Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass
1216
2024
978-3-3811-2092-5
978-3-3811-2091-8
Gunter Narr Verlag
Caroline Hähnel
10.24053/9783381120925
Die Studie bietet eine umfassende Analyse der lange Zeit unterschätzten und nur wenig untersuchten Darstellungsweise in den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnass. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf den Büchern zur Königszeit, in denen drei wesentliche erzählerische Merkmale besonders hervortreten: die Schaffung von enargeia, das heißt von Anschaulichkeit, die Verwendung von Reden und die Gestaltung von Frauenfiguren, welchen für die römische Frühgeschichte eine wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Diese drei Charakteristika stehen in enger Wechselwirkung mit dem Ziel der kulturellen Vermittlung zwischen Griechen und Römern, das Dionysios sich mit seinem Geschichtswerk gesetzt hat.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-12091-8 www.narr.de www.narr.de www.narr.de Die Studie bietet eine umfassende Analyse der lange Zeit unterschätzten und nur wenig untersuchten Darstellungsweise in den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnass. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf den Büchern zur Königszeit, in denen drei wesentliche erzählerische Merkmale besonders hervortreten: die Schaffung von enargeia, das heißt von Anschaulichkeit, die Verwendung von Reden und die Gestaltung von Frauenfiguren, welchen für die römische Frühgeschichte eine wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Diese drei Charakteristika stehen in enger Wechselwirkung mit dem Ziel der kulturellen Vermittlung zwischen Griechen und Römern, das Dionysios sich mit seinem Geschichtswerk gesetzt hat. Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass Hähnel Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass von Caroline Hähnel <?page no="1"?> Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass <?page no="3"?> Caroline Hähnel Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381120925 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0941-4274 ISBN 978-3-381-12091-8 (Print) ISBN 978-3-381-12092-5 (ePDF) ISBN 978-3-381-12093-2 (ePub) Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67. 23. 57. Su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo - Museo Archeologico Nazionale di Napoli. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 1 9 2 17 3 31 3.1 31 3.2 36 3.3 39 3.4 47 4 53 4.1 54 4.2 60 4.2.1 60 4.2.2 63 4.2.3 64 4.3 67 4.4 68 4.5 76 4.5.1 77 4.5.2 89 4.5.3 104 4.5.4 111 4.6 117 5 119 5.1 120 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leben, Werk und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das klassizistische Konzept des Dionysios . . . . . . . . . . . . . . . . Das Programm der Antiquitates Romanae und ihr Publikum . Polybios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enargeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie der enargeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxis der enargeia: Wichtige Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schilderung sinnlicher Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . Ausführlichkeit der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hervorrufen von Emotionen des Lesers . . . . . . . . . . . . . Enargeia in der Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußerungen des Dionysios zu enargeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae . . . . . . . . Einbeziehung der Emotionen des Lesers . . . . . . . . . . . . Fokalisatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausführlichkeit der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thematisierung des Visuellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reden in der griechisch-römischen Historiographie und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 5.2 128 5.3 139 5.3.1 145 5.3.2 149 5.4 181 6 185 6.1 186 6.2 193 6.2.1 193 6.2.2 196 6.2.3 238 6.3 240 6.3.1 242 6.3.2 245 6.3.3 250 6.4 251 6.5 255 7 259 265 265 266 285 292 Zur Theorie der Figurenrede in den Scripta rhetorica des Dionysios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae . . Die Kombination von direkter und indirekter Rede . . . Analyse ausgewählter Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frauengestalten in der griechischen Historiographie vor Dionysios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius . . . Horatia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Frauen - drei Stationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bezüge zur lebensweltlichen Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stellung der etruskischen Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stellung der römischen Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stellung der griechischen Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konstruktion von Weiblichkeit in den Antiquitates Romanae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Danksagung Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete und mit Indizes versehene Fassung meiner Dissertation, welche im Wintersemester 2022/ 23 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht wurde. Ihre Entstehung verdankt sich gewissermaßen einer Leerstelle. Als ich mich mit der Frage beschäftigte, in welcher Weise römische und griechische Autoren des ersten Jahrhunderts vor Christus von der Gründung Roms erzählen, begegnete mir immer wieder Dionysios von Halikarnass, doch als ich mehr über die Erzähltechnik dieses so produktiven Autors erfahren wollte, stellte ich fest, dass die Forschung das Thema über lange Zeit eher mit spärlichem Interesse bedacht hatte. Damit war meine Neugierde geweckt, zumal Dionysios mit seinem Geschichts‐ werk ein nicht minder ehrgeiziges Ziel verfolgte als sein römischer Zeitgenosse Livius, nämlich den Griechen in augusteischer Zeit Aufstieg und Wesen der neuen Weltmacht Rom zu erklären und ihnen ein historisch begründetes Deutungsmuster für die politischen Gegebenheiten der Gegenwart an die Hand zu geben. Dafür, dass meine Gedanken zur Erzählkunst dieses Historikers nun in der vorliegenden Form einem breiteren Publikum zugänglich sind, möchte ich mehreren Personen danken: So hat mein Doktorvater Professor Dr. Martin Hose das Werden dieser Studie mit stetem Engagement und Wohlwollen begleitet. Seiner profunden Kenntnis der geistigen Welt des ersten vorchristlichen Jahrhunderts verdanke ich zahlreiche wertvolle Hinweise. Zusammen mit seiner Mitherausgeberin Professor Dr. Claudia Wiener sorgte er für eine zügige Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Classica Monacensia“. Mein Dank gilt ebenso Professor Dr. Dennis Pausch für die Übernahme des Zweitgutachtens und für das Interesse, das er meinen Überlegungen zur Erzähltechnik des Dionysios von Halikarnass bereits in einem sehr frühen Stadium entgegenbrachte, sowie Professor Dr. Therese Fuhrer als weiterem Mitglied der Prüfungskommission. Brigitte Weber war stets eine inspirierende Gesprächspartnerin und verständ‐ nisvolle Freundin. Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht. Den größten Dank jedoch schulde ich meiner Familie, insbesondere meinem Mann Felix Mundt und meinen Eltern, für nie versiegende Geduld und stetigen Ansporn. Perleberg, im August 2024 <?page no="9"?> 1 So bezeichnet Tim Cornell das republikanische Rom als „a kind of living museum“, s. Cornell (1986) 82. 2 Vgl. Leschhorn (1984); Miller (1997). 3 Vgl. Schmid (1947); Ziegler (²1966); Hähnel (2015). 4 Vgl. Delcourt (2005) 63. 5 Vgl. Fögen (²2002) 22 f. zum gesteigerten Bedürfnis nach Gründungserzählungen am Übergang von Republik zu Prinzipat. 6 So Fox (1996). 1 Einleitung In der stark auf Fragen der Identität und Schaffung von Memoria ausgerichteten römischen Kultur 1 wurden die Ursprünge und die Frühgeschichte der Stadt Rom in der Literatur immer wieder thematisiert. Erzählungen von Stadtgründungen und Gründern spielten bereits in der griechischen Polisgesellschaft, aber auch bis weit in die hellenistische Zeit hinein eine tragende Rolle bei der Konstruktion von Identitäten, sei es individueller, sei es kollektiver Identität. 2 Als literarische Medien dienen hierfür gleichermaßen poetische Texte wie Prosaerzählungen. Zwar sind die griechischen Gründungsepen bis auf wenige Fragmente verloren, doch lassen selbst diese erahnen, welch große Rolle die Frühgeschichte und ihre Mythen in der hellenistischen Literatur der beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderte spielten. Der Einfluss, den diese Produktionen auf römische Dichter wie Ennius und Vergil ausgeübt haben, ist in immerhin groben Zügen erfassbar. 3 In augusteischer Zeit gewinnt der Diskurs über die Anfänge Roms in sämtli‐ chen Medien der kollektiven Erinnerung an Intensität. 4 Wenngleich der princeps inter pares Augustus seine Vormachtstellung geschickt hinter republikanischer Nomenklatur zu kaschieren wusste und den Übergang zur Alleinherrschaft als Restauration der res publica libera deklarierte, sahen sich die Literaten dieser Zeit dennoch mit den Fragen konfrontiert, ob nicht der Staat sich in eine Monarchie transformiere und wie dies sich zu Roms Anfängen verhalte. 