›Sprachnarben‹ versehenen (und versehrten) Sprache geredet werden. Das Deutsche wird durch Celans Lyrik also nicht etwa ›repariert‹ oder in seinen früheren, ›unschuldigen‹ Zustand zurückversetzt, sondern vielmehr tiefgreifend verändert, verfremdet und ›angereichert‹ (GW-III, 186). Zwar hält der Dichter an der deutschen Sprache als Sprache seiner Lyrik fest, jedoch benutzt er diese auf eine Art und Weise, welche sie immer wieder ganz bewusst an ihre Grenzen bringt. Wie insbesondere das Gedicht »Huhediblu« zeigt, erfolgt diese ›Öffnung‹ des Deutschen insbesondere durch das Interfe‐ rieren anderer, ›fremder‹ Sprachen. Ulrike Draesner, die eine der polyglottesten Lektüren des Textes vorgelegt hat, bringt es auf folgende Formel: »›Huhediblu‹ constitutes and negotiates a paradox: could a German poem discard German while still using it? « 231 Womit sie indirekt an Yasmin Yildiz’ Charakterisierung von Celan als ›postmonolingualem‹ Dichter anschließt, auf die später näher einzugehen sein wird (s. 8.3). 232 Das Gedicht scheint mithin die schon in der Einleitung benannte Paradoxie zu bestätigen, wonach der Lyriker immer nur auf Deutsch schreibt, doch nie in dieser einen Sprache allein. Das durchaus ambiva‐ lente Konzept der ›Anreicherung‹ der Sprache, so wie es Celan in seiner Bremer Rede benutzt (GW-III, 185), steht somit nicht nur für die Schmerzensspuren der Geschichte, sondern bildet auch die Grundlage seiner multilingualen Poetik. Innerhalb dieser allgemeinen Konstellation von Celans Schreiben erhält »Huhediblu« sein individuelles Profil insbesondere durch seinen singulären Titel. Als kontraktierte, transformierte und kommentierte Übersetzung der über der ersten Niederschrift stehenden Verlaine-Zeile (»Ah! quand refleuriront les roses de septembre«) besteht dieses Titelwort, so wurde gezeigt, hauptsächlich in einer Überlagerung der deutschen und der französischen Sprache - ihrer Phonetik und Semantik. Gerade der Wegfall der Tremata scheint die franko‐ phone Dimension des Titels zu unterstreichen. Es handelt sich bei diesem Wort demzufolge um ein hybrides Kompositum, das gleichsam zwischen den beiden Sprachen zu oszillieren scheint. So spricht der Dichter Thomas Kling 120 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="121"?> 233 Thomas Kling, »Sprach-Pendelbewegung«. 234 Siehe Wetzel, »Verlaine et les poètes de langue allemande«, S.-145. 235 Siehe Konietzny, »Huhediblu«, S.-300. in seinen inspirierenden Bemerkungen zum Galgen-Motiv bei Celan, in denen er sich unter anderem auf »Huhediblu« bezieht, treffender Weise von einer »Sprach-Pendelbewegung«. 233 Unter diesem Gesichtspunkt stellt der Titel »Huhediblu« eine Art Zusam‐ menschau der Prozesse dar, die die Textgenese des Gedichts auszeichnen. Denn der Entstehungsprozess des Gedichts beruht grundlegend auf einer Verschränkung des Deutschen mit dem Französischen - unter Hinzunahme des Englischen, sowie des Russischen. Innerhalb dieses mehrsprachigen Netzwerks aus Intertexten von Verlaine, Apollinaire, Jewtuschenko und Enzensberger bildet der Ausdruck »Hü - on tue« gleichsam den »Achsenton« (V. 32 u. 36), um den herum sich die diverse, heterogene Sprachmaterie gruppiert. In diesem bedeutungsschweren - und nur scheinbar sinnlosen - Titel verdichtet sich letztlich eine klare Distanzierung von der Verlaine’schen Poetik, 234 die zunächst den Initialpunkt des Schreibakts dargestellt hatte. Vom ersten Vers an wird dabei dem für seinen eloquenten Wohlklang berühmten Verlaine die aktuelle ›Schwerfälligkeit‹ der Sprachfindung im Kontext von Celans Poetik entgegengesetzt. Durch seine Verschmelzung mit Motiven des Todes und des Mordens - als symbolische Überhöhung der Angst vor antisemitischer Verleumdung und Verfolgung - wird das ursprüngliche Bild der Rosenblüte im Schreibakt in Blut transmutiert. Dieses Blühen, von dem in »Huhediblu« die Rede ist, ist eben nicht mehr das der symbolistischen Rosen Verlaines, sondern das des tödlichen »Beilwort[s]« (V. 47), wobei die Rückkehr der Blumen nun auf den inhumanen »Nimmermenschtag im September« (V. 13) verweist. Das Datum des Septembers, das Celan schon in einem frühen Gedicht wie »Dunkles Aug im September« (GW I, 26) negativ beleuchtet, scheint sich dabei auf vergangene und zukünftige Katastrophen zugleich zu beziehen, als deren gemeinsamer Nenner unschwer die Gewaltgeschichte gegen die Juden erkennbar wird. 235 Im Medium der französischen Sprache, seiner Adoptivsprache im Pariser Exil, schreibt der Dichter am Ende seines mehrsprachigen Textes den Verlaine-Vers um und lädt dessen ›glimmende Hoffnung‹ mit einer radikalen Zweideutigkeit, ja Negativität auf: »Oh quand refleuriront, oh roses, vos septembres? « (V. 63). Dieses Blühen der unheilvollen Septemberrosen verweist dabei zirkulär auf den Gedichttitel »Huhediblu« zurück. In der Sprach-Bewegung des Textes wird somit die nostalgische Erinnerung an die Rosenblüte mit hochgradig bedrohlichen, ja tödlichen Assoziationen 2.3 Das Gedicht als ›Schmelztiegel‹ der Sprachen 121 <?page no="122"?> 236 Hierbei ergeben sich nicht zuletzt interessante Parallelen zur sprachkritischen Funk‐ tionalisierung des Lautgedichts bei Ernst Jandl. Siehe u. a. Walter Hinderer, »Kunst ist Arbeit an der Sprache. Ernst Jandls ›schtzngrmm‹ im Kontext«. In: Volker Kau‐ koreit/ Kristina Pfoser (Hrsg.), Interpretationen. Gedichte von Ernst Jandl. Reclam: Stuttgart 2002, S.-48-60. - darunter die Wannseekonferenz und die Vernichtungslager (frz. ›camps‹) - aufgeladen. Als ›Wahn‹ (oder mittelhochdeutsch ›wān‹) verweist das Frage‐ pronomen ›Wann/ quand‹ auf die NS-Geschichte und erhält gleichzeitig einen zeitgenössischen ›Akut‹ (s. GW III, 190). Der Autor referiert auf die eigenen psychischen Probleme, macht aber andererseits durch den Verweis auf die Wiederkehr antisemitischer Agitation und Gewalt kenntlich, dass er sich auf objektive Sachverhalte bezieht, die er in seiner unmittelbaren Nähe oder ver‐ mittelt durch Zeitungslektüre wahrnahm. Dementsprechend ist der Gedichttitel weder ›Nonsense‹, noch reines Wort-›Spiel‹ oder ›calembour‹. Hinter dem scheinbaren Unsinn, der kindlich oder wahnhaft wirken könnte, kommt in Wirklichkeit eine reale und äußerst dramatische Dimension zum Vorschein. 236 In diesem sehr ernsten Spiel ver‐ schmelzen vor dem Hintergrund der Biographie des diffamierten Dichters sprachspielerisch-experimentelle Schreibtechniken mit Verweisen auf die Ge‐ schichte der Judenverfolgung und Visionen einer neonazistischen Wiederkehr des Geschehenen. Zu diesem Zweck bedient sich Celan Verfahren, die eindeutig über den monolingualen Rahmen des Schreibens hinausgehen, indem sie einen kreativen Raum zwischen den Sprachen eröffnen, dessen Dynamik die Entste‐ hung des Gedichts antreibt oder sogar allererst bedingt. Diese Schreibprozesse sind, wie jetzt gezeigt werden soll, kein Einzelfall, sondern lassen sich durch das Gesamtwerk hindurch auf einer typologischen Basis systematisieren, wie es nun geschehen soll. 122 2 »Solve et coagula«: »Huhediblu« als translinguales Gedicht <?page no="123"?> III Systematisch-typologischer Hauptteil <?page no="125"?> 237 Sturm-Trigonakis, Global Playing in der Literatur, S.-133. 238 Winfried Menninghaus, Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980. 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual Im Anschluss an die im einführenden Teil dieser Studie skizzierten poetologi‐ schen Positionen bietet es sich im Folgenden an, die Darstellung der Mehrspra‐ chigkeitsproblematik bei Paul Celan zunächst auf der Metaebene fortzusetzen, mit dem Ziel, diesen Untersuchungsbereich systematisch auszuweiten und zu vertiefen. ›Metaebene‹ meint in diesem Zusammenhang die im weitesten Sinne poetologische Thematisierung der multilingualen Problematik im Werk. Es geht dabei um den mehr oder weniger expliziten Verweis der Texte auf Mehrsprachigkeit und auf das Motiv von Sprache(n) als Vehikel von Alterität, Differenz und Pluralität. In der Forschung wird diese reflexive Ebene häufig als Metamultilingualismus bezeichnet, 237 ein Begriff, der hier übernommen werden soll. Der Begriff ›Metamultilingualismus‹ bezeichnet grundsätzlich jede Form der Reflexion über die Sprache(n) des literarischen Schreibens in einem Denk‐ rahmen, der über die Grenzen der so genannten Muttersprache hinausgeht. Er unterscheidet sich insofern von manifester Mehrsprachigkeit, als er ohne eigentliche Sprachmischung auskommen kann. Jedoch gehört er auch nicht in den Bereich der latenten Mehrsprachigkeit, da dabei nicht nur die menschliche Sprache an sich, sondern immer wieder konkrete einzelne (Fremd-)Sprachen in den Texten benannt oder angesprochen werden. Es handelt sich folglich beim Metamultilingualismus um einen separaten Untersuchungsbereich, selbst wenn sich dieser punktuell mit den anderen Ebenen überschneiden kann. Im vorliegenden Kapitel wird sich der Fokus nicht nur auf die bereits zitierten poetologischen Schriften, sondern auch, ja vor allen Dingen, auf das Korpus der Gedichte richten, in denen an vielen Stellen Mehrsprachigkeit explizit thematisiert wird. Betrachtet man Paul Celans Lyrik mit Menninghaus als ihre eigene »Metapoesie«, 238 so erscheint es als unerlässlich, seine Gedichte - zuvorderst das autorisierte Œuvre und zur Ergänzung die Nachlasstexte - unter dem Blickwinkel der multilingualen Sprachreflexion zu untersuchen. So gilt es zu prüfen, inwiefern diese Texte das in der vorliegenden Studie gezeichnete Bild von Mehrsprachigkeit als essenziellem Bestandteil von Celans Schreiben metapoetisch unterstützen. <?page no="126"?> 239 Siehe Evelyn Dueck/ Sandro Zanetti, »Einleitung«. In: Dies. (Hrsg.), Paul Celans Theorie der Dichtung heute, S.-7-17. 240 Siehe hierzu auch allgemein David Gramling, The Invention of Multilingualism, Cambridge: Cambridge Université Press, 2021, S. IX. In diesem Zuge soll der Beweis erbracht werden, dass sich die im Medium einiger öffentlicher Stellungnahmen erfolgte Selbstdarstellung des Dichters als einsprachiger Autor in der Poetik der Gedichte nicht durchweg verifizieren lässt. In vielerlei Hinsicht stellt die Metapoetik der Gedichte vielmehr regelrecht einen Kontrapunkt zu den außerhalb des eigentlichen literarischen Werkes ein‐ genommenen Positionen dar. Die Analyse textübergreifender sowie textinterner Mehrsprachigkeit in den Kapiteln 4-6 wird es im Anschluss erlauben, diesen poetologischen Ansatz auf Celans gesamte literarische Praxis auszuweiten. Die hierbei auftretenden Widersprüche oder Antinomien erklären sich zum einen aus der eingangs erwähnten aporetischen Verfasstheit von Celans Be‐ ziehung zur deutschen Sprache. In diesem Punkt schließen die folgenden Ausführungen direkt an die Einleitung an. Zum anderen ergeben sich solche Divergenzen aus der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit der Suchbewegung, als die man seine poetologischen Positionsbestimmungen auffassen kann. Inso‐ fern wäre es sicherlich müßig, aus seinem Werk ein kohärentes Theoriegebäude ableiten zu wollen. 239 Nichtsdestoweniger lassen sich in seinen Texten, nament‐ lich in den Gedichten, metapoetische Aussagen entdecken, mit denen sich die in diesem Buch vertretene These von der multibzw. translingualen Verfasstheit seines Schreibens belegen und veranschaulichen lässt. Neben sprachkritischen und sprachskeptischen Positionen gegenüber der deutschen Muttersprache und der Sprache an sich lässt sich so in seiner Lyrik eine produktive, ja affir‐ mative Funktionsbestimmung sprachlicher Differenz, Alterität und Pluralität nachweisen. Bereits 1988 hatte Bayerdörfer in einem wegweisenden Beitrag auf diesen Zusammenhang zwischen den »tausend Finsternisse[n] todbringender Rede« (GW III, 186), die laut der Bremer Rede (1958) auf der deutschen Sprache lasteten, und der Rolle anderer, ›fremder‹ Sprachen in Celans Schreiben hingewiesen. Von der historischen und persönlichen Sprachkrise führt ein direkter Weg zu mehrsprachigen Schreibverfahren, so die seinen Analysen zugrunde liegende These, die nun ausgebaut werden soll. 240 Somit definiert Bayerdörfer die Tat‐ sache, »daß in einer Zeit nach dem von Deutschland ausgegangenen Genozid die eine, deutsche Sprache der historischen Situation nicht mehr gewachsen 126 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="127"?> 241 Bayerdörfer, »Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945«, S. 52. ist«, als eine »poetische Voraussetzung« für die polyglotte Literaturpraxis des Dichters. 241 Ausgehend von dieser grundlegenden Einsicht lässt sich in Celans Werk auf metamultilingualer Ebene eine poetologische Grundkonstellation ausmachen, die wie folgt zusammengefasst werden könnte: Die multilingual-sprachskepti‐ sche Infragestellung des Deutschen, so wie sie in Celans Werk an vielen Stellen sichtbar wird, führt über den Einsatz insbesondere jüdischer (Gegen-)Sprachen und den Rückgriff auf jüdisches Sprachdenken mit den daraus entlehnten sprachmystischen Vorstellungen und Symbolen letztlich zur expliziten Anwei‐ sung an den Rezipienten, seine Gedichte mehrsprachig zu lesen. Durch die Er‐ weiterung auf Celans gesamten Sprachkosmos lässt sich daraus eine allgemeine Poetik ableiten, deren Grundlagen im vorliegenden Kapitel erarbeitet werden sollen, um sie später auf einer möglichst breiten Textbasis zu veranschaulichen und zu verifizieren. Die für die metamultilinguale Ebene relevanten Stellen werden in den fol‐ genden Ausführungen kontextualisierend interpretiert, ohne dass durchgängig eine Gesamtinterpretation der verschiedenen Gedichte angestrebt würde. Ein solcher Ansatz ist aus den bereits weiter oben genannten Gründen nur in Einzelfällen möglich. Die in diesem Kapitel praktizierte Methode versteht sich zuvorderst als synthetisch und verfährt dabei weitestgehend thematisch-mo‐ tivisch sowie problemorientiert. Im Zentrum steht wie erwähnt die Frage, inwiefern die Metapoetik der Gedichte sich als Relativierung der in der Rezep‐ tion bislang maßgeblichen Antwort auf die Flinker-Umfrage verstehen lässt. Was Celans metalinguale Charakterisierung seiner Zweitsprachen Rumänisch und Französisch angeht, wird diese später im Zusammenhang mit seinem exophonen Schreiben (s.-4.3) eingehender behandelt werden. 3.1 Sprache(n) metalingual 3.1.1 Sprache(n) bei Celan Sprach(be)nennung Im Hinblick auf die Erscheinungsformen des Metamultilingualismus in Ce‐ lans Lyrik fällt auf einer basalen Ebene zunächst die wiederholt auftretende metasprachliche Benennung anderer Sprachen innerhalb der Gedichte ins Auge. Dazu gehören namentlich Französisch (GW I, 31, V. 6+11), Russisch 3.1 Sprache(n) metalingual 127 <?page no="128"?> 242 Siehe hierzu die näheren Ausführungen im Abschnitt 3.2.3. 243 Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale. Hrsg. von Tullio De Mauro. Paris: Payot, 1995 [1916]. (GW I, 261, V. 10, metonymisch auch als »Kyrillisches«, GW I, 287ff., V. 57), Englisch (GW VII, 253), Spanisch (GW I, 270, V. 11), Hebräisch (GW II, 63, V. 19) und Dänisch (GW II, 78f., V. 37). In das Feld der Sprach(be)nennung gehört ebenfalls ein Ausdruck wie »Judenwelsch« (GW VII, 54, Titel), der auf das Jiddische und das Französische zugleich bezogen werden kann. 242 Solche metamultilinguale Referenzen in den Gedichten spiegeln gleichsam die direkte Verwendung der entsprechenden Sprachen im Schreibprozess wider. Doch ist diese metasprachliche Präsenz von ›Fremd‹-Sprachen im Korpus seltener zu beobachten als das weiter unten im fünften Kapitel behandelte manifeste Auftreten von aus diesen Sprachen stammenden Wörtern. Der kreative Umgang mit dem vielfältigen Sprachmaterial im Schreibprozess, so könnte man sagen, dominiert bei Celan über dessen im weitesten Sinne linguistische Einordnung unter dem Gesichtspunkt der Sprachigkeit. Neben der namentlichen Erwähnung einer Vielzahl von Einzelsprachen lassen sich in Celans Werk natürlich zahlreiche Stellen mit dem allgemeinen Lexem ›Sprache‹ und dessen Derivaten ausmachen. Mit diesen Wörtern wird nicht nur das menschliche Sprachvermögen an sich angesprochen, darüber hinaus werden immer wieder konkrete Sprachen wie das Deutsche und andere »mitgewandert[e] Sprache[n]« (GW II, 85, V. 10) aufgerufen. Eine solche The‐ matisierung von Sprache(n) wirft dabei die grundsätzliche Frage auf, inwiefern im Einzelfall tatsächlich sprachliche Alterität, Diversität und Pluralität adres‐ siert wird. Denn in der deutschen Semantik wird die in der Sprachwissenschaft grundlegende und auf Saussure zurückgehende Unterscheidung von langage (allgemeines Sprachvermögen), langue (historisch gegebene Einzelsprache) und parole (individuelle Rede) nicht unbedingt sichtbar. 243 Daher bleibt im Wort‐ schatz Celans häufig die Frage offen, ob es sich bei ›Sprache‹ um die Vielfalt der historischen Kultursprachen, die deutsche Muttersprache oder womöglich ein abstraktes ›Mentalesisch‹ (lingua mentis, language of thought) handelt. In gewisser Weise scheint die zwiespältige Position des Dichters zwischen Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit bereits in der Offenheit des deutschen Begriffs ›Sprache‹ angelegt zu sein, mit dem sowohl Sprache an sich (d. h. Sprache sozusagen als Abstraktum) als auch das konkrete Sprechen im Zeichen von sprachlicher Identität und Alterität gemeint sein können. Als eng verwandt mit dem Lexem ›Sprache‹ erscheinen das lyrische Gesamt‐ werk durchziehende Wörter wie ›Mund‹ (s. u. a. »Landschaft«, GW II, 59, V. 7), ›Zunge‹ (s. u. a. »Give the word«, GW II, 93, V. 19) und ›Lippe‹ (s. insb. »Mit zeit‐ 128 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="129"?> 244 Bei ›Lippe‹ wird die semantische Nähe zu ›Sprache‹ dadurch verstärkt, dass es sich im Hebräischen um dasselben Wort ( הפש / safa) handelt, was auf das Phänomen des impli‐ ziten Bilingualismus (s.-5.3.3) vorausverweist. 245 Siehe Till Dembeck, »Sprachliche und kulturelle Identität«. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-27-33, hier S.-28. roten Lippen«, GW I, 136). 244 Solche auf die Körperlichkeit der Spracherzeugung verweisende Wörter, die insgesamt mehrere Dutzend Male im Korpus auftreten, dienen zwar nicht speziell der Markierung einer mehrsprachigen Dimension in den Texten. Dennoch gibt es auch hier einige für die Mehrsprachigkeitsproble‐ matik relevante Beispiele. Eines davon ist das Gedicht »In eins« (GW I, 270), in dem der Ausdruck »Herzmund« (V. 1) direkt zum Konzept des Schibboleth hinführt, das für Celans Denken der Sprachdifferenzen hochrelevant ist (s. 3.2.1). Eine ähnliche Konstellation liegt im Gedicht »Hinausgekrönt« (GW I, 271) vor, wo der Ausdruck »verschilfte[] Lippen« (V. 23) in unmittelbarer Nähe zur Erwähnung der russischen und italienischen Sprache auftaucht (s. V. 22-24). Über die biblische Geschichte Moses - insbesondere über den Bezug zu seiner Aussetzung als Kind im Weidenkörbchen und die Erzählung vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten -, könnte die Präsenz des Schilfs in dieser Passage auf die Exil-Thematik bezogen werden. Unter diesem Gesichtspunkt würden das Bild der ›verschilften Lippen‹ indirekt auf die Problematik der Mehrsprachigkeit verweisen. Eine solche Verbindung der Themen ›Migration‹ und ›Sprachenvielfalt‹, wie sie im eben genannten Beispiel über die Quelle des Pentateuch deutlich wird, wird auch durch einen Vergleich mit dem Gedicht »Osterqualm« (GW II, 85) nahegelegt, in dem es heißt: »wo du Wüstenbrot bukst / aus mitgewanderter Sprache«, V. 9-10, s. 3.2.3). Erneut erscheint hier die biblische Erzählung vom Exodus im Hintergrund präsent. Mit den Menschen, so wird hier deutlich, tritt auch deren Sprache die lange Wanderung durch die Wüste in die Fremde bzw. in das gelobte Land an. In diesem Zusammenhang muss auch der Topos der »wandernden Worte« (V. 24) Erwähnung finden, der am Ende des Gedichts »Sprich auch du« (GW I, 135) aus dem Band Sprachgitter aufgerufen wird. Unter dem Begriff der verba peregrina wurde in der antiken Rhetorik die Problematik der ins Lateinische ›migrierten‹ Wörter verhandelt. 245 Exil und Mehrsprachigkeit erscheinen somit an dieser Stelle erneut als eng miteinander verschränkt. Im Bild der ›Dünung‹ kommt in diesen Zeilen zudem die Kraft zum Ausdruck, die solchen sprachlichen Transferprozessen innewohnen kann. An dieser Stelle kann am Rande erwähnt werden, dass das naturgemäß eng mit der Mehrsprachigkeit verbundene Thema der Übersetzung vor allem durch seine fast vollständige Abwesenheit im Gedichtwerk auffällt. Celans Gedichte 3.1 Sprache(n) metalingual 129 <?page no="130"?> 246 Beyer, »Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan«, S.-57. stechen nicht durch die Präsenz von Übersetzungsszenen oder Übersetzungs‐ reflexionen hervor, sondern, wie noch zu zeigen sein wird (s. 6.2), durch die praktische Einbeziehung übersetzerischer Verfahren in die Textgenese. Auf der metasprachlichen Ebene ist die Problematik des Übersetzens im Grunde nur über den traditionellen Topos der den Strom überquerenden Fähre (»Dein vom Wachen«, GW II, 24, V. 10) und die Figur des Fergen (»Von Dunkel zu Dunkel«, GW I, 97, V. 6, »Stille«, GW II, 170, V. 1) präsent, ohne dabei explizit mit der multilingualen Thematik verknüpft zu sein. Poetologisch wesentlich aufschlussreicher sind die übersetzungspoetischen Bemerkungen in Celans Briefen, in denen er sich zum Teil explizit auf theoretische Modelle und Vorbilder bezieht (s. u.a. Briefe, 419). Zur Vervollständigung dieses Panoramas der Sprachmetaphorik in den Ge‐ dichten muss zuletzt das Wortfeld ›Atem‹ erwähnt werden, das in Celans Poetik bekanntlich eine herausragende Rolle spielt, wie schon aus Band- und Zyklustiteln wie Atemwende und Atemkristall ersichtlich wird. Die Verbindung von ›Atem‹, ›Sprache‹ und ›Dichtung‹ wird insbesondere in folgender Notiz aus den Meridian-Materialien deutlich: »›Was auf der Lunge, das auf der Zunge‹ pflegte meine Mutter zu sagen […] auf Atemwegen kommt es, das Gedicht, pneumatisch ist es da« (TCA, M, 108, Hervorhebung im Original). In diesem Zusammenhang berührt die Denkfigur des Atems ebenfalls den Bereich des Metamultilingualismus. In seiner griechischen Form ›pneuma‹ verkörpert der Atem nämlich die Idee einer latent-permanenten Präsenz des Jüdischen - und also des Hebräischen - in den Gedichten, wie eine bereits zitierte Äußerung Celans zeigt (Mikrolithen, 217). Obwohl auf das engste mit den Motiven ›Sprache‹ und ›Dichtung‹ verknüpft, erscheint das Bild des Atems allerdings nicht als zentral für die metamultilinguale Problematik. Generell erweist sich die Atem-Metaphorik als zu abstrakt, so kann vermutet werden, um in den Texten zur Markierung von sprachlicher Alterität und Differenz dienen zu können. Trotz dieser notwendigen Einschränkungen, was die metapoetische Bedeu‐ tung der zitierten Stellen angeht, zeigen all die Beispiele, dass hinter den ver‐ schiedenen Formen der Thematisierung von Sprache durchaus die Problematik von Sprachdifferenz und Sprachwechsel zum Vorschein kommt. Damit bestätigt sich eine Feststellung des Lyrikers Marcel Beyer, wonach sich hinter Celans Verwendung von ›Sprache‹ ein Prinzip der dialogischen Öffnung verbirgt. Durch diese Offenheit wird das Deutsche seiner Gedichte permanent mit anderen Sprachen in Bezug gesetzt, so Beyer. 246 Zusammenfassend könnte somit an dieser Stelle festgehalten werden, dass hinter dem Singular ›Sprache‹ bei 130 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="131"?> 247 Siehe dazu u. a. Henrik Birus, »Sprachgitter«. In: Jürgen Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«, S.-73-108, hier S.-209-224. Celan immer zugleich der Plural mitzudenken ist. Sein poetisches Sprechen lässt sich nicht auf die eine Sprache reduzieren. Oder wie der Dichter selbst schreibt: »Freilich ist hier niemals die Sprache selbst, die Sprache schlechthin am Werk, sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich« (GW III, 168). Und dieses ›sprechende Ich‹ ist, wie eingangs gezeigt, ein durch und durch multilinguales. »Sprachgitter« Ein zentrales Beispiel für die metalinguale Auseinandersetzung mit ›Sprache(n)‹ in Celans Gedichten liefert der berühmte Terminus ›Sprachgitter‹, der bekannt‐ lich vom Autor zugleich als Gedicht- (GW I, 167) und Bandtitel (erschienen 1959) benutzt wurde. Die exponierte Verwendung dieses Kompositums in seinem Werk fällt nicht von Ungefähr mit der Akzentuierung sprachreflexiver Aspekte zusammen, wie sie in der zwischen 1955 und 1958 entstandenen Gedichtsamm‐ lung insgesamt zu beobachten ist. Denn im Unterschied zum eben erörterten Phänomen der Sprach(be)nennung impliziert der Begriff ›Sprachgitter‹, wie jetzt zu zeigen sein wird, eine kritische Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens. Über Quelle und Bedeutung des Ausdrucks ›Sprachgitter‹ wird in der For‐ schung seit Jahren intensiv diskutiert, was hier nicht im Einzelnen nachge‐ zeichnet werden kann. 247 Im vorliegenden Zusammenhang maßgeblich ist vor allem die direkte Verbindung des Paradigmas sprachlicher Kommunikation mit der Idee der Trennung und Abgrenzung, so wie sie von diesem Kompositum hergestellt wird. Selbst wenn der Terminus ›Sprachgitter‹ nicht per se auf Poly‐ glossie verweist, ist er metamultilingual dadurch von Interesse, dass er über die Vorstellung des separierenden, isolierenden und rasternden Gitters eine gewisse analytische Distanziertheit gegenüber dem Medium des Schreibens in deutscher Sprache suggeriert. Insofern eröffnet dieser Begriff in metasprachlicher Hinsicht durchaus bereits den Horizont eines Rückgriffs auf andere, alternative Sprachen, wie er Celans Schreiben auszeichnet. Celans 1959 publizierter dritter autorisierter Gedichtband mit dem Titel Sprachgitter steht insgesamt unter dem Zeichen dieses sprachkritischen Kon‐ zepts. Bei der Betrachtung des gleichnamigen Gedichts aus diesem Band fällt insbesondere auf, dass es mit dem Bild des Verlustes von Sprache endet. Das Schlusswort, auf das die mit dem Titelwort ›Sprachgitter‹ eröffnete Sprach‐ problematik hinausläuft, lautet »Schweigen« (V. 19). ›Zweisam‹ und verloren 3.1 Sprache(n) metalingual 131 <?page no="132"?> 248 Siehe u. a. folgende Parallelstelle aus dem 1959 entstandenen Prosatext Gespräch im Gebirg (GW III, 169-173), in dem die jüdische Problematik explizit thematisiert wird: »Auf dem Stein bin ich gelegen, damals, du weißt, auf den Steinfliesen; und neben mir, da sind sie gelegen, die andern«. (GW-III, 172). 249 Siehe hierzu auch Kilchmanns Deutung des Gedichts »Der Reisekamerad« (GW-I, 66), Kilchmann, Poetologie und Geschichte literarischer Mehrsprachigkeit, S.-249ff. zugleich liegen zwei körpergleiche »Mundvoll Schweigen« (ebd.) auf dem Boden eines kalt und mehr als abweisend erscheinenden Raumes, der innerhalb von Celans Gesamtwerk als Verweis auf die Vernichtungslager lesbar wird: 248 - […] 15 Die Fliesen. Darauf, - dicht beieinander, die beiden herzgrauen Lachen: - zwei - Mundvoll Schweigen. (GW-I, 167, V.-15-19) Die oxymorische Verfasstheit des Ausdrucks »Mundvoll Schweigen« unter‐ streicht in diesen Schlusszeilen die Kluft zwischen der menschlichen Fähigkeit zum Sprechen an sich und der unmöglichen Freisetzung des sprachlichen Ausdrucks in der gegebenen Situation. Wie hier deutlich wird, ist das Bild des Sprachgitters also in sich widersprüch‐ lich. Es evoziert sowohl die Vorstellung einer Verbindung als auch die einer Trennung durch Sprache. Das Gitter kann Kommunikation bzw. Durchblick gewähren, es verhindert jedoch ebenfalls eine direkten Zugang bzw. hält auf Abstand. Durch einen bildhaften, vieldeutigen Ausdruck wie ›Sprachgitter‹, dem hier eine eminent poetologische Bedeutung zukommt, zeichnet sich somit - vor dem Hintergrund der Judenvernichtung - die Vorstellung von der Schwie‐ rigkeit, ja Unmöglichkeit einer natürlichen, organischen Einheit des Dichters mit ›Sprache‹ und insbesondere mit der deutschen Muttersprache ab. 249 Dieser Umstand kann als einer der poetologischen Grundpfeiler von Celans Schreiben in deutscher Sprache bezeichnet werden, mit dem er sich - zumindest implizit - von organischen (und monolingualen) Sprachkonzeptionen nationalromanti‐ scher Provenienz absetzt. In Bezug auf das Bild des trennend-verbindenden Sprachgitters, kann an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass der Dichter sicherlich zu keiner Sprache ein ›natürliches‹ Verhältnis besaß, weder zum Deutschen, von dem er als Holocaust-Überlebender entfremdet wurde, noch zum Jiddischen oder Hebräi‐ schen, zu denen er kein muttersprachliches Verhältnis aufbauen konnte. Daraus auf eine Unnatürlichkeit, ja Künstlichkeit von Celans Dichtungssprache zu 132 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="133"?> 250 Zur Bedeutung organischer und insbesondere botanischer Metaphern im Mutterspra‐ chendiskurs siehe Thomas Paul Bonfiglio, Mother Tongues and Nations: The Invention of the Native Speaker. Berlin-New York: De Gruyter Mouton, 2010, S.-142ff. 251 Siehe Claus Ahlzweig, Muttersprache - Vaterland, S.-51. schließen, erscheint aus den in der Einleitung benannten Gründen als problema‐ tisch, insofern dies stark an sprachideologische und -politische Ausgrenzungsstrategien von Autoren jüdischer Herkunft erinnert. Nichtsdestoweniger wird mit dieser Idee ein zentraler Punkt der Beziehung des Dichters zum Deutschen berührt, der gerade über den Begriff ›Sprachgitter‹ poetologische Konturen gewinnt. Mit ihm wird ›Sprache‹ nicht als organisch-holistisches Gebilde vorgestellt, sondern eben als geometrisch-abstraktes ›Gitter‹. Ein Jahre später benutzter Ausdruck wie »Zungenentwurzeln« (s. GW III, 73) aus dem Nachlasszyklus Zeitgehöft (entstanden 1968-69, veröffentlicht 1976) - lässt sich in vergleichbarer Weise als bildliche Hinterfragung sprachlicher Natürlichkeit deuten, so wie sie Celans gesamtes Œuvre durchzieht. Mit einem solchen Kompositum wird erneut ein erheblicher Abstand zur traditionellen Bil‐ dersprache des Muttersprachendiskurses markiert. 250 In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, dass der Begriff ›Mutterzunge‹ in Deutschland am Anfang der Geschichte des sprachnationalistischen Diskurses steht. 251 Zwar spielt das Motiv der Zunge im Sinne von (Einzel-)Sprache keine tragende Rolle in Celans Texten, doch gehört es als organische Voraussetzung des Sprechens eindeutig in denselben Problembereich, wobei beim ›zungenentwurzelten‹ Dichter das Sprachorgan bezeichnenderweise seine natürliche Verankerung verloren hat. Neben anderen Wortelementen weist ein Begriff wie ›Sprachgitter‹ letztlich auf den zentralen poetologischen Grundsatz hin, dass ›Sprache‹ bei Celan selten als selbstevidente Basis seiner dichterischen Existenz in Erscheinung tritt, sondern vielmehr als stets zu hinterfragende und neu zu gewinnende Aus‐ drucksform. Der Prozess einer sprachlichen Neubestimmung nach dem, »was geschah« (GW III, 186), macht sichtlich eine Distanzierung vom Medium der Muttersprache notwendig. In diesem Zusammenhang stellt die selbstgewählte Exterritorialität des Dichters ein konkretes sprachlich-räumliches Mittel dar, diese notwendig gewordene Distanz zur deutschen ›Zunge‹ einzunehmen. Diese Suche Celans nach sprachlichem Abstand vom Deutschen führt somit ins Zentrum seiner Poetik und liefert eine erste Funktionsbestimmung von Multilingualität in seinem Schreiben. 3.1 Sprache(n) metalingual 133 <?page no="134"?> 3.1.2 ›Nahfremde‹ Muttersprache Die Präsenz anderer, ›fremder‹ Idiome in Paul Celans Schreiben kann wie gesagt hauptsächlich auf zwei Faktoren zurückgeführt werden. Einerseits be‐ ruht sie grundlegend auf seiner individuellen Sprachbiographie, sprachlichen Bildung und lebenslangen Arbeit als Übersetzer. Andererseits ergibt sie sich aus seiner kritischen Distanznahme gegenüber der deutschen Sprache und der double-bind-Beziehung, die ihn seit den Gräueln der NS-Zeit mit jener verband. In gewisser Weise kann so gesagt werden, dass der von Kindheit an mehrspra‐ chige Celan immer wieder mit seiner Muttersprache ›fremdelte‹, was ihn im Gegenzug an andere Sprachen annäherte. Dieser für die Herausbildung seiner mehrsprachigen Schreibweise wesentliche Zusammenhang soll im Folgenden näher bestimmt werden, wobei zuerst das Verhältnis zum Deutschen als Mutter- und Tätersprache im Zentrum stehen soll. In der Sprache der Täter Bei Celans Spracheinstellung geht es um weit mehr als die allgemeine Hassliebe zum Medium der Sprache, die avancierte Literatur oft auszeichnet. Denn mit ›Sprache‹ ist bei ihm immer die deutsche Sprache in ihrer konkreten histori‐ schen Situation mitgemeint, was im Kontext der deutschen Nachkriegsliteratur natürlich die Frage der Schuld an den NS-Verbrechen impliziert. Durch sein gesamtes Werk hindurch, so kann man sagen, entwickelt Celan eine Poetik, deren explizites Ziel es ist, sein dichterische Sprechen so weit wie möglich von denen abzugrenzen, die er als Mitverantwortliche, Leugner oder Beschöniger des Mordes an seiner Mutter bzw. des Todes seiner Eltern betrachtete. In diesem Sinn fühlt sich Celans Dichtung grundsätzlich der geschichtlichen und menschlichen Wahrheit verpflichtet, wodurch die ethisch-moralische Ebene seines Schreibens in den Vordergrund tritt. »Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte« (GW III, 177), erklärt er so 1960 in seinem berühmten Brief an Hans Bender, in dem er die Vorstellung des Gedichts als »Händedruck« entwickelt. Die lügnerische Rede soll »weggebeizt« werden vom »Strahlenwind« (GW II, 31, V. 1-2) seiner eigenen Dichtungssprache, um Platz zu machen für sein »unumstößliches / Zeugnis« (GW II, 31, V. 20-21), wie es in dem poetologisch zentralen Gedicht »Weggebeizt« aus dem Jahr 1963 heißt. Dabei wird Celans Schreiben freilich mit der grundsätzlichen Komplizen‐ schaft der deutschen Sprache an den in deutschem Namen verübten Morden 134 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="135"?> 252 Siehe hierzu allgemein Stephan Braese (Hrsg.), In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998. 253 Siehe Emmerich, Nahe Fremde. konfrontiert. 252 »Wessen Hand habe ich gedrückt, da ich mit deinen Worten ging nach Deutschland? «, so richtet er sich in dem Nachlassgedicht »Wolfsbohne« (GW VII, 45 ff.) an seine ermordete Mutter und spricht damit die von ihr ererbte (Mutter-)Sprache an, in der er seine Gedichte schreibt. Bereits in »Nähe der Gräber« aus dem Frühwerk (Der Sand aus den Urnen, 1948) taucht die bange Frage auf: »Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim? « (GW III, 20, V. 9-10). Vor dem Hintergrund der an den Juden verübten Verbrechen wird dort die Tradition deutscher Lyrik radikal infrage gestellt. Neben dem konkreten Verweis auf »Deutschland« in »Todesfuge« (GW I, 41 f., V. 6 et passim) - wohlbemerkt als Ursprungsland des Todes (»der Tod ist ein Meister aus Deutschland«) - handelt es sich hier um die einzige Nennung von ›deutsch‹ innerhalb des zu Lebzeiten publizierten Œuvres. Vom Frühwerk, dessen zentrales Datum die Ermordung der Eltern im Jahr 1942 bildet, über den Zeitraum von Die Niemandsrose um das Jahr 1960, der Hochphase der Plagiatsaffäre, bis zum Spätwerk ab Mitte der 1960er Jahre, in dem das Deutsche an den Rand seiner Möglichkeiten gebracht wird, verbindet der Dichter die von ihm beibehaltene ›Mördersprache‹ durchweg mit der Figur der toten Mutter. Dabei unterstreicht er immer wieder die Verstrickung der deutschen Sprache mit den Verbrechen der Nationalsozialisten sowie die ›Schmerzlichkeit‹, ja die Fragwürdigkeit seines Unterfangens, als jüdischer Überlebender nach wie vor auf Deutsch zu dichten. Wie in seiner Beziehung zu Deutschland und dem Deutschen allgemein unterhält der Dichter mit der deut‐ schen Sprache eine Relation der ›Nahen Fremde‹, um den Titel von Wolfgang Emmerichs wichtiger Studie über »Celan und die Deutschen« zu zitieren. 253 In diesem Zusammenhang kann beobachtet werden, wie diese beiden Pole in Celans poetologischen Positionsbestimmungen immer wieder zur Überlagerung gebracht werden, sodass die Sprache seiner Dichtung gleichzeitig als ›nah‹ und ›fremd‹ erscheint. Für den jüdischen Autor ist das Deutsche gewissermaßen immer Heimat und Exil zugleich, wie es unter anderem der Passus »Heimat-/ waage Exil« aus dem Gedicht »Und mit dem Buch aus Tarussa« (GW I, 287 ff., V. 48-49) suggeriert. Eine unüberschreitbare Grenze bei der Distanznahme gegenüber der Muttersprache bildet freilich die grundsätzliche Unmöglichkeit, auf das Deutsche als Literatursprache zu verzichten, wie der Dichter immer wieder unterstrichen hat. Trotz aller ›Befremdung‹ bildet das Festhalten an 3.1 Sprache(n) metalingual 135 <?page no="136"?> 254 Siehe u. a. Jürgen Schiewe, Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck,1998. S.-151f. dieser Sprache gleichsam die Möglichkeitsbedingung für sein dichterisches Sprechen. Das Deutsche als ›Muss‹ Es sei an dieser Stelle nochmals jene zentrale Stelle aus Celans Brief an Max Rychner aus dem Jahr 1946 zitiert, in dem es heißt: »Ich will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben. […] Aber mein Schicksal ist dieses: deutsche Gedichte schreiben zu müssen« (Briefe, 27). Wobei im Anschluss an diese Passage erneut die deutsche »Hand« angesprochen wird, deren Berührung seine Gedichte und ihre Sprache zu kompromittieren droht. Eine solche Komplizenschaft des Deutschen mit den NS-Verbrechen scheint ebenfalls in folgender Zeile aus dem 1952 entstandenen Gedicht »Nächtlich geschürzt« aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle zum Ausdruck zu kommen: »Ein Wort - du weißt: / eine Leiche.« (GW I, 125, V. 21-22), womit auf die »tausend Finsternisse todbringender Rede« (GW III, 186) aus der Bremer Rede vorausgewiesen wird. Die Verbindung zur Danksagung anlässlich der Entgegen‐ nahme des Bremer Literaturpreises stellt sich auch insofern her, als die Gefahr des »Verstummen[s]« (GW III, 186) der Dichtung in dieser Rede unmittelbar mit den nationalsozialistischen Hetzparolen und Verbrechen assoziiert wird. Implizit nähert sich der Dichter mit diesen Äußerungen an die humboldtsche Tradition der Sprachphilosophie an, in der Sprache, Denken und Kultur als untrennbare Einheit aufgefasst werden. 254 In einem solchen sprachphilosophi‐ schen Rahmen kann die deutsche Sprache - und speziell die Sprache der deutschen Lyrik - unmöglich von den im Namen Deutschlands verübten Verbrechen getrennt werden. Die konsequenteste Schlussfolgerung daraus wäre der definitive Wechsel in eine andere Literatursprache. Diesen Weg hat Celan bekanntlich nicht beschritten. Mehr noch, im Kontext der Goll-Affäre führte sein Kampf für dichterische Wahrheit und Authentizität zu seiner prominenten Frontstellung gegen Zweisprachigkeit, die von ihm als Ausdruck sprachlicher Duplizität zurückgewiesen wird. Mithin stellt seine berühmte Antwort auf die Flinker-Umfrage zweifelsohne - wenn auch ex negativo - die expliziteste metamultilinguale Stellungnahme des Autors dar, an der sich jeder Versuch, Celans Mehrsprachigkeit zu würdigen, positiv hervorzuheben oder gar zum poetischen Programm zu erklären, zwangsläufig abarbeiten muss. Aufgrund der ›schicksalhaften‹ Verbindung des Dichters mit der einen deut‐ schen Sprache, so geht aus diesem Statement hervor, würde jedes Ausweichen 136 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="137"?> in eine andere Sprache das poetische Sprechen in eine Lüge verwandeln. Nur (deutsche) Einsprachigkeit scheint dichterische Wahrheit zu ermöglichen. Doch sollte dieses Äußerung Celans, die, wie bereits unterstrichen wurde, nicht zuletzt als Reaktion auf die Anfeindungen durch das ›Goll-Lager‹ gelesen werden muss, keineswegs isoliert betrachtet werden, da sonst die Komplexität, ja Wider‐ sprüchlichkeit seiner Spracheinstellung aus dem Blickfeld gerät. Im Folgenden soll diese öffentliche Positionierung daher mit anderen, oftmals nicht weniger deutlichen Passagen - vornehmlich aus dem lyrischen Œuvre - konfrontiert werden, die Celans Selbstdarstellung als monolingualer Dichter zu nuancieren und zu relativieren erlauben. In diesem Zusammenhang soll zunächst die Thematik bzw. Semantik von Sprachnot, Sprachverlust und anschließender Sprachrückgewinnung angesprochen werden, die im Werk insgesamt einen großen Raum einnimmt. 3.1.3 Glossolalie und Babel Wie aus dem Vorangegangenen geschlossen werden kann, lässt sich Paul Celans Statement in der Flinker-Frage aus dem Jahr 1961 kaum auf die Idee eines selbstzufriedenen dichterischen ›Wohnens‹ in der deutschen Sprache zurückführen. Vielmehr lässt sich beobachten, wie die ursprüngliche Option für Einsprachigkeit den Dichter gleichsam sprachlich in die Enge trieb. Nach den zwölf Jahren der NS-Zeit gab das Deutsche, wie er schreibt, »keine Worte her für das, was geschah« (GW III, 186). Die hergebrachte deutsche Sprache schien der neuen historischen Situation nicht mehr angemessen. Aus dieser an vielen Stellen thematisierten sprachlichen ›Notsituation‹ resultiert eine Suche nach neuen Ausdrucksformen, die das dichterische Sprechen über die Muttersprache hinaus an den Rand von Sprache überhaupt führt, bis sich dann schließlich neue sprachliche bzw. mehrsprachige Horizonte jenseits des Deutschen eröffnen. Sprachkrise und Sprachsuche Im Anschluss an das in der Bremer Rede aus dem Jahre 1958 artikulierte Motiv der Sprachlosigkeit, das unter anderem in einem Gedicht wie »Es war Erde in ihnen« wieder aufgenommen wird (GW I, 211, V. 7-10), können in den Texten der nachfolgenden Schaffensperiode Celans zahlreiche Figurationen der Suche nach alternativen Formen des Sprechens ausgemacht werden. Diese Thematik tritt insbesondere in Form von unter anderem mit der Glossolalie (oder Zungenrede) verwandten Ausdrucksformen wie ›Lallen‹ (GW I, 226, V. 20), ›Stottern‹ (GW II, 349, Titel, 357, V. 12, II, 120, V. 16) und ›Brabbeln‹ (GW II, 200, V. 1) sowie als ›Gewieher‹ (GW I, 213, V. 11, II, 58, V. 7, 158, Titel) oder ›Quieken‹ (GW II, 343, 3.1 Sprache(n) metalingual 137 <?page no="138"?> 255 Siehe Robert Stockhammer, Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte der sprachlichen Institution. Frankfurt a.-M.: Suhrkamp, 2014, S.-303. 256 Marlies Janz, Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt-a.-M.: Syndicat, 1976, S.-139ff. 257 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S. 30, Fußnote 133. Vgl. Bayerdörfer, »Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945«, S.-53. V. 2) in Erscheinung. Im antiken Griechenland galten solche Ausdrucksformen bekanntlich als Merkmale der barbarophonoi. Dieser Topos diente dazu, fremde Menschen aufgrund ihrer sprachlichen Andersartigkeit auszugrenzen, ja sie in den Bereich des Tierischen zu verweisen. 255 Diese Tradition lebte bis ins 20.-Jahrhundert hinein in vielen Sprachideologien weiter. Anders verhält es sich im Werk Celans, der sich nach der Bankrotterklärung deutscher Hochkultur während der NS-Zeit auf ewig mit den »mauschelnden und kielkröpfigen Toten von Auschwitz und Treblinka« (TCA, M, 127) ver‐ bunden wusste. Im Kontext seiner Lyrik eignet solchen Ausdrucksformen am Rande der Sprache immer auch ein emanzipatorisches Potential, wobei er das Erbe der historischen Avantgarden mit der Erfahrung von NS-Herrschaft und Exil verknüpft. Daher besitzen die genannten Motive der Sprachregression in seiner Poetik nicht nur eine sprachkritische und -skeptische, sondern auch eine sprachutopische Dimension. In ihrer 1976 erschienen Dissertation, einer der Meilensteine der frühen Celan-Forschung, hatte Marlies Janz das Lallen in Celans Gedichten als »so‐ matisch-kreatürliche Sprache« bezeichnet und es dabei vor dem Hintergrund des Jiddischen in die Nähe der Thematik von Sprachzerstörung und Sprach‐ verlust gerückt. 256 Die sowohl semantische als auch werkimmanent-poetische Nähe von ›Lallen‹, ›Gewieher‹ und ›Quieken‹ bei Celan unterstützt diese Sichtweise. Bei solchen elementaren Lautäußerungen, die spätestens seit der transnational-sprachmischenden Dada-Bewegung zu poetischen Weihen ge‐ kommen sind, wird das dichterische Sprechen auf die Stufe des infans gestellt. Entgegen einer Abqualifizierung als sprachliches Unvermögen wird diese Form der Regression somit ebenfalls als Versuch einer sprachlichen Regeneration bzw. eines sprachlichen Neuanfangs erkennbar. Im Kontext des jüdischen Sprachdenkens hat Irene Fußl ihrerseits die Motive des Wieherns, Lallens und Stotterns als »Umschreibungen der adamitischen Sprachen« 257 interpretiert. Diese sprachmythische Perspektive schließt sich an die obige Deutung an, insofern sie impliziert, dass es sich bei diesen Motiven nicht nur um die Beschreibung einer Verlusterfahrung oder Sprachnot handelt. Vielmehr beziehen sich diese Ausdrucksformen darüber hinaus auf die Vorstel‐ 138 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="139"?> 258 Zu diesem sprachphilosophischen und kulturhistorischen Topos siehe allgemein Um‐ berto Eco, La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea. Rom-Bari: Laterza, 1993. 259 Gérard Genette, Mimologiques. Voyage en Cratylie. Paris: Le Seuil, 1976. 260 Clemens J. Setz, Die Bienen und das Unsichtbare. Berlin: Suhrkamp, 2020, S.-162-163. 261 Siehe auch Barbara Wiedemann, »›Ins Hirn gehaun‹. Paul Celans Deutung des Wahnsinns«. Germanisch-romanische Monatsschrift, 54, 2004. S.-433-452. lung von der Rückkehr zu einer vergangenen, anderen Sprache, die für eine Art sprachliche ›Unschuld‹ steht. Über Celans Interesse für jüdische Sprachmystik und die Kabbala ergibt sich hier eine Verbindung zum Topos der Suche nach der vollkommenen Sprache als Mittel zur Wiederherstellung einer verlorenen ursprünglichen Einheit. 258 In diesem Zusammenhang kann auch Celans im Umfeld der Meridian-Rede notierte und auf Paul Valéry (1871-1945) zurückgehende Äußerung zum Gedicht als »Sprache in statu nascendi« (Mikrolithen, 98) erwähnt werden. Der Ausdruck verweist an dieser Stelle auf den Topos des »ursprünglichen Sprechen[s]« (ebd.). Valérys an den Symbolismus anschließende Poetik gehört zum Paradigma des modernen, ›sekundären‹ Kratylismus, wie er von Gérard Genette beschrieben wurde. 259 Nach dem Verlust der adamitischen Sprache fällt laut diesem Ansatz dem Dichter die Aufgabe zu, die verlorene Einheit von Wort und Wirklichkeit mit den Mitteln der Dichtung wiederherzustellen. An diese Konzeptionen scheint der deutsche-jüdische Lyriker trotz aller Distanz zur symbolistischen Schule wieder anzuknüpfen, indem er sie unter anderem mit dem für ihn zentralen Totengedenken verknüpft (s. Mikrolithen, 427-428). Die Idee eines »ursprünglichen Sprechen[s]« (Mikrolithen, 98) bildet daneben einen Gegenpol zum Bild von »verdorben-vergällter / Sprache«, das im späteren Gedicht »Heute« (GW-II, 47, V.-19-20) auftaucht. Sprachregression als Sprachrückgewinnung Neben den Bezügen zum sprachphilosophischen und kulturhistorischen Topos der natürlichen, ursprünglichen Sprache bzw. Ur-Sprache kann man unartikuliertes Lallen, kindisches Brabbeln und tierisches Gewieher also als Ausdrucksformen sprachlicher Regression auffassen. In einem literarischen Essay über erfundene Sprachen hat der österreichische Schriftsteller und Büchner-Preis-Träger Clemens J. Setz jüngst auf »die Verbindung zwischen spontaner Wörter- und Spracherfindung und tiefer existenzieller Krise« 260 hingewiesen. 261 Dabei stellt er fest, dass das Hervor‐ bringen scheinbar sinnloser Silben ein Betätigungsfeld ist, das sowohl die niedrigsten als auch die höchsten Stufen geistiger Entwicklung umspannt, also sowohl im Sprechen von Kleinkindern als auch in großer Dichtung anzutreffen ist. 3.1 Sprache(n) metalingual 139 <?page no="140"?> 262 Siehe Bernhard Böschenstein, »L’involution - réponse à une constellation biogra‐ phique. À propos de la genèse du ›Méridien‹«. In: Andrei Corbea-Hoisie (Hrsg.), Paul Celan. Biographie und Interpretation. Konstanz: Hartung-Gorre, 2000, S.-193-200. Diese allgemeine Einsicht ist ebenfalls für Celans Schreiben relevant, wobei sofort an eine lautmalerische Wortschöpfung wie »Huhediblu« im gleichnamigen Gedicht (GW I, 275ff.) gedacht werden kann, das - wie im zweiten Kapitel gesehen - von tiefster existenzieller Verunsicherung geprägt ist. Solche Prozesse der Sprachsuche und -findung werden aber auch anderen Stellen in Celans Werk sichtbar. Unter Rückgriff auf Hölderlin findet diese regressive Sprachlogik ihre sicherlich radikalste Ausformung im Schlussteil des Gedichts »Tübingen, Jänner« aus dem Band Die Niemandsrose. Dort ist zu lesen: - […] - Käme, - käme ein Mensch, - käme ein Mensch zur Welt, heute, mit 15 dem Lichtbart der - Patriarchen: er dürfte, - spräch er von dieser - Zeit, er - dürfte 20 nur lallen und lallen, - immer-, immer - zuzu. - - - (»Pallaksch. Pallaksch.«) (GW-I, 226, V.-12-23). Im Wirklichkeitsentwurf dieses Gedichts scheint das (dichterische) Sprechen nur noch als »Lallen« (V. 20) möglich zu sein, wobei letzteres an die ›Privat‐ sprache‹ des Dichtervorfahrens Hölderlin (»Pallaksch«, V. 23) angenähert wird. Die Schlusszeile des Gedichts mit der markanten Wortdopplung nähert sich dem Phänomen der Echolalie an, das ebenfalls sprachregressive Züge trägt. In Paul Celans eigenen Worten könnte der im Gedicht dargestellte regressive Pro‐ zess der Sprachsuche als »Involution« (TCA, M, 123-124) bezeichnet werden. Diese spielt in seiner Poetik insofern eine tragende Rolle, als sie dem Versuch geschuldet ist, eine Verbindung zum Reich der Toten herzustellen. 262 Im Kontext von Celans Biographie muss hier natürlich zuvorderst an die ermordete Mutter gedacht werden. Die an vielen Stellen inszenierte Sprachregression erhält auf diese Weise nicht zuletzt ein orphisches Element. 140 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="141"?> 263 Andere mögliche - intra- oder translinguale - Interpretationen dieses Wortes werden an dieser Stelle bewusst ausgeblendet. 264 Brigitta Busch/ Thomas Busch, »Die Sprache davor. Zur Imagination eines Sprechens jenseits gesellschaftlich-nationaler Zuordnung«. In: Bürger-Koftis/ Schweiger/ Vlasta (Hrsg.), Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität, S.-81-103. Aufschlussreich für die im vorliegenden Zusammenhang relevante Proble‐ matik des Metamultilingualismus ist vor allen Dingen die Tatsache, dass die in diesem Gedicht zitierte Zungenrede »Pallaksch« - wie auch die eigene Sprach‐ schöpfung »Huhediblu« - keiner Einzelsprache mehr zugeordnet werden kann und für sprachliche Alterität, Differenz, ja extreme sprachliche Fremdheit überhaupt steht. In seiner paradoxen Verschränkung von ›Ja‹ und ›Nein‹ nähert sich »Pallaksch« nicht nur prophetischer Rede, sondern auch reiner, gleichsam vorsprachlicher Expressivität (s. NKG 795) an. 263 Durch den Verweis auf Hölderlin im zitierten Gedicht tritt es nichtsdestoweniger als eine der Gestalten des dichterischen und also wahren Sprechens auf. Es überrascht daher nicht, dass diese Art vorsprachlich-regressiver Expressi‐ vität auch in anderen Texten aus Die Niemandsrose in einem durchaus positiven Licht erscheint. Das ist unter anderem der Fall in dem Gedicht »Bei Wein und Verlorenheit« (GW I, 213), wo es unter der Bezeichnung »Gewieher« (V. 11) als Gegenpol zu einer als »erlogen« bezeichneten »bebilderten Sprache« (V. 12) stark gemacht wird: - […] sie 10 schrieben, sie - logen unser Gewieher - um in eine - ihrer bebilderten Sprachen. (GW-I, 213, V.-9-13) Die Sprachregression erscheint hier nicht mehr nur als Symptom einer Sprach‐ krise, sondern als positiv besetzter Gegensatz zum niemals um Worte verlegenen Lügen. Auf diese Weise stellt die sprachliche Involution im Sinne Celans ein Vehikel zur Wiedergewinnung von Wahrheit bereit. Im Anschluss an die Arbeiten der Soziolinguisten Brigitta und Thomas Busch könnte die in diesen Passagen zum Ausdruck kommende Sprachproble‐ matik als eine Form von »präbabylonischer Phantasie« 264 bezeichnet werden. ›Präbabylonisch‹ deutet hier auf die Idee einer Rückkehr zum Zustand vor der sogenannten biblischen Sprachverwirrung hin. Solch rückwärtsgewandte Vorstellungen werden laut Busch von den Individuen insbesondere in Situa‐ tionen mobilisiert, in denen sie das Verhältnis zu bestimmten Sprachen als problematisch, konfliktträchtig oder bedrohlich erleben, was bei Celan in Bezug 3.1 Sprache(n) metalingual 141 <?page no="142"?> 265 Umberto Eco, La ricerca della lingua perfetta, S.-15f. 266 Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/ 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S.-140-157. auf das Deutsche natürlich sofort sinnfällig wird. ›Präbabylonische Phantasien‹ können dabei nicht nur als Ausdruck der Sehnsucht nach etwas Verlorenem interpretiert werden, sondern darüber hinaus als Versuch, mit sprachlichen Mitteln eine verlorene Handlungsmacht zurückzugewinnen. Babel-Motive Der Begriff ›präbabylonisch‹ verweist selbstredend auf den allbekannten bibli‐ schen Mythos vom Turmbau zu Babel. Die traditionelle Lesart der Geschichte, wie sie im 11. Kapitel des 1. Buches Mose (bzw. in der Tora) geschildert wird, besteht darin, die Zerstörung des Babylonischen Turms als Strafe für den menschlichen Hochmut, gleichsam als zweiten Sündenfall zu werten. Die (post-)babylonische Sprachverwirrung und die damit einhergehenden Verstän‐ digungsschranken zwischen den Völkern werden als göttlicher Fluch bewertet, wodurch dem Menschen der direkte Zugang zur Sphäre des Heiligen genommen ist. Wie jedoch Umberto Eco gezeigt hat, stellt diese allerorten zitierte Stelle nur eine der biblischen Quellen zur Erklärung der Verschiedenheit der menschlichen Sprachen dar. Im unmittelbaren Umfeld der Babel-Episode wird die Ausdifferen‐ zierung des Menschengeschlechts in verschiedensprachige Stämme und Idiome hingegen als ganz natürliche Entwicklung ohne jeglichen Gottesfluch darge‐ stellt. 265 Unter Verweis auf diese anderen, komplementären Bibelstellen könnte die Vielheit der Sprachen durchaus als menschlicher Reichtum - sozusagen als ›Artenvielfalt‹ der Spezies Mensch - bewertet werden. Trotzdem ist nicht zu bezweifeln, dass die negativen Visionen der soge‐ nannten Sprachverwirrung bei Weitem in der westlichen Welt vorherrschen. So bildet die Sehnsucht nach der Rückkehr zur adamitischen Ursprache einen zen‐ tralen Topos in der europäischen Kulturgeschichte. Die Suche nach der idealen Sprache wird dabei zum Inbegriff für die Wiedergewinnung der ursprünglichen Einheit ›vor Babel‹. Im 20. Jahrhundert lässt sich dieser Ansatz bei Walter Benjamin wiederfinden, unter anderem in dessen berühmtem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. 266 In einem anderen viel zitierten Text, Die Aufgabe des Übersetzers, dem Vorwort zu seinen Baude‐ laire-Übertragungen, huldigt Benjamin explizit dem Traum von einer »reinen 142 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="143"?> 267 Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/ 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S.-9-21, hier S.-13. 268 Im Titel eines anderen Frühwerk-Gedichts, »An den Wassern Babels« (GW VI, 70), bezieht sich der Name Babel nicht auf den legendären Turm, sondern auf die Erfahrung des babylonischen Exils. 269 Betrachtet man die berühmte »Schwarze Milch der Frühe« aus »Todesfuge« (GW I, 41 f.) als ›mütterlich‹ kodiert, so ergibt sich hier eine Verbindung zur Vorstellung der (Mutter-)Sprache als totbringender Substanz. 270 Im Gedicht »Hinausgekrönt« (GW I, 271) scheint sich der im letzten Vers präsente Verweis auf Babel hingegen auf das Babylonische Exil und nicht auf die eigentliche Sprachproblematik zu beziehen. Sprache«, die sich im Medium der Übersetzbarkeit gleichsam als messianische Rückkehr zur präbabylonischen Paradiessprache realisiert. 267 Auch Paul Celans lyrisches Werk verweist neben der Glossolalie immer wieder auf besagten Babel-Mythos. Schon im vermutlich um 1945 entstandenen Gedicht »Marianne«, das Ende 1952 im Band Mohn und Gedächtnis (GW I, 14) erstmals einem breiten Publikum präsentiert wurde, werden der emblematische Turm und seine Zerstörung erwähnt. Dies geschieht dort über die Analogie mit Sodom und Gomorrha: »Von Auge zu Aug zieht die Wolke, wie Sodom nach Babel: / wie Blattwerk zerpflückt sie den Turm und tobt um das Schwe‐ felgesträuch« (V. 2-3). 268 Im 1961 geschriebenen Nachlassgedicht »So [kannst du’s lesen]« (NKG, 1090) wird der Babel-Mythos über die Figur des Nimrod aus Dantes Commedia auf ähnliche Weise mit dem Motiv der Hölle verknüpft. Dieses Gedicht, auf das später ausführlicher einzugehen sein wird (s. 3.1.5), lässt eine direkte Verbindung zwischen dem Turmbau und dem Motiv der Sprachnot und Inkommunikabilität erkennen. Für alle in diesem Zusammenhang relevante Stellen aus Celans Gedichtwerk gilt, dass sich die poetologische Wertigkeit der Babel-Evokationen in ihnen durchgehend ambig bis negativ gestaltet. Das zeigt beispielsweise eine Passage wie »die Ewigkeit / blutschwarz umbabelt« (GW II, 339, V. 1-2) in einem der Texte aus dem erst nach Celans Ableben veröffentlichten Gedichtband Schnee‐ part. Im 1967 entstandenen mehrsprachigen Gedicht »Du sei wie du« (GW II, 327) lassen die Verszeilen »Schlammbrocken schluckt ich, im Turm, / / Sprache, Finster-Lisene« (V. 8-9) ebenfalls an den Babel-Mythos denken, erneut auf äußerst zwiespältige Weise. Das Symbol des Turms wird hier über das Bild des ›Schlammschluckens‹ mit der Vorstellung des Erstickens und der Sprachlosig‐ keit verbunden, 269 so wie es auch in den Versen »Sprachtürme rings / in der totzuschweigenden Zeichen-/ Zone« im Gedicht »Lichtenbergs zwölf« aus dem Band Atemwende (GW II, 91, V. 4-6) der Fall ist. 270 Diese Passagen erinnern stark an die in der Lagerliteratur rekurrente Verknüpfung des Babel-Mythos mit 3.1 Sprache(n) metalingual 143 <?page no="144"?> 271 Siehe Primo Levi, Se questo è un uomo. Turin: Einaudi, 1989 [1958], S.-33. 272 Die sich hier manifestierende Verbindung von Zerstörung und Zeugung lässt im Kontext des Gedichts erneut an die Alchemie und ihr Verfahren des ›Solve et coagula‹ denken (s. GW-II, 82+83 u. TCA, M, 65, s.-2). der Katastrophe der Judenvernichtung, wie sie beispielsweise bei Primo Levi zu finden ist. 271 Im Gedicht »In Prag« (GW II, 63) wiederum wird das Erbauen eines »Turm[s]« (V. 15), wodurch ein weiteres Mal auf den Babel-Mythos angespielt wird, mit dem Begriff »Knochenhebräisch« (V. 19) zusammengebracht. Vor dem Hintergrund der Golem-Legende erscheint letzteres »zu Sperma zermahlen« (V. 20), wodurch die jüdische Sprache als fruchtbar und todgeweiht zugleich erscheint. 272 Verkörpert das Hebräische in vielen religiösen und sprachphilo‐ sophischen Texten die Rolle einer Ursprache, so erscheint es hier - nach dem Projekt der totalen Auslöschung der Juden samt ihrer Sprache(n) - weit davon entfernt, eine Rückkehr zur Einheit mit Gott gewährleisten zu können. Diese mit dem Babelmythos verwobene Ambivalenz gehört zum allgemeinen Doppelstatus jüdischer Sprachen in Celans Werk. Diese können zwar einerseits eine (lebendige) jüdische Identität verkörpern, andererseits verweisen sie aber zwangsläufig auf die von den Deutschen in Deutschland und in einem großen Teil Europas (nahezu) ausgelöschten Sprecher dieser Sprachen. Die Zwiespältigkeit von Babel als durch den berühmten Turm verkörpertes Symbol der verlorenen Einheitssprache einerseits und der sogenannten post‐ babylonischen Sprachverwirrung andererseits macht die Deutung all dieser Textstellen höchst diffizil. Sowohl die Repräsentation sprachlicher Einheit als auch die sprachlicher Vielfalt stehen unter wechselnden Vorzeichen. Hinzu kommt die generelle Möglichkeit, dass die Referenz auf Babel als Signum einer noch viel umfassenderen Katastrophe, namentlich der Judenvernichtung, zu lesen ist. In metamultilingualer Hinsicht kann dabei festgehalten werden, dass der Babel-Mythos in seiner Ambivalenz in gewisser Weise Celans eigene sprachliche Zerrissenheit zwischen Muttersprache und Mehrsprachigkeit zu ar‐ tikulieren scheint. Nichtsdestoweniger verkörpert Babel als Denkfigur genauso jene grundlegende Translingualität, die Celans Schreiben in weiten Teilen charakterisiert. Insbesondere ein Verfahren wie das der Homonymie (s. 6.6), in dem sich Sprachgrenzen auflösen, könnte als eine in seiner Dichtung äußerst fruchtbare Form von ›Sprachverwirrung‹ betrachtet werden. Diese wird auf positive Weise poetologisch zur Sinnpotenzierung funktionalisiert, was nicht ausschließt, dass gleichzeitig immer wieder die Sehnsucht nach der verlorenen Einheitssprache zum Ausdruck kommt. 144 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="145"?> 273 Siehe Ivanović, »Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung mit Mandel’štam«. Wie im ursprünglichen Mythos sind demnach in Celans Werk gegensätzliche Kräfte am Werk: zum einen der sprachmystische Wunsch nach regressiver Vereinigung mit dem Ursprung im Anschluss an ein sich als Sprachverlust ma‐ nifestierendes, unüberwindliches geschichtliches Trauma; zum anderen Babel als Verkörperung der natürlichen Sprachenvielfalt der Welt, die auf poetische Weise fruchtbar gemacht werden kann. Sprache erscheint vereinfacht gesagt sowohl als Mittel der Kommunion - von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gott, ja von den Menschen zu den Toten - als auch als unüberwindliches Hindernis für eine solche Kommunikation. Angesichts dieser fundamentalen Problematik erscheint es nur kohärent, dass Celan in Briefen des Jahres 1960 wiederholt zwischen den Sprachen sowohl »Brücken« als auch »Abgründe« feststellt (Briefe, 419, 426). Die unter anderem aus der Poetik Mandelstamms ent‐ lehnte Vorstellung einer dialogisch-intertextuellen Verbundenheit aller Dichter der Welt über die Sprachgrenzen hinweg, für die der russische Dichter den Begriff der Glossolalie verwendet, wird konfrontiert mit der Einsicht in die Einzigartigkeit und Beschränktheit jeder einzelnen Sprache. 273 Utopische Überwindung der Sprache Als absoluter Endpunkt der historisch motivierten Sprachskepsis und Sprach‐ krise, so wie sie in Paul Celans Werk an vielen Stellen metapoetisch thematisiert wird, könnte die Konzeption vom »Stehen, […] auch ohne Sprache« aus dem Gedicht »Stehen« interpretiert werden: - STEHEN, im Schatten - des Wundenmals in der Luft. - - - Für-niemand-und-nichts-Stehn. - Unerkannt, 5 für dich - allein. - - - Mit allem, was darin Raum hat, - auch ohne - Sprache. (GW-II, 23) Dieses ›Widerstandsgedicht‹ aus dem Band Atemwende, das sich - im Zeichen des »Wundenmals in der Luft« (V. 2) - gegen Vergessen, Verdrängung und Anfeindung stellt, scheint bei seinem Versuch, sich vom Dilemma ›Mutter‐ 3.1 Sprache(n) metalingual 145 <?page no="146"?> 274 Im vermutlich im August 1968 entstandenen Nachlassgedicht »Kleines Dunkel, brauchbar« wird dieses Gift dann unter Rückgriff auf Shakespeares Hamlet auf Englisch benannt: »so venom« (NKG, 538, V. 11). 275 Emmerich, Nahe Fremde, S.-211. sprache-Mördersprache‹ zu befreien, letztendlich komplett von der Sprach‐ problematik abstrahieren zu wollen. In dieser poetisch-poetologischen Geste könnte man gleichsam die letzte Konsequenz jener drei Jahre zuvor entstandenen Zeilen aus dem Gedicht »Zwölf Jahre« sehen: »Ich sehe das Gift blühn. / In jederlei Wort und Gestalt.« (GW I, 220, V. 11-12). Hier zieht Celan eine Bilanz seines zu diesem Zeitpunkt zwölfjährigen Pariser ›Exils‹. Jede Form sprachlichen Ausdrucks erscheint nunmehr als ›vergiftet‹, woraus sich als letzte Konsequenz der notwendige Verzicht auf Sprache überhaupt ergibt. 274 Nicht umsonst fällt die Entstehung von »Stehen« in eine Zeit, wo der Autor laut Emmerich »endgültig in der Falle Muttersprache - Mördersprache gefangen war«. 275 Freilich handelt es sich bei diesem Beispiel um eine höchst eloquente und daher paradoxe Form des Verzichts auf Sprache. Letztlich handeln all diese Textstellen immer auch von einem Rettungsversuch der Sprache der Dichtung, ja der deutschen Sprache, so könnte man sagen. In dieselbe Richtung deutet das im Gedicht »Es ist alles anders« geäußerte Verlangen nach dem ›Wegwerfen‹ der Sprache, welches mit deren Wiedergewinnung einhergeht: »die Sprache, / wirf sie weg, wirf sie weg, / dann hast du sie wieder« (GW I, 284 ff., V. 46-47). So endet Paul Celan Sprachaporie auch nicht eigentlich in einer Sackgasse, sondern wird im Gegenteil meist poetisch äußerst produktiv. Somit ließe sich das Symbol des Babylonischen Turmes abschließend eben‐ falls in dialektischer Form denken, in dem Sinne, dass der Zerstörung der Einheitssprache prinzipiell das Potential eines sprachlichen Neuanfangs inne‐ wohnt. Ein solcher Prozess der Sprach(neu)findung inmitten des Sprachverlusts scheint auch in Celans bereits zitierter Bremer Rede angesprochen zu werden, in der es ja heißt: Die Sprache »ging hindurch« durch das Verstummen und »durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem.« (GW III, 186). Der in dieser Preisrede beschriebene Weg lässt sich metapoetisch in Celans Gedichten nachzeichnen, wobei einzelne Texte immer wieder auf einen mehrsprachigen Horizont des Schreibens ›nach Auschwitz‹ hindeuten. 146 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="147"?> 276 Zu dieser Traditionslinie in der modernen Literatur siehe Günter Saße, Sprache und Kritik. Siehe auch Dirk Göttsche, Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt-a.-M.: Athenäum, 1987. 277 Siehe Karsten Rinas, »Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt: Fritz Mauthners Weg zur Sprachphilosophie«. brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien-Slowakei, 2005. Bonn: DAAD, S. 129-145. Siehe auch Walter Eschenbacher, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900. Eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende. Frankfurt-a.-M.: Peter Lang, 1977. 3.1.4 Sprachkritik und Mehrsprachigkeit Auswege aus der »Neigung zum Verstummen« Angesichts einer deutschen Sprache, der »tausend Finsternisse todbringender Rede« (GW III, 186) eingeschrieben sind, führt die metapoetische (Selbst-)Refle‐ xion über ›Sprache‹ bei Paul Celan in die Aporie einer Dichtung hinein, die letztlich ein »Stehen […] auch ohne Sprache« proklamiert. Sprachkritik führt über Sprachskepsis und Sprachkrise zur potenziellen Sprachlosigkeit. 276 Dies wird anhand zahlreicher Formulierungen und Bilder deutlich, die unter anderem auf den Topos der Glossolalie oder den Mythos von Babel zurückgreifen. Damit reiht der Dichter sich in eine lange, nicht zuletzt typisch österreichische Traditionslinie von mehrsprachig sozialisierten Sprachskeptikern und -kriti‐ kern ein. 277 Nichtsdestoweniger bestand der konkrete Weg, den Paul Celan in seiner literarischen Praxis beschritt, ja gerade nicht darin, der »Neigung zum Verstummen« (GW III, 197) nachzugeben. Anders als es manche dieser poetologischen Positionen suggerieren, wählte er vielmehr den Weg einer ›Anreicherung‹ der deutschen Sprache, von dem schon gesagt wurde, dass er über die Produktion sprachlicher Alterität und Differenz und in die entschei‐ dende Vorstellung vom »schicksalhaft Einmalige[n] der Sprache« (GW III, 175) mündet. Diese Suche nach einem Ausweg aus der drohenden Sprachlosigkeit - samt ihrem dezidierten Rückgriff auf Mittel der Mehrsprachigkeit - soll nun näher beschrieben werden. Als erstes Indiz für eine programmatische Öffnung des Deutschen im poe‐ tischen Sprechen Celans ließe sich folgende Passage des Nachlassgedichts »Wolfsbohne« zitieren, wo es heißt: »Mutter, dir, / die du Wolfsbohne sagtest, nicht: Lupine« (GW VII, 46 ff., V. 18-20, Hervorhebung in der Quelle). Wie bereits in der Einleitung erwähnt, entstand dieser Text aus dem Jahre 1959 als direkte Reaktion auf Blöckers Sprachgitter-Rezension, die dem Bukowiner Juden Celan seine legitime Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Literatur streitig machte. Bezeichnenderweise tritt in diesem Gedicht das lateinischstämmige Wort ›Lupine‹ gleichsam an die Stelle des Terminus ›Wolfsbohne‹. Vor dem Hintergrund von Judenvernichtung und akuter antisemitischer Bedrohung 3.1 Sprache(n) metalingual 147 <?page no="148"?> 278 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt-a.-M.: Suhrkamp, 1951, S.-141. 279 Siehe Bayerdörfer, »Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945«, S.-52. wird, so kann man sagen, in diesen Versen ein historisch bedingter Übergang vom Deutschen (Wolf) zum Lateinischen (lupus) suggeriert. Beharrte die Mutter in ihrer uneingeschränkten Liebe zur deutschen Sprache noch auf der ger‐ manisierten Form des Namens ihrer Lieblingsblume, so wird ihr Sohn nach dem Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus in seiner Lyrik immer mehr auf die sogenannten Fremdwörter zurückgreifen, die Adorno einmal als »Juden der Sprache« 278 bezeichnet hat. Der Bezug zu dieser Idee des jüdischen Philosophen ist hier nicht zuletzt deswegen relevant, da Celan für sein Gedicht zunächst den Titel »Menora« (s. GW VII, 359), also die hebräische Bezeichnung des siebenarmigen Leuchters im Judentum, erwogen hatte. »Muta« Die zitierte Stelle aus »Wolfsbohne« verweist auf die für Celans Poetik grundle‐ gende Tatsache, dass mehrsprachige Schreibverfahren einen möglichen Ausweg aus der vom Missbrauch der deutschen Muttersprache verursachten Sprachkrise aufzeigen können. 279 Dass die zum poetologische Prinzip erhobene ›Anreiche‐ rung‹ der Dichtungssprache Formen der Mehrsprachigkeit impliziert, illustriert ebenfalls ein Nachlassgedicht wie »Muta« aus dem Jahr 1961, in dem der Zweifel an der deutschen Mutter-Mörder-Zunge mit der Einführung ›nicht-deutscher‹ Idiome - konkret dem Französischen und Lateinischen - Hand in Hand geht: - MUTA - - 1 Seul -; zu dreien gesprochen, stummes - Vibrato des Mitlauts - Seuls. - - - ………………………………………. - - 5 Ein Bogen, hinauf, - ins Vielleicht einer Sprache gespannt, - aus der ich, souviens- - t‘en, - aus der ich - zu kommen 10 glaubte. Und 148 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="149"?> une corde (eine Saite, eine Fiber) qui répondrait. (GW VII, 63) In diesem das Deutsche und das Französische miteinander mischenden Gedicht wird die Mutterzunge des Dichters mit seiner privaten Familiensprache kon‐ frontiert. Dieser existenziell-affektive Zusammenhang wird gleich zu Beginn durch den Ausdruck »zu dreien gesprochen« (V. 1 = Paul Celan, seine Frau Gisèle und ihr gemeinsamer Sohn Éric) deutlich gemacht. Das lyrische Subjekt scheint sich im diesem Gedicht gleichsam zwischen diesen beiden Sprachen aufzuteilen, wobei es in ein Zwiegespräch mit sich selbst gerät. Durch diese Doppelsprachigkeit befindet sich das Gedicht in einer Art Zwischenraum zwischen Celans deutschsprachigem Zielpublikum und seiner französischen Familie und Wahlheimat. Gerade dieser prononcierten Privatheit und seiner - der öffentlichen Positionsbestimmung in der Flinker-Umfrage zuwiderlau‐ fenden - deutsch-französischen Zweisprachigkeit ist es höchstwahrscheinlich geschuldet, dass das Gedicht zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb. Gegenüber dem Deutschen tritt das Französische in »Muta« als konkurrie‐ rend-komplementäre Zweitsprache mit einem gewissen ästhetischen Mehrwert in Erscheinung. Letzterer wird sichtbar in Gestalt des in der Muttersprache nicht existenten, stummen »Mitlaut[s]» (V. 2), dem nicht hörbaren Plural-S in »seuls« (= allein, V. 3). Das Stummschalten (»muta«) oder, besser gesagt, das stumme Mitsprechen des Pluralmorphems ist allein in der anderen Sprache möglich. Solche im Deutschen nicht realisierbaren sprachlichen Möglichkeiten motivieren mithin den Rückgriff auf das Französische. Wie Paul Celan in einem Radio-Interview aus dem Jahre 1954 gegenüber Kurt Schwedhelm bekannt hat, drängte sich dem in Paris lebenden, exterritorialen Dichter das Französische - »eine besonders starke und […] herrische Sprache« (Mikrolithen, 189) - manchmal förmlich auf, weswegen er oft erst nach einer Entsprechung in seiner Erstsprache suchen musste. Wie das vorliegende Gedicht veranschaulicht, stehen solche Äquivalente allerdings nicht immer zur Verfügung, weshalb das Französische in die Dichtung hineindrängt. In Verbindung mit dem »stumme[n] Vibrato« (V. 2) verweist der lateinische Titel »Muta« gleichzeitig auf die poetologische Problematik des Verstummens (frz. mutisme). In der Tat hat der Dichter die Omnipräsenz des Französischen in seinem Leben auch als Gefahr der Spracherosion wahrgenommen (s. PC- GCL, II, 11). Im vorliegenden Gedicht wird seine Adoptivsprache jedoch eher als hilfreiche Stütze innerhalb seiner dichterischen Existenz erkennbar. Das Französische scheint gleichsam auf das Verstummen zu ›antworten‹ (»répond‐ 3.1 Sprache(n) metalingual 149 <?page no="150"?> 280 Friederike Heimann, »›Viersprachenlieder‹ verwöhnen die Luft: Ferner Mythos oder konkrete Utopie? Multilinguale poetische Diskurse in der deutschsprachigen jüdischen Lyrik von Czernowitz«. Yearbook for European Jewish Literature Studies, 11, 2024 (im Druck). 281 In Weiterführung dieses homophonen Ansatzes könnte »Seul[s]« (V.1+V.3) über das Englische als ›Seele‹ (soul) gelesen werden, womit der Bereich des Metamultilingua‐ rait«, V. 13). Im lateinischen Wort ›Muta‹ verbindet sich somit die Evokation von Sprachverlust mit der Frage nach einem möglichen Ausweg in Form von Mehrsprachigkeit. Durch das Bild des »Bogen[s]« (V. 5) und das (aus dem Französischen übersetzte) musikalisch-waffentechnische Doppelbild (s. NKG, 1082) der »Saite« resp. »Fiber« (= frz. corde, V. 11-12) wird auf die Biographie des Dichters (Celans Sternzeichen war Schütze) und sein existenzielles, wider‐ ständiges Dichtertum verwiesen. In der deutsch-französischen Grundkonstellation des Gedichts erhält schließ‐ lich die Formulierung vom »Vielleicht einer Sprache […] aus der ich […] zu kommen glaubte« (V. 6-10) eine besondere metapoetische Bedeutung: Das substantivierte »Vielleicht« (V. 6) in Verbindung mit dem Verb ›glauben‹ (V. 10) suggeriert ein sprachskeptisches Zweifeln an der deutschen Muttersprache, wohingegen die Präsenz des Französischen - neben dem Lateinischen - neue sprachliche Dimensionen in Form eines mehrsprachigen Raumes zu eröffnen scheint. Die für Paul Celans Dichtung typisch zu nennende Verschränkung von Sprachskepsis und Sprachschöpfung wird demzufolge auf eine mehrsprachige Ebene gehoben, die im Text durch die konkrete Mehrsprachigkeit ein besonderes Gewicht erhält. Der französische Einschub »souviens-/ t’en« (V. 7) in dieser Passage ließe sich dabei als elegische Reminiszenz an Apollinaire lesen, der diese Verbform in seiner Lyrik häufig verwendet, so unter anderem in dem von Celan übersetzten Gedicht »L’Adieu« (GW IV, 790-791), wo es im Übrigen von ihm als »sei eingedenk« wiedergegeben wird (V. 2). Darüber hinaus spielt das hier verwendete Doppelpronomen »t’en« klanglich auf das Verb ›tendre‹ (vgl. ›il tend‹) an, welches auf das ›Spannen‹ des Bogens verweist. Wie Friederike Heimann bemerkt hat, 280 lässt sich die biographisch-familiäre Konstellation (»zu dreien gesprochen«, V. 1) im Gedicht noch um Celans von den Nazis ermordete Mutter ergänzen, die sich als translinguale Homophonie (s. 6.6) hinter dem Lateinischen ›Muta‹ heraushören lässt. Insofern würde das im Gedicht stumm Mitschwingende (»stummes / Vibrato des Mitlauts«, V. 2-3) mit den Mitteln der Mehrsprachigkeit erneut auf das Tote und Verlorene verweisen. Mit dem ›Verstummen‹ (»Muta«) der Mutter stellt sich implizit auch die Frage nach dem Weitersprechen (und -schreiben) in der deutschen (Mutter-)Sprache und nach einem eventuellen Sprachwechsel, namentlich ins Französische. 281 150 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="151"?> lismus verlassen und eine Form latenter Mehrsprachigkeit angesprochen wäre. Liest man ›Muta‹ und ›Seul‹ zusammen, so wird die Lesart als ›Mutterseele‹ durch einen Eintrag in Celans Handexemplar von Kluges Etymologischem Wörterbuch bekräftigt. Dort wurde der Eintrag ›Mutterseele‹ vom Dichter markiert und mit einer Anmerkung versehen (siehe Joachim Seng, »… geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.« Paul Celans Gedicht »Engführung« und seine Beziehung zu dem Film »Nacht und Nebel« von Alain Resnais, Magisterarbeit, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.: 1992, S. 80). Zuletzt könnte die (umstrittene) homophone Herleitung von ›mutterseelenallein‹ aus frz. ›moi tout seul‹, wie sie über den Einfluss des Französischen auf das Berlinerische erklärt wird, in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Auf dieser Ebene unterhält »Muta« somit eine enge Verbindung zu dem eben angesprochenen Gedicht »Wolfsbohne« (GW VII, 46 ff.). Weitere Beispiele Eine vergleichbare multilinguale Poetik ist im Nachlassgedicht »24 Rue Tour‐ nefort« (GW VII, 223) aus dem Jahre 1968 am Werk. Dort verwendet der Lyriker eingangs den Ausdruck »Du und dein / Spülküchendeutsch« (V. 1- 2), der als sarkastische Anspielung auf seine Aufgabe der ›Säuberung‹ der deutschen Sprache nach der NS-Zeit verstanden werden kann. Kontrastiv zu dieser Haltung gegenüber dem ›dreckigen‹ Deutsch zitiert das Gedicht nicht nur die französische Adresse der nach der Trennung von der Ehefrau Gisèle bezogenen Pariser Einzimmerwohnung des Dichters, sondern greift ebenfalls auf das hebräische Wort »Schiwiti« (»Sag: Schiwiti«, V. 4) zurück. Dieses Wort, das Celan im Anschluss an den Besuch einer Israel-Ausstellung mit seinem Sohn Éric notiert hatte (s. NKG, S. 1200-1201), entstammt dem Psalm 16.8 (»Ich habe den Herrn allezeit vor Augen«), was in der vorliegenden Formulierung beinahe einem jüdischen Glaubensbekenntnis gleichkommt. Erneut geht die Distanzie‐ rung vom Deutschen mit einer Annäherung an andere, existenziell bedeutsame Sprache - hier dem Hebräischen - einher, wobei der biographisch-familiäre Rahmen ein weiteres Mal im Vordergrund erscheint. Ein bemerkenswertes Grenzphänomen zwischen Metamultilingualismus und mehrsprachigem Schreiben bildet folgender, direkt auf Französisch verfasster Aphorismus Celans: »La poésie ne s’impose plus, elle s’expose« (GW III, 181). In diesem Notat, das lange Zeit den einzigen einem breiten Publikum be‐ kannten fremdsprachigen Text des Dichters darstellte, bringt letzterer gleichsam vom Abstand der Zweitsprache aus seine sprachskeptische Position zum Aus‐ druck. Frei übersetzt könnte dieser sprachspielerische Satz mit »Die Dichtung setzt sich nicht mehr (von selbst) durch, sie setzt sich (Gefahren) aus« wie‐ dergeben werden. Dadurch, dass sich diese Fragwürdigkeit der (deutschen) 3.1 Sprache(n) metalingual 151 <?page no="152"?> 282 Daneben könnte das Verb ›s’exposer‹ auch im Sinne eines ›Sich-Ausstellens‹ ver‐ standen werden, was auf ihre nicht unproblematische Künstlichkeit, ja ›Artistik‹ hindeudet. Dichtung gerade im Medium der anderen Sprache ausdrückt, könnte das ›sich Aussetzen‹ metamultilingual verstanden werden - also im Sinne eines bewussten Verlassens des vertrauten (einsprachigen) Territoriums. 282 Wie im zitierten deutsch-französischen Gedicht schließt auch in diesem französischen Aphorismus das Hinterfragen traditioneller Formen der Dichtung die Ebene sprachlicher Alterität, Diversität und Pluralität mit ein. 3.1.5 Sprachrückgewinnung mehrsprachig »So kannst du’s lesen« Eine weitere metapoetische Thematisierung der Beziehung des Deutschen zu anderen Sprachen liegt in dem 1961 entstandenen Nachlassgedicht »So [kannst du’s lesen]« vor, das bereits in Bezug auf die Babel-Motive erwähnt wurde. Dieser Celan-Text gehört in das Umfeld eines aufgegebenen Zyklus mit dem Titel »Pariser Elegie«, einem stark multilingual geprägten Projekt (s. HKA, 11, 393-461), auf das an späterer Stelle näher einzugehen sein wird (s. 8.3). Das Ge‐ dicht »So«, das als abgeschlossener (oder zumindest in sich geschlossener) Text von den Herausgebern des Nachlasses aus dem umfangreichen Gesamtprojekt herausgelöst wurde, beruht auf einer Lektüre von Dantes Commedia. In »So« scheint sich der Lyriker über den Weg der Mehrsprachigkeit mit dem Status seiner Dichtungssprache zu beschäftigen, wobei er sich auf den Spuren des toskanischen Dichters in die Unterwelt begibt. An dieser Stelle soll dieses für die Problematik der vorliegenden Studie zentrale Gedicht zunächst in Gänze wiedergegeben werden: 1 SO kannst du’s lesen: es hat - meinen Glanz genommen eine - Tiefe, siehe da jetzt - meine Welt. Und kannst 5 es als Glanzloses sehen droben, - unvorhanden-vorhanden - im Lichtstrahl des Nichts, ein wüstes - Riesending, ein - Augenmund, offen, 10 der am gemordeten Psalm würgt: Ra- - fèl, amèch, zabì et 152 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="153"?> 283 Der Begriff ›Okzitanisch‹ als Oberbegriff für die Varietäten der ›langue d’oc‹ hat heute in der Sprachwissenschaft den veralteten, aber immer noch anzutreffenden Begriff ›Provenzalisch‹ abgelöst. 284 Axel Gellhaus, »›sovenha vos a temps di ma dolor‹. Anmerkungen zu Paul Celans Gedichtband ›Die Niemandsrose‹ und seinen Frühstadien«. In: Dieter Burdorf (Hrsg.), Edition und Interpretation moderner Lyrik seit Hölderlin. Berlin-Boston: De Gruyter, 2010, S. 193-202, hier S. 198. Insofern diese mittelalterliche Troubdour-Lyrik stark codifiziert, ja chiffriert war und erst vom Leser bzw. Publikum entschlüsselt werden muss, kann sie in der Tat mit Hermetik in Verbindung gebracht werden. almi. Und kannst, ein Schnee- - wesen im - Auge (Ieu 15 sui Arnaut qui va cantan) - im Zur-Tiefe-Gehn sprechen, in naher, in nächster, - in fremdester Zunge: - sovenha vos a temps de ma dolor. (NKG, 438) Die in der Originalhandschrift präsenten Unterstreichungen werden in der hier zitierten Edition in Kursivschrift wiedergegeben. Diese vom Dichter her‐ vorgehobenen Passagen kennzeichnen die Einfügung von vier nicht ausgewie‐ senen und dabei geringfügig modifizierten Dante-Zitaten, wobei die zitierten Stellen trotz der zugrundeliegenden einheitlichen Quelle in mehreren Sprachen verfasst sind. Zwei der Zitate (aus Purgatorio, XXVI, 142-147) benutzen die provenzalische - oder besser (alt-)okzitanische 283 - Sprache des mittelalterlichen Troubadours Arnaut Daniel, dem in Dantes Versepos diese Worte in den Mund gelegt werden (V. 14-15+V.18). Wie Gellhaus anmerkt, kann vermutet werden, dass Celan in dem in der Mitte des 12. Jahrhunderts geborenen Dichter einen Vorgänger der sogenannten hermetischen Lyrik sah, weshalb er sich in gewisser Weise mit ihm identifizieren konnte. 284 Dazu passt der Umstand, dass in mehreren Gesängen von Dantes Commedia ein (jenseitiges) Sprechen thematisiert wird, das über das von den Menschen Verstehbare hinausgeht, was ebenfalls auf den Topos der poetischen Hermetik verweist. Die beiden anderen Zitate (V. 1-4, 10-11) geben die Worte des Riesen Nembrot (aus Inferno, XXXI, 67-68) wieder, einer Figur, die Dante der biblischen Überlieferung (Genesis, 10: 8-12) entnommen hat. Der Spruch des Riesen, der im Gedicht sowohl in der original-fremdsprachigen (V. 10-12) als auch in einer (allerdings hypothetischen) deutschen Version (V. 1-4) wiedergegeben wird, ist in einem radikal fremden Idiom verfasst, über das in der Dante-Forschung kontrovers diskutiert wird. So hat man etwa versucht, die Worte Nembrodts über das Hebräische, Arabische oder über eine sprachspielerische Logik zu 3.1 Sprache(n) metalingual 153 <?page no="154"?> 285 Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. 286 Der Ausdruck »Zur-Tiefe-Gehn« verweist indirekt auf die Problematik der inter‐ lingualen Vermittlung, insofern der Vorstufentitel des Gedichts »Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehen« (GW I, 212) »La leçon d’allemand« (TCA, NR, 11) lautet und sich auf die ›Deutschstunden‹ des Ehepaars Celan bezieht (s.-4.2.2). entschlüsseln. Diese mit der hermeneutischen ›Wut des Verstehens‹ 285 unver‐ einbare Unverständlichkeit des biblischen Riesen scheint indes durchaus von Dante intendiert gewesen zu sein, wie aus dem Kontext geschlossen werden kann. Der mächtige König Nembrot (oder Nimrod), Enkelsohn von Noah und ältester Sohn von Ham, gilt nämlich im literarischen Universum der Commedia (so wie in vielen anderen mythisch-religiösen Quellen) als Erbauer des Turms zu Babel, wofür er im Einklang mit dem biblischen Mythos mit totaler ›Sprach‐ verwirrung‹ bestraft wurde. Das unverständliche Sprechen der Figur könnte also dahingehend gedeutet werden, dass es eben diese göttliche Strafe gleichsam mimetisch nachbildet. Im Gegensatz zur Vorstellung unüberwindbarer Sprachbarrieren scheint das vorliegende Gedicht jedoch gerade den Beweis dafür erbringen, dass die Babel-Thematik in Celans Œuvre nicht allein unter negativen Vorzeichen erscheint. Denn im Rahmen seiner Dante-Rezeption, wie sie in »So« sichtbar wird, verwandelt sich der ›Fluch‹ von Babel in eine Suche nach dem Sagbaren. Im vorliegenden Gedicht unternimmt das lyrische Subjekt - wie vor ihm die Figur Dante bei ihrer Höllenfahrt - ja gerade den Versuch, die hermetische Rede Nimrods zu übersetzen: »So kannst du’s lesen: […]« (V. 1). Dabei folgt die im Text zitierte deutsche Version der von Celan benutzten Dante-Ausgabe, in der eine über das Arabische verfahrende Lesart vorgeschlagen wird (s. NKG, 1090): »es hat / meinen Glanz genommen eine / Tiefe, siehe da jetzt / meine Welt.« (V.-1-4). An dieser Stelle kann am Rande angemerkt werden, dass der Begriff ›Glanz‹ in Celans Werk nicht selten als mit der Sprachproblematik verbunden erscheint. Damit verweist also der Eingangsvers, »So kannst du’s lesen«, auf die prinzi‐ pielle Möglichkeit des Verstehens fremder, ja fremdester Rede. Dem ›Lesenden‹ des Gedichts scheint es durchaus zu gelingen, sich einen Weg durch die zutiefst kryptisch wirkende Rede zu bahnen. 286 Zugleich erinnert das weiter unten im Text zitierte - und dem Leser des Gedichts unverständliche - Originalzitat Nembrodts (»Ra- / fèl, amèch, zabì et / almi«, V. 10-12) daran, dass die hier zugrunde liegende - und über das Arabische verfahrende - Lesart des Zitats alles andere als sicher ist. Der Eindruck potentieller Unverständlichkeit wird noch dadurch erhöht, dass die Prosodie von Dantes Originalwortlaut durch Einfügung von Zeilensprüngen und Kommata gleichsam zum Stottern gebracht 154 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="155"?> 287 Siehe die Abbildung dieser Notiz im vorliegenden Buch S.-###. wird. Hier ergeben sich interessante Parallelen zwischen den Worten Nembrodts und Paul Celans eigener Dichtungssprache, die sich wie oben erwähnt immer wieder dem ›Lallen‹, ›Stottern‹ und ›Brabbeln annähert, sei es mimetisch oder metapoetisch. In »So« wird demnach aus der Perspektive der mittelalterlichen Unterwelt Dantes heraus über die Themen Sprachlosigkeit und Sprachfindung reflektiert - über Sprache, Unverständlichkeit und Dunkelheit. Durch den Ausdruck ›am ge‐ mordeten Psalm würgen‹ (V. 10) wird darüber hinaus eine Verbindung zwischen dem Thema der Sprachkrise (bzw. der Krise der deutschen Dichtungssprache) und der Geschichte der Judenvernichtung sichtbar. Anhand der Gegenüberstel‐ lung des eloquenten Troubadours Arnaut Daniel mit dem von niemandem verstandenen Riesen Nembrot scheint der von der Kritik als ›hermetisch‹ bezeichnete moderne Dichter metapoetisch über sein eigenes Idiom, also seine poetischen Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten zu reflektieren. Am Ende des Gedichts wird das poetische Sprechen trotz allem als realisierbar bezeichnet, wobei sich gleichzeitig die Frage der Sprachwahl stellt, wie die Adjektivreihung am Gedichtende zeigt: »Und kannst […] sprechen, in naher, in nächster, / in fremdester Zunge« (V.-12-17). Wie schon bei Dante, in dessen Commedia neben verschiedenen Varietäten des Italienischen auch Lateinisch, Altokzitanisch und Altfranzösisch auftau‐ chen, scheint das in diesem hochkomplexen Gedicht thematisierte ›Sprechen‹ demnach verschiedene Sprachen oder Idiome miteinander zu verbinden. Diese Pluralität steht dabei paradoxerweise sowohl für das Problem der Inkommu‐ nikabilität als auch für die Überwindung der drohenden Sprachlosigkeit. Als möglicher Lösungsansatz scheint eine Art ›Sprachsynthese‹ aus Nahem und Fremden auf, wie ein Notat aus dem direkten Umfeld des Gedichts suggeriert. Dort bringt Celan die »eigene« Sprache mit dem »Fremdnahe[n]« resp. »Nah-/ gefremdete[n]« zusammen, indem er eine als »Altjudendeutsch« bezeichnete Sprache im »Mitthimmelsüden […] der Atem-Provence« ansiedelt (HKA, 11, 403). 287 Auf diese bemerkenswerte Notiz wird an späterer Stelle noch zurückzu‐ kommen sein (s.-8.3). Im mehrsprachigen Nachlassgedicht »So« mitsamt seinen textgenetischen Materialien scheinen also das (jüdische) Deutsch des Holocaust-Überlebenden und die romanische Sprache der Provence in den freundlich-sonnigen Gefilden des mediterranen Südens zusammenfinden zu wollen. Konsequenterweise kommt daher das Schlusswort dem okzitanischen Troubadour Arnaut zu, der dabei nicht von ungefähr seiner »dolor« (V. 17) Ausdruck verleiht, womit 3.1 Sprache(n) metalingual 155 <?page no="156"?> dieser mittelalterliche Vorfahre sich plötzlich in unmittelbarer Nähe zu dem fast achthundert Jahre später lebenden deutsch-jüdischen Dichter befindet. Denn die adäquate, zeitgemäße Artikulierung des Schmerzes ist zweifelsohne als eines der Hauptanliegen von Celans dichterischem ›Sprechen‹ nach der Judenvernichtung zu bezeichnen - sei es in naher, in nächster oder in fremdester Zunge. Vom Mehrwert ›fremder‹ Sprachen Die Verbindung von Sprachskepsis, Dichtungsthematik und manifester Poly‐ glossie, so wie sie in den oben besprochenen Texten in Erscheinung tritt, besitzt insofern eine metapoetische Valenz, als der Einsatz sprachlicher Alterität hier gerade als eine Reaktion auf die historisch bedingten Zweifel an der deutschen Sprache erkennbar wird. Dieser Nexus von Sprachkrise und Rückgriff auf exophone Sprachen wird ebenfalls in der folgenden Stelle aus einem Brief an die rumänische Jugendfreundin Nina Cassian aus dem Jahre 1957 deutlich, diesmal in Bezug auf jene andere Zweitsprache Celans, das Rumänische: Eu, după cum ştii, scriu tot pe nemţeşte, adică fără doină şi troscot, dar deseori cu gândul la privilegiile ce le conferă întrebuinţarea unor cuvinte atât de inimitabile. [Wie du weißt, schreibe ich immer noch deutsch, also ohne ›doina‹ und ›troscot‹, aber manchmal denke ich an die Privilegien, die den Versen durch die Verwendung solch unnachahmlicher Wörter verliehen sind.] (Briefe, 247) Besonders hervorzuheben in dieser rumänischen Passage ist die Tatsache, dass der Autor durch die adverbiale Bestimmung ›immer noch‹ (»tot pe«) seiner deutschen Sprachwahl einen gewissen kontingenten Charakter zuschreibt, als läge diese Entscheidung im Grunde gar nicht unbedingt auf der Hand. Zuge‐ spitzt ausgedrückt bricht Celan in diesen Zeilen implizit mit dem monolingualen Habitus der modernen europäischen Literatur. Der Autor erinnert dabei insbe‐ sondere an seine frühen rumänischen Gedichte aus der Bukarester Zeit, von denen weiter unten noch die Rede sein wird (s. 4.4.1), wobei er den ästhetischen Mehrwert (»Privilegien«/ »privilegiile«) der rumänischen Dichtungssprache herausstellt. Bereits 1948 hatte sich der Dichter nach seinem Abschied von den Bukarester Freunden als »trist poet de limbă teutonă« (Briefe, 34), also als »traurigen Dichter teutonischer Sprache«, bezeichnet. Der ironische Tonfall dieser Selbst‐ beschreibung, wie er insbesondere in der Wahl des Adjektivs ›teutonisch‹ zum Ausdruck kommt, kann nicht über die Belastungen hinwegtäuschen, die offensichtlich mit der Rückkehr zum bzw. dem Festhalten am Deutschen 156 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="157"?> 288 Siehe die Beispiele in Petre Solomon, »Paul Celans Bukarester Aufenthalt«. Neue Literatur, 31: 11, 1980, S.-50-62. 289 Petre Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-79ff. einhergehen. Demgegenüber erscheint die rumänische Sprache durchaus als eine Art Freiraum, dem alternative ästhetische Möglichkeiten eignen. Mit dem Begriff ›doina‹ verweist Celan in seinem Brief an Cassian auf die Tradition des elegischen rumänischen Volkslieds, dessen Einfluss in seiner frühen Dichtung deutlich erkennbar ist, was ebenfalls noch näher zu beleuchten sein wird (s. 6.8). Wie in vielen der rumänischen Texte spielt in diesem Zitat die Figur des Wortspiels - des Spiels mit Sprachklang und sprachlichen Doppeldeu‐ tigkeiten - eine herausragende Rolle. 288 Das »unnachahmliche« (»inimitabile«) Wort ›troscot‹ scheint in diesem Zusammenhang auf die Qualität der poeti‐ schen Mehrdeutigkeit hinzudeuten, eine der Hauptfunktionen von Paul Celans Mehrsprachigkeit, da es sowohl (botanisch) den Vogelknöterich (polygonum aviculare) bezeichnet als auch (onomatopoetisch) das Geräusch eines Sturzes, Knalls, Schlags oder Bruchs imitieren kann. Dadurch ergibt sich gleichzeitig ein gewisser Kontrast zur traditionellen Literaturgattung der ›doina‹. Wie dem Französischen scheinen dem Rumänischen, so lässt sich diesen Zeilen entnehmen, bestimmte sprachliche Qualitäten zu eignen, die dem Deut‐ schen abgehen, was für die Poetik Celans von entscheidender Bedeutung ist. Denn die mehrsprachigen Techniken seiner Dichtung lassen sich nicht zuletzt als komplementäre Integration lexikalischer, phonetischer und morpho‐ logischer Charakteristika anderer Sprachen in seine deutschen Texte verstehen (s. 6.7-9). Gerade der sprachtypologische Kontrast zwischen den romanischen Sprachen und dem Deutschen erscheint in diesem Zusammenhang als äußerst produktiv, wie es Petre Solomon am Beispiel des Wortspiels (calembour) festge‐ stellt hat (s. 4.3.1). 289 Neben dem Französischen und Rumänischen als den beiden Zweitsprachen des Autors kommt im Rahmen dieser Idee einer allgemeinen Sprachergänzung vor allem dem Hebräischen eine zentrale Rolle zu. 3.2 Sprachdenken und Judentum 3.2.1 Das Schibboleth als Sprachdifferenz Zum Begriff ›Schibboleth‹ Das Phänomen der Metamultilingualität ist Ausdruck einer Form hoher Sprach‐ reflexivität, die sich in der Literatur generell vor dem Hintergrund einer mehrsprachigen Schreibsituation herausbildet. Die damit einhergehende The‐ matisierung von Sprachidentität, Sprachdifferenz und Sprachenvielfalt tritt in 3.2 Sprachdenken und Judentum 157 <?page no="158"?> 290 Implizit präsent ist das Konzept darüber hinaus in dem Gedicht »Give the word« (GW II, 93). 291 Siehe Brigitta Busch/ Jürgen Spitzmüller, »Indexical borders: the sociolinguistic scales of the shibboleth«. International Journal of the Sociology of Language, 272, 2021, S.-127-152. einer ganzen Reihe von Gedichten Celans in Erscheinung. In ihnen werden Bausteine einer metasprachlichen Selbstreflexionen sichtbar, wie dies schon beim Ausdruck ›Sprachgitter‹ aus dem gleichnamigen Gedicht (GW I, 167) der Fall war (s. 3.1.1). Unter dieser Perspektive erscheint nach dem Terminus ›Sprachgitter‹ der Begriff ›Schibboleth‹ als besonders relevant. Dieses aus dem Hebräischen stammende Wort, das interessanterweise im Französischen weitaus geläufiger ist als im Deutschen, benutzt der Lyriker gleich in zwei bedeutenden Gedichten: »Schibboleth« aus Von Schwelle zu Schwelle (1955, GW-I, 131) und »In eins« aus Die Niemandsrose (1963, GW-I, 270). Diese beiden Texte sollen nun eingehender beleuchtet werden. 290 Das aus dem Buch der Richter bzw. aus dem Sefer Schoftim stammende hebräische Wort ›Schibboleth‹ (mit der ursprünglichen Bedeutung ›Strömung‹, ›Strom oder ›Flut‹) bedeutet im übertragenen Sinne ›Erkennungszeichen‹, wie es Celan selbst in einem Brief in Erinnerung ruft (Briefe, 171). Bezogen auf die Darstellung in der Bibel bzw. im jüdischen Tanach, wo es gleichsam um einen Aussprachetest (wohlbemerkt innerhalb einer kriegerischen Auseinanderset‐ zung) geht, kann dieses Kennzeichen als Sprachakzent beschrieben werden. Dabei beschränkt sich das Phänomen jedoch nicht auf Merkmale mündlicher Rede, sondern schließt das Medium Schrift mit ein. In der Linguistik bezeichnet ›Schibboleth‹ heute allgemein eine sprachliche Besonderheit, durch die sich Sprecher einer nationalen, sozialen oder beruflichen Gruppe oder einer Region zuordnen lassen - oder sich eben von ihr unterscheiden. 291 Bei dem Begriff steht folglich die Markierung sprachlicher Identität und Differenz im Vordergrund. Diese Problematik der (sprachlichen) Zugehörigkeit - oder eben Nicht-Zu‐ gehörigkeit - ist in Celans lyrischem Œuvre von Anbeginn präsent und findet in den beiden genannten Gedichten gleichsam ihre metapoetische Ausformu‐ lierung. Schibboleths wurden im Laufe der Geschichte in vielen Gemeinschaften als Passwörter, Mittel zur Selbstidentifikation oder Abgrenzung sowie zur Si‐ gnalisierung von Loyalität und Zugehörigkeit verwendet. In der biblischen Quelle (Buch der Richter, 12.4-12.6) benutzt der Stamm der Gileaditer dieses Wort in Kriegszeiten, um seine ephraimitischen Feinde bei einer Art Grenzkon‐ trolle unter den Flüchtenden zu identifizieren. Ihre differente Aussprache des hebräischen Buchstaben Schin/ Sin ( ש ) in s(ch)ibboleth müssen die Ephraimiter dabei mit dem Tod bezahlen. Das Schibboleth bezeichnet demzufolge eine 158 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="159"?> 292 Ähnliches ließe sich über den zweiten Teil des Worts (»-staken«), bzw. das gesamte Kompositum sagen. Auf einer anderen Ebene könnte ebenfalls der Strich auf dem ›u‹ in Celans handschriftlicher Schreibung seines Vornamens als Schibboleth bezeichnet werden. Durch die Präsenz bzw. Absenz dieses aus der Sütterlin-Schrift stammenden ›Erkennungszeichens‹ wechselt ›Paul‹ in der Handschrift des Dichters gleichsam zwischen dem Deutschen und dem Französischen. Siehe Badiou, Bildbiographie, S. 335. 293 Jacques Derrida, Schibboleth - pour Paul Celan, Paris: Galilée, 1986, S.-61. Sprachdifferenz, die sich nicht durchgängig manifestiert, sondern nur in be‐ stimmten Merkmalen zum Ausdruck kommt, deren Bedeutung aber eine exis‐ tenzielle Tragweite besitzen kann. Nicht immer geht es dabei jedoch um Leben und Tod. Als konkretes Beispiel für eine solche sprachliche Minimaldifferenz in Celans Werk könnte das schwe‐ dische Wort »Äppelstaken« aus dem 1967 entstandenen Gedicht »Du liegst« (GW II, 334, V. 5) genannt werden. Mit der Pluralform ›Äppel‹ (für ›Äpfel‹), die ebenfalls in einigen Varietäten des Deutschen existiert, kommt eine sprachliche Alteritätsdimension in diesen Text hinein, bei gleichzeitiger Gewährung der Verständlichkeit dank Interkomprehension. Die hierbei implizierte Sprachdif‐ ferenz ›pp/ pf‹ könnte durchaus mit der Funktionsweise eines Schibboleths verglichen werden, mit dessen Hilfe sich der Dichter hier vom Standarddeut‐ schen abgrenzt. 292 Das betreffende Wort ist in seiner Bedeutung transparent, in seiner Form indessen gleichsam verfremdet. Diese Art von Markierung interner Sprachdifferenzen, die sich auch an anderen Stellen nachweisen lassen, werden bei Celan Gegenstand poetologischer Selbstreflexion. Am eindringlichsten hat der Philosoph Jacques Derrida in seiner berühmten gleichnamigen Studie auf die zentrale Bedeutung des Schibboleth-Begriffs in Celans Dichtung hingewiesen. Dabei bezeichnet ›Schibboleth‹ für ihn nicht nur eine - ggfs. geheime - sprachliche Differenz, über die sich Probleme der (jüdischen) Identität und der Erinnerung (an die Geschichte und ihre Katastrophen) verhandeln lassen. Derrida interpretiert es darüber hinaus als Prinzip, durch das Sprache als singuläres Idiom eigentlich erst zum poetischen Sprechen wird: »Dans la langue, dans l’écriture poétique de la langue, il n’y a que du schibboleth. [In der Sprache, in der dichterischen Verwendung von Sprache, gibt es nur Schibboleths.]« 293 Das Schibboleth wäre demnach das Mittel, mit dem der Dichter seine unauflösliche Differenz - oder in den Worten Celans: »das schicksalhaft Einmalige« (GW III, 175) der Dichtung - in das kollektive Medium der Sprache einschreibt. Auf Grundlage dieser sprachphilosophischen Deutung lassen sich die Schibboleth-Gedichte metapoetisch als Ausdruck seiner sprachlichen - und polyglotten - Singularität verstehen. 3.2 Sprachdenken und Judentum 159 <?page no="160"?> 294 Markus May, »Von Schwelle zu Schwelle«. In: May/ Goßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Handbuch, S.-63-72, hier S.-96. 295 Der spanische Ausdruck wurde in Von Schwelle zu Schwelle (1955) mit fehlendem Akzent abgedruckt. Es handelt sich dabei jedoch um einen Druckfehler, den Celan in Nachdrucken korrigieren ließ (s. TCA, SZS, 97). »Schibboleth« In »Schibboleth«, dem ersten der beiden an dieser Stelle relevanten Gedichte, aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle, tritt das lyrische Subjekt als Fremder innerhalb einer Gemeinschaft auf, von der es sich offensichtlich abzugrenzen gilt. Vor dem Hintergrund von traumatischer Erinnerung und Trauer, so wie sie von der ersten Versgruppe an zum Ausdruck kommen, ermutigt sich das (dialogierende) Ich in diesem 1954 entstandenen Text zur Affirmation seiner differenten Identität. Das Schibboleth wird damit »zur Signatur einer sich ›aussetzenden‹ und sich bekennenden Dichtung, auch um den Preis einer eigenen Gefährdung«, 294 wie es May formuliert. An dieser Stelle sei die in diesem Zusammenhang zentrale Passage des Gedichts zitiert: - […] - Herz: - gib dich auch hier zu erkennen, 20 hier, in der Mitte des Marktes. - Ruf ’s, das Schibboleth, hinaus - in die Fremde der Heimat: - Februar. No pasaran. 295 - […] (GW-I, 131, V.-18-23) Mit dem oxymorischen Ausdruck »Fremde der Heimat« (V. 22), durch den ein Abstand gegenüber der ursprünglichen, angenommenen oder gar erzwungenen Zugehörigkeit des lyrischen Subjekts zum Ausdruck kommt, wird, so die hier vorgeschlagene Deutung, in diesen Versen erneut die ›nahfremde‹ Mut‐ tersprache des Dichters aufgerufen. Demgegenüber stellt das ›hinausgerufene Schibboleth‹ so gesehen das eigene, von der ›fremd-heimatlichen‹ Umgebung differente Idiom dar. Allgemein, so lässt sich hinzufügen, stellt sich die Proble‐ matik von ›Heimat‹ in Celans Werk immer wieder als eine der Sprach-Heimat dar, wie etwa folgende Passage aus dem Gedicht »Und mit dem Buch aus Tarussa« (GW I, 287 ff.), belegt: »Sprachwaage, Wortwaage, Heimat-/ waage Exil« (V. 48-49). Wie man deutlich sieht, schwankt die Vorortung der eigenen Sprache in diesen beiden Versen gleichsam zwischen Heimat und Exil. Dass in »Schibboleth« das originalsprachige Zitat der Parole der republi‐ kanischen Widerstandskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) zum 160 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="161"?> 296 Siehe Heimann, »Über das ›Gegenwort‹ des Hebräischen in der Dichtung Paul Celans«. 297 Zusätzlich befindet sich in einer Vorstufe des Gedichts eine französische Randbemer‐ kung (s. HKA, 4.2,188), die allerdings nicht direkt mit dem Wortlaut des Textes verbunden zu sein scheint. 298 Siehe hierzu auch die in der Erstfassung von »Frihed« (GW II, 77) als »El Canto, El Canto / de Riego« auftauchende Hymne der Republik im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939), der Himno de Riego (s. TCA, AW, 127, s. NKG, 879). In diesem Gedicht Celans geht es um den dänischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Einsatz kommt (»No pasaran«, V. 23), bildet im vorliegenden Zusammenhang einen weiteren wichtigen Aspekt des Gedichts. Durch dieses spanische ›Kenn‐ wort‹ wird nämlich der Rahmen des Schauplatzes (s. »Markt«, V. 20) im Text als mehrsprachig markiert. Das Motiv von sprachlichem Fremdsein innerhalb der (Sprach-)Gemeinschaft kann demnach nicht nur als Verweis auf Paul Celans ›fremdes‹ Deutsch verstanden werden. Die Perspektive geht unmittelbar über in explizit markierte sprachliche Differenz in Gestalt der spanischen Sprache, derer der Autor bemerkenswerterweise nicht mächtig war. Dennoch kann diese ›fremde‹ Sprache - in Form eines ›Gegenworts‹ 296 - im Text offensichtlich eine widerständige Funktion erfüllen. Im Gedicht »In eins«, dem zweiten ›Schibboleth-Gedicht‹ Celans, aus dem späteren Band Die Niemandsrose, wird diese spanische Parole (diesmal korrekt mit Akzent geschrieben) erneut auftauchen. 297 Bevor dieser Text jetzt näher betrachtet wird, kann noch angemerkt werden, dass »sie werden nicht durch‐ kommen« (»no pasarán«) ursprünglich als Motto für den Widerstand gegen die deutschen Angreifer während der Schlacht um Verdun im Ersten Weltkrieg verwendet wurde. 298 Der ›Umweg‹ über das Spanische führt daher in gewisser Weise letztlich zur deutschen bzw. deutsch-französischen Problematik zurück. »In eins« Im 1962 - also fast ein Jahrzehnt später - entstandenen Gedicht »In eins« wird die Polyglossie unter dem Zeichen des Schibboleth gleichsam zum poetischen Programm, wie schon die ersten Zeilen des Textes zeigen: - IN EINS 1 Dreizehnter Feber. Im Herzmund - erwachtes Schibboleth. Mit dir, - Peuple de Paris. No pasarán. - […] (GW-I, 270, V.-1-4) 3.2 Sprachdenken und Judentum 161 <?page no="162"?> Die zitierte Passage schließt trotz des großen zeitlichen Abstands inhaltlich und formal direkt an das eben kommentierte Gedicht an, wie neben dem sie verbindenden hebräischen Terminus die bereits erwähnte Wiederaufnahme des spanischen Zitats deutlich macht. Wiederum geht es hier um Erinnerung an ge‐ schichtliche Katastrophen, die sich diesmal über das Datum des »Dreizehnte[n] Feber« (V. 1) näher entschlüsseln lassen. Dieses Datum verweist nämlich auf eine ganze Reihe zentraler Ereignisse der Weltgeschichte, darunter die Fran‐ zösische Revolution, die Oktoberrevolution, die französische Volksfront, der Spanische Bürgerkrieg, der sogenannte Anschluss Österreichs an Nazi-Deutsch‐ land und der Algerien-Krieg (s. NKG 821-822). All diese historischen Daten, Orte und Ereignisse werden in Celans Gedicht ›in eins‹ gesetzt, wie es der programmatische Titel verheißt. Von entscheidender Bedeutung im vorliegenden Problemzusammenhang ist dabei vor allem die Tatsache, dass dieses In-Eins-Setzen eine Vielfalt an Sprachen umfasst, die im Text manifest in Erscheinung treten. Dort tauchen nämlich neben dem Hebräischen (»Schibboleth«, V. 2) und dem Spanischen (»no pasarán«, V. 4) das Französische (»Peuple / de Paris«, V. 3-4), das Latei‐ nisch-Griechische bzw. Eurolateinische (»Petropolis«, V. 15) sowie ein Austria‐ zismus (»Feber«, V. 1) auf. Diese reiche sprachliche Palette wird noch ergänzt durch russische und rumänische Wörter, die in den Vorstufen des Gedichts anzutreffen sind, dann aber im Laufe der Textgenese getilgt wurden (s. TCA, NR, 106-107). Aufgrund seiner engen Verbindung mit dem Begriff des Schibboleths impli‐ ziert das Motiv der Fremdheit, so wie es in den hier zitierten Texten mittels der Begriffe »Fremde der Heimat« (GW I, 131, V. 22) und »Exil« (GW I, 270, V. 7) zum Ausdruck kommt, also nicht zuletzt sprachliche Fremdheit, die sich konkret in Gestalt von anderssprachigen Einsprengseln äußert. Genauso wie im weiter oben kommentierten Nachlassgedicht »Muta« (s. 3.1.4), in dem die Muttersprache mit der französischen Familiensprache konfrontiert wurde, wird in »Schibboleth« und »In eins« das Deutsche als Dichtungssprache mit anderen biographisch oder historisch relevanten Sprachen enggeführt. In diesem Zuge wird das Deutsche diesen ›fremden‹ Sprachen gegenüber gleichsam ›geöffnet‹. Parallelen zu den poetologischen Texten Erweitert man den Werkhorizont über das Korpus der Gedichte hinaus, so bildet ›Fremdheit‹ ebenfalls eines der zentralen Themen der für Celans Poetik so grundlegenden Büchner-Preisrede Der Meridian aus dem Jahr 1960. Dort kann man etwa lesen: »Ich denke, daß es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, gerade auf diese Weise auch in fremder - nein, dieses Wort kann ich 162 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="163"?> 299 Petro Rychlo, Deutschjüdische Dichter der Bukowina, S.-172. jetzt nicht mehr gebrauchen -, gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen« (GW III, 196). Interessanterweise wird die Kategorie ›fremd‹ hier im Zuge einer Art performativen Selbstkorrektur durch die Idee der Alterität ersetzt. In den poetologischen Arbeitsnotizen des Dichters im Vorfeld der Rede wird diese Verbindung von Sprache und Fremdheit resp. Alterität schon ab Mitte der 1950er-Jahre deutlich. Dort notiert Celan unter anderem folgende zentrale Idee: »die Sprache der Dichtung ist immer auch schon die andere Sprache« (Mikrolithen, 102, Hervorhebung in der Quelle). Diese metasprachlichen Aussagen aus Paul Celans poetologischen Texten, die sich auf metapoetische Weise in den Gedichten spiegeln, suggerieren eine prinzipielle Nähe von ›Sprache‹, ›Fremdheit‹ und ›Anderssein‹, so wie sie sich auch im Begriff ›Schibboleth‹ herauskristallisiert. Damit wird nicht nur die ›nahfremde‹ Muttersprache angesprochen, sondern darüber hinaus die für Celans poetisches Sprechen typische ›Verfremdung‹ der Dichtungssprache - namentlich durch ›fremdes‹ Sprachmaterial. Im Gedicht »Mit den Sackgassen« aus der Sammlung Schneepart wird in diesem Sinne von einer ›Expatriierung‹ der Bedeutung gesprochen (GW II, 358, V. 4). Die poetologischen Texte und die Metapoetik der Gedichte greifen an dieser Stelle erneut eng ineinander. Im Lichte dieser verschiedenen Quellen erscheint Fremd- und Mehrsprachigkeit letztlich als integraler Bestandteil des in die ›Fremde der Heimat‹ herauszuruf‐ enden Schibboleths, wie es im Gedicht heißt, worüber das lyrische Subjekt bzw. der Dichter seine Differenz nicht nur, wie in »Schibboleth«, gegenüber einer bestimmten Gruppe, sondern auch gegenüber dem »Gesamtdeutschen« (Mikrolithen, 28) markiert. 3.2.2 Bedeutung der Sprachmystik Lebenslange Prägungen Die bis hierhin kommentierten Textpassagen und Gedichte haben deutlich gemacht, dass die Sprachproblematik bei Paul Celan, d. i. seine distanziert-kri‐ tische Haltung gegenüber dem Deutschen vor dem Hintergrund seiner Mehr‐ sprachigkeit, nicht nur mit seiner diffizilen Position als jüdischer Überlebender nach dem Genozid zusammenhängt, sondern zudem mit der unvordenklichen jüdischen Überlieferung und insbesondere dem ihr eigenen Sprachdenken verbunden ist. Bezüglich der Prägung von Celans Poetik durch jüdisches Denken kann mit Rychlo von einer »permanenten Metaidee« 299 gesprochen werden, die sein gesamtes Schaffen durchzieht. Denn auch in sprachlicher 3.2 Sprachdenken und Judentum 163 <?page no="164"?> 300 Ist auch die Etymologie des Wortes umstritten, scheint seine Bedeutung mit der Idee des ›Vorübergehens‹ oder der ›Durchquerung‹ einer Prüfung verbunden. 301 Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, S.-41. 302 Zitiert nach ebd., S.-51. 303 Petro Rychlo, Deutschjüdische Dichter der Bukowina, S.-12. Hinsicht ist dieser jüdisch-hebräische Einfluss deutlich spürbar. Die Herkunft des eben analysierten Begriffs ›Schibboleth‹ aus dem Tanach ist in diesem Zusammenhang alles andere als nebensächlich. Auf biographischer Ebene gibt es eine Reihe wichtiger Anhaltspunkte im Leben des Dichters, was seine Auseinandersetzung mit diesem jüdischen Erbe angeht. Anknüpfend an sein Studium der hebräischen Sprache und der jüdi‐ schen Tradition während seiner Kindheit in Czernowitz hat sich der erwachsene Celan, dessen jüdischer Vorname, wie hier am Rande erwähnt werden soll, »Pessach« 300 lautete, in Paris intensiv mit allerlei Judaica auseinandergesetzt - nicht zuletzt als Reaktion auf die antisemitischen Anfeindungen, denen er sich zunehmend ausgesetzt sah. Das Hebräische und das jüdische Denken wurde ihm auf diese Weise gleichsam zur Quelle einer Selbstvergewisserung als deutsch-jüdischer Dichter ›in dürftiger Zeit‹. Während dieser Lebensphase schob sich dieses kulturelle und nicht zuletzt sprachliche Universum immer mehr in den Vordergrund. Selbst wenn die Meinungen über Celans effektive Beherrschung des Hebräischen auseinandergehen, hat er durch seine profunden Sprachkenntnisse nachweislich viele seiner Gesprächspartner beeindruckt - unter anderem während seiner Israel-Reise im Jahr 1969. Lehnte der Jugend‐ liche das Hebräische noch als ›Vatersprache‹ ab und verweigerte weiteren Unterricht, 301 wurde es im Erwachsenenalter immer mehr zu einem zentralen Stützpfeiler seiner jüdischen Selbstbehauptung. In diesem Zusammenhang hat sich der Schriftsteller ebenfalls intensiv mit jüdischer Mystik und speziell mit jüdischen Sprachvorstellungen beschäftigt, wie sie unter anderem in der Kabbala Isaak Lurias überliefert wurden. Schon 1948 schrieb er dazu in einem Brief an seine Cousine: »Vielleicht bin ich einer der letzten, die das Schicksal der jüdischen Geistigkeit in Europa zuende leben müssen.« 302 Der Glaube an die jüdische Mystik prägte tief den osteuropäischen Chassidismus, in dessen Umfeld Celan in der Bukowina aufwuchs, wie er nicht nur beiläufig in seiner Bremer Rede betont (s. GW III, 185). Der Czernowitzer Ger‐ manist Petro Rychlo beschreibt dieses jüdische Milieu der Zwischenkriegszeit wie folgt: »Hier verflochten sich dicht miteinander schmerzerfüllte Klagelieder Jeremias und militante Aufrufe des Bar Kochba, Salomos Gesänge und Davids Psalmen, chassidische Legenden und mystische Vorsehungen der Kabbala.« 303 164 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="165"?> 304 In der Bibliothek Celans befanden sich u. a. folgende Titel: Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus: Erinnerungen. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening, 1918; Ders., Deutung des Chassidismus: drei Versuche. Berlin: Schocken, 1935; Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M.: Metzner, 1957; Ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich: Rhein-Verlag, 1960. 305 Siehe diesbezüglich auch das Nachlassgedicht »Gershom, du sprichst« (GW VII, 209). 306 Petro Rychlo, Deutschjüdische Dichter der Bukowina, S.-191. 307 Reichert/ Celan, Erinnerungen und Briefe, S.-30. Allerdings wurde dieser Teil seiner frühen Bildung, die wie gesagt in die Czernowitzer Kindheit zurückreicht, erst mit der Zeit für sein Schreiben wirk‐ lich relevant, wie er selbst 1961in einem Brief an Friedrich Torberg zugab (Briefe, 491-492). In der mittleren und späten Schaffensphase sollte dann die Vermitt‐ lung chassidischer und mystischer Lehren durch die Schriften von Philosophen und Religionshistorikern wie Martin Buber (1878-1965) und Gershom Scholem (1897-1982), welche der Dichter intensiv rezipiert hat, von zentraler Bedeutung werden. 304 Unter den anderen wichtigen jüdischen Denkern, deren Werke Celan während dieser Lebensphase las, können Franz Rosenzweig, Margarete Susman, Gustav Landauer und Walter Benjamin genannt werden. Auf Grundlage der genannten Quellen hat sich Celan genauestens mit der jüdischen Symbolik, der Zahlenmystik sowie den verschiedenen Methoden der Auslegung vertraut gemacht, die für das kabbalistische Sprachverständnis grundlegend sind. Sowohl Buber als auch Scholem hat Celan überdies persönlich getroffen und sich gerade mit letzterem wiederholt über all diese Themen ausgetauscht. 305 Es erstaunt daher nicht, dass neben der jüdischen Religion auch die jüdische Mystik in seiner Lyrik unmittelbar präsent ist. Dies äußert sich unter anderem in der Präsenz von Vokabeln wie »Ziw« (GW II, 202, V. 10), »kumi ori« (GW-II, 327, V.-10-11) oder »Schechina«, dem ursprünglichen Titel des Gedichts »Dein Hinübersein« (GW I, 128, s. TCA, NR, 20). Der Ausdruck »Ziw, jenes Licht« war zeitweise sogar als Gesamttitel des Bandes Lichtzwang vorgesehen (s. NKG, 954). Unter Einbeziehung der Gedichte aus dem Nachlass schreibt Rychlo hierzu: Begriffe wie Zimzum, En-Sof, Merkaba, Sefiroth, Schechina, Tikkun, Zelem, Zinno‐ roth, Ziw und viele andere […] bilden nicht nur das thematische Gerüst dieser Gedichte, sondern bestimmen zugleich auch ihren Ideengehalt in den geistigen Koordinaten der jüdischen Welt. 306 Bereits Zeitgenossen wie Klaus Reichert, der Ende der 1960er-Jahre Lektor des Autors beim Suhrkamp-Verlag war, hatten bemerkt, welch große Bedeutung jüdisches Sprachdenken für diese Dichtung besitzt. 307 Heutzutage ist der Einfluss der jüdischen Mystik auf Paul Celans Dichtung zu einem Gemeinplatz der 3.2 Sprachdenken und Judentum 165 <?page no="166"?> 308 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-3-4. 309 Siehe auch Elke Günzel, Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995; Lydia Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum. 310 Siehe hierzu u. a. Till R. Kuhnle, »Von Dante zu Derrida: Kabbala und Literaturtheorie«. In: Günther Butzer/ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur IV. Tübingen: Francke, 2009, S.-273-307. Forschung geworden. Die Grundzüge dieses Denkens lassen dabei zum Teil enge Parallelen mit Celans grundsätzlicher Konzeption des dichterischen Sprechens erkennen. Selbst wenn nicht immer eindeutig nachgewiesen werden kann, dass es sich dabei um Rezeptionsphänomene der einschlägigen Schriften aus seiner Privatbibliothek handelt, insofern der Autor oft erst im Nachhinein Ver‐ bindungen zu seinen Gedichten erkannt hat, 308 lassen sich die sprachmystischen Aspekte seines Werkes nicht von der Hand weisen. Immer wieder wurde daher in der Forschung betont, dass ohne die Kenntnis dieser religiösen Traditionen und Motive viele Texte Celans letztlich unverständlich bleiben müssen. 309 Sprachmystik und Anderssprachigkeit Untrennbar verbunden mit der jüdischen Mystik sind die jüdischen Sprachen, d. h. im vorliegenden Zusammenhang konkret das Hebräische und das Jiddische. Insbesondere das Hebräische und seine spezifische Schrift bilden von jeher die unmittelbare Grundlage für das jüdische Sprachdenken. Fundamental ist hierbei die Tatsache, dass die Buchstaben im Hebräischen weit mehr darstellen als ein einfaches alphabetisches Transkriptionssystem. In der kabbalistischen Schöpfungsvision wird davon ausgegangen, dass die Buchstaben des heiligen Gottesnamens auf verborgene Weise in allem Geschaffenem enthalten sind. Das hebräische Alphabet wird dementsprechend, so könnte man vereinfacht sagen, gleichsam als Code der Schöpfung angesehen. Dieses Prinzip prägt grundlegend die Lektüremethoden der Kabbala. Da im Hebräischen jeder Buchstabe einem Zahlenwert entspricht, können auf diese Weise beispielsweise Buchstaben, Wörter und Phrasen ›berechnet‹ und miteinander über die symbolische Bedeu‐ tung der Zahlen in Bezug gesetzt werden. Dadurch, dass die Kabbala eine den ursprünglichen Schöpfungsakt fortführende Methode zur unendlichen Vervielfältigung von Sinn und Bedeutung darstellt, 310 ist bei der Anwendung auf die Lektüre nichtreligiöser Texte, insbesondere von Celan-Gedichten, allerdings Vorsicht geboten, damit sich die Deutung nicht in eine Art Rorschach-Test ver‐ wandelt. Gerade was die jüdische Zahlenmystik angeht, sind die interpretativen Möglichkeiten schier unbegrenzt, insofern durch die numerische Konversion der Sprachzeichen eine schier unendliche Zahl kombinatorischer Muster an den 166 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="167"?> 311 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S. 152 (Hervorhe‐ bung in der Quelle). 312 Ebd., S.-7. 313 Siehe u.-a. Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans« und Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«. 314 Siehe Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-17. Versen erprobt werden können. Die Schwelle zur Überinterpretation, ja sprach‐ magischer Spekulation, wird schnell überschritten, wenn davon ausgegangen wird, dass Celan »mitunter auch in Zahlen erzählt«. 311 Wie jedoch Fußl im Anschluss an andere Kommentatoren überzeugend dargestellt hat, »betreibt [Celan] zumindest in einigen Gedichten selbst Sprachmystik.« 312 Dieser Umstand bringt eine grundsätzliche Affinität zu zahlenmystischen Konstruktionen mit sich. Bekräftigt wird dies durch verschiedene Berichte, wonach der Dichter einen ausgesprochenen Hang zu (sprach-)magischen Konzeptionen oder gar zum Aberglauben gehabt habe (s. PC-GCL, II, 127). Daher lässt sich nicht ohne Weiteres abstreiten, dass die Resultate selbst abenteuerlich wirkender Auslegungen - wie der Anwendung kabbalistischer Permutationssysteme auf Celans Gedichte oder deren Deutung auf Grundlage von (Rück-)Übersetzungen ins Hebräische 313 - in vielen Fällen durchaus frappierend, ja überzeugend wirken, wie weiter unten noch ausführlicher gezeigt werden soll (s.-6.5). Die oft konstatierte Nähe von Paul Celans Schreiben zur jüdischen Mystik beruht nicht zuletzt auf der magischen Kraft, die den hebräischen Buchstaben in der Kabbala zugesprochen wird, weshalb der Sprache in dieser Tradition auch die Fähigkeit nachgesagt wird, Wunder zu vollbringen, ja Tote wiederzubeleben. Sprachmystisches Denken erscheint demzufolge nicht zuletzt eng mit Celans Poetik des Totengedenkens verbunden. Mehr noch: Sprachmystik erscheint als Modell für das Dichten überhaupt. Auch dem oben dargestellten Topos der Rückkehr zur Ursprache (s. 3.1.3), wie er an mehreren Stellen im Werk auf‐ taucht, kommt eine jüdisch-mystische Dimension zu. Denn der nach Erlösung durch die unio mystica suchende Kabbalist will über die hebräische Sprache zum Ausgangspunkt der Schöpfung und also zur ursprünglichen Einheit zu‐ rückkehren. 314 Die Grundlagen dieses facettenreichen, weitreichenden und komplexen Sprachdenkens können im vorliegenden Rahmen allenfalls skizziert werden. Dabei soll die Relevanz sprachmystischer Ansätze im Folgenden vor allem im Hinblick auf den Metamultilingualismus anhand einzelner Beispiele aus Celans Gedichtwerk dargestellt werden. Im Kontext der Problematik der Mehrsprachigkeit Celans ist die jüdische Sprachmystik vor allen Dingen insofern von Bedeutung, als sie untrennbar mit den sprachlichen Besonderheiten des Hebräischen verbunden ist. Jeder 3.2 Sprachdenken und Judentum 167 <?page no="168"?> 315 Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans«. 316 Derrida, Schibboleth, S.-11. 317 Siehe auch das Gedicht »In Prag« (GW II, 63), wo die Golem-Legende ebenfalls im Hintergrund präsent ist. 318 Siehe Jürgen Lehmann, »Einem, der vor der Tür stand«. In: Ders. (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S.-173-177, hier S.-175-176. Rückgriff auf die hebräische Sprache impliziert tendenziell die Präsenz kabbalis‐ tischer Vorstellungen sowie umgekehrt jede Erwähnung der jüdischen Tradition automatisch die hebräische Sprache - inklusive ihrer Funktionsweise - mit ins Spiel bringt. Wie Klaus Reichert schon in den 1980er-Jahren nachgewiesen hat, greift Celan in seinem Schreiben wiederholt auf die Möglichkeiten der hebräischen Wortbildung und formale Strukturen des Hebräischen zurück. 315 Das im Folgenden zu analysierende Beispiel der Golem-Legende im Gedicht »Einem, der vor der Tür stand« (GW I 242), dessen Entstehung mit Celans verstärkten Hinwendung zur chassidischen Tradition und den Spekulationen jüdischer Mystik zusammenfällt, veranschaulicht dies auf exemplarische Weise. Wie ebenfalls zu zeigen sein wird, sind das Hebräische und die Sprachmystik gerade auf dem Feld der latenten, sprich unterschwelligen Mehrsprachigkeit für Paul Celans Schreiben von herausragender Bedeutung. Auf metamultilingualer bzw. poetologischer Ebene wird sich dabei in den folgenden Abschnitten insbesondere herausstellen, dass der Autor eine solche jüdisch-mystische Lesart seiner Gedichte in Form einer ›Lektüreanweisung‹ explizit eingefordert hat. In den Analysen zur textinternen Mehrsprachigkeit (s. Kap. 6) in den Gedichten soll dann im Anschluss die konkrete Präsenz des Hebräischen in seinem Schreiben näher beleuchtet werden. 3.2.3 ›Sprachbeschneidung‹ »Einem, der vor der Tür stand« Jacques Derridas 1986 publizierter und bereits zitierter Schibboleth-Essai über Paul Celans Werk setzt bezeichnenderweise mit dem Motiv der Beschneidung ein: »Une seule fois: la circoncision n’a lieu qu’une fois«, 316 was auf die für seine Interpretation zentrale Datums-Problematik (qu’une fois = ein einziges Mal) vorausweist. Der jüdische Topos der Beschneidung wurde dem Philosophen durch ein Gedicht Celans - »Einem, der vor der Tür stand« aus dem Band Die Niemandsrose (GW I, 242) - vorgegeben, in dem sich der Lyriker mit der mittel‐ alterlichen Legende vom Prager Golem auseinandersetzt. 317 Neben der durch den sprachlosen »Kielkropf« (V. 5) und das »schilpende Menschlein« (V. 13) hergestellten Verbindung zum Topos der Sprachnot 318 ist in diesem Gedicht 168 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="169"?> 319 Eine alternative Bedeutung von ›emeth‹ im Hebräischen ist interessanterweise ›Treue‹. hauptsächlich die Tatsache relevant, dass der Dichter die Sprachproblematik mit einer dezidiert jüdischen Dimension ausstattet, indem er das hebräische Wortspiel »emeth«/ »meth«, mit dem laut Legende über Leben und Tod des Golem bestimmt wird, in seinen Text einbaut, wie jetzt gezeigt werden soll. Der Legende zufolge trägt die vom Prager Rabbi Löw aus Lehm geformte Kreatur des Golem bei ihrer Erschaffung das hebräische Wort »emeth« ( תמא = Wahrheit) auf der Stirn, durch das sie erst zum Leben erweckt wird. Kraft dieses ›Siegels der Wahrheit‹ 319 kann das als Diener konzipierte Wesen belebt oder aber umgekehrt während des Sabbats in eine Art Ruhezustand versetzt werden. In der Folge wird der übermächtige Lehmkoloss laut Überlieferung zur akuten Be‐ drohung für seinen Erschaffer und die gesamte Gemeinschaft. Doch dank der Macht der hebräischen Wörter bzw. Buchstaben kann diese Notsituation über‐ wunden werden. Indem es dem Rabbi gelingt, den ersten Buchstaben ( א = aleph) des Siegels auf der Stirn der Kreatur auszulöschen, verwandelt sich das Wort »emeth« ( תמא = Wahrheit) in »meth« ( תמ = tot) zurück. Der Zauber ist damit gebrochen und der Golem wird wieder zu lebloser Materie. In seiner dichterischen Anverwandlung der jüdischen Golem-Geschichte verbindet Paul Celan diese sprachmystische Thematik mit dem rituellen Akt der Beschneidung, vor dem Hintergrund von Motiven des Todes, wie dieser längere Auszug aus dem Gedichttext zeigt: - […] - Rabbi, knirschte ich, Rabbi 15 Löw: - - - Diesem - beschneide das Wort, - diesem - schreib das lebendige 20 Nichts ins Gemüt, - diesem - spreize die zwei - Krüppelfinger zum heil- - bringenden Spruch. 25 Diesem. - […] (GW-I, 242, V.-14-25) 3.2 Sprachdenken und Judentum 169 <?page no="170"?> 320 Siehe Günzel, Paul Celan im jüdischen Kontext, S.-212f. Sowohl das Beschneidungsmotiv (V. 17) als auch das auf das Ritual des Aaroni‐ tischen Segens, einem Segenspruch der Tora, verweisende Bild der »Krüppel‐ finger zum heil-/ bringenden Spruch« (V. 23-24, s. NKG, 806) verleihen dem Text eine explizit jüdische Prägung. Wie immer in Celans Dichtung muss dabei na‐ türlich die Geschichte des (deutschen) Antisemitismus - und die systematische Vernichtung der europäischen Juden als deren Endpunkt - mitgedacht werden. Auch das Verb ›knirschen‹ (V. 14) könnte als jüdische Referenz gelesen werden. Denn geht man davon aus, dass ein solches knirschendes Sprechen durch Steine im Mund verursacht wird, kann es sich um eine Anspielung auf eine Stelle aus dem Buch Mischle handeln (Sprüche, 20, 17), in dem ein »Mund voll Kies« als Folge von Lüge und Betrug ausgewiesen wird. In der Logik des Gedichtes würde der ›Beschneidung‹ des Wortes somit die Fähigkeit innewohnen, aus diesem Zustand der Unwahrheit herauszuführen. Die Problematik des (wahrhaften) Sprechens ist im vorliegenden Gedicht also von zentraler Bedeutung. Die Übernahme der Golem-Legende wird dadurch mit einer eminent poetologischen Dimension ausgestattet. Dass der Vorgang der Auslöschung des ersten Buchstabens Aleph ( א ) im Wahrheitssiegel des Golems, so wie er in der Quelle beschrieben wird, im Gedicht zur Idee einer allgemeinen ›Beschneidung des Wortes‹ erweitert wird, leitet den Leser explizit dazu an, den Aussagegehalt auf eine metasprachliche Ebene zu heben. Und da der im Text benannte ›Dieser‹ nicht auf den Golem, sondern eben auf den bereits im Titel eingeführten ›Einen‹ (vor der Tür) verweist, kann man die insistierende Auf‐ forderung »Diesem / beschneide das Wort« (V. 15-16) im Gedichtkontext als generellen Appell zur Einschreibung jüdischer Identität in die Sprache ver‐ stehen. Durch eine solche, vom lyrischen Subjekt geforderte Operation der ›Wort-Be‐ schneidung‹, so könnte man sagen, würde das Gedächtnis an den Genozid gleichsam im Deutschen verankert. 320 Somit könnte dieser Vorgang als Weg zu einem neuen, wahrhaftigen Sprechen interpretiert werden - in deutscher Sprache, aber im Zeichen des Judentums. Für diesen memoriellen Interpretati‐ onsansatz spricht ebenfalls die Tatsache, dass der Ausdruck »lebendige[s] / Nichts« (V. 20/ 21), der im Gedicht als Gegenstand dieser Ein‐ schreibung erscheint, mit der in der jüdischen Mystik zentralen Idee des Schöp‐ fers als reine Negativität ( ןיא , ajin) verbunden werden kann. Die oxymorische Formulierung ›lebendiges Nichts‹ könnte somit als Forderung nach einer le‐ bendigen Erinnerung an die jüdischen Toten gelesen werden. Innerhalb des Ge‐ dichts verweisen mithin sowohl die Methode als auch der Gegenstand dieser 170 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="171"?> 321 In seinen poetologischen Aufzeichnungen rund um die Meridian-Rede spricht Celan von den »krummnasigen und mauschelnden und kielkröpfigen Toten von Auschwitz und Treblinka« (TCA, M, 127). 322 Ein gleichsam performatives Beispiel für eine solche Wort-Beschneidung in Celans Dichtung liefert das durch jüdische Symbole und Verweise überdeterminierte Gedicht »Eine Gauner- und Ganovenweise« (GW I, 229 f.), in dessen letzten Versen das Wort »Machandelbaum« (V. 21) über »Chandelbaum« (V. 22) schließlich zu »Aum« (V. 24) ›beschnitten‹ wird. 323 Derrida, Schibboleth, S.-97f. ›Sprach-Operation‹ auf das Judentum und seine (deutsch-europäische) Ge‐ schichte. Durch den Kontrast mit dem ›Knirschen‹ sowie mit den Motiven der Sprach‐ losigkeit am Beginn des Gedichts (»Kielkropf«, V. 5, und »schilpenden Mensch‐ lein«, V. 13) erhält das als ›Einschreibung‹ konzipierte ›Beschneiden‹ also die Dimension einer Sprachstiftung unter dem Zeichen des Jüdischen, ja der Ju‐ denvernichtung. 321 An dieser Stelle wird im Gedicht das Phänomen des impli‐ ziten Bilingualismus (s. 6.4) sichtbar. Denn bemerkenswerterweise kann ›milah‹ ( הלימ ) im Hebräischen sowohl ›Beschneidung‹ (brit milah) als auch ›Wort‹ (milah) bedeuten, wodurch die Wendung »Diesem / beschneide das Wort« über das Hebräische gelesen einen quasi-pleonastischen Charakter erhält. 322 Neben dem aus der Legende stammenden Wortspiel verweist also auch dieser Vers auf die hebräische Sprache. Diese implizite Präsenz des Hebräischen im Gedicht ließe sich als performative Umsetzung bzw. als Mise en abyme seines metapo‐ etischen Gehaltes verstehen. Insofern die von diesem Text geforderte Sprach-Be‐ schneidung ein Merkmal der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft dar‐ stellt, geht es bei dieser Kennzeichnung also - neben ihrer Negativität als Verletzung oder Auslöschung (des Buchstabens und damit der Seele des Golems) - um eine dichterisch produktive Öffnung deutscher Identität gegenüber dem Jüdischen, das einmal ein fester Teil von ihm war. Wie es schon bei der Denkfigur des Schibboleth der Fall war, in dessen biblischer Quelle die phonologische Performanz der Rede im Vordergrund steht, wird im Bild der Sprachbeschneidung eine enge Verbindung von Sprache und Körper sichtbar. Da die Beschneidung des männlichen Gliedes nicht zu‐ letzt auf eine körperliche Verwundung verweist, kann eine Verszeile wie »sie setzt / Wundgelesenes über« aus dem Gedicht »Dein vom Wachen« (GW II, 24) ebenfalls als Verweis auf eine solche Wort-Beschneidung gelesen werden, wie es schon Derrida festgestellt hat. 323 Das ›Wundgelesene‹ deutet demzufolge ebenfalls auf eine Einschreibung jüdischer Identität in den ›Sprachkörper‹ hin. In diesem Sinne ließe sich Celans ›Beschneidung‹ des Deutschen als jüdische 3.2 Sprachdenken und Judentum 171 <?page no="172"?> 324 Zu diesem Begriff siehe u. a. Axel Dunker/ Gabriele Dürbeck (Hrsg.), Postkoloniale Germanistik: Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Ais‐ thesis, 2014; Johannes Feichtinger/ Ursula Prutsch/ Moritz Csáky (Hrsg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studien Verlag, 2003. Ausprägung eines ›Writing Back‹ 324 bezeichnen, durch das sich ein einst von tödlicher Ausgrenzung bedrohter Jude die ihm zuvor von den Nazis verbotene Sprache wieder aneignet - wohlbemerkt unter mehrsprachigen Vorzeichen. Metasprachliche Präsenz des Hebräischen Unter metamultilingualen Gesichtspunkten ist das eben kommentierte Gedicht »Einem, der vor der Tür stand« nicht zuletzt deswegen exemplarisch und von zentraler Bedeutung, weil Paul Celan in seinem dichterischen Werk jüdische Sprachen - d. h. Hebräisch und Jiddisch - nicht nur wiederholt einsetzt (was später im Kapitel über manifeste textinterne Mehrsprachigkeit eingehender dargestellt wird, s. Kap. 5), sondern auch immer wieder in metasprachlicher Hinsicht adressiert. Dabei werden neben der metamultilingualen Ebene auch andere Bereiche wie die latente Mehrsprachigkeit berührt, was insbesondere dann der Fall ist, wenn auf Formaspekte anderer Sprachen referiert wird. Doch soll der Fokus der Betrachtung im Folgendem erneut auf dem Phänomen der Sprach(be)nennung, also der thematischen Präsenz jüdischer Sprachen in den Texten, liegen. Auf explizit-thematischer Ebene sind (ost-)jüdische Sprachen in der Tat in vielen Gedichten Paul Celans präsent. Als »mitgewanderte« Sprachen der jüdischen Diaspora - oder »gerettete« Sprachen, wie es in einer Vorstufe heißt (s. HKA, 7.2, 193) - tauchen sie beispielsweise im Gedicht »Osterqualm« (GW II, 85, V. 10) aus Atemwende auf, das auf den Durchzug des Volks Israels durchs Schilfmeer anspielt (2. Mose 14,1-31): - […] - Wir hier, wir, - überfahrtsfroh, vor dem Zelt, - wo du Wüstenbrot bukst 10 aus mitgewanderter Sprache. - […] (GW-II, 85, V.-7-10) Selbst wenn die jüdischen Sprachen hier nicht namentlich genannt werden, erlaubt der Kontext in diesem Fall eine relativ eindeutige Zuordnung zum Volk der Israeliten. 172 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="173"?> 325 Hugo Huppert, »›Spirituell‹. Ein Gespräch mit Paul Celan«, S.-320. Auch das »Zeltwort« aus dem 1961 entstandenen Gedicht »Anabasis« (GW 256 f., V. 26), in dem Motive der Fahrt und der Reise verarbeitet werden, lässt sich über den Bezug zum jüdischen Soukkot-Fest (im Deutschen generell als ›Laubhüttenfest‹ bezeichnet) in den jüdisch-biblischen Kontext einordnen. Im späteren Gedicht »In Prag« wird das Hebräische hingegen ganz konkret als »Knochen-Hebräisch« (GW II, 63, V. 19) erwähnt. Noch mehr als im eben zitierten Gedicht »Osterqualm«, dessen Titel selbstverständlich an die Verbrennungsöfen der Vernichtungslager denken lässt, verweist der Ausdruck »Knochen-Hebräisch« im Kontext dieses Gedichts zwangsläufig auf die sprich‐ wörtlichen »Mühlen des Todes« (GW-I, 35, V.-16) der NS-Zeit. Im Unterschied zum frühen Œuvre der 1940er und -50er Jahre lässt sich in den Gedichten der mittleren und späten Werkphase beobachten, wie die jüdischen Themen zunehmend mit der Sprachproblematik verknüpft werden. Die ab dem Band Die Niemandsrose bzw. der Wende zu den 1960er Jahren immer manifester werdende Verwendung und Thematisierung jüdischer Sprachen ist dabei nicht zuletzt das Anzeichen einer zunehmenden Distanznahme zum Deut‐ schen. Symbolisch überhöht als ›Beschneidung‹ des (deutschen) Wortes dient diese Präsenz der Einschreibung geschichtlicher Gewalt und traumatischer Erinnerung in die Texte, zu einer Zeit, da »Todesfuge« nach Celans Worten »lesebuchreif gedroschen« 325 war, also für eine vorschnelle deutsch-jüdische Versöhnungspolitik instrumentalisiert wurde. In gewisser Weise erschien dem Autor dieses für seine Schriftstellerkarriere so wichtige Gedicht zu diesem Zeitpunkt als nicht (mehr) fremd oder jüdisch genug. Insgesamt entwickelt sich Celans Metamultilingualismus im Laufe der Werk‐ geschichte in Richtung auf eine immer explizitere Markierung des Jüdischen als Form sprachlicher Differenz und Alterität. Die allgemeine Hinwendung zum Judentum geht folglich Hand in Hand mit der steigenden metasprachlichen Prä‐ senz jüdischer oder jüdisch konnotierter Sprachen, wie auch andere Passagen zeigen. So scheint etwa die Formulierung »rotdeutsch, schwarzwelsch« aus dem 1966 entstandenen Nachlassgedicht »Sichtbar-unsichtbar« (GW VII, 152, V. 5-6) auf die ›Gaunersprache‹ Rotwelsch zu verweisen, die viele Elemente des Jiddischen integriert (s. NKG, 1128). Und der Titel des Nachlassgedichts »Judenwelsch, nachts« (GW VII, 54) aus dem Jahr 1961 impliziert mit dem Wortteil ›welsch‹ (= fremdländisch im Sinne von romanisch) ebenfalls eine eindeutig mehrsprachig-jüdische Dimension. Dazu muss angemerkt werden, dass ›welsch‹ in der deutschen Sprachgeschichte oft den Charakter einer deutschnationalen Kampfvokabel mit dem Ziel ethnokultureller ›Reinigung‹ 3.2 Sprachdenken und Judentum 173 <?page no="174"?> 326 Die Relevanz diese sprachdifferentiellen Merkmals für Celan wird dadurch unterstri‐ chen, dass er einer der Gravuren seiner Frau, die ihn stark an hebräische Lettern erinnerte, den Doppeltitel »sens contraire/ Gegensinn« verliehen hat (PC-GCL, 2, Abb. 78). 327 Siehe Badiou, Bildbiographie, S. 16. Wie Irene Fußl gezeigt hat, kann der Text außerdem insgesamt als poetische Umsetzung kabbalistischer Vorstellungen gelesen werden. Siehe Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-29. besaß. Bei dem Kompositum ›Judenwelsch‹ kann an den antisemitischen Topos der Mauschelei und somit an das Jiddische gedacht werden, aber auch an das Französische als Zweitsprache (des Juden) Celans. In diesem Sinne bestünde dieses Wort in der Zusammenziehung einer doppelten Stigmatisierung als in Frankreich lebender (deutschsprachiger) Jude. Dabei ergibt sich nicht zuletzt eine implizite Verbindung zu Heinrich Heine als Vorgänger Celans in der Rolle des deutsch-jüdischen Dichters in Paris. Vom Bedeutungsaspekt ›südländisch‹ des Wortes ›welsch‹ her kann der Ausdruck zudem mit dem aus derselben Schaffensperiode stammenden Nachlassgedicht »So [kannst du’s lesen]« in Verbindung gebracht werden, in dem das jüdische Sprechen als mit dem Süden verbunden erscheint (s.-8.3). Solche Erwähnungen jüdischer Sprache(n) durchziehen nahezu das gesamte Schaffen Celans, wozu ebenfalls metalinguale Verweise auf sprachliche Form‐ aspekte zu zählen sind. In der Gedichtsammlung Lichtzwang aus dem Jahr 1970 tauchen die Sprachen des Judentums so unter anderem in der Umschreibung »rückwärtsgesprochene Namen« auf, die auf die differente Leserichtung des Hebräischen verweist (»Die rückwärtsgesprochene«, GW II, 312). 326 Aufgrund der motivischen Nähe dieses Textes zu dem rund sieben Jahre zuvor entstan‐ denen Gedicht »Chymisch« aus Die Niemandsrose (s. »Alle die Namen, alle die mit-/ verbrannten / Namen«, GW I, 227, V 7-9) ist der Verweis auf die Vernich‐ tungslager hier erneut gegeben. Eine ähnliche Umschreibung wie in »Die rück‐ wärtsgesprochenen« liegt in den Versen »kein Wort, kein Ding, / und beider einziger Name« des Gedichts »Fahlstimmig« vor, das sich in Lichtzwang in un‐ mittelbarer Nähe zum eben zitierten Text befindet (GW II, 307, V. 3-4). So ver‐ weist dort die Formulierung »beider einziger Name« über die im Hebräischen gegebene Identität von ›Wort‹ und ›Ding‹ (= רבד , dawar) eindeutig auf diese jüdische Sprache. 327 Das im selben Band unmittelbar vor »Die rückwärtsgesprochenen« platzierte Gedicht »Auch mich« spielt mit dem Ausdruck »Silbenschrift« (GW II, 311, V. 7) ebenfalls auf die Besonderheiten der hebräischen Sprache an, deren Wörter in ihrer Grundform bekanntlich keine festen Vokale, sondern nur konsonantische Wortstämme besitzen, die unterschiedlich vokalisiert werden können. Durch 174 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="175"?> 328 Siehe Eisenreich, Paul Celans Kreidestern, S.-36. diese Wortstammlogik kommt den Konsonanten der Schriftsprache gleichsam der Status von Silben zu (s. NKG, 1015). Dabei erscheint das Hebräische angesichts des allgegenwärtig scheinenden Unglücks, das im Text zur Sprache kommt, gleichsam als Medium der Rettung für das Jüdische, das im Text in Form der ›blühenden‹ »Mandelhode« präsentiert: […] doch geht in die große Silbenschrift ein, was uns nah kam, einzeln, - und die Mandelhode 10 gewittert und blüht. (GW-II, 311, V.-7-11) Das letzte Beispiel für eine solche metasprachliche Thematisierung des Hebräi‐ schen, das an dieser Stelle erwähnt werden soll, ist dem 1967 erschienenen Band Fadensonnen entnommen. Der Ausdruck »Dreivokal« im Gedicht »Ihr mit dem« (GW-II, 195, V.-9) aus dieser Sammlung lässt sich nämlich ebenfalls als direkter Verweis auf das Hebräische lesen. Unter Verweis auf eine von Celan bei Scholem gelesene Stelle aus dem Sohar, dem bedeutendsten Schriftwerk der Kabbala, lässt sich dieser Ausdruck in Bezug auf die drei hebräischen Vokalpunkte Choläm, Schuruq und Chiriq verstehen. In dieser von der Forschung dokumentierten Quelle (s. NKG, 947) werden die drei diakritischen Zeichen als ›heiliger Samen‹ bezeichnet, womit also ebenfalls die heilige Sprache des Judentums aufgerufen ist. Auf Grundlage dieser verschiedenen Textstellen mitsamt ihrer metapoeti‐ schen Wertigkeit kann zusammenfassend festgestellt werden, dass Paul Celans Poetik - insbesondere ab der Wende zu den 1960er-Jahren - zu einem guten Teil auf einer ›Verjudung‹ der deutschen Sprache beruht. Damit wird an dieser Stelle bewusst ein antisemitischer Kampfbegriff wiederaufgenommen, der jedoch - und das ist der entscheidende Punkt - vom Dichter selbst positiv umgedeutet wurde, und zwar wortwörtlich als »Anderswerden« und »Zum-an‐ deren-und-dessen-Geheimnis-stehn« (TCA, M, 131). 328 Wie hier deutlich wird, bedeutet eine solche sprachliche Fremdheit bzw. Verfremdung für ihn keines‐ wegs ein Manko im Sinne eines Defizits an ›Deutschsein‹, sondern vielmehr eine Form jüdischer Selbstermächtigung in der Sprache der Dichtung. Mittels sprachlicher ›Beschneidung‹, so kann hier festgehalten werden, infiltriert Celan in seiner Lyrik gleichsam das Deutsche mit jüdischen Sprachen wie dem 3.2 Sprachdenken und Judentum 175 <?page no="176"?> 329 Siehe Lydia Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum, S.-122. 330 Platz und Funktion dieser hebräischen Wörter wird in Abschnitt 5.2. im Zusammenhang mit textinterner Mehrsprachigkeit näher beleuchtet. 331 Zur latenten Bedeutung des Hebräischen bei deutsch-jüdischen Autoren siehe allge‐ mein Robert Alter, »On not knowing Hebrew«. In: Ders.,-Necessary Angels: Tradition and Modernity in Kafka, Benjamin, and Scholem. Cambridge: Harvard University Press, 1991, S.-25-63. 332 Behl, »References to Hebrew in Paul Celan’s ›Kleide die Worthöhlen aus‹«. Hebräischen, macht dem deutschen Leser seine eigene ›Zunge‹ fremd und fügt ihr durch diese Alterität neue Bedeutungsschichten hinzu. 329 3.3 Metapoesie der translingualen Lektüre 3.3.1 Vom ›Auskleiden‹ der ›Worthöhlen‹ Wie man an den oben dargestellten Beispielen erkennt, kommt dem Spätwerk in metamultilingualer Hinsicht insofern eine herausgehobene Stellung zu, als in ihm die Erwähnung jüdischer Sprachen immer wieder explizit mit der Erin‐ nerungsproblematik verknüpft wird. Dieser metamultilingual thematisierten ›Verfremdung‹ bzw. ›Verjudung‹ des Deutschen entsprechen auf formaler Ebene häufige Einschübe von Wörtern aus (ost-)jüdischen Sprachen oder von aus dem Judentum stammenden Ausdrücken, die im Spätwerk insgesamt verstärkt auftreten. 330 In manifester Form treten jüdische Sprachen und Wörter in den Gedichten damit als Erinnerungsträger in Erscheinung. Außerdem lässt sich in den Texten eine unterschwellige Präsenz des Hebräischen in Form latenter Mehrsprachigkeit feststellen. 331 Metapoetisch relevant ist diese Tatsache deshalb, weil es der Dichter nicht dem Zufall der Auslegungen oder gar sprachmagischen Spekulationen überlassen hat, diese verborgenen Spuren der jüdischen Sprache in den Texten aufzudecken. Vielmehr hat er in dieser Hinsicht gleichsam eine explizite Leseanweisung mitgeliefert, namentlich in dem 1968 in Fadensonnen publizierten Gedicht »Kleide die Worthöhlen aus«, das im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen wird. »Kleide die Worthöhlen aus« Wie in der Forschung bereits detailliert dargelegt wurde, 332 muss dieses ober‐ flächlich betrachtet rein deutschsprachige Gedicht Celans über das Hebräische und die jüdische Sprachmystik interpretiert werden, damit es eigentlich erst lesbar und in seiner Tiefenstruktur verständlich wird. Durch seine ausgeprägt sprachreflexive Konzeption erhält es in diesem Zusammenhang eine eminent 176 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="177"?> 333 Am Rande soll hier erwähnt werden, dass die Thematik dieses Gedicht frappierende Parallelen zu der 1949 erstmals publizierten Erzählung La escritura del Dios von Jorge Luis Borges (1899-1986) erkennen lässt, ohne dass sich Hinweise auf eine konkrete Rezeption von Seiten Celans finden lassen. Der Schauplatz des in den 1960er-Jahren auch auf Französisch und Deutsch erschienenen Borges-Textes ist eine Höhle. Daneben spielen ein Raubtierfell, die Schriftthematik sowie die Kabbala eine tragende Rolle. 334 Ebd. Siehe auch Ulrich Konienzny, Sinneinheit und Sinnkohärenz des Gedichts bei Paul Celan. Bad Honnef: Bock und Herchen, 1985, S.-95-104. metamultilinguale Dimension. Der relativ kurze Gedichttext soll hier zunächst in Gänze wiedergegeben werden: - KLEIDE DIE WORTHÖHLEN AUS - mit Pantherhäuten, - - - erweitere sie, fellhin und fellher, - sinnhin und sinnher, - - 5 gib ihnen Vorhöfe, Kammern, Klappen - und Wildnisse, parietal, - - - und lausch ihrem zweiten - und jeweils zweiten und zweiten - Ton. (GW-II, 198) 333 Für einen mit der jüdischen Tradition vertrauten Leser enthält dieses Gedicht zahlreiche, ziemlich eindeutige Verweise auf die Kabbala und das Hebräische, die in enger Verbindung mit Celans Lektüren dieser Zeit, insbesondere der Werke Gershom Scholems, stehen. Die ausführliche und minutiöse Analyse, die 1995 von Heike Kristina Behl vorgelegt wurde, 334 stellt die Fülle der im Text angelegten Sinnmöglichkeiten überzeugend dar. Im Folgenden soll ihre Inter‐ pretation in den Grundzügen nachgezeichnet und um einige Punkte ergänzt werden, mit dem Ziel darzulegen, inwiefern der imperativische Incipit-Titel »Kleide die Worthöhlen aus« metapoetisch als eine explizite Aufforderung zur translinguale Lektüre von Celans Werk gelesen werden kann, ja muss. Hauptpfeiler einer solchen metamultilingualen Lesart sind drei Aspekte des Textes, die direkt auf die jüdische Sprachmystik und die Charakteristika der ihr zugrunde liegenden hebräischen Sprache referieren. Erstens deutet das vom Wort »Pantherhäute« (V. 2) erzeugte Bild des gefleckten Wildtierpelzes im Gedichtkontext auf eine Besonderheit des Hebräischen hin. Die gepunktete Fell‐ zeichnung des Tieres kann nämlich als Verweis auf die Form der diakritischen Vokalzeichen gesehen werden, die insbesondere im masoretischen Bibeltext 3.3 Metapoesie der translingualen Lektüre 177 <?page no="178"?> dazu dienen, die Aussprache (und damit den Sinn) der Wörter zu bestimmen. Jede der jeweils aus drei Konsonanten bestehenden Wortwurzeln des Hebräi‐ schen kann dabei je nach Vokalisierung verschiedenen, ja gegensätzlichen Bedeutungen entsprechen. Die Konsonanten - im Gedicht verkörpert durch die Steinstruktur der Höhle - bleiben unverändert, erzeugen indes potenziell je nach ›Auskleidung‹ durch die (Fell-)Punktierung eine völlig andere Semantik. Behl weist in diesem Zusammenhang auf die Nähe zwischen ›Worthöhle‹ und ›Mundhöhle‹ hin, was im Gedicht die Verbindung zum Motiv der sprachlichen Hervorbringung von Lauten und Worten verstärkt. Die Problematik von Wortwurzel und Vokalisierung bei Celan verdient an dieser Stelle einen kurzen Exkurs. Bereits anhand des Gedichts »Huhediblu« konnte nämlich beobachtet werden (s. 2.3), wie eine veränderte Vokalisierung bzw. Aussprache der Vokale das zentrale Titelwort des Gedichts zwischen den Sprachen oszillieren lässt. Ferner hat der Dichter in seinen poetologi‐ schen Notizen unter dem Begriff ›Muta cum liquida‹ ein der hebräischen Wortwurzellogik stark ähnelndes Verfahren beschrieben, bei dem es um eine auf Konsonanten reduzierte Silbe geht. Die vokallose Kombination aus stummem Verschlusslaut und Liquidlaut steht dabei für einen Prozess sprachlicher ›In‐ volution‹, den er gleichsam als Rückkehr zur Wortwurzel beschreibt: »Es ist die im durchröchelten Stammeln erkennbare ›Stammsilbe‹, Sprache als das in den Keim Zurückgekehrte« (TCA, M, 123 f.). Der auf die konsonantische »Stammsilbe« reduzierte »Bedeutungsträger« wird von Celan in diesem Zu‐ sammenhang mit dem »sterblichen Mund verglichen, dessen Lippen sich nicht mehr ründen« (ebd.). Obwohl es sich bei dem phonetischen Phänomen, das seit der antiken lateinischen Verslehre unter dem Begriff ›Muta cum liquida‹ bekannt ist, um eine Kombination aus nur zwei Konsonanten handelt, ist die Nähe zur Funkti‐ onsweise der hebräischen Wortwurzeln in dieser poetologischen Aufzeichnung klar zu erkennen. Die Vokalisierung erscheint als kreatives, ja vitales Prinzip von Sprache, wohingegen die Konsonanten als ›inerte‹ Buchstaben für den unaus‐ gesprochenen Todesbezug stehen. Im Gedicht »Erratisch« (GW I, 235) aus Die Niemandsrose, das in seinem ersten Entwurf bemerkenswerterweise als »Muta cum liquida« (TCA, NR, 50) betitelt ist, wird diese Stammsilben-Konzeption mit der Welt der Steine verbunden, was an dieser Stelle zur Bildwelt von »Kleide die Worthöhlen« zurückführt. Nach diesem Exkurs zur Wortwurzel-Logik bei Celan soll nun der zweite für die hebräisch-jüdische Problematik relevante Aspekt in diesem poetologisch so zentralen Gedicht zur Sprache kommen. Dieser tritt in der Passage »fellhin und fellher, / sinnhin und sinnher« (V. 3-4) in Erscheinung. In Hinblick auf 178 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="179"?> 335 In einem bekannten Talmudvers aus der Mischna heißt es so: »Kehr und wende sie um und lies darin! Denn es ist der Inbegriff von allem« (Sprüche der Väter, 5: 26-28). 336 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-23. eine metamultilinguale Lesart des Textes - und vor dem bereits erwähnten Hintergrund der schwarzen Rosetten des Pantherfells - lassen sich diese Verse nämlich als Verweis auf weitere Grundmerkmale der hebräischen Sprache verstehen. Natürlich klingt im Bild der wiederholten Richtungsänderung (›hin und her‹) zuvorderst die alternative Leserichtung des Hebräischen (von rechts nach links) gegenüber der deutschen Sprache des Gedichts (von links nach rechts) an. Zusätzlich kann die Hin-und-Her-Bewegung beim ›Erweitern‹ der »Worthöhlen« im Kontext der jüdischen Tradition (speziell im Hinblick auf das Thorastudium) auf die eben angesprochene Mehrdeutigkeit der Grundwörter oder Stammsilben bezogen werden. Diese verändern, wie erwähnt, je nach ›Punktierung‹ der goldgelben Grundierung des Pantherfells ihren Sinn. Darüber hinaus verweist die in dieser Passage zum Ausdruck kommende Idee der wechselnden Richtung auf die so wirkmächtige kabbalistische Lehre von der Buchstabenkombinatorik, bei der die Buchstaben im Text gleichsam ›hin und her‹ geschoben werden. 335 In diesem Zusammenhang kann es kaum dem Zufall geschuldet sein, das der Text drittens aus exakt 32 Wörtern besteht, einer sprachmystisch höchst bedeutungsvollen Zahl, die mit der Idee der Totalität verknüpft ist. Nach den Lehren der jüdischen Kabbala, wie sie unter anderem im Sefer Jezirah (Buch der Schöpfung) beschrieben werden, besteht der Lebensbaum aus genau 32 ›Wegen der Weisheit‹, zusammengesetzt aus den 10 Sephiroth und den 22 sie verbindenden ›Pfaden‹, die den Buchstaben des hebräischen Alphabets entsprechen. Diese 32 ›Wege‹ beschreiben eine Lektüremethode des heiligen Textes, die es erlaubt, ihm die größtmögliche Vielfalt von Bedeutungen abzugewinnen: Unter den 32 unterschiedlichen Methoden, die ursprüngliche Bedeutung der Thora zu erforschen, versucht der Kabbalist unter anderem durch Temura (Buchstabenper‐ mutation) und Gematria (Buchstabenkombination) und durch die Erforschung von Verhältnissen und Übereinstimmungen von Zahlenwerten den ›Weisheitspfaden‹ in der heiligen Sprache auf die Spur zu kommen. 336 Zu den vielen Korrespondenzen zwischen Celans Gedicht und der Kabbala gehört außerdem die Assoziation von Stein und Buchstabe (bzw. Konsonanten), wie sie den gesamten Text durchzieht. Die Buchstaben-›Steine‹ bilden gemäß den Vorstellungen der Kabbala ein Wort-›Haus‹, woraus dann in Celans Gedicht eine ›Worthöhle‹ wird. Dieser Ausdruck verweist zudem auf die allgemeine mo‐ tivische Nähe von ›Sprache‹ und ›Stein‹ bei Celan, einem Schlüsselwort seiner 3.3 Metapoesie der translingualen Lektüre 179 <?page no="180"?> 337 An dieser Stelle soll auch erwähnt werden, dass der Celan-Nachlassverwalter, -heraus‐ geber und -biograf Bertrand Badiou davon ausgeht, dass die Handschrift des Dichters von der Eigenart des Hebräischen geprägt war, das er zuerst zu schreiben gelernt hatte. Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-23. 338 Auf dieser Ebene ergibt sich aber auch eine gewisse Verbindung zur zeitgenössischen Poetik der 1960 von Raymond Queneau mitbegründeten frz. Gruppe Oulipo (L’Ouvroir de Littérature Potentielle / Werkstatt für Potentielle Literatur), zu deren deutschen Mitgliedern Oskar Pastior zählte. Die verschienenden Formzwänge, unter denen bei Oulipo Literatur entsteht, basieren nämlich zu großen Teilen auf numerologisch-kom‐ binatorischen Verfahren. Dichtung. Daneben evoziert der Begriff ›Höhle‹ die gleichsam geschlossene geometrische Gestalt vieler Buchstaben in der hebräischen Druckschrift (wie etwa Samech, Mem oder Chet). 337 Zusätzlich werden im jüdischen Sprachdenken die Vokale generell mit ›Gewändern‹ verglichen, die gleichsam die ›Steine‹ der Konsonanten bedecken. Der Bildkomplex vom ›Auskleiden‹ der (leeren) ›Worthöhlen‹ mit gepunkteten ›Pantherhäuten‹, wie er vom Gedicht ins Werk gesetzt wird, entspricht insofern ziemlich exakt der Methode der Vokalisierung der Wortstämme im Hebräischen, durch welche Bedeutung generiert bzw. verändert und vervielfacht wird. Zusammenfassend gesagt scheint die Sprache dieses Gedichts also auf re‐ lativ zweifelsfreie Weise wichtige Grundlinien der jüdischen Sprachmystik aufzurufen. Dabei ist zu unterstreichen, dass dieses Denken allgemein von der Vorstellung ausgeht, dass der präexistierende Text der Thora die Basis des fortlaufenden Schöpfungsprozesses darstellt und dementsprechend das Geheimnis des gesamten Universums enthält. Im eben zitierten Sefer Jezirah, dem ältesten eigenständig überlieferten Werk der Kabbala, erscheint die Pro‐ duktion, Kombination, Permutation und Transformation der Buchstaben somit auch als die eigentliche Quelle alles vergangenen und zukünftigen Seins. 338 Im vorliegenden Gedicht bildet Celan dieses von den jüdischen Schriftgelehrten praktizierte kombinatorische Muster der kabbalistischen Hermeneutik nach: Durch das ›Lauschen‹ (V. 7) auf den wechselnden ›Ton‹ (V. 9) der Vokale, welche mit den Konsonanten alternieren (»jeweils zweiten und zweiten«, V. 7+8), sollen neue Wortbedeutungen produziert werden, wodurch sich die Schöpfung in ihren vielfältigen Aspekten erschließen lässt. Zwar hat sich der Dichter in seinen poetologischen Notizen vehement gegen die in der modernen Dichtung unter anderem auf Mallarmé zurückgehende Idee gewehrt, Gedichte bestünden nur aus »Wortmaterial« (TCA, M, 74), also aus (einzelnen) Wörtern. Doch scheint ihn das als philosophisch-poetisches Modell dienende kabbalistische Denken bei seiner Entwicklung als Dichter allmählich zu der Ansicht geführt zu haben, die Wörter seien die schöpferische Grundlage 180 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="181"?> alles Seienden. Wie es das vorliegende Gedicht nahelegt, resultiert daraus das Konzept einer ›Erforschung‹ der ›Worthöhlen‹ in seiner dichterischen Arbeit; anders gesagt: eine Poetik der tiefgreifenden Erkundung des Sinnpotentials der Wörter über Sprachgrenzen hinaus. 3.3.2 Anleitung zum mehrsprachigen Lesen Wie es das gleichnamige Gedicht aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle suggeriert, geht es im eben skizzierten und als jüdisch zu identifizierenden Sprachdenken Celans darum, sich das ›Haus‹ der Wörter »Mit wechselndem Schlüssel« (GW I, 112) zugänglich zu machen: »Wechselt dein Schlüssel, wech‐ selt das Wort.« (V. 7), so heißt es dort bezeichnenderweise. Anhand der im weiter oben kommentierten Gedicht »Einem, der vor der Tür stand« (GW I, 242) thematisierten Golem-Legende wurde ersichtlich, dass sprachmanipulative Ansätze aus sprachmystischer Perspektive nicht nur bedeutungsverändernd wirken, sondern mitunter über Leben und Tod entscheiden können, wie es auch bei der Schibboleth-Problematik der Fall ist (s. 3.2.1). In »Kleide die Worthöhlen aus«, dem Gedicht, das hier im Mittelpunkt steht, wird das Ergebnis solcher Wort-Erweiterung durch Buchstabenkombinatorik mit den halb organischen, halb mineralischen Bildern »Vorhöfe, Kammern, Klappen / und Wildnisse« (V.-3-4) in Form einer Lektüremethode konzeptualisiert. Die multiplen ›Hohlformen‹, mit denen in diesem Gedicht neben der Spelä‐ ologie auf die Anatomie des menschlichen Herzens verwiesen wird, können als metaphorische Umschreibung nicht nur der Mehrdeutigkeit von Dichtung, sondern ebenso ihrer mehrsprachigen Dimension verstanden werden. Konnte das Gedicht »In eins« (GW I, 270) mit seiner ›In-eins-Setzung‹ von Daten, Orten und Sprachen bereits in metamultilingualer Hinsicht gelesen werden, so gilt das noch viel mehr im vorliegenden Fall. Aufgrund der Imperativkette, die »Kleide die Worthöhlen aus« durchzieht, lässt sich eine Metapoetik aus den Versen herauslesen. Das Gedicht enthält mithin seine eigene Anweisung, wie es zu lesen sei, nämlich im Spiegel des Hebräischen - das heißt mitunter auch von rechts nach links. In kabbalistischer Manier lassen sich auf diese Weise weitere Sinnschichten in der Tiefenstruktur von Celans Text freilegen. In diesem Sinne soll die im Vorfeld formulierte metapoetische Hypothese nun selbstreferentiell am vorliegenden Gedichttext erprobt werden. Ein konkretes Beispiel für eine an die hebräische Sprache angelehnte kabbalistische Lesart, die stark durch den Bildbestand des Gedichts gestützt wird, liefert das Rückwärts‐ lesen von ›Fell‹ (V. 2), einem der Hauptwörter des Textes. In umgekehrter Rich‐ tung als ›Llef‹ gelesen referiert dieses deutsche Wort nämlich direkt auf das 3.3 Metapoesie der translingualen Lektüre 181 <?page no="182"?> hebräische Wort ›lew/ ב ֵ ל ‹ für ›Herz‹. Wie leicht ersichtlich wird, fügt sich diese über das Hebräische hergeleitete Bedeutung harmonisch in das eben beschrie‐ bene Wortfeld der ›Vorhöfe‹, ›Kammern‹ und ›Klappen‹ ein. Innerhalb dieser Semantik füllt ›lew/ בֵל‹ als Herz gleichsam eine im Deutschen unausgespro‐ chene Mitte aus. Darüber hinaus spielt das Wort ›Herz‹ in der jüdischen Mystik eine ganz zentrale Rolle - und das trifft ebenfalls auf Paul Celans Dichtung zu. In seiner hebräischen Form ist es in seinem Werk Teil mehrerer Wortspiele wie im Gedicht »Levkojen« (GW II, 374), von dem noch die Rede sein wird (s. 6.6). Zudem entspricht dem Wort im Hebräischen der Zahlenwert 32 (wie die 32 Lektüreme‐ thoden der Thora), wodurch die interne Kohärenz des Textes (der, wie zuvor erwähnt, genau 32 Wörter enthält) nochmals an Stärke gewinnt. Es fällt schwer anzunehmen, es handele sich bei diesen multiplen Wechselbeziehungen um eine reine Koinzidenz. Durch die Präsenz der erwähnten medizinisch-anatomischen Begriffe, so kann man sagen, drängt sich die Lesart von ›Fell‹ als ›lev‹ (= Herz) geradezu auf, was die latente Multilingualität des Gedichtes freizulegen erlaubt und gleichzeitig die metapoetisch in ihm entfaltende sprachmystische (und translinguale) Lektüremethode untermauert. Von der Perspektive der jüdischen Sprachmystik aus betrachtet, beinhaltet ein solcher Umgang mit Schrift eine dezidiert ›heilende‹ Funktion. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Präsenz des Wortfeldes ›Herz‹ mit seiner vitalen und buchstäblich belebenden Funktion bedeutend. Über die Konzeption vom Lesen als ›Auskleiden von Worthöhlen‹, so lässt sich im Lichte der kabbalisti‐ schen Tradition sagen, wird dem Menschen der Weg eröffnet, sich über die Sprache der Quelle der Schöpfung vor dem Sündenfall wieder anzunähern. Dies erinnert stark an das Bild einer sprachregressiven Bewegung hin zur ›Ur‐ sprache‹, wie sie bereits - insbesondere in Bezug auf den Babel-Mythos - an‐ hand einer Reihe anderer Texte aufgezeigt wurde (s. 3.1.3). Zudem lässt sich das hebräische Wort ›lew/ ב ֵ ל ‹ nicht zuletzt als Verweis auf Celans Vater Leo Ant‐ schel verstehen, wodurch die Sprachregression erneut zur memoriellen ›Invo‐ lution‹ gerät. Insgesamt impliziert die Metapoetik des vorliegenden Gedichts eine Öffnung auf sprachliche Vielfalt, die letztlich den Horizont des dort im Zentrum ste‐ henden Hebräischen überschreitet, was unter anderem durch den Einsatz von Wörtern wie »parietal« (V. 6) illustriert wird. Denn neben dem Bezug dieses Wortes zur Parietalwand, der anatomischen Bezeichnung der Organwand (z. B. im menschlichen Herzen), und zum Parietalauge (dem Lichtsinnesorgan bei den ersten Wirbeltieren) verweist es über die französische Sprache auf die prähis‐ torischen Höhlenwandmalerei (= art pariétal). Die berühmte Steinzeithöhle von 182 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="183"?> 339 Diesen französischen Spuren gehen Behl (»References to Hebrew in Paul Celan’s ›Kleide die Worthöhlen aus‹«) und Konietzny (Sinneinheit und Sinnkohärenz des Gedichts bei Paul Celan) nicht nach. Lascaux trägt so beispielsweise den offiziellen Titel Centre International de l'Art Pariétal. Durch diese deutsch-französische Mehrfachkodierung von ›parietal‹ wird der metapoetische Bezug zur Kunstproblematik verstärkt und dabei mit dem existenziellen ›Herz‹-Motiv verknüpft. Auch das Wort ›fellhin‹ (V. 3) ließe sich im Einklang mit der metapoetischen ›Lektüreanweisung‹ des Gedichts über die französische Sprache lesen. 339 Als translinguale Paronomasie (s. 6.6) verstanden, kann sich das deutsche Adjektiv ›fellhin‹ nämlich in das französische Substantiv (und Adjektiv) ›félin‹ [felɛ̃] verwandeln, dessen Bedeutung nicht zufällig ›Raubkatze‹ ist. In französische ›Kleider‹ gehüllt macht das Wort folglich einen differenten und gleichzeitig im Gedichtkontext (s. »Panterhäute«, V. 2) absolut kohärenten Sinn sichtbar. Erneut beeindruckt an dieser Stelle die enorme Bedeutungskohärenz des Textes, die sich über all diese translingualen Verbindungen einstellt. Auf diese Weise wird das poetische Prinzip vom ›Auskleiden der Worthöhlen‹ textimmanent an mehreren Stellen des Gedichts konkret auf Objektebene demonstriert. Die Deutung des vorliegenden Gedichts als metapoetische Leseanweisung zur mehrsprachigen Erkundung des Textes ist wohlbemerkt nur solange gültig, wie bei der Lektüre davon ausgegangen wird, dass es sich bei ›Panther‹ um einen gemeinen Leoparden (panthera pardus) und nicht etwa um die seltene Unterart des Schwarzen Panther handelt. Bei letzterem werden wegen des Phä‐ nomens des Melanismus die schwarzen Rosetten auf goldgelbem Grund nahezu unsichtbar. Mit dieser zoologischen Ausnahmeerscheinung wäre ein blinder Fleck des ursprünglich von Behl vorgeschlagenen Interpretationsansatzes be‐ nannt. Denn bei einem schwarzen und also fleckenlosen Pantherfell würde die Sinnerweiterung durch wechselnde Vokalisierung auf geradezu nihilistische Weise ad absurdum geführt, zumal die vom Text gestaltete Umgebung einer Höhle gleichfalls die Vorstellung von schwarzer Dunkelheit impliziert. Der hebräische Ausdruck › ר ֵ מ ָ נ ‹ (namer) wird in den Bibelübertragungen so‐ wohl mit Panther als auch mit Leopard wiedergegeben. Insofern wird die Refe‐ renz auf die spezielle Unterart des Schwarzen Panthers im vorliegenden Kontext nicht wirklich nahegelegt. Denn diese Wildkatzenarten weisen beide die typi‐ sche Fellzeichnung auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Gedicht die Sinnsuche prinzipiell ins Nichts verkehrt, erscheint daher eher als gering, kann aber grund‐ 3.3 Metapoesie der translingualen Lektüre 183 <?page no="184"?> 340 Ein zusätzliches, wortspielerisches Argument hierfür wäre die Tatsache, dass der Wort‐ stamm von hebr. Panther ( רמנ ) bei leicht veränderter Vokalisierung gleichlautend mit dt. ›nimmer‹ wird. 341 Siehe William H. Rey, »Paul Celan, Das Blühende Nichts.« The German Quarterly, 43: 4, 1970, S.-749-769. 342 Behl, »References to Hebrew in Paul Celan’s ›Kleide die Worthöhlen aus‹«, S.-182. 343 Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S.-146. sätzlich nicht ausgeschlossen werden. 340 In letzterem Fall würde die Lektüre‐ methode gegebenenfalls das Potential ihres eigenen Scheiterns in sich tragen, was zu Konzeptionen der negativen Theologie führt, wie sie unter anderem in Celans Behandlung des Pronomens ›niemand‹ erkennbar werden. 341 Unter diesem Gesichtspunkt wäre also durchaus eine potentielle Einheit von Affir‐ mation und Negation - also von vitaler Bedeutungsvervielfältigung und radi‐ kaler Sinnzerstörung - im Gedicht vorstellbar. 3.3.3 Fremdsprachen als ›Tunneltext‹ Wie es auch letztendlich um die Sinnfrage bei Celan bestellt sein mag, die metapoetische Lektüre von »Kleide die Worthöhlen aus« hat gezeigt, dass das vorliegende Gedicht den Rezipienten dazu einlädt, einen deutschen Text über den ›Umweg‹ des Hebräischen und dessen sprachlicher Funktionsweise zu lesen. Wie Behl abschließend in ihrem Artikel feststellt: »Although the German words are usually not as polyvalent as Hebrew consonant sequences, we nethertheless can try to listen to their heart beat to find out about their more hidden meanings.« 342 Bezüglich der Anwendbarkeit dieser Methode auf das Deutsche kann angemerkt werden, dass das jüdische Sprachdenken durchaus die Möglichkeit bereit hält, das dem Hebräischen implizite Modell auf andere Sprachen zu übertragen, wie eben anhand des Französischen geschehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Dichter dieser Umstand bewusst war, denn in einer von ihm zur Entstehungszeit des Textes rezipierten Schrift hält Scholem in diesem Sinne fest, die mystische Kombinatorik vermöge laut Kabbalisten wie Abulafia nicht nur das Hebräische, sondern »alle gesprochenen Sprachen […] in heilige Sprache und heilige Namen umzuschmelzen«. 343 Unter Verweis auf Scholem - sowie in Anlehnung an das schon zitierte Adorno-Wort von den Fremdwörtern als »Juden der Sprache« - könnte diese Metapoetik dementsprechend über den hebräischen Kontext hinaus letztlich auf die allgemeine Problematik sprachlicher Alterität und Pluralität in Celans Dichtung angewandt werden. Das im Gedicht »Kleide die Worthöhlen« zentrale Bild der ›Höhle‹ würde in diesem Zusammenhang auf das in Celans Sprache 184 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="185"?> 344 Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«, S. 636. 345 Werner, Textgräber, S.-12. 346 Ebd., S.-180. 347 Uljana Wolf, »Das unauffindbare Übersetzen. Zu Ilse Aichingers ›Schlechte Wörter‹«. In: Dies., Etymologischer Gossip, S.-40-45, hier S.-44. 348 Siehe Herta Müller, Heimat ist das was gesprochen wird. Blieskastel: Gollenstein Verlag, 2001, S. 21. Siehe auch meinen Aufsatz, »Die verschiedenen Augen der Sprache(n). Zur Rolle von Muttersprache und Mehrsprachigkeit bei Herta Müller«. In: Jens Christian Deeg/ Martina Wernli (Hrsg.), Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an Gegenwartsliteratur. Würzburg, Königshausen und Neumann, 2016, S.-177-192. allerorten anzutreffende ›Untergründige‹ und ›Kryptische‹ hinweisen, d. h. auf die häufig von den Kommentatoren erwähnte abgründige, verborgene Tiefe, die sich hinter seinen Wörtern auftut. Ein grundlegender Zug von Celans Poetik wird somit in seiner multilingualen Dimension erkennbar, wie Petuchowski schon 1978 anhand der mehrsprachigen Wortspiele feststellte: »an area hidden behind the words is opened up, revealing a new complex of associations«. 344 Wie der Dichter selbst in einer poetologischen Notiz schreibt, ist die Dichtung eine »affaire d’abîme« (Mikrolithen, 121), also nicht nur ›abgründig‹, sondern gleichsam auf Abgründe gebaut, wie man frei übersetzen könnte. Diese ›Tiefen‐ dimension‹ der Texte stellt eine notwendige Voraussetzung für die Errichtung seiner »Textgräber« dar, wie Uta Werner gezeigt hat: »Die hochgradige Über‐ determiniertheit, die sich hinter der Dunkelheit dieser Lyrik verbirgt, steht […] zu einem wesentlichen Anteil im Dienste des Totengedenkens.« 345 Eine solche im wahrsten Sinne kryptische ›Vielstelligkeit‹ der Gedichtes, mit der der Lyriker versucht, »in stets neuer Sprache zu sprechen«, 346 schließt, so soll hier im Anschluss an Werner ergänzt werden, mehrsprachiges Layering als zentrale Ressource mit ein, was insbesondere anhand der jüdischen Sprachen deutlich wird. Unter dieser Perspektive erscheint das Hebräische in »Kleide die Worthöhlen aus« als eine Art ›Tunneltext‹ unter dem deutschsprachigen Text, um hier erneut einen Begriff von Uljana Wolf aufzunehmen. 347 Solche unterschwellige Sprachen auf einer sozusagen allophonen Tiefenebene sind im Gedicht zugleich hörbar und stumm, wie es die mehrsprachige Lyrikerin anhand der Gedichte Ilse Aichingers zeigt. Dabei lässt sich dieser Ansatz problemlos auf Celan übertragen, zu dem Wolf im Übrigen zahlreiche Affinitäten besitzt. Darüber hinaus lässt der Begriff ›Tunneltext‹ an die palimpsesthaften Schreibweisen anderer mehrsprachiger Schriftsteller denken, wie etwa an die ebenfalls aus Rumänien stammende Nobelpreisträgerin Herta Müller (*1953), die erklärt hat, in ihren deutschen Texten würde ständig das Rumänische ›mitschreiben‹. 348 3.3 Metapoesie der translingualen Lektüre 185 <?page no="186"?> 349 Elias Canetti, Aufzeichungen 1942-1985. Die Provinz des Menschen. Das Geheimherz der Uhr (= Gesammelte Werke, Band IV). München/ Wien: Hanser, 1993, S. 441 (Her‐ vorhebung in der Quelle). 350 Siehe Carmine Chiellino, Liebe und Interkulturalität. Essays 1988 - 2000. Tübingen: Stauffenburg, 2001, S.-101ff. Siehe auch 5.1.2. 351 Schlesak, »Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie«. 352 Siehe Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, S.-21. 353 Siehe auch Camilla Miglio, »Translating in a ›Wholly Other‹ German. ›Ricercar‹«. In: Eskin/ Leeder/ Pajević (Hrsg.), Paul Celan Today, S.-79-100, hier S.-94. In ähnlicher Weise hatte zuvor ein anderer Nobelpreisträger, der in Bulgarien geborene Elias Canetti (1904-1995), bekannt: »In einer Sprache allein werde ich nie sein können. Ich bin darum dem Deutschen so tief verfallen, weil ich immer auch eine andere Sprache fühle. […] [I]ch bin freudig erregt, wenn ich auf etwas stoße, das sie heraufholt« 349 Die hier thematisierte Latenz »mitgewan‐ derter Sprache« (GW II, 85, V. 10) in oberflächlich einsprachigen Texten kann mithin als allgemeines Merkmal interkultureller Literatur bezeichnet werden. 350 Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass solche auf Deutsch verfasste Texte immer auch über den Gedankenweg oder die Klangwelt einer anderen Sprache gestaltet wurden, deren Substrat durch das Deutsche hindurch spürbar bleibt. Bei Paul Celan gibt die Entdeckung solcher ›Wortöffnungen‹ Zugang zur einer »verborgene[n] Partitur«, wie es Dieter Schlesak in einem Beitrag zur Rolle der Rumänischen und Hebräischen bezeichnet hat. 351 Erst über diesen Subtext, so seine These, werden die im Gedicht ›verborgenen‹ Lektüreschlüssel sichtbar. In Celans Entwürfen zur Meridian-Rede finden sich diesbezüglich Ausdrücke wie der »stumme Mitlaut am Genannten« (TCA, M, 145), die ebenfalls als Bilder für Sprachlatenz gelesen werden können. Vergleichend dazu kann Celans - an Walter Benjamins berühmten Übersetzungs-Aufsatz 352 erinnernde - Idee vom Gedicht als Interlinearversion herangezogen werden, wie sie in seinen poetologischen Notizen auftaucht: Es »bringt […] als Gedicht die Möglichkeit der Interlinearversion mit, realiter und virtualiter; mit andern Worten: das Gedicht ist, auf eine ihm eigene Weise, besetzbar« (Mikrolithen 132, Hervorhebung in der Quelle), schreibt er dort. Dabei verweist der Begriff der Interlinearversion über den Prozess des interlingualen Übersetzens nicht zuletzt auf Mehrsprachigkeit und Polyphonie. 353 Der Gedichttext wäre demnach - bildlich gesprochen - zwischen den Zeilen durch andere Sprachen zu ›besetzen‹. Die Projektion der auf den Eigenheiten der hebräischen Sprache fußenden kabbalistischen Hermeneutik auf einen deutschen Text, so wie sie in Celans Gedicht »Kleide die Worthöhlen aus« sichtbar wird, lässt sich zusammenfassend als Plädoyer für eine Öffnung der Dichtungssprache auf sprachliche Pluralität lesen. Wie insbesondere das besprochene Gedicht gezeigt hat, scheint Paul Celan 186 3 »Kleide die Worthöhlen aus«: Mehrsprachigkeit metalingual <?page no="187"?> seine Leser in seinem Spätwerk metapoetisch dazu aufzufordern, ›zwischen den Zeilen‹ und unter der scheinbar einsprachigen ›Oberfläche‹ des Textes nach inhaltlichen und formalen Bezügen zu anderen Sprachen zu suchen. Doch schon in früheren Werkphasen, d. h. spätestens ab der Mitte der 1950er Jahre, lassen sich ähnliche Elemente einer translingualen Poetik ausmachen. Die poetischen Grundlagen dieser ›Lektüreanweisung‹ sollen später im Kapitel zur latenten textinternen Mehrsprachigkeit (Kap. 6) vertieft und ihre Realisierungsmöglich‐ keiten auf einer breiten Textbasis verifiziert werden. In diesem Zusammenhang wird speziell auf die ›kryptohebräische‹ Dimension (s. 6.5) seiner deutschen Gedichte zurückzukommen sein. 3.3 Metapoesie der translingualen Lektüre 187 <?page no="189"?> 354 Kremnitz, Mehrsprachigkeit in der Literatur, S.-14. 355 Siehe u. a. Franca Bruera/ Barbara Meazzi (Hrsg.), Plurlilinguisme et Avant-gardes. Brüssel: Peter Lang, 2011 sowie Jean Weisgerber (Hrsg.), Les avant-gardes et la Tour de Babel. Interactions des arts et des langues. Lausanne: L’Âge d’homme, 2000. 356 Siehe Luigi Reitani, »Zwischen (und unter) den Sprachen unterwegs. Ernst Jandls Poetik der Mehrsprachigkeit«. In: Hannes Schweiger/ Hajnalk Nagy (Hrsg.), Wir jandln! 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend Im Anschluss an den Metamultilingualismus als erster in diesem Buch be‐ handelten Facette von Mehrsprachigkeit im Werk Paul Celans soll nun der Untersuchungsrahmen erweitert werden, indem sprachliche Diversität nicht mehr auf der poetologischen Metabene, sondern auf der Objektebene, d. h. als Sprachwechsel oder Sprachmischung, betrachtet wird. Dazu wird eine Erweiterung des Begriffsinstrumentariums notwendig. Wie bereits aus den vorangegangenen Ausführungen ersichtlich wurde, umfasst der Oberbegriff ›literarische Mehrsprachigkeit‹ eine Vielzahl von Erscheinungsformen, die sich nur begrenzt mit den traditionellen Begrifflichkeiten aus Rhetorik, Poetik und Linguistik beschreiben lassen. Eben darum hat die Mehrsprachigkeitsforschung neue Termini in die Diskussion eingeführt, die von der vorliegenden Studie produktiv-kritisch aufgegriffen werden. Neben der separaten Behandlung einer als ›metamultilingual‹ definierten Perspektive kann eine weitere grundsätzliche Kategorisierung mithilfe der heute fest etablierten terminologischen Unter‐ scheidung zwischen ›textinterner‹ und ›textübergreifender‹ Mehrsprachigkeit vorgenommen werden, wie sie unter anderem von dem Soziolinguisten Georg Kremnitz geprägt wurde. 354 Im Fall der sogenannten ›textinternen‹ Mehrsprachigkeit, die später in den Kapiteln 5 und 6 der Studie behandelt werden soll, handelt es sich um Formen von Sprachmischung im weitesten Sinne, also um die Ko-Präsenz mehrerer Sprachen innerhalb eines einzelnen literarischen Textes. Dabei sind potenziell ganz unterschiedliche Textbefunde betroffen, vom Einzelwort über kürzere Segmente bis zu größeren Textmengen, etwa in Form von Zitaten. Zu den be‐ kanntesten Beispielen textinterner Mehrsprachigkeit in der Literaturgeschichte gehören sprachexperimentelle Gedichte in der Nachfolge der historischen Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts (namentlich Futurismus und Dadaismus), 355 wie man sie in der deutschen Literatur nach 1945 beispielsweise bei Ernst Jandl (1925-2000) findet, 356 um einen Zeitgenossen Paul Celans zu <?page no="190"?> Didaktische und wissenschaftliche Wege zu Ernst Jandl. Innsbruck: Studien-Verlag, 2013, S.-52-60. 357 Siehe Till Dembeck, »Was ist hier defekt? Sprachdifferenz und Laut in Gedichten Ernst Jandls und Oskar Pastiors«. In: Britta Herrmann (Hrsg.), Dichtung für die Ohren. Zur Poetik und Ästhetik des Tonalen in der Literatur der Moderne. Berlin: Vorwerk, S. 167-189. 358 Siehe u. a. Natalia Blum-Barth, »›From my difficult Russian into pedantic English‹. Vla‐ dimir Nabokov und sein Sprachwechsel«. Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik, 6: 2, 2015, S.-91-104. 359 Siehe u. a. François Demont, »Emil Cioran. Une scénographie hagiographique du changement de langue«. In: Olga Anokhina/ Alain Ausoni (Hrsg.), Vivre entre les langues, écrire en français. Paris: Éditions des archives contemporaines, 2019, S. 121- 133. zitieren. Aber auch andere Namen wie der Oskar Pastiors (1927-2006), der bereits in der Einleitung erwähnt wurde, könnten in diesem Zusammenhang genannt werden. 357 Die ›textübergreifende‹ Mehrsprachigkeit hingegen, um die es nun im vor‐ liegenden Kapitel gehen wird, bezeichnet nach Kremnitz keine interne Sprach‐ mischung innerhalb eines einzelnen Textes, sondern einen Sprachwechsel zwischen zwei oder mehreren klar voneinander getrennten Texten bzw. Werken oder Büchern. Diese Form des Sprachwechsels erscheint gleichsam als Bau von »Brücken von Sprache zu Sprache«, um einen bereits zitierten Ausdruck Paul Celans zu verwenden (Briefe, 419, 426). Dabei lässt dieser Vorgang jedoch auch »Abgründe« zwischen den verschiedenen Sprachen sichtbar werden, wie es der Dichter in verschiedenen Briefen des Jahres 1960 ausdrückt, in denen er über seine Arbeit als Übersetzer spricht (ebd.). Demnach geht es im Folgenden nicht mehr um Reflexion über Sprache(n), sondern um konkrete multilinguale Praktiken, jedoch eben auf ›zwischentextlicher‹ Ebene und nicht ›intratextuell‹, wie es in den vorangegangenen Ausführungen zum Teil schon der Fall war, insbesondere bei der Analyse des Gedichts »Huhediblu« (s.-Kap. 2). In der Literaturgeschichte liegt textübergreifende Mehrsprachigkeit u. a. bei Autoren vor, die in ihrem Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt - meist aus biographischen Gründen, wozu natürlich das Exil zu zählen ist - die Sprache gewechselt haben, wie z. B. Vladimir Nabokov (1899-1977), einer der berühmtesten Sprachwechsler der Literatur, der vom Russischen zum Eng‐ lischen übergegangen ist. 358 Auch der Landsmann und Pariser Bekannte Celans, Emil Cioran (1911-1995), der 1949 definitiv vom Rumänischen ins Französische gewechselt ist, kann in diesem Zusammenhang erwähnt werden. 359 Daneben gibt es Schriftsteller, die gleichsam zwischen den Sprachen gestanden haben, wie beispielsweise der elsässische Schriftsteller André Weckmann (1924-2012), der - unter anderem aus (sprach-)politischen Gründen - zwischen dem Deutschen, 190 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="191"?> 360 Siehe u. a. Adrien Finck/ Maryse Staiber, Histoire de la littérature européenne d’Alsace. Straßburg: Presses Universitaires de Strasbourg, 2004, S.-136-138. 361 Siehe ebd., S.-58-62. 362 Siehe u.-a. Manfred Engel, »Jenseits der Sprachgrenze? Rilkes französische Gedichte«. In: Pierre Béhar/ Michel Grunewald (Hrsg.), Frontières, transferts, échanges transfron‐ taliers et interculturels. Bern: Peter Lang, 2005, S.-157-163. 