5 In den historiographischen und poetischen Texten jener Epoche verbinden sich mit dem Rückgriff auf die römische Frühzeit verschiedene Zielstellungen, wie etwa die Konstruktion von Legitimität für den augusteischen Prinzipat und eine möglichst bruchlose, Stabilität suggerierende Transformation der kollektiven Identität der Römer in einer sich wandelnden Verfassung. Das aitiologische Moment kann dabei als gemeinsamer Nenner dieser Texte im Umgang mit der Frühzeit angesehen werden. 6 Wie die Forschung der letzten Jahre zeigen konnte, beschäftigten diese Themen nicht nur römische Autoren. Neben der <?page no="10"?> 7 Vgl. v.-a. Wiater (2011a); Schmitz / Wiater (2011). lateinischen entstand eine reiche griechischsprachige Literatur. 7 Unter Augustus fanden zahlreiche griechische Intellektuelle den Weg nach Rom, das inzwischen nicht nur auf politischer, sondern auch auf der kulturellen Ebene eine Vorrang‐ stellung vor den traditionsreichen Zentren der griechischen Welt wie Athen und Alexandria eingenommen hatte und Bedingungen für literarisches Schaffen bot, die vielen Denkern ideal erscheinen mochten. Unter den in Rom entstandenen griechischen Texten nehmen die Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnass heute eine Sonderstellung ein, da sie die einzige zu großen Teilen erhaltene Darstellung der römischen Geschichte aus der Sicht eines in augusteischer Zeit schreibenden Griechen sind. Daher mag es erstaunlich scheinen, dass sie in der Forschung vergleichsweise wenig Beach‐ tung fanden und die rhetorischen Schriften des Dionysios stets stärker im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Zurückzuführen ist dies auf die negative Beurtei‐ lung, die Dionysios in der älteren Forschung meist zuteil wurde; man warf ihm vor, kein ernst zu nehmender Historiker und, dies vor allem, in der Darstellungs‐ weise zu sehr von Maßgaben der Rhetorik beeinflusst zu sein. Gegenüber dem vernichtenden Verdikt so einflussreicher Altertumswissenschaftler wie Eduard Schwartz, Maximilien Egger und Eduard Norden vermochten sich positivere Stimmen nicht durchzusetzen. Dionysios trug fortan das Stigma, als Historiker, von dem man nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts eine sachlich-objektive Darstellung erwartete, zu viel rhetorischen Schmuck verwendet zu haben. Es kam erschwerend hinzu, dass er als Verfasser zahlreicher theoretischer Schriften zu Rhetorik und Geschichtsschreibung in besonderem Maße um die Bedeutung der Darstellungsweise für die Wirkung auf den Rezipienten wusste, weshalb man ihm gern vorwarf, als Historiker lediglich auf das Erwecken von Affekten des Lesers abzuzielen. Die Forschung beließ es in der Folge bei diesem Negativurteil, eine weitergehende Analyse erfolgte nicht. Wurden die Antiquitates Romanae herangezogen, so in der Regel zu quellenkritischen Fragestellungen. Eine angemessene Würdigung des literarischen Aspekts des Werkes steht bislang noch aus. Die lange Zeit überwiegende Fokussierung auf den Text als Mittel zur Rekon‐ struktion der römischen Frühzeit teilt Dionysios zwar mit seinem lateinischen Gegenpart, dem Geschichtswerk des Livius, jedoch hat im Falle des Livius die Forschung seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend dessen Bedeutung als Erzähler erkannt und hervorgehoben. Zu nennen sind hier vor allem die 10 1 Einleitung <?page no="11"?> 8 Zu nennen sind besonders Burck ( 2 1964) und ( 3 1987) sowie (1992). 9 Besonders Walsh (1961). 10 Besonders Luce (1977). 11 Pausch (2008); (2010c); (2011) und (2014). 12 Zu nennen ist hier e.g. Sautel (2014) und (2015). 13 Vgl. Pausch (2011) 14. 14 Die Feststellung Lefèvres, die römische Geschichtsschreibung ordne ihren Stoff stets einem spezifischen Leitgedanken bzw. Argumentationsziel unter, gilt ebenso für Dio‐ nysios; vgl. Lefèvre (1983), hier 31: „Es ist für ihre [sc. der römischen Historiographen] Arbeitsweise bezeichnend, daß sie nicht die Fakten darstellten und aus ihnen allgemeine oder spezielle Erkenntnisse ableiteten, sondern daß sie umgekehrt von bestimmten Leitgedanken ausgingen und an ihnen die Fakten letztlich ausrichteten.“ 15 S. dazu grundlegend Pausch (2011). Arbeiten von Erich Burck 8 und Patrick G. Walsh 9 sowie James T. Luce 10 und jüngst Dennis Pausch, 11 die die Darstellungstechnik des Livius als kunstvoll eingesetztes Mittel analysieren, dem Rezipienten seine, Liviusʼ, Version der römischen Frühgeschichte nahezubringen. Eine vergleichbar umfassende Un‐ tersuchung der Antiquitates des Dionysios ist nach wie vor ein Desiderat, wenngleich sich in der jüngsten Forschung Ansätze zeigen, einzelne Episoden mit Blick auf ihre erzählerische Gestaltung zu interpretieren. 12 Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Studie die Aufmerksamkeit auf den literarischen Aspekt der Antiquitates Romanae richten, zumal die antike Historiographie eine Trennung zwischen „wissenschaftlicher“ und „literari‐ scher“ Geschichtsschreibung nicht kannte: 13 Dionysios ist wie Livius, Herodot, Thukydides und andere kein bloßer Vermittler historischer Fakten (insoweit man von solchen sprechen kann), sondern ein Erzähler, der bei der Vermittlung seines Stoffes ein bestimmtes Argumentationsziel verfolgt, 14 wobei dieses Argu‐ mentationsziel entscheidende Unterstützung durch die Art und Weise erhält, wie der Stoff erzählt wird. Die antike Geschichtsschreibung präsentiert ihre Materie bewusst unter Einsatz spezifischer literarischer Darstellungsformen, die jeweils unterschiedliche oder komplementäre Wirkungen auf den Rezipienten ausüben und häufig auf dessen stärkere Involvierung in das erzählte Geschehen abzielen. So setzt Livius gezielt literarische Techniken und Darstellungsformen wie etwa Reden, Fokalisierungen, Perspektivenwechsel und Anachronismen ein, um mit dem Leser in Interaktion zu treten. 15 Es gilt zu untersuchen, inwieweit sich eine solche Vorgehensweise auch im Geschichtswerk des Dionysios von Halikarnass aufzeigen lässt. Bekanntlich verfolgte er mit der Abfassung der Antiquitates Ro‐ manae das Ziel, einem griechischsprachigen Publikum den ersten ausführlichen Bericht über die Geschichte und den Aufstieg der Römer und eine Erklärung zu bieten, wie es dazu kommen konnte, dass diese sich innerhalb nur weniger 1 Einleitung 11 <?page no="12"?> 16 Vgl. ant. 1,1,1-8,4. 17 Vgl. ant. 1,5,2. 18 Vgl. ant. 1,90,1. Mit dieser Aussage endet bezeichnenderweise das erste Buch. S. auch ant. 7,70,1-5. Vgl. ferner Gabba (1982a) 53 sowie Delcourt (2005) 13, deren Anliegen es ist, „de comprendre les mécanismes poussant Denys à concevoir unitairement deux univers qui à son époque, et aujourd’hui encore, se pensent distinctement.“ 19 Hayden White zufolge erbringt Geschichtsschreibung per se stets eine kulturelle Vermittlungsleistung, s. White (1986) 106: „Eine andere Weise [als die der von White zu‐ nächst genannten „(natur-)wissenschaftlichen Erklärung“], einer Folge von Ereignissen Sinn zu verleihen, die so wie sie sich darbieten, fremd, rätselhaft oder geheimnisvoll erscheinen, besteht darin, sie entsprechend den kulturell zur Verfügung stehenden Kategorien wie etwa metaphysische Konzepte, religiöse Glaubensauffassungen oder Formen von Geschichten (story forms) zu kodieren. Die angestrebte Wirkung solcher Kodierungen ist es, das Unvertraute vertraut zu machen; und im allgemeinen ist das die Erklärungsweise der Geschichtsschreibung, deren „Daten“ immer zunächst fremd, um nicht zusagen [sic] exotisch sind, einfach aufgrund ihrer zeitlichen Distanz zu uns und der Tatsache, daß sie einer Lebensform entstammen, die sich von der unseren unterscheidet.“ 20 Um das bekannte Diktum Heinzes anzuwenden: Es geht nicht darum, was Dionysios „gesollt und gekonnt“ hätte, sondern um die Art und Weise, auf die er sein in der praefatio erklärtes Ziel umsetzen wollte. Vgl. Heinze ( 4 1957) vii und zu Dionysios Kaibel (1885) 513. Jahrhunderte zur beherrschenden Macht im Mittelmeerraum entwickelten. 16 Die Antiquitates Romanae beinhalten das Programm, der griechischsprachigen Welt unter Augustus die römische Fremdherrschaft erträglicher zu machen. 17 Dazu gehört die These, dass von einer Fremdherrschaft im Grunde gar keine Rede sein könne, da die Römer einerseits von ihrem ethnischen Ursprung her griechisch seien und andererseits in ethisch-moralischer Hinsicht ebenfalls als Griechen gälten. 18 Dieses Anliegen der kulturellen Vermittlung nähert den Text den Historien des Polybios an; im Gegensatz zu diesen setzen die Antiquitates allerdings in hohem Maße auf die Verwendung bestimmter erzählerischer Mittel, um diese Vermittlung erfolgreich zu vollziehen. 19 Es dürfte zu einem tieferen Verständnis des Historiographen Dionysios beitragen, die Beziehung zwischen seinem Argumentationsziel und den dafür eingesetzten literarischen Strategien zu analysieren und ihn auf diese Weise auch wieder stärker als Erzähler in das Bewusstsein der Forschung zu rücken. Dabei kann es nicht darum gehen, in Fortsetzung der älteren Forschungsmei‐ nung den Nachweis zu erbringen, dass Dionysios in seinem Geschichtswerk zu viele rhetorische Stilmittel eingesetzt und dadurch womöglich die Geschichte verfremdet habe: Vielmehr möchte ich eine vorurteilsfreie literarische Analyse des Werkes vorlegen. 