363 Siehe u. a. meinen Artikel, »Johann Ohneland - Johann Ohnesprach? Yvan Golls translinguales Werk im Kontext mehrsprachiger Schreibverfahren der literarischen Moderne«. In: Hermann Gätje/ Sikander Singh (Hrsg.), Konjunktionen. Yvan Goll im Diskurs der Moderne. Tübingen: Francke, 2017, S. 31-46. Zum deutsch-franzö‐ sischen Kontext siehe auch Maryse Staiber/ Dirk Weissmann (Hrsg.), Identités litté‐ raires franco-allemandes/ Deutsch-französische Schriftstelleridentitäten. Themenheft der Zeitschrift Recherches germaniques, HS 18 (2023). dem Französischen und dem Elsässer Dialekt hin- und herwechselte. 360 Ein ähnlicher Fall liegt bei dem ebenfalls aus dem Elsass stammenden René Schickele (1883-1940) vor, der nach einer ausschließlich deutschen Literaturproduktion in Reaktion auf die NS-Zeit ein Werk auf Französisch mit dem vielsprechenden Titel Le Retour verfasste. 361 In der Untergruppe der sprachwechselnden Lyriker könnte zuvorderst Rainer Maria Rilke (1875-1926) genannt werden, der neben seinen hochberühmten deutschen Gedichten mehrere Bände französischer Lyrik sowie vereinzelte Gedichte auf Italienisch und Russisch verfasst hat. 362 Aber auch - horosco referens - Yvan Goll (1891-1950), dessen Lyrik sein ganzes Leben lang zwischen mehreren Sprachen (Deutsch, Französisch und Englisch) gewechselt oder ge‐ schwankt hat, muss an dieser Stelle erwähnt werden, handelt es sich bei ihm doch zweifelsohne um einen der wichtigsten Sprachwechsler der Literatur des 20.-Jahrhunderts. 363 Bei all diesen Schriftstellern können natürlich innerhalb der Werke - sprich: textintern - ebenfalls Formen von Polyglossie auftauchen, was dann in die separate (und unten behandelte) Kategorie der Sprachmischung gehört. Ein besonderer Fall von textübergreifender Mehrsprachigkeit liegt dann vor, wenn Autoren dasselbe Werk in mehreren Sprachversionen vorlegen, was man verein‐ fachend mit dem Begriff der Selbstübersetzung benennen kann. Sprachwechsler sind in der Tat häufig Selbstübersetzer, wenn auch nur selten auf systematische Art und Weise. ›Vereinfachend‹ ist der Begriff insofern zu nennen, als es sich bei den selbstübersetzten Texten nicht zwangsläufig um perfekt äquivalente Sprachversionen handeln muss. Denn mehrsprachige Autoren nehmen sich oft viele Freiheiten beim Erstellen dieser Parallelfassungen heraus, wodurch sich das Verfahren der literarischen (Neu-)Schöpfung annähert. Diese transla‐ torische Problematik soll später in den entsprechenden Abschnitten noch näher beleuchtet werden. 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend 191 <?page no="192"?> 364 Siehe u. a. Esther Kilchmann, »Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur: Zur Einfüh‐ rung«. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 3: 2, 2012, S.-11-18. In Celans Schaffen scheint die textübergreifende Mehrsprachigkeit in poe‐ tologischer und ästhetischer Hinsicht auf den ersten Blick weniger relevant, komplex und innovativ zu sein als die anschließend untersuchten textinternen, sprachmischenden Verfahren. Da die verschiedenen Sprachen beim Übergang von einem Text zum anderen grundsätzlich voneinander getrennt bleiben, wirkt diese Praxis zunächst einmal weniger ›spektakulär‹ als der starke Ein‐ druck, den die sprachmischenden Gedichte Celans erzeugen können, von denen bereits eine ganze Reihe vorgestellt wurden. Dennoch ist textübergreifende Mehrsprachigkeit fester Bestandteil der Schreibpraxis des Dichters und gehört daher unbedingt in die in dieser Arbeit vorgelegte Typologie hinein. Dafür spricht nicht zuletzt, dass es diese Form von Multilingualität plastisch zu ver‐ anschaulichen ermöglicht, wie weit sich Celans Arbeit ›zwischen‹ den Sprachen vom monolingualen ›Idealbild‹ des nationalliterarischen Paradigmas entfernt. 364 Darüber hinaus wird sich an mehreren Stellen zeigen, dass die textübergreifende Mehrsprachigkeit, insbesondere in ihren sprachspielerischen Ausprägungen, eine der Grundlagen der textinternen Sprachmischung in Celans Werk darstellt. Auf das zu analysierende Material bezogen kann textübergreifende Mehr‐ sprachigkeit in einem weiteren Schritt in zwei basale Unterkategorien eingeteilt werden: Übersetzungen (4.1-4.3) und Originaltexte (4.4). ›Originaltexte‹ meint konkret die direkt auf Rumänisch und Französisch verfassten Texte des Dichters. Die Gruppe der Übersetzungen ist demgegenüber vielschichtiger, da Celan multidirektional gearbeitet, also aus mehreren Sprachen und in mehrere Spra‐ chen übersetzt hat. Hier sind daher nochmals eine Reihe von Einteilungen vorzunehmen, wobei seinen Selbstübersetzungen - vorwiegend vom Deutschen ins Französische (4.2) - eine herausragende Rolle zukommt. Zwischen Fremd- und Selbstübersetzung ist wiederum die kollaborative (Selbst-)Übersetzung (4.3) zu situieren, die ebenfalls im vorliegenden Korpus anzutreffen ist. In diesem Fall hat der Dichter die entsprechenden Texte seiner Hand in Zusammenarbeit mit Fremdübersetzern in andere Sprachen übertragen. Auch Paul Celans zum Teil berühmte Übertragungen fremdsprachiger Ly‐ riker, Prosa- und Theaterautoren ins Deutsche sollen der Vollständigkeit halber im vorliegenden Untersuchungsrahmen Erwähnung finden (4.1.1). Diese Ar‐ beiten werden allgemein als integraler Bestandteil seines literarischen Œuvres angesehen und unterhalten enge Verbindungen zu seiner Dichtung und Poetik. Nichtsdestoweniger ist die Unterscheidung zwischen der Übersetzung fremder Werke einerseits und eigener Werke andererseits von grundlegender Bedeu‐ 192 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="193"?> 365 Für einen ersten anschaulichen Überblick, siehe u. a. den Band »Fremde Nähe«. Celan als Übersetzer. Katalog der Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs. Hrsg. von Axel Gellhaus. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, 1997. 366 Steiner, After Babel, S.-409. tung innerhalb der Problematik mehrsprachigen Schreibens. Denn durch die nahezu absolute Freiheit, die der Autor seinem eigenen Text gegenüber besitzt, nähern sich Celans Selbstübersetzungen aus dem Deutschen zwangsläufig dem Schreiben in exophonen Sprachen an, wodurch sich die strikte Grenzziehung zwischen (reproduktiver) Übersetzung und Originalwerken relativiert. Inner‐ halb der anderssprachigen Textproduktion Celans (4.4), die zum Abschluss des vorliegenden Kapitels behandelt wird, erfolgt bei der Analyse eine Trennung nach Sprachen - konkret zwischen dem Rumänischen (4.4.1) und dem Französi‐ schen (4.4.2) -, wobei gleichzeitig versucht werden soll, den biographisch-poe‐ tischen Stellenwert dieser Sprachen näher herauszuarbeiten. 4.1 Celan als multidirektionaler Übersetzer Grundsätzlich handelt es sich bei jeder Übersetzung um einen genuin mehrspra‐ chigen Akt, insofern sie zwischen Texten aus verschiedenen Sprachen abläuft und aus konkreten sprachlichen Transferprozessen besteht. In der Forschung wird in diesem Zusammenhang allgemein zwischen sogenannten Ausgangs- und Zieltexten sowie Ausgangs- und Zielsprachen unterschieden. In Celans Fall steht der zentrale Platz, den das Übersetzen aus und in verschiedene(n) Sprachen in seiner Biographie und seinem literarischen Schaffen einnimmt, in direkter Verbindung mit der konstanten Erfahrung sprachlicher Pluralität, wie sie seinen Lebens- und Bildungsweg von Czernowitz über Bukarest nach Paris charakte‐ risiert und auch seine Dichtung prägt. Seit seinen frühen Jugendjahren und bis zu seinem Lebensende hat der Schriftsteller neben dem eigenen Schreiben auch stets intensiv übersetzt, wobei unzählige sprachliche Wechselwirkungen auszumachen sind. 365 Die zuerst von George Steiner gemachte Behauptung, die gesamte Lyrik Celans bestehe eigentlich nur aus Übersetzung fremder Rede ins Deutsche, 366 ist vom Blickpunkt der heutigen Mehrsprachigkeitsphilologie aus unzureichend und teilweise unzutreffend, macht aber deutlich, wie eng in der Tat Übersetzung und Schreiben bei dem Dichter miteinander verbunden sind. Im Folgenden werden als ›übersetzte Texte‹ insgesamt ganz unterschiedliche Formen der Textproduktion bei Celan angesprochen. Die vorrangige Frage, die sich dabei im vorliegenden Untersuchungsrahmen stellt, ist, inwieweit durch den jeweiligen Vorgang des Übersetzens eine Dimension ›aktiver‹ 4.1 Celan als multidirektionaler Übersetzer 193 <?page no="194"?> 367 Im Vokabular der Translationswissenschaft ausgedrückt würde zum schriftlichen Über‐ setzen aus einer anderen Sprache die Kompetenz einer C-Sprache genügen, wohingegen für das Verfassen literarischer Texte nur A-Sprachen in Frage kämen. Multilingualität impliziert wird, was jetzt näher erklärt werden soll. Zwar setzt sich jeder Übersetzer notwendigerweise sehr intensiv mit der Sprache des Ausgangstextes auseinander. Jedoch produziert die herkömmliche Form des transnationalen, translatorischen Literaturimports einen einsprachigen, generell in der Muttersprache des Übersetzers verfassten Zieltext. Auf den Übersetzer als Akteur bezogen, so muss festgestellt werden, handelt es sich um eine (passive) Rezeption der anderen Sprache und nicht um aktive Zwei‐ sprachigkeit. 367 Der Kontakt zwischen den beteiligten Sprachen führt dabei zu einem monolingualen Resultat. Die Muttersprache ersetzt die Fremdsprache, der Text wird ›verdeutscht‹. Selbst zweisprachige Ausgaben von übersetzten Texten ändern nichts an dieser grundsätzlichen Tatsache. Eine erste Trennlinie im Korpus dieses Kapitels verläuft daher innerhalb der Gruppe der Zieltexte, die im Fall von Paul Celan bezeichnenderweise nicht nur muttersprachlich (sprich: deutsch), sondern auch fremdsprachlich verfasst sein können. Celan war ein multidirektionaler Übersetzer, der auf der Basis verschiedener Ausgangssprachen sowohl ins Deutsche als auch ins Rumänische oder Französische übersetzte, wobei die Bezeichnung ›fremdspra‐ chig‹ im konkreten Fall angesichts der Sprachbiographie des Dichters im Grunde als wenig pertinent erscheint. Wird jedenfalls davon ausgegangen, dass das Deutsche Paul Celans Erst- und Hauptsprache darstellt, dann ist die Multilingualität im ersten Fall (Übertragungen in die Richtung des Deutschen) passiver Art, wohingegen das Übersetzen im zweiten Fall (Übertragungen in die Richtung anderer Sprachen, also Rumänisch oder Französisch) einen aktiven Sprachwechsel impliziert. Unter diesem Gesichtspunkt kann das Übersetzen in die Fremdsprache bis zu einem gewissen Grad mit dem Schreiben in der Fremdsprache verglichen werden. Es ist also durchaus verwandt mit anderen Formen manifester, textübergreifender Mehrsprachigkeit, so wie sie in diesem Buch untersucht werden. Eine zweite Trennlinie im vorliegenden Korpus verläuft innerhalb der Aus‐ gangstexte, die bei Paul Celan zum überragenden Großteil Werke anderer Autoren darstellen, aber marginal auch die eigenen Gedichte umfassen, wie es unter anderem der Briefwechsel mit seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange (PC- GCL) dokumentiert. Zur terminologischen Abgrenzung dieser beiden Arten von Sprachmittlung kann im ersten Fall von Fremdübersetzung, im zweiten Fall von Selbst- oder Eigenübersetzung gesprochen werden. In letzterem Fall liegt erneut eine Form manifester, textübergreifender Mehrsprachigkeit vor, umso 194 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="195"?> mehr als der Dichter beim Übersetzen seiner eigenen Texte potentiell über eine große, ja totale Freiheit verfügt. Wie oft bemerkt wurde, lässt sich die Figur des Selbstübersetzers durchaus mit der eines Autors vergleichen. Als Sonderfall des fremdsprachigen oder exophonen Schreiben bildet die Selbstübersetzung nicht zuletzt deswegen einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand, da sie als genuiner Interpretationsprozess zahlreiche Rückschlüsse auf das Werk und seine Deutung erlaubt. Eine hybride Zwischenform von Fremd- und Selbstübersetzung stellt schließ‐ lich die kollaborative Übersetzung dar, bei der der Autor - teils intensiv - am Übersetzungsprozess seiner eigenen Texte teilhat, ohne jedoch offiziell als Übersetzer erwähnt zu werden. Auch diese Art von Übersetzung lässt sich in Celans Schaffen beobachten, wobei die Grenze zur (verdeckten) Selbstüberset‐ zung häufig latent überschritten wird. Erneut erlauben die aktive Mitarbeit des Dichters und die von ihm vorgenommenen Korrekturen aufschlussreiche Erkenntnisse für die Deutung seiner Texte. So gründet sich beispielsweise Wiedemanns Kommentar des Verbs ›sömmern‹ im Gedicht »Andenken« (GW I, 121, V. 11) auf eine vom Dichter selbst vorgeschlagene französische Übersetzung dieser Stelle (s. NKG, 723), um hier nur dieses eine Beispiel vorwegzunehmen. Entscheidend für die Problematik der Multilingualität ist bei all diesen Pro‐ zessen und sprachlichen Mitteln hauptsächlich die Frage, ob die entsprechenden Übersetzungsphänomene neben dem Deutschen zur aktiven Präsenz anderer Sprachen auf der Produktionsebene führen. Anders gesagt ist Übersetzen im vorliegenden Rahmen also immer dann besonders relevant, wenn es starke Parallelen zum exophonen Schreiben erkennen lässt. Da es im systematischen Hauptteil dieses Buches um eine typologische Erfassung möglichst aller Erschei‐ nungsformen von Mehrsprachigkeit in Paul Celans Schaffen geht, können im Folgenden nur einzelne Beispiele einer vertieften, kontextualisierten Analyse unterzogen werden, wobei der Großteil des Korpus auf der Ebene einer mehr oder weniger summarischen Bewertung und Einordnung verbleiben muss. Wie dabei ersichtlich wird, gibt es auf dem Feld der textübergreifenden Mehrspra‐ chigkeit bei Celan - insbesondere im Bereich der Eigenübersetzungen und des exophonen Schreibens - noch zahlreiche Forschungsdesiderate, die freilich nicht allesamt und auf einmal von der vorliegenden Studie aufgearbeitet werden können. 4.1 Celan als multidirektionaler Übersetzer 195 <?page no="196"?> 368 Siehe u. a. »Fremde Nähe«, Olschner, Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübert‐ ragungen, Jürgen Lehmann/ Christine Ivanović (Hrsg.), Stationen. Kontinuität und Entwicklung in Paul Celans Übersetzungswerk. Heidelberg: Winter, 1997, Alfred Bodenheimer/ Shimon Sandbank (Hrsg.), Poetik der Transformation. Paul Celan - Übersetzer und übersetzt. Tübingen: Niemeyer, 1999, Ute Harbusch, Gegenüberset‐ zungen. Paul Celan Übertragungen französischer Symbolisten. Göttingen, Wallstein, 2005, Florence Pennone-Autze, Paul Celans Übersetzungspoetik. Entwicklungslinien in seinen Übertragungen französischer Lyrik. Berlin-Boston: Niemeyer, 2007, Christine Ivanović, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren. Berlin-Boston: Niemeyer 1996, Markus May, »Ein Klaffen, das mich sichtbar macht«. Untersuchungen zu Paul Celans Übersetzungen amerikanischer Lyrik. Heidelberg: Winter, 2004. 369 Olschner, Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen, S.-29. 370 Siehe Axel Gellhaus, »Das Übersetzen und die Unübersetzbarkeit. Notizen zu Paul Celan als Übersetzer«. In: Bodenheimer/ Sandbank (Hrsg.), Poetik der Transformation, S. 7-20, hier S.-10. 371 Siehe ebd., S.-58. 4.1.1 Übersetzen ins Deutsche Paul Celans Übersetzungswerk stellt zweifelsohne den am gründlichsten er‐ forschten Bereich seiner mehrsprachigen Literaturpraxis dar. 368 Im Vordergrund der verschiedenen in den vergangenen Jahrzehnten publizierten Forschungsar‐ beiten steht dabei die Beschreibung seiner Translationsverfahren im Hinblick auf eine ihm eigene Poetik des Übersetzens sowie die Suche nach - intertex‐ tuellen und poetologischen - Verbindungen zu seinem lyrischen Œuvre. Wie Olschner bereits 1985 festgestellt hat, sind »Celans Gedichte […] im Licht der Übertragung, die Übertragungen im Licht seiner Gedichte zu lesen.« 369 Die enge Verflechtung von Schreiben und Übersetzen in Celans schriftstellerischer Arbeit wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass der Dichter gleichsam testamen‐ tarisch die Aufnahme seiner Übertragungen in eine zukünftige Gesamtausgabe seines Werks verfügt hat. 370 In der zeitgenössischen Kritik wurde diese enge Nähe von Übersetzung und Dichtung zuweilen als Vorwurf artikuliert, der Übersetzer ›celanisiere‹ die Originale zu stark. 371 Demgegenüber hat Celan solche individuelle Freiheiten beim Übersetzen nachdrücklich als eine ihm eigene Notwendigkeit verteidigt (Mikrolithen, 40, s.-1.1.3). Überblick Insgesamt macht das übersetzerische Œuvre mehr als die Hälfte von Celans literarischen Schaffen aus. Die Bände 4 und 5 der 1983 erschienenen Ausgabe der Gesammelten Werke umfassen auf rund 1500 Seiten die Übertragungen aus dem Französischen (Übertragungen I, GW IV) sowie aus dem Russischen, Englischen bzw. Amerikanischen, Italienischen, Rumänischen, Portugiesischen und Hebräi‐ 196 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="197"?> 372 Siehe Olschner, Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen, S.-35. 373 Darunter u. a. Emile M. Cioran, Lehre vom Zerfall (Hamburg: Rowohlt, 1953), Jean Bazaine, Notizen zur Malerei der Gegenwart (Frankfurt a. M.: Fischer, 1959) und Jean Cayrol, Im Bereich einer Nacht (Olten-Freiburg-i.-Br.: Walter, 1961). 374 Darunter u. a. zwei Kriminalromane von Georges Simenon, Hier irrt Maigret und Maigret und die schrecklichen Kinder (beide Köln-Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1955). 375 Siehe Angela Sanmann, »Im Herzen des Dichterischen«. Celan als Übersetzer am Bureau international du travail in Genf«. In: Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive. Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germa‐ nistik (IVG) (Bd.-11). Lausanne: Peter Lang, 2023, S.-257-272. 376 Siehe Patrick Difour, »- wo ich also lesen, wo ich vor-, mit- und nachlesen kann -«. Paul Celans Lehrtätigkeit an den Écoles normales supérieures von Saint-Cloud und der Rue d’Ulm. Dissertation, Paris, Université Paris-IV/ Universität des Saarlandes, 2011. schen (Übertragungen II, GW V). Die Aufteilung der Texte auf diese beiden Bände macht das deutliche Übergewicht der Herkunftssprache Französisch deutlich, gefolgt vom Russischen und Englischen. Insgesamt umfasst Celans Übersetzungsœuvre beinahe 50 Schriftsteller, wobei rund die Hälfte davon aus der französischen Literatur stammen. Im Korpus überwiegen dabei Autoren des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts, unter ihnen viele Wegbereiter und Vorläufer der modernen Dichtung, wie Arthur Rimbaud (1854-1891) und Alexander Block (1880-1921), mit deren Poetik sich Celan zum Teil intensiv auseinandergesetzt hat. 372 Die wahren Dimensionen von Celans Übersetzungswerk sind jedoch noch weitaus größer als es der Umfang der Bände 4 und 5 der Gesammelten Werke zu erkennen erlaubt. Neben Lyrik, Prosa und Drama umfasst es zahlreiche nicht-fiktionale Texte und nicht-literarische Gebrauchstexte, die in der bis heute maßgeblichen Werkausgabe keinen Platz gefunden haben. Außerdem wurden Celans frühe Übertragungen, einige längere Prosaübersetzungen, 373 sowie solche Übersetzungen literarischer Werke, die vornehmlich aus finanzi‐ ellen Gründen - sozusagen als ›Brotarbeit‹ - angefertigt wurden, 374 ebenfalls nicht in diese Edition aufgenommen. Ganz zu schweigen von den (inoffiziellen) Übersetzungen seiner eigenen Texte, von denen an dieser Stelle noch nicht die Rede sein soll. Denn im vorliegenden Rahmen geht es wohlbemerkt zunächst ausschließlich um sogenannte Fremdübersetzungen. Neben den eigentlichen literarischen Übersetzungen existieren viele nicht für die Öffentlichkeit bestimmte ›Gebrauchsübersetzungen‹ Celans, die insbe‐ sondere während seiner Tätigkeit als technischer Übersetzer im Bureau Inter‐ national du Travail in Genf 375 oder im Rahmen seiner langjährigen Lehrtätigkeit als Dozent für Übersetzung an der Pariser École Normale Supérieure entstanden sind. 376 Hinzu kommen außerdem zahlreiche nicht veröffentlichte oder nicht vollendete Übersetzungen, Skizzen und Entwürfe aus dem Nachlass. Zuletzt 4.1 Celan als multidirektionaler Übersetzer 197 <?page no="198"?> 377 Zur Rekonstruktion dieser Vorgänge siehe Paul Celan - Die Goll-Affäre. 378 Zitiert nach Gellhaus (Hrsg.), Celan als Übersetzer, S.-285-286. 379 Siehe Ivanović, Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren. müssen in diesem Zusammenhang auch seine Übertragungen der Lyrik Yvan Golls erwähnt werden, trotz des Diebstahls, der Fälschung und der infamen Machenschaften, denen sie zum Opfer gefallen sind. 377 Hier wie in anderen Fällen muss darauf bestanden werden, dass die sinistre Goll-Affäre nicht den Blick auf die realen (und produktiven) Schaffensprozesse verstellt. Alternativ zu dieser maximalen Ausweitung des Korpus auf alle vom Dichter übersetzten Texte - ungeachtet von Quelle, Gattung und Stellenwert -, gibt es einen ›harten Kern‹ von vier Titeln, von denen Celan 1960 in einem Brief an Gero von Wilpert sagt, er habe sie aus »wirklicher Neigung«, d. h. nicht als Auftragsarbeit oder Brotberuf übersetzt: Arthur Rimbaud, Das trunkene Schiff (GW IV, 102-109), Paul Valéry, Die junge Parze (GW IV, 114-163), Alexander Block, Die Zwölf (GW V, 10-45) und Ossip Mandelstamm, Gedichte (GW V, 48-161). 378 Sind die Wechselbeziehungen zwischen den Gedichten und dem Übersetzungswerk bei Celan allgegenwärtig, so ist im Fall einer solchen bewussten, freien Entscheidung für bestimmte Texte davon auszugehen, dass der Stellenwert dieser ›Spracharbeit‹ besonders hoch ist. Dieses bereits 1960 definierte Minimalkorpus lässt sich um eine Reihe von späteren Übertragungen erweitern, wie die ausgewählten Gedichte von Jules Supervielle (GW IV, 348- 421), das berühmte Poem »Babi Jar« von Jewgenij Jewtuschenko (GW-IV, 280- 281) sowie die Dichtungen von Emily Dickinson (GW V, 382-401). Auch diese Übersetzungen der 1960er Jahre entstanden zweifelsohne aus starker Affinität zu den entsprechenden Texten und Autoren und beruhen auf einer intensiven, ja identifikatorischen Auseinandersetzung mit ihrer Dichtung und Poetik. Die Spuren dieser Übersetzungsarbeit sind in vielen Texten anzutreffen, wo sie zum Teil textintern-multilinguale Formen annehmen (s.-6.2-6.3). Wechselwirkungen von Übersetzen und Schreiben Die oft unterstrichene Nähe zwischen Übersetzung und Dichtung bei Paul Celan wird besonders in poetologischen Texten wie der Meridian-Rede (1960) oder im Gedichtband Die Niemandsrose (1963) deutlich, die beide in einem engen Dialog mit der russischen Lyrik - insbesondere mit Ossip Mandelstamm - entstanden sind. 379 Speziell in diesem Zeitraum entwickeln sich Celans dichterische Poetik und seine Übersetzungspoetik geradezu parallel zueinander. Auch im restlichen Œuvre sind das Nachdenken über das eigene Schreiben und die Arbeit an der Übertragung von Texten aus anderen Sprachen eng miteinander verzahnt. Auf thematischer und motivischer Ebene, im Bereich der Bildlichkeit sowie bei 198 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="199"?> 380 Siehe u. a. Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittelosteuropa. Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2003. formalen Aspekten wie Syntax, Vers- und Wortbildung, werden zahlreiche Über‐ schneidungen zwischen den Gedichten und den Übertragungen augenfällig, die von der Forschung wiederholt analysiert wurden. Der konkrete Nachweis solcher Einflüsse kann sich hingegen selbst auf lexikalischer Ebene als schwierig erweisen, da der Transfervorgang generell in beide Richtungen - also nicht nur vom Ausgangstext zum Zieltext, sondern auch von seiner Lyrik zu den fremden Originalwerken - verläuft. So hat der Dichter häufig gerade solche Ausgangstexte zum Übersetzen ausgewählt, in denen er eine große Nähe zu seinem eigenen Schaffen zu erkennen meinte. Überset‐ zung ist bei Celan immer Begegnung mit dem Anderen und Selbstbegegnung zugleich. Auffällige Parallelen sind daher nicht automatisch auf die Wirkung fremdsprachiger Quellen zurückzuführen, was eine nicht zu unterschätzende methodische Herausforderung darstellt. Ein systematischer Vergleich zwischen dem übersetzerischen und dem dich‐ terischen Werk Paul Celans würde ohnehin den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und eher in das Gebiet der - im Übrigen sehr vitalen - Übersetzungsforschung gehören. Wie bereits erwähnt ist die internationale Forschungslage auf diesem Feld eine ganz andere (sprich: viel bessere) als bei der Frage nach der multilingualen Dimension von Celans Schreiben, da es hierzu eine ganze Reihe an Überblickdarstellungen und Einzeluntersuchungen gibt. Wesentlich relevanter für die spezifische Problematik der Multilingualität sind hingegen die weniger bekannten Übertragungen des Dichters ins Rumänische, die sich an der strategisch wichtigen Schnittstelle zwischen Übersetzung und Sprachwechsel befinden und um die es nun gehen soll. 4.1.2 Rumänisch als Zielsprache Dass der 1920 als Paul Antschel geborene Celan von Geburt Bürger eines rumänischen Nationalstaates war, in dessen Rahmen er einer ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheit zugerechnet wurde, ist weitgehend bekannt und soll an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden. 380 Zwar blieb das interkulturelle und multilinguale Setting der Habsburgermonarchie auch nach der Angliederung an Rumänien im Jahr 1918 lebenspraktisch für die Czernowitzer Bevölkerung von Belang, doch entwickelte sich die allgemeine Lage in der Bukowina rasch in Richtung einer forcierten Rumänisierung. Hervorzuheben für die (Sprach-)Biographie Celans ist hauptsächlich die tiefe 4.1 Celan als multidirektionaler Übersetzer 199 <?page no="200"?> 381 Mihail Lermontov, Un erou al timpului nostru. Übersetzt von Paul Ancel. Bukarest: Cartea rusă, 1946. 382 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-36. Zäsur des Zweiten Weltkriegs, mit dem Tod der Eltern, der Besetzung und Annexion der Nordbukowina samt ihrer Heimatstadt Czernowitz durch die Sowjetunion und der Übersiedlung bzw. Flucht des jungen Dichters nach Bukarest im April 1945. Dieser Weg führt ihn aus dem von der deutschen Sprache und Kultur geprägten Czernowitz, wo vor dem Krieg zu rund einem Drittel deutschsprachige Juden gelebt hatten, in die rumänische Hauptstadt, die trotz ihrer relativen Weltoffenheit weit weniger multilingual und multikulturell geprägt war als sein Geburtsort. Trotz der Verheerungen des Krieges und den Folgen eines schweren Erd‐ bebens, das sich im selben Zeitraum ereignet hatte, trotz grausamer Dürre, galoppierender Inflation und Hungersnot war die Hauptstadt des 1881 gegrün‐ deten rumänischen Königreichs in der kurzen Periode zwischen Kriegsende und Stalinisierung, d. h. von 1945 bis 1947, eine blühende Kulturmetropole mit vielen Theatern, Konzertsälen, Redaktionen und Verlagen. In diesem freien ›Paris des Ostens‹ wurde das Rumänische damals nicht nur zur Alltags- und Arbeitssprache Paul Antschels (bzw. Ancels, wie sein rumänisiertes Patronym lautete). Der deutsche Muttersprachler wurde darüber hinaus zeitweilig Teil des rumänischen Literatursystems, das ausgesprochen frankophil war und eine überaus aktive Avantgarde-Bewegung besaß. Übersetzungen vom Russischen ins Rumänische Neben dem Verfassen von Lyrik und Prosa auf Rumänisch trat Celan in Bukarest auch als Übersetzer ins Rumänische in Erscheinung - vorwiegend aus dem Russischen. Hierbei hat er im Unterschied zu seiner späteren Tätigkeit als Übersetzer hauptsächlich Prosatexte übertragen. Die Wahl von Ziel- und Quellsprache erklärt sich zunächst auf pragmatisch-beruflicher Ebene durch seine Anstellung als Lektor und Übersetzer beim Verlag Cartea Rusă (Das russische Buch) ab dem Juni 1945. In diesem Rahmen erscheint im August 1946 seine erste rumänische Übertragung aus dem Russischen, Mihail Lermontovs (1814-1841) Roman Герой нашего времени (Ein Held unserer Zeit, 1840), welche die erste Publikation des jungen Autors überhaupt darstellt. 381 Laut Aussage des Bukarester Freundes Petre Solomon (1923-1991) wurde die Übersetzung von der rumänischen Presse als wichtiger Beitrag zur Verbreitung des russi‐ schen Schriftstellers bezeichnet. 382 Noch im selben Jahr erschien als zweite Publikation des als Paul Ancel zeichnenden Übersetzers seine Übertragung von vier Erzählungen Anton Tschechows (1860-1904) aus den 1880er und 200 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="201"?> 383 Anton Tschechow, Ţăranii. Schiţe. Übersetzt von Paul Aurel (ab der 3. Auflage: Paul Ancel). Bukarest: Cartea rusă, 1946. Enthält: Мужики (Die Bauern), Дом с мезонином (Das Haus mit dem Mezzanin), Мальчики (Knaben), Кухарка женится (Die Köchin heiratet). 384 Siehe Wiedemann, »Paul Celans Übertragungen ins Rumänische«, S.-148. 385 Zitiert nach Gellhaus (Hrsg.), Celan als Übersetzer, S. 61. Für detaillierte Analysen der Übersetzungen siehe Barbara Wiedemann, »Grischas Apfel und bitteres Staunen. Paul Celans Übertragungen ins Rumänische«. Celan-Jahrbuch, 5 (1993), S.-139-163. 386 Siehe Gellhaus (Hrsg.), Celan als Übersetzer, S.-64-65. -90er Jahren, 383 wobei er die Textauswahl möglicherweise selbst vorgenommen hat. 384 Das in diesem Rahmen verfasste (rumänische) Vorwort des jungen Schriftstellers gehört in den Rahmen der anderssprachigen Originaltexte, die weiter unten angesprochen werden sollen (s. 4.4.1). Beide Übertragungen aus dem Russischen - die von Lermontov und die von Tschechow - zeigen nach Meinung Wiedemanns »einen souveränen Umgang mit dem Rumänischen«, der den Vergleich mit eminenten Übersetzerkollegen nicht zu scheuen braucht. 385 Diese Übersetzungen ins Rumänische - also in eine Nicht-Muttersprache - unterscheiden Celan von anderen bedeutenden Dichter-Übersetzern der modernen deutschen Literatur wie Rainer Maria Rilke (1875-1926), Stefan George (1868-1933) oder Rudolf Borchardt (1877-1945), die ausschließlich in ihre eigene Muttersprache übersetzt haben. Celans enorme sprachliche Beweglichkeit zwischen zwei, später drei Hauptsprachen nimmt dabei aktuelle Entwicklungen des internationalen Literaturbetriebs vorweg. In der Tat gibt es heute eine ganze Reihe von Literaturübersetzern, die multidirektional, also in mehrere Sprachrichtungen arbeiten, wobei sie oft nicht mehr nur eine einzige Muttersprache besitzen. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die 1964 geborene, preisgekrönte Romanautorin und Übersetzerin Anne Weber, die das Deutsche und Französische als nahezu gleichberechtige Sprachen benutzt. Doch schon der 1912 in Düsseldorf geborene Jean-Pierre Wilhelm, der Celan in den 1950er Jahren ins Französische übersetzt hat (s. 4.4.2), war ein multidirektionaler Übersetzer. Damals dürfte dieser Umstand jedoch noch eine seltene Ausnahme dargestellt haben. Auch unter diesem Gesichtspunkt befindet sich Paul Celan gewissermaßen in einem literaturgeschichtlichen Übergangsbereich zwischen dem monolingualen und post-monolingualen Paradigma. Zwei weitere Celan zugeschriebene Übertragungen aus dem Russischen ins Rumänische betreffen sowjetische Propagandatexte, von denen sich der Autor offensichtlich schon damals zu distanzieren suchte. 386 Bei diesen Projekten verschwindet das literarische Interesse eindeutig hinter dem Übersetzen als Brotberuf und professionelle Pflichtausübung. Auf sprachlicher Ebene scheinen diese Arbeiten zudem nicht mit der Qualität der Lermontov- und der Tsche‐ 4.1 Celan als multidirektionaler Übersetzer 201 <?page no="202"?> 387 Siehe Wiedemann, »Paul Celans Übertragungen ins Rumänische«, S.-157. 388 Konstantin Simonov, Chestinuea Rusă. Übersetzt von A. Pavel. Bukarest: Cartea rusă, 1947. 389 Siehe Gellhaus (Hrsg.), Celan als Übersetzer, S.-64-65. 390 S. I. Galperin, Viața și moartea în lumina științei moderne. Übersetzt von A. Pavel. Bukarest: Cartea rusă, 1947. 391 Siehe John Felstiner, Paul Celan, Poet, Survivor, Jew. New Haven: Yale University Press, 1995, S.-28. chow-Übersetzung vergleichbar, 387 was ein weiteres Indiz für die Distanz des Übersetzers gegenüber diesen Texten liefert. Hierbei handelt es sich erstens um ein prosowjetisches (und antiamerikanisches) Propagandadrama von Kon‐ stantin Simonov (1915-1979) mit dem Titel Русский вопрос (Die russische Frage, 1948), dessen rumänische Übersetzung Paul Celan-Ancel unter Pseudonym zeichnete. 388 Eine zweite mit demselben Pseudonym signierte Übersetzung, deren Zuschreibung allerdings nicht unumstritten ist, 389 betrifft die Propaganda‐ abhandlung eines sowjetischen Arztes namens S.I. Galperin: Жизнь и смерть по данным современной науки (Leben und Tod im Licht der modernen Wissenschaft, 1945). 390 Was Simonov angeht, muss hinzugefügt werden, dass dieser sowjetische Autor über das besagte, mehr oder weniger widerwillig übersetzte Propagan‐ dastück hinaus auch eine überaus konstruktive Rolle in Celans dichterischem Œuvre gespielt hat. Denn sein Bericht über das Vernichtungslager Majdanek aus dem Jahr 1944 gilt als eine der Hauptquellen der berühmten »Todesfuge«. 391 Außerdem ist Simonow der Ko-Autor des Drehbuchs für den sowjetisch-fran‐ zösischen Film Normandie-Niémen (Нормандия — Неман, 1960), auf den Celans wichtiges Gedicht »Es ist alles anders« (GW I, 284 ff., V. 59) aus dem Band Die Niemandsrose anspielt. So wird das Russische in diesem Zusammenhang als eine der frühesten Inspirationsquellen von Celans Schaffen sichtbar. Die gerade erwähnten letzten beiden Arbeiten Paul Celans als rumänischer Übersetzer des Verlages Das russische Buch weisen schon auf die stalinistische Zwangssozialisierung Rumäniens voraus, das im Dezember 1947 zur Volksre‐ publik werden sollte. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Die politische, soziale und kulturelle Situation in Rumänien sollte sich drastisch verändern. Doch der Dichter war zu diesem Zeitpunkt längst nach Wien unterwegs, von wo aus er dann schließlich weiter in den Westen nach Paris emigrieren sollte. Dass Celan nicht in der Hauptstadt Österreichs bleiben wollte, soviel scheint heute sicher, liegt nicht zuletzt an seinem Bedürfnis nach sprachlicher Distanz, die rückblickend betrachtet als eine der Grundvoraussetzungen seines Schreibens ›nach Auschwitz‹ bezeichnet werden kann. Diesen notwendigen Abstand zum Deutschen hatte er bereits vorübergehend in Bukarest gefunden, obschon 202 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="203"?> 392 Andrei Corbea-Hoisie, »Trei poeme de Paul Celan«. Celan-Jahrbuch, 11 (2020), S. 413- 422. die politischen Rahmenbedingungen der Zeit ein Bleiben für ihn unmöglich gemacht haben. Ginge man davon aus, dass Paul Celan ein einsprachiger Schriftsteller ge‐ wesen sei, handelte es sich bei den eben erwähnten Arbeiten um Übersetzungen aus der Fremdsprache in die Fremdsprache, was ein für Literaturübersetzer außergewöhnlicher, ja kurioser Fall ist - insbesondere in dieser Epoche. Wie die weiter unten behandelten Gedichte und Prosatexte zeigen (s. 4.4.1), wäre es jedoch richtiger, beim Rumänischen von einer literarischen Zweitsprache Celans zu sprechen. Zwar hat der Dichter während der Bukarester Jahre nie damit aufgehört, auf Deutsch zu schreiben und Übersetzungen ins Deutsche anzufertigen. Doch die Übertragungen ins Rumänische belegen neben den direkt in dieser Zweitsprache verfassten literarischen Texten, um die es weiter unten gehen wird, dass ein Sprachwechsel während dieser Zeit von den sprachlichen Mitteln des Dichters her durchaus möglich gewesen wäre. Spekulationen über Celans schriftstellerischen Werdegang und seine spä‐ tere Sprachwahl, wäre Rumänien damals nicht in den sowjetischen Ostblock zwangsintegriert und stalinisiert worden, sind freilich müßig und sollen an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. All diese Überlegungen sind überaus hypothetisch und spekulativ, bedenkt man, dass der Dichter genauso gut nach Palästina hätte auswandern können, um fortan auf Neuhebräisch zu schreiben, wie es andere Czernowitzer Schicksalsgenossen taten. Fakt ist, dass der Dichter nach Frankreich ging, und dabei das Deutsche als literarische Hauptsprache beibehielt. Nichtsdestoweniger bleibt die unterschwellige Präsenz der rumäni‐ schen Sprache und Literatur auch nach der Bukarester Zeit spürbar, wie etwa sein Gedichtband Mohn und Gedächtnis zeigt, mit dem er sich Ende 1952 auf der deutschen Literaturszene vorgestellt hat. Auf diese ›Langzeitwirkungen‹ wird in den folgenden Kapiteln zurückzukommen sein. Übersetzungen vom Deutschen ins Rumänische Paul Celans zeitweise starke Einbindung in das rumänische Literatursystem wird ebenfalls durch drei bislang unbekannte Übersetzungen ins Rumänische veranschaulicht, die Andrei Corbea-Hoisie unlängst im Nachlass Petre Solo‐ mons aufgefunden hat. 392 Dabei handelt es sich um höchstwahrscheinlich zwi‐ schen 1946 und 1947 entstandene rumänische Fassungen der frühen Celan-Ge‐ dichte »Das Gastmahl« (»Ospățul«, GW VI, 180), »Das Geheimnis der Farne« (»Taina ferigelor«, GW VI, 171) und »Das einzige Licht« (»Singura lumină«, GW 4.1 Celan als multidirektionaler Übersetzer 203 <?page no="204"?> 393 Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift Secolul 20, 11-12, 1984, S. 100-102, anschließend in Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-203-208. 394 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească. 395 Siehe Wiedemann, »Paul Celans Übertragungen ins Rumänische«, S.-140-143. 396 Siehe Florian Welling, »Vom Namen der Amseln«. Paul Celans Kafka-Rezeption. Göttingen: Wallenstein, 2019, S.-9. 397 Wiedemann, »Paul Celans Übertragungen ins Rumänische«, S.-142. VI, 168). Die Existenz dieser Übersetzungen könnte auf ein Publikationsprojekt Paul Ancel-Celans als rumänischer Autor und somit auf eventuelle Karriere‐ pläne in diese Richtung hindeuten. Allerdings lässt sich die Entstehung dieser in der zweiten Literatursprache des Dichters verfassten Gedichtversionen auf dem bisherigen Kenntnisstand nicht einwandfrei rekonstruieren. So muss offen bleiben, ob es sich um Selbstübersetzungen oder - wie im Fall von »Tangoul morții«, der weiter unten (s. 4.3) vorgestellten rumänischen Erstpublikation von »Todesfuge« - um kollaborative Übersetzungen oder gar reine Fremdüberset‐ zungen handelt. Ein letztes Indiz für Celans aktive Teilhabe am rumänischen Literaturleben dieser Jahre liefert die im selben Zeitraum entstandene, unveröffentlichte Übersetzung von vier Kafka-Erzählungen: Der Ausflug ins Gebirge (Excursie în munți), Die Vorüberlaufenden (Doi oameni trec în fugă), Eine kaiserliche Botschaft (O solie împărătească), Vor dem Gesetz (În fața legii).  393 Vornehmlicher Adressat der Übertragungen war wahrscheinlich der bereits erwähnte Petre Solomon, Celans Jugendfreund und späterer Verfechter der »rumänischen Dimension« 394 des Dichters. In der Tat war Solomon des Deutschen nicht mächtig, und Kafkas Texte damals auf Rumänisch noch nicht verfügbar. 395 Wie er es später in Paris seiner Frau gegenüber Gisèle tun sollte, tritt der Autor hier als Vermittler der deutschen Sprache und Literatur im ›Ausland‹ auf, wobei sich die Hierarchie von Mutter- und Fremdsprache vorübergehend umkehrt. In diesem Zusammenhang muss an die zentrale Bedeutung des »Freundes Kafka« 396 für Celans biographische und literarische Entwicklung erinnert werden. Durch die erwähnten Kafka-Übersetzungen wird der Dichter hier gleichsam zum rumänischen Gewährsmann eines deutschsprachigen Autors, mit dem er sich existenziell verbunden fühlte. Als Spezialistin insbesondere der rumänischen Periode Paul Celans beurteilt Wiedemann diese Kafka-Über‐ setzungen als »sorgfältig«, 397 wodurch nochmals die perfekten sprachlichen Kompetenzen des Autors in der literarischen Zweitsprache bestätigt werden. Sei der Rahmen dieser Kafka-Übertragungen auch zunächst privater Art, zeigen sie doch zusammen mit den anderen erwähnten Arbeiten, wie leicht dem Dichter ein solches Wechseln zwischen den Sprachen zu fallen schien. Ohne die 204 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="205"?> 398 An dieser Stelle werden aufgrund der bisher ungeklärten Textgenese die eben er‐ wähnten rumänischen Fassungen von Celan-Gedichten nicht berücksichtigt, obwohl es sich dabei ebenfalls um Selbstübersetzungen handeln könnte. Rolle des Deutschen für sein Schreiben zu relativieren, veranschaulichen diese rumänischen Versionen deutscher Texte erneut auf eindrückliche Weise den mehrsprachigen Horizont, in dem sich sein literarisches Schreiben von Anfang an situiert hat. 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 4.2.1 Status der Eigenübersetzungen Die größtmögliche Schnittmenge zwischen dem Übersetzen einerseits und dem Schreiben in ›fremden‹ Sprachen andererseits liegt beim Phänomen der Selbstübersetzung vor, das in Paul Celans mehrsprachiger Schreibpraxis eine besondere Rolle spielt. Im Unterschied zu seinen Übertragungen vom Russi‐ schen ins Rumänische, so muss hier unterstrichen werden, handelt es sich bei den im Folgenden behandelten »Eigenübersetzungen« - wie die Celan-Heraus‐ geber diese Textgruppe bezeichnen (s. NKG) - durchweg um unveröffentlichte Texte. 398 Darüber hinaus hat der Autor bei einigen zu Lebzeiten veröffentlichten Übersetzungen seiner Texte mit den Übersetzern zusammengearbeitet, wobei der auktoriale Einfluss auf das publizierte Endergebnis zum Teil erheblich ist. Wie weiter unten (s. 4.3) dargestellt werden soll, nähern sich diese publizierten französischen Fassungen durchaus der Gattung der Eigenübersetzungen an. Diejenigen Übersetzungen von Celan-Texten, um die es an dieser Stelle zunächst gehen soll, wurden hingegen vom Dichter für den Privatgebrauch seiner Frau Gisèle und - marginal - seines Sohnes Éric angefertigt, deren beider Deutschkenntnisse beschränkt waren. Handelt es sich dabei auch um nicht für die Öffentlichkeit bestimmte ›Rohübersetzungen‹, so sind diese alternativen Versionen in der für Celan so zentralen französischen Sprache doch für die Forschung von größtem Interesse, da sie als Form der Selbstinterpretation Rückschlüsse auf die Deutung bestimmter Textstellen oder gar ganzer Gedichte ermöglichen. Hermeneutische Relevanz der Eigenübersetzungen Wie Peter Utz in seinem inspirierenden Plädoyer für eine Einbeziehung der (Fremd-)Übersetzungen in den Erkenntnisprozess der Literaturwissenschaft gezeigt hat, ist jede Übersetzung grundsätzlich eine Form der Auslegung. So stellt er fest: »Gerade der Abstand, den sie zum Ausgangstext schafft, erlaubt 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 205 <?page no="206"?> 399 Peter Utz, Anders gesagt - autrement dit - in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München: Hanser, 2007, S.-13. 400 Ebd., S.-26. 401 Ebd., S.-15. 402 Vgl. Giulia A. Disanto, »Sulle rive di Babele. Gli esercizi di traduzione di Paul Celan per Gisèle Celan-Lestrange«. Contesti. Raccolta di studi e ricerche, 19-20, 2007, S. 231-252. 403 Siehe u. a. Jan Walsh Hokenson/ Marcella Munson, The Bilingual Text. History and Theory of Literary Self-Translation. Manchester: St. Jerome Publishing, 2007. 404 Siehe Verena Jung, English-German Self-Translation of Academic Texts and its Relev‐ ance for Translation Theory and Practice. Frankfurt-a.-M.: Peter Lang, 2002, S.-24f. es, diesen neu zu erkennen.« 399 Utz plädiert in seinem innovativen Ansatz dafür, die Textgattung der Übersetzung von ihrem rein heteronomen Status zu befreien. Die traditionelle Betrachtungsweise wird dabei punktuell umgekehrt und das Original von der Übersetzungen her gelesen. 400 Als »sinnstiftendes Lesen« 401 erlaubt das Übersetzen das Aufspüren von neuen, zuvor unbeachteten Sinnschichten, die aufgrund des ›monolingualen Habitus‹ der germanistischen Interpretationstradition unbeachtet blieben, so kann hier im Anschluss an Utz festgehalten werden. Diese Dimension der ›Sinnstiftung‹ im Prozess des Übersetzens trifft ganz besonders auf Celans Eigenübersetzungen zu, deren auktorialer Charakter einem solchen hermeneutischen Ansatz die größtmögliche Relevanz verleiht. Selbst der private und informativ-explikative Charakter seiner französischen Versionen tut einem solchen Unternehmen keinen Abbruch. Besitzen die hier behandelten Text auch meist eher die Rolle von paraphrasierenden Verständ‐ nishilfen für seine Frau als den Status ästhetisch elaborierter Gedichtübertra‐ gungen, die den berühmten Fremdübersetzungen des Dichters vergleichbar wären, handelt es sich bei den Eigenübersetzungen doch auf hermeneutischer Ebene um weit mehr als nur »Übersetzungsübungen«. 402 An dieser Stelle muss in übersetzungstheoretischer Hinsicht ergänzt werden, dass die wissenschaftliche Debatte über die Textgattung ›Selbstübersetzung‹ bisher zu keiner allgemein akzeptierten Begriffsbestimmung vorgedrungen ist. Während einige literaturwissenschaftliche Ansätze an einer monoauktorialen und der Originaltreue verpflichteten Konzeption der Gattung festhalten, 403 fassen andere, zum Teil mit nichtliterarischen Texten arbeitende Theoretiker den Begriff viel weiter und erkennen etwa die kollaborative Selbstübersetzung als gleichwertig an. 404 Die Betrachtungsweisen des Phänomens weichen also zum Teil extrem voneinander ab. So scheuen einige in der linguistischen Tradition stehende Übersetzungswissenschaftler nicht davor zurück, Selbst‐ übersetzungen unter Berufung auf normative Qualitätserwartungen zu kri‐ 206 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="207"?> 405 Siehe Gisela Thome, »Ein Grenzgang der besonderen Art. Zur Selbstübersetzung von Georges-Arthur Goldschmidts Autobiographie ›La traversée des fleuves‹«. Lebende Sprachen, 1, 2008, S.-7-19. 406 Siehe u. a. Gideon Toury, »The Notion of ›Assumed Translation‹. An Invitation to a New Discussion«. In: Henri Bloemen/ Erik Hertog/ Winibert Segers (Hrsg.), Letter‐ lijkheid/ Woordelijkheid - Literality/ Verbality. Antwerpen/ Harmelen: Fantom, 1995, S.-135-147. 407 Siehe Susan Bassnett, »The Self-Translator as Rewriter«. In: Anthony Cordingley (Hrsg.), Self-Translation. Brokering Originality in Hybrid Culture. London-New York: Bloomsburry, 2013, S. 13-25. tisieren oder gar abzuqualifizieren, 405 wohingegen Vertreter der Descriptive Translation Studies dahingehend argumentieren, dass es ausreicht, wenn ein Text sich als ›übersetzt‹ ausgibt, um ihn als vollwertige Übersetzung (und a fortiori Selbstübersetzung) anzuerkennen. 406 Andere Übersetzungstheoretiker wie Susan Bassnett wiederum halten den Begriff ›Selbstübersetzung‹ generell für irreführend und sprechen an dessen Stelle nur von Prozessen des rewriting, wobei sie einen zu engen translatorischen Äquivalenzbegriff ablehnen. 407 Im Anschluss an letztere Position soll im vorliegenden Zusammenhang gerade nicht die Frage der ›Treue‹ gegenüber dem Original im Zentrum stehen, sondern vielmehr der auktoriale Status der untersuchten französischen Versionen von Celans Texten. 4.2.2 Dichtung und ›Deutschstunden‹ Die Entstehung der im Folgenden auszugsweise präsentierten französischen Eigenübersetzungen des Lyrikers erklärt sich zuvorderst aus dem konkreten Umstand, dass die 1952 von Celan geheiratete Zeichnerin und Graphikerin Gisèle de Lestrange (1927-1991) des Deutschen zu Beginn der Beziehung nicht mächtig war. Die französischen Fassungen sind also Teil einer sprachlichen Vermittlungsarbeit des deutschsprachigen Autors gegenüber seiner französi‐ schen Gattin, später auch gegenüber dem gemeinsamen Sohn Éric. Nicht umsonst lautet ein französischer Titelentwurf des Gedichts »Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehen« (GW I, 212) aus Die Niemandsrose, welches auf die gemein‐ same Lektüre von Georg Heyms Gedicht »Deine Wimpern, die langen« anspielt, »La leçon d’allemand«, also »Die Deutschstunde« (s. NKG, 784). Die Entste‐ hungsgeschichte dieses Gedichts liefert mithin ein Zeugnis für Celans Rolle als aktiver Sprachmittler zwischen dem Deutschen und dem Französischen. Noch vor der Heirat versprach der Dichter seiner Partnerin in einem Brief, in der Zukunft alle seine Gedichte für sie ins Französische zu übersetzen: »Mais oui, je vous traduirai tous mes poèmes: déjà, en me promenant, je les ausculte un peu, 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 207 <?page no="208"?> 408 Badiou, »Editorisches Nachwort«, Band-2, S.-22. 409 Siehe hierzu erneut Celans Bemerkung zum Übersetzen als Bauen von Brücken über sprachliche Abgründe hinweg (Briefe, 419, 426). pour voir par où ils résonneront en français - ils sont moins têtus que je ne l’avais pensé.« (PC-GCL, I, 34). Beim »Spazierengehen« (»en me promenant«) erprobte der Dichter demnach anfangs die Übertragung seiner deutschen Gedichte in die Sprache seiner Wahlheimat, wobei er zuversichtlich ihrem französischen ›Echo‹ nachspürte (»je les ausculte«). Der hier - nicht zuletzt unter dem Einfluss einer jungen Liebe - zum Ausdruck kommende Optimismus, was die Übertragbarkeit seiner Lyrik angeht, sollte jedoch im Laufe der Zeit einen starken Dämpfer erhalten und einer steigenden Skepsis weichen. 408 Gerade die intime Kenntnis des Französischen schärfte das Bewusstsein des Dichters für den zum Teil abgründigen Abstand zwischen den Sprachen, trotz seiner perfekten Beweglichkeit zwischen dem Deutschen und dem Französischen. 409 Zwischen Sprachmittlung und zweisprachigem Schreiben Diese ›didaktische‹ Dimension der Eigenübersetzungen Celans erklärt neben der markanten Wortwörtlichkeit vieler dieser Übertragungen auch das Vorhan‐ densein von zweisprachigen Wortlisten. Diese französischen bzw. deutsch-fran‐ zösischen Materialien betreffen dabei zwei Phasen: das Werk bis Mitte-Ende der 1950er Jahre und die Periode ab 1965 - getrennt durch eine längere Unterbrechung ohne Textzeugen. Insgesamt sind 30 vollständige Texte, rund ein Dutzend Wortlisten sowie eine Reihe von Übersetzungen einzelner Titel oder Wörter durch den Briefwechsel mit seiner Frau dokumentiert. Die betreffenden Manuskripte enthalten teilweise Übersetzungsvarianten, welche in Klammern gesetzt oder durch Schrägstrich abgetrennt sind, sowie Vorstufen der Überset‐ zungen. Es kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei all diesen Materialien um den schriftlich fixierten - und dank des Briefwechsels erhaltenen - Teil einer in Wahrheit viel breiteren Vermittlungsarbeit handelt, die primär mündlicher Art war. Dies würde auch erklären, warum die Zahl der überlieferten Texte nach jahrelanger Unterbrechung in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wieder stark zunimmt, als die Ehegatten aufgrund der psychischen Probleme Celans anfingen, getrennt zu leben. Während dieses Zeitraums war der Dichter zudem mehrmals über längere Zeit in psychiatrischen Kliniken interniert, weshalb der schriftliche Austausch während dieser Zeit stark an Bedeutung gewinnt. Verglichen mit den knapp tausend erhaltenen Gedichten Celans, die ungefähr zur Hälfte vom Autor zu Lebzeiten veröffentlicht wurden, wohingegen die andere Hälfte im Nachlass überliefert ist, betrifft dieses Phänomen weniger 208 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="209"?> 410 Deutsche Originalfassung: »Es wird etwas sein, später, / das füllt sich mit dir / und hebt sich / an einen Mund / Aus dem zerscherbten Wahn / steh ich auf / und seh meiner Hand zu, / wie sie den einen, einzigen / Kreis zieht.« 411 Es wurde hier zu Zwecken der besseren Lesbarkeit jeweils die zweite Übersetzungsva‐ riante beibehalten. Für eine philologisch akkurate und vollständige Transkription siehe die Edition des Textes in PC-GCL (I, 688). als fünf Prozent des Gesamtkorpus. Dennoch handelt es sich keineswegs um eine zu vernachlässigende Randerscheinung. Vielmehr geht es um eine Praxis, die Celan über einen langen Zeitraum ausgeübt hat und die enge Verbindungen zu seinem Schreiben in der Zweitsprache Französisch unterhält. Besonders bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass sich unter den spätesten Zeugnissen aus der Hand des Dichters ein auf den 18. März 1970 datierter Brief an seine Frau befindet, der als letzter an sie adressierte Brief neben einem deutschen Gedicht auch dessen französische Eigenübersetzung umfasst. Diesem deutsch-französischen ›Doppeltext‹ Celans könnte rückblickend ein gleichsam testamentarischer Charakter zugeschrieben werden. Das in diesem letzten Brief an Gisèle Celan-Lestrange enthaltene Nachlass‐ gedicht »Es wird etwas sein« (GW III, 109) besitzt eine ausgesprochen poetolo‐ gisch-existenzielle Dimension, die vom Dichter überzeugend ins Französische transponiert wurde, weshalb die Übersetzung hier vollständig wiedergegeben werden soll: - Il y aura quelque chose, plus tard, - qui se remplira de toi - et se hissera - à la hauteur d’une bouche - - 5 Du milieu de ma folie - volée en éclats - je m’érige - et contemple ma main - qui trace 10 l’un, l’unique - cercle (PC-GCL, I, 688). 410 Die hier vorgelegte - zur besseren Anschaulichkeit von Varianten bereinigte - Lesefassung 411 des Textes macht deutlich, dass aus Celans ›Deutschstunden‹ mit der Ehefrau im Laufe der Jahre annähernd eine Art zweisprachiges Schreiben geworden ist. Im Hinblick auf die von Celan angefertigte Selbstübersetzung seines Zyklus Schwarzmaut, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird, 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 209 <?page no="210"?> 412 Sieghild Bogumil-Notz, »Lichtzwang«. In: May/ Goßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Hand‐ buch, S.-105-115, hier S.-106. 413 Siehe hierzu Disanto, »Gli esercizi di traduzione di Paul Celan per Gisèle Celan-Lest‐ range«. bemerkt Sieghild Bogumil-Notz zu dieser zweisprachigen Schreibpraxis, »dass [der Dichter] auch in dieser Sprache, die er perfekt beherrschte, auf genuine Weise versucht, ihr Sinnpotential auszuschöpfen.« 412 Es geht dabei nicht mehr nur um eine sprachliche Vermittlungsarbeit pragmatischer Art, vielmehr han‐ delt es sich bei diesen Texten zum Teil um regelrechte Neuschöpfungen der Gedichte in der Zweitsprache. Dieser Umstand verbindet Celan - trotz seiner demonstrativen, öffentlichen Ablehnung von Zweisprachigkeit - durchaus mit deutsch-französischen Lyrikern wie Rilke, ja Goll. Schon allein aus Platzgründen kann im vorliegenden Rahmen keine ein‐ gehende Untersuchung von Celans Eigenübertragungen in ihrer Gesamtheit unternommen werden, obwohl dies weiterhin ein Desiderat der Forschung darstellt. 413 Im Folgenden soll dieses multilinguale Phänomen daher zuvorderst in seinen Grundzügen umrissen sowie seine grundsätzliche Rolle und Funk‐ tionsweise veranschaulicht werden. An ausgewählten Beispielen soll dabei insbesondere gezeigt werden, inwiefern diese Praxis für die Celan-Philologie - und die Mehrsprachigkeitsforschung - von Belang ist. 4.2.3 Übersetzung als Differenzlektüre Aus germanistischer bzw. einzelphilologischer Sicht ist die Beurteilung der exophonen Textproduktion kanonisierter Dichter grundsätzlich diffizil und problembehaftet, insofern diese Praxis implizit gegen die Grundsätze des noch immer wirkmächtigen nationalliterarischen Paradigmas verstößt. Spätestens seit den 1770er-Jahren und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zählten Einspra‐ chigkeit und sprachliche ›Loyalität‹ gegenüber der deutschen Muttersprache zu den expliziten Grundpfeilern der Literaturauffassung in Deutschland. Und selbst in der aktuellen Germanistik werden mehrsprachige Schreibweisen deutscher Autoren zum Teil noch immer marginalisiert. Im konkreten Fall von Paul Celans Werk kommt erschwerend die berühmte Selbstaussage des Dichters gegen »Zweisprachigkeit in der Dichtung« (GW III, 175) hinzu, welche den Wert solcher Texte, wozu auch seine Übersetzungen eigener Gedichte zu zählen sind, implizit zu mindern scheint. Andererseits besitzen gerade Celans Selbstübersetzungen, nimmt man sie einmal genauer unters Auge, eine große hermeneutische Relevanz, wie jetzt gezeigt werden soll. 210 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="211"?> 414 Celan, La Rose de personne. Übersetzt von Martine Broda. Paris: Le Nouveau Com‐ merce, 1979. 415 Siehe u.-a. Rey, »Paul Celan, Das Blühende Nichts«. 416 Siehe Martine Broda, Dans la main de personne. Essai sur Paul Celan et autres essais. Paris: Éditions du Cerf, 1986, 2. Auflage 2002, S.-68. 417 »Ich hörte sagen« (GW-I, 85, PC-GCL, I, 39-40), »Wir lagen« (GW-II, 239, PC-GCL, I, 619), »Du liegst hinaus« (GW III, 73, PC-GCL, I, 675). Zu letzterer Selbstübersetzung siehe das Faksimile in Badiou, Bildbiographie, S.-469. Schaut man sich etwas die Vorschläge des Autors für die französische Version des Titels seiner Gedichtsammlung Die Niemandsrose an, ergeben sich daraus bereits einige hochinteressante Hinweise und Fragestellungen. Für diesen Bandtitel gibt der Dichter nämlich neben dem später von der offiziellen französischen Übersetzerin übernommenen »La Rose de personne« 414 auch die Variante »La Rose nulle« (PC-GCL, 427) als mögliches französisches Äquivalent an. Diesbezüglich hat die Celan-Forschung schon früh (unter anderem unter Verweis auf die negative Theologie) die dem Wort ›Niemand‹ innewohnende »semantische Dialektik« 415 mit ihrer negierend-affirmativen Doppelfunktion unterstrichen. Diese Ambiguität ist in der französischen Version »La Rose de personne« enthalten, da dieser Titel als Niemands- und Jemandsrose zu‐ gleich lesbar ist. Celans alternativer Vorschlag »La Rose nulle« hingegen tendiert zu einer radikalen, an Nihilismus grenzenden Negation von Person und Symbol, die weit über Konzepte wie den christlichen Deus absconditus oder das jüdische En Sof hinausgeht. Die vom Dichter selbst vorgeschlagene Übersetzungsalternative »La Rose nulle« verleiht also der ›negierenden‹ Sicht‐ weise ein größeres interpretatives Gewicht als das in der aktuellen Forschung der Fall ist. In gewisser Weise bewegt sich hier die »Niemandsrose« auf die »Nichts-[…]rose« (GW I, 225, V. 12-13) zu. Die übersetzerische Selbstdeutung des Dichters widerspricht sogar in gewissem Maße der späteren Interpretation der französischen Übersetzerin des Gedichtbandes. 416 Kurz gesagt laden die französischen Übersetzungsvorschläge Celans zum weiteren Nachdenken über das Bedeutungsspektrum des Kompositums ›Niemandsrose‹ ein. In diesem Zusammenhang kann ebenfalls das französische Verb ›gésir‹ erwähnt werden, das der Dichter in mehreren Fällen als Äquivalent für ›liegen‹ verwendet. 417 Im Unterschied zum deutschen Original ist die Verbindung zum Tod hier im Französischen viel präsenter, was bereits durch die traditionelle Ver‐ wendung des Verbs auf Grabsteinen (in Form der Formel »ci-gît« = »hier ruht«) deutlich wird. Celan scheint diese Verbindung des Liegens mit der ›ewigen Ruhe‹, wie sie von ›gésir‹ im Französischen hergestellt wird, sehr geschätzt zu haben, sodass er es sogar zuweilen auf Kosten der sprachlichen Korrektheit 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 211 <?page no="212"?> 418 »Wir lagen« (GW II, 239, PC-GCL, I, 619). Die von Celan in seiner Eigenübersetzung verwendete 1. Person Plural Passé simple des Verbes ›gésir‹ (»nous *gésîmes«) ist heute defektiv, sie existierte jedoch im Altfranzösischen. 419 Siehe Dirk Weissmann, Une histoire de la réception de Paul Celan en France, des débuts jusqu'en 1991, Dissertation, Paris, Université de la Sorbonne Nouvelle, 2003, S. 189. URL: https: / / hal.science/ tel-01634451v1/ preview/ Dissertation%20WEISSMANN.pdf (zuletzt besucht am 1.4.2024). 420 Siehe Werner, Textgräber. 421 Paul Celan/ Gisèle Celan-Lestrange, Schwarzmaut. Vaduz: Brunidor, 1969. 422 Paul Celan/ Gisèle Celan-Lestrange, Atemkristall. Vaduz: Brunidor, 1965. Weitere ge‐ meinsame Projekte waren Schlafbrocken, Keile (Privatdruck, 1967) und Portfolio VI (Vaduz: Brunidor, 1968). 423 Siehe Barbara Wiedemann, »›… und sie auf meine Art entziffern.‹ Zur Entstehung der Edition ›Schwarzmaut‹ von Gisèle Celan-Lestrange und Paul Celan«. Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 2001, S.-263-292. verwendet. 418 In umgekehrter Sprachrichtung erlaubt eine solche Präferenz für das französische Äquivalent interessante Rückschlüsse auf Celans Verwendung des Verbs ›liegen‹ im Deutschen - in den übersetzen Originalgedichten und darüber hinaus. Auch gegenüber seinen französischen Übersetzern scheint Celan das Verb ›gésir‹ und seine Ableitungen wie ›gisement‹ (= ›Lager‹, auch im geologischen Sinn, etwa für Erze und Rohstoffe) als Äquivalente erwähnt zu haben, 419 wodurch eine enge Verbindung zur Bildlichkeit der »Textgräber« 420 in seinem Werk geschaffen wird. Schwarzmaut Der bedeutendste Teil des Korpus von Paul Celans Eigenübersetzungen besteht aus der Komplettübertragung des ersten Zyklus aus der Sammlung Lichtzwang. Dieser 14 Gedichte umfassende Zyklus mit dem Titel Schwarzmaut wurde 1967 verfasst (GW II, 233-246, PC-GCL, I, 613-623). 421 Wie zuvor bei Atemkristall (1965), 422 dem ersten Teil der Gedichtsammlung Atemwende (1967), handelt es sich bei dieser Ausgliederung eines Zyklus um eine Zusammenarbeit zwischen dem Dichter und seiner Ehefrau, die die Texte als Graphikerin illustriert hat. Die Gedichte des Zyklus Schwarzmaut werden so von 15 Radierungen Gisèle Celan-Lestranges begleitet, die in rezeptiver Auseinandersetzung mit den Texten entstanden sind. 423 In diesem intermedialen Dialog zwischen Lyrik und bildender Kunst besaßen die Eigenübersetzungen zunächst die Funktion, der französischen Künstlerin ein besseres Verständnis der deutschen Gedichte zu ermöglichen. Die Eigenübersetzungen Celans dienten also vornehmlich als Grundlage für die graphische Arbeit seiner Ehefrau. Der französische Text wurde dabei vom Dichter handschriftlich zwischen die Zeilen oder an den Rand einer 212 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="213"?> 424 Vgl. Badiou, Bildbiographie, S.-466. 425 »Ich hörte sagen« (GW I, 85, PC-GCL, I, 39-40), »Bretonischer Strand« (GW I, 99, PC-GCL, I, 62), »Inselhin« (GW-I, 141, PC-GCL, I, 61). 426 »Heute und morgen« (GW-I, 158, PC-GCL, I, 74). 427 »Mit uns« (GW-III, 151, PC-GCL, I, 430-431). 428 »Oder es kommt« (GW VII, 125, PC-GCl, I, 425). 429 »Lindenblättrige« (GW VII, 138, PC-GLC, I, 451). 430 »Im Zeithub« (GW VII, 290, PC-GCL, I, 662), »Kew Gardens« (GW VII, 291, PC-GCL, I, 667-668), »Welt« (GW VII, 292, PC-GCL, I, 671), 431 »Wanderstaude, du fängst dir« (GW III, 69, PC-GCL, I, 658), »Gehässige Monde« (GW III, 70, PC-GCL, I, 660), »Gold« (GW III, 71, PC-GCL, I, 669), »Von der sinkenden Walstirn« (GW III, 72, PC-GCL, I, 674), »Du liegst hinaus« (GW III, 73, PC-GCL, I, 675), »Es wird« (GW-III, 109, PC-GCL, I, 688). 432 »Bretonischer Strand« (GW-I,99, PC-GCL, I, 62). 433 »Auf der Klippe« (GW VII, 31, PC-GCl, I, 62-63), »Nicht immer« (NKG, 406, PC-GCl, I, 38-39). maschinenschriftlichen Abschrift seines Zyklus geschrieben (s. PC-GCL, II, Abb. 112 424 ). Jedoch ist diese Abschrift höchstwahrscheinlich erst im Herbst 1969, also nach der Veröffentlichung der bibliophilen Ausgabe von Schwarzmaut bei Brunidor im liechtensteinischen Vaduz (s. PC-GCL, II, 414), entstanden. Wie ein Brief vom Oktober 1967 nahelegt, wurden die Texte zunächst im Rahmen von ›Deutschstunden‹ mündlich übersetzt und dabei von seiner Frau notiert. So schreibt Celan im erwähnten Brief: »Je pourrais choisir un certain nombre de morceaux et te les déchiffrer à ma manière - oralement si possible.« (PC-GCL, I, 580). Das Übersetzen wird hier interessanterweise als Akt des (translingualen) ›Dechiffrierens‹ bezeichnet. Die auf die Gedichte bzw. die Selbstübersetzungen reagierenden Radierungen Gisèles entstanden dann ab April 1968. Neben dem kompletten Zyklus Schwarzmaut mit seinen 14 Gedichten sind fünf weitere Eigenübertragungen Celans von Gedichten aus dem autorisierten Œuvre überliefert: drei aus Von Schwelle zu Schwelle (1955), 425 eine aus Sprach‐ gitter (1959) 426 und eine aus dem Zyklus Eingedunkelt (1968).  427 Daneben sind Komplettübertragungen folgender 11 Nachlassgedichte erhalten: ein frühes Gedicht aus dem Zeitraum des Bandes Von Schwelle zu Schwelle, 428 ein Gedicht aus dem Jahr 1966, 429 drei verstreute Gedichte aus dem Jahr 1969, 430 sowie sechs Gedichte des Zyklus Zeitgehöft (ebenfalls aus dem Jahr 1969). 431 Des Weiteren liegen wie schon erwähnt ein Dutzend Vokabellisten vor, deren didaktischer Charakter durch die Präsenz von Angaben zu Deklination und Konjugation unterstrichen wird. Solche Listen, die mitunter Komplettübersetzungen der Gedichte begleiten, liegen bei folgenden Texten vor: ein Gedicht aus Von Schwelle zu Schwelle, 432 zwei Nachlassgedichte aus demselben Zeitraum, 433 ein 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 213 <?page no="214"?> 434 »Matière de Bretagne« (GW-I, 171, PC-GCL, I, 94). 435 »Dunstbänder-, Spruchbänder-Aufstand« (GW-II, 102, PC-GCL, I, 277-278), »Ruh aus in deinen Wunden« (GW-II, 103, PC-GCL, I, 291). 436 »Das Narbenwahre« (GW VII, 122, PC-GCL,I, 415-416); »Das Seil« (GW VII, 123, PC-GCL, I, 420-421), »Weihgüsse« (NKG, 467, PC-GCL, I, 442). 437 »Lila Luft« (GW-II, 335, PC-GCL, I, 604). 438 »Bedenkenlos« (GW III, 141, PC-GCL, I, 418), »Vom Hochseil« (GW-III, 144, PC-GCL, I, 423), »Einbruch« (GW-III, 150, PC-GCL, I, 410). 439 Siehe Gisèle Celan-Lestrange (1927-1991). Katalog der Werke/ Catalogue de l’œuvre. Hrsg. von Ute und Klaus Bruckinger, in Verbindung mit Éric Celan und Bertrand Badiou. Tübingen: Wasmuth, 2009. 440 Enb., S.-32. Gedicht aus Sprachgitter (1959), 434 zwei Gedichte aus Atemwende (1967), 435 drei Nachlassgedichte des Jahres 1966, 436 eines aus der posthum erschienenen Samm‐ lung Schneepart (1971), 437 sowie drei aus dem Zyklus Eingedunkelt (1968). 438 Die zweisprachigen Werktitel Gisèle Celan-Lestranges In den Bereich der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen dem Lyriker und der Graphikerin fallen ebenfalls die zweisprachigen Bildtitel, die Celan zwischen 1954 und 1968 den Gravuren seiner Frau Gisèle verliehen hat. Insofern alle zweisprachigen Werktitel Gisèle Celan-Lestranges dieser Periode von ihrem Ehegatten stammen, beläuft sich ihre Zahl auf rund einhundert. 439 Gisèles Werke vor und nach diesem Zeitraum sind entweder titellos oder rein französisch‐ sprachig. Auch wenn diese Form von Zweisprachigkeit kaum mit der eben erwähnten Komplettübersetzung eines Gedichtzyklus vergleichbar ist, stellt sie dennoch eine weitere, gleichsam minimale Form der Selbstübersetzung dar. Genauer gesagt handelt es sich dabei um einen Zwischenbereich zwischen Selbstübersetzung und zweisprachigem Schreiben, da Quell- und Zielsprache hier nicht per se definiert werden können. So kann nämlich vermutet werden, dass der kreative Impuls in vielen Fällen eher vom Französischen ausging. Wie Ute Bruckinger, die Mitherausgeberin des Werkkatalogs Giselè Celan-Lestranges, schreibt, kommen die von Paul Celan gewählten Bildtitel häufig einer »poetischen Findung« 440 gleich. Zwar gehören diese Schöpfungen nicht eigentlich zum literarischen Werk, sie sind jedoch höchst aufschlussreich, was die mehrsprachige Praxis des Dichters zwischen Alltag, Literatur und Kunst angeht. Im vorliegenden Fall scheint es dem in Paris lebendem Autor erneut darum zu gehen, eine Verbindung zwischen der Sprache seiner Dichtung und der Sprache seiner französischen Ehefrau und Familie herzustellen, wobei sich gleichzeitig ein intermediales Band zwischen Literatur und Bildender Kunst herausbildet. 214 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="215"?> 441 Ebd., S.-91. Siehe GW-I, 163. 442 Ebd., S. 93. Siehe Gespräch im Gebirg, GW III, 169-173, sowie »Engführung« (GW I, 195 ff., V. 92-94). 443 Ebd., S.-107. Siehe »Sprich auch Du«, GW-I, 135, V. 24. 444 Ebd., S.-112. Siehe den Band Atemwende und passim. 445 Ebd. S.-121. Siehe «Sackleinen-Gugel«, GW-II, 212, V. 4. 446 Ebd. S.-123. Siehe GW-I, 247. 447 Ebd. S.-136. Die Flut-Motivik durchzieht das Gesamtwerk Celans. Selbst wenn die zweisprachigen Titel der Gravuren ein ganz eigenes, paralleles Sprachuniversum darstellen, ergeben sich in einigen Fällen interes‐ sante Verbindungen zur Semantik von Celans Dichtung, wie insbesondere die Beispiele »Ténébres - Tenebrae«, 441 »Dialogue avec une pierre - Gespräch mit einem Stein«, 442 »Signes migrateurs - Wandernde Zeichen«, 443 »Souffle combatant - Kämpfender Atem« 444 , »Fibrilles - Fibrillen« 445 , »Dioïque - Zwei‐ häusig« 446 oder »Les flots se fermant - Zusammenschlagende Flut« 447 zeigen. Durch ihre Nähe zur Sprache der Gedichte lassen sich diese Titelkreationen durchaus im Umfeld der ›vierhändigen‹ Projekte des Ehepaars im engeren Sinn situieren, zu denen eben der Band Schwarzmaut zählt. Selbstübersetzung als Selbstdeutung Aufgrund des Abstands zwischen den Sprachen - Celan spricht in Bezug auf das Übersetzen, wie bereits erwähnt, sogar von sprachlichen »Abgründen« (Briefe, 419, 426) - ergeben sich beim Selbstübersetzen im Spiegel der literari‐ schen Zweitsprache mehr oder weniger feine Unterschiede, die im Zuge einer kontrastiven Untersuchung der deutsch-französischen Parallelversionen ans Licht treten. Diese Differenzen beruhen zum Teil auf den unterschiedlichen Sprachsystemen des Deutschen und des Französischen, weshalb sie in diesem Fall als obligat und unumgänglich aufzufassen sind. In anderen Fällen sind solche Differenzen allerdings auf individuelle Entscheidungen des Übersetzers zurückzuführen, wenn das Sprachsystem mehrere Varianten erlaubt hätte, wodurch die Wahl für die eine oder andere Lösung erst eigentlich hermeneu‐ tisch relevant wird. Einige ausgewählte Beispiele sollen diesen Aspekt des Selbstübersetzens bei Celan im Folgenden veranschaulichen. In seiner Eigenübersetzung des Gedichts »Abglanzbeladen« (GW II, 242) aus dem Zyklus Schwarzmaut markiert der Autor etwa den grammatikalisch obligaten Genus des französischen Partizip II (participe passé) in Form der doppelten Option ›männlich/ weiblich‹ (»La mort, / dont tu m’es resté(e) rede‐ vable«, PC-GCL, I, 621, V. 4-5). Durch diese Variante gewinnt die generelle Möglichkeit, dass es sich bei dem im Text angesprochenen Du um ein weibliches handeln könnte (und in diesem Kontext womöglich auf Celans Mutter verweist), 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 215 <?page no="216"?> 448 Paul Celan, L’Enclos du temps/ Zeitgehöft. Übers. v. Martine Broda. Paris: Clivages 1985, o. S. Vgl. dazu meinen Artikel: »La couleur u-topique du dernier Celan«. In: Michel Constantini/ Jacques Le Rider/ François Soulages (Hrsg.), La couleur réfléchie. Paris: L’Harmattan, 2000, S.-105-119, hier S.-114. 449 Die französische Übersetzerin Martin Broda hat das offenere Wort ›bâton‹ gewählt. Siehe Celan, L’Enclos du temps, o. S. in der französischen Version eine viel stärkere Präsenz. Die obligate Markierung des Genus stellt in diesem Fall gleichsam einen Mehrwert des Französischen dar, den der Dichter für seine Übertragung fruchtbar machen konnte. Wie man schon an diesem Beispiel erkennen kann, sind solche in der französischen Eigenüber‐ setzung als Differenzlektüre der Gedichte zutage kommenden Sinnaspekte zum Teil interpretatorisch höchst aufschlussreich. Im Nachlassgedicht »Gehässige Monde« (GW III, 70) aus dem Zyklus Zeit‐ gehöft wird so beispielsweise dank der überlieferten auktorialen Übersetzung deutlich, dass der im Text auftauchende Begriff ›Blaulicht‹ wortwörtlich als ›blaues Licht‹ (»lumière bleue«, PC-GCL, I, 661, V. 7) zu verstehen ist - und nicht nur im Sinne des Warnsignals von Einsatzfahrzeugen, wie es in der 1985 publizierten offiziellen französischen Übersetzung zu lesen ist. 448 Im Fall von »Wanderstaude« (GW III, 69), einem anderen der letzten Gedichte Celans, verdeutlicht wiederum die Eigenübersetzung von »Stab« (V. 7) durch »canne«, dass es sich nicht bloß um einen Stab im Sinne eines Wanderbzw. Pilgerstabes oder um den ›Stab Moses‹ handelt, sondern genauer gesagt um einen Blindenstab, zu dem der (nahezu) ›Geblendete‹ im Gedicht spricht. 449 Und bei der französischen Version des Gedichts »Lichtenbergs zwölf« (GW II, 91, V. 19) aus dem Band Atemwende suggeriert schließlich Celans Übersetzung des Wortes »rotverloren« durch »éperduement rouge« (PC-GCL, I, 240), dass das angesprochene ›Verlorene‹ nicht (nur) als Verlust, sondern daneben als seman‐ tische Intensivierung zu verstehen ist, im Sinne von ›sich im Rot verlieren‹. Andere Entscheidungen des Selbstübersetzers Celan können im Vergleich mit der Originalversion einigermaßen erstaunlich wirken, so wenn er beispielsweise im Gedicht »Muschelhaufen« (GW II, 235) aus dem Zyklus Schwarzmaut das Wort ›Lemming‹ mit »rat« (= Ratte) übersetzt (PC-GCL, I, 615 V. 9). Diese Wahl entspricht einer starken Umdeutung der deutschen Bezeichnung für das Nagetier, die im Französischen prinzipiell in (nahezu) identischer Form existiert (un lemming). Die Konnotationen der beiden Tiernamen Lemming kontra Ratte sind derart divergent, dass sich die kontrastive Interpretation hier vor eine große Herausforderung gestellt sieht. Ein Versehen aufseiten des selbstübersetzenden Autors ist in diesem Fall nicht auszuschließen, wenn auch der allzu große Abstand zum deutschen Ausdruck dieser Wortwahl einen 216 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="217"?> besonderen Status verleiht. Denn die Annahme, einem so herausragenden und erfahrenen Übersetzer wie Celan sei dieser Unterschied entgangen, erscheint nicht wirklich plausibel. Eine einwandfreie Deutung dieser speziellen Wortwahl in Celans Eigenübersetzung dieses Gedichts scheint daher auf dem derzeitigen Kenntnisstand nicht möglich. 4.2.4 Von der Paraphrase zur Nachdichtung Paul Celans Praxis der Eigenübersetzung ins Französische, sei es in Gestalt vollständiger Gedichte oder in Form von zweisprachigen Wortlisten, lässt eine klare Tendenz zum erklärenden Paraphrasieren erkennen, was sich weitgehend durch ihre Rolle bei der sprachlichen Vermittlungsarbeit gegenüber seiner Ehefrau erklären lässt. Im Extremfall kommentiert der Dichter dabei seine deutschen Texte auf Französisch, wie das etwa beim Gedicht »Ruh aus in deinen Wunden« (GW II, 103) zu beobachten ist, wenn Celan im Rahmen einer zweisprachigen Wortliste seiner Frau erläutert, dass der Ausdruck »das Runde« (V. 3) im Text auf eine Träne verweist: »c’est la larme (dont parle le poème)« (PC-GCL, I, 291). Parallel dazu versucht der Dichter aber immer wieder, die sprachlichen und poetischen Möglichkeiten seiner Zweitsprache voll auszuschöpfen. So machen einige seiner französischen Fassungen bemerkens‐ werte kreativ-literarische Qualitäten sichtbar, die sich deutlich von einem rein explikativ-paraphrasierenden Prozedere abheben. Sprachliche Kreativität im Medium des Französischen Anhand ausgewählter Beispiele sollen im Folgenden die eminent literarischen Qualitäten einiger der Eigenübersetzungen Celans veranschaulicht werden. In der oben zitierten französischen Version von »Wir lagen« (GW II, 239, PC-GCL, I, 619) benutzt Celan beispielsweise neben der bereits kommentierten, antiquierten Verbform »nous gésîmes« (V. 1) das extrem seltene, archaische Verb ›ténébrer‹ für »hinüberdunkeln« (V. 5). Auf diese Weise enthält der französische Text einen hoch elaborierten, poetischen Wortschatz. Dank der Wahl dieses aus dem Mittelfranzösischen stammenden Worts wird über die Vorstellung der Abwesenheit von Licht hinaus ein Bezug zur Finsternis im sakralen Sinne her‐ gestellt. Auch wenn das Dunkel im Gedicht - durch seinen impliziten Gegensatz zum »Lichtzwang« (V. 7) - durchaus positive Konnotationen besitzt, scheint Celans Eigenübersetzung die mit der Finsternis assoziierten Charakteristika Nichts, Tod und Gottferne zu favorisieren. Zudem wird über die lateinische Wurzel von ›ténébrer‹ eine direkte Verbindung zum früheren Gedicht »Tene‐ 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 217 <?page no="218"?> 450 Der mehrsprachige Ansatz, der darin bestünde, hier eine grammatikalische Transferenz aus dem Deutschen zu sehen, kann nicht greifen. Denn Celans lexikalische Auswahl gehorcht nicht grammatikalischen Kriterien, insofern er nur einige der Substantive durch Großschreibung heraushebt. Im literarischen Französisch vom Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts war dieses Stilmerkmal nicht selten anzutreffen, vor allem in der Traditionslinie des Symbolismus. brae« (GW I, 163) geschaffen, in dem das Motiv der Gottferne ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Neben dem Rückgriff auf antiquierte Formen sowie der häufig anzutreffenden Großschreibung von Nomen, wodurch diese im Französischen einen den Ei‐ gennamen vergleichbaren und damit herausgehobenen Status erhalten, 450 wird Celan in seinen Selbstübersetzungen auch immer wieder sprachschöpferisch tätig. Manche dieser Neuschöpfungen bleiben freilich auf der Ebene gleichsam tastender sprachlicher Annäherungen stehen. Dies wird vor allen Dingen durch den Gebrauch von Anführungszeichen indiziert, so wie im Fall von »envautouré« (PC-GCL, I, 61, V. 3) für »umgeiert«, das er in einer frühen Eigenübersetzung des Gedichts »Inselhin« (GW I, 141) benutzt. Obwohl der Lyriker hier im Französischen eine dem Deutschen formal vergleichbare Wort‐ schöpfung verwendet, ist der literarische Gestus insofern nicht derselbe, als die Verwendung von Anführungszeichen einen sprachlichen Vorbehalt ausdrückt. Während Celan im Deutschen mit einer fast grenzenlos scheinenden Freiheit agiert, stößt er in seiner Zweitsprachen an dieser Stelle auf formale Grenzen. Der besondere Status des Deutschen als Wortbildungssprache verankert diesen grundsätzlichen Unterschied im Sprachsystem. Denn wie jeder Über‐ setzer aus dem Deutschen weiß, ist dieser charakteristische Zug in anderen Sprachen oft kaum nachzubilden, was insbesondere für das Französische gilt. Neologismen wie »envautouré« wirken in der Zielsprache zwangsläufig ›fremder‹ als im Deutschen, insofern das Französische aufgrund seiner mor‐ phologischen Regeln dem Sprecher in diesem Bereich grundsätzlich weniger sprachliche Möglichkeiten bietet. Die von Celan vorgelegte französische Ver‐ sion von »Inselhin« enthält zwar zweifelsohne einige durchaus als gelungen anzusehende Sprachschöpfungen, allerdings zeigt die Verwendung von Anfüh‐ rungszeichen, welche in vielen seiner Eigenübersetzungen anzutreffen sind (vgl. beispielsweise »circonclouté« für »umnagelt« im Nachlassgedicht »Welt«, GW VII, 292, PC-GCL, I, 67, V. 4), dass er sie nicht als wirkliche Nachdichtungen angesehen hat. Es wäre daher zutreffender, bei solchen französischen Fassungen von einem ›sekundären‹, ja unfertigen Text zu sprechen. Dennoch bieten selbst solche ›unsichere‹ Neuschöpfungen aus der Feder Celans dem Interpreten oft wertvolle Hinweise für das Verständnis der Gedichte. 218 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="219"?> 451 »Oder es kommt / der türkischen Flieder gegangen / und erfragt sich / mehr als nur Duft«, GW VII, 125. Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Autor für »durchblubbert« (»Ruh aus in deinen Wunden«, GW II, 103, V. 2) den französischen Neologismus »trans‐ glouglouté« (PC-GCL, I, 291) wählt - erneut in Anführungszeichen gesetzt. Im Unterschied zu einer überlieferten Lektürenotiz aus dem Umfeld der Text‐ genese, wo Celan für das aus dem Niederdeutschen stammende Verb ›blubbern‹ sowohl die Bedeutung ›gluckern‹ als auch ›rasch und undeutlich sprechen‹ notiert (s. NKG, 895), stellt das von ihm gewählte französische Äquivalent auf onomatopoetischer Ebene einen direkteren Bezug zur ersten Wortbedeutung (gluckern/ glouglouter) her. Als Übersetzung besitzt »transglouglouté« folglich sowohl eine kreative als auch explikative Dimension. Anhand solcher zweispra‐ chiger Materialien kann also beobachtet werden, wie sich der kommentierende und der nachdichtende Impetus - also Paraphrase und Sprachschöpfung - in Celans Eigenübersetzungen zuweilen gleichsam direkt gegenüberstehen. »Oder es kommt« Zuletzt scheint der Lyriker seine französischen Fassungen in einigen Fällen offensichtlich als poetische Zweitschrift oder gar Nachdichtung angesehen zu haben. So bezeichnet er etwa seine Eigenübersetzung des Nachlassgedichts »Oder es kommt« (GW VII, 125) in einem Brief an seine Frau Gisèle vom 8. April 1966 als eine »variante française« (PC-GCL, I, 425), also als eine Art ›Zweitfassung‹ des Gedichts. Die Qualität der französischen Übersetzung dieses ursprünglich als letzte Versgruppe von »Das Narbenwahre« (GW VII, 122) konzipierten Textes ist in der Tat sprachlich-poetisch sehr überzeugend. Celan hat diesen Text in zwei Versionen mit Übersetzungsvarianten an seine Frau geschickt, wobei es sich bei der zweiten augenscheinlich um eine verbesserte Überarbeitung handelt: Ou bien s’en vient le lilas à la turque ses questions, à la ronde, glanent plus que du seul parfum (PC-GCL, I, 425) 451 Die vorliegende französische Version des Gedichts erscheint im Ganzen weit weniger wortwörtlich zu verfahren als andere aus den ›Deutschstunden‹ mit seiner Frau hervorgegangene Eigenübersetzungen. Wie der Übergang von der Vorstufe zur letzten überlieferten Fassung zeigt, scheint der Dichter hier weit mehr auf die poetischen Qualitäten der Zielsprache hin zu übersetzen 4.2 Selbstübersetzung ins Französische 219 <?page no="220"?> 452 Zur Bezeichnung allgemein siehe Anthony Cordingley/ Céline Frigau Manning. »What Is Collaborative Translation? «. In: Dies. (Hrsg.), Collaborative Translation: From the Renaissance to the Digital Age. London: Bloomsbury Academic, 2017, S.-1-30. als im Dienste einer zweisprachigen Texterläuterung der Quelle, weshalb er sich wesentlich mehr Freiheiten gegenüber dem Original herausnimmt. So transponiert die korrigierte Fassung beispielsweise die ursprünglich gewählte, partizipiale Verbform (»questionnant«) in ein sprachlich eleganteres Nomen (»ses questions«, V. 3). Daneben führt die Zweitfassung mit »à la ronde« (= ›in der Runde‹, ›rundherum‹, V. 3) eine passende metaphorische Entsprechung zur Vorsilbe ›er-‹ aus dem deutschen Verbum ›erfragen‹ ein. Durch die Wahl von ›glaner‹ (= ›[auf]sammeln‹ oder ›[nach]lesen‹, im Sinne von ›[nachträglich] ernten‹, V. 4) erhält das ›Erfragen‹ dabei neben dem räumlichen einen zweiten, kumulativen Aspekt, sodass es über das Französische als ›sammelndes Fragen rundherum‹ lesbar wird. Diese verbessernden Abänderungen, wie sie aus der zweiten Fassung von Celans Übertragung ersichtlich werden, zeugen allesamt von einer profunden Kenntnis und perfekten Beherrschung der Funktionsweise der französischen Literatursprache durch den Dichter. Auch den Zusatz ›seul‹ in der Wendung »plus que du seul parfum« (V. 4) kann man im Vergleich zur Vorstufe als Angleichung an die stilistischen Normen der Zielsprache, ja als Poetisierung werten. In der Neufassung der letzten beiden Verse passt sich der Text also stark den poetischen Mitteln der französischen Dichtungssprache an und kommt dadurch einer exophonen Nachdichtung gleich. Die kurz vor seinem Freitod entstandene und bereits zitierte französische Version von »Es wird etwas sein« (GW III, 109, PC-GCL, I, 688) bestätigt tendenziell diese Entwicklung der Selbstübersetzungen von der Paraphrase zur Nachdichtung, wie sie im Spätwerk Celans zu erkennen ist. 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung Eine Art Zwischenstufe zwischen Fremd- und Eigenübersetzung stellt die kollaborative Übersetzung dar, welche nach dem hier zugrunde liegenden Ver‐ ständnis immer dann vorliegt, wenn der Autor neben dem offiziellen Übersetzer an den fremdsprachigen Versionen seiner eigenen Texte mitgearbeitet hat. 452 Bei dieser Kategorie besteht das Korpus zum einen aus einem sehr frühen Text, der Erstübersetzung (und Erstveröffentlichung) des Gedichts »Todesfuge« (GW I, 41 f.) - resp. »Todestango«, wie sein früherer Titel lautet - in rumänischer Sprache. Zum anderen liegen französische Übertragungen aus der Pariser 220 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="221"?> Zeit vor, bei denen sich durchgängig ein starker Einfluss des Autors auf den publizierten Text verifizieren lässt. Diesbezüglich kann angemerkt werden, dass Celan seinen Verlegern gegenüber stets kategorisch darauf bestanden hat, dass alle Übersetzungen einer ausdrücklichen Zustimmung seinerseits bedürften und ihm vorab vorgelegt werden müssten, wodurch nicht zuletzt die Möglichkeit einer direkten Einflussnahme des Autors auf die publizierte Endfassung bestand. Gegenüber der Gattung der Selbstübersetzung verliert diese spezifische Ausprägung mehrsprachigen Schreibens erheblich an auktorialem Gewicht, denn der Urheber des Originals zeichnet im vorliegenden Fall nicht mehr allein für das Resultat verantwortlich. Kann sein Einfluss auch erheblich sein, so bleibt seine Mitarbeit an der Übersetzung inoffiziell, ja verborgen. Die Hauptarbeit - in Form der Erstfassung der fremdsprachigen Versionen - wird vom vertraglich festgelegten Übersetzer geleistet. Doch handelt es sich im Unterschied zu den zuvor analysierten Selbstübersetzungen durchweg um veröffentlichte Texte, die meist schon zu Lebzeiten des Autors von einer breiten Leserschaft rezipiert wurden, was ihnen eine ganz andere Sichtbarkeit und Wirkung verleiht als jenen Nachlassdokumenten privater Art. Der Nachteil einer zwischen Autor und (Fremd-)Übersetzer geteilten Auktorialität wird gleichsam durch den höheren Wirkungsgrad der Texte wettgemacht. Selbst wenn der Autor in diesem Fall gleichsam hinter dem offiziellen Über‐ setzer verborgen bleibt und sich sein Einfluss auf die publizierte Textfassung selbst anhand der überlieferten Materialien nicht immer im Detail rekonstru‐ ieren lässt, kann durch textgenetische Nachforschungen nachgewiesen werden, dass sein Anteil am publizierten Text zum Teil erheblich ist. Dieser Umstand brachte fast zwangsläufig Spannungen zwischen Übersetzer und Autor sowie komplizierte Aushandlungsprozesse mit sich, insbesondere dann, wenn die Korrekturen weit über das in der Branche übliche Maß hinaus gingen. Abge‐ sehen von dieser Problematik können wie im Fall der Selbstübersetzung durch eine textgenetische Rekonstruktion der Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzer aufschlussreiche Erkenntnisse für die Deutung der Texte gewonnen werden. Die Implikation des Autors in den Übersetzungsprozess seiner eigenen Werke überschneidet sich somit nicht nur mit dem Bereich der originalen Text‐ produktion in anderen Sprachen, sondern besitzt ebenfalls eine hermeneutische, ja auto-interpretative Dimension. 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 221 <?page no="222"?> 453 Lermontov, Un erou al timpului nostru. 454 »Tangoul morții, de Paul Celan«. Übersetzt aus dem Deutschen von Petre Solomon. Contemporanul. Săptămânal politic-social-cultural, 2. Mai 1947 (Nr.-32). 455 Siehe Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-60. 4.3.1 »Todesfuge« auf Rumänisch Zurück zum »Todestango« Die ersten Publikationen des als Paul Pessach Antschel in der Bukowina geborenen Dichters und Übersetzers Paul Celan sind in rumänischer Sprache. So lautet eine grundsätzliche und für das Bild des deutsch-jüdischen Dichters als mehrsprachiger Autor nicht unerhebliche Feststellung. Das gilt für die oben erwähnte Lermontov-Übersetzung, die im August 1946 beim Bukarester Verlag Cartea rusă herauskam und vom Übersetzer mit der rumänisierten Form seines Namens als Paul Ancel gezeichnet wurde. 453 Dies gilt aber ebenso für einen seiner ersten eigenen Texte von Format, ja für sein berühmtestes Gedicht überhaupt, »Todesfuge«. Denn unter dem Titel »Tangoul morții« erschien dieser Text erstmals im Mai 1947 auf Rumänisch in der Bukarester Wochenzeitung Contemporanul, 454 d. h. mehr als fünf Jahre vor seiner deutschen Erstveröffentlichung - schließt man den vom Autor nach Erscheinen 1948 sofort zurückgezogenen Gedichtband Der Sand aus den Urnen aus. Die 1881 gegründete politische, gesellschaftliche und kulturelle Wochen‐ schrift Contemporanul war ein hoch angesehenes und einflussreiches Publika‐ tionsorgan im Rumänien der 1940er-Jahre. Das Erscheinen von Celans Gedicht blieb daher im damaligen Bukarester Literaturmilieu nicht unbeachtet, wie Solomon zu berichten weiß. 455 Der Anfang dieses ›Jahrhundertgedichts‹ in seiner rumänischsprachigen Erstpublikation lautete wie folgt: - Laptele negru din zori îl bem când e seară - îl bem la amiaz’ îl bem și la noapte - îl bem și îl bem - săpăm o groapă-n văzduh și nu va fi strâmtă 5 Un om stă în casă se joacă cu șerpii și scrie - el scrie-n amurg în Germania, Aurul părului tău Margareta - […] - - [Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends - wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts - wir trinken und trinken - wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng 222 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="223"?> 456 Siehe Thomas Sparr, Todesfuge - Biographie eines Gedichts. Stuttgart: DVA, 2020. 457 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S. 55f. Siehe auch Ders., »Paul Celans Bukarester Aufenthalt«, S.-56. 458 Solomon, »Briefwechsel mit Paul Celan 1957-1962«. Neue Literatur, 32: 11, 1981, S. 60- 80. 459 Siehe Corbea-Hoisie, »Trei poeme de Paul Celan«, S.-419. 5 Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der - schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete] Der so charakteristische Rhythmus und Duktus der deutschen Originalfassung lässt sich freilich nicht ohne Weiteres in einer romanischen Sprache wie dem Rumänischen nachbilden. Aus diesem und anderen, weiter unten erwähnten Gründen soll an dieser Stelle von einem Vergleich zwischen Original und Übersetzung abgesehen werden. Dennoch stellt dieses rumänische Fassung nach allgemeiner Ansicht eine durchaus gelungene (erste) Übertragung von Celans berühmtem Gedicht dar. Bezeichnenderweise handelt es sich bei »Tangoul morții« um den ersten Text überhaupt, der mit dem Künstlernamen Paul Celan gezeichnet wurde. Anders gesagt beginnt also die Karriere des deutsch-jüdischen Dichters mit dem »Todestango« und auf Rumänisch. Unter nationalphilologischer Perspektive handelt es sich um einen höchst kuriosen Vorgang: Jahre bevor die deutschen Leser das Gedicht rezipieren konnten, erschien »Todesfuge« - ein Text, dessen Bedeutung für die deutsche Identität ›nach Auschwitz‹ wohl von keinem anderen übertroffen wird 456 - in rumänischer Sprache und in einer Übersetzung, als deren Ko-Autor zudem der Dichter selbst fungiert. Denn laut Aussage des mit Celan befreundeten Übersetzers Petre Solomon entstand die rumänische Version in enger Zusammenarbeit mit dem Dichter, zumal der offizielle Übersetzer des Deutschen nicht wirklich mächtig war und daher zwangsläufig auf die Hilfe des Autors angewiesen war. 457 Verkehrssprache der beiden Freunde war stets das Rumänische, später, als Celan in Paris lebte, auch das Französische, wie ihre Korrespondenz belegt. 458 Die Tatsache, dass Solomon sich 1973 durch eine abweichende Neuübersetzung von dieser ersten rumänischen Version abgesetzt hat, deutet laut Corbea-Hoisie ebenfalls auf den semiauktorialen Charakter der Fassung von 1947 hin. 459 Wie im Fall der bereits angesprochenen rumänischen Versionen von drei weiteren Celan-Gedichten, deren Urheberschaft nicht gesichert ist, sind keine textgenetischen Materialien zur Entstehung der rumänischen Erstveröffentli‐ chung von »Todesfuge« erhalten bzw. auffindbar. Deshalb lässt sich die konkrete 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 223 <?page no="224"?> 460 Siehe Weissmann, Une histoire de la réception de Paul Celan en France, S.-587ff. 461 Siehe auch John Felstiner. »Paul Celan. The Strain of Jewishness«. Commentary, April 1985, S.-44-53. Vgl. auch die Abbildung in Badiou, Bildbiographie, S.-48. Mitarbeit des Autors am rumänischen Text nicht im Einzelnen rekonstruieren. Nun handelt es sich bei »Todesfuge« nicht um eines der Gedichte Celans, bei denen eine Differenzlektüre durch den Vergleich verschiedener Sprach‐ fassungen einen großen hermeneutischen Gewinn zu erbringen verspricht. Wie beispielhaft an der französischen Rezeptionsgeschichte gezeigt werden kann, 460 haben sich an diesem Gedicht und seinen Übersetzungen keine großen interpretatorischen Debatten entfacht. Im Gegensatz zu den weiter oben ana‐ lysierten Eigenübersetzungen von anderen, komplexeren Gedichten ist der Deutungsspielraum hier um vieles enger. Daher wäre eine detaillierte Analyse der (semiauktorialen) rumänischen Version abgesehen vom abweichenden Titel wie gesagt nicht sehr aufschlussreich. Zudem entspricht selbst der alternative, rumänische Titel »Tangoul morții« in Wirklichkeit einer Vorstufe der deutschen Endfassung (s. TA, MG, 55). Der frühere Titel »Todestango« geht direkt auf eine der historischen Quellen des Texts zurück (s. NKG, 688 f.), 461 worauf Solomon im Übrigen schon in seinem kurzen Begleittext in Contemporanul hingewiesen hatte. Zwar spiegelt der Unterschied »Todestango« versus »Todesfuge« in gewisser Weise den Übergang von der Romania in die Germania wider, da die Fuge seit Bach als eine sehr deutsche Musikform gilt, wohingegen die Musik und der Tanz des Tangos die südländische Tradition repräsentieren. Doch steht die nach der rumänischen Erstveröffentlichung erfolgte Titeländerung wohl nicht direkt mit der kollabo‐ rativen Übersetzungsarbeit in Zusammenhang, sondern ist zuvorderst in der deutschen Textgenese verankert. Letztlich ist das Gedicht »Tangoul morții« im Zusammenhang der vorlie‐ genden Studie hauptsächlich deshalb von Bedeutung, da es wie kein anderer Text die schon im Frühwerk existierende enge Verbindung zwischen Übersetzen und Schreiben sowie zwischen der deutschen Muttersprachen und den anderen aktiven Literatursprachen des Dichters veranschaulicht. Als in Celans literari‐ scher Zweit- und damaliger Alltagssprache verfasster und von ihm autorisierter Text stellt die Publikation von »Tangoul morții« außerdem ein Bindeglied zwi‐ schen den Übersetzungen ins Rumänische und den weiter unten vorgestellten rumänischen Originaltexten dar (s.-4.4.1). 224 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="225"?> 462 Siehe Weissmann, »Frankreich«. In: May/ Goßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Handbuch, S.-375-380. 463 Siehe Weissmann, Une histoire de la réception française de Paul Celan, S. 131ff. Siehe auch Andrei Corbea-Hoisie, »Warten auf den ›Zuspruch der Sprache‹. Bemerkungen zu den Desiderata, Celan zu übersetzen«. In: Frank Almai/ Ulrich Fröschle (Hrsg.), Literatur im Kontext. Kunst und Medien, Religion und Politik. Festschrift für Walter Schmitz. Dresden: Thelem, 2014, S.-503-516. 464 Celan, »Poèmes«. Übersetzt von Jean-Pierre Wilhelm. Cahiers du Sud, 42: 334, April 1956, S. 403-407. Enthält: »Soir des paroles/ Abend der Worte« (GW I, 117), »Mémoire/ Andenken« (GW I, 121), »Retroussées et de nuit/ Nächtlich geschürzt« (GW-I,125), »Argumentum e silentio« (GW-I, 138). 4.3.2 Revidierende Rückaneignung französischer Übersetzungen Die extraterritoriale Präsenz eines deutschen Schriftstellers am Ort seiner ›ausländischen‹ Rezeption macht es diesem prinzipiell möglich, in direkter Weise Einfluss auf die Rezeption seines Œuvres in dem entsprechenden Land zu nehmen, zumal wenn er dessen Sprache perfekt beherrscht. Im Fall von Paul Celan wurde der Autor im Anschluss an die Zusammenarbeit mit seinem rumänischen Übersetzer nach seiner Übersiedelung nach Frankreich erneut in die Lage versetzt, an der Übersetzung seiner eigenen Gedichte mitzuwirken. 462 Und zwar in viel größerem Maße als im eben dargestellten Einzelfall von »To‐ desfuge/ Tangoul morții«, schon allein wegen der ungleich längeren Zeitspanne von rund zwei Jahrzehnten, die er in Paris verbracht hat. Zwar wollte der Lyriker - im Einklang mit seiner offiziellen Opposition gegen Zweisprachigkeit in der Dichtung - unter keinen Umständen als Übersetzer seiner eigenen Texte in Erscheinung treten, dennoch hat er nachweislich über Jahre hinweg den Großteil der ihm vorgelegten französischen Versionen durchgesehen, revidiert und teilweise so massiv korrigiert, dass es in einigen Fällen sinnvoller ist, von einer inoffiziellen Selbstübersetzung zu sprechen. 463 Dieses eigenwillige Verfahren muss mit dem durch die Goll-Affäre entstandenen Wunsch nach vollständiger Kontrolle über die Veröffentlichung seiner Texte in Verbindung gebracht werden. Sein Verhalten zeugt in diesem Zusammenhang von einem latenten Willen zur ›Wiederaneignung‹ seiner von fremder Hand ins Französi‐ sche transponierten Texte. Die übersetzerische Zusammenarbeit mit Jean-Pierre Wilhelm Ein erstes Beispiel für diese besondere Ausprägung des kollaborativen (Selbst-)Übersetzens bei Celan liefern die 1956 in den Cahiers du Sud veröf‐ fentlichten Gedichte, bei denen Jean-Pierre Wilhelm (1912-1968) als offizieller (und alleiniger) Übersetzer aufgeführt wurde. 464 Der in Düsseldorf geborene 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 225 <?page no="226"?> 465 Siehe Christoph Graf von Schwerin, Als sei nichts gewesen. Erinnerungen. Berlin: Edition Ost, 1997, S.-156-157. polyglotte Übersetzer, der sowohl Werke aus dem Französischen ins Deutsche als auch aus dem Deutschen und Spanischen ins Französische übersetzt hat, war vor dem Krieg zum Studium nach Paris gekommen und arbeitete dort haupt‐ sächlich als Verlagslektor für Spanisch. 465 Wie Celan war Wilhelm daneben einer der ersten deutschen Übersetzer von René Char (1907-1988), über den sie auch miteinander in Kontakt gekommen waren. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass der berühmte französische Lyriker und Widerstandskämpfer Char die Gedichtpublikation in den Cahiers du Sud mit initiiert hat. Die vier in der damals hoch renommierten Literaturzeitschrift publizierten Gedichte aus dem 1955 bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienenen Band Von Schwelle zu Schwelle stellen eines der ersten bedeutenden Dokumente der französischen Celan-Rezeption dar. Wie die überlieferten Textzeugen und der Briefwechsel erkennen lassen, sind die publizierten Texte das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen Wilhelm und Celan, die allerdings nur in Teilen schriftlich dokumentiert wurde. Der direkte, mündliche Austausch zwi‐ schen Autor und Übersetzer vor Ort in Paris hat zweifellos eine tragende Rolle im Entstehungsprozess dieser Texte gespielt. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die erhaltenen Materialien nur einen Teil der verschiedenen Phasen der Entstehung der Übersetzungen abdecken, in die der Autor, soviel scheint festzustehen, von Anfang an involviert war. Trotz dieser lückenhaften Überlieferung erlauben schon einzelne der erhal‐ tenen Manuskripte wie die Vorstufe zur Übersetzung von »Nächtlich geschürzt« (GW I, 125) sich einen anschaulichen Eindruck davon zu machen, wie stark der Einfluss des Autors auf das publizierte Endergebnis war. So ist das überlieferte maschinenschriftliche Blatt mit der Erstfassung der Übersetzung (s. Abb. 5) regelrecht übersät von Korrekturen von der Hand Celans. Kaum ein Vers der französischen Version bleibt dort unverändert, teilweise wird der Text am Blattrand vom Autor komplett neu übersetzt. Die Anzahl und Tragweite der vom Autor an Wilhelms Übersetzung vorgenommenen Korrekturen ist schlechthin so groß, dass man nicht nur von einer Zusammenarbeit, sondern von einer Form (kollaborativer) Selbstübersetzung sprechen muss. 226 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="227"?> Abb. 5: Vorstufe der Übersetzung von »Nächtlich geschürzt« durch Jean-Pierre Wilhelm aus dem Jahr 1956, mit handschriftlichen Korrekturen von der Hand Paul Celans. DLA D.90.1.2550/ 1. 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 227 <?page no="228"?> 466 Siehe Jean-Pierre Wilhelm, Brief an Celan, 2. Dezember 1952, DLA D.90.1.2550. 467 Wie etwa das Insistieren auf der ›widerständigen‹ Bedeutung des Verbs ›stehen‹ in Vers 13, das der Dichter mit ›se tenir‹ anstatt mit ›être là‹ wiedergeben wollte. Die tatsächliche Praxis des Dichters steht demzufolge in krassem Gegensatz zu seinem erklärten Willen, niemals als Übersetzer ins Französische aufzutreten. Dadurch, dass er bei diesem Projekt tendenziell den Platz seines Übersetzers einnimmt, wird letzterer aus der ihm prinzipiell zugesprochenen Funktion verdrängt und muss sich letztlich damit begnügen, seinen Namen unter einen zu guten Teilen vom Autor selbst angefertigten Zieltext zu setzen. Aus den Briefen Wilhelms an Celan lässt sich stellenweise ein gewisser Missmut ablesen, der womöglich auf diesen Umstand zurückzuführen ist. 466 So darf vermutet werden, dass sich der Übersetzer vom Autor als ›Strohmann‹ instrumentalisiert fühlte. Bezeichnenderweise hat Jean-Pierre Wilhelm in der Folge keine weiteren Übersetzungsaufträge von Gedichten Celans übernommen. Über die juridisch-moralische Frage der Rechtfertigung und Legitimität dieser auktorialen Interventionen hinaus soll es im vorliegenden Untersuchungs‐ rahmen primär darum gehen, deren Tragweite und Bedeutung zu ermessen. Dabei fällt zunächst auf, dass der Autor sich keineswegs damit begnügt, be‐ stimmte, seiner Meinung nach problematische Stellen in der ihm vorgelegten Fassung zu unterstreichen, um den Übersetzer anschließend darum zu bitten, nach alternativen Lösungen zu suchen. Abgesehen von einigen leicht nachvoll‐ ziehbaren Detailverbesserungen, die die Präzision des Zieltextes erhöhen, wobei sie diesen mit der Poetik Celans in Einklang bringen, 467 frappiert die hohe Zahl der auktorialen Vorschläge, die im Grunde nicht mehr in den Rahmen einer einfachen Korrekturarbeit gehören, sondern eher einer Neuschöpfung des Textes in französischer Sprache nahekommen. So weicht etwa die von Celan am rechten Rand des Blattes notierte franzö‐ sische Entsprechung des Titels erheblich vom Originalwortlaut des Gedichts ab. Im deutschen Text stehen nämlich die beiden Adjektive ›nächtlich‹ und ›geschürzt‹ eindeutig in einem hypotaktischen Verhältnis zueinander, was vom Übersetzer korrekt als »retroussées pour la nuit« widergegeben wurde. Der vom Autor korrigierte Titel stellt im Gegensatz dazu eine parataktische Relation her: die »Lippen der Blumen« sind dort plötzlich »nächtlich und geschürzt« (»retroussées et de nuit«). Die beiden Adjektive befinden sich auf einmal im Französischen syntaktisch auf gleicher Ebene. Eine normative Übersetzungs‐ kritik würde an dieser Stelle sicherlich von einem eklatanten Fehler sprechen. Die ursprüngliche Lösung Wilhelms ist also im Grunde sprachlich gesehen korrekter als die vom Autor vorgeschlagene und schließlich veröffentlichte Fassung. 228 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="229"?> Viele weitere, vom offiziellen Übersetzer in die Endfassung übernommene Änderungen Celans bestätigen das Ausmaß der auktorialen Eingriffe. Wie in seinen Eigenübersetzungen schreibt der Dichter dabei unter anderem zahlreiche französische Substantive - in gleichsam symbolistischer Manier - groß, was zu einer internen Hierarchisierung der Nomen führt, die so in der Originalversion nicht existiert. Das wird unter anderem in der Übersetzung der Verse 16 bis 17 (»bereift / von Nahem und Fernem«) deutlich: »givrés / d’Immédiat, givrés / de Lointain«. Daneben ist zu beobachten, dass Celans Korrekturen die Anzahl der Zeilenumbrüche in der Endfassung erhöhen, was zu einer veränderten graphischen Disposition des Gedichts im französischen Zieltext führt. Im Fall von Vers 18 des Gedichts (»Sie tragen die Schuld ab, die ihren Ursprung beseelte«) geht Celan in seinen Korrekturen so weit, die von Wilhelm vorge‐ schlagene und philologisch korrekte Übersetzung durch »Ils acquittent la faute qui anima leur origine…« in eine Art Paraphrase umzuwandeln. Gleichzeitig frappiert diese auktoriale Neufassung durch ihre ausgesprochen poetischen Qualitäten: »Les voici, porteurs de la faute / qui anima leur départ; / ils s’en acquittent / en faveur d’un mot.« Anhand der Vielfalt der vom Dichter in seiner eigenen Version verwendeten Stilmittel wie Assonanz und Alliteration wird an diesem Beispiel erneut die bereits beobachtete Tendenz zur nachdichtenden Selbstübersetzung sichtbar. Alles in allem beschränkt sich der Autor also mitnichten auf Korrekturen im eigentlichen Sinne, sondern bringt Aspekte in den Text hinein, die selbst die treueste und beste Übersetzung kaum hätte erzeugen können. Ohne als Übersetzer öffentlich in Erscheinung zu treten, hat der Dichter damit seinen Text zu guten Teilen auf Französisch neu erschaffen. Neben der Tendenz zur Nachdichtung, die man bei Celans Eingriffen beobachten kann, ist es haupt‐ sächlich der emphatische Wille zum direkten sprachlichen Intervenieren im Französischen, der hervorgehoben werden muss. Viele Korrekturen sind nicht auf eigentliche Übersetzungsprobleme zurückzuführen, sondern scheinen von einer gewissen Unfähigkeit des Autors zu zeugen, seinen Text fremden Händen zu überlassen. Aus diesem Grund kann von einer revidierenden Rückaneignung der französischen Fremdübersetzungen gesprochen werden. Ähnliche Feststel‐ lungen lassen sich an den Manuskripten der übrigen in den Cahiers du Sud veröffentlichten Übertragungen machen, auf die an dieser Stelle jedoch nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Celans Interventionen in den Übersetzungen von Denise Naville Eine vergleichbare kontrollierend-zensierende Haltung gegenüber den fran‐ zösischen Übersetzungen seiner Werke wird bei der Zusammenarbeit Paul 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 229 <?page no="230"?> 468 Celan, »Mohn und Gedächtnis«/ »Pavot et mémoire«, übersetzt von Denise Naville. Les Lettres Nouvelles, Dezember 1965-Januar 1966, S. 190-199. Enthält: »Lob der Ferne/ Éloge du lointain« (GW I, 33), »Spät und tief/ Tard, profondément« (GW I, 35), »Corona« (GW I, 37), »Vom Blau/ Du bleu…« (GW I, 48), »Wer wie du/ Quiconque comme toi…« (GW-I, 49); »So schlafe…/ Dors donc…« (GW-I, 58). 469 Geneviève Serreau (Lettres Nouvelles), Brief an Celan, 26. März 1965, DLA D.90.1.2346. 470 Celan, Brief an Geneviève Serreau, 29. März 1965 (Kopie), DLA D.90.1.992. Celans mit Denise Naville (1896-1969) deutlich. Naville fungierte als offizielle Übersetzerin der 1965 in der bedeutenden Zeitschrift Les Lettres Nouvelles ver‐ öffentlichten sechs Texte aus Celans erstem Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952). 468 Ein interessanter Umstand dieses Übersetzungsprojekts, der hier hervorgehoben werden soll, ist die Tatsache, dass die Redaktion des Publikati‐ onsorgans den Dichter zunächst explizit darum gebeten hatte, 469 eigene Übertra‐ gungen seiner Gedichte einzureichen, worauf er kategorisch geantwortet hatte, er besitze leider nicht die Fähigkeit, sich selbst ins Französische zu übersetzen: »je ne sais pas me traduire, moi-même en français«, 470 so schreibt der Dichter. Unter den insgesamt sechs veröffentlichten Gedichtübersetzungen, die erneut allesamt vom Autor eingehend revidiert wurden, bietet sich die französische Version von »Spät und tief« (GW I, 35) auf übersetzungsgenetischer Ebene besonders gut dazu an, den Umfang sowie die Art und Weise von Celans Eingriffen zu veranschaulichen (s. Abb. 6). Zunächst ist bei diesem Dokument festzustellen, dass die Zahl der Korrekturen an dieser französischen Fassung noch größer ausfällt als im Fall der zuvor erwähnten Zusammenarbeit mit Jean-Pierre Wilhelm. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen trägt jeder einzelne Vers der maschinenschriftlichen Übersetzung Navilles mehrere handschriftliche Korrekturen aus der Feder Celans. 230 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="231"?> Abb. 6: Vorstufe der Übersetzung von »Spät und tief« durch Denise Naville aus dem Jahr 1965, mit handschriftlichen Korrekturen von der Hand Paul Celans. DLA D.90.1.2346/ 5. 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 231 <?page no="232"?> Im Gegensatz zu den in den Cahiers du Sud erschienenen Texten war die Veröffentlichung in den Lettres nouvelles zweisprachig. Die Zeitschrift hat also neben der Übersetzung die deutschen Originalgedichte abgedruckt, was den Dichter grundsätzlich dazu hätte animieren können, seiner Übersetzerin eine größere Autonomie zuzugestehen. Zumal es sich bei Denise Naville um eine sehr renommierte Übersetzerin aus dem Deutschen handelte, die unter anderem bereits Hölderlin und Büchner für große Verlagshäuser übersetzt hatte. Offensichtlich war Celan aber erneut dazu geneigt, sich den französischen Text durch massive Eingriffe wieder anzueignen. Bereits der erste Vers (»Boshaft wie goldene Rede beginnt diese Nacht«, GW I, 35, V. 1) wird so vom Autor komplett neu übersetzt, wobei er interessanterweise diesmal sehr wörtlich verfährt: »Nuit maléfique ainsi que parole d’or« (Naville) wird zu »Méchante comme parole d’or débute cette nuit« (Celan). Eine auffällige Verwandtschaft zwischen den beiden hier diskutierten Pro‐ jekten, die wohlbemerkt zeitlich rund ein Jahrzehnt auseinander liegen, besteht in der von Celan vorgenommenen Umformulierung des Titels. Während der Dichter bei »Nächtlich geschürzt« wie gezeigt die Hypotaxe durch eine Parataxe ersetzt hat, wendet er diesmal den gleichen Ansatz in umgekehrter Richtung an: Im Titel »Spät und tief« liegt der Fall einer eindeutig parataktischen Relation zwischen zwei Adjektiven vor, was Denise Naville in ihrer Übersetzung wortwörtlich und völlig korrekt mit »tardif et profond« wiedergegeben hat. Celan hingegen führt in seiner handschriftlichen Korrektur eine hypotaktische Differenzierung zwischen den beiden Adjektiven ein, indem er »tard, profon‐ dément« vorschlägt, was man mit »tief spät« wiedergeben könnte. Durch die Umwandlung des Adjektivs (profond) in ein Adverb (profondément) wird die logische Relation zwischen den beiden Elementen erneut tiefgreifend modifi‐ ziert, ohne dass dies direkt durch den Wortlaut des Originals zu erklären wäre. Sprachlich und poetisch konsequenter erscheint hingegen die Umwandlung von ›être‹ in ›se tenir‹ als Äquivalent für das deutsche Verb ›stehen‹ in Vers 4, eine Vorgehensweise, die der Autor schon in der Übersetzung von Jean-Pierre Wilhelm angewandt hatte und die man parallel in seinen französischen Eigen‐ übersetzungen vorfinden kann. Am frappierendsten erscheint erneut der massive Gesamtcharakter von Celans Eingriffen in die ihm vorgelegte Übersetzung. Der Autor hätte die Arbeit der erfahrenen Übersetzerin grundsätzlich respektieren können, indem er sich etwa darauf beschränkt hätte, auf einen Fehler in Vers 4 hinzuweisen, wo die Übersetzerin ›Linden‹ mit ›Platanen‹ verwechselt hatte. Doch entgegen Celans Behauptung in seiner Antwort an die Redaktion ist er sehr wohl dazu fähig, sich selbst ins Französische zu übersetzen. Ja, der Dichter scheint es gar 232 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="233"?> 471 GW-IV, 166-345. Siehe auch Wiebke Amthor, Schneegespräche an gastlichen Tischen. Wechselseitiges Übersetzen bei Paul Celan und André du Bouchet. Heidelberg, Winter, 2006. 472 Celan, »Le Méridien«. Übersetzt von André du Bouchet. L’Éphémère, 1, Januar 1967, S.-3-20. nicht unterlassen zu können, bei der Revidierung des Zieltextes das gesamte Potenzial auszuschöpfen, das ihm seine profunde Kenntnis des Französischen zur Verfügung stellt, wobei durchaus ein gewisser Wille zur poetischen Kreation in dieser Sprache deutlich wird. Wie im Fall der Cahiers du Sud wurden beim Projekt für die Lettres Nouvelles alle seine Korrekturen in die veröffentlichte Fassungen übernommen. In beiden Fällen darf demnach Celan als Mitübersetzer seiner Gedichte bezeichnet werden. 4.3.3 »Todtnauberg« übersetzt von Du Bouchet und Celan Die Mitte der 1960er-Jahre markiert einen Wendepunkt in der Haltung des Dichters den französischen Übersetzungen seiner Werke gegenüber. Während man zuvor durchaus den Eindruck gewinnen konnte, Celan wolle insgeheim den Platz seiner Übersetzer einnehmen, räumt er diesen nun wesentlich größere Freiheiten ein. Da die französischen Übersetzer dieser Periode - zu denen unter anderem André du Bouchet, Jean Daive und Jean-Claude Schneider zählen - selbst zum Großteil profilierte Lyriker sind, wandelt sich die zuvor eher hierarchisch geprägte Beziehung zu einem Gespräch von Dichter zu Dichter, sozusagen auf gleicher Augenhöhe. Dieser Dialog, der im Idealfall auf einem freundschaftlichen Vertrauensverhältnis zwischen Autor und Übersetzer beruht, nimmt ab diesem Zeitpunkt eine größere Bedeutung ein als der Wille zur auktorialen Kontrolle. Celan arbeitet zwar weiterhin an den französischen Ver‐ sionen seiner Texte mit, seine Interventionen werden jedoch diskreter, insofern die französischen Dichter, die ihn übersetzen, neben seiner oft unverzichtbaren Hilfe, auch eine gewisse Freiheit benötigen, um das Gedicht als Gedicht in die andere Sprache ›herüberzutragen‹. Zusammenarbeit auf Augenhöhe: Celan und André Du Bouchet Das beste Beispiel für diese neue Form kollaborativen Übersetzens liefert Celans Zusammenarbeit mit dem französischen Lyriker André du Bouchet (1924-2001), dessen Gedichte er seinerseits ins Deutsche übersetzt hat. 471 Zu Lebzeiten Celans veröffentlichte Du Bouchet neben seiner Übertragung der Meridian-Rede 472 nur ein knappes Dutzend Gedichte seines Dichterfreundes in französischer Übersetzung. Diese erschienen in den Ausgaben Nr. 7 und 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 233 <?page no="234"?> 473 Celan, »Poèmes«. Übersetzt von André du Bouchet. L’Éphémère, 7, Oktober 1968, S.-14-31, Ders., Flügelnacht«. Übersetzt von André du Bouchet. L’Éphémère, 8, Januar 1969, S.-54-59. 474 Siehe DLA D.90.1.1376 (Brief von Du Bouchet an Celan, 17.4.1964) sowie das Tapuskript in der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet Paris (Nachlass André du Bouchet, Signatur Ms 11). 475 So lässt beispielsweise die französische Übersetzung der Passage »Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene […]« (GW III, 198) deutlich den Einfluss des Autors erkennen, wie es aus den handschriftlichen Korrekturen auf dem Manuskript hervorgeht. Siehe hierzu meinen Vortrag »André du Bouchet’s Celan Translations: Revisiting the Dynamics of Author-Translator Collaboration, with Special Emphasis on ›Le Méridien‹« (Publikation in Vorbereitung). 8 der gemeinsam mit Yves Bonnefoy, Jacques Dupin, Louis-René des Forêts und Paul Celan herausgegebenen Zeitschrift L'Éphémère. 473 Nach dem Tod des deutsch-jüdischen Dichters setzte Du Bouchet seine Tätigkeit fort, indem er Sammelbände mit neuen oder für diesen Anlass überarbeiteten Übersetzungen publizierte, wobei er sich größtenteils auf die vom Autor bereitgestellten Materialien sowie gemeinsame Vorarbeiten stützen konnte. Die erste vom französischen Lyriker angefertigte Celan-Übersetzung war keine Gedicht-Übertragung, sondern die der Büchner-Preis-Rede, mit der er höchstwahrscheinlich 1964 begann. Celans handschriftliche Korrekturen auf einer überlieferten Vorstufe von Du Bouchets Meridian-Übersetzung belegen dabei anschaulich die zu diesem Zeitpunkt eingetretenen Veränderungen in der Zusammenarbeit mit seinen französischen Übersetzern. 474 So wurden die auf dem Typoskript notierten auktorialen Änderungsvorschläge im Unterschied zu den oben präsentierten Fallbeispielen nicht pauschal und wortwörtlich von Du Bouchet in die veröffentlichte Fassung übernommen. Dennoch wird erneut der Einfluss des Autors auf das Endergebnis sichtbar, weshalb in Teilen durchaus von einer kollaborativen Übersetzung gesprochen werden kann, wie ein Vergleich der Manuskripte mit der publizierten Fassung zeigt. 475 Insgesamt hat Celan dem befreundeten Dichterkollegen jedoch ungleich mehr Autonomie zugestanden als zuvor Wilhelm oder Naville. Dabei sind Du Bouchets oftmals sehr freie Celan-Übersetzungen - wie im Übrigen alle seine Übertragungen aus dem Deutschen - in Kritik und Forschung keineswegs unumstritten und haben teils eine harsche Abwehrhaltung hervorgerufen. Andererseits kann bei vielen dieser Übersetzungen beobachtet werden, dass es die enge Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzer erlaubt hat, die kreative Freiheit von Du Bouchets Nachdichtungen mit einer gewissen aukto‐ rialen ›Qualitätskontrolle‹ zu verknüpfen, weshalb die Ergebnisse weit mehr als nur Kuriositäten darstellen. Diese Besonderheit zeigt sich auch im Vergleich 234 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="235"?> 476 Siehe Bernard Böschenstein, »André du Bouchet traducteur de Hölderlin et de Celan«. In: Michel Collot (Hrsg.), Autour d’André du Bouchet. Paris: PENS, 1986, S.-169-181. 477 Siehe auch meinen Artikel: »Paul Celan et André du Bouchet: ›Je vous serre la main‹«. In: Patrick Hersant (Hrsg.), Traduire avec l’auteur. Études et documents. Paris: Presses de l’université Paris-Sorbonne, 2020, S.-111-128. zu seinen Hölderlin-Übersetzungen, die allesamt noch freier (und sicherlich problematischer) sind als seine Übersetzungen von Celan-Gedichten. 476 Über Jahre hinweg hat sich Paul Celan immer wieder intensiv mit André du Bouchet über die Übersetzung bestimmter Texte ausgetauscht, wobei sich der Einfluss dieser Zusammenarbeit immer wieder auf die publizierte Fassung ausgewirkt hat. In Ermangelung einer umfassenden textgenetischen Doku‐ mentation des größtenteils direkten, mündlichen Austauschs zwischen den Dichter-Übersetzern kann die Zusammenarbeit zwar nicht in allen Details rekonstituiert werden. Dennoch lässt sich der allgemeine Arbeitsprozess fol‐ gendermaßen beschreiben: Den Ausgangspunkt von Du Bouchets Übersetzungen bilden generell ge‐ meinsame Arbeitssitzungen, im Laufe derer sich der Übersetzer unter der Anleitung des Autors einzelne Gedichte erarbeitet hat. Auf Grundlage dieser gemeinsamen Annäherung an die Texte, die zum Teil in Form von Notizen oder wortwörtlichen Rohübersetzungen dokumentiert wurde, begann Du Bouchet mit seiner französischen Nachdichtung. Ausgehend von dieser ersten Fassung wurde die Zusammenarbeit dann gegebenenfalls an Detailfragen fortgeführt. Nach der Veröffentlichung hat André du Bouchet seine Übersetzungen zudem oft in überarbeiteter Version neu veröffentlicht oder seinen Sammlungen neue Übersetzungen hinzugefügt, die nicht dem gleichen Prozedere unterlagen, sich aber generell auf die gemeinsamen Arbeitssitzungen mit dem Autor stützen konnten. Bemerkenswert an dieser Form der Zusammenarbeit ist vor allem die Tat‐ sache, dass Paul Celan im Gegensatz zu seinen Eingriffen in die Arbeit anderer Übersetzer wie Wilhelm und Naville niemals die Funktion eines Zensors ausübt, der den Text revidiert, korrigiert und seinen Maßstäben anpasst. Vielmehr agiert er wie ein Berater, der Vorschläge macht, ohne sie dabei seinem Übersetzer aufzuzwingen. 477 In einigen Fällen hat der Autor überraschend gelassen, ja geradezu nachlässig auf bestimmte Probleme in Du Bouchets Übersetzungen reagiert. Wie die erhaltene Korrespondenz belegt, beruhte die Kommunikation zwischen den beiden Dichtern neben dem Austausch philologisch-sprachlicher Argumente auf einem engen Vertrauensverhältnis, was zum Teil diese Haltung erklärt. Die erhaltene briefliche Dokumentation verdankt sich vorwiegend Celans Einweisung in die Psychiatrie, wodurch die Arbeitssitzungen mit Du 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 235 <?page no="236"?> 478 André du Bouchet, Brief an Celan, 21.11.1967, DLA D.90.1.1376. Siehe auch Celan als Übersetzer, S.-575. 479 Celan, Poèmes. Übersetzt von André du Bouchet. Paris: Clivages, 1978. 480 Nachlass André du Bouchet, Paris. Faksimile abgebildet im Katalog Celan als Übersetzer, S. 545-546. Die vorliegende Transkription wurde aus Gründen der Anschaulichkeit vereinfacht und versteht sich mitnichten als Edition dieser Vorstufe. 481 »Todtnauberg / / Arnika, Augentrost, der / Trunk aus dem Brunnen mit dem / Stern‐ würfel drauf, / / in der Hütte, / / die in das Buch / - wessen Namen nahms auf / vor dem meinen ? -, / die in das Buch / geschriebene Zeile von / einer Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes (un-/ gesäumt kommendes) / Wort / im Herzen, / / Waldwasen, uneingeebnet, / / Orchis und Orchis, / einzeln, / / Krudes, später, im Fahren, / deutlich, / / der uns fährt, / der Mensch, / ders mit anhört, / / die halb-/ be‐ schrittenen Knüppel-/ pfade im Hochmoor, / / Feuchtes, / viel«. Bouchet unterbrochen wurden. Der Briefwechsel aus diesem Zeitraum macht es der Forschung erheblich einfacher, die Zusammenarbeit zwischen dem Autor und seinem Übersetzer anhand konkreter Beispiele nachzuzeichnen. Hermeneutische Relevanz der kollaborativen Selbstübersetzung Du Bouchets französische Nachdichtungen stützen sich wie erwähnt auf No‐ tizen und Materialien, die den Ertrag der gemeinsamen Arbeitssitzungen mit dem Autor darstellen. Den Ausgangspunkt seiner eigenen, individuellen Arbeit als Übersetzer liefern dabei zuweilen von Celan mitgeteilte, wortwörtliche Roh‐ übersetzung. Die Existenz solcher Dokumente ist an mehreren Stellen belegt. 478 Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die erste Niederschrift einer Übersetzung des Gedichts »Todtnauberg« (GW II, 255), dessen Hintergrund bekanntlich Celans Begegnung mit Heidegger im Jahr 1968 bildet. Zwar wurde die eigentliche Übersetzung dieses Textes erst 1978, also lange nach dem Tod des Autors, von Du Bouchet veröffentlicht, 479 doch stützt sich seine französische Version auf eine vom Autor persönlich diktierte Übersetzungsskizze, so wie es auf dem überlieferten Manuskript zu lesen ist (»Traduction dictée par Paul Celan«). Die folgende diplomatische Transkription dieser durch die Hand Du Bouchets überlieferten Eigenübersetzung Celans soll ohne jeden editionswissenschaftli‐ chen Anspruch an dieser Stelle dazu dienen, den Einfluss des Autors auf die französische Endfassung zu veranschaulichen. 480 Hierbei ist zu beachten, dass diese Übersetzung auf der Grundlage der ersten Gedichtfassung erstellt wurde, die 1968 in einer bibliophilen Ausgabe erschienen war und leicht von der 1970 in Lichtzwang erschienenen Fassung abweicht (s. TCA, LZ, 51): 481 236 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="237"?> Traduction dictée par Paul Celan - Arnica-,-euphraise-,-le la gorgée-----du puits-----avec le [ étoile sculptée dans le bois - cube-dé ] - cube-étoile ------------au-dessus. - dans la maison [ hutte ] - les dans le livre - de qui les noms-----transcrits à avant le mien-? - les lignes dans le livre inscrites-----au-----sujet d’un espoir , aujourd’hui , d’une parole---------à venir-----( à venir incessamment ) d’un être qui pense au cœur - - Terreau [ de forêt ] qui n’est pas aplani, - Orchidée — orchidée — ------------s)-----------------s) singulier , (un à un) - cru , plus tard , dans le trajet , clairement , - celui qui nous voiture, l’homme, qui écouté prête l’oreille [ au Krudes ], - - - - le chemin de rondin à moitié foulé dans le - ----marais des hauteurs, -marécages humide, - - - beaucoup. - - - 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 237 <?page no="238"?> 482 In einer späteren und im Nachlass erhaltenen Notiz scheint André du Bouchet die Wahl dieses »uralten« (»ancien parmi les mots anciens«) Wortes mit Verweis auf Jean de La Fontaines Fabel »La Tortue et les deux canards« (1678) zu rechtfertigen, in der dieses Verb auftaucht (Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, Paris: Nachlass André du Bouchet, Signatur Ms 11). 483 Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-398. 484 Siehe etwa die Übersetzung von Marc B. de Launay. In: Hans-Georg Gadamer, »Le rayonnement de Heidegger, avec un poème de Paul Celan, ›Todtnauberg«. Cahiers de l’Herne: Heidegger. Hrsg. von Michel Haar, Paris: L’Herne, 1983, S.-138-144. Ein Vergleich dieser auktorialen Rohübersetzung mit der von Du Bouchet später im Alleingang publizierten Fassung erlaubt es, Celans konkreten Einfluss auf das Endergebnis zu evaluieren. Natürlich kann, wie hier grundsätzlich betont werden muss, die vorliegende Eigenübersetzung nicht mit der von Du Bouchet publizierten Version auf eine Ebene gestellt werden. So machen die zahlreichen Varianten und Paraphrasen auf der Handschrift deutlich, dass es sich zuallererst um eine erläuternde Verständnishilfe handelt, die der Übersetzer vom befreundeten Autor erhalten hatte. Beim Blick auf die publizierte Fassung fällt dennoch auf, dass manche - mitunter zunächst befremdlich wirkende - Entscheidungen des offiziellen Übersetzers direkt auf Celans Rohübersetzungen zurückgehen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Wahl des stark veralteten französischen Verbes ›voiturer‹ für deutsch ›fahren‹ (GW II, 255, V.-20). 482 Dieses Wort mutet im Gedichtkontext derart manieriert, ja seltsam an, dass man sich durchaus fragen kann, ob der Übersetzer allein auf einen solchen, skurril anmutenden Einfall gekommen wäre, scheint sich doch ›conduire‹ in diesem Fall geradezu aufzudrängen. Eine Hypothese, die Celans singulären Vorschlag erklären könnte, wäre, dass er mit seinem verfremdenden Vorschlag eine größtmögliche Distanz zum lateinischen Wortstamm ›dux‹ herstellen wollte, aus dem bekanntlich im Italienischen ›duce‹ (Mussolini) sowie der rumänische ›conducător‹ (Antonescu) hervorgegangen sind. In der Tat wäre die Annahme plausibel, dass die Assoziationskette ›fahren‹ → ›conduire‹ → ›dux‹ → ›duce‹ → ›führen‹ aus der Sicht des Autors zu vermeiden war. Das preziöse französische Verb dient mithin - auf fast paradoxe Weise - dazu, den Akt des Fahrens gleichsam zu banalisieren, anstatt ihn mit irgendeiner ›geistigen Führung‹ zu assoziieren. In dieselbe Richtung scheint die Vermeidung des Begriffs ›penseur‹ für ›Den‐ kender‹ (V. 12) zu gehen. Freilich heißt es im Original nicht »eines Denkers« (oder gar eines »Denk-Herrn[s]«, wie in einer Notiz zu Heidegger aus dem Jahr 1954 483 ), sondern »eines Denkenden«, eine vielsagende Differenz, die deshalb noch lange nicht von allen französischen Übersetzern berücksichtigt wurde. 484 238 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="239"?> 485 Celan, Poèmes, o. S.- 486 ›Méditer‹ kann zwar durchaus synonym zu ›penser‹ verwendet werden (siehe beispiels‐ weise die Méditations métaphysiques von Descartes), doch zugleich entfernt sich dieses Verb deutlich vom deutschen ›Denken‹. 487 Siehe auch meinen Kommentar in: »›Todtnauberg‹ in französischen Übersetzungen, Dirk Weissmann im Gespräch mit Evelyn Dueck«. Celan-Perspektiven 2022, S. 155-159. Celans wortwörtlicher Vorschlag »un être qui pense« wurde von Du Bouchet zu »de qui méditera« weiterentwickelt, 485 womit der vom Autor zweifelsfrei intendierte Abstand zu ›Denker‹ tendenziell noch verstärkt wird. 486 Angesichts der Tatsache, dass sich das Gedicht »Todtnauberg« auf die Begegnung mit dem Philosophen Martin Heidegger bezieht, ist diese Wahl natürlich interpretato‐ risch hochrelevant, da durch sie die Distanz gegenüber jeglicher Glorifizierung der deutschen Dichter-und-Denker-Tradition unterstrichen wird. In exegetischer Perspektive aufschlussreich ist weiterhin Celans Vorschlag von ›rondin‹ für ›Knüppel‹ (in »Knüppel-/ pfade«, V.-23-24), auch wenn dieser tendenziell in eine andere interpretatorische Richtung führt als die zuvor kommentierten französischen Entsprechungen. Der an dieser Stelle von vielen Interpreten - und einigen Übersetzern 487 - hergestellte Bezug zwischen den mit Rundhölzern abgesicherten Hochmoorpfaden im Schwarzwald und den an militärische und antisemitische Gewalt erinnernden Schlagknüppeln (frz. gourdin) wird nämlich nicht explizit von der französischen Rohübersetzung des Autors unterstützt. So besitzt das von Celan gewählte Wort ›rondin‹ im Französischen keine unmittelbar gewalttätigen Konnotationen. Natürlich invalidiert diese auktoriale Wahl andererseits noch lange nicht einen solchen Interpretationsansatz, wenn auch der französische Begriff grundsätzlich weit weniger polysemisch ist als der deutsche. Ohne an dieser Stelle auf alle Details der von Celan diktierten ›Todtnau‐ berg‹-Übersetzung und deren möglichen Einfluss auf den veröffentlichten französischen Text einzugehen, kann festgehalten werden, dass es sich erneut um eine Form des kollaborativen (Selbst-)Übersetzens handelt, selbst wenn die Übertragung in diesem Fall ohne die direkte Mitarbeit des Autors weitergeführt und vollendet wurde. Der allgemeine Trend der Entwicklung von Celans Beziehung zu seinen Übersetzern, so wie er sich auch an anderen Beispielen beobachten lässt, wird von diesem Textzeugen bestätigt. So lässt sich feststellen, dass sich die Herangehensweise des Autors an die französischen Übersetzungen eigener Texte zu diesem Zeitpunkt dahingehend verändert hat, dass der kolle‐ gial-freundschaftliche Dialog mit dem Übersetzer an die Stelle der revidierenden Rückaneignung der Texte tritt. 4.3 Kollaborative (Selbst-)Übersetzung 239 <?page no="240"?> 488 Siehe u. a. Alfons K. Knauth, »Literary Multilingualism I: General Outlines and Western World«. In: Márcio Seligmann-Silva u. a. (Hrsg.), Comparative Literature: Sharing Knowledges for Preserving Cultural Diversity. Oxford: Eolss 2007, S.-1-23. Gemein ist jedoch all den hier präsentierten Beispielen, dass sich die Mit‐ arbeit des Autors an den Übersetzungen seiner Texte immer wieder direkt auf das publizierte Endergebnis ausgewirkt hat. Durch textgenetische Untersu‐ chungen kann dabei Celans ›Handschrift‹ in den französischen Publikationen an vielen Stellen nachgewiesen werden. Dies kann - von wenigen Ausnahmen abgesehen - für alle zu Lebzeiten entstandenen französischen Übertragungen angenommen werden, selbst wenn nicht in allen Fällen die entsprechenden textgenetischen Materialien überliefert wurde. Die drei hier analysierten Ge‐ dichte und ihre französischen Fassungen stehen somit exemplarisch für Celans anhaltende Implikation in den Übersetzungsprozess seiner eigenen Texte, die als eine Form aktiver Mehrsprachigkeit eine Konstante seines Werks darstellt. 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen Zum Abschluss dieses der textübergreifenden Mehrsprachigkeit bei Paul Celan gewidmeten Kapitels soll nun die originale Textproduktion des Dichters in anderen Sprachen - namentlich auf Rumänisch und Französisch - dargestellt werden. Es handelt sich bei dieser Praxis um eine seit den Anfängen der Literatur zu beobachtende und gleichsam ›klassisch‹ zu nennende Form mehr‐ sprachigen Schreibens als Sprachwechsel. 488 Durch das Hin- und Herwechseln Celans zwischen dem Deutschen und seinen Zweitsprachen bildet sich ab der Bukarester Periode - und dann verstärkt mit der Übersiedelung nach Paris - eine parallele Textproduktion in anderen Sprachen heraus. Neben den Gedichten betrifft diese exophone Schreibpraxis Celans Prosatexte und Briefe. Das Briefwerk muss insofern Berücksichtigung finden, als es an vielen Stellen einen regelrechten Hort von Polyglossie darstellt und eine enge Verbindung zu den literarischen Prosatexten unterhält, wie es die Herausgeber Wiedemann und Badiou betonen (s. Mikrolithen, 235). Generell fällt in Celans Prosa der hohe Anteil nicht deutschsprachiger Texte auf, wohingegen ein kompletter Sprachwechsel in seiner Lyrik wesentlich seltener anzutreffen ist. Insbeson‐ dere in seinen Aphorismen hat der Dichter häufig zwischen den Sprachen gewechselt, wobei sich grundsätzlich die Frage stellt, inwiefern jeder einzelne Aphorismus als abgeschlossener (einsprachiger) Text oder vielmehr als Teil einer (mehrsprachigen) Textfolge aufgefasst werden muss. 240 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="241"?> 489 Tschechow, Ţăranii. Schiţe (Mikrolithen, 177-179). 490 Siehe Barbara Wiedemann, »Paul Ancels eigenwillige ›Rundschau‹«, Celan-Jahrbuch, 7 (1997-98), S.-51-64. An diesem Punkt wird deutlich, dass die Trennung von Sprachwechsel und Sprachmischung alles andere als selbstevident ist. Das in der Einleitung zitierte sprachliche Patchwork von Zitaten in einem der Notizhefte Celans (s. Abb. 1, vgl. Mikrolithen, 40) veranschaulicht exemplarisch diese Problematik. Trotz der systematisch-typologischen Aufteilung in drei Untersuchungsebenen, wie sie in dieser Studie praktiziert wird, handelt es sich bei den verschiedenen Ausprägungen von Celans Mehrsprachigkeit in keinem Fall um voneinander hermetisch abgegrenzte Domänen. Das Problem solcher Zwischen- und Über‐ gangsformen besteht ebenfalls auf der Gattungsebene, insofern eine trenn‐ scharfe Unterscheidung zwischen Prosa und Lyrik im Korpus nicht immer ohne Weiteres möglich ist (s. Mikrolithen, 232). Dennoch soll hier aus pragma‐ tisch-heuristischen Gründen prinzipiell sowohl an der Gattungsunterscheidung als auch an der Trennung von textübergreifender und textinterner Mehrspra‐ chigkeit festgehalten werden. Das Verfassen von Texte in anderen Sprachen, wozu neben Fragmenten wohlbemerkt auch komplette Gedichte und Prosatexte zählen, könnte eine Art ›Höhenkamm‹ von Paul Celans Multilingualität darstellen, gehörte sie nicht fast ausnahmslos in den Bereich des zu Lebzeiten unveröffentlichten Œuvres. Die Zahl der vom Schriftsteller freigegebenen und nicht auf Deutsch verfassten Texte ist dabei verschwindend gering. Hinzu kommt die Tatsache, dass diese Texte nicht immer unter seinem Dichternamen erschienen. Das 1946 publizierte rumänischsprachige Vorwort zu seiner Bukarester Tschechow-Übersetzung wurde wie erwähnt unter dem Pseudonym Paul Aurel veröffentlicht. 489 Als einziger von Celan publizierter, nicht-deutscher Text kann daneben nur noch die 1947 erschienene und mit Paul Ancel gezeichnete Zeitschriftenrundschau in der Bukarester Zeitschrift Revista literară gelten (Mikrolithen, S. 182-184), auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. 490 Bilanzierend muss festgehalten werden, dass der Dichter zu Lebzeiten keinen einzigen fremdsprachigen Text unter seinem eigentlichen Künstlernamen ›Paul Celan‹ veröffentlicht hat. Nichtsdestoweniger belegt die Edition der Prosa aus dem Nachlass - sowie die große Anzahl der von Celan in anderen Sprachen geführten Briefwechsel -, wie ungemein präsent sprachliche Vielfalt in der tagtäglichen Schreibpraxis des Autors war. Von diesem Gesichtspunkt aus darf daher behauptet werden, dass die originale Textproduktion in anderen Sprachen gerade den Ort darstellt, an dem die für Celan so charakteristische Spannung 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 241 <?page no="242"?> 491 Siehe hierzu u. a. Leonard Forster, The Poets Tongue. Multilingualism in Literature. Cambridge: Cambridge University Press, 1971. 492 Badiou, »D’une main - et d’une autre main«. Préface, S.-15. zwischen monolingualer Selbstverortung und multilingualer Schreibpraxis in größter Deutlichkeit zu Tage tritt. Wie alle Nationalphilologien hat die Germanistik bis heute Mühe damit, einen adäquaten Zugang zur fremdsprachigen Produktion der für den eigenen Literaturkanon konstitutiven Autoren zu finden. Das von literaturgeschichtlich so zentralen Autoren wie Goethe, George und Rilke praktizierte Schreiben in anderen Sprachen zeigt, welche Herausforderung diese Praxis für Edition, Kommentar und Interpretation darstellt. 491 Im speziellen Fall von Celan zieht es der von der Bonner Arbeitsstelle für die historisch-kritische Gesamtausgabe konzipierte Editionsplan nach sich, dass die nicht-deutschen Texte bis heute nicht berücksichtigt, ja ausgegrenzt wurden. Überhaupt tendiert, wie man anmerken muss, diese Werkausgabe häufig dazu, eine strikte Grenze zwischen ›deutschem‹ Gedicht und ›fremdsprachigem‹ Material ziehen zu wollen, was in gewisser Weise Celans Arbeitsweise und Schreibgestus zuwiderläuft. Die Herausgeber der Leseausgaben - namentlich Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou - berücksichtigen hingegen die insbesondere für den Nachlass konstitutive Sprachmischung, indem sie keine künstliche Trennung zwischen ›deutsch‹ und ›nicht deutsch‹ vornehmen. Nur eine solche integrative Vorge‐ hensweise, so muss unterstrichen werden, kann letztlich der Tatsache gerecht werden, dass das ›Archiv‹ von Celans publiziertem Werk - im etymologischen Sinn von Anfang, Beginn und Ursprung (archē/ ἀρχή) - als mehrsprachig zu bezeichnen ist, genauso wie seine Bibliothek - im materiellen wie im geistigen Sinne - aus einer Vielfalt von Sprachen zusammengesetzt ist. Dieser Umstand kann insbesondere anhand der Ausgabe der Prosa aus dem Nachlass verifiziert werden, welche wie gesagt die selbstverständliche Mehrsprachigkeit des Autors besonders sinnfällig macht. Im Folgenden soll dabei nicht der - müßig zu nennenden - Frage nach‐ gegangen werden, inwiefern Paul Celan als rumänischer oder französischer Schriftsteller betrachtet werden darf, kann oder muss. Sicherlich hätte der Autor von seinen sprachlichen Möglichkeiten her eine literarische Karriere in Rumänien oder Frankreich anstreben können, wie es unter anderem Badiou suggeriert. 492 Paul Celans offenkundige Entscheidung, diesen Weg nicht zu beschreiten und ausschließlich als deutschsprachiger Dichter in der Öffentlich‐ keit aufzutreten, liefert jedoch an sich eine ausreichende Antwort auf die Frage. Zudem laufen Diskussionen dieser Art leider allzu oft darauf hinaus, die Ansprüche verschiedener Nationalphilologien miteinander in Konkurrenz zu 242 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="243"?> bringen, anstatt die dahinterliegende translinguale (und transkulturelle) Logik des Schreibens zu erfassen, wie es sich die vorliegende Untersuchung zum Ziel gesetzt hat. Ebenso wenig soll im Folgenden die ästhetische Bewertung von Celans Texten in anderen Sprachen im Mittelpunkt stehen, was zwangsläufig auf eine Art ›Schreibwettbewerb‹ zwischen den Sprachen hinauslaufen würde. Vielmehr soll in Einklang mit der Grundkonzeption dieser Studie danach gefragt werden, welchen Beitrag die Produktion in exophonen Sprachen zu seinem deutschspra‐ chigen Hauptwerk und seiner Poetik geleistet hat. Denn dass Celans Rückgriff auf ›andere‹ Sprachen nicht von seinem Schreiben in deutscher Sprache zu trennen ist, stellt eine der im Rahmen dieser Arbeit vertretenen Hauptthesen dar. Auf der Ebene eines solchen Miteinanders der Sprachen können dabei nicht zuletzt Sprachwechsel und Sprachmischung als zwei Ausprägungen ein- und desselben poetischen Grundimpetus zusammengedacht werden. Besonders an zwei Punkten wird die enge Verbindung zwischen der deut‐ schen Muttersprache und den anderen Sprachen in Celans Werk deutlich: Erstens tritt das Rumänische genau zu dem Zeitpunkt als alternative Literatur‐ sprache auf den Plan, als der Zivilisationsbruch ›Auschwitz‹ die Frage aufwirft, inwiefern ein jüdischer Dichter weiterhin auf Deutsch schreiben kann, ja darf. Sprachkrise (als Krise der deutschen Muttersprache) und Mehrsprachigkeit (als möglicher Ausweg aus der Krise) erscheinen somit als wesentlich miteinander verbunden. Zweitens besteht in Celans Werk eine enge Verbindung zwischen dem Einsatz von Fremdsprachen und der Poetik, im Sinne von poesis, also der Erzeugung literarischer Sprachformen. Denn bestimmte literarische Mittel und Schreibweisen hat der Dichter vorwiegend im Medium ›fremder‹ Sprachen entdeckt, erprobt und praktiziert, um sie anschließend gleichsam auf das Deutsche zu übertragen. Das gilt - wie weiter unten gezeigt werden soll - zuvorderst für das eng mit den Möglichkeiten des Rumänischen verbundenen Mittel des Sprachspiels. Auf der Gattungsebene kann in diesem Zusammenhang gezeigt werden, dass bestimmte literarische Formen wie das Prosagedicht und der Aphorismus besonders enge Beziehungen zum exophonen Schreiben unterhalten. Allgemein lässt sich so nachweisen, dass der ›Umweg‹ über andere Sprachen vor dem Hintergrund sprachlicher Exterritorialität bei Celan zu einer wesentlichen Ressource des Schreibens, ja der Sprachschöpfung wird. Die Herausgeber der Prosa aus dem Nachlass machen das unter anderem am Französischen fest. So schreiben sie: »Manches ist für ihn ganz offensichtlich nur französisch zu sagen, und auch die lateinischen und griechischen Elemente haben ihren eigenen Wert infolge der ihnen eigenen Ausstrahlung auf den deutschen Text.« (Mikro‐ 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 243 <?page no="244"?> 493 Wiedemann, »Paul Celans Übertragungen ins Rumänische«, S. 140. Siehe auch So‐ lomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-85. 494 »Tristețe/ Trauer« (GW VI, 157), »Poem pentru umbra Mariannei/ Gedicht für Mari‐ annes Schatten« (160)«, »Iarba ochilor tăi, iarbă amară/ Das Kraut deiner Augen, bitteres Kraut« (166, fragmentarisch), »Azi noapte/ Heut Nacht« (169), »Ora e cea de ieri, dar o arată un al treila ac incandescent/ Die Stunde ist die gleiche wie gestern, aber es zeigt sie ein dritter ein glühender Zeiger an« (175), »Regăsire/ Wiederfinden« (178), »Réveillon/ Sylvester« (181), »Cântec de dragoste/ Liebeslied« (185). Vgl. NKG , 374-380. 495 »A sosit, înfârșit…/ Endlich ist der Augenblick gekommen…« (GW VI, 189), »Fără balustradă…/ Ohne Geländer…« (190), »S’ar putea crede…/ Man könnte glauben« (193), »Partizan al absolutismului erotic…/ Als Anhänger des erotischen Absolutismus…« (195), »Erau nopți…/ Es gab Nächte…« (196), »Poate că într’o zi…/ Eines Tages viel‐ leicht…]« (197), »Din nou am suspendat…/ Wieder lasse ich…« (198), »A doua zi urmând…/ Am zweiten Tag…« (199). Vgl. NKG, 380-390. lithen, 228-229) Wobei gerade diese Unmöglichkeit, bestimmte Dinge direkt auf Deutsch zu sagen, zu poetisch ungemein produktiven Wechselwirkungen führt, die nun näher dargestellt werden sollen. 4.4.1 Bukarest: »la belle saison des calembours« Abgesehen von der Tatsache, dass es sich beim vorliegenden Korpus fast aus‐ nahmslos um unveröffentlichte Texte handelt, darf das Rumänische sicherlich als die zweite Literatursprache Paul Celans bezeichnet werden - mehr noch als das später in seinem Leben omnipräsente (und existenziell bedeutendere) Französische. Mit seiner Übersiedelung nach Bukarest im April 1945 trat das Rumänische zeitweise in direkte Konkurrenz mit dem Deutschen nicht nur als Sprache des Alltags, sondern auch als Sprache der Literatur bzw. Dichtung. Wie Barbara Wiedemann als eine der besten Kennerinnen des Celan’schen Frühwerks festgestellt hat, hat der Autor während seiner Bukarester Zeit »den ernsthaften Versuch unternommen, in dieser Sprache und ihrer Literatur seinen Platz zu finden«. 493 Wenn es also eine Schaffensperiode in seinem Œuvre gibt, die Celans späteres Votum gegen »Zweisprachigkeit in der Dichtung« (GW III, 175) praktisch widerlegt, dann gerade die Bukarester Zeit. Die literarische Ernte dieser zwei rumänischen Jahre umfasst neben einer Reihe wichtiger deutscher Gedichte, die mit ihrer Publikation in der ersten Abteilung des Bandes Mohn und Gedächtnis (1952) Celans Ruhm in der Bundes‐ republik begründen sollten (s. GW VI, Sektion »Bukarest«, 153-210), jeweils acht Gedichte 494 und Prosagedichte 495 auf Rumänisch. Daneben existiert aus dieser Zeit eine Sammlung mehrerer Dutzend sprachspielerischer Aphorismen und surrealistischer Sprachspiele in rumänischer Sprache, die im Austausch mit 244 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="245"?> 496 »Cărticica de seară a lui Paul Celan/ Abendbüchlein für Paul Celan« (Mikrolithen, 11- 17) sowie ein titelloses, vom französischem Surrealismus inspiriertes Frage-und-Ant‐ wortspiel (85-87). Zu dieser Praxis vergleiche auch Nina Cassian, »Skizze zum Jugend‐ porträt des Dichters«. In: Rychlo (Hrsg.), Mit den Augen der Zeitgenossen, S. 84-88, hier S.-85. 497 Auffällige Parallelen gibt es u. a. auch zwischen »Marianne« (GW I, 14) und »Poem pentru umbra Mariannei« (GW VI, 160) sowie zwischen »Erinnerung an Frankreich« (GW-I, 28) und »Cântec de dragoste« (GW VI, 185). 498 Siehe u. a. Barbara Wiedemann-Wolf, Antschel Paul - Paul Celan. Studien zum Frühwerk. Tübingen: Niemeyer, 1985, Barbara Wiedemann, »Meteoriten. Zu Paul Celans Bukarester Prosa«. Celan-Jahrbuch, 3 (1989), S. 99-120, Dies., »›Irrfahrten‹ und ›Umwege‹. Paul Celan und seine rumänische Herkunft«. Südostdeutsche Viertel‐ jahresblätter, Heft 3, 1999, S.-144-151. 499 Einen Überblick liefert Andrei Corbea-Hoisie, »Paul Celan und die rumänische Sprache. Eine Bilanz«. In: Ders., Czernowitzer Geschichten, S.-199-219. dem Bukarester Freund Petre Solomon entstanden sind. 496 Das bereits erwähnte Vorwort des Tschechow-Übersetzers Celan sowie seine Zeitschriftenrundschau in der Revista literară nicht zu vergessen. Bei den rumänischen Gedichten handelt es sich um Texte, denen trotz einer gewissen Nähe zur deutschen Produktion dieser Periode ein ganz eigener Charakter zukommt, weil sich dort Celans Individualstil mit den Einflüssen des Bukarester Literaturmilieus vermischt. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Prosagedichte, die gattungspoetisch betrachtet ein Alleinstellungsmerkmal des rumänischen Werks repräsentieren. Bestimmte rumänische Texte scheinen zudem die deutschen Gedichte dieser Zeit mit den spezifischen Mitteln der rumänischen Sprache fortzuschreiben. 497 So etwa das dreizeilige Fragment »Iarba ochilor tăi, iarbă amară« (GW VI, 166), in dem der Ausdruck »Quell deiner Augen« aus »Lob der Ferne« (GW I, 33) nahezu identisch als »apa ochilr tăi« auftaucht. In diesem Fall ist jedoch ein umgekehrter Einfluss - vom Rumänischen auf das Deutsche - nicht auszuschließen, denn das genaue Entste‐ hungsdatum der Texte aus diesem Zeitraum ist häufig nicht festzustellen. Trotz solcher Parallelen zur deutschsprachigen Produktion lassen die rumänischen Gedichte - insbesondere die Prosagedichte - dieser Schaffensperiode wie gesagt ein eigenes literarisches Profil erkennen Zum Stellenwert der rumänischen Texte Status und Qualität der rumänischen Texte Paul Celans werden seit Langem kontrovers von Forschung und Kritik diskutiert. 498 Dahinter steht die allgemeine Frage nach der Bedeutung des rumänischen Sprach- und Kulturraums für sein dichterisches Hauptwerk auf Deutsch. 499 Neigen traditionelle hermeneutische Ansätze - wie etwa die wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Arbeiten von 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 245 <?page no="246"?> 500 Hans-Georg Gadamer, Wer bin ich und wer bist du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge »Atemkristall«. Frankfurt-a.-M.: Suhrkamp, 1986. 501 Siehe Thomas Sparr, Paul Celans Poetik des hermetischen Gedichts. Heidelberg: Winter, 1989, S.-83. 502 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească. Siehe auch Schlesak, »Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie«. 503 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-121. 504 Siehe Corbea-Hoisie, »Paul Celan und die rumänische Sprache«, S.-200. 505 Siehe Bianca Bican, Die Rezeption Paul Celans in Rumänien, Wien-Köln-Weimar, Böhlau, 2005. Siehe auch Laura Cheie, »Celan und die rumänische Avantgarde. Glossen zur Rezeption«. In: Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive, Bd. 11, S.-139-149. 506 Vgl. seinen Brief an Alfred Margul Sperber vom 12. September 1962, zitiert nach Paul Celan, dimensiunea românească, S.-271. 507 George Guțu, Paul Celans frühe Lyrik und der geistige Raum Rumäniens. Kultur-, literaturwissenschaftliche und dokumentarische Beiträge (Celaniana 1). Berlin: Frank & Timme, 2020, Ders., Die Lyrik Paul Celans und die rumänische Dichtung der Zwischenkriegszeit. Kultur-, literaturwissenschaftliche und dokumentarische Beiträge (Celaniana 2). Berlin: Frank & Timme, 2020. Hans-Georg Gadamer 500 - zu einer teils eklatanten Vernachlässigung des inter‐ kulturell-mehrsprachigen Hintergrunds von Celans Werk, indem sie Fremdheit primär als zu bewältigendes Problem betrachten, 501 so sind in den 1980er-Jahren insbesondere auf rumänischer Seite Gegenstimmen laut geworden, die Celans »rumänische Dimension« 502 auf kultureller und sprachlicher Ebene hervor‐ heben. Petre Solomon, der das Schaffen des Dichters während der Bukarester Zeit eng mitverfolgen konnte, geht dabei so weit, das Rumänische als »zweite Muttersprache« des Dichters zu bezeichnen 503 , was in der Forschung kontrovers diskutiert wurde. Wird der rumänische Teil des Œuvres von den einen zu Unrecht als eine Art ›minderwertige‹ Vorstufe abgetan, wird es - gleichsam als Gegenreaktion - von anderen als entscheidender Einfluss auf das Hauptwerk tendenziell überbewertet. 504 Teilweise wurde dabei - oft aus politischen und ideologischen Gründen - die Prägung durch die rumänische Sprache, Literatur und Kultur über Paul Celans Zugehörigkeit zur deutschen Dichtung gestellt. 505 In den vergangenen Jahren hat sich vorrangig der Bukarester Germanist George Guțu in seinen Veröffentlichungen für die »karpatische Fixiertheit« 506 des Dichters und die Einschreibung seiner frühen Lyrik in den »geistigen Raum Rumäniens« stark gemacht, jedoch auf einer teils methodisch fragwürdigen Basis. 507 Im Bemühen einer Revidierung des deutschlandzentrierten Bildes vom Dichter, so kann man sagen, schießt er mit seinem Ansatz gewissermaßen über das Ziel hinaus. 246 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="247"?> 508 Wiedemann, »Zu Paul Celans Bukarester Prosa«, S.-119. 509 Siehe ebd. 510 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-102. Nach Ansicht Wiedemanns hingegen überwiegt eindeutig Celans »Verwur‐ zelung« in der deutschen Literatur, weshalb sie den Versuch des Dichters, in der rumänischen Literatur »heimisch« zu werden, trotz der anerkannten Leistungen in dieser Sprache letztlich für gescheitert erklärt. 508 So betrachtet erscheint die Bukarester Zeit als nahezu unfruchtbare Sackgasse. Diese fast diametral entgegengesetzten Sichtweisen der Forschung, was Bewertung und Einordnung von Celans Bukarester Literaturproduktion betrifft, können jedoch relativiert werden. Einer festen Einordnung in ein einziges Literatursystem ent‐ ziehen sich Celans Bukarester Texte ja gerade durch ihre multiple Zugehörigkeit auf literarisch-kultureller Ebene, wobei sie rumänische, deutsche und jüdische Einflüsse untrennbar miteinander vereinen. 509 Aus diesem Grund kann man diesem größtenteils experimentell zu nennenden Werkteil mit einsprachigen und monokulturellen Kategorien kaum gerecht werden. In einer solchen Per‐ spektive müssen diese Texte zwangsläufig als marginal und fremd erscheinen, weshalb man sie sogar mit vom Himmel gefallenen »Meteoriten« vergleicht. 510 Aus diesem Grund soll wie angekündigt im Folgenden die immer wieder gestellte Frage, ob Paul Celan ein rumänischer Dichter war, hätte sein wollen oder können, unbeantwortet gelassen werden. Im vorliegenden Untersuchungs‐ rahmen geht es vielmehr darum zu untersuchen, inwiefern seine Experimente mit der rumänischen Sprache auf seinen späteren Einsatz anderer Sprachen innerhalb seiner deutschen Dichtung vorausweisen. Nicht das konkurrierende Gegeneinander der verschiedenen Einflüsse soll dabei im Mittelpunkt stehen, sondern eben die Art und Weise, wie das Zusammenspiel der verschiedenen Sprachen die Einmaligkeit von Celans poetischem Idiom begründet. Das Rumänische als Komplementärsprache Bei Celans rumänischer Textproduktion ist zunächst auffällig, dass das Rumä‐ nische - nach den Gräueln des Krieges, dem im Namen Deutschlands verübten Massenmord an den europäischen Juden und der Ermordung der eigenen Eltern durch die NS-Schergen - als eine Art Ersatzsprache für das Deutsche in Erscheinung tritt. Natürlich drängte sich das Rumänische dem jungen Dichter damals allein schon durch seine Omnipräsenz in Alltag, Freundeskreis und Arbeitsleben auf. Doch gegenüber dem Deutschen, das durch »tausend Finsternisse todbringender Rede« (GW III, 185-186) gegangen war, erschien die Literatursprache Rumänisch zudem als relativ unbelastet, selbst wenn die psychologischen Auswirkungen der von rumänischer Seite ausgegangenen an‐ 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 247 <?page no="248"?> 511 Vgl. Corbea-Hoisie, »Paul Celan und die rumänische Sprache«, S.-207-208. 512 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-105. tisemitischen Repressionen in Czernowitz nicht unterschätzt werden dürfen. 511 In einer späteren Darstellung sollte Celan das Rumänische sogar einmal als »fremde Sprache« (Mikrolithen, 189) bezeichnen, was womöglich mit seiner Rolle bei der Unterdrückung von Minderheiten, ja als Tätersprache zusammen‐ hängt. Dennoch vermittelt der auf französisch formulierte Ausdruck »la belle saison des calembours« (in etwa: »die schöne Zeit der Wortspiele«), mit dem der Dichter in einem Brief an Petre Solomon die Bukarester Zeit zusammenfasst (Briefe, 33), zunächst ein ausgesprochen positives Bild vom Rumänischen. Die nostalgische Erinnerung an die Bukarester Zeit, wie sie hier zum Ausdruck kommt, wird direkt mit der Freude an der rumänischen Sprache verbunden. Nimmt man den Ausdruck »la belle saison des calembours« ernst, so scheint das Rumänische zunächst für einen spielerisch-unschuldigen Umgang mit Sprache zu stehen, der im Deutschen zu dieser Zeit nicht mehr ohne Weiteres möglich war. Bereits vor der Veröffentlichung von Celans erstem Gedichtband Der Sand aus den Urnen (1948, vom Autor zurückgezogen) bzw. Mohn und Gedächtnis (1952) tritt somit - zumindest zeitweise - eine andere Sprache als eine ›Gegensprache‹ auf den Plan, in Distanz zur Muttersprache, ja zur Distanzgewinnung gegenüber der ›Mördersprache‹. Die Sprachkrise erscheint hier als ein Ausgangspunkt für den Sprachwechsel. In dieser Hinsicht kündigt das Rumänische bereits eine wichtige, grundlegende Funktion von Mehrsprachigkeit im späteren Werk an, wobei Humor und Komik mit der Zeit einem härteren, polemisch-sarkastischen Impetus Platz machen sollten. Als Zeuge der Bukarester Periode hatte Petre Solomon schon 1987 diese Verbindung zwischen dem mehrsprachigen Bukarester Frühwerk und Celans spezifischer Schreibweise während der Pariser Zeit gezogen. So wie der Dichter später das Deutsche durch den Einsatz fremder Sprachen einem »Prozess der Transformation« unterzogen habe, so habe ihm, laut Solomon, der ›Umweg‹ über das Rumänische zuvor erlaubt, eine kritische Distanz gegenüber der Mutterzunge zu gewinnen. 512 Zwar habe Celan, wie er betont, von vornherein die Rückkehr zum Deutschen geplant, doch habe ihm das Experimentieren mit dem Rumänischen zu dem literaturästhetisch fundamentalen Schritt befähigt, sich aus einer krisenhaften Situation in der deutschen Muttersprache frei zu schreiben und sich sprachlich zu erneuern. 248 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="249"?> 513 Siehe Forster, The poet’s tongues. Siehe auch Weissmann, »Die Erneuerung der deutschen Literatur von ihren sprachlichen Rändern her: Translinguales Schreiben um 1900«. Germanistik in der Schweiz. Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik, Heft 10, 2013, S.-319-328. 514 Siehe u.-a. Wiedemann-Wolf, Studien zum Frühwerk, S.-125-126. 515 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-81ff. Insgesamt zeigt Solomon in seiner überaus wertvollen Darstellung der Bu‐ karester Zeit, wie sich der junge Dichter die sprachlichen Ressourcen des Rumänischen virtuos angeeignet hat und dabei zu teilweise beeindruckenden literarischen Leistungen gelangt ist, die ihm letztlich den Weg zu einer neuen Dichtung in deutscher Sprache eröffnet haben. Dem kann ergänzend hinzuge‐ fügt werden, dass sich in der europäischen Literaturgeschichte eine Reihe von ähnlichen Beispielen finden lässt, wo der Weg zum eigenen Idiom erst im Experimentieren mit anderen Sprachen gefunden wurde. 513 Bei Paul Celan handelt es sich dabei allerdings nicht nur um ein mehr oder weniger zu vernachlässigendes Übergangsstadium in der Entwicklung zum monolingualen deutschen Dichter, sondern gerade um den Ausgangspunkt einer multilingual orientierten Poetik. Über die Perspektive des Sprachwechsels und Sprachkontakts hinaus lassen sich im Bukarester Korpus ebenfalls stilistische Einflüsse der stark vom Surrea‐ lismus geprägten rumänischen Literatur dieser Zeit ausmachen, wie hier am Rande vermerkt werden soll. Diese Einflüsse sind neben dem Hang zum Sprach‐ spiel ebenfalls auf motivisch-bildlicher und poetologischer Ebene zu verorten. 514 Ein bedeutender rumänischer Avantgarde-Autor, bei dem ein gewisser Einfluss auf Celans Schreiben vermutet werden kann, ist Tudor Arghezi (1880-1967). In eingeschränkterem Maße können in diesem Zusammenhang auch Gellu Naum (1915-2001) und Virgil Teodorescu (1909-1987) genannt werden sowie Paul Păun (1915-1994) und Gherashim Luca (1913-1994), wobei die Bedeutung letzterer für Celans Schreiben nicht unumstritten ist. Fest steht jedenfalls, dass Celan während seiner Pariser Jahre eng mit Luca, dessen französische Dichtung durch und durch vom Sprachspiel geprägt ist, befreundet war. Das Rumänische als kreativer Spielraum Solomon betont nicht nur die Popularität der literarischen Figur des calembour in der rumänischen Literatur der Nachkriegszeit, 515 sondern macht darüber hinaus eine sprachliche Leerstelle aus, die das Rumänische in Celans Schreiben ausgefüllt habe. So erinnert er daran, dass die Vokalstruktur der romanischen Sprachen im Allgemeinen und des Rumänischen im Besonderen sowie die dort anzutreffende hohe Anzahl von Homonymen (bzw. Homophonen) diese zum 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 249 <?page no="250"?> 516 Ibid., S. 79. Zur Rolle der Homophonie in der rumänischen Literatur siehe u. a. Nina Cassians Lyrikband Loto-Poeme (Bukarest: Editura Albatraos, 1972). 517 Holthusen, »Fünf junge Lyriker II«, S.-385. privilegierten Medium von sprachspielerischem Schreiben machen. 516 Spätes‐ tens seit der Epoche des Symbolismus beruht der Einfluss der romanischen Literaturen auf deutschsprachige Autoren in der Tat nicht zuletzt auf solchen spezifisch klanglichen Qualitäten, die sich im Deutschen nur schwer erzeugen lassen. Trotzdem haben Lyriker wie Rainer Maria Rilke und Stefan George immer wieder versucht, diese in ihren deutschen Texten nachzubilden. Bereits 1954 hatte der Literaturkritiker Egon Holthusen diesen Versuch, Prin‐ zipien der modernen französischen Lyrik, insbesondere des Symbolismus, auf die deutsche Sprache zu übertragen, in Celans Gedichten wiedererkannt. Jedoch sah er darin gerade einen fundamentalen Mangel (an deutscher Originalität) und damit einen Grund zur Zurückweisung dieser Lyrik. 517 Heutzutage sieht die komparatistische Forschung in solchen Transferenzen eines der grundlegenden Prinzipien literarischer Innovation, wie es auch Solomons Darstellung nahelegt. Mehr noch als später im Französischen kommt dieser Einfluss bei Celan eben in seiner rumänischen Produktion zum Ausdruck, wie es insbesondere die sprachspielerischen Gemeinschaftsarbeiten mit dem Bukarester Freund zeigen (Mikrolithen, 11-17 und 85-87). So spielt etwa einer dieser gemeinschaftlich mit Solomon verfassten rumä‐ nischen Aphorismen (»Ai fost sicriul din car am coborît ca să scriu aceasta«, Mikrolithen, 12) mit der klanglichen Nähe zwischen den Wortformen ›sicriu‹ (= Sarg) und ›scriu‹ (= ich schreibe) (s. Mikrolithen, 279). Über die humorige Dimension solcher surrealistisch beeinflusster Sprachspiele hinaus kann bei diesem Text die Frage gestellt werden, ob dieses Verfahren nicht auf die Ein‐ gangsverse des berühmten Gedichts »Engführung« (GW I, 195 ff.) vorausweist, wo Celan in verwandter Weise das Palindrom von ›Sarg‹ in Verbindung mit dem Verb ›schreiben‹ verwendet: »Gras, auseinandergeschrieben« (V. 4). Fest steht jedenfalls, dass es in diesen im Austausch mit Petre Solomon entstandenen rumänischen Texten geradezu von Techniken wimmelt, die allesamt im späteren Werk eine zentrale Rolle spielen werden (Wortspiele, Wortschöpfungen, Poly‐ semie, Homonyme, Metathesen usw.). Ein besonders interessantes Beispiel aus der Bukarester Textproduktion liefert der Aphorismus »Paul Celan: persona gratata« (Mikrolithen, 12), bei dem es sich um ein in sich multilinguales Sprachspiel handelt. Im mehrsprachigen Kofferwort »gratata« treffen nämlich das lateinische Wort ›grati‹ bzw. ›grata‹ (erwünscht[e Person], hier in der Gestalt des Partizips Perfekt: ›gratata‹) und das rumänische Wort ›grătată‹ (= geröstet, gegrillt, gebacken) zusammen. 250 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="251"?> 518 Vgl. auch den mehrsprachigen Aphorismus in Mikrolithen, 15 (Nr. 1.35), bei dem die Autorschaft Celans jedoch nicht gesichert ist (s. Mikrolithen, 287). 519 Siehe Wiedemann, »Zu Paul Celans Bukarester Prosa«, S.-99. 520 Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-85. 521 Ebd., S.-88. Der Dichter erscheint hier also in Gestalt einer ›erwünschten‹ und zugleich ›gerösteten‹ Person. Womöglich könnte man darin einen Verweis auf den Topos des poète maudit sehen, der später im Kontext der Goll-Affäre bei Celan eine so zentrale Rolle einnehmen sollte. Nach einer zweiten Lesart muss »gratata« natürlich ebenfalls als eine Anspielung auf die Kremationsöfen der Vernichtungslager gelesen werden. Formal betrachtet handelt sich bei diesem sprachlichen - und womöglich makabren - Witz vor allen Dingen um eine Form von Anderssprachigkeit, die in sich mehrsprachig und mehrdeutig ist. 518 Unter dem Gesichtspunkt der Gattungspoetik kann das Prosagedicht als spe‐ zifisch rumänische Form innerhalb von Celans Literaturproduktion bezeichnet werden, denn es sollte nach dieser Zeit vollständig aus seinem Schreiben ver‐ schwinden 519 Das nach der Bukarester Periode auf Französisch weitergeführte aphoristische Schreiben ist ebenfalls eng mit dem Wechsel ins Rumänische ver‐ bunden. Der in der Forschung kontrovers diskutierte Einfluss der rumänischen Literatur auf Celan ist folglich in erster Linie sprachlicher, sprachspielerischer, ja gleichsam phonetischer Natur, wie es sie sich eben im calembour zeigt. Wie Solomon überzeugend dargestellt hat, hat der Dichter über das Experimentieren mit dem Rumänischen auf stilistischer, prosodisch-klanglicher Ebene ganz neue, seiner deutschen Mutterzunge latent fremde sprachliche Mittel erproben können. Mithin geht die sein gesamtes Werk durchziehende sprachexperimen‐ tell-ludische Dimension letztlich auf diese rumänische Periode zurück. Der Dichter selbst hat in einem bereits zitierten Brief an die Lyrikerin Nina Cassian - eine enge Bekannte der Bukarester Periode - die komplementäre Rolle des Rumänischen betont. Er schreibe immer noch deutsch, erklärt dort der Dichter, denke aber manchmal an die »Privilegien« zurück, die den rumänischen Versen auf sprachlicher Ebene innewohnen (Briefe, 247). Solch ›privilegierte‹ Sprachmittel scheinen literarisch ungemein stimulierend gewirkt zu haben. Solomon erinnert sich daran, während der Bukarester Zeit eine regelrechte, durch das Rumänische bewirkte »sprachliche Eruption« bei seinem Freund beobachtet zu haben. 520 Diese habe es ihm erlaubt, nicht nur Distanz gegenüber dem Deutschen als Tätersprache zu gewinnen, sondern sich vom Korsett der literarischen Konventionen zu befreien und neues sprachliches Terrain zu betreten. 521 Darin liegt für ihn der Schlüssel zum Verständnis von Celans spezifi‐ scher Sprachverwendung, die unter anderem im Kontakt mit dem Rumänischen 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 251 <?page no="252"?> 522 Ebd, S.-102. 523 Schlesak, »Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie«. 524 Corbea-Hoisie, »Paul Celan und die rumänische Sprache«, S.-213. 525 Siehe Solomon, »Briefwechsel mit Paul Celan«, S. 69. Siehe auch Wiedemann, »›…im Angesicht der Einsamkeit‹. Paul Celans unveröffentlichte Übersetzungen von Gedichten der rumänischen Lyrikerin Nina Cassian«. In Lehmann/ Ivanović (Hrsg.), Kontinuität und Entwicklung in Paul Celans Übersetzungswerk, S.-149-161. 526 GW VII, 217, V. 10. entstanden sei. 522 Obwohl das Rumänische wieder schnell aus seinem Schreiben verschwinden sollte, habe es doch auf diese Weise einen das gesamte Werk prägenden Einfluss besessen. Im Rahmen der vorliegenden Studie erweisen sich Solomons Darstellungen und Analysen aus den 1980er Jahren als wegweisend. Ohne Celans rumänische Texte überzubewerten - wobei er durchaus ihre sprachlichen und ästhetischen Grenzen aufzeigt -, macht der Jugendfreund deutlich, inwiefern die Bukarester calembours den Grundstein für die mehrsprachige Poetik Paul Celans legten. Die untergründig fortbestehende Präsenz der rumänischen Einflüsse bildete fortan einen bedeutenden Teil der »verborgenen Partitur« 523 seines poetischen Spre‐ chens. Wie Andrei Corbea-Hoisie - unter anderem im Anschluss an Solomon - feststellt: »Die rumänische Sprache begleitete aus der zeitlichen Ferne (und wahrscheinlich aus den ›Tiefenstrukturen‹ der dichterischen Sprache) das reife dichterische Werk, ohne dabei doch selbst die ›Oberfläche‹ zu markieren«. 524 Der unmittelbar ›sichtbare‹ Einfluss der rumänischen Sphäre in Celans Leben und Werk besteht in dem anhaltenden Kontakt zu den damaligen Freunden und dem - nicht zu Ende gebrachten Projekt - eine Reihe rumänischer Gedichte in deutscher Fassung zu veröffentlichen. 525 Die ›untergründige‹ Präsenz des Ru‐ mänischen in den deutschen Gedichten ab Mohn und Gedächtnis (1952) hingegen wird unter dem Gesichtspunkt der latenten Multilingualität auf textinterner Ebene im sechsten Kapitel weiter untersucht. 4.4.2 »Französisch, ich sprach es so gut.« Die Rolle des Französischen als Zweitsprache des Dichters gleicht in mancher Hinsicht der des Rumänischen, denn ab 1949 wurde es ihm in seiner neuen, Pariser Wahlheimat ebenfalls zur Sprache des Alltags und der Arbeitswelt. In einem Nachlassgedicht aus dem Jahr 1968 erklärt das lyrische Subjekt dazu rückblickend: »Französisch, ich sprach es so gut.« 526 Wie im Fall des Rumänischen gehen die Ursprünge von Celans perfekter Beherrschung des Französischen auf die Bukowiner Zeit zurück, wobei das im französischen Tours verbrachte Studienjahr 1938-39 sicherlich entscheidend zur Perfektionierung 252 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="253"?> 527 In Celans Tagebüchern, als deren Adressatin stets Gisèle Celan-Lestrange mitgedacht werden muss, wechselt das Deutsche regelmäßig mit dem Französischen, wobei auch das Rumänische und Russische präsent sind. Stellenweise diktiert dabei Celan seiner Frau die Einträge. In besimmten Lebensphasen führt letztere sogar das Tagebuch an seiner Stelle, sodass teilweise von einem Gemeinschaftswerk gesprochen werden kann (Hinweis Badiou). der Sprachkenntnisse beigetragen hat. Allerdings ist die französische Sprache weitaus enger als das Rumänische mit Fragen der Identität verknüpft. Wird die »Trikolore« im Gedicht »Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle« auch nicht mit einem französischen, sondern mit einem »russischen Wort« (GW I, 261, V. 9-10) gegrüßt, da es sich dabei zuvorderst um ein Freiheitssymbol und weniger um ein Nationalsymbol handelt, darf nicht vergessen werden, dass das Französische für den 1955 eingebürgerten Dichter nicht zuletzt die Sprache seiner Staatsnation war. In einem autobiographischen Aphorismus aus dem Jahr 1961 bekennt er so in der ›Sprache der Trikolore‹ auf fast patriotische Weise: »J’aurai beaucoup aimé la France, moi. Avec tout mon amour.« (Mikrolithen, 36, Hervorhebung in der Quelle) Neben dieser gleichsam offiziellen Seite als Sprache des französischen Staatsbürgers und im öffentlichen Dienst arbeitenden Universitätsdozenten verkörpert das Französische auch eine Form von Privatheit, die so im Rumä‐ nischen höchstwahrscheinlich nicht existiert hat. In privaten Dokumenten wie dem Briefwechsel mit seiner Frau Gisèle sowie in der Lyrik aus dem Nachlass transportiert das Französische in der Tat häufig einen hohen Grad an Intimität und Affektivität. In dem bereits zitierten Gedicht »Muta« (s.-3.1.4) repräsentiert so das Französische gleichsam den familiären Nukleus (»Seul -; zu dreien gesprochen«, GW VII, 63, V. 1) als eine Art Widerstandszelle gegen die Widrigkeiten und Anfeindungen der öffentlichen Sphäre, inklusive des deutschen Literaturbetriebs. Wie das bisher unpublizierten Tagebuch des Dichters bestätigt, stellt das Französische für das Ehepaar Celan eine gemein‐ same, geteilte Sprache im eigentlichsten Sinne dar. So lässt sich dort anhand der französischsprachigen Einträge beobachten, wie sich die Stimmen der beiden Ehegatten in den Aufzeichnungen überlagern, bis hin zu Formen von Ko-Autorschaft. 527 Der intime und affektive Charakter des Französischen für den Dichter wird - neben einigen in den Gedichten auftretenden französischen oder aus dem französischen übersetzten Schlüsselwörtern, von denen noch die Rede sein wird - hauptsächlich in der sich von 1952 bis zu seinem Freitod erstre‐ ckenden und viele Hundert Briefe umfassenden Korrespondenz mit Gisèle de Lestrange anschaulich (PC-GCL). Im Austausch Celans mit seiner Ehefrau 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 253 <?page no="254"?> 528 Wiedemann, »Briefe«. In: May/ Goßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Handbuch, S. 220-239, hier S.-223. 529 Maurice Olender, »Avant-propos«, PC-GCL, I, 7-10, hier S.-8 530 Celan/ Char, Correspondance. 531 Bertrand Badiou, »›… vivant et redevable à la poésie‹: le dialogue entre Paul Celan et André du Bouchet à travers sept lettres écrites au tournant de 1968«. Europe, 986-987, Juni-Juli 2011, S.-208-232. 532 Solomon, »Briefwechsel mit Paul Celan 1957-1962«. Zum Französischen als Verkehrs‐ sprache siehe auch die poetologischen Notizen für ein französischsprachiges Interview mit dem israelischen Sender Kol Israel aus dem Jahr 1968 (Mikrolithen, 123 u. 603). 533 In Bezug auf den historischen Hintergrund dieser Sprachkonkurrenz kann daran erinnert werden, dass in der Geschichte des deutschen Sprachnationalismus gerade die Opposition zum Französischen seit Mitte der 18. Jahrhunderts eine tragende Rolle spielte. Im Anschluss an Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) prägte dieser avanciert das Französische naturgemäß zu einer Sprache der Liebe, die teilweise auf das Gedichtwerk ausstrahlt. Anlässlich der Veröffentlichung dieses für Celans Leben und Werk in vielerlei Hinsicht zentralen Briefwechsels im Jahr 2001 entdeckten viele deutschsprachige Leser des Dichters überrascht »seine elegante, facettenreiche französische Briefprosa«. 528 Nach der »dimensiunea românească« kam für Forschung, Kritik und Leserschaft die »part française« des deutschsprachigen Autors zum Vorschein. In seiner Wahlheimat wurde Celan allerorten als »écrivain de langue française« gefeiert, wie es im Vorwort zur französischen Originalausgabe heißt. 529 Auch andere französischsprachige Briefwechsel, wie die mit dem berühmten Lyriker René Char 530 oder mit anderen Dichterkollegen wie dem engen Freund Andre du Bouchet, 531 bringen mitunter beeindruckende literarische Fähigkeiten Celans in seiner französischen Zweitsprache zum Vorschein. Wie bereits er‐ wähnt wechselt daneben der Briefwechsel mit Petre Solomon ab 1958 vom Ru‐ mänischen ins Französische, was von einem steigenden Abstand gegenüber der Sprache der Jugend zeugt, wohingegen sich das Französische zur dominanten Verkehrssprache entwickelt. 532 Da viele der französischsprachigen Korrespon‐ denzen noch ihrer Herausgabe harren und selbst veröffentlichte Briefwechsel wie der mit Char noch nicht in einer deutschsprachigen Ausgabe vorliegen, blieb dieser Teil der Schreibpraxis Celans dem nicht frankophonen Leser bisher größtenteils verborgen. Die ›part française‹ des Dichters Aufgrund von Paul Celans enger Verbindung zum französischen Sprach- und Kulturraum hat sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte eine gewisse Kon‐ kurrenzsituation gegenüber den deutschsprachigen Ländern herausgebildet. 533 Hatte der französische Germanist Claude David schon 1972 Celan als »poète 254 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="255"?> Antagonismus ebenfalls die Ausbildung nationaler und nationalistischer Paradigmen in Literatur, Philosophie und Wissenschaft. 534 Claude David, »Préambule«. Études germaniques, 4, 1970 [1971], S. 239-241, hier S. 239. 535 Dabei muss angemerkt werden, dass es sich bei »Nouveaux poèmes« nicht um einen Vorstufentitel handelt, sondern um einen wahrscheinlich von Gisèle Celan-Lestrange notierten Arbeitstitel, der rein pragmatischen Klassifizierungszwecken diente. 536 Rilke, Gedichte in französischer Sprache. Hrsg. v. Manfred Engel u. Dorothea Lau‐ terbach. In: Ders., Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Supplementband. Frankfurt-a.-M.: Insel, 2003. français de langue allemande« 534 , also als französischen Dichter (deutscher Sprache) bezeichnet, so verliehen die in den 2000er-Jahren veröffentlichten französischsprachigen Texte der ›französischen Dimension‹ Celans naturgemäß ein viel stärkeres Gewicht als in der früheren Rezeption. Ein bedeutender Unterschied gegenüber der rumänischen Produktion des Dichters besteht allerdings darin, dass Celan sich niemals mit der Absicht getragen hat, ein Schriftsteller französischer Zunge zu werden. Im Gegensatz zum Rumänischen gibt es keine wirklich deutsch-französische Zweisprachigkeit literarischer Art, auch nicht vor der verhängnisvollen Begegnung mit Yvan und Claire Goll, die seine öffentliche Gegnerschaft zu einer solchen Polyglossie entscheidend beeinflussen sollte. Trägt das Titelblatt der Mappe, in dem das Konvolut der später im Band Die Niemandsrose veröffentlichten Gedichte aufbewahrt wurde, auch die fran‐ zösische Überschrift »Nouveaux poèmes / Mars 1959« 535 (TCA, NR, 2), hat Celan im Gegensatz zu Rilke - einem seiner ›Vorgänger‹ als deutschsprachiger Lyriker in Paris 536 - nie wirklich auf Französisch gedichtet. Der Hauptgrund hierfür ist sicherlich die Tatsache, dass der Dichter zum Zeitpunkt seiner Übersiedlung nach Paris sein »Schicksal«, als Überlebender und Jude weiterhin deutschsprachige Gedichte schreiben zu müssen (Briefe, 27), bereits bewusst auf sich genommen hatte. Die Sprachaporie ›Muttersprache-Mördersprache‹ war zu diesem Zeitpunkt, also um 1950, schon zum grundlegenden poetologi‐ schen Prinzip seiner Dichtung geworden. Trotzdem übte das Französische als omnipräsente Sprache des Alltags einen überragenden Einfluss auf Celans Sprachbewusstsein aus, wie er es selbst 1954 in einem Interview gegenüber Karl Schwedhelm festgestellt hat: Ich muß also in Paris eine gewisse Sprachhygiene beobachten. Das heißt, ich befinde mich in einem Gegenüber mit der anderen Sprache. Und wenn ich zum Beispiel an - ein konkretes Beispiel -, wenn ich auf eine französische Wendung stoße, die mir im Deutschen nicht sogleich, also im Handumdrehen geläufig ist, so muß ich natürlich 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 255 <?page no="256"?> sofort zum Wörterbuch rennen und mir mein eigenes Sprachgut wieder neu bewahren und sichern. (Mikrolithen, 189) Das in diesen Zeilen angesprochene »Gegenüber mit der anderen Sprache« weist auf die Situation permanenter Diglossie oder Zweisprachigkeit im Alltag hin. Im Kontext dieses sprachlichen Exils stellt das Französische für den deutsch‐ sprachigen Dichter einerseits eine »Gefahr« für sein deutsches »Sprachgut« dar, erlaubt aber andererseits ebenfalls eine »Vertiefung des Sprachgefühls« (ebd.) und einen schärferen Blick auf die Muttersprache, wie er anschließend feststellt: Das Französische ist eine besonders starke und […] herrische Sprache, ja, fordernde Sprache, die also recht behalten will, die ich also irgendwo auch recht behalten lasse, indem ich ihr den Beweis ihrer Tiefe auf der Ebene des - der deutschen Entsprechung zu geben versuche. (ebd.) Die Zweitsprache Französisch, deren latente Dominanz hier benannt wird, erscheint also in diesem Interview als starker Impulsgeber für die Spracharbeit des Dichters. Gerade im aphoristischen Werk in französischer Sprache tritt diese komplementäre und zum Teil führende Funktion der Zweitsprache in Erscheinung, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Auch beim Briefeschreiben scheint sich das Französische immer wieder gleichsam unter der Hand Celans durchzusetzen, wie etwa folgende Stelle aus einem Briefentwurf an Friedrich Michael aus dem Jahr 1961 belegt: »C’est là - erlauben Sie es dem Büchner-Leser Paul Celan, es mit diesen welschen Worten zu sagen -, c’est là, ma foi, que la poésie m’a enjambé! « (Briefe, 520) Das unnachahmliche Verb ›enjamber‹ (etwas überqueren, über etwas hinwegsteigen, etwas überspannen), das direkt auf den für die moderne Lyrik so charakteristischen Zeilensprung (Enjambement) verweist, scheint hier den Rückgriff auf das Französische zu motivieren, ja notwendig zu machen. Durch das Adjektiv ›welsch‹, einer im Laufe der Geschichte von deutschnationalen Kreisen immer wieder abwertend benutzten Bezeichnung für die Romania, wird das Französische dabei zusätzlich als gleichsam antagonistischer Gegenpol zum Deutschen markiert. Celans französisches Gedicht an den Sohn Insgesamt ist das Französische in Celans Werk weitaus präsenter als das Rumä‐ nische, was primär auf der Ebene der textinternen Multilingualität sichtbar wird (s. Kap. 5 u. 6). Zudem erstreckt sich der prägende Einfluss dieser Sprache über einen um ein Vielfaches längeren Zeitraum - vom ersten Sprachunterricht in Czernowitz über das Studium in Tours und die frankophile Bukarester Literatur‐ szene bis zum Freitod in der Seine. Dennoch ist nur ein einziges abgeschlossenes 256 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="257"?> 537 Über das Bild der Zeitmessung wird hier wiederum - verkörpert durch die Uhr - Celans jüdische Herkunft in Gestalt der ermordeten Mutter sichtbar. Celan trug nämlich zeit seines Lebens eine von der Mutter als Geschenk erhaltene Armbanduhr am Handgelenk, die er im Moment des Freitods in der Seine bewusst abnahm und auf seinem Schreibtisch hinterlegte, um sie als hochsymbolisches Erbstück vor der Zerstörung zu bewahren. Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-528. französischsprachiges Gedicht aus der Hand des Dichters überliefert. Bei diesem auf Ende Juli 1968 datierten Nachlassgedicht handelt es sich allerdings um ein literarisch sehr wertvolles und hoch aufschlussreiches Zeugnis, das aus zwei Jahrzehnten Abstand zur Bukarester Zeit an die sprachspielerischen Impulse der Jugend anzuschließen scheint. Dieses in einer sehr sorgfältigen Reinschrift überlieferte Gedicht an den Sohn Éric sei hier zunächst vollständig zitiert: - Ô LES HÂBLEURS, - n’en sois pas, - ô les câbleurs, - n’en sois pas, 5 l’heure, minutée, te seconde, - Eric. Il faut gravir ce temps. - ton père - t’épaule. (GW VII, 229) Die Kontinuitätslinie, die von den surrealistischen Sprachspielen in dem weiter oben erwähnten rumänischen »Abendbüchlein« zu diesen französischen Ge‐ dichtzeilen aus den letzten Pariser Lebensjahren führt, tritt insbesondere an zwei Stellen zum Vorschein: In der Mitte des Textes (V. 5) spielt der Dichter erstens mit den Doppeldeutigkeiten der drei Zeitangaben »heure« (d. h. ›Stunde‹), »minute[r]« (als Nomen ›Minute‹, sowie als Verbum ›vorausplanen‹) und »seconde« (= ›Sekunde‹, als Verbform auch ›unterstützen‹). Diese Reihung mündet in der Devise: »il faut gravir ce temps«, sinngemäß: »Man muss diese Zeit überwinden«. 537 Wie hier ersichtlich wird, greift der französische Text in sprachspielerischer Weise auf Bilder des Schutzes, der Wachsamkeit und der Solidarität zurück. Zweitens führen die anschließenden Verse diesen Faden anhand des semantisch nahen Verbs »épauler« (V. 8 = unter die Arme bzw. Schultern greifen) weiter und verbinden damit den Vornamen des unter‐ stützenden Vaters ›[é]Paul[e]‹ mit einer Apostrophe an den damals dreizehn‐ jährigen Sohn Éric. Der Eigenname erscheint also gleichsam anagrammatisch gleichgesetzt mit der Funktion des väterlichen Beistands. Die Verbindung mit dem Autorennamen wird dadurch verstärkt, dass das Gedicht handschriftlich auf einem Blatt Papier notiert wurde, das den dekorativen Abdruck eines Blattes 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 257 <?page no="258"?> 538 Siehe das Faksimile ebd., S.-422. 539 Vgl. ebd., S.-267. 540 Siehe Paul Celan - Die Goll-Affäre, S.-292f. und passim. des Paulownia-Baumes trägt. 538 Diese identifikatorische Assoziation zwischen ›Paul‹ und ›Paulownia‹ lässt sich ebenfalls in Gedichten wie »La Contrescarpe« (GW-I, 282, V.