20 Hierfür ist danach zu fragen, inwieweit sich bei Diony‐ sios wiederkehrende Elemente der Darstellungstechnik aufzeigen lassen, die er 12 1 Einleitung <?page no="13"?> 21 So kann Sautel (2014) überzeugend die Gestaltung der von ihm untersuchten Episoden durch den Einsatz von Bauformen des antiken Dramas aufzeigen, bleibt jedoch bei der Vermutung stehen, dass dies auf ein Drama zurückzuführen sei, das Dionysios und auch Livius als Quelle gedient habe. 22 Auch der Beginn des fünften Buches ist hierzu zu rechnen, da der Übergang von der Monarchie zur Republik erst als vollzogen gelten kann, nachdem der Versuch der Rückkehr der Tarquinier nach Rom endgültig gescheitert ist; vgl. ant. 5,12,3. 23 Vgl. Marincola (1997) 42 f. und 244-246. 24 Vgl. Sacks (1983) 74-76 zum Verhältnis der praefatio zu den in der Epistula ad Pompeium dargelegten Reflexionen über Geschichtsschreibung sowie allgemein zur praefatio sich seinem Anliegen entsprechend zunutze macht und die ihn als Erzähler zu charakterisieren geeignet sind. 21 Da die Schilderung der römischen Gründungs- und Frühgeschichte bis zum Beginn der Republik, die Bücher 1 bis 4, 22 zur Verhandlung der für Dionysios zentralen Identitätsfrage der Römer besonders bedeutsam ist, 23 erweist sie sich für eine Untersuchung seiner Erzählweise mit Blick auf Leserlenkung und Aussageabsicht als besonders geeignet, zumal die Darstellung der Königszeit nicht nur bei ihm, sondern auch bei seinem lateinischen Gegenpart Livius zusammenhängend erhalten ist und dies einen stellenweisen Vergleich mit diesem begünstigt. Hierbei soll nicht in wertender Manier eine Beurteilung der schriftstellerischen Leistung des einen oder anderen der beiden Autoren vorgenommen werden, vielmehr eignet sich das Geschichtswerk des Livius als Kontrastfolie, um die Eigenart des Erzählers Dionysios schärfer zu umreißen. Die Arbeit konzentriert sich auf drei Aspekte, die nicht nur als wesentliche Charakteristika der Erzählweise in diesen Büchern anzusehen sind, sondern darüber hinaus eine zentrale Rolle für die Geschichtsdeutung des Dionysios spielen und eng mit dem Unternehmen des Kulturtransfers verbunden sind, das er sich zum Ziel gesetzt hat. Es handelt sich um • die Verwendung narrativer Techniken zur Erzeugung von enargeia, • den Einsatz von Reden, • die Gestaltung weiblicher Figuren, denen für die Deutung der römischen Geschichte bei Dionysios eine wichtige Rolle zukommt. In den Antiquitates Romanae finden sich nur wenige methodische Überlegungen von der Art, wie andere Historiker sie entweder in eigens dafür eingefügten Methodenkapiteln (wie Thukydides) oder als wiederkehrende Kommentare in die Darstellung integriert haben. Zwar beinhalten die einleitenden Kapitel der Antiquitates derartige Reflexionen, doch handelt es sich hierbei nahezu ausschließlich um die üblichen Topoi, die in den praefationes antiker Geschichts‐ werke abgearbeitet zu werden pflegen. 24 Daher sind wir für Informationen, die 1 Einleitung 13 <?page no="14"?> Schultze (2000). Vgl. zum Thema der Topoi in den praefationes antiker Historiker Herkommer (1968) und Fromentin (1993) 177. 25 Hierfür sind insbesondere De Thucydide und die Epistula ad Pompeium wichtig. Gabba (1991) 60-90 zieht beide Schriften heran, um die historiographischen Ziele und Me‐ thoden des Dionysios herauszuarbeiten. Pritchett (1975) xxii bezeichnet Dionysios als „one of the leading literary historians of his day“, allerdings nicht ohne hinzuzufügen, dass diese Rolle besser zu ihm gepasst habe als die des „general historian“. die Auffassung des Dionysios von Geschichtsschreibung betreffen, weitgehend auf die Auswertung dessen angewiesen, was er in seinen literaturkritischen Schriften zu diesem Thema zu sagen hat. Eine zusammenhängende Theorie fehlt freilich auch hier: Bei den relevanten Äußerungen handelt es sich um verstreute Aussagen, die zumeist im Rahmen der Kritik eines bestimmten Historikers gemacht werden, wie im Falle des Vergleichs zwischen Herodot und Thukydides. 25 Dessen ungeachtet kommt eine Untersuchung der Erzähltechnik des Dionysios nicht umhin, die Scripta rhetorica zu berücksichtigen, da dessen theoretisches und praktisches literarisches Schaffen eng miteinander verwoben sind. Daher werden im Hinblick auf die Generierung von enargeia und die damit einhergehende Involvierung des Rezipienten zunächst die theoretischen Über‐ legungen, die Dionysios in seinen Scripta rhetorica zu diesem Thema vornimmt, in Bezug zu anderen antiken Theorien der enargeia gesetzt. Vor diesem Hinter‐ grund wird sodann die praktische Umsetzung anhand ausgewählter Passagen aus den Königszeitbüchern beleuchtet. Ebenso soll die Verwendung von Reden in den Antiquitates Romanae sowohl in der Praxis analysiert als auch in den weiteren Kontext der Funktionen von Rede in der griechisch-römischen Historiographie und der theoretischen Äußerungen des Dionysios eingeordnet werden. Was die Darstellung von Frauenfiguren anbelangt, so ist eine solche Vorgehensweise aufgrund des Fehlens eines antiken Diskurses über deren Rolle in der Geschichtsschreibung nicht möglich. Vielmehr erfolgt die Untersuchung unter Einbeziehung der Fragestellung, inwieweit Dionysios Aspekte weiblicher Lebenswirklichkeit in die Gestaltung seiner Frauenfiguren einfließen lässt, und stellt zudem die Darstellung des Livius vergleichend gegenüber. Dieses Kapitel bildet insofern den Hauptpunkt der Untersuchung, als in den Portraits von Frauen wie Tullia oder Lucretia die bereits zuvor beleuchteten Mittel der enargeia und der Rede gebündelt auftreten und der Text hier gleichsam alle Register seiner Kunst zieht. Es erschien somit folgerichtig, das Kapitel an das Ende des Hauptteils zu stellen. Für die einzelnen Kapitel wurden grundsätzlich Textabschnitte ausgewählt, in denen das jeweilige erzählerische Mittel in besonders augenfälliger Weise hervortritt. Zwar bauen die drei Hauptabschnitte 14 1 Einleitung <?page no="15"?> aufeinander auf und können somit linear gelesen werden, doch stellen sie zugleich in sich geschlossene Abschnitte dar und ermöglichen durch jeweils erneut vorgenommene Kontextualisierungen der besprochenen Textpassagen auch eine separate Lektüre. Wie zu zeigen sein wird, stehen die drei genannten Komponenten der Erzählweise des Dionysios in engster Interaktion mit der Intention des Ge‐ schichtswerkes und leisten einen entscheidenden Beitrag zur Kommunikation zwischen Autor und Leser. Daher kann eine auf den literarischen Aspekt der Antiquitates Romanae ausgerichtete Untersuchung wie die vorliegende nicht nur Licht werfen auf die spezifische Erzählweise des Dionysios, sondern dient auch der Erhellung seines Anliegens eines kulturellen Transfers zwischen Griechenland und Rom. Ich hoffe daher, durch die skizzierte Untersuchung der Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnass einen Beitrag zu dessen Wahrnehmung als Erzähler zu leisten und den Blick zu öffnen für eine andere Sichtweise auf sein allzu oft unterschätztes Unterfangen, die Geschichte der Römer neu zu deuten. Zur weiteren Verdeutlichung dieses Zieles soll im Folgenden zunächst ein Blick auf die bisherige Forschung zu Dionysios im Allgemeinen und seinem Geschichtswerk im Besonderen geworfen werden (Kapitel 2). Daran schließt sich eine Einordnung des Dionysios in den soziokulturellen Kontext seiner Zeit an, da die Antiquitates Romanae mit diesem in enger Wechselwirkung stehen (Kapitel 3): Sie stellen wie andere antike Geschichtswerke, etwa des Thukydides und des Polybios, aber auch des Livius und des Tacitus, um nur wenige Beispiele zu nennen, eine Reaktion auf eine spezifische historische Situation dar und versuchen, die sie umgebende Gegenwart ihrerseits zu gestalten. Die drei Hauptkapitel (4-6) sind den genannten Charakteristika der Erzählweise des Dionysios gewidmet. Auf sie folgt eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse, die meine Untersuchung hervorgebracht hat (Kapitel 7). 1 Einleitung 15 <?page no="17"?> 26 Darauf verweist bereits Gabba (1991) 4. Vgl. auch Delcourt (2005) 39f. 27 Vgl. Gabba (1991) 5. 28 Dies v.-a. durch die Forschungen von Hidber (1996) und Wiater (2011a). 29 So Schulin (1820); Kremer (1907); Nassal (1910). 30 So Weismann (1837); Busse (1841). 2 Zur Forschungsgeschichte Bei der Beschäftigung mit Dionysios fällt zunächst auf, welch geringe Aufmerk‐ samkeit ihm von Seiten der philologischen Forschung über die Jahrhunderte zuteilgeworden ist, zumal wenn man die Anzahl der Studien mit denen zu anderen griechischen Historikern wie etwa Herodot und Thukydides vergleicht. Zudem wurde überwiegend eine scharfe Trennung vorgenommen zwischen dem Historiker Dionysios und dem Literaturtheoretiker Dionysios, obgleich die Antiquitates Romanae und die Scripta rhetorica aufs Engste miteinander verknüpft sind und eine separate Interpretation somit stets unvollständig bleibt. 