-34) ausmachen. Von einem anderen Blickpunkt aus könnten die Verse »Ton père / t’épaule« als translatorisches Selbstzitat der Stelle »sooft ich Schulter an Schulter / mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer« im Gedicht »Du darfst« (GW II, 11, V. 3-4) aus dem Jahr 1963 gelesen werden (s. NKG, 848). Gestützt wird diese biographische Deutung durch die Tatsache, dass dieser andere Baum für den Dichter nachweislich als Symbol der Mitglieder seiner Familie fungierte, wie unter anderem durch den Briefwechsel mit seiner Frau belegt ist (s. PC-GCL, II, 324 f.). 539 Das gemeinsame ›Schreiten‹ (»Schulter an Schulter«) mit dem Maulbeerbaum könnte demzufolge durchaus auf die in »Ô les hâbleurs« zentrale Vater-Sohn-Beziehung verweisen, werden beide Gedichte zusammen gelesen. In Anbetracht der Tatsache, dass im Spätwerk das Phänomen des Selbstzitats einen zentralen Platz einnimmt, erscheint diese Lesart durchaus plausibel. Wie so viele Verfahren und Techniken bei Celan operiert das Selbstzitat hier nicht nur monolingual, sondern eben translingual. Der sprachspielerische Ansatz gewinnt somit in diesem französischen Ge‐ dicht eine ganz persönliche Dimension und verwandelt den Text in ein Wid‐ mungsgedicht des Vaters Paul an den Sohn Éric, zu einer Zeit, da der psychisch erkrankte Dichter aus Rücksicht auf die Familie aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Aber auch die ›öffentliche‹ Seite des Autors scheint im Text präsent zu sein, wenn man das zunächst etwas surreal anmutende Sprachspiel von »hâbleur« (Aufschneider, Prahler, V. 1) und »câbleur« (Kabelleger, Elek‐ triker, V. 3) als Anspielung auf den konservativen Journalisten Rainer Kabel begreift, der sich als einer der Hauptunterstützer Claire Golls sehr aktiv an der Pressekampagne gegen Paul Celan beteiligt hatte. 540 Der auf Zusammen‐ halt und gegenseitigem Beistand beruhende familiäre Rahmen wird auf diese Weise den ›großmäulerischen‹ Verleumdungsversuchen der deutschen Presse entgegengesetzt. Obwohl die Zeiten schwierig sind, wird es Vater und Sohn gemeinsam gelingen, die Krise zu überwinden, so der Tenor des französischen Gedichts. Hierbei wird nicht zuletzt ein weiteres Mal deutlich, welch elementare Rolle Celans andere Sprachen - insbesondere das Französische - in seinem Widerstand gegen das ›Goll-Lager‹ spielen. 258 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="259"?> 541 Zitiert nach ebd., S.-234. 542 Siehe Aneta Pavlenko: The Bilingual Mind: And What It Tells Us about Language and Thought. Cambridge: Cambridge University Press, 2014, S.-204f. 543 Die heuristische Rolle der französischen Sprache in Celans poetischer Arbeit wird auch daran deutlich, dass sie vereinzelt als Zielsprache von Übersetzungen russischer Texte diente. So weisen manche Bände russischer Literatur in seiner Bibliothek solche Übersetzungsspuren auf. Siehe HKA, 1, 400 sowie DLA Bibliothek Celan, BPC: QO062. Französische Reflexionen und Aphorismen Das Gedicht Celans an seinen Sohn blieb, wie alle seine literarischen Texte in französischer Sprache, ein Privatdokument. Viele französische Texte aus der Feder des Dichters situieren sich in einem solchen familiären Rahmen, wobei sie sich meist an Frau und Sohn zu richten scheinen. Das ist unter anderem der Fall bei der Beschwörungsformel »J’assume / Je résiste / Je refuse«, die der Dichter im Kontext der Goll-Affäre aufschrieb, wobei er diese Worte gleichzeitig an sich selbst und seine französische Familie adressierte. 541 Der intime Charakter des Französischen wird ebenfalls in vielen aphoristischen Notizen deutlich, in denen der Dichter sich an sich selbst richtet, wobei das Französische zu einem Vektor der Selbstreflexion wird. So beispielsweise in folgendem autobiographischen Aphorismus aus dem Jahr 1969: »Mon judaïsme: ce que je reconnais dans les débris de mon existence.« (»Mein Judentum: was ich noch unter den Trümmern meiner Existenz wiedererkenne«, Mikrolithen, 126) Die trotz aller Privatheit große Nähe solch selbstreflexiver Aufzeichnungen zum dichterischen Werk wird darin ersichtlich, dass sich dieser Aphorismus auf der ersten Niederschrift des Gedichts »Ein Stern« (GW III, 91, s. NKG, 1230) befindet, in dessen Entstehung weitere französische Materialien eingeflossen sind (s.-6.2). Wie es Celans Prosa aus dem Nachlass immer wieder deutlich macht, ist das Französische nicht nur die Sprache des Austauschs mit Kollegen, Freunden und Familienangehörigen, sondern immer wieder auch Medium eines poetologisch-autobiographischen Selbstgesprächs, in dem sich der Dichter auf Französisch an sich selbst zu wenden scheint. So kann die Wahl der Zweitsprache der Distanznahme zum eigenen Ich dienen und dabei helfen, eventuelle Ausdrucksblockaden zu überwinden. 542 Manches war für den Autor während der Pariser Zeit wohl in der Tat nur auf Französisch zu sagen, wie schon die Herausgeber der Prosa aus dem Nachlass festgestellt haben (s. Mikrolithen, 228-229). 543 Dabei ist natürlich nicht auszuschließen, dass solche Notate weitere (französische) Adressaten wie Frau und Sohn einschließen, wie es im Tagebuch der Fall ist. Außerdem erscheint, wie gezeigt, die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit oft als fließend. Manche dieser Aufzeichnungen transzendieren 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 259 <?page no="260"?> 544 Markus May, »Aphoristische Prosa«. In: May/ Goßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Hand‐ buch, S.-141-144, hier S.-141. 545 In der 14. Ausgabe (Sommer 1970) der von Celan bis zu seinem Freitod mitherausgege‐ beben Zeitschrift L'Éphémère. eindeutig den Rahmen persönlicher Aufzeichnungen, sodass ihnen als Apho‐ rismen durchaus ein genuin literarischer Status zukommt. Eine Art Modell der aphoristischen Textgattung in Celans Werk bilden die von ihm als »Gegenlichter« bezeichneten Texte, von denen die ersten 1949 in der Züricher Zeitschrift Die Tat veröffentlicht wurden (s. GW III, 163-165). Auch wenn der Großteil dieser auf Deutsch verfassten aphoristischen Texte zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb, spielen diese »Mikrolithen« und »Steinchen«, wie der Dichter sie mitunter bezeichnete, in seinem Schreiben eine zentrale Rolle, wobei sie sich oftmals in großer Nähe nicht nur zur Gattung des Briefes, sondern auch des Gedichts befinden. Wie Markus May schreibt, besitzt Celans aphoristische Praxis häufig den Charakter eines »Labors, in dem Ideen- und Gedankensplitter, Sprachspiele, aber auch Kommentare auf zeitgenössische Wirklichkeit […] formuliert, gesammelt und erprobt werden.« 544 Im Anschluss an diese schon mit dem Frühwerk einsetzenden deutschspra‐ chigen Versuche hat Celan die Gattung später ebenfalls auf Französisch prak‐ tiziert, was solchen Texten gleichsam den Charakter eines ›Sprachlabors‹ verleiht, wie man es frei nach May formulieren könnte. Dank den komple‐ mentären Mitteln der anderen Sprache kann der Dichter auf diese Weise mit neuen Ausdrucksformen experimentieren. Bereits mit der Veröffentlichung des bekannten Aphorismus »La poésie ne s’impose plus, elle s’expose« (GW III, VIII), unmittelbar nach dem Ableben Celans, 545 wurden den deutschen Lesern die eminent literarischen Qualitäten dieser französischen Textproduktion deutlich. Mit der Veröffentlichung der Prosa aus dem Nachlass im Jahr 2005 stellte sich schließlich heraus, dass solche französische Aphorismen eine Art eigene (exophone) Textgattung in seinem Œuvre darstellen. Was zunächst an den Prosatexten aus dem Nachlassband (Mikrolithen), deren Entstehungsdaten einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten abdecken, auffällt, ist der durchweg hohe Grad an Sprachmischung in dieser Textgruppe. Das gilt für alle dort versammelten Formen von Prosa und nicht nur für die Aphorismen. In den verschiedenen Aufzeichnungen werden dabei immer wieder Deutsch, Französisch, Russisch, Latein und Hebräisch miteinander kombiniert, als ent‐ spräche diese Mischsprachigkeit bei Celan einer Art natürlichem Sprachimpuls. Zitate und Exzerpte wechseln dabei mit originärer Textproduktion aus der Hand des Dichters, vorwiegend in französischer Sprache. Dabei handelt es 260 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="261"?> sich wohlbemerkt nicht um lyrische oder fiktionale Texte, sondern meist um Reflexionen und Aphorismen. Vom Gesichtspunkt textübergreifender Mehrsprachigkeit aus, welche im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels steht, sind an dieser Stelle primär rein französischsprachige Passagen von Interesse, deren literarische Qualitäten eine Veröffentlichung als eigenständige Texte denkbar gemacht hätten. Oft stehen solche französische Notizen jedoch innerhalb einer Folge deutscher Texte (s. z. B. Mikrolithen, 39, Nr. 51), oder aber die Sprache des Schreibens wechselt etwa zwischen dem Titel und dem Text der Aufzeichnung (s. z. B. Mikrolithen, 36-37, Nr. 47). Sprachwechsel und Sprachmischung sind in Celans Œuvre also nicht immer klar voneinander abzugrenzen, wie schon mehrmals zu konstatieren war. Insgesamt wurden rund zwei Dutzend französischsprachige Aufzeichnungen, Reflexionen und Aphorismen Celans im Nachlass überliefert und posthum ediert. Zum Abschluss dieses Kapitels sollen nun einige repräsentative Beispiele aus dieser exophonen Textproduktion zitiert werden. Bei ihnen wird erkennbar, dass der Dichter die sprachspielerischen Impulse der Bukarester Zeit in den 1950er und -60er Jahren im Medium der französischen Sprache weitergeführt hat. Neben dem bereits erwähnten sprachspielerischen Aphorismus »La poésie ne s’impose plus, elle s’expose« (»Die Dichtung setzt sich nicht mehr von selbst durch, sie setzt sich Gefahren aus«, Mikrolithen, 58), der, wie gezeigt, auch metamultilingual gelesen werden kann (s. 3.1.4), gibt es eine Reihe weiterer erwähnenswerter französischsprachiger Aphorismen. Als erstes soll an dieser Stelle der Aphorismus »Discipliné, il attendait le mot de désordre« (Mikrolithen, 19) erwähnt werden. Diese Formulierung beruht auf der Umformung des feststehenden Ausdrucks ›mot d’ordre‹ (= Anweisung) in ›mot de désordre‹. Sinngemäß bedeutet der Spruch also: »Diszipliniert wartete er auf den Aufruf zur Unordnung«. Als zweites Beispiel für einen sprachspie‐ lerischen Aphorismus in französischer Sprache könnte man »Léguer, c’est aussi: déléguer« (Mikrolithen, 40) zitieren. In dieser dem ersten Beispiel formal recht ähnlichen Formulierung greift der Dichter auf ein Wortspiel mit den Verben ›léguer‹ (vererben, hinterlassen) und ›déléguer‹ (übertragen, delegieren) zurück. ›Erbe‹ und ›Trennung‹ werden somit zusammen gedacht (sinngemäß etwa: »Etwas hinterlassen heißt auch sich davon trennen«). An dritter und letzter Stelle soll folgendes Beispiel zitiert werden: »Tant de bâtons pour si peu de roues! « (Mikrolithen, 47). Hierbei handelt es sich um eine Abwandlung des Sprichworts ›mettre des bâtons dans les roues‹, wortwörtlich ›(Prügel-)Stöcke, in die Räder stecken‹, was dem deutschen ›Steine in den Weg legen‹ entspricht. Der Spruch bedeutet also in etwa: »So viele Prügelstöcke für so wenige Räder«. 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 261 <?page no="262"?> 546 Die Herausgeber (Mikrolithen, 632-633) lesen das Verb als eine Anspielung auf ›dé‐ primer‹ (deprimieren). Doch findet man in den historischen Wörterbüchern auch Belege für folgende Bedeutungen: ›Verse in Prosa transponieren‹ sowie ›eine Schiffs‐ ladung umverfrachten‹ (als veraltete Form des Verbs ›désarrimer‹). Oder in frei übertragener Fassung: »Es gibt mehr Steine auf den Wegen als Menschen, die jene begehen wollen.« In anderen französischen Aufzeichnungen verschwinden die sprachspieleri‐ schen Impulse hinter philosophisch-theologischen Aspekten, wie in dem bereits zitierten Satz »Mon judaïsme: ce que je reconnais dans les débris de mon existence« (Mikrolithen, 126). Andere bemerkenswerte Beispiele für diese Art von Aphorismen sind: »Nous nous sommes tant approchés de Dieu. Qu’il nous protège … d’un peu plus loin! «, (»Wir sind Gott so nahe gekommen. Möge er uns beschützen-… aus größerer Distanz! «, Mikrolithen, 49). Oder: »La vulnérabilité est l’admirable contrepoint du courage«, (»Verletzlichkeit ist der bewundernswerte Kontrapunkt zum Mut«, Mikrolithen, 57). Und schließlich soll an dieser Stelle noch dieses mit »Karl Marx« betitelte Bonmot zitiert werden: »On parviendra probablement un jour à transplanter les têtes, mais il n’est pas sûr qu’on saura faire repousser les barbes.«, (»Möglicherweise wird es uns eines Tages gelingen, Köpfe zu verpflanzen, aber es ist nicht sicher, dass es uns gelingen wird, Bärte nachwachsen zu lassen.«, Mikrolithen, 56). Dieser Satz liefert ein anschauliches Beispiel für den sarkastischen Humor, der viele der späten aphoristischen Sprachspiele Celans charakterisiert. Eine letzte Gruppe von Aufzeichnungen in französischer Sprache ist poeto‐ logisch-ästhetischer Art, nach dem Modell des berühmtesten der französischen Aphorismen: »La poésie ne s’impose plus, elle s’expose«, der schon mehrmals zitiert wurde. Nicht bei allen diesen Notaten spielt das sprachspielerische Ele‐ ment eine prägende Rolle. Das zeigen französischsprachige Überlegungen wie: »Poésie, affaire d’abîme« (»Dichtung, eine Sache des Abgrunds«, Mikrolithen, 121) oder »La Poésie déjoue l’image« (»Die Dichtung trickst das Bild aus.«, Mikrolithen, 127). Eine für die rumänische Lyrikerin Nina Cassian bestimmte französische Notiz aus der Mitte der 1960er-Jahre verdeutlicht ihrerseits erneut die Nähe zwischen Prosa und Brief (s. auch Mikrolithen, 124, Nr. 221). Dieser an die Dichterkollegin adressierte Passus verweist auf ein geplantes, aber nie realisiertes Übersetzungsprojekt: »j’aurais voulu, bien sûr, traduire tel ou tel poème rimé. Mais, depuis un moment, je dérime, je dérime.« (Mikrolithen, 129). In diesen vielsagenden Sätzen, die sich an die rhetorische Figur des Polyptoton anlehnen, spielt Celan mit der phonetisch-morphologischen Nähe zwischen den Verben ›rimer‹ (reimen) und ›dérimer‹, wobei letzteres Wort überaus vieldeutig ist. 546 Sinngemäß könnte man dieses französische Zitat folgendermaßen über‐ 262 4 »Brücken über Abgründe«: Mehrsprachigkeit textübergreifend <?page no="263"?> setzen: »Natürlich hätte ich gerne dieses oder jenes gereimte Gedicht übersetzt. Aber seit geraumer Zeit kann ich mir keinen Reim mehr auf mich machen.« Die Bukarester »belle saison des calembours« mit ihrem Sprachwitz scheint hier im Paris der 1960er-Jahre eine Fortsetzung auf Französisch zu erfahren. Freilich haben sich die Vorzeichen der Sprachspiele oder calembours zu diesem Zeitpunkt, also rund zwanzig Jahre später, grundlegend, ja radikal verändert. Im zitierten Brieffragment praktiziert Celan, wie deutlich sichtbar wird, nicht mehr den vitalen Humor der Bukarester Nachkriegsjahre, sondern spielt in eher melancholischer Weise auf seine jüngsten psychischen Probleme als Auswirkung der sogenannten Goll-Affäre an. Doch wird im Folgenden anhand der Darstellung textintern sprachmischender Techniken in den Texten zu zeigen sein, dass Multilingualität - gerade in Krisensituationen - zu einer äußerst produktiven Quelle von Celans Schreiben avancieren konnte. 4.4 Originale Textproduktion in anderen Sprachen 263 <?page no="265"?> 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I Anschließend an das vorangegangene Kapitel zur textübergreifenden Mehr‐ sprachigkeit, in welchem Schreibverfahren dargestellt wurden, deren Einsatz zur Produktion von anderssprachigen, dabei jedoch in sich monolingualen Texten führt, wird nun der systematisch-typologische Überblick über Mehrspra‐ chigkeit in Celans literarischem Schaffen auf textinterner Ebene fortgesetzt. In diesem Untersuchungsbereich bestehen die Sprachdifferenzen nicht mehr in einem ›Nebeneinander‹ von in verschiedenen Sprachen verfassten Texten. Mehrsprachigkeit tritt vielmehr innerhalb der Grenzen einzelner Texte auf, womit zuvorderst das Gedichtwerk gemeint ist. Die verschiedenen Gedichte mischen, vereinfacht gesagt, die Sprachen im Schreibfluss miteinander oder überlagern und verschränken diese in der Textgenese. Involviert sind dabei alle auf dem Lebensweg des Dichters »mitgewanderte[n] Sprache[n]« (GW II, 85, V. 10) sowie zahlreiche andere biographisch, literarisch und historisch relevante Idiome. All diese Sprachen überschneiden sich zum größten Teil mit denjenigen, aus denen der Dichter Texte anderer Autoren übersetzt hat. Textinterne Mehrsprachigkeit darf sicherlich als der herausragendste Aspekt von Paul Celans Literaturpraxis bezeichnet werden. Sie stellt diejenige Form von Mehrsprachigkeit dar, die für alle Leser offen sichtbar an vielen Stellen im veröffentlichten und autorisierten Œuvre zutage tritt. Als Kopräsenz mehrerer Sprachen in den Gedichten (sowie marginal in anderen Textsorten) stellt sie gleichsam die offizielle ›Vitrine‹ von Celans Multilingualität dar. Diese Form sprachlicher Differenz und Alterität durchzieht alle Werkphasen, von den dich‐ terischen Anfängen bis zu den letzten Gedichtentwürfen, wobei es gleichzeitig erhebliche Unterschiede sowohl auf quantitativer als auch auf qualitativer Ebene zu verzeichnen gibt. Im Vergleich zur im vierten Kapitel behandelten textübergreifenden Mehrsprachigkeit stellen sich auf textinterner Ebene ver‐ stärkt definitorische Fragen in Bezug auf den Begriff der Sprachdifferenz und hinsichtlich der genauen Unterscheidung zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit. Aufgrund der Häufigkeit der Phänomene sowie deren inhaltlich-poetischer Bedeutung handelt es sich bei der Kategorie der textinternen Mehrsprachig‐ keit um den mit Abstand wichtigsten Untersuchungsbereich dieser Studie, weshalb ihre Analyse in zwei separate Kapitel unterteilt wurde. Mit ›manifester‹ (Kap. 6) und ›latenter‹ (Kap. 7) Mehrsprachigkeit werden dabei nacheinander zwei große Teilbereiche von textinterner Sprachmischung in Celans Schreiben <?page no="266"?> 547 Felstiner, »On Translating and Not Translating Paul Celan«, S.-121. 548 Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, S.-486, FN 14. 549 Von Ingen, »Das Problem der lyrischen Mehrsprachigkeit bei Paul Celan«, S.-65. durchgearbeitet. Vor der eigentlichen Sichtung des Korpus soll zunächst die der Untersuchung zugrundeliegende Konzeption textinterner Mehrsprachigkeit dargelegt werden. Dabei wird neben der Differenz ›manifest‹ vs. ›latent‹ noch‐ mals die grundsätzliche Frage der sprachlichen Identität von Celans poetischem Sprechen und dessen Verortung zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit adressiert. 5.1 Zur (Un-)Sichtbarkeit textinterner Mehrsprachigkeit ›Blinde Flecken‹ Die internationale Forschung zum Problem der Mehrsprachigkeit in der Lyrik Paul Celans, so wie sie seit dem Ende der 1970er Jahren existiert, hat sich in der Vergangenheit meist auf ein schmales Korpus von Beispielen beschränkt, die größtenteils aus dem für seinen »burst of polyglot energy« 547 bekannten Gedichtband Die Niemandsrose stammen. Die Exponiertheit bestimmter, immer wieder zitierter Textbeispiele kontrastiert dabei mit einer in verschiedenen Pu‐ blikationen anzutreffenden Unterschätzung der konstanten Bedeutung solcher Phänomene für Celans Schreiben. Unter Verwendung quantitativer Maßstäbe werden in diesem Zusammenhang die Spuren von Polyglossie in seinen Ge‐ dichten häufig als »gering« bezeichnet 548 ; mehr noch wird zum Teil von einer »asketischer Zurückhaltung« und »Abstinenz« des Dichters beim Rückgriff auf Mehrsprachigkeit gesprochen. 549 Insbesondere im Vergleich mit der in den 1950er-Jahren einsetzenden allgemeinen Konjunktur mehrsprachiger Schreib‐ weisen in der deutschen Lyrik falle der Befund in Celans Werk mager aus, lautet eine nicht selten anzutreffende Einschätzung. Angesichts der beachtlichen Diskrepanz zwischen dem autorisiertem Werk Celans und seinem literarischen Nachlass, was die Präsenz von Mehrspra‐ chigkeit angeht, sowie in Anbetracht einer gewissen ›monolingualisierenden‹ Selbstzensur des Dichters, wie sie auf textgenetischer und publikationspoliti‐ scher Ebene erkennbar ist, scheint diese Sichtweise zunächst begründet. In der Tat könnte Celans Lyrik oberflächlich betrachtet zunächst in das traditio‐ nelle Paradigma einsprachigen Schreibens eingereiht werden, zumal sich eine solche Betrachtungsweise ja auf die berühmte Selbstverortung Celans in der Flinker-Umfrage (GW III, 175) stützen kann. Wenn dieser Auffassung an dieser Stelle trotzdem widersprochen werden soll, dann liegt das unter anderem an Di‐ 266 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="267"?> 550 Siehe Till Dembeck, »Es gibt keine einsprachigen Texte! Ein Vorschlag für die Litera‐ turwissenschaft«. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 11: 1, 2020, S.-163-176. 551 Siehe hierzu auch David Gramling, »Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit«. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-35-51. vergenzen bei der zugrunde liegenden Definition von Multillingualität. So geht es im Folgenden darum zu zeigen, dass Celans spezifische Sprachproblematik einen äußerst subtilen Analyseansatz in Sachen (Mehr-)Sprachigkeit erfordert, der sich für die zahlreichen ›Öffnungen‹ in seiner deutschen Hauptsprache sensibel zeigt. An dieser Stelle muss vorausgeschickt werden, dass es sich bei Ein- und Mehr‐ sprachigkeit um durchaus komplexe Kategorien handelt, die in der Sprach- und Literaturwissenschaft immer wieder kontrovers diskutiert werden. In Teilen der neueren Forschung wird der Begriff ›Mehrsprachigkeit‹ dabei sehr weit gefasst, wodurch die Grenzziehung ›einsprachig‹ vs. ›mehrsprachig‹ grundsätzlich in‐ frage gestellt wird. 550 Umgekehrt kann festgestellt werden, dass die Anwendung restriktiver Perspektiven auf das Phänomen der literarischen Mehrsprachigkeit, unter der Annahme, dass sich die Grenze zwischen ›einsprachig‹ und ›mehr‐ sprachig‹ eben doch genau festlegen lässt, oftmals zur Ausblendung eines beachtlichen Teils der relevanten Erscheinungsformen in den Texten führt. Das gilt speziell für die Beurteilung der Bedeutung von Mehrsprachigkeit in der Lyrik Paul Celans. Das Resultat einer solchen Vorgehensweise ist die Entstehung von ›blinden Flecken‹ in der Forschung, die lange Zeit verhindert haben, das volle Ausmaß der mehrsprachigen Praktiken des Dichters zu erkennen. Stellvertretend hierfür soll der relativ rezente Ansatz von Werner Helmich kurz umrissen und diskutiert werden. Werner Helmichs Ansatz Fehlte es in früheren Forschungsbeiträgen zum Thema ›literarische Mehrspra‐ chigkeit‹ oft an einer eingehenden Begriffsdiskussion, so kommt Helmich mit seiner umfang- und lehrreichen Studie zum »Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur« zunächst das Verdienst zu, die definitori‐ schen Grundlagen seines Ansatzes klar offengelegt zu haben. Im Bemühen um eine trennscharfe Methode hat der Romanist dabei beschlossen, sich auf die Dimension sogenannter manifester Mehrsprachigkeit zu beschränken. ›Manifest‹ meint in diesem Zusammenhang solche Erscheinungsformen, die unter lingualistischen Gesichtspunkten - also, vereinfacht gesagt, unter der Annahme, es gäbe einheitliche, klar voneinander unterscheidbare und dement‐ sprechend ›zählbare‹ Sprachen 551 - eindeutig auf die Präsenz einer vor der Hauptsprache des Textes differenten Fremdsprache schließen lassen. Dement‐ 5.1 Zur (Un-)Sichtbarkeit textinterner Mehrsprachigkeit 267 <?page no="268"?> 552 Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, S.-17. 553 Ebd., S.-21. Hervorhebung in der Quelle. sprechend geht Helmich grundlegend von klar etablierbaren Sprachgrenzen zwischen dem Deutschen und den anderen Sprachen aus: »Ich betrachte also nur die fremdsprachigen Elemente als solche, die im strengen showing-Modus direkt präsent oder ikonisch nachgebildet werden«, 552 so der von ihm (eng) abgesteckte Rahmen. Nicht ganz zu Unrecht warnt Helmich in seiner Studie vor einer »exzessiven Ausweitung [des Korpus] auf Varietäten oder gar Register«, weil in diesem Fall »kaum ein größeres Sprachkunstwerk nicht in den Untersuchungsbereich fiele und dieser damit seine Distinktheit verlöre.« 553 Dieser methodologische Einwand verweist auf eine bei der Analyse mehrsprachiger Texte häufig zu beobachtende Schwierigkeit, die ›Wahrnehmungsschwelle‹ oder ›Detektions‐ grenze‹ sprachlicher Differenz adäquat festzulegen, sodass man sich zur Si‐ cherheit oft lieber auf enge standardsprachliche Kriterien stützt. Angesichts des Risikos einer Auflösung der Grenze von Ein- und Mehrsprachigkeit zieht Helmich eine strenge Eingrenzung auf ›harte‹, sozusagen ins Auge springende Sprachdifferenzen vor. Der Preis dieser auf pragmatischer Ebene verlockenden Reduzierung von Komplexität erscheint allerdings sehr hoch, schließt sie doch unter anderem die so vielfältigen Arten innersprachlicher Mehrsprachigkeit - d. h. das Nebeneinander verschiedener Soziolekte oder Dialekte - aus. Insbesondere im Werk Celans gibt es, wie bereits erwähnt, unzählige für sein poetisches Sprechen relevante Sprachdifferenzen, die sich eben nicht auf den scheinbar evidenten Abstand zwischen gleichsam in sich selbst ruhenden Nationalsprachen reduzieren lassen. Natürlich ließe sich innerhalb von Celans lyrischem Œuvre zunächst eine Trennungslinie ziehen zwischen solchen Gedichten, wie »Benedicta« (GW I, 249 f.) oder »Du sei wie du« (GW II, 327), die ausgesprochen sprachmischend verfahren, und anderen Gedichten, wie »Tübingen, Jänner« (GW I, 226), die nicht als mehrsprachig, sondern höchstens als polyphon zu bezeichnen wären. Doch gibt es darüber hinaus innerhalb dieser zweiten Gruppe scheinbar ein‐ sprachiger Gedichte in Celans Werk nochmals erhebliche Differenzen zwischen den zum Teil extrem polyphonen Gedichten aus der mittleren und späten Schaf‐ fensphase, die unter anderem intensiv auf sprachliche Varietät zurückgreifen, und bestimmten, viel stärker monolingual wirkenden Texten aus der Jugendzeit wie etwa das Gedicht »Klage« (GW VI, 12), das noch vor der Ermordung der Mutter entstand und in dem ein ganz anderes, viel klassisch-romantischeres Deutsch mit einem weit traditionelleren Bilderschatz zum Einsatz kommt. 268 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="269"?> 554 Wolf, »Wovon wir reden, wenn wir von mehrsprachiger Lyrik reden«, S.-131. 555 Michael Alexander Kirkwood Halliday, »Applied linguistics as an evolving theme«. Language and Education: Collected Works of M.A.K. Halliday. Hrsg. v. Jonathan J. Webster. London: Continuum, 2007, S.-1-19. Mit anderen Worten: Die Sprachdifferenzen existieren in Celans Werk nicht nur zwischen dem Deutschen und anderen, ›fremden‹ Sprachen, auch innerhalb des Deutschen als Basissprache seiner Gedichte werden deutliche Unterschiede und Entwicklungen sichtbar, die über eine enge Definition von Einsprachigkeit hinausweisen. Immer wieder wird dabei die Frage aufgeworfen, inwiefern sich eine klare Grenze zwischen dem sprachlichen Standard und sprachlichen ›Abweichungen‹ ziehen lässt. Hinzu kommt die Dimension diachroner Sprach‐ differenzen, wie sie anhand der Verwendung des Mittelhochdeutschen aber mitunter auch in Gestalt des Jiddischen sichtbar werden. Somit spiegelt sich in der intralingualen Problematik letztlich die allgemeine Frage nach der Grenze zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ bei Celan. Der Versuch, die Vorstellung eines klar umrissenen ›Kerndeutsch‹ auf sein poetisches Idiom zu projizieren, so viel steht jedenfalls fest, würde zahlreiche höchst relevante (inner-)sprachliche Differenzen nivellieren. Folglich besteht bei einer allzu restriktiven Definition von Mehrsprachigkeit die Gefahr, dass alle subtileren und komplexeren Formen von Celans ›Arbeit am Deutschen‹, die nicht in das Paradigma eines einfachen Code-Switching zwi‐ schen klar voneinander abgegrenzten Einzelsprachen passen, unberücksichtigt bleiben. Wie im Laufe der vorliegenden Studie immer wieder deutlich wird, werden herkömmliche, auf einem nationalsprachlichen Raster beruhenden Sprachgrenzen in Celans »Durch-Sprachen-Schreiben« 554 an vielen Stellen infrage gestellt. Die weiter unten behandelten Phänomene der translingualen Homonymie (s. 6.6) führen dies auf besonders plastische Weise vor Augen. All‐ gemein arbeitet der Dichter in vielen Texten mit verdeckt zu nennenden Formen von Mehrsprachigkeit, bei denen die deutschen Wörter gleichsam multilingual ›aufgeladen‹ werden. Bei Anwendung enger Kriterien für Mehrsprachigkeit, auf Basis scheinbar klarer Grenzziehungen, würden gerade solche Formen durch das Analyseraster fallen. Mit dem bereits zitierten britisch-australischen Linguisten M. A. K. Halliday gesprochen, kann gesagt werden, dass bei einer Beschränkung auf manifeste, ›harte‹ Sprachdifferenzen die glossodiverse (›horizontale‹) Ebene gegenüber der semiodiversen (›vertikalen‹) im Vordergrund steht. 555 Bildlich gesprochen geht es hier um den Unterschied zwischen zwei Sichtweisen: einem getrennten Nebeneinander von (National-)Sprachen und einem ›Durch- und Ineinander‹ multipler Idiome innerhalb eines einzelnen Codes. Das Bedürfnis nach klaren 5.1 Zur (Un-)Sichtbarkeit textinterner Mehrsprachigkeit 269 <?page no="270"?> 556 Grünbein, »Der Spiritus des Lebendigen«, S.-21. 557 Siehe Michail M. Bachtin, »Die Redevielfalt im Roman«. In: Ders., Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S.-192-219. 558 Siehe Stukenbrock, Sprachnationalismus. Abgrenzungen erschwert, ja verhindert somit den Blick auf die sprachinterne Vielfalt und droht somit, wichtige, grundlegende Phänomene unsichtbar zu machen. Pointiert ausgedrückt verbleibt eine derart eingeschränkte Perspektive auf Mehrsprachigkeit an der Oberfläche stehen, wohingegen die sprachlichen Tiefenschichten der Gedichte - bzw. die ›Dichte‹ des Textgewebes - unerforscht bleiben. Celans allgemeine Überdeterminierung von Sprache - der Lyriker Durs Grünbein spricht in diesem Zusammenhang von »Ausdrucks-Atombomben« 556 - lässt sich jedoch nur unter der Berücksichtigung der Semiodiversität, also der Überlagerung diverser Sinnschichten auf paradigmatischer Ebene, adäquat erfassen. Werden diese vielfältigen - und zugegebenermaßen nicht immer trennungs‐ scharfen - Aspekte zugunsten scheinbar klaren Unterscheidungskriterien über‐ sehen, läuft eine Untersuchung der Mehrsprachigkeit folglich Gefahr, all jene Texte oder Passagen auszuschließen, die - mit Bachtin gesprochen - einen hohen Grad an Polyphonie und Heteroglossie aufweisen. 557 Damit blendet eine solche restriktive Perspektive nicht nur die so wichtigen unterschwelligen und verdeckten Formen von Mehrsprachigkeit in Celans Gedichten aus, sondern perpetuiert darüber hinaus nolens volens die traditionelle Gegenüberstellung ›deutsch‹ vs. ›fremd‹, welche die deutsche Sprachgeschichte und insbesondere den Sprachpurismus und -nationalismus kennzeichnet. 558 Wie oben aufgezeigt wurde (s. 1.3.2), läuft dies nicht zuletzt Celans ganz eigener, aporetischer Sprachproblematik zuwider. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine Beschränkung auf den oberflächlich zu nennenden »showing-Modus« und rein nationalsprachliche Differenzen dem hier behandelten Korpus unangemessen und für die vorliegende Studie nicht tragfähig ist. Notwendige Ausweitungen Im Fall von Celans Dichtung erscheint folglich die von Helmich in seiner ansonsten sehr wertvollen Studie praktizierte und dort argumentativ verteidigte Grenzziehung als problematisch, unangemessen, ja kontraproduktiv. Als Ge‐ genbegriff zur Beschränkung auf manifeste, d. h. ›echte‹ Mehrsprachigkeit und ›harte‹ Sprachdifferenzen schließt die sogenannte ›latente‹ Mehrsprachigkeit all das ein, was nicht unmittelbar an der Textoberfläche als klar definierte Fremdsprache zu identifizieren ist. Der Begriff ›latente Mehrsprachigkeit‹, der in der älteren Forschung auch als ›implizite‹ Mehrsprachigkeit bezeichnet 270 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="271"?> 559 Siehe u. a. Manfred Schmeling, »Multilingualismus und Interkulturalität im Gegen‐ wartsroman«. In: Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Literatur und Vielsprachigkeit. Heidelberg: Synchron, 2004, S.-221-236. 560 Siehe Von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, Bd.-1, S.-13. 561 Siehe Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, S.-61. 562 Siehe Till Dembeck, Rezension zu »Werner Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit. Zum Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur«. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 7: 2, 2016, S.-201-206. wurde, 559 lenkt somit den Blick auf eine sprachliche Vielfalt, die sich oft gleichsam zwischen den Zeilen von scheinbar einsprachigen Texten ansiedelt. Es handelt sich dabei um Merkmale im literarischen Idiom (insbesondere inter- und intralinguale Varietät, Heterogenität, Alterität, Differenz, Pluralität und Diversität), die von einer eng gefassten, standardsprachlichen, ja puristischen Sprachidentität wegführen. Auf Basis postnationalistischer Sprachauffassungen geht es bei einer solchen erweiterten Betrachtungsweise nicht darum, Einheitlichkeit von Sprache zu suggerieren. Vielmehr stehen bei der Analyse Variabillitäten, Gegensätzlich‐ keiten, Spannungen und Widersprüche im Vordergrund des Interesses. 560 Da‐ neben dient der Begriff ›latente Mehrsprachigkeit‹ dazu, die Perspektive auf die sprachgeschichtlichen, sprachbiographischen und textgenetischen Tiefen‐ schichten der Texte auszuweiten, was gerade bei Autoren, die multilingual sozialisiert wurden oder in einem mehrsprachigen Umfeld schreiben, als unab‐ dingbar erscheint. Bereits im Fall der Mitarbeit Celans an Übersetzungen seiner Werke (s. 4.3) wurde die Latenzproblematik sichtbar, insofern dabei die Beteiligung des Autors nicht im publizierten Text zu erkennen ist. Vom Standpunkt des Lesers aus konnte so der Eindruck entstehen, ein einsprachiger Dichter sei von fremder Hand in eine andere Sprache übersetzt worden, wohingegen der Autor sich in Wirklichkeit zu einem erheblichen Teil selbst in eine nur vermeintlich fremde Sprache übersetzt hat. Im Folgenden soll sich die Verwendung des Begriff ›latente Mehrsprachigkeit‹ allerdings auf das in der deutschen Hauptsprache verfasste Gedichtkorpus Celans beschränken. Wie Radaelli in ihrer oft zitierten Fallstudie feststellt, handelt es sich bei latenter Mehrsprachigkeit nicht nur um die häufigste Form literarischer Mul‐ tilingualität, 561 sie darf auch als das privilegierte Untersuchungsgebiet litera‐ rischer Mehrsprachigkeitsforschung überhaupt gelten. Das rührt daher, dass sich gerade auf dieser Ebene die grundsätzliche Frage stellt, was ein einspra‐ chiger oder mehrsprachiger Text eigentlich sei. 562 Dies gilt insbesondere für das Deutsch des Dichters Paul Celan, für den latente Mehrsprachigkeit eine herausragende Möglichkeit darstellt, eine ›postmonolinguale‹ Sprachidentität 5.1 Zur (Un-)Sichtbarkeit textinterner Mehrsprachigkeit 271 <?page no="272"?> 563 Siehe Yildiz, Beyond the Mother Tongue, S.-18. 564 Siehe Chiellino, Liebe und Interkulturalität, S.-101ff. im Deutschen auszubilden. 563 Eine solche Perspektive erlaubt es mithin, den eingangs dargestellten Gegensatz von monolingualer Selbstdarstellung und multilingualen Praktiken zu relativieren, indem aufgezeigt wird, welches Maß an sprachlicher Diversität und Heterogenität selbst (scheinbar) einsprachige Texte enthalten können. Auf das Korpus der vorliegenden Studie bezogen folgt daraus, dass sich gerade im Bereich der latenten Mehrsprachigkeit Paul Celans spezifische Sprachproblematik als jüdischer, polyglotter und extraterritorialer Schriftsteller gegenüber dem Deutschen, seiner Identität und Geschichte, herausarbeiten lässt. Zum Arsenal der Sprachvielfalt gehören dabei nicht nur sogenannte Nationalsprachen, sondern eben auch zahlreiche diaphasische, diastratische und diatopische Varietäten bis hin zu Effekten inszenierter Mündlichkeit, die der Dichter bewusst in seine Texte eingebaut hat, wie es schon im zweiten Kapitel bei der Analyse des Gedichts »Huhediblu« (GW I, 275 ff.) sichtbar wurde. Anhand solcher Beispiele wie dem Gedicht »Kleide die Worthöhlen aus« (GW II, 198) wurde außerdem weiter oben gezeigt (s. 3.3), welche tragende Rolle nicht unmittelbar, also nicht direkt an der Textoberfläche wahrnehmbare (National-)Sprachen in Celans Schreiben spielen können. In Anbetracht der Geschichte der literarischen Hermeneutik, deren Funktion ja grundsätzlich stets darin bestanden hat, die - nicht immer offensichtlichen - Tiefenstrukturen von Texten zu ergründen, würde es im Grunde höchst seltsam anmuten, sich bei der Untersuchung multilingualer Aspekte in der Literatur auf (manifeste) Oberflächenphänomene zu beschränken. Gerade im Fall von Celans Lyrik, so darf hier erneut unterstrichen werden, würde sich diese Vereinfachung als geradezu fatal erweisen. So wie das Jüdische in seinem Werk zugleich omnipräsent und doch nicht immer offen sichtbar ist, so erfordert die Herausarbeitung sprachlicher Differenz und Alterität in seinem Schreiben eine höchst differenzierte Herangehensweise, damit die Ko-Präsenz und Latenz einer Vielfalt von Sprachen in seinem Schreiben aufgezeigt werden kann. Mit Chiellino kann Sprachlatenz allgemein als herausragendes Merkmal interkultureller Literatur bezeichnet werden. 564 Damit sind insbesondere Werke mehrsprachig sozialisierter Autoren mit sogenanntem Migrationshintergrund gemeint. Und wie Hans-Ullrich Gumbrecht in einem breiteren Rahmen gezeigt hat, ist Latenz ausgehend von Freuds psychoanalytischer Theorie zu einer höchst produktiven Kategorie in den Geisteswissenschaften und speziell in der 272 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="273"?> 565 Hans-Ullrich Gumbrecht, »Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie: Dimen‐ sionen von Latenz«. In: Hans-Ullrich Gumbrecht/ Florian Klinger (Hrsg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S.-9-19. 566 Siehe Derrida, Le monolinguisme de l’autre, S.-21. 567 Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans«, S.-158. 568 Siehe u. a. Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«. Literaturwissenschaft geworden. 565 Bezogen auf Paul Celans Schreiben und die Mehrsprachigkeitsproblematik erlaubt gerade der Latenzbegriff, das frei nach Derrida formulierte Paradoxon zu fassen, wonach Celan immer nur Deutsch, aber gleichzeitig nie nur Deutsch schreibt. 566 Latenz in diesem Sinne ist nicht als Defizit oder Mangel aufzufassen, sondern als ein ästhetischer ›Mehrwert‹, durch den im Text stets auch andere Sprachen mitsprechen. Es handelt sich, anders gesagt, mithin um eine Form von Virtualität, die aber wohlbemerkt nicht rein hypothetisch ist, sondern sich auf konkrete sprachliche Indizien stützen kann. Dennoch darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass gerade bei der Untersuchung sogenannter latenter Mehrsprachigkeit eine gewisse Gefahr der spekulativen Überinterpretation besteht. Zum Teil kann sich dabei der Eindruck eines Umschlagens von interpretativer Freiheit in sprachliche Beliebigkeit einstellen. Das scheint unter anderem der Fall zu sein, wenn die Idee eines »hebräischen Substrat[s]« 567 in Paul Celans Dichtungssprache in das Verfahren mündet, seine Verse ins Hebräische zu übersetzen und sie anschließend mithilfe von aus der jüdischen Sprachmystik entnommenen An‐ sätzen in dieser Sprache zu interpretieren. 568 Dennoch sind die Ergebnisse einer solchen Vorgehensweise mitunter verblüffend und erscheinen im Kontext der jeweiligen Gedichte als durchaus kohärent. Die Grenze zwischen einer produktionsästhetisch fundierten Analyse und freier interpretatorischer Asso‐ ziation ist in diesen Fällen nicht immer klar zu ziehen. Die Übergänge zwischen Kommentar, Interpretation und Spekulation sind häufig fließend, wie später noch eingehender gezeigt werden soll. Im Zweifelsfall sind jedoch solche ›Grau‐ zonen‹ zwischen Rationalität und Imagination dem Untersuchungsgegenstand sicherlich angemessener als ein restriktiver Ansatz, der mit einer Ausgrenzung zahlreicher höchst relevanter Phänomene einhergehen würde. Ausdifferenzierung der Untersuchungsebenen Trotz des eben erfolgten Plädoyers für eine konsequente Einbeziehung latenter Mehrsprachigkeit in die Betrachtung der Texte sollen die verschiedenen Un‐ tersuchungsebenen aus pragmatisch-heuristischen Gründen im Folgenden ge‐ 5.1 Zur (Un-)Sichtbarkeit textinterner Mehrsprachigkeit 273 <?page no="274"?> trennt bleiben und nacheinander abgehandelt werden. Im vorliegenden Kapitel (Kap. 5) sollen dabei zur besseren Orientierung zunächst Erscheinungsformen sogenannter manifester Mehrsprachigkeit in Celans Werk im Vordergrund stehen. Diese werden unter den Oberbegriffen ›Heterolingualität‹, ›Exophone Vielstelligkeit‹ und ›mehrsprachige Sprachschöpfung‹ zusammengefasst. Mit‐ hilfe dieser Begriffe sollen Formen der Sprachmischung im Gedicht, das Auf‐ treten mehrdeutiger fremdsprachiger Ausdrücke und die spielerisch-sprachex‐ perimentelle Polyglossie analysiert werden - von der Wortebene bis zu längeren Segmenten, inklusive anderssprachiger Toponyme und Zitate. Im anschließenden Kapitel (6. »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern II) sollen dann in einem zweiten Schritt zahlreiche konkrete Bei‐ spiele für die sogenannte latente Mehrsprachigkeit, also die unterschwellige Präsenz von sprachlicher Diversität und Pluralität analysiert werden. Dazu gehört unter anderem die Bedeutung verborgener Übersetzungen in Celans Schreiben sowie die zahlreichen in den deutschen Texten zu beobachtenden formalen Analogien, durch die andere Sprachen im Deutschen ›mitschreiben‹. Relevant sind in diesem Zusammenhang nicht nur die Ebenen von Semantik und Lexik, sondern auch Phonetik, Grammatik und Syntax. Dabei werden die verschiedenen Formen von Multilingualität sowohl auf der Objektebene der ›Textoberfläche‹ als auch in textgenetischer und sprachgeschichtlicher bzw. etymologischer Hinsicht betrachtet. Im Einzelfall erweist sich eine strikte Trennung von manifester und latenter Mehrsprachigkeit zum Teil als schwierig, wie bereits angedeutet wurde. Das Ri‐ siko solcher Überschneidungen ist gleichsam der Preis, der für eine Ausweitung der Perspektive zu zahlen ist. Der damit unweigerlich verbundene Verlust an begrifflicher Trennschärfe entspricht der Überkomplexität vieler der hier analy‐ sierten Sprachphänomene. Andererseits scheint dieses Problem grundsätzliche akzeptabler als das Hinnehmen zahlreicher ›blinder Flecken‹ bei Beibehaltung eines engen Blickwinkels auf die Texte. Die extreme Vielschichtigkeit von Celans Schreiben bringt es mit sich, dass schematische oder eindimensionale Ansätze dem Material einfach nicht gerecht werden können. Gerade sogenannte Fremdwörter konstituieren hier eine beachtliche Schnitt‐ menge, insofern sich diese oft zwischen dem Xenismus - hier verstanden als Übernahme von Elementen aus anderen Sprachen ohne Anpassung an die Zielsprache - und dem Lehnwort bewegen, das sich gerade bei länger zurückliegender Entlehnung nicht mehr ohne weiteres als ›fremd‹ erkennen lässt. Solche Wörter wie »Vigilie« (GW I, 265, V. 2, 282, V. 13) oder »Glottis« (GW II, 388, Titel) verweisen nur latent auf eine Fremdsprache und können genauso unter dem Blickwinkel ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen betrachtet 274 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="275"?> werden. Andere Textelemente wie etwa der französische Titel »Les Globes« (GW I, 274) können wiederum neben ihrer manifest mehrsprachigen Dimension latente Bedeutungsschichten enthalten, die sich dem Leser nicht unbedingt auf den ersten Blick erschließen - hier konkret der Doppelsinn von ›Augapfel‹ und ›Erdkugel‹. Manifeste Mehrsprachigkeit bedeutet demnach nicht automatisch, dass der Sinn gleichsam auf der Hand liegen würde. In Anbetracht dieser nicht unbeachtlichen Schnittmenge könnte in manchen Fällen von einem regelrechten Kontinuum zwischen manifester und latenter Mehrsprachigkeit gesprochen werden. Nichtsdestoweniger erscheint, wie ge‐ sagt, eine formale Unterscheidung in zwei konsekutive Teilbereiche im Rahmen der Untersuchung als hilfreich und sinnvoll. Vom pragmatischen Gesichtspunkt aus soll vorrangig - wie allgemein in diesem Buch - eine weitestmöglich pro‐ gressive Darstellung der Erscheinungsformen und Verfahrensweisen angestrebt werden, die von den offensichtlichsten Formen von Multilingualität ausgeht und mit solchen endet, die ein erhebliches Maß an sprachlichem und philologischem Fachwissen, ja ›Spürsinn‹ voraussetzen. Korpus Im Mittelpunkt der nun folgenden Überblicksdarstellung samt Einzelanalysen zum Phänomen der Sprachmischung bei Celan sollen zuvorderst die vom Dichter zu Lebzeiten veröffentlichten bzw. autorisierten Gedichtsammlungen von Mohn und Gedächtnis bis Schneepart stehen. In diesem Zusammenhang stellt der Band Die Niemandsrose aus der mittleren Schaffensphase zweifelsohne einen Höhepunkt sprachmischender Schreibweisen in seinem Werk dar, der jedoch die Kontinuitätslinien von den ersten Sammlungen zu den späten Gedichten nicht überdecken darf. Von der Erfahrung des Zivilisationsbruchs der Judenvernichtung bis zum Freitod des Lyrikers, so kann hier vorausgeschickt werden, sind in den von ihm publizierten Texten durchweg Formen latenter und manifester Mehrsprachigkeit anzutreffen. In zweiter Linie müssen zudem alle verfügbaren Zeugen aus der Entstehungs‐ geschichte der Texte hinzugezogen werden. Eine textgenetische Betrachtung der Gedichte erweist sich schon allein insofern als unabdingbar, als bestimmte Prozesse erst auf dieser Ebene verständlich werden. Auch wenn sich die mehrsprachigen Spuren dieser früheren Textstadien oft in der publizierten Version ›verwischen‹, verschwindet diese durch sie in das Gedicht eingebrachte Multilingualität nicht einfach aus den Endfassungen. Vielmehr bleiben diese Sprachen gleichsam unter der Oberfläche der Texte in ihrer textgenetischen Latenz als virtueller Sprachraum erhalten, von dem aus sie auf das Gedicht zurückwirken. Auch das Briefwerk und die Lyrik aus dem Nachlass sollen 5.1 Zur (Un-)Sichtbarkeit textinterner Mehrsprachigkeit 275 <?page no="276"?> in diesem Rahmen punktuell hinzugezogen werden. Denn in vielen privaten Briefen und zu Lebzeiten unveröffentlichten Texten treten mehrsprachige Schreibtechniken besonders deutlich hervor. Daher erweisen sich diese Texte als ungemein hilfreich dabei, die sprachlichen Idiosynkrasien des autorisierten Werks besser zu beurteilen. 5.2 Sprachmischung als Heterolingualität Die in Paul Celans Werk zum Einsatz kommenden Mittel textinterner Sprach‐ mischung sind vielfältig, komplex, ja diffizil. Sie sollen nachfolgend mittels einer progressiven Gliederung vorgestellt werden, die von den offenkundigsten zu den am schwierigsten zu erkennenden Erscheinungsformen fortschreitet. Zunächst wird unter dem Oberbegriff ›Heterolingualität‹ ein erster Überblick über das Phänomen manifester Mehrsprachigkeit gegeben. Angestrebt wird eine Synopsis ›anschaulicher‹ Sprachdiversität in Celans Gedichten, von der Wortebene bis zu längeren Segmenten, wozu ebenfalls Zitate zählen. Bei der Betrachtung des Textmaterials wird damit eine gleichsam horizontale Perspek‐ tive eingenommen, die sich auf den klar sichtbaren Teil von Sprachmischung beschränkt, wobei am Rande ebenfalls quantifizierende Parameter zum Einsatz kommen. Dargestellt werden sollen insbesondere die herausgehobene Stellung von heterolingualen Gedichttiteln (5.4), die multilinguale Ausformung der jüdisch-christlichen Konfrontation (5.5), die Problematik originalsprachiger Zitate (5.6), das Phänomen exophoner Vielstelligkeit bzw. Mehrdeutigkeit (5.7) sowie sprachschöpferische Formen von Polyglossie (5.8). Angesichts der hohen Zahl relevanter Textstellen muss bei den vorgelegten Analysen in der Regel relativ knapp und synthetisch vorgegangen werden. Die Problematik jüdisch-christlicher Sprachkonfrontation (5.5) wird auf Grundlage zweier kompletter Gedichtbeispiele dargestellt werden. Der Hauptfokus der systematisch-typologischen Erfassung des Korpus liegt allerdings auf der Ana‐ lyse einzelner Passagen. Das Ziel ist eine möglichst breite und umfassende Darstellung der sprachlichen Vielfalt im Gesamtwerk mit allen dort zum Einsatz kommenden multilingualen Verfahrensweisen. Eine über den konzisen Sach‐ kommentar mit Interpretationsansätzen hinausgehende, ausführliche Würdi‐ gung der einzelnen Textstellen würde prinzipiell eine Gesamtinterpretation der entsprechenden Gedichte notwendig machen, was im vorliegenden Rahmen aus den bereits dargelegten Gründen nicht durchgängig geleistet werden kann. 276 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="277"?> 569 Bachtin, »Die Redevielfalt im Roman«. 570 Grutman, Hétérolinguisme et lettres québécoises, S.-60. 571 Suchet, L’Imaginaire hétérolingue. Zum Begriff ›Heterolingualität‹ Die nachfolgende Darstellung des Phänomens der Sprachmischung in Celans Gedichtwerk soll zunächst unter dem Zeichen der ›Heterolingualität‹ (alternativ auch: ›Heterolinguismus‹) stehen. Dieser aus der frankophonen Mehrsprachig‐ keitsforschung stammende und zuerst auf dem Gebiet der frankokanadischen Literatur des Québec erprobte Begriff bietet sich im vorliegenden Untersu‐ chungsrahmen gerade aufgrund seines stark integrativen Ansatzes an. Im An‐ schluss an den von Michail Bachtin in den 1930er-Jahren entwickelten (aber erst in den 1980er-Jahren breit rezipierten) Begriff ›Heteroglossie‹, 569 der sich auf sprachinterne Polyphonie und Mischung der Sprachebenen konzentriert, ver‐ folgt der Terminus ›Heterolinguismus‹ das Ziel, alle möglichen Ausprägungen sprachlicher Alterität und Differenz innerhalb der literarischen Grundsprache eines Textes abzudecken. Gegenüber dem Begriff ›translingual‹, mit dem sich insbesondere die Dynamik des Schreibens zwischen den Sprachen beschreiben lässt, eignet sich die Bezeichnung ›heterolingual‹ vor allem zur Analyse der ›Endprodukte‹ solcher Prozesse (sprich: Texte, Diskurs und Idiome). Wie der aus Belgien stammende und in Kanada lehrende Romanist und Übersetzungswissenschaftler Rainier Grutman in seiner 1997 publizierten, grundlegenden Arbeit schreibt, kann ›hétérolinguisme‹ aufgefasst werden als: »la présence dans un texte d’idiomes étrangers, sous quelque forme que ce soit, aussi bien que de variétés (sociales, régionales ou chronologiques) de la langue principale.« 570 Die meist als ›schwache‹ Sprachdifferenz wahrgenommene, innere Mehrsprachigkeit in Form von Varietäten (»variétés«) wird hier mit den ›harten‹ Sprachdifferenzen zwischen verschiedenen (nationalen) Sprach-, ja Schriftsystemen (»idiomes étrangers«) als Kontinuum zusammengedacht. Somit wird ein breiter Begriff von manifester Mehrsprachigkeit angeboten, der im Rahmen dieser Studie von großem Interesse und Nutzen ist. Auf Grundlage der nach wie vor maßgeblichen Studie Grutmans, die sich insbesondere auf frankophone Romanliteratur aus Kanada bezieht, hat die französische Komparatistin Myriam Suchet das Konzept in den 2010er-Jahren auf andere Literaturen und Gattungen ausgeweitet. Dabei bezieht sie das Feld der Lyrik in ihre Analysen mit ein, namentlich die Gedichte Paul Celans. Insgesamt steht in ihrer Untersuchung die Frage im Vordergrund, inwiefern heterolingual geprägte Texte implizite einsprachige Normen des Literatursys‐ tems infrage stellen. 571 Dabei benutzt sie den Begriff der Heterolingualität nicht zuletzt zur (sprachpolitischen) Kritik an der Tradition der identitätspolitischen 5.2 Sprachmischung als Heterolingualität 277 <?page no="278"?> 572 Ebd., S.-16. Essenzialisierung von Sprache als Instrument von Inkludierung und - vor allem - Exkludierens. 572 Leiden Suchets Interpretationen von Celan-Gedichten an einer unzureichenden Einbeziehung der deutschsprachigen Forschung - und das gilt leider für viele komparatistische Publikationen außerhalb des deutschen Sprachraums -, was zu einigen interpretatorischen Verzerrungen, ja Fehleinschätzungen führt (beispielsweise wenn sie die tragende Bedeutung der deutschen Sprache in Bezug auf die memorielle und jüdische Problematik unter‐ schätzt), bestätigen ihre theoretischen Ausführungen, dass sich der Begriff ›He‐ terolingualismus‹ hervorragend als Oberbegriff für viele der im vorliegenden Rahmen behandelten Phänomene eignet. Erste Beispiele Im Rahmen einer Analyse sprachmischender Verfahren im Werk Celans betont die Verwendung des Begriffs ›Heterolinguismus‹ die Tatsache, dass dabei alle möglichen Formen von sprachlicher Alterität - ungeachtet von Ausprägung, Umfang und Herkunft - zusammengedacht werden müssen. Das gilt umso mehr, als sich die Grenze zwischen interner und externer Sprachdifferenz, wie bereits ausgeführt, nicht immer klar ziehen lässt. Gerade bei Wörtern lateinisch-griechischen Ursprungs wie »Corona« (GW-I, 37, Titel), »Anabasis« (GW 256 f., Titel) oder »Quincunx« (GW II, 157, V. 6), die zwischen ihrer Herkunftssprache und der Kategorie des Lehnworts stehen, stellt sich durchweg die Frage, inwiefern sie als fremdsprachige Ausdrücke oder aber als sprachin‐ terne Varietäten zu qualifizieren sind. Wie andere Formen von Varietät in den Gedichten - man denke unter anderem an den Einbezug zahlreicher Fachtermini unterschiedlichster Provenienz in sein literarisches Idiom oder an die Präsenz von Archaismen und Austriazismen - sind diese Wörter bei Celan Teil einer allgemeinen sprachlichen Verfremdungsstrategie, weshalb der Versuch einer strikten Trennung zwischen ›deutsch‹ und ›nicht deutsch‹ unfruchtbar, ja kontraproduktiv wäre. Ein interessantes Beispiel, das in diesem Zusammenhang angeführt werden kann, stellt der Terminus »Oddessitka« im Gedicht »Die längst Entdeckten« (GW II, 133, V. 14) aus dem Band Fadensonnen dar. Zwar unterscheidet sich der vom Dichter dort benutzte russische Name für die Bewohnerinnen von Odessa nur geringfügig von der sonst üblichen deutschen Form ›Oddessiterinnen‹ (s. NKG, 913). Folglich scheint es fraglich, ob ›Oddessitka‹ als eigentlich fremdspra‐ chig zu bezeichnen ist. Sicherlich würden viele Kommentatoren hier von einer ›schwachen‹ Form von Sprachdifferenz sprechen. Dennoch erscheint es evident, 278 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="279"?> 573 In vorliegendem Fall könnte der in der Sprachwissenschaft bisher nicht fest etablierte Begriff ›Xenismus‹ Verwendung finden, mit dem verschiedenste Formen der Erzeu‐ gung sprachlicher Fremdheit angesprochen werden. Siehe hierzu u. a. Matthias Jung, »Sprachgrenzen und die Umrisse einer xenologischen Linguistik«. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 19, 1993, S.-203-230. sobald man die Wortwahl des Dichters ernst nimmt, dass der Verzicht auf die ›eingedeutschte‹ Bezeichnung bei Benutzung eines slawischen Suffixes diesem fremdkulturellen Verweis eine zusätzliche Alteritätsdimension verleiht. 573 Die scheinbar schwache Sprachdifferenz ›Oddessitka‹ vs. ›Oddessiterinnen‹ lässt so bereits den heterolingualen Grundzug von Celans poetischem Sprechen deutlich werden. Ein weiteres Beispiel aus dem slawischen Bereich, das hier angesprochen werden soll, stammt aus dem Gedicht »In eins« (GW I, 270, V. 15), das sicherlich zu den bekanntesten Texten des Dichters gehört und von dem schon mehrmals die Rede war. Diesmal geht es um die Wahl der (während der Oktoberrevolution gebräuchlichen) lateinisch-griechischen Bezeichnung ›Petropolis‹ anstelle des deutschen Städtenamens ›Sankt Petersburg‹. Auch in diesem Fall ist Celans Wahl der alternativen Form anstelle der im Deutschen allgemein üblichen Benennung (oder geläufigerer Namen wie ›Petrograd‹, ja ›Leningrad‹) als eine relativ eindeutige Entscheidung für sprachliche Hybridität aufzufassen. Das gilt selbst dann, wenn der Autor sich in diesem Fall möglicherweise von einem Gedicht Mandelstamms, das er außerdem übersetzt hat (s. GW V, 93), inspirieren ließ. Nicht zu vergessen, dass der Ortsname möglicherweise auch auf die gleichnamige brasilianische Stadt verweist, in der sich Stefan Zweig 1942 das Leben nahm. Auch unter dem Gesichtspunkt der Etymologie, mit der sich Celan intensiv auseinandergesetzt hat, wird das Problem der sprachlichen Zugehörigkeit be‐ stimmter Wörter aufgeworfen. Das ist etwa der Fall bei »Ho-/ sianna« am Ende des berühmten Gedichts »Engführung« (GW I, 195 ff.) aus Sprachgitter. Bei diesem Wort handelt es sich zunächst um einen dem deutschen Leser generell vertrauten Teil der christlichen Liturgie. Darüber hinaus verweist aber Hosianna über das Lateinische hosanna und das Altgriechische ὡσαννά auf das Hebräische תונעשוה zurück. Das kontrastive Nebeneinander von »Psalmen« (V. 148) und »Tempel« (V. 151) (verstanden als Kultstätte einer nicht christlich-katholischen Glaubensgemeinschaft) unterstreicht die Relevanz dieser verschiedenen, ja kon‐ trären Ebenen für das Gedicht. Das durch die Abtrennung der ersten Silbe und den wortinternen Zeilensprung verfremdete und wiederholte »Ho, ho-/ sianna./ […] Ho-/ sianna« (V. 148-149+156-157) kann den Leser zwar an Ver‐ 5.2 Sprachmischung als Heterolingualität 279 <?page no="280"?> trautes erinnern, zugleich besitzt es aber eine alteritäre, jüdische Dimension, die von der Semantik und der Motivik des Gedichts untermauert wird. Was den Grad der Fremdheit der in den Texten zum Einsatz kommenden Sprachen und Varietäten angeht, fällt eine klare Bewertung also nicht immer leicht, wie die eben genannten Beispiele zeigen. Je nach Bildungshintergrund der Leser können bestimmte heterolinguale Elemente mehr oder weniger vertraut erscheinen oder aber befremdlich, ja radikal fremd. Wirken fest im traditionellen Bildungskanon verankerte Fremdsprachen wie Französisch, Englisch und Latein meist vertraut, so können umgekehrt seltene deutsche Begriffe wie »Drusen« (GW I, 251, V. 2) und »Gaffel« (GW II, 223, V. 3) oder Komposita wie »kunkel‐ beinig« (GW II, 290, V. 3) selbst den gebildeten Leser befremden und sich einem direkten Verständnis entziehen. Anders gesagt gibt es in den Texten eine zum Teil erhebliche innerdeutsche Sprachalterität, was erneut beweist, wie intrikat die Unterscheidung zwischen Einsprachigkeit, sprachlicher Polyphonie und Mehrsprachigkeit ist. Quantitative Einschätzungen Selbst wenn es grundsätzlich notwendig ist, innerhalb des Œuvres zwischen verschiedenen Werkphasen, Gedichtbänden und Schreibarten zu differenzieren, kann an dieser Stelle allgemein festgehalten werden, dass Paul Celans Dich‐ tungssprache ab Mitte der 1950er-Jahre fast durchgängig vom Phänomen der Heterolingualität geprägt ist. Durchschnittlich rund ein Fünftel der vom Dichter autorisierten Gedichte (die Sammlung Schneepart eingeschlossen) vereinen heterolinguale Elemente in sich. Es handelt sich hierbei wohlbemerkt um einen Durchschnittswert. Frequenz und Intensität der verschiedenen Erscheinungs‐ formen variieren nicht nur von Band zu Band, sondern auch von Gedicht zu Gedicht, wobei der Befund von isolierten Wörtern bis zu intensiver Sprachmi‐ schung - mit einem Anteil von rund 30 % an heterolingualem Wortmaterial in manchen Texten - reicht. Vor dem Hintergrund der weiter oben erörterten Problematik der Sprachig‐ keit in Celans Dichtungssprache basiert diese Zählungen auf einer bewusst breiten Konzeption von Heterolingualität. Anders gesagt wurde es vorgezogen, die lexikalische Diversität in den Gedichten hervorzuheben, anstatt eine for‐ cierte Standardisierung von Celans Idioms zu riskieren. Angesichts der oft unmöglichen Grenzziehung zwischen ›homo-‹ und ›heterolingual‹ erheben die Angaben keinerlei Anspruch auf statistische Genauigkeit. Sie verfolgen lediglich das Ziel, die Grundzüge und die allgemeinen Entwicklungslinien im Werk deutlich zu machen. Wohlbemerkt wurden die rund fünfhundert Nach‐ lassgedichte, in denen multilinguale Phänomene (noch) häufiger auftreten, bei 280 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="281"?> dieser schätzungsweisen Evaluierung nicht berücksichtigt. Tendenziell würde eine Erweiterung auf den Nachlass zweifellos einen erheblichen Anstieg dieser Zahlen bewirken. Auf das autorisierte Werk bezogen kann bei einer Sichtung des Korpus festgestellt werden, dass sich die Heterolingualität von Celans Sprache ab den in Sprachgitter (1959) veröffentlichten Gedichten deutlich verstärkt. Höhepunkt und Wendepunkt der Entwicklung ist der Band Die Niemandsrose (1963), in dem fast die Hälfte der Gedichte heterolinguale Elemente beinhalten. Den Gegenpol dazu bildet der erste autorisierte Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952), selbst wenn diese Sammlung - so wie das Frühwerk (im Sinne von GW VI) - dennoch nicht als rein einsprachig zu bezeichnen ist, wie im Kapitel zur latenten textinternen Mehrsprachigkeit (s. Kap. 6) noch näher gezeigt werden soll. Im Laufe des Spätwerks der 1960er-Jahre bleibt die Heterolingualität dann - nach einem leichten Absinken in Atemwende (1967) - auf einem relativ stabilen Plateau bestehen, das insgesamt deutlich über dem der 1950er-Jahre liegt, ohne dabei erneut an das Niveau von Die Niemandsrose heranzureichen. 5.3 (Fremd-)Sprachen in den Gedichten Erster Überblick Neben der Vielfalt an deutschen Varietäten in Paul Celans poetischem Sprechen und der damit verbundenen Tendenz zur sprachlichen Hybridisierung und Ver‐ fremdung sticht unter heterolingualen Gesichtspunkten natürlich zuvorderst die große Zahl der in den Texten zum Einsatz kommenden Fremdsprachen ins Auge. Als Nationalsprachen bzw. standardisierten Einzelsprachen heben sich diese an vielen Stellen deutlich von der deutschen Hauptsprache ab. Französisch, Latein und Griechisch (darunter viel Eurolatein) sind dabei mit Abstand am stärksten repräsentiert. Gefolgt werden sie von Hebräisch und Englisch sowie von den seltener auftretenden Sprachen Italienisch, Jiddisch, Russisch und Spanisch. Schließlich folgen die mit nur einem Wort vertretenen Sprachen Dänisch und Schwedisch. Diese erste, annähernde Erhebung betrifft, wie bereits angegeben, zunächst nur Celans zu Lebzeiten veröffentlichte bzw. autorisierte Gedichte. Zusätzlich erwähnt werden können an dieser Stelle das in »Du sei wie du« (GW II, 327) benutzte Mittelhochdeutsche, das in einer Vorstufe zu »In eins« auftauchende Rumänische (TCA, NR, 107), einige dialektale Ausdrücke aus dem österreichisch-habsburgischen Raum wie »Feber« (»In eins«, GW I, 270, V. 1) und »Behmen« (»Gewieherte Tumbagebete«, GW II, 158, V. 13) sowie die sich einer klaren Sprachzuordnung entziehenden, lautmalerischen 5.3 (Fremd-)Sprachen in den Gedichten 281 <?page no="282"?> 574 Dieses Wort aus der sibirischen Mythologie bezeichnet riesenhafte Bewohner in der Unterwelt und lässt sich nicht über Sprachkenntnisse allein erschließen (s. NKG, 1018 f.). 575 Der Name des bretonischen Dorfes, in dem sich das Ehepaar Celan 1961 während eines Sommerurlaubs aufhielt, setzt sich zusammen aus dem bretonischen Wort für ›Dorf‹ (ker) und dem alten bretonischen (Vor-)Namen ›Morvan‹, dessen Etymo‐ logie umstritten ist. Wögerbauer suggeriert, dass der Name homophon auch als »Kehr-Mohr-Wahn« gelesen werden könnte. Siehe Wögerbauer, »Kermorvan«. In: Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, hier S. 250-254, S.-251. Vgl. auch Badiou, Bildbiographie, S.-260-261. 576 Dabei ist anzumerken, dass das Portugiesische die einzige Sprache ist, bei der Celan auf die Hilfe eines Mitübersetzers angewiesen war. Siehe Peter Goßens, »Der Übersetzer als Entdecker: Celans Pessoa-Übersetzung«. In: Markus May/ Peter Goßens/ Jürgen Lehmann (Hrsg.), Celan-Handbuch, S.-214-215. Sprachschöpfungen wie »Huhediblu« (GW I, 275 ff., Titel), »heidideldu« bzw. »heidudeldi« (GW II, 51f., V. 18+21) oder »Chebeldei« (GW II, 323, V. 10). 574 Beim bretonischen Gedichttitel »Kermorvan« (GW I, 263) wiederum handelt es sich um ein Toponym, von dem angenommen werden kann, dass es nicht wortwörtlich über das Bretonische, also eine keltische Sprache, zu verstehen ist, auch wenn die Lesarten dieses Wortes in der Forschung divergieren. 575 In diesem breiten Sprachkosmos stellt das Portugiesische den Sonderfall einer vom Dichter übersetzten Sprache dar (s. GW V, 562-579), die trotzdem an keiner Stelle in seinem eigenen Werk auftaucht. 576 Was den Status der im Korpus am häufigsten vertretenen Sprachen außer dem Deutschen angeht, kann grob zwischen folgenden Kategorien unterschieden werden: literarische Zweitsprachen, in denen Celan komplette Texte verfasst hat und die daher fester Teil seiner Schriftstelleridentität sind (Rumänisch und Französisch), jüdische Sprachen, denen eine eminent existenzielle Bedeutung zukommt (Hebräisch und Jiddisch), antik-vormoderne Fremdsprachen, die sich durch ihre historische Tiefendimension und ihren supranationalen Status aus‐ zeichnen (Griechisch und Latein), Sprachen von für ihn bedeutenden Autoren, die zum Teil Identifikationsfiguren darstellen (zuvorderst ist hier das Russische Mandelstamms zu nennen), sowie eine ganze Reihe weiterer Sprachen, die er übersetzt oder im Original rezipiert hat und die darüber hinaus eine aktive Rolle in seinem Schreiben gespielt haben (Italienisch und Englisch, unter anderem). Jüdische Sprachen Innerhalb dieses breiten Spektrums spielen die jüdischen Sprachen - d. h. He‐ bräisch, Jiddisch sowie deren Lehnwörter in anderen Sprachen und Varietäten - zweifelsohne eine besondere, herausragende Rolle. Mit ihrem Einsatz in den Texten wird zwangsläufig auf das für Paul Celans Dichtung so zentrale Thema der deutsch-jüdischen Beziehungen verwiesen - von der Utopie der 282 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="283"?> 577 Einige dieser Begriffe sind nur in Vorstufen präsent, so beispielsweise »Kol Nidre« (= Verweis auf das Abendgebet an Jom Kippur) in einem Textzeugen (s. TCA, NR, 134) von »Es ist alles anders« (GW-I, 284). 578 Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum, S.-107. Hervorhebung in der Quelle. 579 Ebd., S.-108. ›Symbiose‹ bis zum millionenfachen Massenmord. Gerade hebräische Begriffe wie »Kaddisch« (GW I, 222, V. 14), »Jiskor« (ebd., V. 19), »Hawdalah« (GW I, 259, Titel), »Tekiah« (GW I, 284 ff., V. 27) oder »Aschrej« (GW II, 154, V. 9), deren Verwendung mit dem Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle Anfang-Mitte der 1950er-Jahre einsetzt und über Die Niemandsrose hinaus bis zum Werkende anhält, sind trotz ihrer relativen Seltenheit von zentralem Stellenwert innerhalb von Celans sprachmischenden Verfahren. Manche dieser Wörter werden in den Vorstufen der Gedichte als potenzielle Titelwörter erkennbar, wodurch nochmals ihre zentrale Rolle unterstrichen wird. Zu dieser Lexik hinzugezählt werden können explizit jüdisch konnotierte Vornamen wie »Sulamith« (GW-I, 41 f., passim) und Rahel (GW II, 202, V. 4). Besonders präsent sind solche Namen im Gedicht »In Ägypten« (GW I, 46), in dem sie in Form der wiederholt verwen‐ deten Reihung von »Ruth! Noëmi! Mirjam! « (V. 3+6+9) auftreten. Auch Termini aus der jüdischen Religion wie »Rabbi« (GW I, 242, passim), »Phylakterien« (GW I, 260, V. 15) oder »Menora« (GW II, 324, V. 8) können zu diesem Wortfeld gezählt werden. 577 Wie gerade der Fall der jüdischen Wörter zeigt, sollte das quantitative Kriterium bzw. die lexikostatistische Perspektive bei der Analyse von Celans Wortschatz nicht allzu stark gewichtet werden, da schon einzelne Wörter eine tragende Funktion und einen erheblichen Alteritätseffekt besitzen können. Lydia Koelle bemerkt hierzu treffend: In Celans Gedichten werden die hebräischen Worte in eine Konstellation gestellt, die auf sich selbst und auf den Sprach-Raum, in den sie eintreten, verändernd einwirkt. Die hebräischen Worte sind Leitworte, die eine relecture des gesamten Gedichts einfordern. 578 Diese unübersetzbaren und durch nichts zu ersetzenden hebräischen »Leit‐ worte« im deutschen Text seien, so Koelle, als »eine Geste der Gegenbewegung zum assimilatorischen, angepaßten Verhalten« des jungen Celan zu interpre‐ tieren. 579 Das Hebräische in den Gedichten stellt demnach gleichsam einen Kontrapunkt zu seiner frühen Identifikation mit der deutschen Sprache und Literatur dar. Hierzu schreibt Koelle weiter: 5.3 (Fremd-)Sprachen in den Gedichten 283 <?page no="284"?> 580 Ebd., S.-107. 581 Auch in Nachlassgedichten tauchen hebräische Wörter auf. In »24 Rue Tournefort« (GW VII, 223) verwendet Celan mit »Schiwiti« das Anfangswort aus Psalm 16.8. In »Dem Andenken Leo Schestows« (NKG, 451) verwendet er neben einem lateinischen Motto den jüdischen Gottesnamen »Schaddai« in hebräischer Schrift. Besonders im Nachlasszyklus Zeitgehöft (GW III, 67-123, NKG, 557-577), dessen Gedichte sich mehrheitlich auf Celans Israel-Reise im Herbst 1969 beziehen, sind solche Begriffe zahlreich. Das hebräische Wort im deutschen Text hat eine Schutzfunktion, es macht das Gedicht als ganzes inkommensurabel, verhindert, daß es als deutsches Kulturgut angeeignet werden kann. Die hebräischen Worte sind Schlüssel zum Verständnis des Gedichts, sind wie Ritzen einer Tür, durch die ein schwacher Lichtschein nach außen dringt. Das hebräische Wort bewirkt nicht nur eine Intensivierung des Gedichts, sondern verlangt, bittet um die Intensivierung des Verstehensprozesses als Annäherung des Lesers an jüdische Denkart, zugleich damit an das jüdische Schicksal. 580 Im Resonanzraum der jüdisch-deutschen Geschichte wohnt laut Koelle einem einzelnen hebräischen Wort also die Kraft inne, verändernd auf das Verständnis des gesamten Textes und darüber hinaus zu wirken. In einem Brief an die befreundete - und wohlbemerkt ebenfalls jüdische - Dichterin Nelly Sachs hat Celan 1967 selbst den Einfluss des Hebräischen auf sein Schreiben unterstrichen, wobei er sich auf das Wort »Ziv« (hebr. für Glanz) im Schlussvers des Gedichts »Nah, im Aortenbogen« (GW II, 202, V. 10) aus dem Band Fadensonnen bezieht: »Einmal, in einem Gedicht, kam mir, über das He‐ bräische, auch ein Name dafür [= Ziv bzw. Ziw, wie Celan schreibt]« (Briefe, 792). Von diesem hebräischen Begriff aus der jüdischen Mystik, wo er auf die leuchtende Präsenz Gottes verweist, scheint demnach ein entscheidender text‐ genetischer Impuls ausgegangen zu sein. Die zentrale, ja existenzielle Bedeutung des Hebräischen wird außerdem durch die zahlreichen hebräischen Grüße und Signaturen in den Briefen des Dichters belegt (s. u. a. Briefe, 455, 544, 507). Da‐ neben können weitere Dokumente aus dem Nachlass erwähnt werden, wie bei‐ spielsweise eine beeindruckende, ja irrwitzig-verstörende graphische Variation über das hebräische Wort Yad Vashem ( די םשו ), die ein ganzes DIN-A4-Blatt überzieht (s. PC-GCL, I, 693-694, u. II, Abb. XV) 581 und selbstredend auf die internationale Holocaust-Gedenkstätte in Israel verweist. Ausgehend von der Problematik der jüdischen Sprachen im engeren Sinn hat Amir Eshel die Perspektive auf andere von den jüdischen Opfern gesprochene Sprachen ausgeweitet. So schreibt er: »Erst die Dichtung, die alle Sprachen der Toten - auch das Hebräische und das Jiddische - in der Gegenwart spricht, 284 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="285"?> 582 Amir Eshel, »Von Kafka zu Celan. Deutsch-jüdische Schriftsteller und ihr Verhältnis zum Hebräischen und Jiddischen«. In: Michael Brenner (Hrsg.), Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt: Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S.-96-127, hier S.-105. 583 Ebd. 584 Ebd., S.-108. 585 Siehe Paul Celan/ Ilana Shmueli, Briefwechsel. Hrsg. von Ilana Shmueli und Thomas Sparr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2004, S.-10. würde den Opfern eine Stimme verleihen«. 582 Laut Eshel stellt Mehrsprachigkeit also eine der allgemeinen Grundlagen von Celans Poetik des Totengedenkens dar. Mit diesen ›fremden‹ Sprachen wird jüdische Identität in den Texten markiert und gleichzeitig der nahezu vollständigen Auslöschung ihrer Sprecher gedacht. Erst eine solche, mehrsprachige Dichtung, so Eshel weiter, »zwänge die Leser zur Annahme des Fremden im Eigenen, zur Anerkennung des gleichwertig Menschlichen im Fremden.« 583 In diesem Sinne deutet er die Sprache Celans als eine Form des »lyrischen Mauscheln[s]«, 584 womit er meint, dass die jüdische (Opfer-)Perspektive tief in sie eingeschrieben ist - als sprachliche Alterität und Differenz. In einer Weiterführung könnte dieses ›Mauscheln‹ durchaus mit der Funktion eines Schibboleth (s. 3.2.1) verglichen werden, welches bewusst als sprachliche Markierung einer Gruppenzugehörigkeit verwendet wird. Diese Verbindung von Mehrsprachigkeit und Opferperspektive macht nicht zuletzt die ethische Dimension von Celans Rückgriff auf ›fremde‹ Sprachen deutlich. Als kritisches Instrument dient Multilingualität in seinem Schreiben mithin zur Öffnung des Deutschen auf das aus ihm Vertriebene, Ausgeschlossene, ja Eliminierte. Mehrschriftlichkeit Im Fall des Hebräischen wie auch des Jiddischen, für das ursprünglich ebenfalls die hebräische Schrift zum Einsatz kommt, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der eventuellen Verwendung der originalen Schriftform anstelle einer lateinischen Transliteration, wie sie sich in der westlichen Moderne zu‐ nehmend durchgesetzt hat. Bemerkenswerterweise ist aber das hebräische Al‐ phabet im zu Lebzeiten publizierten Werk Celans gänzlich abwesend. Erst ein Blick in die Vorstufen und den Nachlass erlaubt es, Texte zu finden, in denen die spezifisch jüdischen Buchstaben verwendet werden. Das ist beispielsweise der Fall in einer 1970 an die in Israel lebende Jugendfreundin Ilana Shmueli ge‐ sandten Variante des Gedichts »Du sei wie du«, in dem die Schlussworte ( ירוא / ימוק - kumi / ori) in hebräischer Schrift auftauchen (TCA, LZ, 177). 585 In der später in Lichtzwang publizierten Endfassung hat sich demgegenüber die 5.3 (Fremd-)Sprachen in den Gedichten 285 <?page no="286"?> lateinische Transkription durchgesetzt, was als eine Assimilierung an die deut‐ schen Normen aufgefasst werden kann. In einem früheren, im Band Fadensonnen veröffentlichten Gedicht »Frankfurt, September« (GW II, 114) aus dem Jahr 1965 hatte der Dichter ursprünglich darauf bestanden, den hebräischen Buchstaben ’Ajin ( ע ) in den Titel aufzu‐ nehmen (im Wortlaut: »Frankfurt, ע, September«, s. TCA, FS, 6). Als stimmloser glottaler Plosiv entspricht Ajin dem im Schlussvers benannten »Kehlkopfver‐ schlusslaut«. Im Gesamtkontext des Gedichts verweist der Buchstabe › ע ‹, dessen lexikalische Bedeutung im Hebräischen ›Auge‹ ist, insbesondere auf den an Kehlkopftuberkulose erkrankten Franz Kafka (s. NKG, 899 ff.). Diese Krankheit kann ja gerade mit dem ›Verschluss‹ des Kehlkopfs, also im Erstickungstod enden, wie es dem Prager Dichter an seinem Lebensende drohte. Im Kontext von Celans Werk ist eine solche Assoziation mit dem Tod durch Ersticken na‐ türlich alles andere als nebensächlich oder gar zufällig. Zudem nähert sich der Buchstabe › ע ‹ phonetisch dem hebräischen Wort für ›nichts‹ ( ןיא ) an, wodurch nochmals die starke Sinnkohärenz der mehrsprachigen Faktur dieses Gedichts unterstrichen wird. Die ursprünglich vom Dichter geplante symbolische Trennung der beiden deutschen Titelwörter durch einen eingefügten, gleichsam demonstrativen ›Fremdkörper‹ mit großer symbolischer Wirkung wurde aber letztlich nicht umgesetzt. Wie in anderen Fällen taucht die hebräische Schrift nicht in der Endfassung des Gedichts auf. Die Gründe für diese ›Zensur‹ sind nicht im Ein‐ zelnen nachzuvollziehen. Es ist aber sicherlich anzunehmen, dass die Rücksicht auf die deutsche Leserschaft und deutsche (bzw. einsprachige) Verlagsnormen beim Verzicht auf die hebräischen Schriftzeichen eine Rolle gespielt haben. Auch auf dieser Ebene lässt sich im Schreibverhalten und im literarischen Ethos Celans eine schwierige Gratwanderung zwischen Zugehörigkeit zum und Absonderung vom deutschen Literatursystem beobachten. In diesem Zusammenhang kann auch das Nachlassgedicht »Dem Andenken Leo Schestows« (NKG, 451) aus der Mitte der 1960er-Jahre erwähnt werden, das im Übrigen mit einem lateinischen Motto des (jüdischen) Philosophen Spinoza einsetzt. In diesem Text schreibt Celan den jüdischen Gottesnamen »Schaddai« am Gedichtende in hebräischer Schrift ( ידש ). Der Status des Textes als nicht zu Lebzeiten veröffentlichter lässt diesmal die Frage unbeantwortet, ob es diese Form hebräischer Mehrschriftlichkeit in eine mögliche Endfassung geschafft hätte. Im Briefwerk wiederum benutzt der Dichter die hebräische Schrift gene‐ rell nur bei Briefen an jüdische Adressaten wie Nelly Sachs, Ilana Schmueli oder Hanne Lenz. In den für die Öffentlichkeit bestimmten Texten gewährleistet durchweg die Verwendung der lateinischen Transliteration die - zumindest 286 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="287"?> 586 Das Motto war zunächst für das Gedicht »Hinausgekrönt« (GW I, 271) vorgesehen (s. TCA, NR, 108). Das russische Wort ›жиды‹ (židi) besitzt einen klar pejorativen Charakter, was sogar eine Übersetzung mit Ausdrücken wie ›Drecksjude‹ motivieren könnte. 587 In einem Brief an den Verleger Gottfried Bermann Fischer aus dem Jahre 1962 erwähnt Celan explizit die Schwierigkeiten, die mit dem Abdruck von russischen Zitaten in kyrillischer Schrift einhergehen (Briefe, 627-628). 588 Siehe Monika Schmitz-Emans, »Mehrschriftlichkeit«. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Lite‐ ratur und Mehrsprachigkeit, S.-221-232. phonetische - Lesbarkeit der hebräischen Textstellen. Dasselbe gilt für die Zitate aus dem jiddischen Lied in »Benedicta« (GW I, 249) in Die Niemandsrose, wel‐ ches nach jüdischer Tradition wie gesagt eigentlich in hebräischen Lettern ab‐ gedruckt werden müsste. Allerdings erscheint es fraglich, ob dieses Problem bei Celan speziell die jüdischen Sprachen betrifft. Denn ein vergleichbares Prozedere lässt sich auch beim Griechischen erkennen, dessen spezifische Schrift ebenfalls nicht in den publizierten Texten zum Einsatz kommt. Beim Russischen hingegen fügt Celan in der Endstufe des Gedichts »Und mit dem Buch aus Tarussa« (GW I, 287 ff.) zuletzt noch das Kyrillische ein, indem er Marina Zwetajewas Vers »Alle Dichter [sind] Juden« als Motto in leicht veränderter Form über seinen eigenen Text stellt: »Все поэты жиды« (s. TCA, NR, 139). 586 Im Unterschied zum Hebräischen und zum Griechischen wagt es hier der Dichter, 587 die Mehrschriftlichkeit als radikalste Art der sprachlichen Alterität umzusetzen, freilich mit dem Risiko, dass die meisten Leser den Text nicht ohne fremde Hilfe entziffern können. 588 Indessen zwingt das Gedicht so seinen Leser umso mehr dazu, sich aus dem muttersprachlichen Rahmen herauszulösen und sich - gegebenenfalls durch Recherchen - gegenüber der sprachlichen Alterität und Diversität zu öffnen. Zur Problematik der Kursivschreibung Ein von der Mehrschriftlichkeit klar unterschiedenes, in Bezug auf die Mar‐ kierung von Anderssprachigkeit jedoch bis zu einem gewissen Grad vergleich‐ bares Gestaltungsmittel stellt die Kursivierung dar. Im Fall von Gedichten mit anderssprachigen Einsprengseln spielt diese Form der typographische Schriftauszeichnung eine nicht unbedeutende Rolle im Prozess der sprachli‐ chen Decodierung. Wie die Verwendung differenter Schriftarten führt die Kursivierung von Teilen des mehrsprachigen Gedichttextes zu einer Signalwir‐ kung, die die betreffenden Wörter aus dem Textzusammenhang (und mithin aus der Hauptsprache) herauslöst. Mittels einer solchen Ausdifferenzierung der Schriftform markiert die Kursivschreibung eine textinterne Sprachgrenze zwischen dem ›Kerndeutschen‹ und den anderen Sprachformen, ja, etabliert 5.3 (Fremd-)Sprachen in den Gedichten 287 <?page no="288"?> diese erst eigentlich. Umgekehrt suggeriert eine fehlende Markierung durch Kursivierung eine stärkere Integration der betreffenden Textteile in die deutsche Hauptsprache. Im Fall von Wörter, die sich gleichsam auf der Grenze zwischen zwei Sprachen befinden, wie das beispielweise bei Phänomenen der Entlehnung der Fall ist, werden diese durch die Schriftform entweder ›eingebürgert‹ oder aber als fremd markiert. Anders gesagt spielt die Frage der Kursivierung also eine nicht unerhebliche Rolle bei der Wahrnehmung der Sprachigkeit der entsprechenden Textstellen vor dem Hintergrund der deutschen Basissprache. Dabei ist diese Form der Markierung insgesamt häufiger in den Gedichten anzutreffen als das Setzen von Anführungszeichen, das hauptsächlich bei direkter Rede zu beobachten ist (s. »Tübingen, Jänner«, GW I, 226). Selbstredend spielen Lektoren und Verlagsrichtlinien in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Rolle, weshalb nicht durchgängig von einer poetischen Intention ausgegangen werden kann. Überhaupt erscheint Celans Vorgehensweise auf diesem Gebiet alles andere als systematisch, so dass stets vom Einzelfall ausgegangen werden muss. Dennoch sollte bei der Analyse mehrsprachiger Texte neben der Problematik der Mehr‐ schriftlichkeit immer auch die Frage der Kursivierung berücksichtigt werden. An einem letzten Beispiel aus Celans Werk soll diese Problematik nochmals veranschaulicht werden: Am Ende von »Du sei wie du« (GW II, 327, V.-10-11) wird das hebräische »kumi ori« mittels Transliteration und Nicht-Kursivierung typographisch auf die gleiche Ebene gestellt wie die vorangehenden deutschen Wörter in lateinischer Schrift, wohingegen die mittelhochdeutschen Textteile des Gedichts durch Kursivierung vom Hochdeutschen abgehoben und latent verfremdet werden. Trotz der unterschiedlichen Behandlung von Hebräisch und Mittelhochdeutsch im Text hat die Typographie in beiden Fällen einen klaren Einfluss auf die textinterne Relation zwischen den Sprachen. Anhand dieses Beispiels wird somit deutlich, wie sich die Entscheidungen für oder gegen eine Kursivierung bestimmter Wörter direkt auf die Wahrnehmung von sprachmischenden Texten auswirken kann. 5.4 Heterolinguale Gedichttitel und Toponyme Die Verwendung hebräischer Wörter in den Gedichttiteln - wie es zum Beispiel in »Schibboleth« (GW I, 131) und »Hawdalah« (GW I, 259) der Fall ist - verleiht diesen selbstredend eine ganz besondere Sichtbarkeit. Auch über das Hebräi‐ sche hinaus fällt allgemein im lyrischen Gesamtwerk Celans die relativ große Zahl von Titeln auf, die ganz oder größtenteils aus heterolingualen Elemente bestehen. Dieses Phänomen ist schon ab dem ersten autorisierten Gedichtband 288 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="289"?> 589 »Corona« (GW I, 37), »Assisi« (GW I, 108), »Schibboleth« (GW I, 131), »Kenotaph« (GW I, 134), »Argumentum e silentio« (GW I, 138), »Tenebrae« (GW I, 163), »Matière de Bretagne« (GW I, 171), »Chymisch« (GW I, 227), »Radix, Matrix« (GW I, 239), »Mandorla« (GW I, 244), »Benedicta« (NR, GW I, 249), »À la pointe acérée« (GW I, 251), »Anabasis« (GW I, 256), »Hawdalah« (GW I, 259), »Le Menhir« (GW I, 260), »Kermorvan« (GW I, 263), »Kolon« (GW I, 265), »Les Globes« (GW I, 274), »Huhediblu« (GW I, 275), »La Contrescarpe« (GW I, 282), »Von der Orchis her« (GW II, 64), »Frihed« (GW II, 77) »Solve« (GW II, 82), »Coagula« (GW II, 83), »Give the word« (GW II, 93), »Hendaye« (GW II, 124), »Pau, nachts« (GW II, 125), »Pau, später« (GW II, 126), »Lyon, Les Archers« (GW II, 130), »Haut Mal« (GW II, 220), »Highgate« (GW II, 262), »Die Mantis« (GW II, 295), »Schneepart« (GW II, 345), »Largo« (GW II, 356), »Levkojen« (GW II, 374), »Playtime« (GW II, 386), »Mapesbury Road« (GW II, 365), »Offene Glottis« (GW-II, 388), »Schnellfeuer-Perihel« (GW-II, 410). 590 »Windröschen« (GW VI 103) = »Anemone nemorosa« (HKA 1.2, 216), »Bretonischer Strand« (GW I, 99) = »La Plage de Toulinguet« (TCA, SZS, 34), »Blume« (GW I, 164) = »Fleur« (TCA, SG, 32), »Schneebett« (GW I, 168) = »Matrimonium« (TCA, SG, 42), »Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehen« (GW I, 212) = »La leçon d’allemand« (TCA, NR, 11), »Dein Hinübersein« (GW I, 218) = »Schechina« (TCA, NR, 20), »Erratisch« (GW I, 235) = »Muta cum liquida« (TCA, NR, 50), »Einem, der vor der Tür stand« = »Que sont mes amis devenus« (TCA, NR, 64), »Sibirisch« (GW I, 248) = »Jakutisch« (TCA, NR, 72-73), »Bei Tag« (GW I, 262) = »Trébabu, Matines« (TCA, NR, 94), »Hüttenfenster« (GW I, 278) = »Hommage à Quelqu’un« (TCA, NR , 120-121), »Osterqualm« (GW II, 85) = »Par Charité« (TCA, AW, 143), »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154) = »Aschrej« (TCA, FS, 84), »Riesiges« (GW II, 157) = »Quicunx« (HKA, 8.2., 123), »Muschelhaufen« (GW II, 235) = »Ancylus« (TCA, LZ, 10) sowie - vermutlich - »… rauscht der Brunnen« (GW I, 237 = »L’implacable« (HKA, 6.2, 141). Bei dem bereits zitierten heterolingualen Titel »Tenebrae« (GW I, 163) gibt es einen französischen Vorstufentitel: »Leçon des Ténèbres« (TCA, SG, 30-31). 591 Siehe auch das gleichnamige Gedicht (GW-II, 345). Mohn und Gedächtnis zu beobachten und durchzieht alle folgenden Bände bis ins Spätwerk. 589 Poetologisch relevant ist diese Tatsache insofern, als solche Titel suggerieren, dass der Eintritt in das (deutsche) Gedicht nur über den ›Umweg‹ der anderen Sprache erfolgen kann. Einige Gedichte mit deutschem Titel in der Endfassung besaßen zudem während ihrer Entstehungsphase heterolinguale Titel, die häufig gleichsam den Ausgangspunkt der Textgenese darstellen. 590 Selbst ganze Gedichtsammlungen stehen bei Paul Celan unter dem Zeichen der Heterolingualität. Besonders exponiert tritt diese im Titel des letzten vom Autor für den Druck vorbereiteten und 1971 erschienenen Gedichtbandes Schneepart in Erscheinung, der ein deutsches mit einem lateinisch-französischen Wort verbindet. 591 Für den Band Fadensonnen (1968) hatte Celan neben anderen Optionen den lateinischen Arbeitstitel »Quicunx« benutzt (TCA, FS, IX, 1 u. 230), hat das Wort aber schließlich nur im Gedicht »Riesiges« (GW-II, 157) aus dieser Sammlung verwendet. Bereits für den viel früher erschienenen Band Von Schwelle zu Schwelle (1955) hatte der Dichter den lateinischen Titel Argumentum 5.4 Heterolinguale Gedichttitel und Toponyme 289 <?page no="290"?> 592 Mit solchen lateinischen Titeln, die in seinem Werk öfter auftauchen, knüpft Celan unter anderem an eine Praxis an, die ihm von französischen Autoren wie Hugo, Baudelaire, Verlaine und Rimbaud bekannt war, welche in ihren Gedichten wiederholt auf diese Form von Sprachmischung zurückgegriffen haben. Bei den französischen Autoren gründet sich diese Form manifester - aber auch latenter - Präsenz des Latei‐ nischen freilich auf einer engen sprachverwandtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Beziehung. 593 Vgl. Matthias Jung, Sprachgrenzen und die Umrisse einer xenologischen Linguistik. 594 Da es in der vorliegenden Studie nicht darum gehen soll, eine komplette Aufstellung sämtlicher heterolingualer Wörter, Passagen und Zitate in Celans Werk zu erstellen, bieten sich an dieser Stelle gerade Gedichttitel als exponierte Ausdrucksform für eine exemplarische Analyse an. e silentio (vgl. das gleichnamige Gedicht, GW I, 138) in Erwägung gezogen (TCA, SZS, 2), 592 wobei er es rückblickend bereut hat, diesen nicht beibehalten zu haben (NKG, 706). Dabei indiziert diese Selbstkritik ein gewisses Bewusstsein Celans für das Problem sprachlicher Selbstzensur bezüglich der Verwendung von Mehrsprachigkeit. Der Gedichtband Die Niemandsrose (1963) schließlich fällt hauptsächlich dadurch auf, dass in ihm die Anzahl heterolingualer Gedichttiteln aus verschiedenen Sprachen einen Höhepunkt erreicht. Nahezu jeder vierte Text dieser Sammlung trägt einen solchen Titel, das halbe Dutzend der nur in den Vorstufen präsenten, vorläufigen Titel nicht mitgerechnet. Der Befund ist also in diesem Band auch in quantitativer Hinsicht durchaus beachtlich. Sonderfall der Toponyme Bei dieser quantitativen Einschätzung werden hier Toponyme mitgezählt, selbst wenn es sich dabei meist um eine Art ›automatischer‹ Anderssprachigkeit handelt. Denn generell werden ja die wenigsten Ortsnamen eines Landes in andere Sprachen übersetzt. Außerdem erfüllt die ›Verortung‹ durch Toponyme bei Celan meist eine der Datierung vergleichbare Funktion, wodurch sich das Gedicht gleichsam einem Tagebucheintrag annähert. Nichtsdestoweniger tragen originalsprachige Toponyme in Titeln wie »Hendaye« (GW II, 124), »Highgate« (GW II, 262) und »Mapesbury Road« (GW II, 365), mit denen der Dichter seine deutschen Texte bewusst in ›ausländische Gefilde‹ einschreibt, erheblich zum Effekt sprachlich-kultureller Alterität bei. Auf dieser Ebene sind sie mit sogenannten Xenismen vergleichbar. 593 Dienen solche Toponym-Titel zur gleichsam diaristischen Einschreibung in Ort und Zeit - was man ebenfalls an vielen Vorstufen-Titeln beobachten kann -, so tauchen auch in den Gedicht‐ texten zahlreiche ›fremde‹ Ortsnamen auf, die sich auf konkrete biographische und historische Daten beziehen lassen. 594 290 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="291"?> 595 Jean-Marie Winkler, »La Contrescarpe«. In: Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S.-331-339, hier S.-332. 596 Celan war wohlbemerkt des Spanischen nicht mächtig, im Gegensatz zu seiner Frau, die es gut beherrschte. Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-268. Bei den Ortsbezeichnungen ebenfalls zu berücksichtigen ist der Umstand, dass diese über ihre primäre Verweisfunktion hinaus oft ›sprechende‹ Namen darstellen, also wortwörtlich gelesen werden wollen, was speziell für das Französische gilt. Dies ist etwa der Fall bei dem Titel »La Contrescarpe« (GW-I, 282), der sich nicht nur auf einen öffentlichen Platz im 5. Pariser Bezirk bezieht, sondern auch in seiner historisch-architektonischen Bedeutung als ›Festungsmauer‹ zu lesen ist. Zudem kann er wortwörtlich über das französi‐ sche Argot als ›contre escarpe‹ im Sinne von ›Gegen die Meuchelmörder‹ 595 verstanden werden. Der Titel des Gedichts »Lyon, Les Archers« (GW II, 130), der primär auf eine Straße im Zentrum der französischen Stadt verweist, lässt sich seinerseits als buchstäblicher Verweis auf das Sternzeichen des Autors (frz. archer = Schütze) lesen, wobei diese Selbstallegorisierung über den Namen oder die Insignien des Bogenschützen (Bogen, Pfeil usw.) an mehreren Stellen im Werk zu beobachten ist. Die Wahl solcher Titel beruht also häufig auf der wortwörtlichen Bedeutung der heterolingualen Toponyme, wodurch diese kreativ in den Schreibprozess eingebunden werden. Die späte Pariser Wohnadresse Celans »rue Tournefort« (nach dem Namen eines berühmten französischen Botanikers), die in zwei Gedichten auftaucht (»24 Rue Tournefort«, GW VII, 223, und »Aus dem Moor‐ boden«, GW II, 239, V. 7), wurde so nachweislich von Celan als Wortspiel im Sinne von ›qui tourne fort‹ (›sich schnell drehen‹, sinngemäß: ›sehr gut laufen‹) benutzt (s. Briefe, 788) und weist ebenfalls weit über ihre toponymische Funktion hinaus. In diesem sowie zahlreichen weiteren Beispielen werden solche fremde Toponyme als vom Dichter bewusst eingesetztes Mittel zur Erzeugung von Mehrsprachigkeit erkennbar. Im Gedicht »Assisi« klingt etwa in der »Umbrische[n] Nacht« (GW I, 108, V. 1+2) über den Namen der italienischen Region, in der sich die Stadt des berühmten Franziskus befindet, der ›Schatten‹ (lat. umbra) mit an. Dieser etymologische Bezug muss dem Autor nicht zuletzt über das Französische ›ombre‹ bewusst gewesen sein. Das romanische Schatten-Motiv fügt sich zudem kohärent in den Wortschatz von Celans Gesamtwerk ein, wo das entsprechende germanische Lexem omnipräsent ist. Auf einen besonders interessanten Fall aus der Romania hat Heimann hingewiesen, die den Namen der spanischen Region Estremadura aus dem Gedicht »Schibboleth« (GW I, 131, V. 30) wortwörtlich über das Spanische liest. 596 Im Spanischen bedeutet das Nomen ›estro‹ so unter 5.4 Heterolinguale Gedichttitel und Toponyme 291 <?page no="292"?> 597 Heimann, »Über das ›Gegenwort‹ des Hebräischen in der Dichtung Paul Celans«, S. 48. 598 François Villon, »Quatrain«. Poètes et romanciers du Moyen Âge. Hrsg. v. Albert Pauphilet. Paris: Gallimard, 1952, S.-1220. Vgl. NKG, 797. anderem ›poetische Inspiration‹, während das Verb ›madurar‹ ›durchdenken‹ oder auch ›reifen‹ meinen kann. 597 Und selbst bei dem Namen der südwestfran‐ zösischen Stadt Pau, der nacheinander in zwei Gedichttiteln Celans auftaucht (»Pau, nachts«, GW II, 125, »Pau, später«, GW II, 126), kann in multilingualer Hinsicht angemerkt werden, dass dieser Name mit der katalanischen Form des Vornamens Paul identisch ist (vlg. den Namen des legendären Cellisten Pablo/ Pau Casals), wodurch die diesen Gedichten inhärente selbstreflexive Ebene hervorgehoben wird. Die Toponyme fungieren in diesen Fällen also nicht nur als Eigennamen, sondern stellen in sich mehrdeutige Wörter dar, eine häufige Technik, die weiter unten als ›exophone Vielstelligkeit‹ eingehender thematisiert werden soll (s. 5.7). In diesem Zusammenhang kann ebenfalls auf das Toponym »Brest« im Gedicht »Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle« (GW I, 261) hingewiesen werden, das transkulturell (und homonym-translingual) sowohl auf die franzö‐ sische Stadt in der Westbretagne als auch auf das weißrussische Brest-Litowsk verweist. Auch wenn sich in diesem Fall keine wortwörtliche Bedeutung ausmachen lässt, fungiert das französisch-russische Toponym erneut als Mittel zur Mehrfachcodierung. Als eine im Rahmen der Toponymie-Problematik besonders interessante multilinguale Mischform erweist sich zuletzt der Titel »Eine Gauner- und Ga‐ novenweise« (GW-I, 229 f.) aus Die Niemandsrose. In seiner vollständigen Form lautet dieser: »Eine Gauner- und Ganovenweise / gesungen zu Paris Emprès Pontoise / von Paul Celan / aus Czernowitz bei Sadagora«. Die französische Präposition ›emprès‹ (in der topographischen Bedeutung von ›bei‹, im Sinne von ›Reinbek bei Hamburg‹) ist ein eindeutig heterolinguales Element, das ergänzt wird durch vier Toponyme: die Geburtsstadt der Mutter des Autors (Sadagora), seine eigene Heimatstadt (Czernowitz), die französische Hauptstadt sowie das weit weniger zentrale ›Pontoise‹, eine rund 25 Kilometer nordwestlich von Paris gelegene Kleinstadt. Hintergrund des Gedichts ist ein Vierzeiler des französischen Poeten François Villon mit dem Titel »Le Quatrain que feist Villon quand il fut jugé à mourir« (»Der Vierzeiler, den Villon verfasste, als er zum Tode verurteilt wurde«), dessen Wortlaut Celan in vorliegendem Gedichttitel translatorisch nachahmt: »Je suis Francoys, dont il me poise, / Né de Paris emprès Pontoise, / Et de la corde d’une toise / Scaura mon col que mons cul poise«. 598 Von dem spätmittelalterlichen Vorgänger übernimmt der Dichter also ein französisches Wort (»emprès«), die kontraintuitive Inversion von Haupt- 292 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="293"?> 599 Hierzu muss allerdings angemerkt werden, dass sowohl Pontoise als auch Sadagora historisch betrachtet die Funktion wichtiger kultureller Zentren besaßen. 600 »Les Adieux« (GW VI, 33), »Clair de lune« (GW VI, 47), »Notturno« (GW VI, 54), »Air« (GW VI, 88), »Aubade« (GW VI, 97), »Aequinoctium« (GW VI, 127). Eine frühere Fassung von »An den Wassern Babels« (GW VI, 70) trug den Titel »Chanson juive« (s. GW VI, 246). Das Gedicht »Windröschen« (GW VI, 103) trug in einer früheren Fassung den latinischen Namen dieser Pflanze (»Anemone nemorosa« = Buschwindröschen) im Titel (s. GW VI, 250). 601 Dort sind heterolinguale Textelemente aus der Welt der Musik nicht nur in Titeln vor‐ zufinden. Siehe u. a. das verfremdete Zitat »unde suspirat / cor« aus der Mozart-Motette Exultate, jubilate im - wohlbemerkt einen griechischen Titel tragenden - Gedicht »Anabasis« (GW I, 256 f., V. 19-20). Im Gedicht »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154) wird mit »Allemande« (V. 22) die französische Fachbezeichnung einer Musikgattung erwähnt. 602 »Ricercar« (GW VII, 55), »Il cor compunto« (GW VII, 58), »Les Blancs Sablons« (GW VII, 60), »Immersio« (GW VII, 61), »Rhesus« (GW VII, 62), »Muta« (GW VII, 64), »Merville-Franceville« (GW VII, 84), »Le Périgord« (GW VII, 96), »Limbisch« (GW VII, 188), »Oldest Red« (GW VII, 193), »24 Rue Tournefort« (GW VII, 223), »Biwaks im Klärschlamm-Massiv« (GW VII, 230), »Les Dames de Venise« (GW VII, 245), »Kew Gardens« (GW VII, 291). und Vorstadt (»Czernowitz bei Sadagora«) 599 und das im Binnentext später zentrale Galgenmotiv (»la corde d’une toise«). Von den Gedichttiteln zu den Gedichttexten Auch im nachgelassenen Teil des Frühwerks sind heterolinguale Gedichttitel häufig anzutreffen, wobei das Französische wieder einmal dominiert. 600 Neben der großen Anzahl an Ortsnamen fällt dort vor allem die Häufigkeit von musikalischen Werktiteln und Gattungen auf. Diese Tendenz setzt sich im au‐ torisierten Hauptwerk fort. 601 Im Nachlass der Pariser Zeit lassen sich ebenfalls zahlreiche weitere heterolinguale Gedichttitel ausmachen, 602 worin sich das ›unautorisierte‹ Œuvre nicht wesentlich von den veröffentlichten Lyrikbänden unterscheidet. Der eigentliche Unterschied der beiden Werkteile besteht darin, dass der Nachlass mit dem oben eingehend besprochenen »Ô les hâbleurs« (GW VII, 229, s. 4.4.2) ein rein französischsprachiges Gedicht enthält sowie mehrere Texte, die das Deutsche hochgradig mit dem Französischen mischen, wie etwa das ebenfalls schon analysierte Gedicht »Muta« (GW VII, 63, s.-3.1.4). In diesem Zusammenhang kann ebenfalls das Nachlassgedicht »Mit dir vor Jahren« (NKG, 440) zitiert werden, dessen letzte Verse aus einer französischen Apostrophe an seine Frau bestehen: »C’est aussi / le pays de Babeuf, Ton pays: / Alix-Marie-Gisèle de Lestrange« (V. 11-13, Hervorhebung in der Quelle). Auch im Prosa-Nachlass lässt sich ein offensichtlich abgebrochener Ansatz zu einem deutsch-französischen Gedicht entdecken (s. Mikrolithen, S. 50, Nr. 77.4). 5.4 Heterolinguale Gedichttitel und Toponyme 293 <?page no="294"?> Doch schon der zu Lebzeiten veröffentlichte und vom Autor autorisierte Werkteil liefert eine ganze Reihe an Beispielen für hochgradige Sprachmi‐ schung. Das in dieser Hinsicht herausragende Gedicht »Huhediblu« (GW I, 275 ff.) aus der Sammlung Die Niemandsrose wurde im zweiten Kapitel aus‐ führlich analysiert. Ein anderes wichtiges sprachmischendes Gedicht, »In eins« (GW I, 270), das aus demselben Band stammt, wurde ebenfalls bereits erwähnt. Wie gezeigt lässt sich das im Titel verankerte poetische Prinzip des In-Eins-Setzens insofern in metamultilingualer Hinsicht verstehen, als in diesem Text gerade die starke Kopräsenz multipler Idiome hervorsticht. Neben dem Hebräischen (»Schibboleth«, V. 2) und dem Spanischen (»no pasarán«, V. 4) taucht in »In eins«, das Französische (»Peuple / de Paris«, V. 3-4), das Lateinisch-Griechische (»Petropolis«, V. 15) sowie ein Austriazismus (»Feber«, V. 1) auf. Diese Palette wird in den überlieferten Textzeugen durch russische und rumänische Wörter ergänzt (s. TCA, NR, 106-107). Hinzu kommen eine Reihe ›fremder‹ Eigennamen, darunter Toponyme wie »Huesca« (V. 6) und das bereits zitierte »Petropolis« (V. 15). Das Adjektiv »toskanisch« (V. 17) impliziert zusätzlich ein interlinguales Wortspiel (über das Russische), das weiter unten näher angesprochen werden soll (s.-6.6). Die Untersuchung der heterolingualen Dimension von Celans Gedichtwerk könnte über die besonders exponierten Gedichttitel und einzelne Kategorien wie die Toponyme hinaus an zahlreichen weiteren Beispielen fortgesetzt werden, wie es in der früheren Forschung zum Teil bereits geschehen ist. Andere unter der Perspektive der Heterolingualität ihrer Lexik erwähnenswerte Gedichte aus dem zu Lebzeiten publizierten Werk wären beispielsweise »Anabasis« (GW I, 256 f.), »La Contrescarpe« (GW I, 282 f.), »Und mit dem Buch aus Tarussa« (GW I, 287 ff.), »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154) und »Schaltjahrhun‐ derte« (GW II, 324). Aus Platzgründen - und unter bewusstem Verzicht auf die utopische Zielsetzung einer vollständigen Erfassung aller mehrsprachiger Elemente in Celans Werk - soll an dieser Stelle lediglich das Gedicht »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« näher betrachtet werden. »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« Das 1967 im Band Fadensonnen publizierte Gedicht »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154) besticht neben seinen inhaltlichen Aspekten, die im vorliegenden Zusammenhang nicht von vorrangigem Interesse sind, durch eine breite Palette an heterolingualen Elementen, die seine Faktur über weite Teile prägen, weshalb der Text an dieser Stelle in Gänze zitiert werden soll: 294 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="295"?> WENN ICH NICHT WEISS, NICHT WEISS, - ohne dich, ohne dich, ohne Du, - - - kommen sie alle, - die 5 Freigeköpften, die - zeitlebens hirnlos den Stamm - der Du-losen - besangen; - - - Aschrej, - - 10 ein Wort ohne Sinn, - transtibetanisch, - der Jüdin - Pallas - Athene 15 in die behelmten - Ovarien gespritzt, - - - und wenn er, - - - er, - - - foetal, - - 20 karpatisches Nichtnicht beharft, - - - dann spitzenklöppelt die - Allemande - - - das sich übergebende un- - sterblich 25 Lied. (GW-II, 154) Das vorliegende Gedicht aus der späten Schaffensphase des Dichters darf als besonders repräsentativ für die heterolinguale Schreibweise seiner Lyrik bezeichnet werden. Es zeigt eindrücklich, wie sich in seiner Schreiben Fach‐ vokabular (»Ovarien«, V. 16, »foetal«, V. 19), fremde Eigennamen (»Pallas 5.4 Heterolinguale Gedichttitel und Toponyme 295 <?page no="296"?> 603 Diese Problematik soll am Ende der Studie (s. 8.2) vor dem Hintergrund der Methoden der Digital Humanities vertieft werden. Athene«, V. 13-14), ausländische Toponyme (»transtibetanisch«, V. 11, »kar‐ patisch«, V. 20), Fremdsprachen (Hebräisch, V. 9, Französisch, V. 22) und Wortschöpfungen (»Nichtnicht«, V. 20) innerhalb der deutschen Basissprache begegnen können. Ähnlich wie in »Huhediblu« (s. Kap. 2.) geht die Themati‐ sierung antisemitischer Gewalt, unter anderem verkörpert in der Gestalt einer misshandelten »Jüdin Pallas Athene« (V. 12-14), einher mit großer sprachlicher Virulenz sowie mit einer starken Präsenz heterolingualer Elemente. Insgesamt rund 15 % des Wortmaterials von »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« können so als heterolingual bezeichnet werden. Auf einzelne der heterobzw. translingualen Merkmale des Gedichts (speziell auf »Aschrej«, V. 9 und »Nichtnicht«, V. 20) wird im Laufe der folgenden Abschnitte und Kapitel zurückzukommen sein (s. 5.7 u. 6.7). Zunächst soll jedoch anhand der Analyse von zwei weiteren Celan-Gedichten der 1960er Jahre die bereits in »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« präsente jüdische (Sprach-)Problematik vertieft werden. 5.5 Jüdisch-christliche Sprachkonfrontationen Im Rahmen der vorliegenden Studie geht es, wie bereits unterstrichen, zuvor‐ derst darum, ein synthetisch-typologisches Gesamtbild der Sprachmischung bei Celan zu erstellen, wobei sich der Fokus vornehmlich auf wiederkehrende Problematiken, Sprachmuster und Verfahren richtet. So kann es nicht darum gehen, jede einzelne Stelle im Gesamtkorpus zu verzeichnen, zumal das Ver‐ fahren einer ›Katalogisierung‹ des nicht-standarddeutschen Sprachmaterials ein höchst problematisches Unterfangen wäre, wie hier nochmals betont werden soll. 603 Hinzu kommt die prinzipielle Notwendigkeit, die jeweiligen Befunde an den spezifischen Gedichtkontext zurückzubinden, wie es bereits exempla‐ risch versucht wurde. Im Folgenden sollen nun zwei weitere stark durch Heterolinguismus charakterisierte Gedichte angesprochen werden, in denen wie im vorhergehenden Beispiel das Thema Judentum eine tragende Rolle spielt. Über die Analyse des Wortmaterials hinaus geht es um den Versuch einer kontextuellen Funktionsbestimmung der anderssprachigen Elemente, wobei speziell die Gegenüberstellung von jüdischen und christlichen Referenzen als Strukturmerkmal der Texte erkennbar wird. 296 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="297"?> »Benedicta« Beim ersten dieser Beispiele handelt es sich um das aus Die Niemandsrose stammende und 1961 entstandene Gedicht »Benedicta«, in dem Celan die lateinische Sprache mit dem Jiddischen konfrontiert und verschränkt. Es soll an dieser Stelle zunächst vollständig widergegeben werden: - BENEDICTA - - - - - - Zu ken men arojfgejn in himel arajn - - Un fregn baj got zu’s darf asoj sajn? - - Jiddisches Lied - - - - Ge- - - trunken hast du, - was von den Vätern mir kam - und von jenseits der Väter: 5 - -, Pneuma. - - - Gesegnet seist du, von weit her, von - jenseits meiner - erloschenen Finger. - - 10 Gesegnet: Du, die ihn grüßte, - den Teneberleuchter. - - - Du, die du’s hörest, da ich die Augen schloß, wie - Die Stimme nicht weitersang nach: - ’s mus asoj sajn. - - 15 Du, die du’s sprachst in den augen- - losen, den Auen: - dasselbe, das andere - Wort: - Gebenedeit. - - 20 Ge- - trunken. - Ge- - segnet. 5.5 Jüdisch-christliche Sprachkonfrontationen 297 <?page no="298"?> 604 Siehe auch das Gedicht »Schwarze Flocken« (GW VI, 129) aus dem Frühwerk, in dem dieses Verb ebenfalls auftritt. 605 Zitiert nach Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S. 207. In einer Textstufe (s. TCA, NR, 75) wird der Liedtext vollständig zitiert. Siehe auch das Nachlassgedicht »Mandelnde« (GW III, 95), in dem Celan das populäre hebräische Lied »Hachnissini« nach einem Gedicht von Chaim Nachman Bialik (1873-1934) aufruft: »Hachnisini tachat knafech« (Nimm mich unter deine Fittiche). Es handelt sich um ein verzweifeltes Gebet an die Schechina, die vom lyrischen Ich als »Mutter und Schwester« angesprochen wird, woraus sich zahlreiche Beziehungen zu Celans eigener Lyrik ergeben. 606 Alfred Kittner, »Erinnerungen an den jungen Paul Celan«. In: Rychlo (Hrsg.), Mit den Augen der Zeitgenossen, S. 66-73, hier S. 73. Vgl. Chalfen, Paul Celan, S. 47 und passim. Ge- 25 bentscht. (GW-I,-249; zitiert nach NKG, 149) In Titel und Motto des Gedichts sind bereits die beiden anderssprachigen Quellen verankert, aus denen heraus sich der Text entwickelt hat. Zum einen handelt es sich um das im Gedichttitel exponierte lateinische Zitat des Ave-Maria-Gebets aus dem Lukas-Evangelium (1.42): »Ave Maria, gratia plena, / Dominus tecum. / Benedicta tu in mulieribus, / et benedictus fructus ventris tui, Iesus.« Hier in der Luther-Übersetzung, auf die sich Celans Text ebenfalls bezieht (s. V. 19) 604 : »Gebenedeit bist du unter den Weibern, und gebe‐ nedeit ist die Frucht deines Leibes! « Die zweite zentrale Quelle der Textgenese wird im Gedicht als Motto hervorgehoben. Es handelt sich um den (leicht abgewandelten) Auszug aus einem jiddischen Lied: »Tsu ken men aroyfgeyn himl arayn / Un fregn bay got, tsu s’darf azoy sayn? Es darf azoy zayn. Es muz asoy say, / S’ken oyf der velt dokh gor andersh nit zayn! [Kann man denn in den Himmel hinaufgehen und Gott fragen, ob es so sein darf ? Es darf so sein. Es muss so sein. Es kann auf der Welt doch anders gar nicht sein! ]« 605 Durch seinen hohen Anteil an jiddischen Sprachelementen sticht das vorlie‐ gende Gedicht aus dem Gesamtwerk heraus. Es handelt sich, so könnte man sagen, um eine Art Huldigung an diese auf das Engste mit dem Schicksal der europäischen Juden verbundene Sprache. Laut Alfred Kittner war Celan in seiner Jugend zutiefst von den aus der Bukowina stammenden jiddischen Dichtern Itzig Manger und Elieser Stejnbarg beeindruckt. 606 Entgegen dem damals nicht nur von Deutschnationalen und Antisemiten propagierten Bildes vom Jiddischen als ›unreiner‹ und rückständiger ›Ghettosprache‹ - verbunden mit pejorativen Begriffen wie ›Jüdeln‹, ›Jiddeln‹ oder ›Mauscheln‹ -, schien der angehende Dichter von der Schönheit des ›Judendeutsch‹ berührt. Das lag sicherlich nicht zuletzt daran, dass das Jiddische im Czernowitz der Zwischen‐ 298 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="299"?> 607 Siehe hierzu u. a. Suanne Marten-Finnis/ Markus Winkler, »Location of Memory vs. Space of Communication: Presses, Languages, and Education among Czernovitz Jews, 1918-1941. Central Europe, 7: 1, S.-30-55. 608 Siehe Carmen Reichert/ Bettina Bannasch/ Alfred Wildfeuer (Hrsg.), Zukunft der Sprache - Zukunft der Nation? Verhandlungen des Jiddischen und Jüdischen im Kontext der Czernowitzer Sprachkonferenz. Berlin-Boston: De Gruyter-Oldenbourg, 2022. 609 Vgl. Felstiner, Paul Celan, S.-16 610 Brigitta Eisenreich, Celans Kreidestern, S.-113. kriegszeit eine wahre Blütezeit erlebte. 607 Im Jahre 1908 hatte dort immerhin die erste internationale Konferenz für diese Sprache stattgefunden. 608 Damit bildet das Jiddische gewissermaßen einen Kontrapunkt zur assimilatorischen Identifikation des jungen Celan mit der deutschen Hochsprache in Form des klassisch-romantischen Kanons. Diese frühe Wertschätzung des Jiddischen wurde später - das heißt nach der Vernichtungspolitik der NS-Zeit - ergänzt durch seine eminente Rolle als Iden‐ titätsmerkmal und Erinnerungsort. Vor dem Hintergrund von Celans eigener Internierung fällt in diesem Zusammenhang der Status des Jiddischen als ›La‐ gersprache‹ ins Gewicht. 609 Wie häufig berichtet wurde, sind viele assimilierte Juden erst in den NS-Lagern mit dem Jiddischen in Kontakt gekommen, weshalb diese Sprache seither untrennbar mit der Welt der Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager verbunden ist. Selbst im Vergleich zum Hebräischen wurde die Bedeutung des Jiddischen als Bestandteil von Celans Jüdisch-Sein bisher in der Forschung eher unterbewertet. Schuld daran ist neben Sprachpurismus, Sprachnationalismus und Antisemitismus nicht zuletzt der ambivalente Status des ›Judendeutsch‹ innerhalb des modernen Judentums, wovon auch die sprach‐ liche Sozialisierung Celans betroffen war. Tatsächlich schwankte das Jiddische immer wieder zwischen einem negativen, unter anderem auf die jüdische Aufklärung und Sprachassimilation zurückgehendem Image als ›verdorbenes‹ Deutsch und dem Willen, es als eigenständige Kultur- und Literatursprache zu etablieren. Ein Text wie »Benedicta« spiegelt in diesem Zusammenhang den hohen Stel‐ lenwert dieser Sprache in Celans literarischem Sprachkosmos der Pariser Jahre. Wie Britta Eisenreich zu berichten wusste, war das im Gedicht zitierte jiddische Lied dem Dichter durch eine Schallplattenaufnahme vertraut. Dabei wird eine direkte Verbindung zur Geschichte der europäischen Judenvernichtung sichtbar. Wie sie schreibt, handelt es sich um »ein Lied, das einen jüdischen Aufstand gegen die deutschen Vernichtungsaktionen in Wilna bezeugt und also gegen die These vom widerstandslosen In-den-Tod-Gehen der Juden spricht.« 610 Die an die Theodizee erinnernde zentrale Frage: »Ob es so sein darf bzw. muss? « - d. h. ob dieses unsägliche Leiden wirklich dem Willen des Herrn entspricht - wird 5.5 Jüdisch-christliche Sprachkonfrontationen 299 <?page no="300"?> 611 Vgl. auch das Nachlassgedicht »Dem Andenken Leo Schestows« (NKG, 451) in dem ein lateinisches Motto mit einem Schlussvers in hebräischer Schrift kombiniert wird. 612 Dieser katholische Feiertagsritus geht übrigens auf jüdische Quellen zurück, genauer gesagt auf die Psalmen und Klagelieder des Jeremias (s. NKG, 748-749). dabei in der Mitte des Gedichts (V. 14) wiederholt. In einem Akt sprachlicher Stigma-Umkehr wird so das einstmals gesellschaftlich verpönte, ja antisemitisch verunglimpfte ›Judendeutsch‹ zu einem bewusst eingesetzten, widerständigen Erinnerungsträger. Die heterolinguale Palette des Gedichts wird erweitert durch das griechi‐ sche Wort ›Pneuma‹ (›Hauch‹, ›Atem‹, ›Lebenskraft‹, V. 5), das zum selben biblischen Kontext gehört, insofern es im Lukas-Evangelium im Moment von Mariae Verkündigung verwendet wird (Lukas 1.35). Zudem stellt das Griechi‐ sche als Sprache der Septuaginta ein symbolisches Bindeglied zwischen der jüdischen und der christlichen Überlieferung dar. Die Engführung der beiden jüdisch-christlichen Hauptquellen des Textes gipfelt schließlich im Partizip »ge-/ bentscht« (V. 24-25), welches das Gedicht beendet. Das an dieser Stelle benutzte jiddische Verbum ›bentschen‹ beruht auf einer phono-semantischen Angleichung des lateinischen Ausdrucks ›bene dicere‹. Die Alterität dieser Verbform gegenüber dem Deutschen wird dabei durch Kursivschreibung her‐ vorgehoben. Solche Entlehnungen lateinischer Ausdrücke treten in der jiddi‐ schen Sprachgeschichte häufig auf. Daneben ist das Wort auch im Rotwelschen anzutreffen (s. NKG, 810). Die sprachliche Variation des Segensspruchs über ›benedicere‹ (Titel), ›bene‐ deien‹ (V. 19) und ›segnen‹ (V. 6-7, 10, 23-24) mündet also am Ende des Gedichts in die Hervorhebung der jüdischen Komponente. In einer Art Gegenbewegung zur traditionellen Christianisierung jüdischer Quellen wird das jiddische Lied gleichsam über den lateinischen Titel gelegt: »ge-/ bentscht« (V. 24-25). 611 Damit werden auf sprachlicher Ebene die frohe Botschaft der Geburt des Erlösers der Christen und das Unfassbare des Massenmords an den Juden zusammengeführt. Letzterer Aspekt wird durch die Präsenz des in der katholischen Karfreitags‐ messe (also im Rahmen eines Totenkults) benutzten »Teneberleuchter[s]« (V. 11) hervorgehoben. 612 Dieser deutsche Ausdruck enthält wohlbemerkt einen aus dem lateinischen entlehnten Wortteil. Ohne diese Interpretationsskizze an dieser Stelle weiter ausarbeiten zu können, wird anhand der kommentierten Textstellen deutlich, dass Genese, Konzeption und Aussage des Gedichts auf das Engste mit seiner mehrsprachigen Dimension verbunden sind. Die Multilingualität von »Benedicta« erscheint so als integraler Bestandteil einer geschichtskritischen Engführung von Geburt und Tod, Erlösung und Ermordung, Christentum und Judentum, vor dem Hin‐ 300 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="301"?> tergrund der existenziellen Sinnfrage: »Wieso hat man das geschehen lassen? « In Bezug auf die Rolle des Lateinischen im Schreiben Celans wird dabei deutlich, dass diese Sprache neben ihrer etymologischen bzw. sprachgeschichtlichen Bedeutung (unter anderem als Wurzel des Rumänischen und Französischen sowie als Quelle fachsprachlicher Termini) auch christlich-katholisch konno‐ tiert sein kann. Die weiter oben angesprochene ideologische ›Neutralität‹ des Lateins (oder Eurolateins) muss demnach zusammengedacht werden mit seiner traditionellen Rolle als Kirchensprache (und den damit verbundenen Fragen von Macht, Herrschaft und Gewalt bis hin zu Antijudaismus und Antisemitismus), wie es ebenfalls das nächste Gedichtbeispiel zeigt. »Du sei wie du« Eine verwandte jüdisch geprägte Poetik der Mehrsprachigkeit lässt sich in Celans 1967 entstandenen Gedicht »Du sei wie du« beobachten, in dem der Dichter gleich vier Sprachen - Deutsch, Mittelhochdeutsch, Hebräisch und (in impliziter Form) Lateinisch - miteinander in Bezug setzt. Erneut sei hier zunächst der gesamte Text zitiert: - DU SEI WIE DU, immer. - - - Stant up Jherosalem inde - erheyff dich - - - Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin, - - 5 inde wirt - erluchtet - - - knüpfte es neu, in der Gehugnis, - Schlammbrocken schluckt ich, im Turm, - - - Sprache, Finster-Lisene, 10 kumi - ori. (GW-II,-327) Wie es schon bei »Benedicta« der Fall war, steht im Gedicht erneut die biblische Überlieferung im Mittelpunkt, wobei sich das Panorama der Quellen diesmal vom hebräischen Tanach über die lateinische Vulgata bis zur mittelhochdeut‐ schen Übersetzung der Bibel durch Meister Eckhart erstreckt. Von letzterem stammen auch die im Original kursiv gesetzten Zitate. Es handelt sich um einen 5.5 Jüdisch-christliche Sprachkonfrontationen 301 <?page no="302"?> 613 Zitiert nach Karl Heinz Witte, »Predigt 14: ›Surge illuminare Iherusalem‹«. In: Lectura Eckhardi III. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Hrsg. von Dagmar Gottschall u.-a. Stuttgart: Kohlhammer, 2008, S.-1-32, hier S.-2. leicht veränderten Auszug seiner mittelhochdeutschen Adaptation des Buches Jesaja, zitiert nach Eckharts Predigt Surge Illuminare, welche Teil von Celans damaligen Lektüren ist (s. NKG, 1023): »Surge illuminare iherusalem etc. / Dit wort, dat ich haynt gesprochen in dem latine, Dat steit geschreuen in der epistelen, de man las in der myssen. Der propphete ysaias spricht: ›stant vp jhe‐ rosalem inde erheyff dich inde wirt erluchtet.‹« 613 In der deutschen Lutherbibel ist die Rede des Propheten wie folgt wiedergegeben: »Steh auf, Jerusalem, und leuchte! Denn das Licht ist gekommen, das deine Finsternis erhellt. Die Herr‐ lichkeit des Herrn geht auf über dir wie die Sonne« ( Jesaja 60.1). Im Zentrum des alttestamentarischen Buches Jesaja steht der Heilsgedanke, symbolisiert durch die Lichtmetaphorik. Zum Ausdruck gebracht wird die Verheißung der Rettung Israels, verbunden mit der Offenbarung des Messias, der dem Volk Frieden und Herrlichkeit bringt. Aus der christlich-neutestamentarischen Sicht Eckharts ist es Jesus Christus, der die messianischen Prophetien des Jesaja erfüllt, wodurch die jüdische Quelle gleichsam im Christentum aufgehoben wird. Bereits auf dieser Ebene ist im Text eine jüdisch-christliche Konfrontation am Werk. Wie die Markierung durch Kursivschreibung zu erkennen gibt, alterniert in der ersten Hälfte des Gedichts der mittelhochdeutsche Text von Eckhart mit den neuhochdeutschen Worten Celans, wodurch eine erste sprachliche Alteritäts‐ ebene im Text sichtbar wird. In den folgenden Versen bleiben die historischen Sprachschichten des Deutschen in Gestalt des Wortes »Gehugnis« (V. 7) mit der Bedeutung ›Gedächtnis‹, ›Erinnerung‹, ›Andenken‹ bzw. ›Gedenken‹ präsent. Interessanterweise zitiert der Dichter hier nicht die mittelhochdeutsche Form ›gehochnysse‹, welche Eckhart in seiner Auslegung der Stelle benutzt (»De eirsten craft is gehochnysse, de ments eyne heymeliche, verborgen konst«), sondern greift auf das Frühhochdeutsche ›gehugnis‹ zurück. Diese Wahl erklärt sich womöglich daraus, dass die ältere Wortform sich (paradoxerweise) besser in die Sprache des Gedichts einfügt als das Original von Eckhart. Das seltene, zur architektonischen Fachsprache gehörende Wort »Lisene« (= flach hervor‐ tretender, pfeilerartiger Mauerstreifen zur Gliederung der Wand, V. 9) verstärkt die Dimension der sprachlichen Alterität im Text (vgl. hierzu frz. lésène). Dabei lässt sich dieses Wort in Bezug auf die Lichtmetaphorik des Gedichts auch als homophones Spiel zwischen dem Deutschen und Französischen lesen, was weiter unten ausgeführt werden soll (s.-6.6). Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist bei »Du sei wie du« die Tatsache, dass die sprachlichen Fäden erneut in einen jüdischen Ausdruck 302 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="303"?> 614 Eine ähnliche Gegenüberstellung des Lateinisch-Christlichen mit dem Hebräisch-Jüdi‐ schen kann auch in der Verszeile »Alpha und Aleph« aus dem Gedicht »Hüttenfenster« beobachtet werden (GW-I, 278, V. 43). münden, diesmal in hebräischer Sprache: »kumi / ori«, V. 10-1). Wie oben er‐ wähnt erscheinen diese Worte in einer Vorstufe des Gedichts, die der Dichter an Ilana Schmueli gesandt hat, sogar in hebräischen Lettern ( ירוא / ימוק , TCA, LZ, 177). »Kumi ori« (»erheb dich, leuchte«) bildet hierbei die exakte hebräische Entsprechung des lateinischen Titels der Predigt Eckharts Surge illuminare. Ähnlich wie in »Benedicta« wird ein (diesmal impliziter) lateinischer Gedicht‐ anfang - der Titel von Eckharts Predigt - mit einem abschließenden jüdischen (und in diesem Fall hebräischen) Ausdruck konfrontiert. 614 Pointiert gesagt stellt also der das Gedicht abschließende hebräische Aus‐ druck ›kumi ori‹ eine über das Latein der Vulgata verfahrende (Rück-)Überset‐ zung der auf ein hebräisches Original zurückgehenden mittelhochdeutschen Übersetzung des Buchs Jesajah (resp. Jeschajahu in der jüdischen Tradition) dar. An dieser komplizierten Formulierung wird deutlich, wie vielfältig und vielschichtig die sprachlichen Vorgänge sind, die in diesem Text ablaufen. Die Verwebung (s. hierzu auch das Wort »Band«, V. 4) jüdischer und christli‐ cher Referenzen, die als kritische Hinterfragung der Aneignung des jüdischen Urtextes durch die christliche Tradition begriffen werden kann, geschieht in diesem Celan-Gedicht erneut durch das poetische Prinzip der Sprachmischung. Dabei wird nicht zuletzt eine sprachkritische Dimension sichtbar, die auf metasprachlicher Ebene durch die Präsenz von »Sprache« (V. 9) und das an den Babel-Mythos erinnernde Wort »Turm« (V.-8) verstärkt wird. Kurzes Fazit Vor dem Hintergrund der für Celans Werk so zentralen Konfrontation der jüdischen mit der christlichen (bzw. christlich-deutschen) Perspektive machen die beiden eben analysierten Gedichte aus den Jahren 1961 und 1967 eine multilinguale Kontinuitätslinie in seiner Gedichtproduktion sichtbar. Diese läuft bemerkenswerterweise über den oft in der Forschung konstatierten Bruch zwischen Die Niemandsrose und dem Spätwerk hinweg. Die Tatsache, dass rund 20-30 % der in den beiden Gedichten verwendeten Wörter als heterolingual bezeichnet werden können, veranschaulicht beispielhaft, wie weit die Koprä‐ senz der Sprachen in seinem Schreiben gehen kann - auch außerhalb von Die Niemandsrose. Doch muss an dieser Stelle nochmals unterstrichen werden, dass sich die Bedeutung von Mehrsprachigkeit im vorliegenden Korpus nicht wirklich quantitativ bestimmen lässt, indem man die heterolingualen Wörter einfach 5.5 Jüdisch-christliche Sprachkonfrontationen 303 <?page no="304"?> 615 Die Wahl der Kursivschrift entspricht der Wahl der Herausgeber des Gedichts. Diese graphische Hervorhebung basiert allerdings auf einer in den Handschriften klar erkennbaren Differenzierung. ›zusammenzählt‹ oder die verschiedenen Sprachen miteinander ›verrechnet‹. Ein solcher Ansatz kann Celans Schreiben kaum gerecht werden. So enthält beispielsweise ein Gedicht wie »Die Schleuse« (GW I, 222) - neben der Angabe einer schwedischen Adresse auf einer Vorstufe (»Linnégatan tolv«, TCA, NR, 28) - in seinen 19 Versen lediglich zwei heterolinguale Elemente in hebräischer Sprache: »Kaddisch« (V. 14) und »Jiskor« (V. 19). Gleichzeitig scheint die gesamte Struktur des Gedichts auf diese beiden Ausdrücke zentriert zu sein, die durch einen Doppelpunkt eingeleitet sowie durch Kursivschrift hervorgehoben sind und jeweils am Ende einer Versgruppe auftreten. Im Zusammenhang mit den oben erfolgten Gedichtinterpretationen ist her‐ vorzuheben, dass die hebräischen Wörter »Kaddisch« (›heilig‹‚ ›Heiligung‹) und »Jiskor« (›Erinnerung‹, ›Gedenke! ‹) auf das Totengedenken im Rahmen des jüdischen Gebetsritus verweisen. Im vorliegenden Fall wird diese Tradition vom Dichter im Rahmen seines Schreibens ›nach Auschwitz‹ aktualisiert. Das 1960 entstandene Gedicht »Die Schleuse« erinnert somit daran, dass selbst einzelne aus anderen Sprachen stammende Wörter in Celans Texten von absolut tragender Bedeutung sein können. Oftmals genügt ein isoliertes (Gegen-)Wort, damit sprachliche Fremdheit im Gedicht zum Kristallisationspunkt einer anti‐ thetischen Gegenüberstellung des Jüdischen und des Christlichen wird. 5.6 Originalsprachige Zitate Von ihrer multilingualen Faktur her erinnern die beiden oben analysierten Gedichte stark an das im dritten Kapitel behandelte Nachlassgedicht »So [kannst du’s lesen]« (NKG, 438, s. 3.1.5). Dort hat Celan, wie gezeigt, vier unausgewie‐ sene, jedoch durch Kursivschrift 615 markierte Zitate aus Dantes Commedia in seinen Text eingebettet. In dem dreisprachigen Gedicht unternimmt das lyrische Subjekt den Versuch, sich eine unverständliche Sprache zu erschließen. Dabei tritt es in einen Dialog mit Dantes (Vor-)Höllenbewohner Nimrod und dessen singulärer Sprache, wobei der zitierte ›fremde‹ Text nicht weniger als ein Viertel des Gedichts ausmacht. Eine derart starke Präsenz anderssprachiger Zitaten lässt sich auch in den Vorstufen weiterer Gedichte ausmachen, in denen der deutsche Text gleichsam aus einem Dialog mit anderen Sprachen heraus seine eigene Stimme findet. In solchen Fällen handelt es sich generell um Zitate, die aufgrund ihrer Präsenz in frühen Zeugen der Textgenese als 304 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="305"?> 616 Es handelt sich um dieselbe Quelle wie im Nachlassgedicht »So [kannst du’s lesen]«). Siehe auch das Zitat aus Dantes Inferno, das Celan als Motto für den Gedichtband Die Niemandsrose in Erwägung zog (TCA, NR, 5). anderssprachige Hypotexte der deutschen Gedichte bezeichnet werden können. Die Textgenese erscheint somit auf das Engste mit dem Zitieren fremder und fremdsprachiger Rede verbunden. Solche Phänomene, deren Untersuchung im sechsten Kapitel fortgesetzt und vertieft werden soll, situieren sich zwischen manifester und latenter Mehrsprachigkeit, je nachdem, wie deutlich die Zitate in der publizierten Endfassung erkennbar sind. Häufig ist zu beobachten, wie die fremdsprachigen Quellen im Laufe der Textgenese vollständig in den Gedichttext eingearbeitet werden, indem sie ins Deutsche übersetzt werden. In diesem Fall sind die Spuren nur textgenetisch nachzuweisen und bleiben dem nicht über Hilfsmittel verfügenden Leser fast zwangsläufig verborgen. Selbst wenn damit teilweise auf die späteren Ausführungen zur latenten Mehrsprachigkeit vorausgegriffen wird, soll an dieser Stelle kurz das Gedicht »Eine Gauner- und Ganovenweise« (GW I, 229 f.) angesprochen werden. In den Bereich der manifesten Mehrsprachigkeit gehört dieser Text dadurch, dass in der Druckfassung des Textes zwei auf die Balladen von François Villon verweisende französische Ausdrücke (»emprès Pontoise« im Titel und »Envoi«, V. 23) auftauchen. In den Vorstufen lassen sich darüber hinaus eine Reihe weiterer Zitate aus fremdsprachigen Quellen entdecken (TCA, NR, 40-45), die dem Leser der publizierten Fassung verborgen bleiben müssen. In den Handschriften können so originalsprachige Zitate von Dante, 616 Mandelstamm, Fjodor Sologub, Passagen aus einem mehrsprachigen Landsknechtlied sowie andere, teilweise sprachmischend-spielerische Entwürfe in französischer, rus‐ sischer und lateinischer Sprache identifiziert werden. Darunter befindet sich die bei Celan wiederholt auftauchende und der Kirchensprache nachempfundene Signatur »Pawel Lwowitsch Tselan, / Russkij poët in partibus / nemetskich infidelium« (= »russischer Dichter im Land der deutschen Ungläubigen«), worin der Dichter seinen Namen slawisch verfremdet und mit Latein und Russisch mischt (TCA, NR, 40-43). Für eine Aufnahme in die Endfassung von »Eine Gauner- und Ganovenweise« war eine solche Form von Mehrsprachigkeit, wie man mutmaßen kann, wohl zu ›verspielt‹. Das anderssprachige Zitat im Prozess des Schreibens Wie aus dem Beispiel von »Eine Gauner- und Ganovenweise« sowie anderen in dieser Studie behandelten Texten hervorgeht, spielen Zitate im heterolingu‐ alen Panorama der Celan’schen Gedichte eine bedeutende Rolle. Grundlage hierfür ist zum einen der zentrale Platz des Zitierens als poetisches Prinzip 5.6 Originalsprachige Zitate 305 <?page no="306"?> 617 Siehe Arno Barnert, Mit dem fremden Wort. Poetisches Zitieren bei Paul Celan. Frankfurt a. M.: Stroemfeld, 2007. in Celans Werk 617 - vorwiegend ab der Wende zu den 1960er-Jahren. Zum anderen kommt bei diesem Phänomen die deutlich erkennbare Präferenz des Dichters für originalsprachige Zitate zum Tragen, was auf die starke Polyglossie seiner Privatbibliothek verweist. So führt das Zitieren in seinem Schreiben gleichsam automatisch zu mehrsprachigen Konstellationen, wie es in den bisher analysierten Gedichten zu sehen war. Besonders aufschlussreich hinsichtlich dieser Verbindung von Zitat und Mehrsprachigkeit bei Celan ist eine Stelle aus seiner Büchner-Preis-Rede. Dort zitiert der Dichter eine Passage aus dem Werk von Blaise Pascal im Original, wobei er jedoch bezeichnenderweise einen mehrsprachig überdeterminierten Kontext kreiiert, indem er den französischen Originalwortlaut nach einem Buch des Russen Leo Schestow zitiert (GW III, 195). Bei solchen sprachlichen ›Umwegen‹ handelt es sich freilich um ganz bewusst eingesetzte Verfahren, durch die ›Fremdes‹ in den deutschen Text eingeschrieben wird. Auf theoretischer Ebene entsteht an dieser Stelle eine Art Schnittmenge zwischen Celans translingualer Poetik und der allgemeinen Problematik des poetischen Zitierens. Denn ähnlich wie beim Prozess des Zitierens geht es beim Einsatz von Mehrsprachigkeit um das Einfügen ›fremden‹ Materials in einen Text. Von Interesse ist dabei vor allen Dingen die Art und Weise, wie die anderen ›Stimmen‹ in das Gedicht und seine Sprache(n) eingebaut werden. Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Verfahren besteht nun darin, dass das Zitieren nicht automatisch eine Sprachdifferenz impliziert, da es prinzipiell im rein einsprachigen Modus operieren kann. Dagegen ist das poetische Zitieren im vorliegenden Untersuchungsrahmen natürlich ausschließlich als Zitat aus anderen Sprachen relevant. Solche anderssprachige Zitate in Celans Gedichten werden in einigen Fällen durch Quellenangabe ausgewiesen, wie bei dem Zwetajewa-Vers in »Und mit dem Buch aus Tarussa« (GW I, 287 ff.) oder wie bei dem jiddischen Lied in »Benedicta« (GW I, 249 f.). Eine solche explizite Markierung liegt indessen bei Weitem nicht bei allen Zitaten vor, wie es insbesondere eine andere Stelle aus dem Gedicht »Und mit dem Buch aus Tarussa« zeigt. Dort fügt der Dichter die Anfangsverse von Apollinaires »Le Pont Mirabeau« (»Sous le pont Mirabeau coule la Seine / Et nos amours«) modifiziert in seinen Text ein, ohne eine direkte Quelle anzugeben: »vom / Pont Mirabeau. / Wo die Oka nicht mitfließt. Et quels / amours! « (GW I, 287 ff., V. 55-58) Freilich handelt es sich in diesem 306 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="307"?> 618 Vgl. die Abbildung bei Badiou, Bildbiographie, S.-260. 619 Im Kontext der Hebel-Erzählung handelt es sich bei »Kannitverstan« um die holländi‐ sche Antwort (korrekt geschrieben: »Kan niet verstaan«), die der Protagonsist während seines Amsterdam-Aufenthalts jedes Mal auf seine auf Deutsch gestellten Fragen erhält. So wie die Holländer die deutschen Fragen nicht verstehn, missversteht der Deutsche die holländische Antwort. Da es sich bei der Form »Kannitverstan« nicht um Holländisch, sondern um das Zitat des Hebel-Titels handelt, wurde dieser Ausdruck nicht in den Untersuchungsbereich der textinternen Mehrsprachigkeit aufgenommen. Fall um ein relativ bekanntes Zitat der Weltliteratur, trotzdem unterscheidet sich das Zitationsverfahren grundlegend vom den vorangegangenen Beispielen. Beim Zitieren aus anderen Sprachen existiert demzufolge in Celans Gedichten ein breites Spektrum von Relationen zwischen dem ›Fremden‹ und dem ›Ei‐ genen‹. Diese reichen von der strikten Unterscheidung zwischen Zitat und Gedicht - durch explizite Zitat-Signale - über die nicht ausgewiesene Einfügung von anderssprachigen Ausdrücken oder Segmenten bis zur Verschmelzung von Quelle und Text - in Form transformativer-translatorischer Prozesse, bei denen der manifeste Charakter der Mehrsprachigkeit meist verschwindet. Wie die hier angeführten Textbeispiele zeigen, ist das Zitieren in Celans Werk also selten rein reproduktiv, selbst wenn es im Medium der Fremdsprache erfolgt. Vielmehr wird das anderssprachige Material meist stark umgewandelt, was das Erkennen der Zitate naturgemäß erheblich erschwert. Ausgesprochen kryptisch wird die Lage etwa bei dem abgewandelten Zitat des Spruchs »Servir Dieu, c’est régner« (TCA, NR, 96-97) aus dem Wappen, das schräg über der Tür des Schlosses von Kermorvan in der französischen Bretagne hängt, wo der Dichter mit seiner Familie oft zu Gast war. Dieser Spruch taucht in leicht abgewandelter Form als »Servir Dieu est régner« in dem nach dieser bretonischen Ortschaft benannten Gedicht aus dem Band Die Niemandsrose auf (GW I, 263, V. 10). Trotz der doppelten Markierung des Zitats durch Kursivierung und Anderssprachigkeit reicht selbst eine profunde literarische Kultur hier nicht dazu aus, die Quelle des französischen Textes zu identifizieren. 618 Interessanterweise besitzt der Text, in den das französische Zitat eingebettet ist, auch eine metamultilinguale Dimension. So heißt es dort weiter: »Ein Spruch […] ich kann / ihn lesen, ich kann, es wird heller, / fort aus Kannitverstan.« (V. 9-12). Wobei das letzte Wort auf die berühmte Kalen‐ dergeschichte von Johann Peter Hebel aus dem Jahr 1808 verweist, in der es bekanntlich um deutsch-holländische Kommunikationsprobleme geht. 619 In einer expliziten Gegenbewegung zum Plot der Hebel-Geschichte unterstreichen Celans Verse dabei die Möglichkeit zur zwischensprachlichen Verständigung. Wie es allgemein bei Verweisen der Gedichte auf Quellen, Realien, historische Daten usw. der Fall ist, hat der Dichter bei Zitaten aus anderen Sprachen im 5.6 Originalsprachige Zitate 307 <?page no="308"?> 620 Siehe Barnert, Poetisches Zitieren bei Paul Celan. 621 Siehe hierzu Winfried Menninghaus, »Das Problem des Zitats bei Celan und in der Celan-Philologie«. In: Hamacher/ Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, S.-170-190. 622 Siehe Barnert, Poetisches Zitieren bei Paul Celan, S.-63f. Siehe auch GW VII, 55. Laufe der Textgenese oftmals gleichsam die Spuren verwischt, sodass sich in den Vorstufen markierte Zitate in unmarkierte und nicht ohne Weiteres als solche erkennbare Zitate verwandeln. 620 In seinen Entwürfen zur Meridian-Rede hat der Autor dazu angemerkt, »die im Dunkel verwehenden Anführungsstriche« (TCA, M, 63) seien eine mögliche Definition des Dichterischen, womit dieses Verfahren gleichsam zur Methode, ja Poetik erklärt wird. Die durch die Anfüh‐ rungszeichen symbolisierte Grenze zwischen Zitat und origineller Dichtung wird also bewusst im Schreibakt unkenntlich gemacht. Und in der Tat lassen sich die Anführungszeichen in Celans Gedichten an einer Hand abzählen. Diese fehlende Markierung wirkt sich ebenfalls auf die Frage der Grenze zwischen der deutschen Hauptsprache und den anderen implizierten Sprachen aus. Transformative Aneignung Stellt das poetische Zitieren bei Celan die Forschung vor große Herausforde‐ rungen, kommt im vorliegenden Zusammenhang das Problem hinzu, dass Sprachmischung, Sprachwechsel und Übersetzung das Identifizieren der ur‐ sprünglichen Quelle zusätzlich erschweren. Selbst wenn textgenetische Nach‐ forschungen in vielen Fällen den Nachweis erlauben, dass es sich bei dieser oder jener Passage um eine Form von Zitation handelt, stellt sich bei solchen Transformationsprozessen die Frage, ob man die betreffenden Stellen im pu‐ blizierten Text noch als anderssprachiges Zitat bezeichnen kann. 621 Daneben gibt es den speziellen Fall der Selbstzitate Celans, bei denen sich die Grenze zwischen Zitieren und Schreiben vollends auflöst. Auch solche Vorgänge können eine mehrsprachige Dimension besitzen, wenn der Dichter sich etwa auf das eigene Schreiben bezieht und dabei die Sprache wechselt. Ein solches transformierendes Zitieren eigenen oder fremden Materials hat der Dichter mit dem musikwissenschaftlichen Begriff ›Ricercar‹ (eine Gattungsbezeichnung für einen Vorläufer der Fuge) benannt, was auf das Suchen (cercare/ rechercher) der eigenen Stimme im Austausch mit fremden Stimmen verweist. 622 Die Wahl eines italienischen Terminus für dieses Phänomens hebt die mehrsprachige Dimension solcher Prozesse hervor. Auch andere Beispiele, wie etwa das Mozart-Zitat im Gedicht »Anabasis« aus Die Niemandsrose, zeigen, wie stark mitunter der Wortlaut anderssprachiger Quellen im Schreibakt verfremdet wird. Im genannten Gedicht hat Celan Teile aus dem lateinischen Text der Motette »Exultate, jubilate« (Köchel 165) 308 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="309"?> 623 Alternativ kann ›cor‹ über das Französische auch als ›Horn‹ gelesen werden, was durch Apollinaires Gedicht »Cor de chasse« (1913) nahegelegt wird, das eine große Bedeutung für Celans besaß. Am Ende von Apollinaires Gedicht ist so von dem vom Winde verwehten Klang eines Jagdhorns die Rede: »Les souvenirs sont cors de chasse / Dont meurt le bruit parmi le vent.«, Apollinaire, Œuvres poétiques complètes, S.-135. 624 Das Panorama der Quellen wird im Fall von »Anabasis« noch dadurch erweitert, dass sein Titel auf Xenophon (ἀνάϐασις, ca. 370 v. Chr.) und Saint-John Perse (»Anabase«, 1924) zurückverweist. verwendet (»tu consolare affectus, / unde suspirat cor« / »du, stille die Leiden‐ schaften, / unter denen das Herz seufzt«). In »Anabasis« wird daraus: »Leucht-/ glockentöne (dum-, / dun-, un-, / unde suspirat / cor)« (GW I, 256, V. 16-20). Die Variation der lateinischstämmigen Elemente ›dum-‹ bzw. ›dun-‹ und ›un-‹ (abgeleitet von ›dumque‹ und ›unde‹, s. HKA, 6.2, 202) kann als lautmalerische Nachbildung der (jauchzend-jubelnden) Glockentöne gelesen werden, welche allerdings im Abklingen begriffen zu sein scheinen. 623 Angesichts einer solchen sprachspielerischen Integration der Quelle in den Gedichttext erscheint eine Unterscheidung von Zitieren und Schreiben im vorliegenden Fall als müßig und für die Untersuchung beinahe irrelevant. 624 Das Dante-Zitat im Titel des zeitnah entstandenen Nachlassgedichts »Il cor compunto« (dt. »Das beklommene Herz«, GW VII, 58) wird ebenfalls nicht vom Text ausgewiesen und bleibt somit implizit. Doch wird dieses italienische Zitat aus Inferno (I, 15, »che m’avea di paura il cor compunto« / »Das mir mit Furcht und Angst das Herz beklommen«) - abgesehen von der Verkürzung auf einen Halbvers - diesmal von Celan wortgetreu im Titel, also an exponierter Stelle, zitiert. Auch wenn dieses Gedicht über die Motivik des seufzend-beklommenen Herzens an das zuvor erwähnte angenähert werden kann, ist die Stellung der Zitate in den beiden Texten sowie ihr Grad der Einarbeitung in die Endfassung höchst unterschiedlich. Gemein ist ihnen die Tatsache, dass die Erkennbarkeit der Originalquelle alles andere als evident erscheint, wohingegen die Lesbarkeit des Wortes ›cor‹ dem gebildeten Leser über Latein, Italienisch oder Französisch durchaus zugänglich sein dürfte. Aus all diesen Gründen wäre es im vorliegenden Rahmen - und trotz der grundsätzlichen theoretischen Affinitäten zwischen Mehrsprachigkeits- und Intertextualitätsforschung - nicht wirklich nützlich, Zitate als Sonderkategorie innerhalb von Celans translingualer Poetik zu definieren. In den meisten der hier behandelten Fälle scheint es fraglich, ob in Anbetracht der weitreichenden Integrations- und Transformationsprozesse des Materials überhaupt noch von Zitaten im engeren Sinn gesprochen werden kann. Zwar ist es in vielen Fällen - wie etwa bei »Huhediblu« (s. Kap. 2) - möglich, anhand der Textzeugen darzulegen, dass sich manche Gedichte in ihrer Entstehung regelrecht aus 5.6 Originalsprachige Zitate 309 <?page no="310"?> anderssprachigen Zitaten heraus entwickeln. Dabei wird das ›fremde‹ Wort allerdings derart in die Textur der Gedichte eingewebt (gleichsam in Form einer sprachlichen ›Transmutation‹), dass eine nachträgliche Trennung von zitierter Quelle und zitierendem Text eigentlich den Intentionen des Schreibakts zuwiderlaufen würde. Mehrsprachigkeit als ›Sprach-Zitat‹ An dieser Stelle kann auf ein häufig thematisiertes Problem der Celan-For‐ schung verwiesen werden, das darin besteht, dass mit der gleichsam detektivi‐ schen Identifizierung seiner Quellen ein Gedicht mitnichten schon ›verstanden‹ ist, wie es unter anderem die Celan-Herausgeberin und -kommentatorin Barbara Wiedemann unterstreicht (NKG, 563). Diese grundlegende Feststellung kann im vorliegenden Zusammenhang auf die Problematik anderssprachiger Quellen übertragen werden. Anstatt sich bei der Analyse der Texte auf die Suche nach der originalen Zitatquelle zu konzentrieren, sollte die Perspektive eher auf die Sprachdifferenz als solche gelenkt werden. In den Fokus rücken damit primär Form und Funktion der ›zitierten‹ Sprachen im Zieltext. Mehr noch könnte in diesem Sinne die Behauptung aufgestellt werden, dass vor dem Hintergrund des monolingualen Habitus moderner Sprachgemein‐ schaften jeder Einsatz von Anderssprachigkeit per se den Charakter einer zitathaften Anführung erhält. Denn im Rückgriff auf fremdsprachiges Material werden implizit immer auch zugleich Bezüge zu anderen Kulturräumen und Literaturtraditionen hergestellt. Der Blick des Lesers richtet sich auf diese Weise nicht primär auf Inhalt, Herkunft und Status der entsprechenden Quelle, sondern auf das anderssprachige Medium bzw. die Frage der Sprachigkeit als solche. Pointiert formuliert heißt das: Dem Einsatz von Heterolingualität eignet stets eine metalinguale Verweisfunktion auf sprachliche Pluralität jenseits der Fiktion von der Mutterbzw. Nationalsprache als allein gültigem Horizont des Schreibens. Die differente Sprache weist bereits an sich auf den im weitesten Sinne Zitatcharakter eines Wortes oder einer Passage hin - gegebenenfalls in Verbindung mit anderen Formen der Markierung wie die Kursivschrift. Diese Dimension von Heterolingualität in Celans Gedichten kann speziell anhand von Redewendungen aus anderen Sprachen illustriert werden. Als Beispiel soll hier der französische Spruch »Bon vent, bonne mer« im Gedicht »Ein Leseast« (GW II, 403, V. 28) aus dem Band Schneepart dienen. Bei dieser Passage, so kann man sagen, handelt es sich weniger um das Zitieren einer Ori‐ ginalquelle als um die Evokation eines anderen Sprach- und Kulturraums mittels Verwendung einer allgemeinen, ja banalen Grußformel. Die Sprachdifferenz als solche erscheint in diesem Gedicht mithin wesentlich relevanter als die exakte 310 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="311"?> Quelle. Mit anderen Worten: Der sprachliche Inhalt verblasst gleichsam vor der formalen Bedeutung der Sprachdifferenz. Interessant in dieser Hinsicht ist ebenfalls der lateinischen Titel des Gedichts »Corona« (GW I, 37) aus dem Band Mohn und Gedächtnis. Dieser könnte nämlich durchaus als ein Selbstzitat des Kranz-Motivs (lat. corona) aus dem ersten Vers von »Ein Lied in der Wüste« (GW I, 11), dem Eingangsgedicht der Sammlung, begriffen werden. Mit diesem Wort würde der Dichter demzufolge nicht zuvorderst auf eine externe, ›fremde‹ Quelle verweisen, vielmehr könnte von einem übersetzenden Wiederaufgriff von (deutschen) Elementen aus der eigenen Lyrik gesprochen werden. Somit würde es sich bei ›Kranz-corona‹ um eine Form der Selbstübersetzung handeln. Die wichtigste Verweisfunktion bestünde in diesem Fall also gerade in der ›herbeizitierten‹ Präsenz einer anderen Sprache, des Lateinischen. Auf die verschiedenen Bedeutungen dieses lateinischen Wortes wird weiter unten noch näher einzugehen sein. Das anderssprachige Zitat als Mittel poetischer Individuation Das eben erwähnte Zitat der französischen Grußformel im Gedicht »Ein Le‐ seast« (»Bon vent, bonne mer«, GW II, 403, V. 28) wurde durch Kursivdruck vom restlichen Text abgehoben. Eine solche typographische Herausstellung der anderssprachigen Textteile ist allerdings nicht überall im Werk gegeben. Das wird insbesondere an einer Reihe zitierender Gedichttitel deutlich, deren Form sich nicht von anderen, deutschsprachigen Titeln unterscheidet. Hier können Titel wie »À la pointe acérée« (GW I, 251, aus Baudelaires »Confiteor de l’artiste«, zitiert nach Hofmannsthal), »Anabasis« (GW I, 256 f., nach dem Titel des Werks von Xenophon bzw. Saint-John Perse), »Give the word« (GW II, 93, aus Shakespeares, King Lear) oder »Playtime« (GW II, 386, nach dem Titel des Films von Jacques Tati) genannt werden. Gemeinsam ist all diesen Zitat-Titeln, dass sie sich nicht in ihrer Verweisfunktion auf die jeweilige Quelle erschöpfen. Vielmehr müssen sie - wie auch der übrige Gedichttext - wortwörtlich in ihrer Vieldeutigkeit gelesen werden (s.-5.7). Das Gleiche gilt für Gedichte wie »Coagula« (GW II, 83), in dem das Titelwort nicht auf ein Zitat des Mottos der alchimistischen Goldmacherkunst (»Solve et coagula«) reduziert werden kann, sondern darüber hinaus als integraler Bestandteil des Textes gelesen werden muss. Nicht anders in »Matière de Bretagne« (GW I, 171), wo der Titel - über seine literaturhistorische Verweis‐ funktion hinaus - auch in seiner wortwörtlichen Bedeutung in Bezug auf das ›Stoffliche‹, ›Materielle‹, ja ›Natürliche‹ der Region Bretagne verstanden 5.6 Originalsprachige Zitate 311 <?page no="312"?> 625 Siehe hierzu auch Badiou, Bildbiographie, S.-177. 626 Siehe Barnert, Poetisches Zitieren bei Paul Celan, S.-99. werden muss, wie weiter unten näher erläutert werden soll. 625 Schon im Frühwerk ist dieses Phänomen anzutreffen, wie etwa im Gedicht »Les Adieux« (GW VI, 33), das den Titel von Beethovens Klaviersonate Nr. 26 zitiert, jedoch daneben wortwörtlich (als ›Abschied‹) lesbar ist. Alle diese Beispiele sind anderssprachige Zitate, die über das Gedicht hinausverweisen, gleichzeitig sind sie aber Teil seines (mehrsprachigen) Wortlauts. Alles in allem überlagert sich die Problematik des poetischen Zitierens bei Celan also nur teilweise mit der Frage der Mehrsprachigkeit. Nützlich ist eine Betrachtung des Materials unter dem Blickwinkel des Zitats insbesondere insofern, als hier nochmals deutlich wird, wie heikel die Unterscheidung von ›Eigenem‹ und ›Fremden‹ in diesen Texten ist. Ebenso wenig wie der Akzent dieser Studie auf einer Trennung von ›deutschen‹ und ›nicht deutschen‹ Wör‐ tern liegen kann, kommt es letztlich auf eine genaue Ausdifferenzierung von ›zitierten‹ und ›originalen‹ Passagen an. Vielmehr sollte zuvorderst versucht werden, ihr Zusammenwirken innerhalb der Texte zu verstehen. In diesem Zusammenhang interessieren nicht nur die durch das Zitieren verursachten Brüche und Diskontinuitäten, sondern vor allem die neue sprachliche Synthese, die sich aus den heterogenen Bestandteilen ergibt. In diesem Sinne besteht die fruchtbarste Parallele zwischen einer Theorie des Zitierens bei Celan und seinen mehrsprachigen Schreibtechniken vielleicht hauptsächlich darin, dass die Arbeit mit dem ›fremden‹ Sprachmaterial eine poetische Individuation ermöglicht und damit die Herausbildung eines singulären Idioms. 626 5.7 Exophone Vielstelligkeit Innerhalb der in diesem Kapitel vorgenommenen Erkundung manifester Sprachmischung in Paul Celans Gedichtwerk, deren vornehmliches Ziel es ist, einen möglichst umfassenden Überblick über Ausmaß, Vielfalt und Gestalt solcher Phänomene vorzulegen, sollen nicht zuletzt sprachspielerisch-sprach‐ experimentelle Aspekte Erwähnung finden. Diese Form von Mehrsprachigkeit bildet gleichsam den Fluchtpunkt der oben dargestellten Einarbeitung anders‐ sprachiger Zitate in die Gedichte und der damit verbundenen Problematik der Beziehung von Zitieren und Schreiben bzw. Reproduktion und Kreation. Dabei wird es nicht mehr primär um das Phänomen der Heterolingualität gehen, also um das (horizontale) Verhältnis der deutschen Grundsprache zur anderssprachigen Lexik auf Text- oder Werkebene. Vielmehr wird der Fokus auf 312 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="313"?> 627 Werner, Textgräber, S.-15. poetischen Verfahren liegen, durch die einzelne Wörter oder kurze Segmente im Sprachkontakt verwandelt und in eine mehrsprachig-mehrdeutige Konstel‐ lation überführt werden. Bevor solche sprachschöpferische Formen von Mehrsprachigkeit im Fol‐ genden näher betrachtet werden (s. 5.8), soll an dieser Stelle noch eine letzte, spe‐ zielle Ausprägung von Heterolingualität in den Texten Paul Celans zur Sprache kommen. Es handelt sich dabei vereinfacht gesagt um den Einsatz von Wörtern, die sich durch eine starke Mehrdeutigkeit im Kontext ihrer Herkunftssprache auszeichnen. In diesem besonderen Fall richtet sich das Augenmerk nicht mehr zuvorderst auf die Funktionsweise der Wörter zwischen den Sprachen, sondern auf ihre ›herkunftsbedingte‹, inhärente Mehrdeutigkeit, welche in den Gedichten zum Teil extrem produktiv wird. In Anlehnung an einen Begriff des Dichters könnte dieses Phänomen als exophone »Vielstelligkeit« (GW-III, 167) bezeichnet werden. Exophone Vielstelligkeit gehört grundsätzlich in den Bereich manifester Mehrsprachigkeit, insofern es sich um eine Form von Sprachmischung handelt. Indessen weist sie bereits auf die weiter unten behandelte Problematik von sprachlicher Latenz voraus. Latenz liegt bei dieser Erscheinungsform insofern vor, als dem Leser diese ausgeprägte Vielschichtigkeit in der anderen Sprache je nach individueller Sprachkompetenz nicht unbedingt zugänglich ist. Es handelt sich sozusagen um manifest anderssprachige Wörter, die rezeptionsästhetisch betrachtet latent mehrdeutig sind. Ein Sonderfall von Sprachmischung liegt insofern vor, als die Mehrdeutigkeit wie gesagt nicht erst auf der zwischen‐ sprachlichen Ebene entsteht, sondern schon im monolingualen Ursprung der entsprechenden Wörter existiert. Als solche ist diese mehrdeutige exophone Lexik charakteristisch für Celans »simultane Polyperspektivik«. 627 Manche von diesen (Fremd-)Wörtern wurden offensichtlich vom Dichter gerade wegen ihrer großen semantischen Polyvalenz gewählt. Insofern handelt sich durchaus um eine Form kreativ-produktiver Mehrsprachigkeit. Doch beruht diese Dimension eben nicht eigentlich auf einem translingualem Verfahren, sondern ist sozu‐ sagen einzelsprachenimmanent. Mehrdeutigkeit im fremden Wort Ein erstes Beispiel, das hier angeführt werden soll, um die Kategorie der exophonen Vielstelligkeit zu veranschaulichen, liefert der Titel des aus dem Band Die Niemandsrose stammenden Gedichts »Les Globes« (GW I, 274). Im Französischen stellt dieser Gedichttitel ein Homonym dar, wobei das Wort 5.7 Exophone Vielstelligkeit 313 <?page no="314"?> 628 Siehe dazu Corinne Saminadayar-Perrin, »Baudelaire poète latin.« In: Romantisme, 113: 3, 2001, S. 87-103. Der in diesem Aufsatz beschriebene ›Umweg‹ über das Lateinische in Baudelaires Gedichten, wo es an vielen Stellen gleichsam ›durchscheint‹, gleicht in manchen Punkten den in der vorliegenden Studie beschriebenen Phänomenen latenter Mehrsprachigkeit bei Celan. 629 Vgl. Badiou, Bildbiographie, S.-345. 630 Siehe Anne Carson, The Economy of the Unlost, S.-7. sowohl auf die ›Erde‹ (›Globus‹ bzw. ›die Globen‹) als auch auf das ›Auge‹ (als ›Auga/ äpfel‹) verweist. Diese von Celan bewusst eingesetzte Doppeldeutigkeit könnte auf Baudelaires Gedicht »Les Aveugles« zurückgehen (s. NKG, 826), obwohl letzteres nicht als direkte Quelle oder explizites Zitat nachzuweisen ist. Besonders interessant erscheint im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache, dass in Baudelaires eigener poetischer Praxis der Mehrfachcodierung das Latei‐ nische - und also eine Form der Mehrsprachigkeit - eine tragende Rolle spielt, was hier am Rand erwähnt werden soll . 628 Aus dem Französischen entlehnt ist ebenfalls der Titel des aus dem Früh‐ werk stammenden Gedichts »Air« (GW VI, 88), wobei sich dieses Wort in seiner Herkunftssprache erneut durch seine starke Vieldeutigkeit auszeichnet. Bekanntermaßen verweist ›Air‹ zunächst auf ein musikalisches Genre, genauer gesagt eine Nebenform der musikalischen Gattung Lied. Gleichzeitig kann das Wort im Französischen als ›Luft‹, ›Hauch‹, ›Aussehen‹, ›Miene‹ oder ›Ähnlichkeit‹ verstanden werden, wodurch die Bedeutungspalette des Gedichts erheblich erweitert wird. Der psychiatrische Fachausdruck »Folie à deux« (deutsch: induzierte wahn‐ hafte Störung), der im Gedicht »Umwegkarten« (GW II, 120, V. 13) aus dem Band Fadensonnen benutzt wird, kann neben seiner fachsprachlichen Bedeutung ebenfalls wortwörtlich als »Verrücktheit zu zweit« gelesen werden. Neben der medizinischen Lesart erhält der Ausdruck somit eine auf das Ehepaar Celan (»à deux«) zentrierte Zusatzbedeutung, die sich nicht im rein Pathologischen erschöpft. 629 Die Doppeldeutigkeit bzw. Vielstelligkeit beruht hier also auf einer Form diastratischer Varietät (Fachsprache vs. wortwörtlicher Sinn), die dem Französischen eigen ist. Einen interessanten Fall stellt auch das bereits erwähnte Gedicht »Matière de Bretagne« (GW I, 171) aus dem Band Sprachgitter dar. Durch die Wahl des polysemen französischen Titels gelingt es dem Dichter hier erneut, sehr unterschiedliche Bedeutungsebenen zusammenzuführen. ›Matière‹ verweist als ›Matière de Bretagne‹ einerseits auf die bretonischen Sagenstoffe rund um König Arthus, zu denen unter anderem die Erzählung von Tristan und Isolde gehört, auf die der sechste Vers des Gedichts abspielt. 630 Daneben kann ›matière‹ 314 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="315"?> 631 Siehe Solomon, Paul Celan, dimensiunea românească, S.-238. auf Französisch aber auch ›Eiter‹ bedeuten, wobei dem Dichter diese von Walter Jens entdeckte Mehrdeutigkeit beim Schreiben offenbar nicht bewusst gewesen ist (s. Briefe, 512-513). Selbst wenn dieser spezielle Nebensinn nicht vom Autor intendiert gewesen sein sollte, unterhält der französische Titel mit seiner Mehrdeutigkeit zahlreiche Verbindungen zu anderen Elementen des Gedichts wie »gelb« (V. 1) und natürlich »eitern« (V. 2). Auch über die bairisch-österreichische Mundart (›maderi‹ = verdorbene Materie) ergeben sich solche Assoziationen (s. NKG, 757-758), die zum Bild der Wunde (V. 3+21) weiterführen. Zuletzt bezieht sich der Begriff wortwörtlich gelesen auf die ›materielle‹, stoffliche, ja geologische Beschaffenheit der Region Bretagne, mit der der Autor sehr verbunden war. Dazu gehört beispielsweise der gelb blühende Ginster (s. V.-1), der die bretonische Landschaft prägt. Weitere Beispiele Andere Sprachen als das Französische liefern dem Dichter ebenfalls immer wieder Wörter, deren intrinsische Mehrdeutigkeit in seiner Lyrik fruchtbar gemacht wird. Dies gilt beispielsweise für das in Celans Werk allgemein sehr produktive Lateinische. So besitzt das bereits erwähnte Wort ›Corona‹, das neben seiner titelgebenden Funktion in einem frühen Gedicht (GW I, 37) auch im Spätwerk auftaucht (»Freigegeben«, GW II, 243, V. 3), eine Vielzahl von Bedeutungen, darunter ›Kranz‹, ›Krone‹, ›Baumkrone‹‚ ›Kreis‹, und ›Ring‹. Zusätzlich hat Celan bei der Verwendung von ›Corona‹ höchstwahrscheinlich an die (veraltete) Benennung des Musikzeichens namens Fermate gedacht (s. NKG, 686). Ein anderes Beispiel aus dem Lateinischen liefert das Wort »Rosa« (V. 2), das im Gedicht »Coagula« (GW II, 83) zum Einsatz kommt. Im konkreten Kontext deutet ›Rosa‹ zunächst auf den weiblichen Vornamen hin - speziell auf Rosa Luxemburg und die Figur Rosa aus Kafkas Erzählung »Ein Landarzt«. 631 Zusätzlich kann bzw. muss das Wort natürlich über das Lateinische auch im Sinne von ›Rose‹ verstanden werden. Ebenfalls auf einen lateinischen Ursprung zurückgeführt werden kann das Wort »Alba«, das letzte Wort des Gedichts »Es ist alles anders« (GW I, 284 ff.). Er‐ neut ist das Bedeutungsspektrum hier ausgesprochen breit. Einerseits verweist das Wort in der Bedeutung ›weiß‹ auf die im Text angesprochene »karelische Birke« (V. 9). Andererseits ist ›Alba‹ der lateinische Name für den Fluss Elbe, was ebenfalls in den (topographischen) Kontext des Gedichts passt. Daneben kann das Wort über das Provenzalische bzw. Okzitanische gelesen werden, wo es das Tagelied (frz. aubade, s. GW VI, 97) bezeichnet, das den morgendlichen Abschied 5.7 Exophone Vielstelligkeit 315 <?page no="316"?> 632 Leonard M. Olschner, »Es ist alles anders«. In: Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S.-340-352, hier S.-351. der Liebenden voneinander zum Gegenstand hat. Insofern handelt es sich bei ›alba‹ nicht nur um exophone Vielstelligkeit, sondern um eine translinguale Homonymie (s. 6.6) zwischen dem Lateinischen und aus ihm hervorgegangenen Sprachen der Romania. Über die hier erwähnten Sinnebenen hinaus wären aber noch weitere Bedeutungsassoziationen möglich, wie Leonard Olschner aufgezeigt hat. 632 Was die englische Sprache betrifft, gibt es ebenfalls Beispiele für das Phä‐ nomen exophoner Vielstelligkeit, wie es unter anderem das Gedicht »Playtime« (GW II, 386) zeigt. Das Titelwort stellt hier nämlich weit mehr dar, als das Zitat eines zeitgenössischen Films des französischen Regisseurs Jacques Tati aus dem Jahr 1967. Da sich das Gedicht ganz offensichtlich auf Shakespeares Hamlet bezieht (wie zahlreiche Anspielungen im Text zeigen, s. NKG, 1155), muss das englische ›Playtime‹ über den Filmtitel hinaus wortwörtlich als Verweis auf das ›Stück im Stück‹ (play) in dem berühmten Drama verstanden werden, mit dem Hamlet bekanntlich den Mörder seines Vaters entlarvt (III, 2). Daneben kann das englische Spielmotiv - insbesondere über den Begriff des Wortspiels - als Reaktion des Dichters auf den wiederholten Vorwurf, seine Dichtung sei reine ›Artistik‹, gewertet werden, was zur Problematik des Sprachexperiments zurückführt (s. 1.2.2). Der italienische Begriff, der als Titel von »Mandorla« (GW I, 244), einem Gedicht aus Die Niemandsrose, dient, ist ebenfalls extrem mehrdeutig. Er ver‐ weist nicht nur auf die Glorie oder Aura (Aureole), die in der christlichen Iko‐ nographie Jesus, Maria oder auch Heilige umgibt, oder auf den Mandelbaum, ein zentrales Symbol der jüdischen Tradition. Über diese primären Lesarten hinaus besitzt ›Mandorla‹ nämlich ebenfalls die Bedeutung von ›Vulva‹, wie es in vielen religiösen Traditionen der Fall ist (s. NKG, 806). Überhaupt scheint die religiöse Sphäre und ihre Symbolik geradezu prädestiniert zu sein für solche Mehrfachcodierungen. So stellt das hebräische Wort »Beth« - aus dem ebenfalls aus Die Niemandsrose stammenden Gedicht »Hüttenfenster« (GW I, 278 f., V. 47) - zum einen das hebräische Wort für ›Haus‹ dar, ein Wort, das im darauffol‐ genden Vers auftaucht (V. 48, hebr. תיב). Zum anderen entspricht es dem zweiten Buchstaben des hebräischen Alphabets (ב ), wodurch sich weitere symbolische Bedeutungen ergeben, zumal das Schöpfungsbuch der Thora genau mit diesem Buchstaben beginnt. Zusätzlich tauchen in demselben Gedicht auch die Buch‐ staben Aleph und Jud (V. 43) auf, die im jüdischen Kontext sprachmystisch ebenso bedeutsam sind. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Buchstaben 316 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="317"?> 633 Vgl. Bayerdörfer, »Poetischer Sarkasmus«, S. 46; Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum, S.-107. 634 Wie weiter unten (s. 6.6) zu zeigen sein wird, lässt sich dieses Wort auch als Homonym interpretieren. 635 Siehe Barbara Hahn, Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne. Berlin: Berlin Verlag, 2002, S.-11-13. im Hebräischen nicht nur einen alphabetischen Code, sondern ein hochkom‐ plexes Symbolsystem darstellen. Ebenfalls aus dem Hebräischen stammt das Wort »Aschrej« im bereits ange‐ sprochenen Gedicht »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154, V. 9) aus dem Band Fadensonnen. In der ersten Niederschrift des Gedichts war dieses Wort sogar titelgebend (s. TCA, FS, 84). Bei »Aschrej« liegt eine ganz besondere Form von Mehrdeutigkeit im ›fremden‹ Wort vor, das an die Logik des Schibboleths (s. 3.2.1) erinnert. Gleich einem Wechselbild liegen hierbei konträre Bedeu‐ tungen dicht beieinander. So eröffnet das hebräische Wort ירשא einerseits einen zentralen jüdischen Gebetsritus der Seligpreisung. Im Deutschen kann der An‐ fang dieses mehrmals am Tag gesprochenen Gebets mit den Worten »Glücklich sind, die in Deinem Haus wohnen …« wiedergegeben werden. Eine weitere deutsche Entsprechung von ירשא , wäre jedoch »Heil denen, die …«, wie es in Parallelstellen der Lutherbibel der Fall ist (s. Ps 144, 15), wodurch eine völlig andere Sinndimension zutage tritt. Die Tatsache, dass in dem hebräischen Glück-Wunsch »Aschrej« gleichzeitig der Hitler-Gruß als ›Todesformel‹ der europäischen Juden mitklingt, 633 kann im Kontext des Gedichts - und in Anbetracht von Celans Poetik - kaum dem Zufall geschuldet sein. 634 Gleich einem Schibboleth, das über Leben oder Tod entscheidet, beinhaltet Celans Verwendung des hebräischen Wortes »Aschrej« sowohl die Vorstellung vom Judentum als Gottes erwähltem Volk als auch das von der Formel »Heil Hitler« verkörperte genozidäre Programm des National‐ sozialismus. Dadurch würde sich auch erklären, warum »Aschrej« nach der Judenvernichtung als »Wort ohne Sinn« (V. 10) erscheinen muss, so wie aus der »Jüdin / Pallas / Athene« (V. 12-14) gemäß der Logik des Gedichts kein neues Leben hervorgehen kann. 635 An dieser Stelle wird erneut deutlich, welch enormes Potential an Mehrdeutigkeit durch Mehrsprachigkeit in Celans Lyrik erzeugt wird. Besonders hervorzuheben ist schließlich der Fall des griechischen Worts ›Orchis‹, das im Titel des 1963 entstandenen Gedichts »Von der Orchis her« GW II, 64) auftaucht. Daneben ist das Wort auch im Gedicht »Todtnauberg« aus dem Jahr 1967 präsent (GW II, 255, V. 17). ›Orchis‹ bezeichnet einerseits die Pflanzengattung der sogenannten Knabenkräuter aus der Familie der Orchide‐ 5.7 Exophone Vielstelligkeit 317 <?page no="318"?> 636 Siehe die Faksimiles in Gellhaus (Hrsg.), Celans als Übersetzer, S. 44-47. Siehe auch Badiou, Bildbiographie, S.-38-39. engewächse. Andererseits verweist die Wortgeschichte auf den griechischen Namen für ›Hoden‹ (όρχις), von dem der Pflanzenname über eine bildliche Analogiebildung herrührt. In den erwähnten Gedichten Celans spielt gerade diese andere Bedeutung eine gewichtige Rolle, wobei das Wort metonymisch als Bezeichnung für das männliche Geschlecht, sowie als Bild für die (jüdische) Abstammung und Generationenfolge verstanden werden kann. Insofern als sich der Dichter intensiv für Blumen- und Pflanzennamen in allen möglichen Spra‐ chen interessiert hat, wie zahlreiche Dokumente aus dem Nachlass zeigen, 636 besitzt die Wahl dieses aus dem Griechischen entlehnten Ausdrucks eine hohe Aussagekraft. Allgemein kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Wortschatz der Botanik bei Celan aufgrund seines lebhaften Interesses für sprachvergleichende Lexikographie speziell in diesem Bereich stets vor dem Hintergrund von (latenter) Mehrsprachigkeit betrachtet werden muss. 5.8 Sprachschöpferische Mehrsprachigkeit Das hier als exophone Vielstelligkeit bezeichnete Phänomen stellt bereits eine Form kreativ-produktiver Verwendung von Heterolingualität in der Dichtung Paul Celans dar. Denn in den erwähnten Beispielen geht es nicht nur um ein additives Nebeneinanderstellen der Sprachen, sondern um den Einsatz von Mehrsprachigkeit mit dem erkennbaren Ziel der Erzeugung von Mehrdeutigkeit in den Texten. Allerdings verblieben die beschriebenen Vorgänge dabei formal auf einer relativ einfachen Ebene, insofern der Prozess der Sprachmischung nicht an die Integrität des Wortmaterials rührte. Demgegenüber kommt es bei ausgesprochen sprachschöpferischen Formen des Schreibens zwischen den Sprachen dazu, dass sich die verschiedenen Idiome derart stark durchdringen, dass ihre ›Vermischung‹ sogar innerhalb der Grenzen einzelner Wörter bzw. Komposita auftritt. Dabei vollzieht sich insgesamt eine translinguale Transfor‐ mation bzw. Hybridisierung des Sprachmaterials. Wie in einem Reagenzglas, so könnte man sagen, werden Wörter verschiedener Herkunft gleichsam als Agenzien zur Erzeugung neuer Sprachmaterie verwendet, was erneut an den von Celan zitierten Alchimistenspruch »Solve et coagula« (GW I, 82+83, s. TCA, M, 65) denken lässt. Bei solchen Prozessen handelt sich in gewisser Weise um eine Steigerungsform von Sprachmischung, die auch als eine Methode zur mehrsprachigen Wortschöpfung bezeichnet werden könnte. Auf dieser Ebene wird immer wieder die (monolinguale) Integrität und Identität des Sprachma‐ 318 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="319"?> 637 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-39. terials angetastet, sodass die Grenze zwischen Multilingualität und reiner sprachlicher Kreativität tendenziell überschritten wird, wie es bereits beim Titel »Huhediblu« der Fall war (s. 2.3). Bei vielen Wörtern und Ausdrücken, die auf fragmentierend-kombinatorische Prozesse zurückzuführen sind, stellt sich daher die Frage, ob sie noch als Mischung verschiedener Sprachen aufgefasst werden können oder vielmehr ›reine‹ Spracherfindungen in Anknüpfung an avantgardistische Schreibtechniken darstellen. Zur Genealogie der translingualen Wortspiele Dass Paul Celan eine »Vorliebe für beziehungsreiche Wortspiele« 637 besaß, ist hinlänglich bekannt und wurde immer wieder von verschiedener Seite betont. Ergänzt werden soll diese Einsicht an dieser Stelle um die für diese Studie grundlegende Feststellung, dass vielen dieser Wortspiele eine ausgesprochen translinguale Dimension zukommt. Um die Funktionsweise solcher Verfahren bei Celan zu ergründen, ist es zunächst angebracht, sich an die weiter oben beschriebenen Formen textübergreifender Mehrsprachigkeit - in rumänischer und französischer Sprache - in seinem Werk zu erinnern (s. 4.4). Diese anders‐ sprachigen (Prosa-)Gedichte und Aphorismen bilden nämlich, so darf behauptet werden, eine Art ›Keimzelle‹ für die Wortspiele in den deutschen Gedichten. Anders gesagt wird auf der Ebene des Wortspiels die translinguale Dimension von Celans Schreiben besonders augenfällig. Die sich vom Frühbis zum Spätwerk erstreckende Exophonie mitsamt ihren sprachspielerischen Aspekten ist gerade deswegen nicht vom dichterischen Hauptwerk zu trennen. Die enge Verbindung zwischen Anderssprachigkeit und Dichten auf Deutsch, wie sie Celans Schreiben auszeichnet, wurde bereits an mehreren Beispielen sichtbar, wie etwa im deutsch-französischen Nachlassgedicht »Muta« (GW VII, 63, s. 4.4.2). Manifeste Mehrsprachigkeit bedeutet hier, dass die anderen Sprachen zum integralen Bestandteil des Schreibakts werden, und zwar über das Reproduzieren einzelner Wörter und Zitate hinaus. Solche Phänomene beschränken sich keineswegs auf die Lyrik aus dem Nachlass. So hat das im zweiten Kapitel analysierte Beispiel von »Huhediblu« gezeigt, wie die sprachspielerische Dimension von Paul Celans Schreiben Hand in Hand geht mit Multilingualität. In Ansätzen sind solche Vorgänge schon in frühen Gedichten wie dem noch in Bukarest entstandenen »Erinnerung an Frankreich« (GW I, 28) zu erkennen. Dort bildet Celan den Anfang von Apollinaires Vers »Le songe Herr Traum survint avec Sa sœur Frau Sorge« aus dem Gedicht »Les Femmes« 5.8 Sprachschöpferische Mehrsprachigkeit 319 <?page no="320"?> 638 Guillaume Apollinaire, Œuvres poétiques complètes, S.-123-124. 639 Rilke, Werke, Bd.-2, S.-217. nach, 638 indem er den bei Apollinaire deutschsprachigen Teil gleichsam spiegel‐ symmetrisch auf Französisch in sein deutsches Gedicht einfügt. Aus »Herr Traum« bei Apollinaire wird in Celans Gedicht »Monsieur Le Songe«: »und unser Nachbar kam, Monsieur Le Songe, ein hager Männlein« (V.-5). An solchen Textstellen interessiert im vorliegenden Untersuchungsrahmen hauptsächlich die Tatsache, dass die Mehrsprachigkeit in der veröffentlichten Endfassung manifest in Erscheinung tritt. Zusätzlich kann angemerkt werden, dass Rainer Maria Rilke, dessen mehrsprachige Schreibpraxis bereits erwähnt wurde, vergleichbare sprachliche Mittel benutzt hatte. Das ist unter anderem der Fall in seiner Fünften »Duineser Elegie«, deren Einfluss ebenfalls im eben zitierten »Erinnerung an Frankreich« spürbar ist: »Plätze, o Platz in Paris: un‐ endlicher Schauplatz, / wo die Modistin, Madame Lamort, / die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder, / schlingt und windet […]«. 639 Celans »Monsieur Le Songe« kann sicherlich - neben der bereits erwähnten Beziehung zu Apollinaire - als Verwandter von Rilkes »Madame Lamort« gelten. Zusätzlich lässt das genannte Frankreich-Gedicht Celans eine starke motivische Nähe zum zeitnah entstandenem rumänischen Gedicht »Cântec de dragoste« (Liebeslied, GW VI, 185) erkennen, was dem Ganzen eine weitere translinguale Relation hinzufügt. Wortinterne Sprachmischung In späteren Schaffensphasen - d. h. ab den Bänden Sprachgitter (1959) und Die Niemandsrose (1963) - werden diese sprachspielerisch-translingualen Mittel, Techniken und Verfahren dann radikalisiert. Das Wortmaterial verschiedener Sprachen wird dabei immer wieder innerhalb einzelner Wörter miteinander kombiniert. In Anlehnung an ein verbreitetes Konzept könnte man diesbezüg‐ lich auch von mehrsprachigen Kofferwörtern (bzw. Portemanteau-Wörtern) sprechen. Ein erstes Beispiel für solche wortinterne Sprachmischungen liefert das Gedicht »Anabasis« (GW I, 256 f.), von dem bereits die Rede war. Aufgrund des griechischen Titels gehört der Text zunächst zur Gruppe der Gedichte mit heterolingualen Einsprengseln (s. 5.2). Am Schluss des Gedichts lassen sich darüber hinaus Prozesse mehrsprachiger Wortschöpfung beobachten, in denen das Deutsche mit dem Lateinischen aus Mozarts Motette Exultate, jubilate (Köchel 165) vermischt wird. Konkret zitiert Celan den vorletzten Vers des Motteten-Textes: »[tu consolare affectus, / ] unde suspirat cor.« (dt. »[du, stille die Leidenschaften, / ] unter denen das Herz seufzt.«). Über das Motiv der klin‐ 320 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="321"?> 640 Werner, Textgräber, S.-34. 641 Als weitere Sinnebene kommt hier erneut das französische Nomen ›cor‹ für das Instrument Horn in Frage, was durch das ›Respondieren‹ suggeriert wird, so wie in der Musik ein Instrument auf ein anderes ›antwortet‹. 642 Siehe Hermann Wiegand, »Makkaronische Dichtung«. In: Harald Fricke (Hrsg.), Real‐ lexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. Berlin-New York: De Gruyter 2007, S.-527-530. 643 Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, S. 75. Siehe auch Sturm-Trigonakis, Global Playing in der Literatur, S.-160. genden Glocken verschränkt der Dichter seine deutschen Verse lautmalerisch mit dem lateinischen Zitat: »Leucht-/ glockentöne (dum-, / dun-, un-, / unde suspirat / cor)« (V.-16-20). Dieses sprachspielerische »Seufzen des Herzens« erinnert an ein spätes Gedicht aus dem Jahr 1968 mit dem Titel »Bergung« (GW-II, 413), in dem ganz ähnliche Prozesse auszumachen sind. In diesem Text tritt die deutsch-lateinische Sprachmischung innerhalb eines einzelnen Wortes - »Cor-/ respondenz« (V. 4- 5) - auf, welches erneut auf das Herz (›cor‹) verweist. Durch den Zeilensprung, der laut Werner die häufigste und zugleich wirkungsvollste »poetologische Mikrostruktur« 640 in Celans Dichtung darstellt, wird das deutsche Lehnwort ›Korrespondenz‹ (Briefverkehr und Entsprechung) an seine mittellateinische Quelle ›correspondens‹ zurückgebunden. Vor allen Dingen aber tritt bei diesem Verfahren der Nebensinn ›Herz‹ bzw. genauer ›Antwort (Respondenz) des Herzens (cor)‹ hervor. Dem liegt wohlbemerkt eine sprachgeschichtlich falsche Etymologie zugrunde, insofern es sich ursprünglich um das lateinische Präfix ›con-‹ resp. ›cor-‹‚ (= mit, zusammen) und nicht um das Nomen für ›Herz‹ handelt. Trotzdem scheint es auf der Hand zu liegen, dass Celan über die Verwandlung des Anfangskonsonanten (K wird zu C) den Nebensinn des ›antwortenden Herzens‹ in seinen Text einführen wollte. Die Präsenz von »Selbstherz« (V.-9) wenige Verse später im Gedicht bekräftigt diese These. 641 Solche deutsch-lateinische Hybridformen treten in Celans Texten wieder‐ holt auf, wodurch der Lyriker sich - zumindest implizit - in die Tradition Makkaronischer Dichtung einreiht. 642 Freilich übernimmt er dabei nicht deren komisch-burlesken Impetus, den er vielmehr ins Bitter-Sarkastische wendet. Die Erzeugung komischer Effekte, welche traditionell eine Hauptfunktion literarischer Mehrsprachigkeit darstellt, 643 steht in Celans Poetik sicher nicht im Vordergrund. Trotzdem könnte in einigen Fällen durchaus von Ansätzen eines kritisch-polemischen Makkaronismus bei Celan gesprochen werden. Die vom Dichter an mehreren Stellen - in Vorstufen wie in Briefen und Notizen - be‐ nutzte Signatur »Pawel Lwowitsch Tselan, / Russkij poët in partibus / nemets‐ kich infidelium« (= »russischer Dichter im Land der deutschen Ungläubigen«), 5.8 Sprachschöpferische Mehrsprachigkeit 321 <?page no="322"?> 644 Siehe Marko Pajević, Zur Poetik Paul Celans, S.-46. 645 Ebd. in der er seinen Namen slawisch verfremdet und mit Latein und Russisch mischt, liefert ein anschauliches Beispiel für diese ›makkaronische‹ Inspiration. Überhaupt lassen sich in seinem Briefwerk häufig Stellen finden, die an diese Tradition spielerisch-sprachmischenden Schreibens anschließen, so etwa in einem in dieser Hinsicht hochinteressanten Brief an Marcel Pohne aus dem Jahr 1961, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann (s. Briefe, 540-542). Im 1968 entstandenen Nachlassgedicht »Sie haben dich alle gelesen« (GW VII, 210) fällt in diesem Zusammenhang das Adverb »gassatim« (V. 11) auf, das Celan aus verschiedenen Lektüren - unter anderem aus der Rabelais-Übertragung von Gottlob Regis - übernommen haben könnte (s. NKG, 1196). Dieses Wort scheint hier insofern von Interesse, als es das deutsche Nomen ›Gasse‹ mit der lateini‐ schen Morphologie kombiniert und auf diese Weise eine - ursprünglich scherz‐ hafte - makkaronische Mischform bildet. Solche latinisierende Wortbildungen gehören fest zur studentischen Sprachkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Rahmen von Celans Lyrik erhalten sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen ganz neuen Resonanzraum. Auch das lateinische Wortspiel am Ende des Nachlassgedichts »Lieber Klaus und Jakobsvater« (NKG, 434 f.) kann an dieser Stelle erwähnt werden, auch wenn hier keine wort-, sondern eine textinterne Sprachmischung vorliegt. In diesem Beispiel formt Celan den berühmten Aus‐ spruch Cäsars ›Veni, vidi, vici‹ in »Venividiscipsi« (»Ich kam, sag und schrieb«, V. 13) um und fügt ihn in die deutsche Hauptsprache des Gedichts ein. Und nicht zuletzt lässt sich der Band- und Gedichttitel »Schneepart« - wie schon erwähnt - als deutsch-lateinisch-französisches Kompositum lesen, wobei die komische Dimension diesmal offensichtlich gänzlich abwesend ist. Eine weitere wortinterne Sprachmischung lässt sich in einem Vers aus dem Gedicht »In der Luft« (GW I, 290 f.) aus dem Band Die Niemandsrose beobachten. Aufgrund der Tatsache, dass das (an Mandelstamm angelehnte) Motiv des Umherwanderns in diesem Text stark präsent ist, lässt sich die Passage »Aller-/ orten ist Hier und ist Heute […]« (V. 20-21) multilingual als Ausdruck einer (Such-)Bewegung deuten. Wie im eben zitierten Gedicht »Anabasis« ist auch hier der Zeilensprung von größter Bedeutung. Die Segmentierung von »Aller-/ orten« erlaubt es nämlich, den ersten Wortteil als Infinitiv des französischen Verbs ›aller‹ (= gehen) zu lesen: »[a]ller [zu den] [O]rten«, ›gehen zu allen Orten‹. 644 Lässt sich diese Lesart auch kohärent in eine Gesamtinterpretation des Gedichts einfügen, wie Pajevic gezeigt hat, 645 so muss an dieser Stelle gefragt werden, inwiefern diese Form von Mehrsprachigkeit noch als manifest 322 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="323"?> 646 Goethe, »Urworte, orphisch«. In: Ders., Werke. Hrsg. v. Erich Trunz. München: Beck, 1948-1981, Bd.-1, S.-359. zu bezeichnen ist, da der Sprachwechsel keineswegs für alle Leser erkennbar sein dürfte. Insofern stellen solche Stellen sicherlich Grenzphänomene zwischen manifester und latenter Mehrsprachigkeit dar. Jenseits der Einzelsprachen Ein Grenzphänomen verwandter Art bilden solche Sprachspiele, bei denen nicht immer klar entschieden werden kann, ob sie sich auf bestimmte einzelsprach‐ liche Ausgangstexte oder -sprachen beziehen lassen oder ob sie nicht eher der freien Sprachphantasie des Dichters entspringen. Ein extremes Beispiel hierfür liefert der bereits zitierte Ausdruck »Pallaksch« am Ende des Gedichts »Tübingen, Jänner« (GW I, 226), der keiner einzelnen Sprache zugeordnet werden kann. So ist das von Hölderlin überlieferte Wort weder im Deutschen noch in einer ›fremden‹ Sprache beheimatet und scheint eher in den Bereich der Glossolalie zu fallen. Bei den Ausdrücken »heidideldu« und »heidudeldi« im Gedicht »Hafen« (GW-II, 51 ff., V. 18+21) aus dem Band Atemwende handelt es sich wohl um einen vergleichbaren Fall, insofern hier die lautmalerische Komponente der Wörter zu überwiegen scheint. Zwar könnte eine Verbindung zum Adjektiv »heidelbeerblau« (V. 19) gesehen werden, das im Gedicht in gewisser Weise von den beiden Ausdrücken umrahmt wird. Indessen bleibt diese Verbindung sehr ungewiss, zumal die Wörter sehr an Lautmalereien aus volkstümlichen und dialektalen Liedtexten, ja an Texte von Kinderliedern erinnern. Doch ruft das Beispiel des im zweiten Kapitel ausführlich analysierten Gedichts »Huhediblu« den Umstand in Erinnerung, dass nicht alle solche Ausdrücke in Celans Werk ›freischwebender‹ Lautmalerei entsprungen sind. In vielen Fällen verweisen sie vielmehr direkt auf anderssprachige Quellen und folgen somit einer nachvollziehbaren Logik. An dieser Stelle kann auf die umgewandelte Goethe-Stelle im Gedicht »Give the word« (GW II, 93) hingewiesen werden, die sich als eine Mischung von Zitat, mehrsprachiger Wortschöpfung und Sprachspiel beschreiben lässt. Die Originalpassage »So sagten schon Sibyllen, so Propheten« aus dem ersten Teil, »Dämon«, von Goethes Gedicht »Urworte, orphisch« 646 wird bei Celan zum Vers »Sypheten und Probyllen sind dabei« (V. 7) umgestaltet. Die aus Lehnwörtern bestehende Quelle wird also metathetisch zu neuen ›fremden‹ Wörtern mit griechischem Klang umgeformt. Gleichzeitig ist erneut das Thema der Glossolalie präsent, in‐ sofern »Give the word« das Motiv des Wahnsinns enthält und unmittelbar nach 5.8 Sprachschöpferische Mehrsprachigkeit 323 <?page no="324"?> dem abgeänderten Goethe-Zitat auf »Tübingen, Jänner« verweist (»Es kommt ein Mensch«, V. 8). Das Dichterisch-Prophetische von Goethes ›Urworten‹ wird also gleichsam auf translinguale Weise mit Hölderlins ›Wahnworten‹ kurzgeschlossen. Die zugrundeliegende Quelle fällt zudem dadurch auf, dass Goethes Gedicht bereits in sich mehrsprachig ist, da dort die griechischen Urworte (δαιμων, τυχη, ερωσ, αναγκη, ελπισ) vor jedem der fünf Textteile in der Originalschrift wiedergegeben werden. Doch auch bei diesem von Celan verfremdeten Zitat gilt, dass nicht die Quelle als solche im Vordergrund stehen sollte, sondern deren kreative Einbindung in den (mehrsprachigen) Zieltext. Mit diesem letzten Beispiel endet an dieser Stelle die Behandlung manifester Formen von Sprachmischung in den Gedichten Paul Celans. Im anschließenden Kapitel wird nun, wie angekündigt, die Untersuchung anhand sogenannter latenter Formen von textinterner Mehrsprachigkeit in seinem Werk fortgesetzt und abgeschlossen. 324 5 »Mitgewanderte Sprache[n]«: Mehrsprachigkeit textintern I <?page no="325"?> 647 Grutman, Hétérolinguisme et lettres québécoises, S.-29. 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II 6.1 Ausweitung auf latente Formen von Mehrsprachigkeit Auf Grundlage des heute in der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung weit‐ gehend etablierten Begriffs der Heterolingualität kam in den vorangegangenen Analysen von manifest multilingualen Mitteln, Techniken und Verfahren in Paul Celans Lyrik ein erweiterter Begriff von Mehrsprachigkeit zum Einsatz. Im Anschluss an Grutman wurde dabei anstelle eines nationalsprachlichen Ideals von sprachlicher Homogenität, Diskretheit und Abgrenzung die Heterogenität, Diversität und Permeabilität von Celans poetischem Idiom betont. 647 In diesem Zusammenhang wurden unter anderem Formen innerer Mehrsprachigkeit des Deutschen berücksichtigt, die in der bisherigen Forschung häufig ausgeblendet blieben. Darüber hinaus wurden vereinzelt Phänomene angesprochen, die schon auf die Problematik sogenannter latenter Mehrsprachigkeit vorausgriffen, in‐ sofern die Sichtbarkeit der entsprechenden mehrsprachigen Elemente für den Rezipienten in diesen Fällen nicht unbedingt gegeben zu sein scheint. Zum einen ging es dabei um Materialien aus dem Nachlass des Dichters, wie unpublizierte Gedichte, Vorstufen und Privatbriefe, in denen an zahlrei‐ chen Stellen Formen textinterner Mehrsprachigkeit auftreten. Von manifester Mehrsprachigkeit im engeren Sinne unterscheidet sich dieses Teilkorpus durch seine prinzipielle Nichtzugehörigkeit zum autorisierten Werk. Es handelt sich sozusagen um eine Form von Mehrsprachigkeit, die vom Autor nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt war. Die ›Schwellenposition‹ dieser Texte verweist selbstredend auf Celans dezidierte Abgrenzung gegenüber der Polyglossie, wie sie in seiner bereits ausführlich kommentierten Antwort auf die Flinker-Umfrage (GW III, 175) formuliert wird. Diese ›unautorisierten‹ Texte sind nichtsdestoweniger von größtem Interesse, weil sie starke Parallelen mit dem zu Lebzeiten veröffentlichten Werk aufweisen und somit entscheidend dazu beitragen, die Funktionsweise von Celans poetischem Sprechen - gleichsam unterhalb der sprichwörtlichen Spitze des Eisbergs - begreifbar zu machen. Zum anderen wurden in den Analysen des vorangegangenen Kapitels inner‐ halb an sich manifester Formen von Mehrsprachigkeit immer wieder latente Dimensionen sprachlicher Alterität, Diversität und Pluralität erkennbar, die <?page no="326"?> 648 Zu Sprachlatenz in der interkulturellen Literatur allgemein siehe Chiellino, Liebe und Interkulturalität, S.-101ff. 649 Gumbrecht/ Klinger (Hrsg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. auf jene an der Textoberfläche nicht offensichtlichen Tiefenschichten der mul‐ tilingualen Praxis Celans verweisen. Neben den manifest sichtbar werdenden Sprachdifferenzen existieren in solchen Fällen weitere, implizite Sinndimensi‐ onen in den Texten, die auf Mehrsprachigkeit beruhen. Das als exophone Viel‐ stelligkeit benannte und bereits beschriebene Phänomen (s. 5.7) liefert hierfür ein erstes Beispiel. Die unter diesem Begriff verhandelten, anderssprachigen Ausdrücke sind dabei in sich - also gleichsam intralingual - mehrdeutig. Die Wahrnehmung dieser intern mehrdeutigen Dimension der Wörter setzt aller‐ dings prinzipiell eine ausreichende Kenntnis der betreffenden Fremdsprachen voraus, weshalb diese Ebene rezeptionsästhetisch betrachtet durchaus latent bzw. verborgen bleiben kann. In den nun folgenden Abschnitten soll diese bereits ansatzweise erfolgte Un‐ tersuchung multilingualer Latenz in den Texten Celans ausgeweitet und vertieft werden. 648 Dabei werden Erscheinungsformen behandelt, die mit folgenden, im weiteren Verlauf noch näher zu bestimmenden Begriffen erfasst werden können: translatorische Textgenese; translatorische ›Echokammern‹; impliziter Bilingualismus; translinguale Homonymie; morphologisch-grammatikalische, syntaktisch-prosodische sowie metrische Transferenz. Die dabei praktizierte Gliederung beruht auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen einer in‐ haltlichen (signifikatbezogenen) und einer formalen (signifikantenbezogenen) Ebene. Im ersten Teil des Kapitels (6.1-6.5) wird mit der Inhaltsseite begonnen, der zweite Teil der Darstellung (6.6-6.8) konzentriert sich dann auf Formaspekte. Insgesamt geht es in diesem Kapitel also um Prozesse, die sich gleichsam unter der Textoberfläche abspielen. Nach gängigen Kriterien der Germanistik könnten solche Texte natürlich genauso gut als einsprachig bezeichnet werden. Im vorlie‐ genden Untersuchungsrahmen soll diese ›einsprachige Brille‹ jedoch durch eine neue Perspektive ersetzt werden: Als latent mehrsprachig gelten im Folgenden all jene Sprachelemente, die nicht als manifest mehrsprachig bezeichnet werden können, deshalb aber noch lang nicht rein einsprachiger Natur sind, da hinter der monolingualen ›Fassade‹ eine Ebene sprachlicher Alterität und Differenz zum Vorschein gebracht werden kann. Zwar können die betreffenden multilin‐ gualen Phänomene für den einzelnen Rezipienten im Verborgenen bleiben, doch lässt dieser Umstand keineswegs auf ihre schlichte Nichtexistenz schließen. Wie »blinde Passagiere«, 649 um ein Bild von Hans-Ullrich Gumbrecht und Florian Klinger zu benutzen, müssen die »mitgewanderte[n] Sprache[n]« (GW II, 85, 326 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="327"?> 650 Schlesak, »Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie«. 651 Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré. 652 Siehe Julia Kristeva, »Bakhtine, le mot, le dialogue, le roman«. Critique, 239: 1967, S.-434-443. V. 10) als »Mitlaut am Genannten« (TCA, M, 145) vom Leser erst entdeckt werden, um identifizierbar zu sein. Die im vorliegenden Kapitel unter der Bezeichnung ›Krypohebräisch‹ ver‐ handelte Problematik (s. 6.5) ist in diesem Zusammenhang als exemplarisch für Celans Umgang mit dem Deutschen bzw. für seine translinguale Poetik zu bezeichnen. An dieser Stelle sei nochmals an das für diese Studie zentrale Gedicht »Kleide die Worthöhlen aus« (GW II, 198) erinnert, das abgesehen vom Wort ›parietal‹ eines der (manifest) einsprachigsten Gedichte Celans überhaupt darstellen dürfte. Trotzdem ist dieser Text, wie weiter oben dargestellt wurde (s. 3.3), ohne die unterschwellige Präsenz des Hebräischen, das gleich einer »verborgene[n] Partitur« 650 unter dem deutschen Text hörbar und lesbar wird, kaum angemessen zu erschließen. Dabei stellt dieses Gedichtbeispiel bei Weitem keinen Einzelfall dar, wie jetzt zu zeigen sein wird. Doch vor der eigentlichen Analyse einzelner Texte, Passagen und Phänomene soll im Folgenden zunächst die Problematik latenter Mehrsprachigkeit auf der theoretischen Ebene vertieft werden, wobei insbesondere eine Annäherung an die Intertextualitätforschung versucht wird. Translinguale Palimpseste In seiner 1982 erschienenen und mittlerweile klassisch zu nennenden Studie zum Phänomen der Transtextualität benutzt der französische Literaturtheore‐ tiker Gérard Genette das bekannte Bild vom Palimpsest als metaphorischen Oberbegriff für seine Typologie der »Literatur auf zweiter Stufe«. 651 In Anknüp‐ fung an strukturalistische Ansätze geht es in seiner Untersuchung, so könnte man es auf den Punkt bringen, um die Erforschung der latenten Präsenz fremder Texte in der Literatur. Diese Quellen der literarischen Produktion werden von den betreffenden Werken gleichsam überschrieben und also verdeckt, ohne dabei jedoch vollständig vom Schriftträger zu verschwinden. Bildlich gesprochen bleibt der frühere Text also auf untergründige Weise im neuen Text präsent. Im Unterschied zu konkurrierenden Konzeptionen des Intertex‐ tualitäts-Paradigmas 652 geht es bei Genette nicht nur um einen erweiterten Textbegriff im Umfeld poststrukturalistischer Theoriebildung; darüber hinaus behandelt er ganz konkrete Bezüge zwischen literarischen Einzeltexten, womit er nicht zuletzt an die traditionelle Einflussforschung anknüpft. 6.1 Ausweitung auf latente Formen von Mehrsprachigkeit 327 <?page no="328"?> 653 Siehe Kristeva, Semeiotike: recherches pour une sémanalyse. Paris: Le Seuil, 1969, S.-217ff. Der schulbildende Ansatz von Genette erweist sich auch im vorliegenden Untersuchungsrahmen als sehr hilfreich, weshalb sein Instrumentarium im Laufe dieser Studie bereits am Rande zum Einsatz gekommen ist. Das gilt insbesondere für die ›Hypertextualität‹ als einen der fünf vom Autor definierten Typen von transtextuellen Relationen. Mit dem für seine Studie zentralen Begriff ›Hypotext‹ bezeichnet Genette dabei eine unausgewiesene Quelle, deren Präsenz sich nicht unbedingt wortwörtlich erkennbar macht, ohne die das neue Werk allerdings schlicht undenkbar wäre. Bei dem auf diese Weise zustande kommenden ›Hypertext‹ handelt es sich also nicht um eine bloße Reproduktion, insofern die als Grundlage dienende Quelle in eine originelle Neuschöpfung eingearbeitet wird. Somit wird der Hypotext durch den Hypertext fundamental umgewandelt - in manchen Fällen nahezu bis zur Unkenntlichkeit. Gleichzeitig aber bleiben solche Quellen in den neuen Texten implizit - transtextuell - präsent, und sei es nur als Möglichkeitsbedingung seiner Entstehung. Das von Genettes Studie stark gemachte Bild des Palimpsests lässt sich im vor‐ liegenden Zusammenhang gewinnbringend auf die Problematik der Multilin‐ gualität übertragen. Der Ansatz erscheint dabei insbesondere in textgenetischer Hinsicht als fruchtbar, insofern sich das Gedichteschreiben bei Celan immer wieder auf Wortmaterial aus anderen Sprachen als dem Deutschen gründet. Wie bereits gezeigt werden konnte, dokumentieren zahlreiche Vorstufen auf ein‐ drucksvolle Weise, wie sich der Schreibprozess vieler Gedichte ›zwischen‹ den Sprachen vollzieht. Wie bei den mittelalterlichen Pergamentrollen werden diese anderssprachigen Hypotexte (fast könnte man hier von ›Hyposprachen‹ reden) innerhalb des Entstehungsprozesses vom späteren, (quasi-)einsprachigen Text gleichsam überschrieben und unkenntlich gemacht. Trotzdem ›scheinen‹ diese Sprachen, so die von Genettes Palimpsest-Theorie abgeleitete These, weiterhin durch das Deutsche hindurch oder können durch bestimmte Analysemethoden wieder im Text sichtbar gemacht werden. Auf dieser Ebene ergeben sich interessante Parallelen zu der von Julia Kris‐ teva einige Jahre zuvor konzeptualisierten Unterscheidung von (sichtbarem) ›Phänotext‹ und (verdecktem) ›Genotext‹ (letzterer auch als ›Prätext‹ oder ›Subtext‹ bezeichnet). 653 Die bei Kristeva zugrundeliegende (intertextuelle) Literaturauffassung trägt, so könnte man sagen, ebenfalls palimpsesthafte Züge. Und auch für diese Terminologie gibt es interessante Anwendungsmög‐ lichkeiten auf die Problematik latenter Mehrsprachigkeit. Denn so wie der Begriff ›Genotext‹ impliziert, dass sich jedes literarische Originalkunstwerk 328 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="329"?> 654 Siehe Carmine Chiellino, Liebe und Interkulturalität, S.-101ff. ursprünglich aus Versatzstücken anderer Texte zusammensetzt, könnte gesagt werden, dass die Idee latenter Mehrsprachigkeit letztlich auf der Idee beruht, jedes literarische Idiom impliziere die interne Präsenz anderer Sprachen, die von der Hauptsprache des Textes, wenn überhaupt, dann nur oberflächlich überdeckt werden. Oft genügt ein genauer Blick auf die sprachbiographischen, sprachhistorischen und textgenetischen Zusammenhänge von Autor und Werk, um die unter der Textoberfläche liegenden Sprachschichten aufzudecken. Je nach Autor und Korpus können solche Phänomene natürlich mehr oder weniger auf der Hand liegen. Neben der allgemeinen Vorstellung von der inneren Mehrsprachigkeit jedes literarischen Idioms (bzw. des Deutschen als Nationalsprache) existieren auf produktionsästhetischer Ebene bei jedem Schriftsteller bzw. Werk individuelle Voraussetzungen für die Entstehung sprachlicher Latenz. Wie die Forschung gezeigt hat, sind insbesondere im Bereich der interkulturellen Literatur, zu der auch Paul Celan zu zählen ist, solche Phänomene sehr häufig anzutreffen. 654 In Bezug auf Celans Lyrik mit der ihr zugrundeliegenden Sprachproblematik darf behauptet werden, dass sich in seinem Fall viele Gedichte in der Tat als mehrsprachige Palimpseste betrachtet lassen. Die hierbei implizierte Denkfigur des mittelalterlichen Per‐ gaments erinnert nicht zuletzt an das ›Auskleiden der Worthöhlen‹ in dem schon mehrmals erwähnten Gedicht, wo die „[H]äute« der Raubtiere vom Leser »sinnhin und sinnher« (GW II, 198, V. 1-4) zu behandeln sind, damit sich ihm die verschiedenen Sinn- und Sprachschichten des Textes erschließen. Metapoetik der Latenz Über die Metaphorik der ›Worthöhlen‹ hinaus lassen sich innerhalb von Ce‐ lans Poetik zahlreiche weitere Bilder finden, die an das eben beschriebene Phänomen der Sprachlatenz erinnern. Solche Bilder führen zu der im dritten Kapitel behandelten Ebene des Metamultilingualismus zurück, die an dieser Stelle erneut angesprochen werden muss. Poetologische Thematisierungen der Sprachlatenz sind beispielsweise in den Vorarbeiten zur Meridian-Rede zu entdecken, in denen der Dichter an einer Stelle vom »Stimmhaftwerden des ins Stimmlose Zurückgekehrten und dort Aufbewahrten« (TCA, M, 118) spricht. Mit dieser bildhaften Formulierung wird ein Umstand beschrieben, den auch man als Latenz von ›Stimmen‹ im literarischen Text bezeichnen könnte. Es geht anders gesagt um eine Ausdrucksebene, die, obwohl sie nicht direkt präsent ist, wieder im Gedicht ›hörbar‹ werden kann. Ein verwandter Begriff wie »Muta cum liquida« (TCA, NR, 50), der als Vorstufentitel des Gedichts 6.1 Ausweitung auf latente Formen von Mehrsprachigkeit 329 <?page no="330"?> 655 Im Gedicht »Offene Glottis« (GW II, 388) wird ganz ähnlich von »Mitlautstößen« gesprochen (V. 6). 656 Siehe hierzu allgemein Julia Tidigs/ Markus Huss, »The Noise of Multilingualism: Reader Diversity, Linguistic Borders and Literary Multimodality«. Critical Multilingu‐ alism Studies, 5: 1 (2017), S.-208-235. »Erratisch« (GW I, 235) gedient hat, verweist seinerseits auf den ebenfalls in den Meridian-Materialien erwähnten »stumme[n] Mitlaut am Genannten« (TCA, M, 145). 655 Dieser den (stummen) Verschlusslauts bezeichnende terminus technicus meint in diesem Zusammenhang das vordergründig nicht Präsente, aber doch unterschwellig aus dem Text Herauszuhörende. Im genannten Gedicht wird das Sprachinstrument der »Lippen« zudem mit einem »schöne[n], lautlose[n] Rund« (V. 2-4) verglichen, was nochmals auf die Problematik des ›Stimmlosen‹ bzw. des wieder ›Stimmhaftwerdens‹ im Gedicht verweist. Auch das im Kapitel zur metamultilingualen Dimension von Celans Werk analysierte Gedicht »Einem, der vor der Tür stand« (GW I, 242, s. 3.2.3) lässt sich mit der Sprachlatenz-Problematik in Verbindung bringen. Die in diesem Gedicht ausgesprochene Aufforderung zur ›Beschneidung‹ des Wortes (V. 17) kann, wie gezeigt, als Prozess der Einschreibung jüdischer (Sprach-)Identität gelesen werden. Unter Verweis auf die rituelle Beschneidung, durch die bekanntlich ein irreversibles körperliches Merkmal geschaffen wird, geht es um die Evozierung einer Transformation der (deutschen) Sprache durch äußere, ›fremde‹ Eingriffe. Über die Bildlichkeit des jüdischen Ritus, so kann an dieser Stelle gefolgert werden, verweisen die ›beschnittenen‹ Wörter letztlich auf die Latenz des Anderen und Fremden in ihnen. Als Beschneidung ist die (jüdische) Markierung unauslöschlich in den (deutschen) ›Sprachkörper‹ eingeschrieben und bleibt dennoch gleichzeitig im Verborgenen, gleichsam in der sprachlichen ›Intimität‹. Insofern kann der in diesem Gedicht beschriebene Vorgang als Allegorie für latente Mehrsprachigkeit in einem deutsch-jüdischen Kontext begriffen werden. Wie aus zahlreichen bis hierin analysierten Gedichten und anderen Texten hervorgeht, lässt sich das Phänomen multilingualer Latenz also produktionsäs‐ thetisch verankern. Celan hat seine Leser immer wieder - und teilweise recht deutlich - dazu aufgefordert, hinter der Oberfläche seiner deutschen Gedichte nach den Spuren anderer Sprachen (und Kulturen) zu suchen. Dabei erscheint der sprachliche Resonanzraum seines Idioms als schier unbegrenzt, insofern sich jeder Leser mit seinem eigenen mehrdimensionalen Sprachhorizont in den Text hineinliest und diesen durch seine Sprachen hindurch zum Sprechen bringt. 656 Celans Gedicht »Sprich auch du« aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle scheint metapoetisch ganz in diese Richtung zu deuten: »Sprich auch du […] Sprich - Doch scheide das Nein nicht vom Ja. / Gib deinem Spruch 330 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="331"?> auch den Sinn: gib ihm den Schatten« (GW I, 135, V. 1-7), heißt es dort. Erst durch den ›Schatten‹, also das im Dunkeln Liegende, kann sich der Sinn des dichterischen Sprechens konstituieren. Bezeichnenderweise endet das Gedicht mit dem Bild einer »Dünung / wandernder Worte« (V. 23-24), hinter dem der antike Topos der verba peregrina, also der in die Sprache ›migrierten‹ (Fremd-)Wörter, hervorscheint. Die von diesem poetologischen Gedicht heraus‐ gestellte Vielschichtigkeit der poetischen Rede, so kann man sagen, beinhaltet somit nicht zuletzt eine multilinguale Dimension. Eine solche implizite, virtuelle Präsenz ›fremder‹ Sprachen in Celans Texten soll im Folgenden anhand einer umfassenden Analyse der konkreten Techniken und Verfahren, mit denen jeweils Sprachlatenz erzeugt wird, veranschaulicht werden. In diesem Zusammenhang wird, wie angekündigt, elementar zwischen Bedeutungs- und Ausdrucksebene unterschieden. Im ersten Fall, der zu Beginn behandelt werden soll, geht es um die latente Präsenz anderer Sprachen auf der Ebene der Signifikate. Hier steht primär der Prozess der Übersetzung im Vordergrund. So werden das Phänomen der translatorischen Textgenese (6.2), die Präsenz sogenannter translatorischer ›Echokammern‹ (6.3) und Fälle von implizitem Bilingualismus (6.4) zur Sprache kommen. Auch die in der Forschung oft erprobte Methode der (Rück-)Übersetzung von Celans Texten in andere Sprachen - speziell ins Hebräische - wird dargestellt und diskutiert (6.5). In den darauffolgenden, letzten Abschnitten des Kapitels wird dann die Ausdruck‐ ebene behandelt, wobei sich der Fokus auf formale Aspekte richtet. In diesem Zusammenhang wird es zunächst um das breite Phänomen der translingualen Homonymie gehen (6.6). Anschließend werden morphologisch-grammatikali‐ sche (6.7) sowie syntaktisch-prosodische und metrische Transferenzen (6.8) in den Texten angesprochen. Translingualität und Transtextualität Im Rahmen des vorliegenden Kapitels soll bei der Betrachtung der relevanten Textstellen grundsätzlich versucht werden, latente Mehrsprachigkeit weitest‐ gehend an das Paradigma der Übersetzung zurückzubinden. ›Übersetzung‹ wird dabei verstanden als konkreter Transferprozess von einer Sprache zur anderen und wohlbemerkt nicht nur unter dem Blickwinkel des (einsprachigen) ›Endprodukts‹ oder gar auf rein metaphorische Weise. Diese methodische Einschränkung erscheint heuristisch als notwendig, damit die darzustellenden Phänomene gegenüber der viel breiteren Perspektive der Inter- und Transtextu‐ alität abgegrenzt werden können. Bietet die moderne Quell- und Zitatforschung auch wertvolle Anknüpfungspunkte für den in dieser Studie praktizierten 6.1 Ausweitung auf latente Formen von Mehrsprachigkeit 331 <?page no="332"?> 657 Till Dembeck, »Zitat und Anderssprachigkeit«. In: Dembeck/ Parr (Hrsg.), Literatur und Mehrsprachigkeit, S.-193-219, hier S.-203. 658 Peter Goßens, »Arbeitsweisen: Wirklichkeitssuche und Materialität«. In: May/ Go‐ ßens/ Lehmann (Hrsg.), Celan-Handbuch, S.-365-373, hier S.-370. 659 Siehe Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, S.-17ff. Ansatz, so erscheint sie letztlich für die Untersuchung von multilingualer Sprachlatenz als zu unspezifisch, wie im Folgenden kurz ausgeführt werden soll. Hinsichtlich der Beziehung von Zitat und Anderssprachigkeit bemerkt Dem‐ beck zwar zu Recht, dass jede Form des Zitierens - also auch das Zitieren in der Hauptsprache des Autors - »dem Text ein ihm potenziell fremdes Struktur‐ prinzip ein[schreibt]«, wodurch sich »die Frage nach der spezifischen Natur der Beziehung zwischen zitiertem und zitierendem Text, zwischen ›eigenem‹ und ›fremdem‹ Sprechen« stellt. 657 Indessen ist das in der vorliegenden Studie im Vordergrund stehende Phänomen der Translingualität nicht deckungsgleich mit dem der Transtextualität, weil sich ja für letzteres ebenso gut ein einsprachiger Kommunikationsrahmen eignen würde. Vereinfacht gesagt beruht das Zitieren eben nicht notwendigerweise auf direktem Sprachkontakt, sondern kann ohne Weiteres in den Grenzen der Basissprache des Autors verbleiben, indem gege‐ benenfalls auf in Übersetzung vorliegende Texte zurückgegriffen wird. In diesen Zusammenhang besteht folglich ein Bedarf nach methodischer Ausdifferenzie‐ rung bzw. Abgrenzung. Denn eine Ausweitung der Perspektive auf die latente Präsenz von Werken der Weltliteratur in den analysierten Texten ohne jede Spur konkreter Anderssprachigkeit in der Textgenese (oder im publizierten Text) würde letztlich Gefahr laufen, dem vorliegenden Analyseansatz seine Grundlage zu entziehen. Auch Goßens ist zunächst grundsätzlich zuzustimmen, wenn er in Bezug auf die Erforschung von Paul Celans poetischen Kompositionsmethoden feststellt, dass »die Erweiterung der Perspektive auf nicht rein textuell und rezeptiv nachweisbare Dimensionen […] ausgesprochen spannend« 658 sei. Auf dieser Ebene könnte beispielsweise die bereits erwähnte Idee von Celans geistiger ›Bibliothek‹ aus vielerlei Sprachen als prägendem Horizont seines Schreibens zum Tragen kommen. Die Relevanz dieses multilingualen Universums für sein literarisches Schaffen ist nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem tut die literarische Mehrsprachigkeitsforschung sicherlich gut daran zu versuchen, ihre Thesen weitestgehend textuell-materiell zu fundieren, zumal speziell die Kategorie ›latente Mehrsprachigkeit‹ in der Forschung nicht unumstritten ist. 659 Folglich wird in der vorliegenden Studie für eine gewisse philologische ›Konkretheit‹ (um nicht zu sagen: Positivität) Stellung bezogen, d. h., es wird davon ausgegangen, dass jeweils klar dokumentierte Relationen zu anderen 332 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="333"?> 660 Siehe hierzu Dembeck, »Es gibt keine einsprachigen Texte! Ein Vorschlag für die Literaturwissenschaft«. 661 Siehe Gellhaus (Hrsg.), Celan als Übersetzer, S.-223-234. Sprachen vorliegen müssen, die sich anhand der Textzeugen verifizieren oder zumindest auf kontextueller oder sprachgeschichtlicher Ebene schlüssig her‐ leiten lassen. Dieses ›materielle‹ Kriterium soll als Leitfaden gelten, auch wenn die Trennschärfe nicht immer voll befriedigend ist, denn viele Beispiele stellen im Grunde Grenzphänomene dar. Zugespitzt formuliert stößt sich die vorliegende Studie immer wieder an dem in der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung oft thematisierten Problem, dass es höchst diffizil sein kann, die Grenze zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit festzulegen. 660 Trotz des im Laufe dieser Studie wiederholt erfolgten Plädoyers für eine möglichst breite Auffassung von Multilingualität bei der Textanalyse muss darauf geachtet werden, dass sich der Begriff im Zuge seiner Ausweitung (beispielsweise in Richtung auf das Paradigma der Intertextualität) nicht voll‐ ends auflöst. Die Warnung Helmichs diesbezüglich ist, wie bereits erwähnt (s. 5.1), nicht unberechtigt, weshalb auch hier einige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden müssen. Speziell für Phänomene latenter Mehrsprachigkeit gilt daher im Folgenden, dass diese, sollen sie berücksichtigt werden, als trans‐ linguale Übertragungsvorgänge auf Textebene beschreibbar sein müssen. Das schließt unter anderem rein motivisch-kompositorische Parallelen zwischen Geno- und Phänotext aus, falls konkrete sprachliche Bezugspunkte bzw. deut‐ liche Spuren sprachlicher Alterität oder Differenz fehlen. Diese Abgrenzung gilt ebenfalls für Fälle, in denen der Prätext offensichtlich aus deutschen Übersetzungen fremdsprachiger Quellen besteht, deren Einfluss sich auf die Inhaltsebene beschränkt, ohne in sprachlicher Form in den Textzeugen präsent zu sein. Anders gesagt reicht der Nachweis von Lektüren fremdsprachiger Texte nicht als Grundlage aus, wenn der literarische Transferprozess nicht zudem konkret sprachlich zu rekonstruieren ist. Selbstverständlich gibt es auch hier erneut Grenzfälle, wie etwa im Gedicht »Give the word« (GW II, 93), in dem Celan sich auf eine zweisprachige King-Lear-Ausgabe stützt und Shakespeare sowohl in der Originalsprache als auch in der deutschen Fassung Ludwig Tiecks zitiert. Auch die zahlreichen Parallelen zwischen Celans Übersetzungen anderer Autoren und seinen eigenen Gedichten gehören in diese ›Grauzone‹ zwischen Intertextualität und literarischer Mehrsprachigkeit. Man denke beispielsweise an das Gedicht »Engführung« (GW I, 195 ff.), in dem Spuren von Jean Cayrols Kommentar zu Alain Resnais’ Film Nuit et brouillard (Nacht und Nebel) auszu‐ machen sind (s. NKG 774), den Celan bekanntlich ins Deutsche übertragen hat. 661 6.1 Ausweitung auf latente Formen von Mehrsprachigkeit 333 <?page no="334"?> 662 Gellhaus/ Herrmann (Hrsg.), »Qualitativer Wechsel«. 663 Siehe u. a. das Themenheft »Intertextualité - Exogenèse« der textgenetischen Fach‐ zeitschrift Genesis, 51, 2020. Hrsg. von Pierre-Marc-de Biasi-et Céline-Gahungu. Oder man denke an die zahlreichen Gedichte aus Die Niemandsrose, die direkte Verbindungen zu Celans nahezu zeitgleichen Mandelstamm-Übersetzungen zu erkennen geben. Ist der Abstraktionsgrad solcher Übertragungen allerdings zu hoch, lassen sich also neben der Inhaltsebene keine konkreten Sprachtransfer‐ prozesse ausmachen, soll hier ebenfalls nicht von translingualen Phänomenen gesprochen werden. Zuletzt gehören in dieses Problemfeld auch die separat (z. B. in Notizbüchern), aber oft zeitgleich notierten Auszüge aus anderssprachigen Texten, die offenbar einen Bezug zu bestimmten Gedichten unterhalten. Diese Relationen scheinen aber letztlich in vielen Fällen als zu frei, um hier von einem konkreten Sprachkontakt zu sprechen. Einige solcher Erscheinungsformen, bei denen die sprachlich-inhaltlichen Relationen trotz allem besonders auffällig erscheinen, sollen später unter dem Begriff ›Translatorische Echokammern‹ beschrieben werden (s.-6.3). ›Qualitativer Wechsel‹ Im Grunde verweisen die gerade angesprochenen Fragen auf die in der Celan-Editionsphilologie seit Langem diskutierte Problematik des ›qualitativen Wechsels‹. Mit diesem einem Brief Celans entnommenen Begriff (Briefe, 178) ist jene - freilich nicht immer klar auszumachende - Zäsur gemeint, die zwischen den Lesespuren, Aufzeichnungen und Vorarbeiten einerseits und der eigentli‐ chen Textgenese andererseits verläuft. 662 In der internationalen Forschung zur literarischen Textgenetik wird diese Diskussion allgemein anhand des Begriffs‐ paars ›Exogenese‹ vs. ›Endogenese‹ geführt, womit ebenfalls die Frage nach der Verbindung zwischen dem Schreibprozess und den ihm vorausgehenden Materialien aufgeworfen wird. 663 Innerhalb des hier praktizierten Ansatzes geht es dabei wie immer weniger um exkludierende Grenzziehungen als um die Privilegierung von Ausprägungen, bei denen latente Mehrsprachigkeit sich in einer gewissen sprachlichen Konkretheit verankern lässt bzw. auf der Mate‐ rialität direkter Textzeugen beruht. Durchaus berücksichtigt werden müssen allerdings formal-strukturelle Parallelen, durch die Verbindungen zwischen dem Wortlaut der deutschen Gedichte und anderen Sprachen zustande kommen. An diesem Punkt muss die textgenetische Perspektive um die Erforschung auffälliger sprachsystematischer Analogien erweitert werden. Das ist etwa der Fall beim weiten Spektrum von homonymen Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Sprachen - auf klanglicher wie auf graphischer Ebene -, die immer wieder in Celans Gedichten auftreten (s. 6.6). Dabei müssen letztlich 334 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="335"?> 664 Manche über das Hebräische verlaufende Interpretationen lassen sich schon auf linguistischer Ebene nicht nachvollziehen, wenn etwa Fußl in Bezug auf das Gedicht »Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine« (GW VI, 68) schreibt, es finde »sich in Wachstum (milah) und Wunde (miljah) ein hebräisches Wortspiel.« (Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S. 95) Zumindest bräuchte es hier weiterer Ausführungen, um den behaupteten translingualen Bezug zu belegen. sogar Relationen berücksichtigt werden, die sich nicht einmal mehr lexikalisch erfassen lassen - nämlich solche morphologisch-grammatikalischer, syntak‐ tisch-prosodischer und metrischer Art (s.-6.7-6.8). Vom Gesichtspunkt der Rhetorik aus, könnte bei all diesen Analogiebe‐ ziehungen von mehrsprachigen Tropen und Figuren in absentia gesprochen werden, insofern die betreffenden sprachlichen Referenzobjekte nur indirekt im (publizierten) Text anzutreffen sind. Die Herleitung der impliziten Refe‐ renten beruht dabei oftmals auf Konjekturen. Das ist etwa der Fall, wenn der (sprach-)biographische Kontext bestimmte translinguale Bezüge nahelegt, ohne dass der philologische Beweis auf der Ebene der Schreibprozesse erbracht werden kann. Die Arbeit mit solchen Indizien führt zu der grundsätzlichen Überlegung, inwiefern manche dieser Beobachtungen überhaupt noch produk‐ tionsästhetisch zu fundieren sind. Zuweilen werden solche Deutungen ausge‐ sprochen spekulativ, was insbesondere für die Methode der Rückübersetzung (s. 6.5) gilt. 664 Der hypothetische Urtext des Gedichts, so wie er von den Interpreten vorgestellt wird, gewinnt dabei eine Eigendynamik, die weit vom eigentlichen Objekt der Untersuchung wegführen kann. In vielen Fällen muss daher die Frage gestellt werden, ob es sich noch um eine Form philologischer Textanalyse oder nicht eher um von der Produktionsästhetik weitgehend losgelöste Übertragungsphänomene handelt. Manche auf Rückübersetzungen basierende Lektüren scheinen in der Tat eher in den letzteren Bereich zu gehören. Als kreative Auslegungen situieren sie sich in einer gewissen Nähe zu den in Kapitel sieben behandelten Rezeptionsvorgängen, die allesamt einen hohen Grad an literarischer Kreativität implizieren. 6.2 Translatorische Textgenese Übersetzung und Sprachlatenz Eine erste Gruppe latent mehrsprachiger Phänomene, die nun in Fortführung der im vorigen Kapitel begonnenen Untersuchung textinterner Mehrsprachig‐ keit analysiert werden sollen, lässt sich pauschal dem Oberbegriff ›Übersetzung‹ zuordnen. Die folgenden Ausführungen schließen somit an den bereits einge‐ hend erwähnten Topos der Nähe von Dichten und Übersetzen in Celans literari‐ 6.2 Translatorische Textgenese 335 <?page no="336"?> 665 Marjorie Perloff, Unoriginal Genius: Poetry by Other Means in the New Century. Chicago: University of Chicago Press, 2010, S.-16-17. schen Praxis an (s. 4.1). Mit der translatorischen Textgenese als erster Kategorie ist dabei derjenige Fall gemeint, wo Teile des Phänotexts (bzw. der Endstufe der Gedichte) auf anderssprachige Prätexte (oder Hypotexte) zurückgehen, welche sich auf textgenetischer Ebene belegen lassen. Es kann sich dabei ursprünglich um wortwörtliche Zitate bzw. direkte Übernahmen von Material aus anderen Sprachen handeln. In ihrer übersetzten - und gegebenenfalls umgestalteten - Form, so wie sie aus dem poetischen Kompositionsprozess resultiert, sind diese Quellen allerdings für den Leser nicht unbedingt als solche erkennbar, weshalb es sich eben um latente mehrsprachige Phänomene handelt. Bei solchen anderssprachigen Quellen handelt es sich häufig um literarische Texte, die Celan für sich selbst oder im Auftrag von Verlagen an anderer Stelle übersetzt bzw. veröffentlicht hat. Aus diesen Vorlagen übernimmt er immer wieder Teile in seine Gedichte, wobei diese Versionen nicht zwangsläufig mit den publizierten Übersetzungen identisch sein müssen. In vielen Fällen handelt es sich dabei nicht nur um einzelne Wörter, sondern um Textsegmente, also um ganze Teile fremder Rede, die in - mehr oder weniger wortwörtlich - übersetzter Form in der Endfassung der Gedichte erscheinen. Marjorie Perloff hat solche Schreibweisen unter dem Begriff ›translational writing‹ zusammengefasst und als eine der Hauptentwicklungen der zeitgenössischen Lyrik bezeichnet. 665 Paul Celan kann mit seinen translatorischen Schreibverfahren sicherlich als einer der Vorreiter dieser Poetik bezeichnet werden. Mehr noch könnte man sagen, dass ihm in diesem Zusammenhang durchaus eine Art Modellfunktion für die Gegenwartsliteratur zukommt (s. Kap. 7). Wie weiter oben bereits erläutert wurde, gilt für die Aufnahme solcher Prozesse in den Untersuchungsbereich die Bedingung, dass sich der Weg vom Gedicht zurück zu seinen fremdsprachigen Quellen als konkreter Sprachtransfer nachzeichnen lässt. Auch wenn die Mehrsprachigkeit der betreffenden Gedichte nicht an deren Oberfläche in Erscheinung tritt, sollte die implizite Präsenz an‐ derer Sprachen über Materialien, Lektürespuren und Kontexte verifizierbar sein. In den meisten der relevanten Beispiele liegen so beispielsweise manifest mehr‐ sprachige Textzeugen als Belege vor. Demgegenüber können rein motivische, thematische oder strukturelle Parallelen an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden, wenn sich ihre Integration nicht als translatorischer Vorgang auf materieller Ebene beschreiben lässt, sondern genauso gut im monolingualen Medium hätte stattfinden können. 336 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="337"?> 666 Henriette Beese, Nachdichtung als Erinnerung. Allegorische Lektüre einiger Gedichte von Paul Celan. Darmstadt: Agora, 1976, S.-53f. Dieses Problem tritt an mehreren Stellen des Korpus zutage. So weist etwa Henriette Beese in ihrer 1976 erschienenen Monographie auf Paul Valérys Gedicht »Le vin perdu« als mögliche Quelle für Celans Gedichttitel »Bei Wein und Verlorenheit« (GW I, 213) hin. 666 Allerdings wird von ihr dabei als Beleg Rilkes deutsche Übersetzung (»Der verlorene Wein«) dieses Gedichts angeführt, wohingegen sich textgenetisch kein direkter Bezug zu Valérys Quelle herstellen lässt. Wie man an diesem Beispiel sieht, ist also nicht jede Parallelstelle automa‐ tisch als translatorische Relation zu einem anderssprachigen Text aufzufassen. Hinzu kommt, dass die Assoziation von ›Wein‹ und ›verloren‹ in der Literatur ein häufiges Phänomen darstellt, weshalb bereits die Kategorie ›Parallelstelle‹ im vorliegenden Fall als durchaus diskutabel erscheint. Ein ähnliches Problem liegt beim ersten Vers des Gedichtes »Abend der Worte« (GW I, 117) vor. Das dort benutzte Wort ›Rutengänger‹ könnte als eine Entsprechung zu Celans Übersetzung von Jean Cayrols L’espace d’une nuit (Im Bereich einer Nacht) aufgefasst werden. Doch entstand diese Übersetzungsarbeit nachweislich erst nach dem Verfassen des Gedichts (s. NKG, 721). Auch dieser Fall gehört demnach nicht in das primäre Untersuchungsfeld des vorliegenden Abschnitts, da sich der Vorgang der Integration ins Gedicht nicht als translin‐ gualer Transferprozess beschreiben lässt. Wie bereits erwähnt werden in Celans Schaffen immer wieder ›scheinbare‹ Rezeptionsphänomene sichtbar, bei denen es sich in Wirklichkeit wohl eher um ein nachträgliches Wiedererkennen des Eigenen im Fremden handelt, wie es die Datierung der Gedicht-Manuskripte und der Buch-Lektüren nahelegt. Um auf dem Boden philologischer Faktizität oder zumindest Plausibilität zu bleiben, ist die translatorische Textgenese ebenfalls abzugrenzen von rein mentalen Vorgängen, die sich nicht textuell-linguistisch nachweisen lassen. Natürlich kann Paul Celans ›Geist‹ bzw. sein kreativer Intellekt als durch und durch mehrsprachig bezeichnet werden. Wie weiter oben beschrieben wurde, bilden seine Sozialisation, seine mentalen Prägungen, seine Lebenswelt, seine Lektüren, sein Lexikon, seine Sprachpraxis usw. einen mehrsprachigen Kosmos beindruckender Art. Insofern speist sich jede literarische Kreation bei ihm in gewisser Weise aus multilingual-translatorischen Prozessen. Aufgrund der Tat‐ sache, dass Celan nachweislich immer wieder Spuren der Textgenese getilgt hat, die auf Entwicklungsstufen vor einem gewissen Fertigkeitsgrad der Gedichte zurückgehen, lässt sich außerdem nicht ausschließen, dass bestimmte sprach‐ liche Transferprozesse, die den Schreibprozess beeinflusst haben, unentdeckt 6.2 Translatorische Textgenese 337 <?page no="338"?> bleiben. Nichtsdestoweniger würde eine Ausweitung auf solche hypothetische Quellen den Untersuchungsrahmen sprengen und das methodische Fundament der Studie auf ein allzu unsicheres Terrain führen. Diskontinuitäten im Schreibakt Die enge Verbindung von Übersetzen und Dichten in Celans lyrischer Pro‐ duktion, bzw. die zum Teil direkten Übergänge zwischen beiden Praktiken konnten bereits anhand des im zweiten Kapitel eingehend analysierten Gedichts »Huhediblu« (GW I, 275 ff.) anschaulich gemacht werden, das in dieser Hinsicht als exemplarisch zu bezeichnen ist. Neben diesem für die Kategorie der trans‐ latorischen Textgenese zentralen Gedicht gibt es im Nachlass eine Vielzahl weiterer textgenetischer Materialien, in denen sich ähnliche Spuren ›fremder‹ Sprachen finden lassen. Generell deutet die Präsenz solchen Sprachmaterials in den Gedicht-Manuskripten darauf hin, dass es sich dabei um anderssprachige Hypotexte handelt. Der gemeinsame Nenner der entsprechenden Gedichte ist, dass ihr Entstehungsprozess in einem mehrsprachigen Rahmen abgelaufen ist, der textgenetisch rekonstruiert werden kann. Allerdings nimmt die Einar‐ beitung des anderssprachigen Materials in die verschiedenen Gedichte sehr variable Formen an. Bei diesen Prozessen lassen die Textzeugen immer wieder Brüche im Schreibakt erkennen, was die Präsenz von Mehrsprachigkeit angeht, wobei die ursprünglichen Quellen oft unkenntlich oder gar unsichtbar werden. Dies gilt zuallererst für eine Reihe von anderssprachigen Gedichttiteln in den Vorstufen, die offensichtlich vom Dichter im Laufe der Textgenese durch deutsche Titel ersetzt wurden. Als erstes Beispiel genannt werden kann hier das Gedicht »Hüttenfenster« (GW I, 278 f.), dessen Titel von »Pariser Elegie« über »Hommage à Quelqu’un« und »Statt eines Winks« sich schließlich zu »Hüttenfenster« weiterentwickelt hat (TCA, NR, 120-121). Der französische Vorstufentitel »Hommage à Quelqu’un« (»Hommage an Jemanden«) scheint im vorliegenden Fall einfach gestrichen worden zu sein, ohne dabei Spuren in den folgenden Textstufen hinterlassen zu haben. Im Gedicht »Osterqualm« (GW II, 85) scheint eine ähnliche Streichung vorzuliegen. Dort lässt sich in den Vorstufen ebenfalls ein französischer Titel auffinden: »Par Charité«, was mit »Aus Wohltätigkeit« übersetzt werden könnte (TCA, AW, 143). In der Endfassung scheint dieser Vorstufentitel jedoch spurlos verschwunden zu sein. Seine Präsenz im publizierten Gedicht kann höchstens noch auf thematischer Ebene ausgemacht werden (z. B. anhand des Ausdrucks »Ewigkeitsgroschen«, V.-19), was sich aber nicht wirklich als sprachlicher Transfer auffassen lässt. Solche textgenetische Diskontinuitäten, bei denen konstitutiv erscheinende Textelemente (wie beispielsweise Daten, Orte und Eigennamen) im Entste‐ 338 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="339"?> 667 Siehe Axel Gellhaus/ Karin Hermann (Hrsg.), »Qualitativer Wechsel«. 668 Unter Pseudonym veröffentlich als Relation de la mort du Chevalier de La Barre (1766). hungsprozess der Gedichte verschwinden, sind in Celans Werk Legion. 667 Sie betreffen die Gedichtentstehung allgemein und die Verwendung von Mehr‐ sprachigkeit im Besonderen. So beginnt das Gedicht »Eingewohnt-entwohnt« (GW II, 156) aus dem Band Fadensonnen in der ersten Vorstufe als zweispra‐ chiger Text, in dessen Mitte ein Satz auf Französisch auftaucht: »Saluons, d’un cœur blanc gris, d’un poing noir, / le Chevalier de la Barre« (»Wir grüßen, mit weißem grauem Herzen, mit schwarzer Faust, / den Chevalier de la Barre«, TCA, FS, 86, Streichungen in der Quelle). Dieser (bisher) nicht als Zitat nachweisbare französische Satz verweist über den Eigennamen des Chevalier de la Barre auf Voltaires Bericht von der Hinrichtung dieses der Gottesläste‐ rung angeklagten Edelmannes. 668 Obwohl ein solcher deutsch-französischer Ausgangspunkt im Schreibprozess prinzipiell höchst aufschlussreich für Celans literarische Praxis ist, muss festgestellt werden, dass die französischen Verse in der Endfassung nicht mehr sichtbar sind. Allenfalls lässt sich über die Thematik der mörderischen Irrationalität und der Verfolgung sogenannter Ketzer eine entfernte Verbindung zum Gedicht herstellen. Etwas anders verhält es sich in zwei Gedichten aus der posthum veröffent‐ lichten Sammlung Schneepart. Im Gedicht »Für Eric« (GW II, 376) taucht in den überlieferten Textzeugen ein Aphorismus von Paul Valéry (aus Choses tues, 1930) auf: »Toute vue des choses qui n’est pas étrange est fausse« (TCA, SP, 82). Dieses Beispiel kann an das Gedicht »In den Einstiegluken« (GW II, 408) angenähert werden, das in einer Vorstufe ein abgewandeltes Zitat aus der »Complainte de Mandrin« enthält, einem populären, französischen Volkslied aus dem 18. Jahr‐ hundert: »du haut de ma potence / je regardais la France« (TCA, SP, 138). In beiden Fällen ist vom Blickwinkel der Endfassung aus weder intertextuell noch translatorisch ein konkreter Bezug zu erkennen, sodass gefragt werden muss, ob die Präsenz dieser Zitate auf den Gedicht-Manuskripten nicht gar zufällig ist. Womöglich handelt es sich um isolierte Notizen aus gedichtfremden Kontexten, wie es auch bei dem Auszug aus seiner Übersetzung von Antonin Artauds »Prière« am Rand von »Allerseelen« (GW I, 183) vermutet werden kann (s. HKA, 5.2, 256). In solchen Fällen scheinen die Blätter der Gedicht-Manuskripte gleichzeitig für ganz andere Aufzeichnungen gedient zu haben. Auch in dem für seine manifeste Mehrsprachigkeit bekannten Gedicht »In eins« (GW I, 270), von dem schon mehrmals die Rede war, gibt es in den Vor‐ stufen - neben der Präsenz von Hebräisch, Spanisch, Französisch und Lateinisch - Spuren weiterer Sprachen, die weder manifest noch latent in der Endstufe 6.2 Translatorische Textgenese 339 <?page no="340"?> 669 Siehe Jürgen Lehmann, Russische Literatur in Deutschland. Ihre Rezeption durch deutschsprachige Schriftsteller und Kritiker vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart, Metzler, 2015, S.-312. sichtbar sind. Diese russischen und rumänischen Textteile (TCA, NR, 106-107) sind erneut für sich gesehen höchst interessant, was Celans Arbeitsweise als mehrsprachiger Dichter betrifft. Über das allgemeine Thema des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv hinaus sind sie aber sprachlich in der Endfassung nicht wiederzufinden. Zusätzlich wird in der Forschung von weiteren intertex‐ tuellen Inkorporationen in den Text von »In eins« ausgegangen, insbesondere eines zeitnah von Celan übersetzten Mandelstamm-Poems. 669 Angesichts der im Gedichtband Die Niemandsrose besonders engen Verbindung zwischen Über‐ setzen und Schreiben wäre dies freilich nicht überraschend. Allerdings stellt sich hier aufgrund fehlender Textzeugen erneut die Frage nach der Grenze zwischen (latenter) Mehrsprachigkeit und Intertextualität. Direkte translatorische Integration Wie man sieht, lassen sich im Entstehungsprozess der Gedichte häufig Brüche bei der Einarbeitung anderssprachigen Materials feststellen, weshalb in vielen Fällen kein wirklicher ›roter Faden‹ zwischen der vermuteten Quelle und dem Gedicht in seiner Endfassung sichtbar wird. Solche Beispiele führen an die Grenzen des Latenzbegriffs, zumal wie gezeigt nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei manchen anderssprachigen Notaten auf den Vorstufen um Material handelt, das keine direkte Verbindung zur Textgenese unterhält. Da‐ neben gibt es in Paul Celans Werk jedoch durchaus eine Reihe anderer, mit dem in Kapitel 2 analysierten, exemplarischen Fall von »Huhediblu« vergleichbare Beispiele, in denen sich die Spuren der translatorischen Textgenese deutlich in der Endstufe der Gedichte abbilden, wie nun dargestellt werden sollen. Im 1967 entstandenen Gedicht »Seelenblind« (GW II, 183) notiert der Dichter beispielsweise in einer der Vorstufen die leicht veränderte (weil wohl aus dem Gedächtnis zitierte, s. NKG, 941-942) vierte Zeile aus dem Gedicht Ossip Mandelstamms »В Петербурге мы сойдёмся снова« (»In Petersburg werden wir uns wiedersehen«, 1920). Diesen Vers (»И Священное [блаженное], бессмысленное слово« / »Und das heilige [gesegnete], bedeutungslose Wort«, s. TCA, FS, 139) baut Celan direkt in das Gedicht ein, in dessen Endfassung er als »im heilig-sinnlosen Wort« (V. 2) sichtbar wird. In seiner zuvor entstan‐ denen Übersetzung dieses Gedichts benutzte Celan eine abweichende deutsche Version: »jenes selge, deutungslose Wort« (GW V, 159, V. 4), da er dort eben nach dem Originalwortlaut und nicht aus dem Gedächtnis übersetzte. Wie im Fall der im zweiten Kapitel dargestellten Textgenese von »Huhediblu« gehen also 340 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="341"?> 670 Siehe Felstiner, Paul Celan, S. 238f. Das Exemplar befindet sich im Deutschen Litera‐ turarchiv Marbach, Bibliothek Paul Celan, Signatur BPC: R410. 671 Siehe Nitzan Lebovic, »Near the End: Celan, Between Scholem and Heidegger«. The German Quarterly, 83: 4, 2010, S.-465-484, hier S.-468f. im Gedicht »Seelenblind« (Fremd-)Übersetzen und poetische Kreation Hand in Hand. Das Wort »Aschen« im ersten Vers führt dabei ebenfalls zum ›Bruder‹ Mandelstamm zurück, wie das von Celan übersetzte Gedicht zeigt (GW V, 159, V. 24). Bemerkenswerterweise handelt es sich bei diesem Hypotext um die exakt gleiche Quelle, die auch in den Vorstufen zu »In eins« auftaucht (TCA, NR, 106). Haben es die russischen Mandelstamm-Verse in letzterem Fall nicht in die Endstufe des Gedichts geschafft, so wurden sie fünf Jahre später Teil der veröffentlichten Fassung von »Seelenblind«. Vereinfacht gesagt handelt es sich im Fall von »In eins« also eher um eine Form von Intertextualität, wohingegen im späteren Gedicht eindeutig eine translatorische Textgenese vorliegt. Das Gedicht »Nah im Aortenbogen« (GW II, 202) aus dem Band Fadensonnen liefert ein weiteres Beispiel für eine direkte translatorische Integration von anderssprachigen Zitaten. Wie zuerst John Felstiner gezeigt hat, ist nämlich der Mittelteil dieses Gedichts mit einem Notat in jiddischer Sprache in Verbindung zu bringen, das der Dichter in sein Exemplar von Gershom Scholems Von der mystischen Gestalt der Gottheit (1962) geschrieben hatte. Dort kann man lesen: »Vet di mamme Rockhl veynen / Vet Meshiekh nit mer kenen / Dos geveyn aribertrogen.« 670 In deutscher Übersetzung: Wenn die Mama Rachel zu weinen beginnt, wird der Messias ihr Weinen (wörtlich: das Geweine) nicht mehr ertragen können. In Celans Gedicht heißt es dann: »Mutter Rahel / weint nicht mehr. / Rübergetragen / alles Geweinte.« (GW II, 202, V. 4-7). In dieser in Scholems Buch notierten Marginalie scheint der Dichter einen Auszug aus dem Lied »A nacht« (»Nacht«) des jiddischen Dichters Moyshe-Leyb Halpern (1886- 1932) zu zitieren. Dieser wahrscheinlich aus dem Gedächtnis zitierte Spruch fungierte höchstwahrscheinlich als Hypotext des Gedichts. 671 Auch wenn die Stelle sich ebenfalls intertextuell auf ein Klagelied des Jeremias ( Jeremia 31: 15) zurückführen ließe (s. TCA, FS, 173), scheint der Fund Felstiners durchaus auf einen translatorischen Integrationsvorgang hinzuweisen. Dafür spricht nicht zuletzt die formale Nähe zwischen jiddisch ›aribertrogen‹ (ertragen) und deutsch ›rübergetragen‹ im Gedicht (V. 5). Es handelt sich hierbei um eine Form der wortwörtlichen Übertragung (mit der damit verbundenen Sinnver‐ schiebung), die sich der homophonen Verfahrensweise (s. 6.6) annähert. Diese formale Nähe liefert zweifelsohne ein zusätzliches Indiz für die textgenetische Rolle der jiddischen Quelle. 6.2 Translatorische Textgenese 341 <?page no="342"?> Vergleichbar ist die Situation beim Nachlassgedicht »Dein Heim« (GW VII, 271) aus dem Jahr 1968, das hier ebenfalls Erwähnung finden soll. Den anderssprachigen Ausgangspunkt bildet diesmal ein Zitat aus einem Brief der vom Dichter hochgeschätzten (und übersetzten, s. GW V, 382-401) ameri‐ kanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830-1886): »… whose home is in so many / houses«. Dieses Dickinson-Zitat ist klar in den Vorstufen zu identifi‐ zieren (HKA, 14, 130). In Form einer nahezu wörtlichen Übersetzung bildet der englische Hypotext schließlich den Anfang der letzten erhaltenen Fassung des Gedichts: »Dein Heim / - in wieviel Häusern? -« (V. 1-2). Wenngleich Wortlaut und Syntax in Celans Gedicht abweichen, lässt sich der Integrationsprozess der englischsprachigen Quelle in diesem Fall erneut relativ eindeutig nachvoll‐ ziehen. Parallelen zur Selbstübersetzung Gemein ist sämtlichen der eben zitierten Passagen, dass die ›fremden‹ Sprachen qua Übersetzung direkt in den Wortlaut der deutschen Gedichte eingefügt wurden, auch wenn die Herkunft der Quellen nicht immer einwandfrei geklärt werden kann. Dabei lässt der Prozess der translatorischen Textgenese bei Celan oft eine große Nähe zu Formen der Selbstübersetzung erkennen, wie etwa im schon erwähnten frühen Gedicht »Lob der Ferne« (GW I, 33) aus der Bukarester Zeit. So findet sich das in diesem Text viermal verwendete Bild »Quell deiner Augen« nahezu identisch als »apa ochilr tăi« im dreizeiligen rumänischen Fragment »Iarba ochilor tăi, iarbă amară« (GW VI, 166, V. 3) wieder. Da die Chronologie dieser Schaffensphase unsicher ist und textgenetische Materialien fehlen, bleibt die Annahme einer translatorischen Übernahme der eigenen rumänischen Verse jedoch hypothetisch. Trotz der starken Plausibilität solcher Vorgänge ist es fraglich, ob hier jemals von der Forschung ein klarer philologi‐ scher Beleg erbracht werden kann. Aus einer noch früheren Schaffensperiode, dem Jahr 1943, als Paul Celan zur Zwangsarbeit im moldawischen Lager Tăbărăști interniert war, stammt ein französisches Notat im Notizbuch dieser Zeit. Diese Zeilen tauchen fast iden‐ tisch in deutscher Version im zeitgleichen Gedicht »Regenflieder« auf. »Il pleut: les souvenirs du ciel distillent leur amertume« (HKA, 2-3.2, 79, vgl. NKG, 659) wird dort zu: »Es regnet, Schwester: die Erinnerung / des Himmels läutern ihre Bitterkeit.« (GW VI, 108, V. 1-2). Die Quelle der französischen Notiz ist bislang ungeklärt, es könnte sich also durchaus um einen exophonen Schreibversuch Celans aus diesem Zeitraum handeln. Für diesen Sachverhalt spricht die gut dokumentierte Frankophilie des jungen Dichters, der das Studienjahr 1938-39 bekanntlich im französischen Tours verbracht und danach in Czernowitz unter 342 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="343"?> anderem Romanistik studiert hatte. Abgesehen von der offenen Frage der Auk‐ torialität der französischen Quelle lässt sich die translatorische Einarbeitung der betreffenden Passage klar rekonstruieren. Auch im Spätwerk sind zweisprachige, translatorische Parallelstellen in einigen Textzeugen aufzufinden, wie etwa im nicht vom Dichter publizierten Gedicht »Der Wahrheitskonsum« (GW VII, 278) aus dem Jahr 1969. Dort korre‐ spondiert die Passage »befruchtet von / entsiegeltem Fortsein« (V. 4-5) mit dem Notat »fecondé par une absence«, das in den nachgelassenen Materialien dieser Zeit im Umfeld des Gedichts auftaucht (HKA 14, 150). Die Herkunft der franzö‐ sischen Quelle ist erneut ungeklärt, wohingegen die translatorische Beziehung zwischen Notiz und Gedicht aufgrund der materiellen Nähe auf der Hand zu liegen scheint. Überhaupt scheint der kreative Elan dieser Gedichtzeilen zuerst vom Französischen ausgegangen zu sein, wie es die entsprechende Stelle im Notizbuch nahelegt. Vergleichbar ist die Lage bei einem anderen Nachlassgedicht mit dem Titel »Über sich« (GW VII, 500) aus dem Jahr 1968. Über der ersten erhaltenen Fas‐ sung dieses Textes stehen im Manuskript zwei französische Verse, die sich auf beim heutigen Stand der Forschung nicht als fremdes Zitat identifizieren lassen und daher womöglich wiederum direkt aus der Feder des Dichters stammen: »Dieu ne t’aide pas / au-delà de lui-même«. Der deutsche Gedichtanfang nimmt diese französischen Zeilen (selbst-)übersetzend gleichsam als Selbstzitat wieder auf, wobei die Aussage ins Positive gewendet wird: »Über sich / hinaus / hilft der Gewaltige […]« (GN, VII, 248, V. 1-2). Diese Umkehrung des Sinns, die eher auf eine fremde französische Quelle hinzudeuten scheint, ist zwar überraschend, stellt indessen nicht den Bezug zum Hypotext als solchen infrage. Biographisches Sprachmaterial Eine besondere Form translatorischen Schreibens stellt die ›Eindeutschung‹ von Ausdrücken aus dem Privatleben des Autors dar. Dieses Phänomen lässt sich vorwiegend in der Anfangsphase des Familienlebens nach der Hochzeit im Jahr 1952 und der Geburt des Sohnes Éric (*1955) beobachten. Es betrifft zuvorderst die Bände Von Schwelle zu Schwelle und Sprachgitter, d. h. Gedichte aus den Jahren 1952 bis 1958. Während dieser Zeit überträgt Celan in einer Reihe von Texten sprachliche Elemente aus seinem französischen Familien‐ leben ins Deutsch seiner Dichtung. Dabei handelt es sich unter anderem um Kosenamen für seine Frau Gisèle, wie das Wort »mèche«, das als »Strähne« im gleichnamigen Gedicht (GW I, 92) auftaucht. Dieser Kosename ist in der Korrespondenz der Ehepartner eindeutig belegt, was einen translatorischen 6.2 Translatorische Textgenese 343 <?page no="344"?> 672 Es handelt sich ebenfalls um den ersten Titel des Frühwerk-Gedichts »Seidelbast« (GW VI, 105+250, s. a. NKG, 1070). Integrationsvorgang nahelegt: »Petite Mèche - qui me frôles le cœur« (PC-GCL, I, 43. s. NKG, 709). Auch andere Parallelen zwischen französischem Familienleben und deut‐ schem Werk lassen sich anhand einer Reihe von Texten belegen. So benutzt Celan in dem vermutlich 1958 entstandenen Nachlassgedicht »Mit dem Seidel‐ bast, wieder, nach« (NKG, 415) mit dem Titelwort ›Seidelbast‹ das deutsche Pendant zu »bois gentil« (daphne mezereum). Dieser Name verweist auf eine (erotisch konnotierte) Selbstbezeichnung des Dichters und Ehemanns, die sich ebenfalls im Briefwechsel mit seiner Frau nachweisen lässt (PC-GCL, I, 78). 672 In diesem Beispiel zeigt sich nochmals, wie stark die französische Privatsphäre des Autors mitunter in sein Schreiben drängt. Das Französische fungiert in den Gedichten dieser Zeit als eine essenzielle Kontextsprache, über die viele existenzielle Bezüge in den Texten erst eigentlich ersichtlich werden. Auch der Titel des Gedichts »Blume« (GW I, 164) verweist auf den privaten Familienkontext des Dichters während dieser Periode. Wie der französische Ersttitel »Fleur« (TCA, SG, 32) erkennen lässt, handelt es sich dabei um eines der ersten Worte des damals zweijährigen Sohnes Éric, eine Tatsache, die im Gedicht explizit benannt wird: »ein Kindermund lallt / Blume« (ebd.). Wie Wiedemann anmerkt, übersetzt Celan hier das französische Zitat seines Kindes Éric »in die Sprache der eigenen Mutter und von deren Mördern« (NKG, 750). Der doppelte Status des Deutschen - als Mutter- und Mördersprache - ist erneut von entscheidender Bedeutung, erinnert er doch daran, wie eng all diese translingualen Prozesse mit der grundlegenden Sprachaporie des Dichters verbunden sind. In diesem Zusammenhang kann hinzugefügt werden, dass Celan als Vater seine Muttersprache nicht in der Kommunikation mit seinem eigenen Sohn verwendet hat, auch wenn dieser in der Schule Deutsch lernen sollte, was nicht zuletzt dem Willen der Mutter Gisèle entsprach. Die quantitativ stärkste Präsenz dieses privaten, französischsprachigen Sub‐ texts in den Gedichten dieser Zeit lässt sich in »Ein Holzstern« (GW I, 191) aus dem Band Sprachgitter ausmachen. In diesem Text aus dem Jahr 1958 hat der Dichter einen kompletten Satz des Sohnes translatorisch in die Endfassung übernommen. Auch in diesem Fall scheint der Ausgangspunkt der Textgenese im Französischen zu liegen, wie der erste Überschriftentwurf zeigt, der den Originalwortlaut des Kindes im Austausch mit dem Vater wiedergibt: »Cette étoile, mets-la dans la nuit« (TCA, SG, 78, s. NKG, 768). Dieser Satz aus dem Kreis des französischen Familienlebens Celans taucht dann übersetzt in der Mitte 344 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="345"?> der Endfassung auf: »- Ein Stern, tu ihn, / tu den Stern in die Nacht.« (V. 7-8) Die Verwendung von Spiegelstrichen im Gedicht, die in französischen Texten (insbesondere in Romanen) generell die direkte Rede in den Dialogpassagen kennzeichnen, ist also kohärent und stellt eine Form sprachlicher Transferenz der französischen Typographie dar. Der spürbare morphologisch-lexikalische Einfluss des Französischen in Syntax und Wortwahl lässt im vorliegenden Fall die exophone Quelle auch ohne Kenntnis der Textgenese von der Druckfassung her erahnen. So wird die für das Französische typische dislocation (»Cette étoile, mets-là …«) abgeschwächt beigehalten, wobei ›mettre‹ sehr buchstäblich mit ›tun‹ übersetzt wird, anstatt dass, wie im Deutschen allgemein üblich, ein Positionsverb wie ›stellen‹ oder ›legen‹ zum Einsatz kommt. Interessanterweise wird der übersetzt zitierte Spruch beim Neuansatz des Gedichts nach dem Zeilensprung auf syntaktischer Ebene stärker an das Deutsche angepasst, indem die Linksherausstellung aufgehoben wird: »Ein Stern, tu ihn« wird zu »tu den Stern« (ebd.). Der französische Hypotext wird, so könnte man sagen, progressiv ›eingedeutscht‹. Alternativ (oder gleichzeitig) könnte die Wahl von ›tun‹ im Deutschen über die Nachbildung der Kindersprache des kleinen Sohnes erklärt werden. Da jedoch der deutsche Text den Prozess der Eindeutschung der französischen Quelle gleichsam nachzubilden scheint, lässt sich die translinguale Perspektive nicht ausschließen, sondern erscheint im Gegenteil als höchst plausibel. 6.3 Translatorische ›Echokammern‹ Eine letzte Gruppe translatorischer Vorgänge bei der Entstehung der Gedichte Paul Celans, die hier angesprochen werden soll, betrifft in den Vorstufen oder anderen Materialien präsente Quellen, die nicht wortwörtlich in die Endfassungen eingegangen sind, aber dennoch dort als sprachlich-thematische Korrespondenzen präsent zu sein scheinen. Man könnte diese häufig anzutref‐ fende Art von Relationen zu anderssprachigen Quellen bildhaft als ›translato‐ rische Echokammern‹ bezeichnen. Im Unterschied zu den oben genannten Beispielen für translatorisches Schreiben ist die Verbindung der deutschen Endfassungen zu den anderssprachigen Prätexten hier nicht immer einwandfrei nachzuweisen, erscheint jedoch zumindest als wahrscheinlich. Diese ›Echokam‐ mern‹ stehen also gleichsam zwischen denjenigen Fällen, in denen die Quelle im Schreibakt spurlos zu verschwinden scheint, und der textgenetisch nach‐ weisbaren, direkten Einbettung anderssprachigen Materials. Zuweilen ist dabei die Verwandtschaft mit den klar nachweisbaren translatorischen Verfahren sehr eng. Dennoch erscheint eine separate Behandlung dieser Phänomene als 6.3 Translatorische ›Echokammern‹ 345 <?page no="346"?> sinnvoll. Bei der Kategorie der translatorischen Echokammern sollen erneut die Gedichttitel als besonders exponierte Textteile als erster Anhaltspunkt dienen. Erste Beispiele Ein erstes Beispiel für solche Phänomene liefert das 1957 entstandene Gedicht »Tenebrae« (GW-I, 163) aus Celans Band Sprachgitter. Zwar handelt es sich bei dem lateinischen Titel der publizierten Endfassung nicht um eine wortwörtliche Übersetzung des französischen Ersttitels »Leçon des Ténèbres«, wie er in den Vorstufen anzutreffen ist (TCA, SG, 30). Dennoch liegt die große sprachliche Nähe zwischen den beiden Titelfassungen auf der Hand, weshalb in diesem Fall durchaus von einem translatorischen Verfahren gesprochen werden kann. In gewisser Weise latinisiert der Dichter an dieser Stelle die französische Urform des Titels, indem er das musikalische Genre der Leçon des Ténèbres auf die katholische Trauermette (oder Karmette) namens ›Tenebrae‹ zurückführt, mit der diese Musikform untrennbar verbunden ist. Allerdings lässt sich das Wort ›Tenebrae‹ darüber hinaus auch wortwörtlich verstehen, wie das in Celans Lyrik generell zu beobachten ist. Im Fall des Gedichts »Schneebett« (GW I, 168), das wie »Tenebrae« in Sprachgitter veröffentlicht wurde, ist der sprachliche Bezug zum Ersttitel etwas distanzierter. Jedoch ist die Verbindung zwischen dem lateinischen Titel der Vorstufen und der deutschen Endfassung erneut deutlich spürbar. Denn der Ersttitel »Matrimonium« (TCA, SG, 42) - lateinisch für ›Ehe‹ - verweist über den aus der geologischen Fachsprache entlehnten Endtitel »Schneebett« letztendlich auf das Tertium ›Ehebett‹ als gemeinsamen Nenner der beiden Titel. Das Wort ›Matrimonium‹ bleibt in diesem Sinne, so kann man hier festhalten, indirekt in der Endfassung von »Schneebett« präsent. Vergleichbar ist die Lage im Gedicht »Ein Wurfholz« (GW I, 258) aus Die Niemandsrose. Das dort in den Vorstufen auftauchende mottoähnliche Zitat, das dem Mandelstamm-Poem zum Andenken an Andrej Belyi (»Стихи памяти Андрея Белого«, 1934, s. TCA, NR, 86) entnommen ist, lässt sich zwar nicht sprachlich, doch durchaus thematisch mit der publizierten Fassung in Verbindung bringen. Der Zusammenhang wird insbesondere über das Motiv des Fliegens und des Umherwanderns im Gedicht sinnfällig. Im Vergleich zu den vorhergehenden Beispielen gleitet die Beziehung zwischen Quelle und Gedicht im vorliegenden Fall vom sprachlichen in den motivisch-thematischen Bereich ab. Doch taucht der russische Text, wie gesagt, in den Textzeugen auf, was prinzipiell als Indiz für eine translinguale Relation ausreicht. Ergänzend kann angemerkt werden, dass Celan diesen Mandelstamm-Text niemals komplett übersetzt und als Übertragung publiziert hat. 346 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="347"?> 673 Original: »La complainte Rutebeuf«. In: Poètes et romanciers du Moyen Âge, S.-929ff. 674 Siehe Eisenreich, Paul Celans Kreidestern, S.-148. 675 Ferré hat im Liedtext »Pauve Rutebeuf« Auszüge aus den Gedichten »La Complainte Rutebeuf« und »La Griesche d'Yver« verwendet und dabei eigenhändig in modernes Französisch übersetzt. Die zitierten Zeilen befindet sich am Ende der ersten Strophe der »Complainte«. 676 Aspects du Génie d'Israël, Cahiers du Sud, 1950, S. 65. Wie in 4.3.2 erwähnt, erschienen 1956 Übersetzungen von Gedichten Celans in dieser damals bedeutenden Literaturzeit‐ schrift. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kann man angesichts eines Titelent‐ wurfs für das 1961 entstandene und bereits mehrmals erwähnte Gedicht »Einem, der vor der Tür stand« (GW I, 242) kommen. In diesem Text übernimmt Celan einen berühmten Vers aus dem mittelalterlichen Klagelied des Dichters Rutebeuf (in neufranzösischer Fassung): »Que sont mes amis devenus« (»Was ist aus meinen Freunden geworden? «, TCA, NR, 64). 673 Wie den meisten Zeitgenossen war Celan die Complainte durch die 1955 erschienene Vertonung des Chansonniers Léo Ferré vertraut. 674 In »Einem, der vor der Tür stand« gibt die französische Quelle gleichsam den Ton des Gedichts vor, ist aber nicht wortwörtlich in der Endversion nachzuweisen. Allein das ›Vor-der-Tür-Stehen‹ könnte womöglich aus Ferrés Liedtext stammen. 675 Dort bezieht es sich auf den Wind, der die Freunde fortträgt (»Et il ventait devant ma porte / Les emporta« / »Und es windete vor meiner Tür / Trug sie fort«). Was das im Titelentwurf verankerte Motiv vom Ende der Freundschaft und der daraus resultierenden Einsamkeit des ›Ich‹ angeht, so ist dieses nur indirekt in der End‐ fassung des Gedichts präsent. Der französische Ersttitel, so kann man festhalten, spiegelt hauptsächlich den für die Textentstehung relevanten Hintergrund der extremen psychischen Belastungen durch die sogenannte Goll-Affäre. Dennoch ist es aufschlussreich, dass Celan diesen Kontext zunächst über das Französische in die Entstehung dieses Gedichts eingebunden hat. Im eben zitierten Gedicht »Einem, der vor der Tür stand« ist es der »Rabbi Löw«, der das Wort ›beschneiden‹ soll (GW I, 242, V. 14-17). In den Materialien zum 1967 entstandenen Gedicht »Angewintertes« (GW II, 222) wiederum befindet sich ein Spruch des pharisäischen Rabbiners Hillel, der in der Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels gelebt hat. Die französische Fassung der Worte des Rabbiners hatte Celan höchstwahrscheinlich in einem Themenheft der Zeitschrift Cahiers du Sud gefunden 676 und auf dem ersten Gedichtentwurf notiert: »Là où il n’y a pas d’hommes, efforce-toi d’être un homme« (»An einem Ort, an dem es keine Menschen gibt, bemühe dich, ein Mensch zu sein«, HKA, 8.2, 237, vgl. NKG, 964). In diesem Fall lässt sich erneut eine gewisse Verwandtschaft mit der publizierten Textfassung feststellen. Denn das fertige 6.3 Translatorische ›Echokammern‹ 347 <?page no="348"?> 677 Amthor, Wechselseitiges Übersetzen bei Paul Celan und André du Bouchet, S.-109. Gedicht scheint wie die exzerpierte französische Quelle vom Überleben des Menschen in einer menschenleeren, ja menschenfeindlichen Landschaft zu handeln: »Angewintertes Windfeld: hier / musst du leben […]« (V.-1-2). Im Nachlassgedicht »Il cor compunto« (GW VII, 58) aus derselben Schaf‐ fensperiode lässt sich wiederum zeigen, wie die auf einer Vorstufe notierten Mandelstamm-Verse aus dem Gedicht »Я скажу тебе с последней« (»Ich werde Dir in aller Offenheit sagen…«, Moskauer Hefte) im deutschen Text ›nachhallen‹. Die Integration erfolgt erneut in sehr freier und im Grunde nur über die Textzeugen erkennbarer Form (HKA, 11, 307 f., vgl. NKG, 1080). Aus dem Hypotext wird dabei hauptsächlich das Motiv der ›Flucht in den Alkohol‹ translatorisch übernommen. In Anbetracht der immensen Bedeutung Mandel‐ stamms für die Poetik Celans, der sich stark mit dem »Bruder Ossip« (GW VII, 371) identifiziert hat, ist diese translatorische Inkorporation der russischen Verse trotz der fehlenden Wortwörtlichkeit durchaus plausibel. Die zeitliche Nähe der Mandelstamm-Lektüren Celans, die sich auch anhand manifester Lesespuren belegen lässt, stellt einen zentralen Faktor bei der Beurteilung solcher Stellen dar. Edmond Jabès’ Werk als Hypotext Ein ähnlicher Sachverhalt liegt bei den Gedichten »Stille« (GW II, 170) und »Die Eine« (GW II, 171) vor, die beide aus dem Band Fadensonnen stammen, wo sie unmittelbar aufeinander folgen. In diesem Fall ist die Textgenese eng mit der zeitgleichen Lektüre von Edmond Jabès’ insgesamt siebenteiligem Werk Le livre des questions verbunden. Die ersten drei Bände dieses Zyklus (Le Livre des questions, 1963, Le Livre de Yukel, 1964, Le Retour au livre, 1965) sind 1967 von dem aus Ägypten stammenden jüdischen Autor französischer Sprache an den deutschsprachigen Dichter geschickt worden. In den beiden genannten Ge‐ dichten hat sich Celan offensichtlich stark von diesen Büchern Jabès’ inspirieren lassen, die er in kürzester Zeit während eines Klinikaufenthalts las. Laut Amthor stellt die Lektüre der französischen Bücher regelrecht die »Keimzelle« 677 einiger Gedichte dieses Zeitraums dar. Allerdings handelt es sich bei der produktiven Rezeption von Jabès‘ Le livre des questions erneut nicht um Übersetzungen im engeren Sinn, sondern vielmehr um Adaptationen. So verwandelt sich Jabès’ Satz »Il y a des ciels qui n’ont qu’une étoile.« (»Es gibt Himmel mit nur einem Stern.«) in Celans Gedicht »Die Eine« in folgende deutsche Verse: »Die Eine eigen-/ sternige / Nacht.« (GW II, 171, V. 1-2). Das Wort »Himmel« (ciel) wird also zu »Nacht« und der ›eine 348 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="349"?> Stern‹ (une étoile) wird sprachlich derart umgeformt, dass genauso gut von einer Originalschöpfung Celans gesprochen werden könnte. Dennoch ist der Bezug zur französischen Quelle aufgrund der Lesespuren Celans in Jabès‘ Büchern durchaus gegeben und im Gedicht spürbar. Im nahezu zeitgleich entstandenen Gedicht »Stille« ist dieser hypotextuelle Bezug ähnlich locker, jedoch erneut eindeutig präsent. Dort verwandelt sich der Jabès-Satz »le monde est enfin blanc comme la flamme entre les cils« (»die Welt ist endlich weiß wie die Flamme zwischen den Wimpern«) in das deutsche Kompositum »Wimpernfeuer« (GW II, 170, V. 2). Der unmittelbar vorausgehende Ausdruck ›Fergenvettel‹ (V. 1) scheint auf die - durch Bildern der Überfahrt evozierte - Übersetzungsproblematik zu verweisen, weshalb in diesem Fall nicht nur von einer translatorischen Echokammer, sondern von einer translatorischen Textgenese gesprochen werden könnte. Doch ist »Wimpernfeuer« erneut das Produkt einer poetischen Anverwandlung und weit mehr als die reproduktive Übersetzung dieser französischen Textstelle bei Jabès. Weitere mögliche sprachliche Relationen zwischen Celans Jabès-Lektüre und den Gedichten aus Fadensonnen sind noch subtiler. Dennoch bekräftigen viele Lesespuren sowie der in einen Band des Livre des questions geschriebene Gedichtentwurf (s. NKG, 930 f.) die Vermutung, dass es zahlreiche textgeneti‐ sche Verbindungen zwischen dieser französischen Quelle und den deutschen Gedichten dieser Schaffensperiode gibt. Der Titel des wenige Monate später entstandenen Gedichts »Fahlstimmig« (GW II, 307) könnte so ebenfalls auf die Lektüre der Bücher von Jabès zurückgehen. Auch in diesem Fall würde es sich nicht um eine direkte translatorische Integration, sondern um die transformierende Übernahme von bestimmten Textelementen handeln. Der betreffende Satz in der Quelle lautet hier: »Si virile est la voix de nos prophètes qu’elle se confond avec celle, effanée, de la foule.« In seinem Exemplar des Buches hat Celan die Wörter ›voix‹ und ›effanée‹ eingekreist (s. NKG, 1013). Das Entstehungsdatum des Gedichts sowie verschiedene Lektürespuren bekräftigen die Hypothese einer Ableitung von ›fahlstimmig‹ aus diesen beiden Wörtern. Handelt es sich bei ›voix‹ und ›Stimme‹ um eine direkte, translatorische Äquivalenz, erscheint der Bezug zwischen ›voix effanée‹ und ›fahlstimmig‹ allerdings weit weniger evident, da das französische Adjektiv ›effanée‹ in Kollokation mit ›voix‹ auf Deutsch eher den Sinn von ›entblößte Stimme‹ besitzen würde. Möglicherweise liegt vonseiten des Dichters eine Verwechs‐ lung zwischen ›fanée‹ (verblasst) und ›effanée‹ (entblättert, entlaubt, wegge‐ schnitten usw.) vor. Falls es sich nicht um ein solches Missverständnis handeln sollte, könnte der große Abstand zum Originalausdruck indessen genauso gut die Hypothese einer Verbindung zum Jabès-Text widerlegen. Aufgrund der 6.3 Translatorische ›Echokammern‹ 349 <?page no="350"?> 678 Siehe ebd. 679 Siehe ebd., S.-289ff. 680 Auf Grundlage einer Parallelstelle verweist Wiedemann auf eine Legende um Demos‐ thenes als mögliche Quelle für »Kies« im Sinne von ›Kieselstein‹ (s. NKG, 1141). mangelhaften Übereinstimmung von ›voix effanée‹ und ›fahlstimmig‹ ist es also letztlich unmöglich, die translatorische Beziehung zwischen den beiden Textstellen entweder zu verifizieren oder zu invalidieren. Präsenz der Dichtung André du Bouchets Ein letztes Beispiel für translatorische Echokammern in Celans Werk, das hier vorgestellt werden soll, beruht auf der engen Verbindung von Übersetzen und Dichten während der Arbeit des Lyrikers an der Übersetzung von Gedichten André du Bouchets Ende der 1960er-Jahre, zu dem Zeitpunkt, als er dessen Band Dans la chaleur vacante komplett ins Deutsche übertrug. 678 In diesem Fall lässt sich ein translatorischer ›Faden‹ erkennen, der von Du Bouchets Gedicht »Ce balbutiement blanc« (GW IV, 178) über Celans deutsche Übertragung dieses Textes »Diese weiße Gestotter« (GW IV, 179) zu seinem eigenen, im Februar 1968 entstandenen Gedicht »Zur Nachtordnung« (GW II, 357) führt. 679 Dieser Transferprozess soll im Folgenden kurz nachgezeichnet werden. Das letzte Wort (»Weißkies-/ stotterer«) in Celans Gedicht »Zur Nachtord‐ nung« nimmt dabei konkret Teile der Nominalgruppe aus der Eingangszeile von Du Bouchets Gedicht wieder auf: »Ce balbutiement blanc« (»Dies weiße Gestotter«, GW IV, 178-179, V. 1). Dabei werden gleichzeitig die »pierres« resp. »Steine« aus dem vierten Vers der französischen Vorlage als »Kies« in das deut‐ sche Kompositum ›Weißkiesstotterer‹ integriert. Der translatorische Bezug ist sehr frei, zumal der Übersetzer Celan wahrscheinlich niemals ›Kies‹ (frz. gravier, cailloux) als Entsprechung für ›pierres‹ ins Auge gefasst hätte. Als gemeinsamer Nenner von ›Steine‹ und ›Kies‹ erscheint die Erinnerungsproblematik, da es bekanntlich ein uralter jüdischer Brauch ist, auf den Gräbern (Kiesel-)Steine zu hinterlassen. 680 Zusätzlich kann vermutet werden, dass der Dichter sich bei seiner translatorischen Aneignung von Du Bouchets Versen an eine Bibelstelle aus dem Buch Mischle (Sprüche, 20, 17) anlehnt, in dem ein »Mund voll Kies« als Folge von Lüge und Betrug ausgewiesen wird. Im vorliegenden Fall handelt es sich also erneut um keine wortwörtliche Übersetzung des (angenommenen) französischen Quelltextes, sondern höchst‐ wahrscheinlich um eine Kombination verschiedener translingualer Verfahren. Celan eignet sich die französischen Wortelemente an und führt sie transfor‐ mierend in sein eigenes poetisches Universum ein, wobei er möglicherweise auch auf zusätzliche Quellen zurückgreift. Allerdings scheint der translatorische 350 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="351"?> 681 Beyer, »Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan«, S.-61. Bezug zu Du Bouchets Gedicht nicht zuletzt aufgrund der direkten zeitlichen Nähe zur Übersetzungsarbeit an Dans la chaleur vacante nahezuliegen. Damit gehört dieses letzte Beispiel in eine lange Reihe von Belegen, die zeigen, wie Celans Auseinandersetzung mit französischer Gegenwartsliteratur auf transla‐ torischen Wegen in seine deutsche Dichtung eingeflossen ist - wenn auch auf manchen Umwegen. 6.4 Impliziter Bilingualismus Die oben präsentierten Beispiele wurden dadurch charakterisiert, dass in ihnen anderssprachige Quellen als mehr oder weniger klar identifizierbare Hypotexte in Erscheinung treten. Im Laufe der Textgenese gelangen diese über den Weg translatorischer Verfahren in die publizierten Gedichte, wobei sie diesen eine Dimension latenter Mehrsprachigkeit verleihen. Die Bewegung verlief dabei von den Prätexten über die Vorstufen bis hin zur letzten Textfassung. Nun lassen sich ähnliche translatorische Prozesse in Celans Schreiben ebenfalls gleichsam in umgekehrter Richtung nachverfolgen - vom Wortlaut der Endfassung zu den mehrsprachigen Quellen im Hintergrund. Das ist konkret der Fall, wenn bestimmte Wörter im Phänotext den Leser dazu animieren, sie über den ›Umweg‹ einer anderen Sprache zu lesen, ohne dass diese unbedingt materiell in den Vorstufen präsent sein muss. Wie es Marcel Beyer von der Perspektive der deutschsprachigen Gegenwartslyrik aus formuliert hat, erzeugt Celan in seinem Schreiben »Bedingungen, unter denen eine Sprache erst über den Weg einer anderen Sprache im Gedicht erscheint«. 681 Das Verständnis solcher Texte setzt somit voraus, dass diese Stellen gleichsam mit den ›Augen‹ anderer Sprachen gelesen werden, insofern sich die Bedeutungsstruktur des Gedichts in ihrer ganzen Breite, Tiefe und Dichte erst über diese mehrsprachige Matrix zu erschließen scheint. Anders gesagt suggeriert die Lektüre solcher Gedichte eine Art (Rück-)Übersetzung in eine oder mehrere nicht unmittelbar präsente Ausgangssprache(n). Bezüglich seiner mehrsprachigen Kompetenzen hat Celan 1957 in einem Brief an seine Freunde Hanne und Hermann Lenz erklärt: »Ich wollte, ich könnte jetzt hebräisch oder zumindest lateinisch weiterschreiben, um Euch zu danken. Aber ich kanns ja doch nur auf deutsch« (Briefe, 273). In dieser Passage wird einerseits die Beschränkung auf das Deutsche im Schreiben betont, andererseits erscheint die Muttersprache als zu enger Horizont, weswegen sie um andere Sprachen erweitert werden muss. Wie immer es real um das ›Nicht-Können‹ 6.4 Impliziter Bilingualismus 351 <?page no="352"?> 682 Siehe Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum, S.-102. 683 Herta Müller, Heimat ist das was gesprochen wird. des Autors in den genannten Sprachen bestellt gewesen sein mag - speziell was das Hebräische betrifft, gibt es durchaus ganz andere Zeugnisse 682 -, kann man sagen, dass diese in gewisser Weise immer an seinen deutschen Gedichten ›mitschreiben‹, wie es die Nobelpreisträgerin Herta Müller, eine andere aus Rumänien stammende deutschsprachige Schriftstellerin, im Hinblick auf ihre Beziehung zum Rumänischen treffend ausgedrückt hat. 683 Ein bekanntes, seit langem von der literaturwissenschaftlichen Forschung identifiziertes Beispiel für eine solche Form impliziter Mehrsprachigkeit in literarischen Texten ist die wortwörtliche Übersetzung von Phraseologismen (insbesondere Sprichwörtern), die in der Sprache des betreffenden Werks so nicht existieren. Dieses Transferphänomen besitzt eine lange Tradition und ist auch in der Kontaktlinguistik wohlbekannt. Auf dieses insbesondere in der interkulturellen Literatur populäre Verfahren, das unter anderem in der deutsch-türkischen Literatur zu beobachten ist, greift Celan allerdings nicht zurück - was sicherlich nicht zuletzt mit der Gattung der Lyrik zusammenhängt. Anders als bei der oben behandelten translatorischen Textgenese setzt also der in diesem Abschnitt dargestellte implizite Bilingualismus bestimmter Wörter und Passagen in den Gedichten nicht voraus, dass sich in den Vorstufen konkrete Hinweise auf entsprechende Quellen auffinden lassen. Es handelt sich bei dieser Form des mehrsprachigen Schreibens in gewisser Weise um Übersetzungsprozesse ohne materiellen Ausgangstext. Das exophone Substrat der Texte kann jedoch - wie im Fall der eben erwähnten Phraseologismen - über kontextuelle, biographische und sprachbzw. kulturgeschichtliche Bezüge plausibel, wenn nicht gar stichhaltig gemacht werden. So drängen sich dem Leser, der mit Paul Celans Werk, seinem kulturellen und sprachlichen Horizont sowie den von den jeweiligen Textstellen implizierten Sprachen vertraut ist, viele dieser interlingualen Verbindungen bei der Lektüre der Gedichte geradezu auf. Im Gegensatz zu den weiter unten noch zu untersuchenden Analogien formaler Art soll im Folgenden zunächst die Inhaltsebene im Vordergrund der Betrachtung stehen, womit direkt an die vorausgehende translatorische Perspektive angeschlossen wird. Das bedeutet, dass die Bedeutungsebene der Wörter den primären Ausgangspunkt für das sprachliche In-Bezug-Setzen bildet, was nicht ausschließt, dass an vielen Stellen die inhaltliche und die formale Ebene als eng miteinander verzahnt erscheinen. Ein solches Ineinan‐ derspielen von Inhalt und Form ist schließlich gewissermaßen schon durch die 352 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="353"?> 684 Jürgen Lehmann, »Und mit dem Buch aus Tarussa«. In: Ders. (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S.-353-367, hier S.-362. 685 Siehe Germinal Čivikow, »Schwarzerde«. In: Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S.-170-172, hier S.-171. Gattungspoetik der Lyrik vorgegeben. Im Unterschied zu den vorangegangenen Abschnitten soll in diesem Fall aus pragmatischen Gründen in der Strukturie‐ rung der Analyse sprachspezifisch vorgegangen werden. Russisch Als erstes repräsentatives Beispiel für latente Mehrsprachigkeit dieser Art in Celans Lyrik kann der Ausdruck »Stummvölker-Zone« aus dem 1962 ent‐ standenem Gedicht »Und mit dem Buch aus Tarussa« (GW I, 287 ff., V. 47) zitiert werden. In dieses Kompositum ist die wortwörtliche Übersetzung des russischen (und allgemein slawischen) Namens für ›deutsch‹ eingeflossen, die sprachgeschichtlich auf das protoslawische Adjektiv ›němъ‹ für ›stumm‹ zurückgeht. 684 Über das Russische gelesen - was sich im Zusammenhang mit dem Band Die Niemandsrose und insbesondere im Kontext des vorliegenden Gedichts geradezu aufdrängt - kommt hinter dem ›Stummvolk‹ das ›deutsche Volk‹ zum Vorschein. Als implizit bilingualer Ausdruck ist ›Stummvölker-Zone‹ also mehrfach-mehrsprachig codiert. Auf diese Weise wird die manifeste Mehr‐ sprachigkeit des Zwetajewa-Zitats »Все поэты жиды« (»Alle Dichter sind Juden«), das im Gedicht als Motto benutzt wird, von einer latenten Präsenz des Russischen mitten im Text ergänzt. Ein weiteres Beispiel für solche implizite Übersetzungen aus dem Russischen bei Celan liefert der Titel des Gedichts »Schwarzerde« (GW I, 241), das wie der gerade erwähnte Text aus dem Band Die Niemandsrose stammt. Dieser Gedichttitel lässt sich zunächst thematisch als Referenz auf ein in der Lyrik Mandelstamms zentrales Motiv verstehen (черная земля). Überdies kann der Ausdruck aber auch translingual über das russische resp. ukrainische Wort ›чёрный‹ (černyj = schwarz) als Verweis auf Celans Heimatstadt Czernowitz gelesen werden, deren Name etymologisch auf ›schwarz‹ zurückgeht. 685 Die klangliche Nähe zwischen ›Tschernosem/ чернозём‹ (= Bezeichnung des Bo‐ dentyps Schwarzerde) und Czernowitz macht dies besonders sinnfällig. Die ›Schwarzerde‹ des Russen Mandelstamm vermischt sich hier mir der ›Heimat‐ erde‹ des Bukowiner Dichters, wobei diese Erde daneben intertextuell auf die Judenvernichtung verweist, wie es unter anderem durch das Eingangsgedicht »Es war Erde in ihnen« (GW-I, 211) nahegelegt wird. Auf einer allgemeineren Ebene suggeriert Lehmann in Bezug auf die Prä‐ senz des Russischen in Celans Schreiben, dass die poetologische Valenz der 6.4 Impliziter Bilingualismus 353 <?page no="354"?> 686 Lehmann, »Vorwort«. In: Ders. (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«, S.-15-65, hier S.-28. 687 Siehe u. a. Lehmann, »Titel: ›Die Niemandsrose‹«. In: Ders. (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S.-39-47, hier S.-41. 688 Siehe Broda, Dans la main de personne, S.-68. Wasser-Metaphorik, speziell im Band Sprachgitter, möglicherweise von der rus‐ sischen Wortverwandtschaft zwischen ›Sprache‹ (речь, im Sinne von ›Sprech‐ weise‹) und ›Fluss‹ (река) herrühre. 686 Über das russische Äquivalent würde also im (deutschen) Wasser eine Thematisierung des poetischen Sprechens erkennbar. Bei diesem Beispiel wird erneut deutlich, welch entscheidende Bedeutung die jeweiligen Sprachkenntnisse der Kommentatoren spielen, da es sich bei Lehmann nicht nur um einen Germanisten und Komparatisten, sondern eben auch um einen profilierten Slawisten handelt, dessen Spezialwissen sich für die Untersuchung dieser Werkphase Celans als unabdingbar erweist. Wiederholt wurde außerdem in der Forschung darauf hingewiesen, dass der Bandtitel Die Niemandsrose nur dann in seiner ganzen Mehrdeutigkeit begriffen werden kann, wenn man ihn über das Russische liest - und speziell über das Russische Ossip Mandelstamms. In seinem Essay »О собеседнике« (»Über den Gesprächspartner«), der eine zentrale Quelle für Celan Poetik darstellt, spielt der russische Dichter nämlich im Rahmen seiner Flaschenpost-Metaphorik mit der klanglichen Nähe von ›никто‹ (nikto = niemand) und ›некто‹ (nekto = jemand), wodurch die Gegensätze latent zusammenfallen. 687 Auf diese Weise bildet sich ein starker Bezug zur negativen Theologie und zur kabbalistischen Mystik heraus, in der ›Nichts‹ und ›Niemand‹ als Aspekte bzw. Manifestationen des Göttlichen gelten. Zudem ergibt sich an dieser Stelle eine Verbindung zur poetologischen Problematik der Unbestimmtheit und Undefinierbarkeit des im Gedicht adressierten Gegenüber, die unter anderem in Celans Meridian-Rede thematisiert wird. Diese sprachliche Nähe zwischen ›niemand‹ und ›jemand‹ existiert ebenfalls im Französischen, wo ›personne‹ sowohl affirmativ als ›Person‹ als auch negativ als grammatikalische Negation (konkret in der Form ›ne … personne‹) verwendet werden kann. Die französische Version des Titels La Rose de personne kann demnach als Jemands- und Niemandsrose zugleich gelesen werden (s. 7.1.2). 688 Das Französische repräsentiert somit eine potenzielle zweite ›Sprachmatrix‹ für das Verständnis von Celans ›Niemand‹ in Die Niemandsrose. Ganz ähnlich stellt sich die Situation übrigens im gerade zitierten Gedicht »Und mit dem Buch aus Tarussa« (GW I, 287 ff.) dar, in dem das Russische eben‐ falls vom Französischen flankiert wird. So ließe sich der Ortsname ›Tarussa‹ (nach dem Almanach für russische Literatur Blätter aus Tarussa / Tarusskije 354 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="355"?> 689 Ebd., S.-144. stranizy / Тарусские страницы) mit einem frankophonen Ohr als ›Ta Russie‹ (= dein Russland) verstehen, was mit der identifikatorischen Beziehung Celans zur russischen Literatur zusammenpasst, wie sie beim Band Die Niemandsrose immer wieder von der Kritik herausgestellt wurde. Französisch Über dieses erste Beispiel hinaus spielt das Französische beim Phänomen des impliziten Bilingualismus eine ganz besondere, ja herausragende Rolle in Celans Gedichten, spiegelt sich hier doch das Poetische gleichsam im (Sprach-)Bio‐ graphischen. Dazu hat die französische Celan-Übersetzerin Martine Broda angemerkt: »La langue de poète allemand de Celan, si elle est minée par d’autres étrangetés, est assez souvent, d’une façon très évidente, assaillie par le français. Certains jeux de mots, bilingues, ne peuvent s’expliquer autrement.« 689 Broda zufolge, deren Arbeit als Celan-Kommentatorin und -Übersetzerin weiter unten näher vorgestellt werden soll (s. 7.1), geht also die ›Fremdheit‹ von Celans dichterischem Idiom zu guten Teilen auf inhaltliche und formale ›Übergriffe‹ seiner Zweitsprache (»assaillie par le français«) zurück. Mehr noch als andere Sprachen scheint das Französische immer an den deutschen Gedichten Celans ›mitzuschreiben‹, was laut Broda unter anderem auf der Ebene der Wortspiele deutlich wird. Schon auf der Bedeutungsebene kann in der Tat hinter vielen deutschen Wörtern eine latente Präsenz des Französischen vermutet werden. Besonders sinnfällig wird dies beim Wort ›Wurm‹, hinter dem sich eine französische Doppeldeutigkeit verbirgt. Es kann davon ausgegangen werden, dass Celan das deutsch-französische Wortspiel, welches ihm hier höchstwahrscheinlich als Vorbild gedient hat, aus Büchners Dantons Tod kannte. In der Concier‐ gerie-Szene (IV, 3), die übrigens ausführlich in der Meridian-Rede kommentiert wird, lässt der Vormärz-Dramatiker seine Hauptfigur zum Dichter Fabre d’Ég‐ lantine sagen: »Weißt du auch, was wir jetzt machen werden? […] Was du dein ganzes Leben hindurch gemacht hast - des vers.« Im Französischen bedeutet die Pluralform ›vers‹ als Homonym zugleich ›Verse‹ und ›Würmer‹. ›Faire des vers‹ bedeutet folglich sowohl ›Verse schmieden‹ als auch ›das Volk der Würmer nähren‹. Angesichts der Todesnähe spottet Danton hier über die Vergeblichkeit der Dichtung gegenüber dem Fraß der Würmer, dem die zur Guillotine verurteilten Dantonisten zum Opfer fallen werden. Diese Aussage kann einer Haltung Büchners zugeschrieben werden, auf die sich Celan in 6.4 Impliziter Bilingualismus 355 <?page no="356"?> 690 Barbara Wiedemann verweist - anstatt auf die Büchner-Quelle - auf eine Anstreichung in einem Mallarmé-Band, wo Celan im Gedicht »Le Guignon« dasselbe Wortspiel ausgemacht hat (NKG, 852). Die beiden Quellen schließen sich dabei keineswegs aus, wenngleich Celans Affinitäten zu Büchner sicherlich ungleich größer waren als diejenigen zu Mallarmé. seiner Büchner-Preis-Rede als »radikale In-Frage-Stellung der Kunst« (GW III, 192-193) berufen hat. Im Gedicht »Beim Hagelkorn« (GW II, 22) aus dem Band Atemwende scheint der Büchner-Leser Celan nun diese deutsch-französische Doppeldeutigkeit für sein eigenes Schreiben fruchtbar gemacht zu haben, wie die folgende Stelle zeigt: »in den Herzfaden die / Gespräche der Würmer geknüpft -: / / eine Sehne, von der / deine Pfeilschrift schwirrt, / Schütze.« (V. 6-10). Natürlich springt hier zunächst die Präsenz der traditionellen Vanitas-Thematik ins Auge. Doch das Motiv des Schreibens (s. »Pfeilschrift«), in enger Verbindung mit der Person des Dichters (»Schütze« verweist auf das Sternzeichen Celans und die ›Pfeilschrift‹ folglich auf seine ›offensive‹ Dichtung), macht zugleich die metapoetische Dimension dieser Passage augenfällig. In diesem Zusammenhang wird hinter den deutschen ›Würmern‹ eine translinguale Dimension sichtbar. Celans »Ge‐ spräche der Würmer« lassen sich so frei nach Büchner als »Gespräche der Verse« verstehen. 690 Im vier Jahre später entstandenen Gedicht »Lippen, Schwellgewebe« (GW II, 206) aus dem Band Fadensonnen scheint ein ganz ähnlicher Fall von implizitem Bilingualismus vorzuliegen. Den Anhaltspunkt hierfür liefert eine Parallelstelle im Briefwechsel Celans mit seiner Frau Gisèle aus dem Sommer 1959, in dem der für das Ehepaar wichtige französische Ausdruck ›vers luisants‹ auftaucht (PC-GCL, I, 107). Daraus lässt sich ableiten, dass die im genannten Gedicht präsenten »Leuchtkäfer« (den meisten Lesern wohl vor allem als ›Glühwürm‐ chen‹ bekannt) über das Französische zusätzlich als »leuchtende Verse« zu lesen sind: »Es müßte noch Leuchtkäfer geben.« (Schlussvers). Auf Grundlage der französischen Homonymie wird also im vorliegenden Fall das zuvor erprobte Sprachspiel ›vers‹ - ›Wurm‹ auf den ›Käfer‹ ausgeweitet, woraus sich neue Interpretationsmöglichkeiten ergeben. Im Lichte von Celans Mehrsprachigkeit betrachtet scheint das Gedicht nicht nur aus dem Blickwinkel einer tiefen Krisenzeit auf früheres Eheglück zurückzublicken, sondern darüber hinaus auf eine frühere, weniger ›eingedunkelte‹ Form von Dichtung zu verweisen, die im Bild der »leuchtende Verse« aufscheint. Bezeichnenderweise ist der Text während eines Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik entstanden und verweist zudem motivisch auf die Gefahr der ›Umnachtung‹. 356 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="357"?> 691 Bernhard Böschenstein, »Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle«. In: Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«, S.-241-245, hier 243. 692 Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-267. Was das Französische betrifft, hat Bernhard Böschenstein außerdem hinter dem Gebrauch des Wortes ›Kran‹, so wie es unter anderem im Gedicht »Nach‐ mittag mit Zirkus und Zitadelle« (GW I, 261, V. 6) aus Die Niemandsrose auftaucht, einen aufschlussreichen interlingualen Bezug zum französischen Wort ›grue‹ vermutet. Dieses Substantiv hat im Französischen zwei perfekt homonyme Bedeutungen und kann sowohl einen Kran als auch den Vogel na‐ mens Kranich bezeichnen. Dadurch ergibt sich ein interessanter Bezug zum von Celan übersetzten ›Kranich-Gedicht‹ »Бессонница. Гомер« Mandelstamms (s. Celans dt. Fassung »Schlaflosigkeit. Homer«, GW V, 91), dessen Dichtername nicht zufällig zwei Verse zuvor in demselben Gedicht auftaucht. 