26 Doch nicht nur das Geschichtswerk stand im Schatten von Autoren, die man als bedeutender empfand, auch die Auseinandersetzung mit seinen literaturkritisch-rhetorischen Schriften war lange Zeit wenig umfassend und kann sich in keiner Weise mit der Erschließung beispielweise der ciceronischen Schriften zur Rhetorik messen, was umso erstaunlicher anmutet, als wir Dio‐ nysios das umfangreichste Corpus zu stilistisch-rhetorischen Fragestellungen aus der gesamten griechisch-römischen Antike verdanken. 27 Zudem bietet sein Werk einen einzigartigen Zugang zum Verständnis des in der augusteischen Zeit vorherrschenden Klassizismus-Diskurses, an dem sich sowohl griechische Intellektuelle in Rom als auch römische Denker beteiligten. Diese Einsicht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten allmählich durchzusetzen vermocht, 28 nachdem Dionysios zumeist unterschätzt und verkannt wurde, in seinen Ab‐ handlungen zur Literatur und Rhetorik als unorigineller Kompilator und in seinem Geschichtswerk als langatmiger Erzähler galt, dem mehr an rhetorischer Effekthascherei als an Wahrheit und Aussage gelegen habe. Im 19. und bis hinein ins frühe 20. Jahrhundert war sein Name innerhalb der Altertumswissenschaften vergleichsweise geläufig, seine Schriften dienten mitunter als Gegenstand philologischer Inaugural-Dissertationen, welche sich bisweilen mit Spezialfragen befassten, 29 bisweilen auch lediglich eine Aufarbei‐ tung und Darlegung aller eruierbarer Fakten über Leben und Werk darstellten. 30 Eine wichtige Grundlage für die spätere Dionysios-Forschung schufen Ludwig Radermacher und Hermann Usener mit der mehrbändigen Teubner-Edi‐ <?page no="18"?> 31 Weismann (1837) 3. 32 So werden in der Dissertation von Weismann, die sich dem Titel zufolge mit sämtlichen bekannten Texten des Dionysios beschäftigen möchte, die Antiquitates auf nur etwa einer Seite beiläufig abgehandelt, während die Besprechung der Vita und der Scripta rhetorica die eigentliche Abhandlung darstellt, s. Weismann (1837) 29f. 33 Schwartz (1903). Bereits 1898 schrieb Norden in seiner „Antiken Kunstprosa“: „So verfehlt es im allgemeinen ist, antike Urteile […] dem modernen Empfinden von uns Nachgeborenen unterzuordnen, so muß ich doch bekennen, daß mir der von vielen bewunderte [sic] Kritikus Dionys ein äußerst bornierter Kopf zu sein scheint.“ S. Norden (1898) I 79. Der von Radermacher verfasste RE-Beitrag über den Literaturtheoretiker Dionysios, der den Schwartz’schen Artikel über den Historiker Dionysios ergänzt, ist in weitaus sachlicherem Ton gehalten und insgesamt ausgewogener. So vermerkt Rader‐ macher zwar manche Unzulänglichkeit des Dionysios, wie in dessen Thukydides-Kritik, tion der Scripta rhetorica, die von 1899 bis 1929 publiziert wurde und deren Praefatio erstmalig eine ausführliche Darstellung der handschriftlichen Über‐ lieferung beinhaltet. Ihnen vorangegangen war bereits Karl Jacoby mit seiner Teubneriana der Antiquitates Romanae, deren Bände zwischen 1885 und 1905 erschienen. Gleichwohl war der Anteil an wissenschaftlicher Auseinandersetzung, der auf seine Texte entfiel, im Vergleich mit anderen Autoren eher gering und sein Ansehen nicht größer, wie in den 1830er Jahren ein Candidat aus Frankfurt am Main bezeugt: „Optimo jure miretur aliquis, quid sit quod, quum omnes fere alii, quos Romana Graecave tulit antiquitas scriptores, nostro tempore diligen‐ tissimos doctissimosque interpretes et quasi tutores nacti sint, unus Dionysius Halicarnassensis quinquaginta abhinc aut etiam plures annos fere prorsus contemtus jaceat atque abjectus.“ 31 Hauptuntersuchungsgegenstand waren be‐ reits zum damaligen Zeitpunkt die literaturkritisch-rhetorischen Schriften, die Antiquitates Romanae betrachtete man überwiegend als bloßes Anhängsel dieser Texte, etwas, das Dionysios eben „auch noch“ geschrieben habe, das aber nicht weiter ernst zu nehmen sei und hinter den Scripta rhetorica an Bedeutung weit zurückstehe. 32 Waren somit bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch vereinzelte Studien zu Dionysios erschienen, so begann die Auseinandersetzung ab dem frühen 20. Jahrhundert drastisch zu erlahmen und, so sie überhaupt stattfand, in polemischer und zum Teil sehr emotionaler Weise geführt zu werden. Hierfür ist der Grund hauptsächlich in dem vernichtenden Artikel aus der Feder Eduard Schwartzʼ für die Pauly-Wissowa’sche Realencyclopädie der classischen Alterthumswissenschaften zu suchen, welcher im Jahre 1903 publiziert wurde und dessen negatives Urteil über den Historiker für die Dionysios-Rezeption der folgenden Jahrzehnte verderblich wurde. 33 Dionysios wird darin in allen 18 2 Zur Forschungsgeschichte <?page no="19"?> doch er zeigt sich im Ganzen wohlwollend und streicht den Wert der rhetorischen Schriften heraus. Vgl. Radermacher (1903). 34 Zu seiner Vita heißt es beispielweise lakonisch: „Mehr ist über sein Leben nicht bekannt; die römischen Gönner, denen er ab und zu eine Schrift widmete, sind keine vornehmen Leute gewesen; man muss sich seine Existenz als eine ziemlich obscure vorstellen.“ S. Schwartz (1903) 934. 35 Schwartz (1903) 934: „Schon die Wahl des von der Gegenwart weit abliegenden Themas zeigt, dass das Werk der in speziellem Sinne rhetorischen Geschichtsschreibung angehört, derjenigen nämlich, welcher die Redekunst nicht blos als ein Kunstmittel neben anderen gilt, sondern umgekehrt der historische Stoff nichts weiter ist als ein Objekt, an welchem diese Kunst gezeigt und dokumentiert wird, gewissermassen das Thema einer μελέτη grossen Stils […].“ 36 Schwartz (1903) 934. Vgl. ebd. 936: „Alles in allem ist die ‚römische Archäologie‘ […] ein genauer Commentar zu seinen theoretischen Ausführungen über Historiographie, auch darin, dass sie praktisch die Vermutung bestätigt, welche jedem bei der Lektüre des Briefes an Pompeius sich aufdrängen muss, dass D. von dem, was die antike Historiographie wollte und konnte, auch nicht die ersten Elemente begriffen hat: sie ist ein trauriges Dokument dafür, wie tief die geistige Potenz noch mehr als die Bildung der Griechen gesunken war, nachdem die hellenistischen Staaten verfallen waren und ehe der Weltfriede des Kaiserreichs neue Samen hatte reifen lassen.“ Hierzu treffend Gabba (1982b) 799: „Dionigi non sarebbe altro che un rappresentante della peggiore storiografia retorica, carico di ogni difetto, privo di sensibilità e di veri interessi politici e storici.“ Vgl. ferner Harmon (1991): „Schwartz […] saw Dionysius’ History of Archaic Rome as a deplorable instance of a rhetorical historiography which glorified an outmoded classicism.” 37 Eine treffende Einschätzung des RE-Beitrags bietet Gabba (1991) 6-9. denkbaren Aspekten abgekanzelt; 34 Hauptkritikpunkt der Antiquitates ist ihre als allzu groß empfundene Nähe zur Rhetorik. 35 Für den deutschen Gelehrten stellen sie nichts dar als die unwürdige Fingerübung eines emotionslosen Dilet‐ tanten an einem an und für sich erhabenen Gegenstand: „Die überaus klägliche Ausführung des Gedankens einer griechisch-römischen οἰκουμένη, der von Polybios und Poseidonios imposant in die Geschichtsschreibung eingeführt war, verrät, dass D. ausgewittert hatte, wohin der Classicismus der neuen Monarchie lief, und ohne Selbständigkeit den Tendenzen folgte, die zu seiner Zeit Gemeingut waren; die tragischen Schmerzen, die jenen echten Hellenen das Begreifen des römischen Primats gekostet hatte, sind dieser kleinen Seele fremd.“ 36 Der Klassizismus des Dionysios steht für eine Geschichtsschreibung, die lediglich dazu dient, den Rezipienten mit rhetorischen Effekten zu beeindru‐ cken; wirklich große Geschichtsschreibung, so Schwartzʼ Sichtweise, kann nur in Zeiten bedeutender politischer Ereignisse entstehen, wie etwa das Beispiel des Thukydides zeige. 37 Nahezu zeitgleich mit Schwartzʼ RE-Artikel erschien die Abhandlung des französischen Gräzisten Maximilien Egger. Dieser unternahm darin den Ver‐ 2 Zur Forschungsgeschichte 19 <?page no="20"?> 38 Egger (1902) 235-246. 39 E. Faguet, Journal des débats vom 22.12.1893, hier zitiert nach Egger (1902) vii. 40 Egger (1902) viii. 41 Um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, vgl. Egger (1902) 295: „Critique, il nous déconcerte par le mélange de ses qualités et de ses défauts. Il est timide et embarrassé; il rapetisse les questions, il rétrécit les horizons; il parle des choses de l’esprit en gram‐ mairien plus qu’en historien.“ In Dionysios’ Analysen vorangegangener griechischer Historiker, etwa des Thukydides, stellt Egger eine „étroitesse de vue“ (296) fest. 42 Egger (1902) 297. such, das literaturkritisch-rhetorische Corpus des Dionysios in seiner Zeit und seinem kulturellen Milieu zu verorten und in Einzelanalysen die intellektuelle Leistung des Dionysios herauszuarbeiten. Egger wollte eine Gesamteinschät‐ zung der Werke nach ihrer (von ihm definierten) Qualität und Bedeutung geben und spart hierbei nicht mit Kritik, ja die Vorgehensweise ist vielmehr die gleiche wie in den Scripta rhetorica des Dionysios selbst, etwa in De Thucydide. Eggers gesamte Abhandlung zeigt sich durchzogen von (oft ab-)wertenden Urteilen über die angeblich positiven und negativen Merkmale der untersuchten Texte, wie besonders im neunten Kapitel mit der Titulierung „Denys artiste et écrivain dans ses œuvres littéraires“ 38 deutlich wird, dessen Unterkapitel, „Ses défauts“ überschrieben, eine Aufzählung sämtlicher, hauptsächlich kompositi‐ onstechnischer und stilistischer, „Fehlgriffe“ des Dionysios bietet. Bereits das Vorwort zu Eggers Studie beginnt mit dem berühmten Zitat von Émile Faguet: „Nous avons perdu Ménandre et nous jouissons de Denys d’Halicarnasse. Car, ne cherchons pas à nous dissimuler cette infortune: nous possédons Denys d’Halicarnasse”, 39 dessen Ansicht Egger zu Beginn seiner Beschäftigung mit Dionysios durchaus geteilt habe. Auch er unterscheidet zwischen dem literaturkritischen und dem historiographischen Schaffen des Dionysios. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen denn auch die Scripta rhetorica: „C’est elle [sc. der literaturkritisch-rhetorische Teil des Gesamtwerkes] qui mérite le plus d’attention, car elle est la plus originale.“ 40 Als Literaturkritiker verdiene Dionysios immerhin - trotz so mancher Unzulänglichkeiten 41 - durchaus Beachtung; jedoch das Geschichtswerk, von Egger kurz gestreift, sei ein von Anbeginn verfehltes Unterfangen, an dem er sich schlicht überhoben und seine intellektuellen Kapazitäten überschätzt habe. Bezeichnenderweise wird, ähnlich wie bei Schwartz, in erster Linie der erzählende Charakter der Antiquitates kritisiert und ihr mangelnder Quellenwert hervorgehoben: „Reste l’historien. Il est difficile de ne pas l’estimer très inférieur au critique littéraire, car aucun n’a poussé plus loin la mise en pratique de cette idée fausse, commune à presque toute l’antiquité, qu’un livre d’histoire est une œuvre d’art destinée à plaire plus qu’à instruire.“ 42 Die Antiquitates seien im Grunde eine Zumutung für jeden 20 2 Zur Forschungsgeschichte <?page no="21"?> 43 Egger (1902) 297. 44 Pausch (2010a) 2. 45 Die Kritikpunkte bleiben sich dabei im Wesentlichen gleich. Vgl. e.g. Peter (1911), der Dionysios den Vorwurf macht, sich um historische Wahrheit nicht sonderlich bekümmert zu haben, sondern ausschließlich um den Effekt auf den Leser; zu Dionysios ebd. 333-335. Man beachte etwa das wie bei Schwartz klingende Urteil ebd. 333: „Aus der Archäologie des Dionys von Halikarnaß ersehen wir, bis zu welchem Grade der Unwahrheit die Eitelkeit und Ruhmsucht eines Rhetors sich versteigen konnte.“ Vgl. ferner 334: „Sein Standpunkt ist durchaus der eines Mannes der Schule und eines Stubengelehrten.“ 46 Dies legt die Aussage des Dionysios nahe, er habe seit seiner Übersiedlung nach Rom ununterbrochen für sein Geschichtswerk geforscht und daran gearbeitet, s. ant. 1,7,2. Vgl. dazu Delcourt (2005) 42. 47 Vgl. Gabba (1991) 9: „Schwartz’s point of departure entails a complete misunderstanding of Dionysius, which, given the prestige of the German historian, has been imposed in turn on a lengthy period of subsequent research.“ Rezipienten: „Enfin, l’élégance et la prolixité de son style sont si monotones, sa rhétorique, cette rhétorique où Michelet voyait « l’avant-goût de l’imbécillité byzantine », est si encombrante et si vide que l’Histoire primitive de Rome, malgré les bonnes intentions et le labeur immense dont elle témoigne, reste à peu près illisible même pour les lecteurs les plus intrépides.“ 43 Derart abwertende Einschätzungen der griechisch-römischen Geschichts‐ schreibung gehen zurück auf die positivistischen Voraussetzungen der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Annahme, was ein historisches Werk zu wollen und zu leisten habe. In der philologischen Forschung bestand überwie‐ gend noch kein geschärftes Bewusstsein dafür, dass die antike Historiographie weitgehend anderen Prämissen folgt als die moderne, für ihren „ambivalente[n] Status zwischen Wissenschaft und Literatur“. 44 Hiermit war der Weg vorge‐ zeichnet, den die Dionysios-Forschung in den nachfolgenden Jahrzehnten nehmen sollte. 45 Zwar fanden die literaturkritisch-rhetorischen Schriften eine etwas geneigtere Beurteilung, da zumindest ihre Bedeutung als herausragende Quelle für den Attizismus des ersten Jahrhunderts v. Chr. anerkannt wurde. Im Hinblick auf die Antiquitates Romanae allerdings, von Dionysios selbst wohl als sein Hauptwerk konzipiert und empfunden, 46 übernahm man kurzerhand das Pauschalurteil so namhafter Gelehrter wie Schwartz und Egger, demgegen‐ über sich vereinzelte Versuche einer positiveren Beurteilung nicht behaupten konnten. 47 Die Hauptangriffspunkte waren, wie gezeigt, der historische Quel‐ lenwert und - dies in erster Linie - die Darstellungsweise des Dionysios. Die Antiquitates galten als Musterbeispiel einer seelen- und aussagelosen Ge‐ schichtsschreibung, welche ihren Stoff im Gewand leerer und unselbständiger Rhetorik präsentiere und den Leser keineswegs zu fesseln vermöge, sondern 2 Zur Forschungsgeschichte 21 <?page no="22"?> 48 Zu den Antiquitates Romanae als historischer Quelle ausführlich Wiater (2014) 33-45. 49 Bonner (1969). 50 Vgl. etwa Bonner (1969) 104 zur Literaturkritik des Dionysios: „[…] for showing, by an exact anatomy, the distinct beauties, and whence they sprung, there is no critic of antiquity, whose work at any rate is extant, to compare with Dionysius of Halicarnassus.“ 51 Eine solche Vorgehensweise ist angesichts der unsicheren Chronologie der einzelnen Texte nicht unproblematisch. Vgl. Hidber (1996) 10f. 52 Um aus der umfangreichen Publikationsliste nur einige Beispiele anzuführen, vgl. Gabba (1961), (1982a), (1982b). 53 Gabba (1991) ist die Veröffentlichung seiner elf Jahre zuvor gehaltenen Sather Classical Lectures, weshalb die einzelnen Kapitel sich wie Einzelstudien zu verschiedenen Aspekten der Antiquitates Romanae lesen lassen. Der Verfasser verfolgt die erklärte lediglich langweile und ermüde. So war das Geschichtswerk innerhalb der Altertumswissenschaften zumeist lediglich für die Althistoriker von rein inhalt‐ lichem Interesse, die die Antiquitates Romanae denn auch hin und wieder als Quelle heranziehen. 48 Erst über drei Jahrzehnte nach Eggers Studie erschien - bezeichnenderweise im angelsächsischen Raum - eine weitere umfassende Monographie über die Scripta rhetorica des Dionysios, vorgelegt von Stanley Frederick Bonner. 49 Das Ziel der Arbeit bestand wie im Falle Eggers in einer Aufarbeitung sämtlicher literaturkritisch-rhetorischer Schriften, jedoch versuchte Bonner, zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen, indem er zwar einerseits so manche Eigen‐ heit des Dionysios durchaus zur Kenntnis nahm, andererseits allerdings den unbestreitbaren Wert und die Komplexität des klassizistischen Programms erkannte, die die Scripta rhetorica unter den Augen des Lesers entfalten. 50 Die Schriften werden wie im Falle des Corpus Platonicum in eine frühe, mittlere und späte Phase untergliedert 51 und im Hinblick auf die in ihnen entwickelte kritische Methode eingehend analysiert, wobei besonderes Augenmerk auf der Bedeutung des Mimesis-Konzepts für den Klassizismus des Dionysios liegt. Der eigentliche Wendepunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Schriften des Dionysios ist mit den Arbeiten Emilio Gabbas anzu‐ setzen, der in den 1960er Jahren das Terrain für eine sachlich orientierte Herangehensweise vorzubereiten begann und sich zudem nicht der Scheidung von literaturkritisch-rhetorischem und historiographischem Werk anschloss, sondern gerade die Untrennbarkeit dieser beiden Facetten des Schaffens des Dionysios herausstellte. Neben zahlreichen Aufsätzen 52 ist es insbesondere seine im Jahr 1991 erschienene Monographie über die Antiquitates Romanae, welcher die Dionysios-Forschung - sie im Allgemeinen und die Beschäftigung mit dessen Geschichtswerk im Besonderen - ihre Neuorientierung zu verdanken hat. 53 Darin beleuchtet Gabba die Antiquitates aus verschiedenen Perspektiven; 22 2 Zur Forschungsgeschichte <?page no="23"?> Absicht, seinen Gegenstand nicht einer wertenden Beurteilung zu unterziehen, sondern zu verstehen, s. ebd. 9. Vgl. die Rezensionen von Harmon (1991), Walbank (1992), Wiedemann (1992) und Schultze (1995). 54 S. Gabba (1991) 213: „Remote as he was from Livy’s pessimism, the Greek historian viewed and judged imperial Rome from the perspective of Greek universalism, which was distinct from the Roman and Italian views of Augustus and Livy. Dionysius wrote of Rome’s archaic period, but he was intent on imperial Rome. He was more concerned with the new historical reality, its cultural presuppositions, and its political and social functions than with the form of its government or the dominant ideology expounded by the princeps.“ 55 Gut lesbare Übersetzungen in andere europäische Sprachen gibt es durchaus, etwa für das Französische Fromentin / Schnäbele (1990), Fromentin (1998) und Sautel (1999) und ins Englische Carey (1937-1950). 