691 Zudem ist der Kranich auch in dem Gedicht »Bei Tag« auf (GW I, 262, V. 6) präsent, das in dem betreffenden Band unmittelbar auf »Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle« folgt. Die These vom zweisprachigen Doppelsinn von ›Kran‹ wird zweifellos durch solche Kohärenzeffekte bekräftigt. Zusätzlich sei an dieser Stelle ein deutsch-französisches Wortspiel in dem 1963 entstandenen Gedicht »Du darfst« (GW II, 11) erwähnt, das durch eine Parallele mit Celans fünf Jahre später entstandenem französischen Gedicht »Ô les hâbleurs« (GW VII, 229) suggeriert wird. Der implizite Bilingualismus existiert hier zwischen frz. ›épaule‹ und dt. ›Schulter‹. Wie bereits erwähnt (s. 4.4.2), spielt das Verb »épauler« in diesem an den eigenen Sohn adressierten Text mit dem Vornamen des Autors Paul [Celan]. Auf dieser Basis könnten die französischen Verse »Ton père / t’épaule« (V. 7-8) als transformierendes Selbstzitat der Verse »sooft ich Schulter an Schulter […] schritt« aus »Du darfst« gelesen werden, zumal der Maulbeerbaum aus diesem Gedicht als Personifizie‐ rung des eigenen Sohnes begriffen werden kann, 692 was wiederum zu »Ô les hâbleurs« zurückführt. Umgekehrt ließe sich das Schulter-an-Schulter-Gehen in »Du darfst« als implizit bilinguales Spiel mit dem Namen ›Paul‹ auffassen (s. NKG, 848). Der Gedichtanfang »Du darfst mich …« macht diese Verbindung plausibel, insofern dort die Schulter (›épaule‹ im Französischen) des lyrischen Subjekts genannt wird. Daneben stellt der »Maulbeerbaum« (V. 4) eine implizite Verbindung zu den oben genannten Beispielen her, ist dieser Baum doch bekannt für seine Rolle bei der Seidenherstellung mittels von Seidenraupen, deren französischer Name im Übrigen ›vers [sic] à soie‹ lautet. Wie man sieht, besitzt das ›Mitschreiben‹ des Französischen im vorliegenden Fall eine beeindruckende Komplexität und Tiefe. 6.4 Impliziter Bilingualismus 357 <?page no="358"?> 693 Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«, S.-650. Etwas hypothetischer wird das in diesem Abschnitt erprobte Lektürever‐ fahren des impliziten Bilingualismus im Fall des Gedichts »Stillleben« (GW I, 114). Über das Französische könnte das Titelwort dieses Textes als »nature morte« - also buchstäblich: »tote Natur« - gelesen werden, was der gängigen Übersetzung für diese kunstgeschichtliche Gattungsbezeichnung entspricht. Zusätzlich lässt sich diese Lesart durch die im Gedicht präsente Todesmotivik (s. u. a. »Kerze«, V. 1, »Dunkel«, V. 8, »Steine«, V. 13) untermauern. Durch die (Rück-)Übersetzung von »Stillleben« in den französischen Begriff »nature morte«, bzw. über die latente Präsenz des Französischen im Titelwort, tritt diese im vorliegenden Text bereits vorhandene Dimension wesentlich expliziter hervor. Allerdings kann sich diese Betrachtungsweise zugegebenermaßen auf keine konkreten Textmaterialien wie Vorstufen, Notizen oder Lektürespuren stützen. Die große Bedeutung des Französischen in Paul Celans persönlichem und li‐ terarischem Universum hat teilweise zu recht abenteuerlichen Interpretationen geführt, die sich auf das eben beschriebene Phänomen impliziter Bilingualität stützen. Ein Beispiel hierfür ist Elizabeth Petuchowskis Lesart des Kompositums »Hellzelt« im Schlussvers des Gedichts »Kein Name« (GW II, 226, V. 5) aus dem Band Fadensonnen. Die Interpretin schlägt hier konkret vor, das Wort als ›tente claire‹ wortwörtlich ins Französische (zurück) zu übersetzen. Auf dieser Basis suggeriert sie dann eine homophone Verbindung zu frz. »Tante Claire« als Verweis auf Claire Goll. 693 Der Eindruck reiner Spekulation, die diese Lesart zunächst hervorruft, wird dadurch relativiert, dass im zweiten Vers das Wort ›Gleichlaut‹ auftaucht. Ein solcher Gleichlaut könnte eben - zumindest annä‐ hernd - über das Französische ›tente claire‹ / ›Tante Claire‹ realisiert werden. Obwohl die sprachspielerische Dimension von Celans Schreiben sicherlich nicht unterschätzt werden darf, muss eingeräumt werden, dass diese Interpretation nicht wirklich konsensfähig ist. Latein Als besonders fruchtbar erscheint das Prinzip des impliziten Bilingualismus außerdem im Bereich der lateinischen Sprache, die, wie oben gezeigt, einen zentralen Platz in Celans Mehrsprachigkeit einnimmt - sowohl auf manifester als auch auf latenter Ebene. Beim Lateinischen spielt naturgemäß neben der eigentlichen (Rück-)Übersetzung die sprachgeschichtliche Perspektive eine bedeutende Rolle, da ein beachtlicher Teil des deutschen Wortschatzes auf 358 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="359"?> 694 Siehe Werner, Textgräber, S.-21. 695 Daneben ist ›Inokulation‹ seit Anfang des 18. Jahrhunderts die Bezeichnung für eine dem Impfen verwandte Methode. 696 Siehe Werner, Textgräber, S.-21. diese Sprache zurückgeht. Nicht zu vergessen, dass die beiden Zweitsprachen des Dichters - Rumänisch und Französisch - direkt auf das Lateinische zurück‐ gehen. Anders als bei den von Celan häufig benutzten lateinischen Lehnwörtern ist das Lateinische in den im Folgenden vorgestellten Beispielen nicht manifest präsent, sondern nur über spezielle sprachliche bzw. sprachgeschichtliche Kenntnisse auszumachen. Trotzdem scheint das Lateinische an vielen Stellen des Werks im Hintergrund präsent, wie es unter anderem der Titel eines relativ frühen Gedichts wie »Aufs Auge gepfropft« (GW I, 106) aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle zeigt. So hat Werner treffend darauf hingewiesen, dass die dort nebeneinander‐ gestellten Lexeme ›Auge‹ und ›Pfropfen‹ beide auf den lateinischen Wortstamm ›oculus‹ zurückgeführt werden können. 694 Bei ›Auge‹ handelt es sich um eine wortwörtliche Übersetzung des Nomens ›oculus‹ aus dem klassischen Latein, bei ›Pfropfen‹ hingegen um eine wortverwandtschaftlich-etymologische Beziehung über das vom (neu-)lateinischen ›oculare‹ abgeleitete Okulieren, das mit dem Pfropfen eng verwandt ist. 695 Das Wortpaar Auge/ Pfropfen wäre folglich als implizit bilingual zu bezeichnen. Über den botanischen Vorgang des Okulierens wird auch die Präsenz von »Reis« (V. 2) im Gedicht erklärbar, da man als ›Edelreis‹ ein bei der Pflanzenveredelung verwendetes Teilstück einer Rute bezeichnet. So verstärkt hier der ›Umweg‹ über das Lateinische letztlich die semantische Kohärenz des gesamten Textes. Auch im viel später entstandenen Gedicht »Die Köpfe« aus dem Band Fadensonnen (1968) scheint sich über den Incipit-Titel bzw. die Eingangszeile eine deutsch-lateinische Sprachrelation herzustellen. Dort heißt es am Anfang: »Die Köpfe, ungeheuer, die Stadt, / die sie baun« (GW II, 131). Die vom Text her‐ gestellte Assoziation mit der ›Stadt‹ suggeriert, dass hinter dem titelgebenden deutschen ›Kopf‹ das lateinische Wort ›caput‹ präsent ist. Letzteres bedeutet sowohl ›Kopf‹, ›Haupt‹ und ›Anführer‹ als auch ›Hauptstadt‹, ›Hauptsitz‹ und ›Hauptort‹. In diesem Sinne wäre ›Kopf‹ sozusagen über das Lateinische mit ›Stadt‹ zusammenzulesen. 696 Mit dem Lateinischen im Hintergrund ergibt sich in diesem Gedicht auf diese Weise eine starke Kohärenz der Wortfelder Anatomie, Macht und Stadt. Dasjenige lateinische Wort, das in Celans Lyrik auf impliziter Ebene den wichtigsten Platz einnimmt, ist zweifelsohne ›populus‹. Genau betrachtet han‐ delt es sich dabei um zwei Wörter, da das männliche Nomen ›pŏpŭlus‹ (Volk) im 6.4 Impliziter Bilingualismus 359 <?page no="360"?> 697 Siehe Renate Böschenstein-Schäfer, »Traum und Sprache in der Dichtung Celans«. In: Amy D. Colin (Hrsg.), Argumentum e Silentio: International Paul Celan Symposium/ In‐ ternationales Paul Celan-Symposium. Berlin-Boston: De Gruyter, 1986, S. 223-236, hier S.-225. 698 Miglio, »Translating in a ›Wholly Other‹ German«, S.-98. Lateinischen nicht mit dem weiblichen Nomen ›pōpŭlus‹ (Pappel) identisch ist. Folglich handelt es sich bei der populären Herleitung von ›Pappel‹ aus ›populus‹ (für ›Volk‹) um eine fehlerhafte Etymologie. Jedoch ist davon auszugehen, dass der Dichter bei seiner wiederholten Verwendung des Wortes ›Pappel‹ in seinen Gedichten stets den Begriff des Volkes - und insbesondere das jüdische Volk - mitdenkt. 697 Die enge Nähe von ›peuple‹ (Volk) und ›peuplier‹ (Pappel) in der französischen Sprache legt diesen impliziten Bilingualismus des Worts ›Pappel‹ ebenfalls nahe. In einer ganzen Reihe von Gedichten, in denen der Baum personifiziert wird, erscheint so die Pappel über die Idee des Kollektivs (populus) als Symbol der (ermordeten) Juden. Das gilt vorrangig für die frühe Gedichtproduktion bis in die Mitte der 1950er-Jahre. Die Reihe der Texte geht dabei von »Notturno« aus dem Jahr 1941 (GW VI, 54) über »Unstetes Herz« (GW I, 71), »Landschaft« (GW I, 74) und »Ich hörte sagen« (GW I, 85) bis hin zu »Die Felder« (GW-I, 120) aus dem Jahr 1954. An diesem Punkt soll eingeschoben werden, dass sich solch wortgeschicht‐ liche Verbindungen, die in den genannten Beispielen translingual zwischen dem Deutschen und dem Lateinischen bestehen, ebenfalls auf intralingualer Ebene - also innerhalb der deutschen Sprache und ihrer Geschichte - beobachten lassen. Diesbezüglich schreibt Camilla Miglio: Celan’s translational writing has a strong intralinguistic aspect. A word - across different temporal threshholds when relocated in new semantic, syntactic, phonic and linguistic fields - creates new areas of meaning, blending memory and future in the ›same‹ recontextualized, repeated word. 698 So können etwa manche Wörter im Gedicht »(Ich kenne dich« (GW II, 30) aus dem Band Atemwende unter Rückgriff auf die deutsche Sprachgeschichte erheblich an Bedeutungstiefe gewinnen. Zusätzlich zur aktuellen Wortbedeu‐ tung meint nämlich ›Wahn‹ (V. 4) (in der Form ›wān‹) im Mittelhochdeutschen nicht nur ›Fantasiebild‹ oder ›Illusion‹, sondern auch ›Erwartung‹ und ›Hoff‐ nung‹. Die Schlussworte »Ich - ganz Wahn« im Gedicht erhalten dadurch eine interessante Zusatzbedeutung - im Sinne des Wartens auf die Geliebte. Und im Frühneuhochdeutschen der Lutherbibel bedeutet ›(er)kennen‹ (wie im Gedichttitel) bekanntlich den Vollzug des Geschlechtsverkehrs zwischen Ehe‐ leuten, was dem Verb ebenfalls einen relevanten Zusatzaspekt verleiht, der sich 360 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="361"?> 699 Schlesak, »Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie«, S.-336. 700 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-29. 701 Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-16. 702 Über die Beziehung von Wort und Sache hat Celan auch im Medium anderer Sprachen als dem Hebräischen reflektiert. So hat er als Motto für seinen Band Die Niemandsrose ein (italienisches) Dante-Motto (Inferno, XXXII, 12) in Erwägung gezogen, dessen Aussage auf die Identität von Sache und Wort verweist: »… si che dal fatto il dir non sia diverso« (TCA, NR, 5). Die Stelle lässt sich allerdings auch als Hinweis auf kohärent in den Text einfügt. Diese gleichsam diachrone Mehrsprachigkeit in Form einer ›Übersetzung‹ der Wörter des Textes in frühere Sprachzustände des Deutschen lässt direkte Parallelen zum hier im Zentrum stehenden Phänomen des impliziten Bilingualismus erkennen. Hebräisch Als am produktivsten beim Phänomen des impliziten Bilingualismus in Celans Lyrik erweisen sich schließlich die zahlreichen translatorischen Bezüge zur hebräischen Sprache. Wie Schlesak in einem grundlegenden Aufsatz zu Celans »Metapoesie« festgestellt hat, wirkt vieles in seiner Lyrik wie »eine paradoxale Verschränkung des Deutschen mit jenem Ur-Text«, d. h. dem Hebräischen der Thora. 699 So lassen viele der vom Dichter bevorzugten Lexeme wie ›Wort‹, ›Hand‹ und ›Name‹, sobald sie über die hebräische Sprache gedacht werden, zu‐ sätzliche Sinnbezüge und starke Kohärenzeffekte erkennen, die seine Gedichte manchmal geradezu wie aus dem Hebräischen übersetzt erscheinen lassen. Diese Wortverbindungen zum Hebräischen werden dabei teilweise recht explizit von den Texten selbst in metapoetischer Weise suggeriert, so etwa im weiter oben analysierten »Kleide die Worthöhlen aus« (GW-II, 198, s.-3.3). Daneben kann an dieser Stelle ein Gedicht wie »Fahlstimmig« (GW II, 307) aus dem Jahr 1967 genannt werden, das von Fußl interessanterweise als »poetische Umsetzung einer kabbalistischen Vorstellung« bezeichnet wird. 700 Allerdings wird in diesem Fall der Verweis auf das Hebräische auch ohne den kabbalistischen Hintergrund klar erkennbar, wenn es im Gedicht heißt: »kein Wort, kein Ding, / und beider einziger Name« (V. 3-4). Denn der »einzige Name« verweist an dieser Stelle auf das hebräische ›dawar‹, welches sowohl ›Wort‹ als auch ›Ding‹ bedeuten kann. 701 Celans Gedicht übersetzt an dieser Stelle gleichsam die dem Hebräischen innewohnende Polysemie ins Deutsche. Auf perfekt anschauliche Weise meint impliziter Bilingualismus in diesem Fall, dass die beiden deutschen Begriffe - über die zweite Sprache gedacht - schließlich zu einem einzigen werden: »beider einziger Name« (ebd.). 702 6.4 Impliziter Bilingualismus 361 <?page no="362"?> Celans ›Realismus‹ lesen, insofern Dante an dieser Stelle auf den Wahrheitsgehalt der Erzählung seiner Reise in die Hölle verweist. 703 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-53. Bestimmte über das Hebräische miteinander verbundene Wortpaare tauchen gleich mehrmals in Celans Werk auf. Dies gilt speziell für ›Hand‹ und ›Name‹. Für mit dem Hebräischen vertraute Leser verweist diese Assoziation direkt auf die internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, wortwörtlich »Hand und Name«. Die auffällige und häufige Nebeneinanderstellung der beiden Wörter ›Hand‹ (yad, די ) und ›Name‹ (shem, םש) in den Texten erklärt sich also über diese israelische Institution und ihren hebräischen Namen. Das ist bei‐ spielsweise der Fall im Vers »den Namen, den Namen, die Hand, die Hand« im Gedicht »Es ist alles anders« (GW-I, 284, V.-18) aus Die Niemandsrose. Ein wei‐ teres Beispiel liefern die Komposita »namenwach, handwach« aus dem Gedicht »Denk dir« (GW II, 227, V. 22), das während des Sechs-Tage-Krieges 1967 ent‐ standen ist. Über diesen impliziten deutsch-hebräischen Bilingualismus ge‐ winnen die Wörter ›Hand‹ und ›Name‹ eine dezidiert memorielle Funktion, die sie als solche im Deutschen allein nicht besitzen. An solchen Stellen wird die innige Verbindung von translingualem Sprachspiel und literarischer Gedächt‐ nisarbeit, wie sie viele Texte Celans charakterisiert, besonders sinnfällig. Ähnliche Verbindungen zwischen dem Deutschen und dem Hebräischen lassen sich anhand des Wortes ›Mandel‹ ausmachen. Bei dessen ›Rücküberset‐ zung‹ in die Sprache des Judentums wird erneut die Wortstammlogik des He‐ bräischen relevant, in der Wörter mit verschiedener, ja gegensätzlicher Bedeu‐ tung über die gemeinsame dreigliedrige Konsonantenwurzel als miteinander verwandt erscheinen. Im Fall von ›Mandel‹ ergibt sich über die hebräische Wurzel sh-k-d ( דקש ) konkret eine Beziehung zur Idee des Eifers, der Achtsam‐ keit und des Wachens. 703 Laut dem Sefer ha-Schoraschim (Buch der Wurzeln) impliziert diese Wortwurzel darüber hinaus die Idee der Schnelligkeit, Anstren‐ gung und Ausdauer. Da der Mandelbaum früher als alle andere Bäumen zu blühen beginnt, trägt er im Hebräischen auch den Namen ›Der Schnelle‹, bzw. ›Der Achtsame‹ oder ›Der Wachsame‹. Diese unter anderem in Jeremia (resp. Jirmejahu) 1,11 benutzte sprachliche Verwandtschaftsbeziehung erscheint insofern von großer Bedeutung für Celans Lyrik, als die Assoziation Mandel-Wachen gleich an mehreren Stellen im Werk auftaucht. Auf exemplarische Weise ist dies im frühen Gedicht »Zähle die Mandeln« (GW I, 78) der Fall, in dessen zweitem Vers es heißt: »zähle, was bitter war und dich wachhielt«. Hierbei handelt es sich fast um eine Parallelstelle zur eben zitierten Passage »namenwach, handwach« (GW II, 227, V. 22). Einen weiteren Beleg könnte das späte Gedicht »Miterhoben« (GW II, 362 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="363"?> 704 Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«, S.-640. 705 Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-43-44. 399) liefern, in dem die ›wache‹ Mandel über die ihr zugehörige ›Bitterkeit‹ auf impliziter Ebene präsent zu sein scheint: »das Quentchen Mut / bittert sich ein, / wachsam: / es weiß, daß du weißt.« (V. 8-11). Wie in den vorhergehenden Beispielen kann hier angenommen werden, dass die Assoziation von ›Mandel‹ und ›wach‹ durch die hebräische Wortwurzellogik motiviert ist. Ein vergleichbares Beispiel, wenngleich die Deutung in diesem Fall auf einer wesentlich spekulativeren Basis beruht, liefert Petuchowskis Interpretation des frühen Celan-Gedichts »Unstetes Herz« (GW I, 71) aus dem Band Mohn und Gedächtnis. Dort stellt die Interpretin über das Hebräische eine verwandtschaft‐ liche Verbindung zwischen ›Pappel‹ (V. 4) und ›Flöte‹ (V. 6) her. Hinter den beiden Wörtern des Gedichts meint sie nämlich den gemeinsamen hebräischen Wortstamm › ףצפצ ‹ (z-f-z-f) zu erkennen. 704 In ihrer Praxis der (Rück-)Überset‐ zung deutscher Wörter verfährt Petuchowski relativ frei, indem sie nicht immer die nächstliegenden Entsprechungen benutzt. Damit die Wurzelverwandtschaft zu הפצפצ (Pappel) zustande kommt, muss sie nämlich auf ףצפצ (Pfeifen) zu‐ rückgreifen, was natürlich nicht wirklich gleichbedeutend mit ›Flöte‹ ist - auch nicht im Hebräischen. Dennoch ist die hier über das Hebräische zustande kom‐ mende Wortverwandtschaft wie in den zuvor genannten Beispielen ebenso ver‐ blüffend wie kohärent. Übereinstimmend mit Fußls späteren Ausführungen scheint in diesem Gedicht nochmals deutlich zu werden, »wie sehr Celan dem Hebräischen als Sprachsystem und als Ausgangspunkt hebräischen Denkens verbunden war.« 705 6.5 ›Kryptohebräisch‹ Das hebräische Substrat Klaus Reichert, der Celan während der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre als Lektor bei Suhrkamp betreut hatte, war einer der ersten Kommentatoren seiner Dichtung, der auf die tiefe Prägung des Lyrikers durch die hebräische Sprache hingewiesen und deren Einfluss auf sein poetisches Sprechen herausgestellt hat. So schreibt er in einem wegweisenden Aufsatz aus dem Jahr 1988: Ich vermute sogar, daß der sehr frühe, gründliche oder oberflächliche, aber immerhin drei Jahre währende Hebräischunterricht […] in Czernowitz ihm die Eigenartigkeit 6.5 ›Kryptohebräisch‹ 363 <?page no="364"?> 706 Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans«, S.-157. 707 Ebd., S.-158. 708 Reichert - Celan, Erinnerungen und Briefe, S. 80. Friedländer und Celan selbst hatten sich Ende 1968 in London kennengelernt. Siehe Badiou, Bildbiographie, S.-428. 709 Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans«, S.-163. dieser Sprache so tief einprägte, daß sie Teil seiner Sprachkompetenz wurde, ohne bewußt erinnert werden zu können. 706 Reicherts Vorstellung vom »hebräische[n] Substrat« 707 in Celans Sprache und seiner unterschwelligen Einwirkung auf die Bedeutungsstruktur der Gedichte nimmt dabei in gewisser Weise den Begriff der latenten bzw. impliziten Mehr‐ sprachigkeit vorweg, so wie er in der heutigen Forschung benutzt wird. In seinen Analysen weist er insbesondere nach, dass der Dichter Möglichkeiten der hebräischen Wortbildung sowie andere formale Strukturen des Hebräischen in seiner Dichtung ausschöpft, was weiter unten (s. 6.7) im Abschnitt zu den morphologisch-grammatikalischen Analogiebildungen an konkreten Beispielen genauer dargestellt werden soll. Im Kontext seiner Ausführungen zum Hebräischen als eine Art Subtext von Paul Celans Deutsch, die unter anderem auf dem Austausch mit jüdischen Schriftgelehrten wie Rabbi Albert H. Friedländer beruhen, 708 betont Reichert ins‐ besondere die Möglichkeit, gewinnbringend auf die Methode der (Rück-)Über‐ setzung zurückzugreifen: Der Gedanke der Übersetzung - oder Rückübersetzung? - ins Hebräische ist gar nicht so abwegig, wenn man erst einmal entdeckt hat, daß einzelnen Wörter tatsächlich eine zusätzliche Bedeutungsschicht bekommen, nachdem sie in einen hebräischen Kontext gerückt sind. 709 Die Relevanz und Pertinenz dieses Ansatzes kann, wie oben gezeigt, anhand zahlreicher Textstellen nachgewiesen werden. Auf dieser Grundlage wurde die Anwendung der hebräischen Sprachlogik auf die Celan’sche Dichtungssprache im Anschluss an Reichert von der Forschung vertieft und ausgeweitet. Dabei kam es teilweise zu einer Radikalisierung des Verfahrens, die sich zum Teil deutlich von dessen philologischem Ausgangspunkt entfernt. Anhand einiger signifikanter Textbeispiele, deren ›kryptohebräische‹ Lesart zu avancierten, ja gewagten Interpretationen führt, soll diese hochinteressante Problematik im Folgenden näher beleuchtet werden. 364 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="365"?> 710 Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S.-237. 711 Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«, S.-642. 712 Siehe Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-31. Hebraisierende Lektüren Unter Anwendung der von Reichert und späteren Interpreten inspirierten Lek‐ türemethode könnte so beispielsweise angenommen werden, Celans deutsches Wortspiel ›vernichten / ichten‹ aus dem Gedicht »Einmal« (GW II, 107, V. 7-8) im Band Atemwende beruhe auf der hebräischen Wortverwandtschaft der Be‐ zeichnung für ›nichts‹ (ain, ןיא ) mit dem Personalpronomen ›ich‹ (ani, ינא ), das dieselbe Wortwurzel in permutierter Form enthält. Das hier benutzte Verfahren der Permutation knüpft direkt an die kabbalistische Sprachauffassung an und wird in dieser Form explizit bei Scholem erwähnt. 710 Aufgrund der nachweisli‐ chen Scholem-Lektüren Celans im entsprechenden Zeitraum kann davon aus‐ gegangen werden, dass er dieses mystische Wortspiel kannte. Doch würde an dieser Stelle, so muss ergänzt werden, ein deutschsprachiger Rahmen im Grunde ausreichen, um das vorliegende Wortspiel zu erklären, zumal der Dichter selbst darauf hingewiesen zu haben scheint, dass die Form ›ichten‹ als Präteritum des im Grimm’schen Wörterbuch verzeichneten Verbums ›ichen‹ zu begreifen sei (s. NKG, 896). Ein vergleichbarer Fall liegt bei dem ebenfalls im Band Atemwende enthal‐ tenen Gedicht »(Ich kenne dich« (AW, TA 45) vor, dessen Polyphonie bereits weiter oben skizziert wurde. Auch hier hat die Kritik den deutschsprachigen Interpretationsrahmen um einen angenommenen hebräischen Subtext ergänzt, indem über das Wort ›kafuf‹ ( ףופכ ) auf die Identität von »gebeugt« (V. 1) und »untertan« (V. 2) im Hebräischen hingewiesen wurde. 711 Ganz ähnlich wie im vorhergehenden Beispiel erscheint indes die semantische Kohärenz, auf der diese Lesart beruht, bereits im intralingualen deutschen Rahmen gegeben, was den Mehrwert einer Deutung über das Hebräische zu relativieren scheint. Es handelt sich also im vorliegenden Fall offensichtlich nicht um ein »Wort‐ spiel-Rätsel«, 712 das nur im Hebräischen gelöst werden kann. Andere Beispiele belegen allerdings, dass die hebraisierende Lektüre in der Tat einen solchen interpretativen Mehrwert erzeugen kann. So suggeriert etwa Ivanović, dass das Titelwort des Gedichts »Stimmen« (GW I, 147ff.), das leitmotivisch den gesamten Gedichttext durchzieht, über seine hebräische (Rück-)Übersetzung als › לוק ‹ (kol) zu lesen sei. Dieses hebräische Wort für ›Stimme‹ verweise homophon auf ein zweites Substantiv › לוכ ‹ (kol), 6.5 ›Kryptohebräisch‹ 365 <?page no="366"?> 713 Christine Ivanović, »Stimmen«. In: Jürgen Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«, S.-73-108, hier S.-81. 714 Roy Greenwald, »Homophony in Multilingual Jewish Cultures«. Dibur Literary Journal, 1, 2015, S.-43-50. 715 Siehe Andreas B. Kilcher, »Die negative Dialektik des Deutschen: zum Sprachdenken des jungen Gershom Scholem«. In: Stephan Braese/ Daniel Weidner (Hrsg.), Meine Sprache ist Deutsch: Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870-1970. Berlin: Kadmos, 2015, S.-57-79. welches die Idee der Gesamtheit zum Ausdruck bringe. 713 Diese Beziehung zeige demzufolge, dass das Eröffnungsgedicht der Sammlung Sprachgitter nicht zu‐ letzt die Stimme des Allmächtigen anrufe. Als Beleg weist Ivanović darauf hin, dass Celan im Zeitraum der Entstehung dieses Gedichts eine Schallplatte syna‐ gogaler Gesänge mit dem Titel Kol Nidre (= alle Gelübde) an Hanne Lenz ver‐ schenkt habe. Wird diese Auslegung auch nicht direkt durch andere Indizien gestützt, gehören homophone Wortbeziehungen fest zur Tradition der hebräi‐ schen Textexegese und erscheinen im Kontext von Celans Werk als durchaus plausibel. 714 In diesem Fall gründet sich die Interpretation demnach zuvorderst auf das Hebräische. (Rück-)Übersetzungen Naturgemäß haben insbesondere aus der Judaistik kommende Wissenschaftler solche Interpretationsverfahren auf Grundlage des Hebräischen und der kab‐ balistischen Tradition an Celan-Gedichten zu erproben versucht. Dass sich die Ergebnisse dieser Vorgehensweise, wie gezeigt, teilweise mit denen einer klassisch monolingualen Analyse decken, invalidiert dabei nicht die Idee einer Latenz des Hebräischen in den zitierten Gedichtexten. Allerdings haben die eben genannten Beispiele bereits deutlich gemacht, welche große interpretato‐ rische Eigendynamik eine ›Rückübersetzung‹ seiner Gedichte ins Hebräische bekommen kann. Das ›Eintauchen‹ in den hebräischen Subtext führt in be‐ stimmten Fällen bis zur Ablösung der Interpretation von der eigentlichen Textgrundlage, als würde die hebräische Version das deutsche Originalgedicht ersetzen. Der Ansatz einer übersetzerischen Rückführung von Celans-Gedichten in deren vermeintlich ursprünglichen Sprachraum kann sich auf eine lange jüdi‐ sche Tradition berufen, welche die hebräische Sprache in ihrer singulären Beschaffenheit als eigentlichen Raum des jüdischen Geistes ansieht. Während der sogenannten jüdischen Renaissance der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird diese Vorstellung in den Kontext der Moderne überführt. So vertrat der junge Gershom Scholem, dessen Werke Celan bekanntlich intensiv rezipiert hat, 1918 die These: »Das Judentum ist aus seiner Sprache herzuleiten.« 715 366 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="367"?> 716 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Chaim Nachman Bialiks Idee einer erlösenden ›Rückführung‹ sämtlichen jüdischen Schreibens in die hebräische Sprache. Siehe hierzu Sebastian Schirrmeister: Begegnung auf fremder Erde. Verschränkungen deutsch- und hebräischsprachiger Literatur in Palästina/ Israel nach 1933. Stuttgart: Metzler, 2019, S.-56-58. 717 Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«, S.-640. Woraus sich dann im Umkehrschluss ableiten lässt, dass das jüdische Welterbe ins Hebräische (zurück) zu übersetzen sei. 716 Einige Interpreten haben rund ein halbes Jahrhundert später versucht, dieses Paradigma auf die Celan-Lektüre zu übertragen - mit gemischten Ergebnissen. Eine besonders eindrückliche Veranschaulichung dieses Ansatzes liefern Eli‐ sabeth Petuchowskis Gedichtinterpretationen, die trotz ihrer Augen öffnenden Rolle für die Celan-Forschung letztlich auch die Grenzen einer Lektüre dieser deutschen Texte über das Hebräische deutlich machen. So begnügt sich Petu‐ chowski nicht mit dem Nachweis lexikalischer oder morphologischer Transfe‐ renzen des Hebräischen im Deutschen. Vielmehr macht sie das Hebräische gleichsam zum eigentlichen sprachlichen Motor des Gedichteschreibens bei Celan - und zwar ab dem Frühwerk. Anders als das Gros der restlichen Forschung geht sie nämlich in ihren Analysen davon aus, dass die Präsenz eines hebräischen Substrats nicht erst in den späten Gedichten der 1960er-Jahre zu belegen ist, sondern sich schon in den frühen, ja frühesten Texten Celans nachweisen lässt. Ein besonders anschauliches Beispiel für Petuchowkis Praxis der jüdisch-he‐ bräischen Lesart ist ihr Vorschlag, den Beginn von »Todesfuge« (GW I, 41 f.) ins Hebräische zu übersetzen, um dann im Medium dieser Sprache die dem Text zugrunde liegende Wortspiel-Matrix darzustellen. Wie sie zeigt, besitzen die Wörter ›schwarz‹ ( רוחש ) und ›Frühe‹ ( רחש ) im Hebräischen annähernd dieselbe Wortwurzel, sodass der Gedichtanfang »Schwarze Milch der Frühe« über diese Sprache mit einer großen klanglichen Harmonie ausgestattet wird. »Chalav schachor shel ha-shachar«, lauten so die ersten Worte des Gedichts auf Hebrä‐ isch. 717 Petuchowskis translatorische Vorgehensweise scheint dabei letztlich zu suggerieren, es handele sich bei der hebräischen Fassung um den ›Urtext‹ des Gedichts. Zugespitzt formuliert wird das berühmteste deutsche Gedicht des 20.-Jahrhunderts hier implizit als krypothebräischer Text präsentiert. In ähnlicher Weise interpretiert Petuchowski den enigmatisch wirkenden Ausdruck »lebendige[s] Holz« im Gedicht »Halbe Nacht« (GW I, 17, V. 4) aus dem Band Mohn und Gedächtnis. Diesen betrachtet sie nämlich als freie Über‐ setzung einer Stelle aus dem hebräischen Buch der Sprichwörter bzw. Sprüche 6.5 ›Kryptohebräisch‹ 367 <?page no="368"?> 718 Petuchowski, »A New Approach to Paul Celan’s ›Argumentum e Silentio‹«, S.-115. 719 Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«, S.-644f. 720 Siehe auch Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum, S.-122. (Mischle 3,18). Das Bild vom ›lebendigen‹ Holz gehe, so ihre Ausführungen, auf das dort zentrale Konzept vom »Baum des Lebens / ez haChajim / ץע םייחה « zurück. Die für deutsche Interpreten allgemein schwierig zu deutende Gedicht‐ stelle scheint durch den Rückgriff auf den hebräischen Bibeltext plötzlich relativ eindeutig in der jüdischen Symbolik verortbar. 718 So kann sich der Eindruck einstellen, die hebraisierende Lesart halte genau den passenden Schlüssel für die Interpretation bereit. Bei anderen Gedichten wendet Petuchowski diesen Ansatz auf noch radika‐ lere Weise an, indem sie mit der Methode der kabbalistischen Kombinatorik arbeitet. Im Anschluss an eine Transposition des Celan-Textes ins Hebräische stellt sie die Buchstaben in den Wurzelstämmen der hebräischen Wörter mittels Kombination und Permutation um, wodurch ganz neue Bedeutungen gewonnen werden. Die Lektüre löst sich dabei allmählich von der deutschen Textgrundlage, so dass sie sich schließlich ganz auf die als eigentlichen ›Urtext‹ angesehene hebräische Übersetzung konzentriert. Gleichzeitig sucht die Interpretin in umgekehrter Richtung nach möglichen Anknüpfungspunkten im Ausgangstext, indem sie die im Hebräischen gefundenen Ergebnisse auf das Deutsche Celans zurückprojiziert. Aufgrund der schier unbegrenzten Möglichkeiten, die eine solche Verfahrensweise eröffnet, stellen sich solche Verbindungen natürlich leicht her. 719 Die implizite Grundannahme einer solchen Lesart lautet mithin, dass Celan bei der Verwendung des Deutschen von einer hebräischen Sprach‐ logik geleitet wird, die dank geeigneter (kabbalistischer) Methoden sichtbar gemacht werden kann. Das wahrscheinlich anspruchsvollste und komplexeste Beispiel für eine solche interpretatorische Hebraisierung von Celans Deutsch 720 liefert Petu‐ chowskis Deutung des Gedichts »Mit wechselndem Schlüssel« (GW-I, 112) aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle. In diesem Text meint die Interpretin eine Poetik des Sprachwechsels zu erkennen, was im Zusammenhang der vorlie‐ genden Studie natürlich als besonders relevant erscheint. In ihrer Interpretation schlägt Petuchowski zunächst eine Brücke vom Deutschen ›wechseln‹ zum he‐ bräischen Äquivalent ›he-chelif‹ ( ףילחה ), um dann über eine Konsonantenver‐ wandtschaft mit dem Französischen ›clef‹ (Schlüssel) zurück zum Deutschen ›Schlüssel‹ zu gelangen: 368 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="369"?> The Hebrew for wechseln, he-chelif, has root letters ch-l-f. Clef is the French word for Schlüssel, i.e. the same consonants as the root letters of the Hebrew for wechseln. […] Schlüssel changes (h-ch-l-f) to clef. The German/ French/ Hebrew Wortspiel indicates the subject matter of the poem: change of language. Mit anderen Worten liegt der Ausgangspunkt des Gedichts laut Petuchowski in der hebräischen Wortwurzel ›ch-l-f‹, durch die das Deutsche translatorisch mit dem Französischen verbunden wird, wobei sich letztlich eine Art sprachliches Dreieck herausbildet. Diese translinguale Interpretation von »Mit wechselndem Schlüssel« ist ebenso atemberaubend wie fragwürdig. Allein schon wegen der Verwendung der bereits zu Celans Lebzeiten latent veralteten Form ›clef‹ (anstatt von ›clé‹) wirft der Ansatz Fragen auf. Denn der im französischen Wort stumme F-Kon‐ sonant ist zwar für Petuchowskis Lesart, nicht jedoch für das angenommene französische Substrat von ›Schlüssel‹ unverzichtbar. Auch die Wahl von › ףילחה ‹ (= hat ersetzt) und seiner Wortwurzel erscheint in Anbetracht alterna‐ tiver Übersetzungsmöglichkeiten als nicht unbedingt stringent. Das dreispra‐ chige Netz, das hier geknüpft wird, wirkt mithin wie eine Tour de Force, selbst wenn die daraus gezogene metamultilinguale Schlussfolgerung, wonach Celans Dichtung sich erst mit wechselndem ›Sprachschlüssel‹ wirklich erschließt, überaus reizvoll erscheint. Sprachmystische Interpretationen Sobald die Sprache der Gedichte Celans über das Hebräische gedacht wird, kommen Lektüremethoden zur Anwendung, die in der jüdischen Tradition seit Jahrtausenden auf Basis der Thora produktiv am Werk sind. Die Extrapo‐ lation dieser Verfahrensweisen auf deutschsprachige Texte sprengt allerdings schnell den Rahmen der herkömmlichen Interpretationspraxis in Germanistik und Komparatistik. Dabei stellt sich heraus, dass Literaturwissenschaft und kabbalistische Hermeneutik nur begrenzt miteinander vereinbar sind. Zum interpretativen Arsenal hebraisierender Lesarten von Cleans Lyrik gehören nicht zuletzt zahlenmystische Methoden, wie sie unter anderem Fußl in ihrer Studie zusammengestellt hat. Die numerologische Perspektive beruht auf dem Umstand, dass Buchstaben und Zahlenzeichen in der hebräischen Sprache identisch sind. Davon ausgehend versucht Fußl in ihrem Ansatz zu zeigen, dass es in Celans Lyrik in manchen Fällen aufschlussreich ist, Sätze, Verse, Strophen, Wörter und Interpunktions‐ zeichen zu zählen, um sie im Lichte der Kabbala zu interpretieren: »Celans spezifischer Umgang mit Sprache vor dem Hintergrund der kabbalistischen Tradition lässt sich […] an zahlenmystischen Konstruktionen mit symbolischer 6.5 ›Kryptohebräisch‹ 369 <?page no="370"?> 721 Siehe Fußl, Hebräische Intertextualität und mystische Weltanschauung, S.-8. 722 Siehe ebd., S.-83ff. 723 Siehe ebd., S.-53. 724 Siehe u. a. Yoko Tawada, »Rabbi Löw und 27 Punkte. Physiognomie der Interpunktion bei Paul Celan«. In: Dies., Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Tübingen: Konkursbuch‐ verlag, 2007, S.-38-44. 725 Siehe Kuhnle, »Kabbala und Literaturtheorie«. 726 Schlesak, »Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie«, S.-351. Bedeutung in den Gedichten aufzeigen.« 721 Indem Fußl nach verschiedenen Methoden Zahlen, Verse und Wörter zählt oder miteinander verrechnet, gelingt es ihr in der Tat, die im Judentum (aber auch im Christentum) symbolisch gewichtige Zahl sieben, 722 sowie andere bedeutsame Zahlen (eins, dreizehn, siebzehn usw.) in den Texten zu entdecken. 723 Die japanisch-deutsche Autorin Yoko Tawada, auf deren Celan-Interpretationen am Ende der Studie zurückzu‐ kommen sein wird (s. 7.2), hat ebenfalls sprachmystische Methoden praktiziert, wobei sie jüdische Quellen mit fernöstlichen überkreuzt. 724 In Anbetracht des Grundprinzips unendlicher Semiose, auf dem die jüdische Sprachmystik beruht, 725 können auf diese Weise natürlich von den Interpreten alle möglichen Arten von Korrespondenzen und Bezügen aufgezeigt werden. So schließt beispielsweise Schlesak in Bezug auf »Todesfuge« (GW I, 41 f.) von der hebräischen Wortwurzel-Verwandtschaft zwischen ›Milch‹ und ›Fett‹ auf eine Verbindung zur - inzwischen historisch widerlegten - These der Seifenherstellung aus der Asche verbrannter Juden. 726 In solchen Fällen stellt sich für viele Literaturwissenschaftler die berechtigte Frage, ob nicht die Grenze zur Überinterpretation überschritten wird. Andererseits zeigt ein Gedicht wie »Kleide die Worthöhlen aus« (GW II, 198) mit seinen exakt 32 Wörtern und seiner evidenten Verbindung zu den Lehren der Kabbala, dass Zahlen und Summen samt ihrer Symbolik und Korrespondenzen in dieser Dichtung nicht bloß dem Zufall geschuldet sein können. Auch eine philologisch so strenge Kommentatorin wie Wiedemann hat an‐ hand des um 1944 entstandenen Frühwerk-Gedichts »Die Schwelle des Traumes« (GW VI, 146) aufgezeigt, dass Celan von Anbeginn in bestimmten Texten Zahlen in Wörter übersetzt und damit auf jüdische Quellen und Tradi‐ tionen verweist (NKG, 666). Eine solche Chiffrierung lässt sich auch in späteren Texten beobachten. Die Buchstaben bzw. Zahlenwerte »Aleph und Jud«, die im Gedicht »Hüttenfenster« (GW I, 278 f., V. 38) aus dem Band Die Niemandsrose auftauchen, können auf diese Weise als versteckte Anspielungen auf den Namen ›Eretz Israel‹ ( ץרא לארשי ) gelesen werden, dessen Wortbestandteile mit diesen beiden Buchstaben ( י״א ) beginnen (s. NKG, 831). 370 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="371"?> 727 Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum, S.-69 (Hervorhebung in der Quelle). Zusammenfassend gesagt beruhen die hier knapp nachgezeichneten Lesarten und Interpretationen auf der These, »daß Celan selbst dort, wo es nicht mehr sichtbar ist, seiner jüdischen Herkunft als Schriftsteller eingedenk bleibt«. 727 Das gilt für die untergründige Zahlensymbolik nicht anders als für die latente Präsenz des Hebräischen. Trotz der nicht zu vernachlässigenden Frage nach der sprachlich-textuellen Fundierung solcher Deutungen sind die meisten der oben dargestellten translatorischen und translingualen Relationen keineswegs ein‐ fach von der Hand zu weisen. So wird hier eine Schnittmenge sichtbar zwischen produktionsästhetisch-philologisch fundierten Deutungen und produktiv-krea‐ tiven Rezeptionsprozessen von Celans multilingualen Schreibweisen, wovon weiter unten (s. Kap. 7) noch die Rede sein wird. Zwischen (oder neben) diesen beiden Polen von Philologie und Kreativität situiert sich die auf psycho‐ analytische Interpretationsansätze (insbesondere auf Freuds Traumdeutung) zurückgehende Vorstellung von unbewusst vom Autor kreierten Assoziationen - im vorliegenden Fall also das unwillkürliche ›Mitsprechen‹ anderer Sprachen in Celans Schreiben, unabhängig vom Kriterium der Intentionalität. Diese Perspektive kommt ebenfalls bei der nun folgenden Kategorie textinterner Mehrsprachigkeit zum Tragen. 6.6 Translinguale Homonymie Von den Inhaltszu den Formaspekten Bisher wurde latente Mehrsprachigkeit in den vorgelegten Analysen vorwie‐ gend von der Inhaltsseite her betrachtet. Die Verbindungen von Sprache zu Sprache wurden dabei auf der Ebene der Signifikate analysiert. Es handelt sich, vereinfacht gesagt, um miteinander verwandte oder verbundene Inhalte in unterschiedlichen Sprachen, die auf diese Weise im poetischen Sprechen kopräsent gemacht werden. Im Raum zwischen den Sprachen erschließt sich so ein polysemes Bedeutungsnetz. Neue Bezüge werden sichtbar und bestehende Sinnzusammenhänge verstärkt. Doch wie schon das Phänomen des impliziten Bilingualismus gezeigt hat, spielen gerade Formaspekte bei diesen Prozessen eine herausragende Rolle. In diesem Fall gehorchen die translingualen Verbin‐ dungen primär der Logik der Signifikate. Über die translatorische Basislogik hinaus, welche sich (hauptsächlich) an der Bedeutung orientiert, kommt es bei solchen ›Experimenten‹ mit sprachlichen Formaspekten vermehrt zu transfor‐ mativen und kreativ-produktiven Prozessen. 6.6 Translinguale Homonymie 371 <?page no="372"?> 728 Menninghaus, Winfried: Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980. Die von Menninghaus - im Anschluss an die Benjamin’sche Sprachphiloso‐ phie - stark gemachte Vorstellung von einer »Magie der Form« 728 in Celans Dichtung, so könnte man unter dem Blickwinkel der vorliegenden Studie ergänzen, verdankt sich nicht zuletzt mehrsprachigen Techniken. Zur Vervoll‐ ständigung des systematisch-typologischen Teils dieser Studie soll daher nun die latente Präsenz anderer Sprachen in den Texten unter rein formalen Ge‐ sichtspunkten erörtert werden. Selbstredend wird damit keineswegs behauptet, die Bedeutungs- und die Formebene der Gedichte ließen sich strikt voneinander unterscheiden. Es geht lediglich um eine heuristische Trennung in verschiedene Analyseebenen zum besseren Verständnis der Funktionsweise von Celans translingualer Poetik. Ähnlich wie in der klassischen Rhetorik, welche bekannt‐ lich zwischen Tropen und Figuren unterscheidet, kann man an dieser Stelle gewinnbringend trennen zwischen Verfahren, die von der Semantik ausgehen, und solchen, die beispielsweise auf phonetischer und graphemischer Ebene agieren. Auf der formbezogenen Ebene besteht ein erster Typ mehrsprachiger Schreib‐ verfahren aus den translingualen Homonymen. Der Terminus ›translinguale Homonyme‹ vereint in sich die beiden üblichen Teilkategorien ›Homographie‹ und ›Homophonie‹, wobei diese von einem einsprachigen in einen mehrspra‐ chigen Rahmen übertragen werden. Es handelt sich pointiert ausgedrückt um Wörter, die in verschiedenen Sprachen (annähernd) gleich geschrieben oder aus‐ gesprochen werden, dabei aber divergente Bedeutungen haben. Generell lässt sich Homonymie als Figur in Celans Dichtung an vielen Stellen nachweisen. Und natürlich verwendet Celan diese Technik in seinem Werk ebenfalls im einsprachigen Modus. Das belegt unter anderem ein Gedichttitel wie »Hier« (GW I, 113) aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle. Wie es der Wortlaut des Gedichts suggeriert, in dem unter anderem auf die »Kirschblüte« (V. 1) und eine »Wolke« (V. 16) verwiesen wird, muss aus dem Gedichttitel »Hier« der Name der Stadt Hiroshima ›herausgehört‹ werden. Die implizite Präsenz des japanischen Namens, in Form der phonetischen Transliteration (»Hier«) eines Teils des originellen Toponyms ( 広島 ), wirft allerdings die Frage auf, ob es sich hierbei nicht bereits um eine translinguale Relation handelt (s. auch 5.4). Eine wichtige Besonderheit translingualer Homonyme besteht darin, dass die betreffenden Wörter eine mehrfache Sprachigkeit besitzen, also gleichsam mehreren Sprachen zugleich zugeordnet werden können. In der Interlinguistik und im Sprachunterricht wird eine solche, zu Überlagerungen oder Verwechs‐ lungen führende Nähe von Wörtern aus unterschiedlichen Sprachen allgemein 372 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="373"?> 729 Uljana Wolf, falsche freunde. Gedichte. Berlin: kookbooks, 2009; Dies., »In die Karten geschaut«. In: Dies., Etymologischer Gossip, S.-98-100, hier S.-98. 730 Siehe Volker Langbehn, »The Etym Theory«. In: Ders., Arno Schmidt’s »Zettel’s Traum«: An Analysis. Woodbridge: Boydell & Brewer, 2003, S. 94-119. Ebenfalls erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Abrahams und Toroks Studie zur Sprache von Freuds ›Wolfsmann‹: Nicolas Abraham / Maria Torok, Cryptonymie, le Verbier de l'Homme aux loups. Paris: Aubier-Flammarion, 1976. unter der Bezeichnung ›Falsche Freunde‹ geführt. Im Gegensatz zur poetischen und poetologischen Verwendung dieses Konzepts - wie etwa bei der mehrspra‐ chigen Lyrikerin Uljana Wolf 729 - wird damit jedoch meist die Vorstellung von Sprachfehlern aufgerufen. Um diese im vorliegenden Rahmen unerwünschten, normativ-pädagogischen Konnotationen zu vermeiden, kann alternativ von translingualen Paronomasien gesprochen werden. Durch den Begriff ›Parono‐ masie‹ wird die homophone Analogiebeziehung in das traditionelle Vokabular der Rhetorik übertragen. Dabei kann diese Figur in Celans Lyrik an vielen Stellen in ihrer einsprachigen (Grund-)Form beobachtet werden, wie etwa die Nähe von ›wahr‹ und ›war‹ (=sein) im Incipit-Titel des Gedichts »Wir, die wie der Strandhafer Wahren« (GW III, 98) zeigt. Auffallend ist aber vor allen Dingen die Art und Weise, wie Celan in seinem Werk die für die Gattung Lyrik literaturgeschichtlich so zentrale Figur der Paronomasie auf Mehrsprachigkeit hin erweitert hat. Im Fall von Homonymie und Paronomasie translingualer Art werden also Wörter über ihre Klangbzw. Schriftaspekte miteinander verbunden, die nicht zum selben Sprachsystem gehören. Die deutschen bzw. als deutsch wahrgenom‐ menen Lexeme bekommen gleichsam zusätzliche exophone Aspekte. Mittels seiner graphischen bzw. phonetischen Gestalt ruft ein Lexem in einem Gedicht ein oder mehrere Wörter in anderen Sprachen auf. Unabhängig von den Bedeutungsrelationen macht allein die Form die betreffende Stelle mehrsprachig lesbar. Im Anschluss an psychoanalytische Ansätze - und speziell an Arno Schmidts Etym-Theorie 730 - könnte die Hypothese aufgestellt werden, es han‐ dele sich hierbei nicht unbedingt um Produkte der Autorintention, sondern um unbewusst ›Mitgenanntes‹, das gegebenenfalls erst vom Interpreten als solches erkannt wird. In der Tat kann gefragt werden, inwiefern sich Celans Logik der »Vielstelligkeit des Ausdrucks« (GW III, 167) als reines Kalkül auffassen lässt. Ein Beispiel wie »Matière de Bretagne« aus Sprachgitter (s.-5.7) scheint nahezulegen, dass der Schreibakt von der Intentionalität unabhängige Assoziationen produzieren kann. Als verwandtes Sprachmittel mit einbezogen wird an dieser Stelle die Figur der Metathese. Diese liegt dann vor, wenn die formale Analogie zwischen 6.6 Translinguale Homonymie 373 <?page no="374"?> 731 Jean Starobinski, Les Mots sous les mots. Les Anagrammes de Ferdinand de Saussure, Paris: Gallimard, 1971. 732 Perels, »Erhellende Metathesen«, S.-130. 733 Weitere bekannte Beispiele für Metathesen im weitesten Sinne sind - neben dem Künstlernamen Ancel-Celan - die Beziehung von ›Gras‹ und ›Sarg‹ in »Engführung« Wörtern aus verschiedenen Sprachen auf einer ihr vorausgehenden Verände‐ rung des Schriftbildes (und damit Lautbildes) beruht. In diesen Fällen setzt das Phänomen der translingualen Homonymie sozusagen den Einsatz der Metathese voraus. Unter Verweis auf Jean Starobinskis Anagramm-Theorie, 731 welche auf Ferdinand de Saussure zurückgeht und ebenfalls psychoanalytisch geprägt ist, kann hier erneut suggeriert werden, dass die möglichen Assoziationen im Akt des Lesens nicht alle unbedingt bewusst vom Autor im Schreibakt vorausgeplant wurden. Ähnlich wie die Metathese besteht das von Starobinskis behandelte Anagramm in einer (potentiellen) Umstellung der Buchstabenbzw. Lautfolge in den Wörtern. Und wie der Genfer Literaturwissenschaftler in seiner Untersuchung zeigt, können solche Verfahren jenseits der Autorenintention eine äußerst produktive Eigenlogik in literarischen Texten entwickeln. Wie so häufig lässt sich die Grenze zwischen Intention und Rezeption - bzw. zwischen philologischer Rationalität und assoziativer Auslegung - hier nicht eindeutig festlegen. Bei den Metathesen handelt es sich wie bei den Homonymen um formale Mittel, die in Celans Lyrik häufig anzutreffen sind - unabhängig von der Frage des Multilingualismus. In einem grundlegenden Aufsatz fasst Perels dieses Ver‐ fahren wie folgt zusammen: »Virtuos spielt Celan mit den kleinsten sprachlichen Elementen, sie werden phonetisch, graphisch, semantisch, metrisch, als Zitat und als Bild in den Kunstzusammenhang eingebracht, ja, sie konstituieren ihn allererst.« 732 Wichtige (monolinguale) Beispiele hierfür liefern die Titel »Mit erdwärts gesungenen Masten« (GW II, 20), wo gleichzeitig ›gesunken‹ herauszuhören ist, sowie »Wege im Schatten-Gebräch« (GW II, 18), was natür‐ lich an ›Gespräch‹ denken lässt. Das Adjektiv »rauchdünn« aus »Chymisch« (GW I, 227 f., V. 29) ist seinerseits an ›hauchdünn‹ angelehnt, während in dem Kompositum »Morgen-Lot« aus »Mit den Verfolgten« (GW II, 25, V. 5) das ›Morgenrot‹ anklingt. Stellen wie »Mantelaug, Mandelaug« aus »Schaufäden, Sinnfäden« (GW II, 88, V. 7) oder der Titel »Bei Glüh- und Mühwein« (GW II, 172), in welchem durch das Mittel der Reihung die Metathese dem Leser direkt vor Augen geführt wird, liefern hierfür geradezu eine Lektüreanweisung. Die Produktivität homonymer Verfahren, sei es in Form unmittelbarer mime‐ tischer Klang- und Schrift-Analogien oder in Form metathetischer Transforma‐ tionen, ist in Celans Schreiben insgesamt enorm. 733 Im Folgenden werden solche 374 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="375"?> (GW I, 195, V. 4), von ›Augen‹ und ›Auen‹ in »Benedicta« (GW I, 249, V. 15+16), von ›Not‹ und ›Ton‹ in »Weil du den Notscherben fandst« (GW II, 204, Titel+V. 7) sowie - etwas weniger offensichtlich - von ›Erde‹ und ›Rede‹ in »Mit der Stimme der Feldmaus« (GW II, 343, V. 10). Auch der Titel des Prosatextes »Eine Lanze«, eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Maler Edgar Jené aus dem Jahr 1948, fällt darunter, denn dieser Titel beruht auf einer anagrammatischen Verwandlung der beiden Auto‐ rennamen (›eJ-né lan-Ce‹). Siehe hierzu u. a. Sandro Zanetti, Celans Lanzen: Entwürfe, Spitzen, Wortkörper. Zürich: Diaphanes, 2020. formale Verfahren selbstredend zuvorderst unter mehrsprachigen Gesichts‐ punkten betrachtet. Nach der Behandlung der translingualen Paronomasien sollen neben morphologisch-grammatikalischen und syntaktisch-prosodischen Aspekten auch die bereits von Perels erwähnten metrischen Aspekte Berück‐ sichtigung finden (s. 6.7-6.8). Dabei wird - wie in allen Abschnitten zur latenten Mehrsprachigkeit - erneut das lyrische Œuvre im Vordergrund stehen. Doch auch der Prosa- und Briefschreiber Celan veranschaulicht immer wieder, wie sehr solche Wortspiele zu seinem Sprachhabitus gehören. So benutzt er beispielsweise in einem Brief an Friedrich Michael aus dem Jahr 1960 folgende originelle deutsch-französische Paronomasie: »Mein Sohn spielt oft mit Ihrem Baukasten. Es ist ein ›Baufix‹ - wir sprechen das ›beau fixe‹ [= frz. für ›stabile Schönwetterlage‹] aus und haben dann, in entsprechender Entfernung von den Wettermachern der zeitgenössischen Lyrik, das schönste Wetter« (Briefe, 429). Bei solchen Phänomenen ergibt sich nicht zuletzt - wie generell bei den sprachspielerischen Aspekten des lyrischen Hauptwerks - eine enge Verbindung zur »belle saison des calembours« der Bukarester Zeit, von der oben ausführlich die Rede war (s.-4.4.1). Translinguale Paronomasien Die ›berühmteste‹ - da immer wieder in der Forschung zitierte - translin‐ guale Paronomasie in Celans Werk befindet sich in dem 1959 entstandenen Gedicht »Bei Wein und Verlorenheit« (GW I, 213). Die gleich nach dem Titel auftauchende ›doppelte‹ »Neige« (»Bei Wein und Verlorenheit, bei / beider Neige«, V. 1-2) geht zweifelsohne auf die Homonymie von deutsch ›Neige‹ und französisch ›neige‹ (= Schnee) zurück. Die Stelle wurde auf jeden Fall schon früh von Kritik und Forschung in diese Richtung gelesen, zumal das Wort ›Schnee‹ in der darauffolgenden Verszeile auftaucht: »ich ritt durch den Schnee« (V. 3). Wie ebenfalls angemerkt wurde, kann ›Neige‹ sogar dreifach gelesen werden, weil sich über das »Gewieher« am Gedichtende (V. 26) eine graphische Nähe zu englisch ›neigh‹ (=Wiehern) ergibt. Über den Topos des Wieherns kommt im Gedicht ebenfalls die metasprachliche Ebene mit ins Spiel (s. 3.1.3). Insgesamt 6.6 Translinguale Homonymie 375 <?page no="376"?> 734 Petuchowski, »Bilingual and Multilingual ›Wortspiele‹ in the Poetry of Paul Celan«, S.-641. 735 Greenwald, »Homophony in Multilingual Jewish Cultures«. verdichtet sich so im Verfahren der translingualen Paronomasie ein beachtlicher Teil der Metaphorik des Gedichttextes (Neige, Schnee, Reiten, Wiehern usw.). Auf Grundlage von »Bei Wein und Verlorenheit« entwickelte sich die trans‐ linguale Paronomasie in der Forschung (selbst wenn sie dort nicht immer als solche bezeichnet wurde) zu einer Figur, deren Präsenz man in vielen Celan-Ge‐ dichten nachzuweisen versuchte. Schon Ende der 1970er Jahre hatte sie Petu‐ chowski unter der Bezeichnung ›mehrsprachiges Wortspiel‹ in ihren kabbalis‐ tisch beeinflussten Deutungen der frühen Texte des Dichters zu entdecken gemeint. Im Gedicht »Aus Herzen und Hirnen« (GW I, 70) aus Celans erstem autorisierten Band Mohn und Gedächtnis schlägt die amerikanische Germanistin beispielsweise vor, das im Gedicht mehrmals vorkommende Wort »Halme« (V. 2, 23+24) ins Hebräische (zurück) zu übersetzten. 734 Ihr Vorschlag, ›Halm‹ durch das seltene Wort › ןסנס ‹ (sansin = Zweig) zu übersetzen, erklärt sich dabei primär aus der phonetischen Verwandtschaft zwischen hebräisch ›sansin‹ und deutsch ›Sensen‹. Auf diese Weise wird ›Sensen‹ als translinguale Paronomasie deutbar. Dafür spricht, dass sich die beiden Nomina im Gedicht direkt aufeinander be‐ ziehen: »Aus Herzen und Hirnen / sprießen die Halme der Nacht, / und ein Wort, von Sensen gesprochen, neigt sie ins Leben.« Ähnlich wie in »Bei Wein und Verlorenheit« suggeriert so die unmittelbare Nähe von ›Halm‹ und ›Sense‹ im Gedicht - auf lexikalischer wie auf syntaktischer Ebene - die Präsenz einer deutsch-hebräischen Klangverwandtschaft. An dieser Stelle kann angemerkt werden, dass Homophonie in den durch Mehrsprachigkeit geprägten jüdischen Kulturen seit jeher eine herausragende Rolle spielt, wie es Greenwald ausführlich dargestellt hat. 735 Aus diesem Grund bietet sich dieser historisch-kulturelle Kontext - neben der Traditionslinie der sprachexperimentellen Moderne - als privilegierter Anknüpfungspunkt für Celans Poetik der translinguale Paronomasie an. Überhaupt stellt sich das Hebräische auf dem Feld der Homonymie als äußerst produktiv heraus, was translinguale Phänomene in Celans Schreiben angeht, wie es auch andere Beispiele belegen. In diesem Sinne weist Wiedemann beispielsweise auf die lautliche Nähe zwi‐ schen der Interjektion ›hei‹ im Gedicht »Spasmen« (GW-II, 122, V.-6) und dem hebräischen Wort für ›lebendig‹ (יח) hin (NKG, 908). Dabei beruft sie sich auf den ›Präzedenzfall‹ des bereits erwähnten Frühwerk-Gedichts »Die Schwelle des Traumes« (GW VI, 146). Wenn man ›hei‹ als phonetische Transkription aus 376 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="377"?> 736 Werner, Textgräber, S.-171f. 737 Vgl. Barbara Hahn, Die Jüdin Pallas Athene. S.-11. dem Hebräischen betrachtet ( יח - ħaj = lebendig), würde dieses im Deutschen eher unscheinbare Wort beinahe in den Bereich der manifesten Mehrsprachig‐ keit gehören, wie es bereits ähnlich bei »Hier« (GW I, 113, Titel) als Verweis auf das japanische Hiroshima ( 広島) der Fall war. In einem anderen Zusammenhang weist Werner ihrerseits darauf hin, dass der schon innerhalb des Deutschen stark homonyme Titel des Gedichts »Tau« (GW-II, 191) eine Beziehung zum Hebräi‐ schen unterhält. Über die christliche Kreuzsymbolik (»der Herr brach das Brot«, V. 6) verweist dieser Text nämlich auf den Buchstaben ›t‹ in gleich drei verschiedenen Alphabeten: deutsch ›T‹, griechisch ›Tau‹ (τ) und hebräisch ›Taw‹ ( ת ). 736 Mittels der homophonen Verwandtschaft dieser verschiedenen Buchstaben wird somit im Gedicht ein Band (= Tau) zwischen nicht weniger als drei Sprach- und Kulturkreisen gespannt. Auch Celans Verwendung des Anfangswortes »Aschrej« aus dem gleichna‐ migen jüdischen Gebetsritus (»Glücklich sind, die in Deinem Haus wohnen …«) könnte homophon gelesen werden. Die Vieldeutigkeit dieses Wortes, das im Gedicht »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154) auftaucht, wurde bereits im Kapitel zur manifesten Sprachmischung erwähnt (s. 5.7). An dieser Stelle soll nun die formal-klangliche Ebene hinzugenommen werden. In dieser Hinsicht fällt zunächst die Nähe des hebräischen Wortes »Aschrej« (V. 9) zu deutsch ›Asche‹ auf, eine Assoziation, die sich im Kontext von Celans Dichtung freilich nahezu aufdrängt. Wird »Aschrej« als oberdeutsch-dialektal, ja jiddisch eingefärbte Varietät vorgestellt, so kann es darüber hinaus im Sinne von »ein Schrei« verstanden werden. 737 Hinter dem Gesang des Glaubensbekenntnisses würde so ein instinktiver Aufschrei - angesichts von Mord, Leiden und Schmerz - hörbar. Dieser assoziative Zugang kann sich auf den unmittelbar folgenden Vers »ein Wort ohne Sinn« (V. 10) sowie auf den polemisch-aggressiven Grundton des Gedichts stützen. Als unartikuliert ausgestoßener Laut entspräche der homophone herausgehörte ›Schrei‹ dann diesem performativen »Wort ohne Sinn«, bei dem also der Klang gegenüber der Bedeutung dominiert. In den gerade zitierten Beispielen wurden translinguale Homonymien als eine höchst produktive Schreibtechnik in Celans Gedichten sichtbar. Dies erklärt, warum sich nicht nur sprachmystisch beeinflusste und besonders ›phan‐ tasiereiche‹ Interpreten, sondern auch die Herausgeber der überaus seriösen historisch-kritischen Werkausgabe früh damit auseinandergesetzt haben. In einem textgenetisch konzipierten Aufsatz aus dem Jahr 1981 weisen so Beda Allemann und Rolf Bücher bei ihrem Kommentar des Gedichts »Du sei wie 6.6 Translinguale Homonymie 377 <?page no="378"?> 738 Beda Allemann/ Rolf Bücher, »Textgenese als Thematisierung und Fixierungsprozeß. Zum Entwurf von Paul Celans Gedicht ›Du sei wie du‹«. In: Louis Hay/ Winfried Woesler (Hrsg.), Edition und Interpretation. Édition et interpréation des manuscripts littéraires. Bern-Frankfurt-a.-M.: Peter Lang, 1981, S.-176-181, hier S.-178. du« (GW II, 327) auf die klangliche Nähe zwischen »[Finster-]Lisene« (= schmaler, nur leicht hervortretender vertikaler Streifen auf einer Außenwand, V. 9) und dem französischen ›lisière‹ (im Sinne des ›Grenzrands‹ zwischen Licht und Finsternis, z. B. zwischen Wald und Lichtung) hin. 738 Tatsächlich sind ›Lisene‹ und ›lisière‹ etymologisch miteinander verwandt. Dem im fran‐ zösischen Sprachraum lebenden Paul Celan muss die Assoziation bewusst gewesen sein. Vor allem aber fügt sich diese Klangverwandtschaft perfekt in die Lichtmetaphorik des Gedichts ein. Die lautliche Nähe von ›Lisene‹ und ›Linse‹ innerhalb der deutschen Sprache untermauert diesen Sinnzusammenhang. Komplexe homonyme Analogien Translinguale Formanalogien wie die Homonymie werden freilich immer dann als Lesart besonders plausibel, wenn sie, wie im eben genannten Beispiel, zusätzlich eine inhaltliche Entsprechung besitzen. An einigen Stellen werden durch dieses Zusammenspiel von Inhalt und Form (noch) komplexere Formen von homonymer Analogie in den Texten erkennbar. Sinnfällig wird dies bei‐ spielsweise in dem weiter oben analysierten Gedicht »Kleide die Worthöhlen aus« (GW II, 198, s. 3.3), wo Wörter wie »fellhin« und »parietal« dank der gleichsam mitgelieferten ›Lektüreanleitung‹ als latent mehrsprachig erkennbar wurden. Dabei kann wie im Fall von ›fell / llef / lev‹ beobachtet werden, wie das Wortmaterial zum Teil formal umgestaltet und einzelne Teile aus den Wörtern herausgelöst werden (s. 3.3.2). Für solch komplexe Formen von Homonymie, die in einigen Fällen als ›komposit‹ bezeichnet werden können, gibt es in Celans zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichten eine Reihe von Beispielen. Gemeinsam ist ihnen, dass dabei die klanglich-graphische Analogiebildung mit anderen inhaltlichen und formalen Elementen verknüpft wird. Wie allgemein in diesem Kapitel schließt dabei die als latent bezeichnete Ko-Präsenz mehrerer Sprachen keineswegs das gleichzeitige Vorhandensein manifester Mehrsprachigkeit aus. Ein mit »Kleide die Worthöhlen aus« eng verwandtes Beispiel für eine solche komplexe Form von Homonymie liefert der Pflanzenname ›Levkoje‹ aus dem gleichnamigen Gedicht »Levkojen« (GW II, 374). Durch die Abtrennung der ersten Silbe des botanischen Namens wird hier eine Reihe homonymer Rela‐ tionen zu anderen Sprachen sichtbar. Der erste Wortteil ›Lev‹ lässt sich so zum einen als Variante des lateinischstämmigen Vornamens ›Leo‹ - was nicht von ungefähr dem Vornamen von Celans Vater entspricht - lesen. Über das Russi‐ 378 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="379"?> sche kann dieser zudem nicht nur als Eigenname, sondern auch als das Nomen ›Löwe‹ (лев) verstanden werden. Über das Hebräische schließlich kann ›lev‹ (בל) die Bedeutung ›Herz‹ bekommen. In Assoziation mit dem aus dem Nieder‐ deutschen stammenden Wort ›Koje‹, das nach Abtrennung von ›Lev‹ in seiner Pluralform lesbar wird, ergeben sich dementsprechend zahlreiche Bedeutungen für dieses translinguale Kompositum als Bett oder Liegebzw. Ruhestätte des Vaters (Leo), Löwen oder Herzen. Eine Zusatzbedeutung ergibt sich, wenn man, wie Wiedemann suggeriert, ›lev‹ als Kurzform für das russische Adjektiv für ›links‹ auffasst, was sie in Verbindung bringt mit Celans Kritik am linken An‐ tisemitismus während der Pariser Mai-Revolution von 1968 (s. NGK, 1150). Auf‐ grund der Präsenz des Wortes ›Jude‹ (V. 7) im Gedicht scheint diese Referenz in der Tat als plausibel. Somit bestätigt sich die grundlegende Feststellung, dass die translinguale Homonymie bei Celan als produktive Keimzelle weitverzweigter Bedeutungsstrukturen fugiert. Ein weiteres Beispiel für komplexe Verfahren der Homonyme wurde bereits weiter oben erwähnt. Es handelt sich um das Kompositum »Aller-/ orten« im Gedicht »In der Luft« (GW I, 290, V. 20-21) aus dem Band Die Niemandsrose. In diesem Fall lässt sich erneut der erste Teil des Kompositums abtrennen und translingual als Homonym lesen, nämlich über das französische Infinitum des Verbs ›aller‹ (gehen). Diese Lesart des Wortes als Aufforderung zum ›Zu-den-Orten-Gehen‹ wird im vorliegenden Fall zusätzlich durch den Zeilen‐ sprung (»Aller«+»orten«) motiviert. Ein ähnlicher ›Zeilensprung-Effekt‹ liegt auch beim Wort »Cor-/ respondenz« im Gedicht »Bergung« (GW II, 413, (V. 4-5) aus dem Band Schneepart vor. Erneut suggeriert das durchtrennte Kompositum an dieser Stelle homonyme Assoziationen. Dieses Beispiel aus dem Spätwerk wurde zwar ebenfalls schon angesprochen, soll aber im Folgenden kurz vertieft werden. Die multilinguale Dimension von »Cor-/ respondenz« wird zunächst durch seine hybride graphische Gestalt bedingt. Diese bewirkt unter anderem, dass das deutsche Lehnwort ›Korrespondenz‹ an seinen mittellateinischen Ursprung ›correspondentia‹ zurückgebunden wird. Das Auftauchen von »Selbstherz« (V.-9) wenige Zeilen später macht deutlich, dass es sich bei »Cor-/ respondenz« nicht (nur) um einen verstechnisch motivierten Zeilensprung handelt, sondern um die Markierung einer kompositen, wortinternen Homonymie. Die demons‐ trative Abtrennung der Silbe ›cor‹, die auf das lateinische Wort für ›Herz‹ verweist, ist dabei nicht wortgeschichtlich motiviert. In der Tat sind die Wörter ›correspondentia‹ und ›cor‹ nicht inhaltlich miteinander verwandt, da die Vorsilbe ›cor-‹ in Wahrheit von ›con-‹ im Sinne von ›mit‹ oder ›zusammen‹ abgeleitet ist. Im Gedicht verbunden werden beide gerade über die Homonymie 6.6 Translinguale Homonymie 379 <?page no="380"?> 739 Vgl. auch die Verwendung von »Häm« in dem Gedicht »Aus dem Moorboden« (GW 239, V.-3). bzw. eine lateinische Paronymie innerhalb eines deutsch-lateinischen Komposi‐ tums, wodurch neue Sinndimensionen wie ›Antwort (Respondenz) des Herzens (cor)‹ im Wort aufscheinen. Im Fall von »Meta-/ stasen«, das am Ende des Gedichtes »Largo« (GW II, 356, V. 12-13), auftritt, liegt ebenfalls ein Zeilensprung mit lexikalischer Abtrennung vor. Wieder kann von einer impliziten Metathese ausgegangen werden. Auf‐ grund der klanglich-formalen Nähe von ›Metastase‹ und ›Metathese‹ könnte im vorliegenden Beispiel fast von einer metapoetischen Mise en abyme gesprochen werden, mit der das Gedicht seine Verfahrensweise selbstreferentiell markiert. Mittels einer translingualen Metathese kann konkret der erste Teil, ›Meta-‹, des griechischen Lehnworts als »Atem« gelesen werden. Die formale Beziehung zwischen dem (Alt-)Griechischen und dem Deutschen beruht dabei auf einem dem Hebräischen verwandten ›Rückwärtslesen‹. Bei diesem Prozess handelt es sich in gewisser Weise um eine ›Übersetzung‹ ins Deutsche. Aufgrund der Präsenz des Atem-Motivs im Gedicht (»unter den atmenden Lidern«, V. 7) wird diese formbezogene Interpretation erneut inhaltlich untermauert. Im Schlussvers des Gedichts »Schaltjahrhunderte« (GW II, 324) aus dem Band Lichtzwang liegt nochmals ein anderer Fall von lexikalischer Dekomposi‐ tion vor. In diesem Text drängt sich eine formale Abtrennung des Wortteils ›Häm‹ (im Sinne von ›Häme‹) 739 im Kompositum »Hämoglobin« (V. 20) weder formal noch inhaltlich auf. Daher ist im vorliegenden Fall etwas mehr Einfalls‐ reichtum, ja Phantasie auf Seiten des Rezipienten notwendig, damit sich der aus dem Altgriechischen entlehnte erste Wortteil »Häm[o]-« (abgeleitet von ›haíma‹ / ›αίμα‹ für Blut) in die deutsche ›Häm‹ verwandelt. Erneut handelt es sich um eine relativ komplexe Verfahrensweise. Wie man sieht, liegen solche Wechselbeziehungen nicht immer auf der Hand, besonders wenn es sich um Komposita handelt oder um Wortteile, die zuerst formale Veränderungen durchlaufen müssen, um translingual operieren zu können. Dennoch treten solche entferntere Relationen, deren Komplexität sich nicht grundlegend von den Ansprüchen unterscheidet, die Celans Poetik allgemein an ihre Leser stellt, immer wieder in den Gedichten auf - und zwar quer durch die Sprachen. Ein weiteres plausibles Beispiel für eine solche Art von Formanalogie in Celans Dichtung liefert die als translinguale Paronomasie mit Metathese benennbare Klangbeziehung zwischen dem französischen Gedichttitel »À la pointe acérée« (GW I, 251) aus dem Band Die Niemandsrose und dessen erstem, deutschem Vers: »Es liegen die Erze bloß«. Aufgrund ihrer klanglichen und 380 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="381"?> räumlichen Nähe erscheinen die - wohlbemerkt wortgeschichtlich nicht mit‐ einander verwandten - Wörter ›Erz‹ und ›acéré‹ (abgeleitet vom Lateinischen ›acies‹ für ›Spitze‹) im vorliegenden Text über die Sprachgrenzen hinaus als miteinander verbunden. Gemeinsam gelesen ergeben sie das Bild des ›spitzen Stahls‹, also einer scharfen Klinge, was sich nahezu perfekt in die Sinnkohärenz des Gedichts einfügt. Eine nochmals andere Klangbeziehung liegt beim Adjektiv »toskanisch« aus dem Gedicht »In eins« (GW I, 270, V. 17) vor, das nicht nur auf die gerade bei Deutschen beliebte italienische Urlaubsregion verweist. Aus der deutschen Morphologie herausgelöst, verweist der Wortstamm ›toska‹ näm‐ lich mittels Homonymie auf das russische Wort ›тоска‹ in der Bedeutung ›Trauer‹, ›Kummer‹, ›Wehmut‹, ›Sehnsucht‹ usw. Wie Wiedemann anmerkt, hat Celan das hier in einem deutschen Adjektiv versteckten russische Wort sicherlich bei Mandelstamm gefunden, der es in seiner Dichtung gleichfalls wortspielerisch benutzt. Ferner lässt sich an dieser Stelle eine werkinterne Verbindung zum Dante-Zitat im Titel des Nachlassgedichts »Il cor compunto« (= ›Das beklommene Herz‹, GW VII, 58) herstellen. Zwar taucht der Wortstamm ›toska‹ nicht manifest in diesem Gedicht auf, doch scheint der im Titel präsente ›Herzkummer‹ über sein russisches Äquivalent ›тоска‹ auf die Region der Toskana zu verweisen, aus der der berühmte italienische Dichter bekanntlich stammte (s. NKG, S. 822f.). In diesem Fall funktioniert die translinguale Figur sozusagen in umgekehrter Richtung, vom Deutschen zum Russischen. Insbesondere über die französische Sprache ergeben sich in Celans Gedichten immer wieder komplexe homonyme Verbindungen, die sich jedoch selbst dem sprachgewandten deutschen Leser nicht immer auf Anhieb erschließen. Das gilt zum Beispiel für die Paronomasie ›[Wald]wasen‹ / ›vase‹ im Gedicht »Todtnauberg« (GW II, 255, V. 16) aus dem Band Lichtzwang. Das von Celan vermutlich bei Mörike gefundene deutsche Wort (s. NKG, 993) für ›Wiese‹ bzw. ›Rasen‹ lässt in diesem Fall das eher negativ konnotierte französische Wort ›vase‹ für ›Schlick‹, ›Schlamm‹ oder ›Matsch‹ mitklingen. Im Kontext der Moorlandschaft, in der sich das Gedicht teilweise ansiedelt, ist es nicht unbedeu‐ tend, dass das Feuchtgebiet ›vase‹ auf Verfaulungs- und Verwesungsvorgänge verweist. Wobei die Begegnung mit Heidegger und dessen NS-Vergangenheit durch dieses ›Dekor‹ zwangsläufig in ein ganz bestimmtes Licht gerückt wird. Auf vergleichbare Weise kann der des Französischen mächtige Celan-Leser eventuell im Gedicht »Entwurf einer Landschaft« (GW I, 184) aus dem Band Sprachgitter fündig werden. Hinter der »strahligen Blesse« - also einem weißen Fleck oder Streifen - auf der »Tierstirn« ganz am Ende des Gedichts könnte er so das französische Wort ›blessure‹ (Verletzung) bzw. ›se blesser‹ (sich verletzen) 6.6 Translinguale Homonymie 381 <?page no="382"?> 740 Abgesehen vom Gedichtkontext, der diesen Kommentar motiviert, erscheint das Par‐ tizip ›vermurt‹ allerdings deutlich vieldeutiger zu sein, da es in der Seemannssprache ebenfalls das Festmachen eines Schriffes mit zwei Ankern bezeichnet. heraushören. Allerdings scheint diese Verbindung im vorliegenden Text selbst in der spezialisierten Forschung bisher keine Berücksichtigung gefunden zu haben. Umgekehrt kann man sich fragen, ob der in Paris lebende Autor das deutsche Fachwort ›Blesse‹ benutzen konnte, ohne dabei an das französische Homophon ›se blesser‹ zu denken. Der Eindruck, das Französische habe hier ›mitgeschrieben‹, scheint sich in der Tat geradezu aufzudrängen. Das sowohl im Gedicht »Verwaist« (GW II, 212, V. 5) als auch in »Huriges sonst« (GW II, 239, V. 3) vorkommende Verbum ›vermuren‹ (V. 3) lässt seiner‐ seits - neben der im Kommentar von Wiedemann angegebenen Bedeutung von ›Mur[e]‹ als Moor oder Sumpf bzw. Schlamm- und Gesteinslawine in Gebirgen (s. NKG 959+1137) 740 - an das französische Wort für ›Mauer‹ (mur) denken. »Vermurt« würde demzufolge über das Französische auf eine ›Einmauerung‹ verweisen, was sich problemlos in die Metaphorik der beiden Gedichte einfügt und damit als Lesart nicht auszuschließen ist. Im Fall des Wortspiels »Mandeltraum, Trandelmaum. / Und auch der Ma‐ chandelbaum. / Chandelbaum« aus dem Gedicht »Eine Gauner- und Ganoven‐ weise« (GW I, 229 f., V. 17-20) wiederum kann ›Chandel‹ als frz. ›chandelle‹, d. h. ›Kerze‹ bzw. ›Kerzenlicht‹, gelesen werden. Diese Lesart wird durch die Verbindung zum Wortschatz des Rotwelschen bekräftigt (s. NKG, 799). Der »Chandelbaum« könnte demnach auf eine Art Weihnachtsbaum bzw. -leuchter hindeuten. Weiterhin lässt der Kontext zwangsläufig an die Menora, also den siebenarmigen jüdischen Leuchter, denken. Die sprachspielerischen Variationen, die in diesem Gedicht vom »Mandelbaum« (V.16) über den »Chan‐ delbaum« (V. 20) schließlich zur an buddhistische Mantras gemahnenden Silbe »Aum« (V. 22) führen, sind allesamt überaus anspielungsreich. Die graphische Reduktion von »Mandelbaum« zu »Aum« erinnert dabei nicht zuletzt an die oben erörterte Thematik der ›Sprachbeschneidung‹ bei Celan (s. 3.2.3). Rekurrente Homonyme Neben solchen mehr oder weniger leicht zu erkennenden Einzelstellen sind in Celans Gedichten wiederholt Wörter anzutreffen, deren homonyme Effekte sich über weite Teile des Gesamtwerkes zu erstrecken scheinen. Die Stichhaltigkeit der entsprechenden Klanganalogien, die sich also in diesem Fall an mehreren Stellen zugleich beobachten lassen, wird dabei durch den Wiederholungscha‐ rakter der Figur bekräftigt. Die Existenz einer solchen rekurrenten Paronomasie kann beispielsweise bei dem Wort ›Mal‹, im Sinne sowohl von ›einmal‹ als 382 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="383"?> 741 Siehe Werner, Textgräber, S.-64ff. auch von ›Fleck‹, ›Zeichen‹ oder ›Markierung‹, angenommen werden. Auf translingualer Ebene ist dabei in einer Reihe von Gedichten zu sehen, wie das deutsche ›Mal‹ gleichzeitig das französische Wort ›mal‹ im Sinne von ›Böse‹, ›Übel‹, ›Krankheit‹ usw. zu implizieren scheint, wie jetzt an einigen Beispielen illustriert werden soll. Relativ eindeutig erscheint diese Form homonymer Verbindung im Gedicht »Das taubeneigroße Gewächs« (GW-II, 219), in dem der Zeilensprung im Wort »ein-/ maligen« (V. 11-12) unter dem Eindruck des Gedichttitels zwangsläufig an das Fachwort ›maligne‹ für einen bösartigen Tumor denken lässt. Bei diesem Beispiel liegt folglich eine translinguale Paronomasie mit Metathese vor. Wie Wiedemann in ihrem Kommentar vermerkt, legt es der Begriff ›Denkspiel‹ in Vers drei außerdem nahe, im Titel »Das taubeneigroße Gewächs« ein mehrsprachiges Wortspiel zu vermuten. Neben dem Ei der Taube könnte man dort nämlich eine Anspielung auf das Ei des Kolumbus erkennen, da ›ovum columbinum‹ der lateinische Ausdruck für ›Taubenei‹ ist (NKG, 964). Die translinguale Assoziation zwischen dem Eigennamen ›Kolumbus‹ (Colombo) und dem lateinischen Nomen ›colomba‹ ist wohlbemerkt erneut homonymer Natur. Obwohl die Etymologie des deutschen Fachworts ›maligne‹ eindeutig auf lat. ›malignus‹ zurückgeht, ist die Metathese ›malig‹/ ›maligne‹ hier sicherlich auch über die französische Sprache zu denken, in der das Wort in identischer Form existiert. Dadurch ergibt sich eine direkte Verbindung zum Adjektiv und Nomen ›mal‹ im Sinne von Übel, Böse oder Unglück. Auch an anderen Stellen in Celans Œuvre lässt sich eine solche unterschwellige Präsenz von frz. ›mal‹ vermuten. Das ist etwas der Fall im Gedicht »Die Halde« (GW I, 118), wo der Ausdruck »von Mal zu Mal« (V. 8) im Sinnzusammenhang des Textes ebenfalls als ›von Unglück zu Unglück rollen‹ gelesen werden könnte. Die Todesmetaphorik im Gedicht unterstützt diese Lesart. 741 Gleichzeitig fungiert die Formulierung als einsprachige Paronomasie, da »von Mal zu Mal« ebenfalls auf ›Mal‹ als ›Zeichen‹ sowie auf das allmähliche ›Zermalmen‹ der Steine im Text zu verweisen scheint. Auch in der umgekehrten Sprachrichtung, also vom Französischen zum Deut‐ schen, scheint ›Mal/ mal‹ in Celans Gedichten als translinguale Homonymie aufzutreten. So könnte der französische Ausdruck im Titel des Gedichts »Haut Mal« (GW II, 220), der einen veralteten Begriff für epileptische Anfälle dar‐ stellt, ebenfalls als sprachübergreifende Paronymie begriffen werden. Dadurch würde der Titel neben der französischen Fachbezeichnung auch als deutsches 6.6 Translinguale Homonymie 383 <?page no="384"?> 742 Siehe hierzu die ausführliche Gedichtanalyse bei Dinah Mareike Schöneich, Lyrisches Potenzial. Mehrsprachigkeit und Mehrdeutigkeit als politisch-poetische Spiel-Züge. Dissertation, Universität Luxemburg, 2023, Kapitel 6. 743 Beyer, »Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan«, S.-61-62. 744 Perels, »Erhellende Metathesen«, S.-130. ›Hautmal‹ im Sinne von ›Leberfleck‹ lesbar. Zusätzlich könnte er als ›Brandmal‹ gelesen werden, wie im gleichnamigen Gedicht aus Mohn und Gedächtnis (GW I, 50). Die kontextuelle Präsenz - in »Haut Mal« - des Ausdrucks »von den Göttern Befleckte« (V. 3) sowie das Bild vom ›Einschmiegen‹ in ein »Ziegenfell« (V. 12), also dem Anlegen einer Art zweiter Haut, legen diese Assoziationen zu‐ mindest nahe, wie auch der Verweis auf die Beschneidung (»du beheiligst / mein Glied«, V. 13-14), bei der bekanntlich ein Stück Haut vom Glied entfernt wird. 742 In einem äußerst erhellenden und inspirierenden Kommentar hat der Lyriker Marcel Beyer auf eine weitere rekurrente Verkettung von Homonymen in Celans Werk hingewiesen. Anhand einiger Beispiele, die sowohl aus den veröffentlichten als auch aus den Nachlassgedichten stammen, hat er so auf die deutsch-russische Klangverwandtschaft zwischen »Niemand« (passim), »Njemen« (= Memel, GW I, 284f., V. 59) und »nemestkich« (= stumm/ deutsch)« (Briefe, 540, s. GW I, 287ff., V. 47) aufmerksam gemacht, die hauptsächlich in einer Zahl von Texten aus dem Zeitraum von Die Niemandsrose auftritt. 743 In Anbetracht der engen Verbindungen zur russischen Sprache und speziell zur Dichtung Ossip Mandelstamms während dieser Schaffensphase - sowie vor dem Hintergrund der hier beschriebenen homonymen Verfahren und ihrer Häufigkeit im Werk Celans - erscheinen solche Assoziationen als durchaus plausibel. Zum Abschluss sollen noch die von Perels hervorgehobenen und schon mehr‐ mals erwähnten »kleinsten sprachlichen Elemente« 744 angesprochen werden, die in Celans Texten eine bevorzugte Grundlage für translinguale Homonymie darstellen. Solche lexikalische Minimaleinheiten, Wortfragmente und Kurz‐ wörter, wie »hu«, »blu«, »hüh« (GW I, 275, V. 19), »ho« (GW I, 195, passim), »da« (GW I, 229f., V. 15), »tu« (GW I, 191, V. 7-8), »aum« (GW I, 229f., V. 24), »dum« (GW I, 256, V. 16, GW II, 180, V. 5), »Men«, »Schen« (GW I, 237, V. 19) und viele mehr, eignen sich in der Tat für vielfältige mehrsprachige Assoziationen, wie die Forschungsgeschichte bewiesen hat. Dabei lässt sich die jeweilige Deutung dieser Elemente in einem bestimmten Sprachzusammenhang meist erst im Rahmen einer schlüssigen Gesamtanalyse begründen, wie das Beispiel von »Huhediblu« gezeigt hat (s. Kap. 2). Eine simple, vom individuellen Kontext der entsprechenden Texte losgelöste Zusammenschau würde bei diesen 384 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="385"?> Elementen nicht weit führen, weshalb dieser Punkt im vorliegenden Rahmen nicht weiter ausgeführt werden soll. 6.7 Morphologisch-grammatikalische Transferenzen Jenseits der Lexik Bislang beruhten alle hier behandelten translingualen Techniken, selbst solche, die nur latent in den Texten präsent waren oder sich auf rein formaler Ebene abspielten, grundsätzlich auf lexikalischen Einheiten. Das bedeutet, dass sich die verschiedenen mehrsprachigen Prozesse stets auf Lexeme als Basis zurückführen ließen. Zur abschließenden Vervollständigung dieses syste‐ matisch-typologischen Überblicks in vier Kapiteln sollen nun erstmals nicht lexikalisierbare sprachliche Transferenzen erwähnt werden. Es geht dabei grob gesagt um grammatikalische, syntaktisch-prosodische und metrisch-rhythmi‐ sche Einflüsse anderer Sprachen auf Celans poetische Idiom. Hierbei handelt es sich sicherlich um die latenteste Form von literarischer Mehrsprachigkeit überhaupt, geht es doch bei Grammatik, Satz- und Versbau um formal-abstrakte Aspekte, welche die Zuordnung zu bestimmten Sprachen vor noch viel größere Probleme stellen als solche auf der Basis des Wortmaterials. Die sprachliche Verortung (bzw. die Sprachigkeit) solcher von der Lexik losgelöster Aspekte stellt eine äußerst komplexe Angelegenheit dar. Gleichzeitig handelt es sich bei dieser Perspektive um eine hochrelevante Analyseebene, da sich bekanntlich weder die Literatur noch die Sprache allgemein auf den Bereich des Wortschatzes einschränken lässt. Stellt der lexikalisch-semantische Gesichtspunkt einen privilegierten Zugang zu mehrsprachigen Prozessen dar, so kann er nicht allein der Gesamtheit der Erscheinungsformen gerecht werden. Unter Rückgriff auf ein für Paul Celan zentrales und schon mehrmals zitiertes metapoetisches Bild könnte man diese Phänomene als gleichsam unterhalb der Inhaltsebene »stumm / vibrierende[n] Mitlaut« (GW I, 159, V. 19-20) be‐ zeichnen. Dabei ist diese Art sprachlicher Interferenz teils recht deutlich in den Texten erkennbar und lässt sich im biographischen und poetischen Kontext unter gewissen Voraussetzungen als Analogiebeziehung direkt auf bestimmte Sprachen und Literaturen zurückführen. Im Folgenden sollen zunächst morphologisch-grammatikalische Aspekte - hierbei hauptsächlich die Funktionsweise der Wortbildung in verschiedenen Sprachen - (s. 6.7) und dann im Anschluss die syntaktischen und metrischen As‐ pekte - anders gesagt: Satz- und Versbau - behandelt werden (s. 6.8). Neben dem Gedichtwerk wird dabei auch erstmals Celans einziger zu Lebzeiten publizierter fiktionaler Prosatext Gespräch im Gebirg (1960, GW III, 169-173) ausführlicher 6.7 Morphologisch-grammatikalische Transferenzen 385 <?page no="386"?> erwähnt. Bei der Behandlung morphologisch-grammatikalischer Analogiebil‐ dungen bietet es sich erneut an, sprachenspezifisch zu verfahren, indem die teils sichtbaren, teils verdeckten Einflüsse der verschiedenen Sprachen nacheinander behandelt werden. Wohlbemerkt bedeutet ›latent mehrsprachig‹ in diesem Fall nicht, dass die angesprochenen Phänomene etwa vollkommen unsichtbar wären. Der Unterschied zur manifesten Mehrsprachigkeit besteht hauptsächlich darin, dass letztere in der Regel auf der Präsenz anderssprachiger Lexik beruht, wohingegen die nun behandelten Analogien letztlich auf formale Abstrakta wie Grammatikregeln und Versmaße zurückverweisen. Als die drei in diesem Zusammenhang wichtigsten Sprachen, deren Einfluss sich durch das Gesamtwerk zieht, erweisen sich Hebräisch, Russisch und Französisch. Innerhalb dieser drei Sprachen kommt dem Hebräischen allein schon wegen seiner Nicht-Zugehörigkeit zur indoeuropäischen Sprachfamilie zweifelsohne die höchste sprachliche Alterität zu. Durch diese große sprachty‐ pologische Differenz tritt sein potenzieller Einfluss in Celans Werk an vielen Stellen besonders deutlich hervor. Hebräisch Die unterschwellige Präsenz des Hebräischen in Paul Celans dichterischem Idiom wurde bereits anhand des Gedichts »Kleide die Worthöhlen aus« (GW II, 198) veranschaulicht (s. 3.3). Wie gezeigt wurde, hat der Dichter dort die für diese Sprache grundlegende Form der dreikonsonantigen Wortwurzeln mit ihren verschiedenartigen Vokalisierungsmöglichkeiten sowie die vom Deutschen abweichende Leserichtung von rechts nach links in seine poetische Bilderwelt übertragen. Diese hebräischen Sprachregeln konnten dabei textintern auf das Wortmaterial des Gedichts angewandt werden, wodurch neue Sinnzusammen‐ hänge zum Vorschein kamen. Das Hebräische und der auf seiner spezifischen Funktionsweise fußende sprachmystische Zugang zu den heiligen Texten des Judentums wurde in diesem Zusammenhang als poetologisches Modell für eine translinguale Gedichtlektüre erkennbar. Auch in anderen Texten scheint der Dichter nicht nur metamultilingual auf das Hebräische zu verweisen, sondern dessen morphologisch-syntaktische Charakteristika als Formprinzipien auf seine Gedichte zu übertragen. Ein häufig zitiertes Beispiel liefert in dieser Hinsicht das Ende des Gedichts »Keine Sandkunst mehr« aus dem Band Atemwende. Wie viele Kommentatoren bemerkt haben, blickt Celan in diesem Text kritisch auf seine eigenen lyrischen Anfänge zurück. Der Sand aus den Urnen war bekanntlich der Titel der ersten, auf Anweisung des Autors eingestampften Gedichtsammlung, die 1948 in Wien erschienen war. Vier Jahre später wurde der Bandtitel von Celan als Titel des 386 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="387"?> ersten Zyklus von Mohn und Gedächtnis wiederverwendet. Im Spätwerk der 1960 Jahre wird der »Gesang« (V. 6) aus dem »Sandbuch« (V. 1), d. h. der zum Teil deutlich in der klassisch-romantischen Tradition fußende lyrische Ton des Frühwerks, nun vom Dichter kritisch hinterfragt: - KEINE SANDKUNST MEHR, kein Sandbuch, keine Meister. - - - Nichts erwürfelt. Wieviel - Stumme? - Siebenzehn. - - 5 Deine Frage - deine Antwort. - Dein Gesang, was weiß er? - - - Tiefimschnee, - - -----------Iefimnee, - - --------------------------I - i - e.---(GW-II, 39) Der Schluss dieses selbstkritisch zu nennenden Gedichts lässt sich nicht nur dahingehend deuten, dass sich dort ein (unartikulierbarer) Schmerz über das Geschehene ausdrückt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung Celans mit den ei‐ genen Anfängen mitsamt ihrer Verhaftung in einer problematisch gewordenen lyrischen Tradition - man erinnere sich an seine Kritik der Komplizenschaft des literarischen »Wohlklangs« mit der Verübung des »Furchtbarsten« (GW III, 167, s. a. TCA, M, 55) - kommt es an dieser Stelle zu einer Art Dekonstruk‐ tion des deutschen Sprachmaterials. So werden dem Adverbialkompositium ›tiefimschnee‹ im Laufe einer sich über drei Verse erstreckenden sprachlichen Operation alle Konsonanten entzogen, sodass am Ende nur noch die reine Vokalstruktur ›i - i - e‹ stehenbleibt. In dieser vokalischen Reduktion des Wortes ›tiefimschnee‹ so wie sie vom Gedicht vollzogen wird, scheint sich erneut das Grundprinzip der hebräischen Wortbildungslehre zu spiegeln. Allerdings mit dem entscheidenden Unter‐ schied, dass die übriggebliebene, dreigliedrige Wortwurzel in diesem Fall eben vokalischer und nicht konsonantischer Art ist. Bezogen auf die Funktionsweise des Hebräischen würde damit der Sprache gleichsam das eigentliche Fundament entzogen. Bei diesem Prozess handelt es sich mithin um das Gegenteil der sprachlichen Involution, die Celan mit dem sprachwissenschaftlichen Begriff ›Muta cum liquida‹ (= Konsonantennexus am Wortbeginn) beschrieben hat (s. TCA, M, 123 f.). Die konsonantische Stammsilbe als Bedeutungsträger ist 6.7 Morphologisch-grammatikalische Transferenzen 387 <?page no="388"?> 745 An dieser Stelle kann daran erinnert werden, dass der französische Schriftsteller jüdisch-polnischer Herkunft Georges Perec (1936-1982) mit La Disparition (1969) einen Roman vorgelegt hat, dessen Schreibweise darauf beruht, dass dem Französischen der für diese Sprache konstitutive Buchstabe ›e‹ entzogen wurde. Diese Technik des Oulipo-Miglieds Perec erinnert gleichsam ex negativo an das von Celan hier benutzte Verfahren. 746 Petuchowski, »A New Approach to Paul Celan’s ›Argumentum e Silentio‹«, S.-121. 747 Reichert, »Hebräische Züge in der Sprache Celans«, S.-158. im vorliegenden Fall ja gerade verschwunden, allein die Vokalstruktur ist übriggeblieben. Im Rahmen der jüdischen Sprachauffassung könnten weitreichende Schluss‐ folgerungen aus einer solchen ›Auslöschung‹ der Konsonanten als den eigent‐ lichen Buchstaben des Hebräischen gezogen werden, wo sie als sprachliche Substanz die Potenz aller Schöpfung verkörpern. 745 Wird mit Reichert vom Hebräischen als sprachlichem Substrat von Celans Dichtungssprache ausge‐ gangen, so könnte das Verschwinden der Konsonanten geradezu als eine Art Verlust von Sprache überhaupt und demzufolge letztlich als Vernichtung der Schöpfung gelesen werden. Als »Gesang« (V. 6) übrig bleibt bloß eine nahezu bedeutungslose ›Koloratur‹ als Radikalform der »Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive« (Mikrolithen, 122), von der sich der Dichter dezidiert absetzen wollte. Im Anschluss an Jerry Glenn geht Elizabeth Petuchowski in ihrer Lesart dieser Stelle so weit, mittels einer Metathese den am Ende des Gedichts verschwundenen Konsonanten eine hebräische Bedeutung im Sinne von ›Seele der Toten‹ zuzuweisen. Dabei meint sie, das jüdische Gebet Nischmat als Hypotext von »Keine Sandkunst mehr« ausmachen zu können. 746 Auch wenn dieser Interpretationsansatz erneut überstrapaziert, ja spekulativ wirkt, fügt sich ein solches Verschwindenlassen des Totengedenkens durch Reduktion auf den reinen Gesang durchaus in die Sinnkohärenz dieses poetologisch-selbstkri‐ tischen Celan-Textes ein. Ein anderes markantes Verfahren, das sich an die hebräische Wortbildung und Grammatik anzulehnen scheint, sind die Wortdoppelungen in vielen Gedichten Celans. Reichert spricht in diesem Zusammenhang von einer im Hebräischen omnipräsenten »asyndetische[n] Nebeneinanderstellung von Wörtern als be‐ stimmtes Mittel der Steigerung«. 747 Ein anschauliches Beispiel für den Transfer dieses Verfahrens auf das Deutsche wäre der Ausdruck »Nichtnicht« im Gedicht »Wenn ich nicht weiß, nicht weiß« (GW II, 154) aus Fadensonnen. In diesem Text taucht das bereits erwähnte Anfangswort eines hebräischen Gebets (»Aschrej«, V. 9) auf, aus dem heraus sich das Gedicht vermutlich entwickelt hat (s. TCA, FS, 84). In einem solchen mehrsprachig markierten Kontext kann die erwähnte 388 6 »Mitlaut am Genannten«: Mehrsprachigkeit textintern-II <?page no="389"?> 748 Ebd. 749 Siehe Perels, »Erhellende Metathesen«, S.-132f. Form ›Nichtnicht‹ (V. 20) auf plausible Art und Weise aus der Superlativbildung im Hebräischen hergeleitet werden. Demnach wäre dieses Kompositum als Intensivierung von ›nicht‹ — beispielsweise im Sinne von ›tiefstes Nichts‹ — zu verstehen. Andere höchstwahrscheinlich dem Hebräischen nachempfundene ›Doppel‐ ungs-Superlative‹ in den Gedichten Celans sind »wannwann« (GW I, 275, V. 20), »rotrot« (GW II, 122, V. 9), »Immerimmer« (GW II, 313, V. 10), »Nacht-und-Nacht« (GW I, 195, V. 56, in einer Vorstufe: »Nachtnacht«, HKA, 5.2, 315), »Sprache, Sprache« (»Was geschah? «, GW I, 269, V. 3) sowie »Mit dem Licht und dem Licht« (GW I, 279, V. 49). An einigen Stellen im Werk scheint dieses Verfahren darüber hinaus metasprachlich thematisiert zu werden. Von einem solchen metasprachlichen Verweis auf besagte hebräische Super‐ lativbildung könnte bei den Komposita »Doppelnamen« (GW I, 96, V. 10), »Doppelflöte« (GW I, 131, V. 10) und »Doppelsilber« (GW I, 136, V. 15) gespro‐ chen werden. Gerade der Ausdruck ›Doppelname‹ lässt über das Motiv der Wortverdoppelung den Bezug zur Funktionsweise des Hebräischen sinnfällig werden. In Anlehnung an Reichert, der in seinem bereits mehrmals zitierten, wegwei‐ senden Aufsatz aus dem Jahr 1988 neben den bewusst von Celan eingesetzten sprachlichen Mitteln wie den Hebraismen von einer strukturellen Prägung seiner Dichtungssprache durch das Hebräische ausgeht, 748 könnte man das Spektrum der möglichen formalen Transferenzen noch viel weiter fassen. So könnte die Logik gewisser Metathesen wie beispielsweise das Wortspiel ›Ton - Not‹ in »Weil du den Notscherben fandst« (GW II, 204) ebenfalls über die hebräische Sprache erklärt werden. Konkret handelt es sich in diesem Fall um den Einfluss der im Vergleich zum Deutschen umgekehrten Leserichtung im Hebräischen. 749 Durch diese Inversion wird aus dem weit verbreiteten Begriff ›Tonscherben‹ die Celan’sche Wortschöpfung ›Notscherben‹. Die palindrom‐ hafte Verwandlung von ›Ton‹ in ›Not‹, die in diesem Kompositum mitzulesen ist, könnte also gewissermaßen hebräischer Inspiration sein, zumal das Wort höchstwahrscheinlich auf das kabbalistische Motiv des Bruchs der Gefäße verweist. Über die bisher angesprochenen Einflüsse der hebräisc