56 Es handelt sich hierbei um eine Übertragung der Antiquitates ins Deutsche von Johann Lorenz Benzler, erschienen in den Jahren 1771 und 1772 unter dem Titel „Römische Alterthümer“, sowie um eine zwölf Bände umfassende Übersetzung von Gottfried Jakob Schaller und Adolph Heinrich Christian, „Urgeschichte der Römer“, erschienen von 1827 bis 1850. er untersucht ihre Bedeutung, zumal in politischer Hinsicht, für die Zeit und das Umfeld, in dem sie entstanden sind, als Gegengewicht zu einer offenbar in der griechischen Welt verbreiteten anti-römischen Haltung. Die These von Rom als eigentlich griechischer Polis, die den Kern der Antiquitates darstellt, wird von Gabba keineswegs als opportunistische Anbiederung des Dionysios an die neue Weltmacht Rom interpretiert, sondern vielmehr als Ausdruck einer gemeinsamen kulturellen Identität. 54 Darüber hinaus wird das von Dionysios vertretene Konzept des Attizismus herausgearbeitet und in Bezug gesetzt zu dem in der frühen Kaiserzeit in sämtlichen Medien dominierenden Klassizismus. Gabba zieht ferner Verbindungslinien zwischen Dionysios und den römischen Antiquaren, wie er überhaupt dessen historische Methode gezielt analysiert und zeitlich einordnet und somit einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis von Entstehung und Wirkungsabsicht der Antiquitates leistet. Der vergleichsweise geringe Bekanntheitsgrad der Antiquitates Romanae und ihre Vernachlässigung durch die wissenschaftliche Forschung mag zum Teil auch - zumindest was den deutschen Sprachraum anbelangt - auf den Umstand zurückzuführen sein, dass lange Zeit keine deutsche Übersetzung verfügbar war, welche modernen Anforderungen genügte. 55 Zwar existierten zwei Übersetzungen ins Deutsche, jedoch veraltet, stammen sie doch aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert 56 und waren noch in den 1990er Jahren für denjenigen, der 2 Zur Forschungsgeschichte 23 <?page no="24"?> 57 So Hidber (1996) VIII Anm. 7. Inzwischen existiert von Benzlers Übersetzung ein gut zugängliches Digitalisat auf der Internetseite der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: http: / / digitale.bibliothek.uni-halle.de/ vd18/ content/ titleinfo/ 1219872 0#, aufgerufen am 03.06.2019. 58 Wiater (2014) und (2018) und Städele (2020). 59 Hidber (1996). 60 Hidber (1996) IX. sich mit Dionysios beschäftigen wollte, in der Praxis nur schwer konsultierbar, da in kaum einer philologischen Bibliothek im Bestand. 57 Allerdings sind inzwischen zwei neue Übersetzungen hinzugekommen. 58 Dies ist als Ausdruck der mittlerweile veränderten Sichtweise auf Dionysios zu werten. So kann man in den letzten drei bis vier Jahrzehnten von einer regelrechten Dionysios-Renaissance sprechen; die Zahl der Publikationen ist inzwischen erheblich angestiegen. Dies trifft vor allem für die Scripta rhetorica zu, aber auch grundsätzlich für die Antiquitates Romanae. Gleichwohl scheint die Unterscheidung zwischen literaturkritisch-rhetorischem und historiogra‐ phischem Werk nach wie vor die Regel zu sein und ist auch die neuere Literatur zu Dionysios überwiegend durch die Auseinandersetzung mit den rhetorischen Schriften charakterisiert. Obgleich bereits die frühen Arbeiten Gabbas einen neuen Weg zur Beurtei‐ lung des Dionysios von Halikarnass beschritten, ist die wirklich intensive Wiederbelebung der Dionysios-Erforschung und der Richtungswechsel hin zu einer weniger vorurteilsbehafteten Einschätzung in die 1990er Jahre zu datieren. So legte Thomas Hidber 1996 nicht nur einen mustergültigen Kommentar zur praefatio von De oratoribus veteribus vor, sondern zudem eine ausgezeichnete Einführung in Leben und Werk des Dionysios und eine gründliche Untersu‐ chung von dessen klassizistischer Weltanschauung. 59 Die Analyse der praefatio war seit Langem ein Desiderat und leistet einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis des gesamten Schaffens des Dionysios, denn „[d]ie besondere Bedeutung dieses kurzen Textes liegt darin, dass er das einzige formulierte Programm des griechischen attizistischen Klassizismus der augusteischen Zeit darstellt“. 60 Besonders die einführenden Kapitel von Hidbers Edition enthalten eine ausführliche Aufarbeitung dessen, was wir über den Klassizismus des Dionysios und seines Umfeldes wissen können, insbesondere über das Konzept der φιλόσοφος ῥητορική nach Isokrates und die von Dionysios propagierte und praktizierte Mimesis der als „klassisch“ definierten Autoren. Auch wird, wenngleich es sich vordergründig um die Edition einer der literaturkritischen Schriften handelt, die Brücke geschlagen zu den Antiquitates Romanae und deren Bedeutung innerhalb des klassizistischen Bildungsprogramms herausgestellt. 24 2 Zur Forschungsgeschichte <?page no="25"?> 61 Goudriaan (1989). 62 De Jonge (2008). Für unser Thema von Bedeutung ist ferner de Jonge (2012a). Zu sprachtheoretischen Fragestellungen in den Scripta rhetorica vgl. zudem Schenkeveld (1983). 63 Vgl. Radermacher (1903) 970f. Speziell dem klassizistischen Programm des Dionysios hatte bereits wenige Jahre zuvor Koen Goudriaan eine großangelegte Studie gewidmet. 61 Im Bereich der Beschäftigung mit den literaturkritisch-rhetorischen Schriften des Dionysios ist zudem besonders Casper C. de Jonge zu nennen, der in den vergangenen rund 15 Jahren mehrere Studien dazu vorgelegt hat, unter denen insbesondere seine umfassende Monographie über die Scripta rhetorica hervorzuheben ist. 62 Der darin verfolgte Forschungsansatz scheint auf den ersten Blick den Studien Eggers und Bonners zu gleichen, indem de Jonge die Scripta rhetorica auf die in ihnen dargelegten Erörterungen zur sprach‐ lich-stilistischen und Literaturtheorie hin untersucht und diese in ihren histo‐ rischen Kontext einordnet. Allerdings liegt sein Schwerpunkt, anders als in den genannten vorangegangenen Arbeiten, auf den von Dionysios behandelten linguistischen Fragestellungen, mehr als auf dessen Literaturkritik. So widmet er sich sämtlichen bei Dionysios begegnenden Problemen von Sprache, von dem Verhältnis zwischen Bezeichnungen und Dingen und den grammatischen Bestandteilen von Reden hin zu den stilistischen Unterschieden zwischen Poesie und Prosa, von Syntax und Metathesis bis zu den Verbindungspunkten zwischen rhetorischer und philosophischer, metrischer, poetischer und musikalischer Theorie. Dabei gelingt es ihm zu zeigen, dass der Literatur- und Rhetorikspe‐ zialist Dionysios nicht, wie von der wissenschaftlichen Forschung behauptet wurde, lediglich dadurch für die Nachwelt von Wert sei, dass man aus seinen Schriften die Ideen früherer Sprach- und Literaturtheoretiker rekonstruieren könne, wohingegen eine eigene Leistung kaum erkennbar sei. 63 Zwar lässt sich durch eine gründliche Analyse der einzelnen Texte nachweisen, dass Dionysios zahlreiche zu seiner Zeit kursierende Theorien von Sprache und Literaturkritik gekannt und in seinen Abhandlungen verarbeitet hat, jedoch wäre es verfehlt, ihn deshalb als schlichten Vielleser und Kompilator fremder Ideen zu betrachten. Durch eine sorgfältige Verortung in ihrem intellektuellen und historischen Kontext vermag de Jonge dieses Vorurteil gegenüber den Scripta rhetorica überzeugend zu widerlegen und die Eigenleistung des Diony‐ sios herauszustellen: Dieser verstand es durchaus, in Auseinandersetzung mit den verschiedenen sprachlich-stilistischen und literarischen Theorien seiner Vorgänger ein eigenes Konzept zu entwickeln, sein sogenanntes klassizistisches 2 Zur Forschungsgeschichte 25 <?page no="26"?> 64 Vgl. de Jonge (2008) 395: „Dionysius does not merely refer to ideas from earlier and contemporary scholars, but also brings them together in a coherent system of rhetorical teaching.“ 65 Wiater (2011a). 66 Wiater (2011a) 52. 67 Vgl. Wiater (2011a) 166. 68 Wiater (2011a) 169. 69 Wiater (2011a) 103. De Jonge (2012b) merkt an, dass Wiaters grundsätzlicher Ansatz nicht gänzlich neu ist, da ihm bereits Goudriaan (1989) vorausgegangen war. Programm. 64 Seine Abhandlung De compositione verborum, die von de Jonge genauestens untersucht wird, legte erstmals die historische Entwicklung der Wortarten dar und leistete damit für die Antike Pionierarbeit. Nicolas Wiater wiederum legte nur wenig später ebenfalls eine Monogra‐ phie 65 über den Klassizismus des Dionysios vor. Sein Ziel ist es, diesen nicht als lediglich sprachlich-literarisches, sondern vielmehr als soziokulturelles Phä‐ nomen zu betrachten: „Why did it make sense to Greek and Roman intellectuals in Augustan Rome to attempt to speak and write like Lysias, Isocrates, or De‐ mosthenes? “ 66 Zentrale Begriffe des dionysianischen Klassizismus-Konzeptes wie Mimesis, φιλόσοφος ῥητορική und πολιτικοὶ λόγοι werden von Wiater einer eingehenden Untersuchung unterzogen und auf ihre Rolle innerhalb dieses Konzeptes hin beleuchtet. Hierfür nimmt er nicht allein das literaturkritische Corpus in den Blick, sondern berücksichtigt ebenso die Antiquitates Romanae insofern, als ihm das „historical programme“ des Dionysios im Verhältnis zu dessen Klassizismus wichtig erscheint. Von besonderem Interesse ist für ihn die Frage, ob letzterer eine Erklärung dafür liefere, warum Dionysios gerade die Anfänge der römischen Geschichte als Gegenstand historischer Reflexion auswählte. 67 Nur innerhalb des klassizistischen Weltbildes ist diese Entscheidung Wiater zufolge verständlich: 68 So haben die Römer es vermocht, die einst mächtige φιλόσοφος ῥητορική wieder in ihre alten Rechte einzusetzen, indem sie diese mit politischer Macht vereinen. Augusteische Gegenwart und klassische Vergangenheit werden hier von Dionysios in eine wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung gesetzt, da die Machtstellung der Römer im 1. Jahr‐ hundert v. Chr. durch deren Verkörperung früherer griechischer Werte ihre Legitimation erhält; die Epoche der griechischen Klassik wiederum erlangt auf diese Weise eine Bedeutung für die Gegenwart, welche die jeder anderen Epoche überragt. 69 Die bisher genannten Studien beziehen in mehr oder weniger hohem Um‐ fang auch das Geschichtswerk des Dionysios in ihre Fragestellungen ein, die literaturtheoretischen Abhandlungen stehen dort jedoch im Vordergrund des Forschungsinteresses. Die Antiquitates Romanae werden zumeist als Bestandteil 26 2 Zur Forschungsgeschichte <?page no="27"?> 70 Eine Brücke zwischen den beiden Textcorpora des Dionysios schlagen in jüngster Zeit Hunter / De Jonge (2019) und Meins (2019). 71 Vgl. Schultze (1986) 121: „Considered as a historian, on any unprejudiced assessment he cannot be counted among the greatest, or even among writers of the second rank. The Antiquitates Romanae is not read for the insight and originality of its thought; it is not a book of outstanding literary merit […]. […] a middling work […]. While he is by no means a great writer […].” Vgl. ferner Hidber (1996) VIIf. 72 Burck (²1964). 73 Vgl. Burck (²1964) 6. 74 Vgl. etwa Burck (²1964) 149, 151, 152. des dionysianischen Klassizismus interpretiert, als Quelle zum Verständnis dessen, was in den Scripta rhetorica in literaturtheoretischer Form ausgeführt wird. Zwar ist darin ein wichtiger Fortschritt zu sehen, indem sich in der Forschung allmählich ein Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit beider Corpora etabliert, allerdings scheint das Geschichtswerk insgesamt nach wie vor eine der Literaturkritik unterbzw. nachgeordnete Rolle zu spielen und als Werk von eigenem Wert noch nicht angemessen wahrgenommen zu werden. 70 Die Antiquitates als literarischer Text sind im Verhältnis zu den literaturkritischen Schriften noch wenig studiert, eine grundlegende narratologische Analyse fehlt bislang zur Gänze. Zu lange galt Dionysios als langatmiger und wenig origineller Schriftsteller, nicht als ernst zu nehmender Historiker. 71 In den 1930er Jahren unternahm Erich Burck einen Vorstoß in Richtung einer narratologischen Auseinandersetzung mit dem Geschichtswerk des Dionysios, indem er seine Analyse des Livius auf eine kontinuierliche Gegenüberstellung mit den Antiquitates bettete. 72 Obgleich er letztere, entsprechend dem Ziel seiner Untersuchung, primär als Folie gebraucht, um die Eigenarten der livianischen Darstellungsweise klarer aufzeigen zu können, 73 und obgleich auch er es an wertenden Urteilen zuungunsten des Dionysios nicht fehlen lässt, 74 so leistet seine Analyse dennoch einen wichtigen Beitrag für die Wahrnehmung des Dionysios als Erzähler. Sie widmet sich zentralen Gestaltungselementen wie der Strukturierung des Stoffes, dem Einsatz von enargeia und dem Erregen der Emotionen des Lesers und benennt einige Charakteristika der Antiquitates wie etwa die Ausführlichkeit der Darstellung und die insbesondere das innere 2 Zur Forschungsgeschichte 27 <?page no="28"?> 75 Vgl. dazu Burck (²1964) 136: „Neben seiner Kürze unterscheidet sich der Livianische Bericht von den Parallelberichten des Dionys und Plutarch (Romulus) am meisten dadurch, daß Livius keines der Ereignisse aus der ältesten Sagengeschichte (z. B. Aeneas und Latinus, Aussetzung der Zwillinge, Tod des Amulius) zu einer geschlossenen novellistischen Einzelszene gestaltet hat, wie sie sich sehr zahlreich bei jenen finden. Im Einklang damit hat Livius auf jede individuelle, psychologisch vertiefte Charakterisie‐ rung der handelnden Personen verzichtet, während Dionys und Plutarch aus diesem Bemühen heraus sich oft zu einer krassen Modernisierung der ältesten Römer fortreißen lassen.“ 76 Haas (2015). 77 Delcourt (2005). Empfinden hervorhebende Charakterisierung von Einzelfiguren. 75 Erschöpfend geht Burck hierbei freilich nicht vor, da es ihm vorrangig auf Livius ankommt. Die unlängst erschienene vergleichende Analyse der Antiquitates mit dem Geschichtswerk des Livius von Philip Haas 76 klammert Fragen der Erzähltechnik weitestgehend aus und unternimmt es stattdessen, die Motivik beider Autoren in ihrer Beziehung zum augusteischen Diskurs zu beleuchten. So stellt nicht nur eine Untersuchung der Darstellungsweise des Dionysios, sondern auch der narratologische Vergleich zu Livius noch immer ein Desiderat dar. Freilich liegt dies nicht zum Mindesten in der Schwierigkeit der relativen Chronologie begründet, da in der Forschung bis heute umstritten ist, ob Livius vor oder nach Dionysios schrieb bzw. publizierte und inwieweit einer den anderen als Quelle für sein eigenes Werk verwendet haben könnte. Allerdings wären derartige Bedenken nicht zwingend angebracht, da es sich bei einer Studie, welche die Erzählweise beider Autoren in den Blick nimmt, ja um eine rein textimmanente Untersuchung handeln würde, die weitestgehend unabhängig von außerliterarischen Umständen die Art und Weise analysierte, wie Livius und Dionysios denselben Stoff je nach Wirkungsabsicht unterschiedlich darstellen. Die Frage, „wer zuerst da war“, ist dafür nicht zwingend relevant und könnte ausgeklammert werden. Nicht speziell mit narratologischen Fragestellungen, aber mit Strategien zur Leserlenkung im weiteren Sinne befasst sich die Studie Anouk Delcourts, 77 die als umfassendste Monographie über den Historiker Dionysios seit derjenigen Gabbas anzuführen ist und die erstmals gezielt die historiographische Vorge‐ hensweise in den Blick nimmt, mittels derer die Antiquitates dem Leser die These von der griechischen Polis Rom nahezubringen suchen. Im Zentrum steht das Geschichtsbild der Antiquitates, das die unauflösliche Verflechtung von Römischem und Griechischem kohärent präsentiert. Neben der obligatori‐ schen Situierung im kulturellen Kontext der augusteischen Zeit ist es zunächst die Bedeutung Griechenlands für dieses Geschichtsbild, die Delcourt herausar‐ 28 2 Zur Forschungsgeschichte <?page no="29"?> 78 Zit. bei Plut. Cam. 22,2; s. Delcourt (2005) 114. 79 Vgl. Delcourt (2005). Generell von Nutzen für die Analyse der Darstellung einzelner Episoden ist zudem der von Paul Martin herausgegebene Pallas-Band von 1993. Die dort versammelten Aufsätze sind im Literaturverzeichnis jeweils unter dem Namen ihres Verfassers zu finden. beitet; insbesondere die Rolle Arkadiens, Athens und Spartas wird eingehend untersucht. Das (freilich idealisierte) Griechische spielt eine wesentliche Rolle insofern, als die römische Geschichte von Anbeginn davon durchdrungen und geprägt ist, die Stadt Rom ethnisch und kulturell für Dionysios eine griechische Polis darstellt. Das Bestreben des Dionysios ist es, nach Möglichkeit sämtliche Einrichtungen und Traditionen der Römer auf griechische Vorbilder zurückzu‐ führen, um so eine eigentlich griechische Identität für seine Wahlheimat zu konstruieren. Namentlich in vier Bereichen ist dies besonders augenfällig: in ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, Kultur und Institutionen. Man kann hier mitnichten von einer neuen Idee, von einer originalen Schöpfung des Dionysios sprechen, denn die Vorstellung von Rom als griechischer Polis begegnet bereits mehrere Jahrhunderte vor seiner Zeit, etwa bei Herakleides Pontikos. 78 Jedoch propagiert kein anderer Text diese These mit derartigem Nachdruck wie die Antiquitates Romanae, die die römische Geschichte unermüdlich in hellenische Traditionen integrieren und ihren griechischen Rezipienten gewissermaßen eine Apologie für die Weltherrschaft des imperium Romanum liefern möchten. Allerdings ist dies ein wechselseitiger Prozess: Das griechische Element, die griechische Tradition, wird eingesetzt, um Dionysiosʼ Vorstellung der römischen Frühzeit zu konstruieren, andererseits dient die römische Geschichte wiederum dazu, die eigentliche Überlegenheit der griechischen Kultur hervorzuheben und durch Ausdehnung und Dauer des römischen Reiches ihren Fortbestand zu garantieren. Besondere Beachtung schenkt Delcourt in ihrer Analyse der Darstellung der Königszeit, vor allem der Figur des Romulus, welcher in den Antiquitates nicht allein als Stadtgründer auftritt, sondern darüber hinaus gleich zu Beginn all ihre Einrichtungen und Gebräuche (nach griechischem Modell) begründet und damit für die spätere Entwicklung maßgeblich verantwortlich zeichnet. Der Niedergang der Königsherrschaft, ihre Entartung in Richtung der Tyrannis, und die negativen Konnotationen des Terminus rex werden von Dionysios erst mit dem sechsten römischen König Servius Tullius in Verbindung gebracht und nicht wie sonst in der Tradition, etwa in der Darstellung des Livius, bereits bei Tarquinius Priscus angesetzt. 79 Dionysios von Halikarnass hat in der philologischen Forschung somit in den letzten Jahrzehnten eine erhebliche Aufwertung erfahren: Sowohl die Sprach- und Stilkritik als auch das Geschichtswerk stehen in weitaus höherem Ansehen, 2 Zur Forschungsgeschichte 29 <?page no="30"?> als dies noch vor rund 90 Jahren der Fall war. Abwertende Polemik kennzeichnet nicht mehr den Ton der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die historische Arbeitsweise und die Quellen des Dionysios für die Antiquitates Romanae sind inzwischen umfassend erschlossen, es liegen mehrere jüngere Studien zu seinen literaturkritischen Schriften als solchen und zu seinem klassizistischen Bildungsideal vor. Umso mehr sticht hervor, welch geringe Aufmerksamkeit bislang dem literarischen Aspekt der Antiquitates zuteilgeworden ist. In dieser Hinsicht versucht die vorliegende Arbeit eine Lücke zu schließen. 30 2 Zur Forschungsgeschichte <?page no="31"?> 80 V.a. durch Bowersock (1965), Hidber (1996), Wiater (2011a). 81 Vgl. Delcourt (2005) 25: „De Denys, nous ne savons donc pour ainsi dire rien avant son arrivée dans l’Vrbs.” 82 Einen ebenso knappen wie alles Wesentliche umfassenden Abriss bietet Hidber (1996) 1-8, dem ich hier weitestgehend folge. Vgl. auch Delcourt (2005) 24ff. 83 Hidber (1996) 2 mit Verweis auf ant. 2,6,4 und entsprechende Sekundärliteratur. 84 Ant. 1,8,4. 85 Im Jahre 8 oder 7 v. Chr., vgl. Hidber (1996) 1 mit Verweis auf ant. 1,7,1-2 und 7,70,2. Vgl. auch Gabba (1991) 1. 86 Delcourt (2005) 36. S. auch Hidber (1996) 1 Anm. 14; Delcourt (2005) 35: „La trace de Denys se perd en 7 a.C.n., année de publication du premier livre des Antiquités romaines. Les dernières années de sa vie retrouvent le mystère qui embrume sa jeunesse. Sans doute Denys demeure-t-il dans l’Vrbs quelques années encore, afin de mettre un 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnass Im Folgenden möchte ich einige grundlegende Bemerkungen machen, die der Verortung des Dionysios und seines rhetorisch-literaturkritischen wie historio‐ graphischen Schaffens im kulturellen Kontext seiner Zeit dienen sollen, da in den weiteren Kapiteln meiner Untersuchung wiederholt bestimmte Aspekte dieses Kontextes eine Rolle spielen. 3.1 Leben, Werk und Zeit Der soziokulturelle Hintergrund des Lebens und Wirkens des Dionysios ist inzwischen ausgezeichnet erforscht. 80 Zwar können im Einzelnen nur wenige gesicherte Aussagen über seinen Lebensweg gemacht werden, 81 eine grobe Struktur lässt sich jedoch anhand der autobiographischen Äußerungen in den Antiquitates Romanae durchaus rekonstruieren. 82 Als Geburtsdatum ist etwa 60 v. Chr. anzunehmen, 83 der Geburtsort Halikarnass wird von Dionysios selbst genannt. 84 Nach Rom kam er im Jahre 30 oder 29 v. Chr., dort erschien auch rund 20 Jahre später das erste Buch seines Geschichtswerkes. 85 Zutreffend dürfte Hidbers Annahme sein, Dionysios habe zumindest bis zum Abschluss der Publikation der Antiquitates noch in Rom gelebt; über seinen weiteren Aufenthaltsort ist nichts bekannt, wenngleich manche byzantinische Quellen von angeblichen Nachkommen des Historikers in Halikarnass zu berichten wissen. 86 <?page no="32"?> terme à la parution de son œuvre historique. Pour le reste, les Modernes doivent se contenter d’une triste compagne, l’incertitude.“ 87 S. Gabba (1991) 1 f. und Hidber (1996) 2; 4 Anm. 34. 88 Vgl. Hidber (2011) 117: „By the end of the first century BCE no Greek city could compete any more with Rome for being the cultural and intellectual centre of the Graeco-Roman world.” Einen weiteren Aspekt, der für eine Studie über die Antiquitates Romanae nicht uninteressant ist, erwähnt Bowersock (1965) 123f.: „The flow of Greeks to Rome after Antony’s defeat illustrates an important fact: Actium saved Graeco-Roman culture. It brought an end to that anti-eastern propaganda which the war with Antony had forced upon Octavian.” 89 Vgl. für die Zeit der späten Republik als grundlegende Studie Bowersock (1965). Bereits damals, nicht erst unter Augustus, wurden die Dienste griechischer Denker von Angehörigen der römischen Oberschicht zu propagandistischen Zwecken in Anspruch genommen. So schrieb Archias über die Feldzüge des Lucullus, Poseidonios über diejenigen des Pompeius. Der Stoiker Diodotos konzipierte ein auf Griechisch verfasstes Werk über Caesar, Empylos von Rhodos schrieb eine Darstellung der Ermordung Caesars, welche Cicero las; s. Bowersock (1965) 4. Vgl. auch Woolf (2011) 59-88. 90 Eine Ausnahme bilden wahrscheinlich Apollodoros von Pergamon, Theodoros von Gadara, Diodoros von Sizilien und Philoxenos, die bereits vor Actium aus eigenem Entschluss nach Rom übersiedelten. S. Hidber (1996) 3 f. und de Jonge (2008) 26; speziell zu Philoxenos und Tyrannion als Verfasser grammatischer Schriften Hintzen (2011). Bemerkenswert ist, dass u.a. Philoxenos das Lateinische als griechischen Dialekt betrachtete. Bei seiner Ankunft in Rom traf Dionysios ein reges griechisches Kulturleben an. Mit der Schlacht bei Actium fand bekanntlich ein rund 200 Jahre währender Prozess sein vorläufiges Ende: Der griechische Osten war nunmehr, ungeachtet der wiederholten Deklarierung als Befreiung der Hellenen vom Joch eines Mithridates oder Antiochus, endgültig ins Römische Reich integriert. Die grie‐ chischen Staaten hatten, wie das Beispiel der Heimatstadt des Dionysios zeigt, zum Teil erheblich unter den Auswirkungen der allzu häufig auf ihrem Boden ausgetragenen Bürgerkriege gelitten. 87 Rom entwickelte sich in der Folgezeit zum bedeutendsten Anziehungspunkt für Denker aus dem griechisch geprägten Teil des Reiches und hatte nunmehr auch auf kultureller Ebene die Vormacht‐ stellung der alten Geistesmetropolen Athen, Pergamon und Alexandria über‐ nommen. 88 Berührungspunkte auf geistiger Ebene hatte es zwischen Griechen und Römern freilich schon früher gegeben. Bereits seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. unternahmen junge Angehörige der römischen Elite „Bildungsreisen“ in den griechischen Osten, insbesondere um dort Philosophie und Rhetorik zu stu‐ dieren. Der Rhetorikunterricht, den Cicero bei dem griechischen Redner Molon nahm, ist nur das bekannteste Beispiel. 89 Waren bereits während der römischen Eroberungsphase griechische Intellektuelle wie etwa Polybios überwiegend unfreiwillig als politische Geiseln oder Kriegsgefangene nach Rom gelangt, 90 so strömten nach Beendigung der Bürgerkriege zahlreiche Denker aus dem Osten 32 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="33"?> 91 Vgl. Hidber (1996) 4: „Begab sich Dionys nach Rom, folgte er damit also dem bereits anschwellenden Strom griechischer Literaten, die in Erwartung besserer Arbeitsbedin‐ gungen in der Metropole ihrer Heimat den Rücken kehrten.“ Vgl. ferner Hidber (2011) 115; auch hier grundsätzlich Bowersock (1965), zu griechischen Schriftstellern speziell im augusteischen Rom ebd. 31-41 sowie 122-139. Gabba (1991) 3 sieht einen wichtigen Unterschied zu Polybios darin, dass die Auseinandersetzung des Dionysios mit Rom auf freiwilliger Basis stattgefunden habe. 92 Im Jahre 29 v.-Chr.; vgl. Hidber (1996) 2f. 93 S. Bowersock (1965) 134-138; de Jonge (2008) 25. 94 S. de Jonge (2008) 26. 95 Vgl. Delcourt (2005) 32 mit Verweis auf Pomp. 3,20. 96 Eine instruktive Übersicht über die griechischen Autoren im Rom der zweiten Hälfte des 1.-Jahrhunderts v.-Chr. findet sich bei Hidber (2011) 122f. 97 Vgl. Bowersock (1965) 139: „It could never be said that the reign of Augustus was deficient in Greek literature; the bulk of it was actually enormous. Lacking were imagination and genius; creativity - in drama, mime, fiction, elegy, pastoral, or epic - was utterly absent. There were historical works in abundance, and occasional verse to celebrate persons and events; there were also the products of the schools, treatises on rhetoric and literary criticism. The authors themselves […] are all distinguished by their dependence upon men of state.“ 98 De Jonge (2008) 25-34, hier 26 unter Verweis auf Wisse (1995) 78-80: „It has been pointed out that Dionysius was part of a ‚network‘ of intellectuals, who exchanged their ideas on language and literature.” Vgl. zum intellektuellen Umkreis ferner Rhys Roberts (1900) und Delcourt (2005) 30-35. nun aus freien Stücken in die neue Hauptstadt der Welt und entfalteten dort eine breitgefächerte literarische Tätigkeit. 91 Der Historiker und Geograph Strabon gelangte etwa zur selben Zeit wie Dionysios nach Rom; 92 der Historiker Nikolaos von Damaskus, Verfasser einer Biographie des Augustus, hielt sich wiederholt in diplomatischer Mission dort auf. 93 Ebenfalls als Autor einer Augustus-Bio‐ graphie bekannt ist Timagenes von Alexandrien, der im Jahre 55 v. Chr. als Kriegsgefangener nach Rom gelangt war. 94 Caecilius von Kaleakte wird von der Forschung meist neben Dionysios als der „andere“ bedeutende griechische Rhetoriker im augusteischen Rom und als enger Freund genannt. 95 Er firmiert als Verfasser eines Werkes mit dem Titel Περὶ ὕψους sowie rhetorischer Schriften und einer Abhandlung, wie man Geschichte schreiben solle. 96 Im augusteischen Rom lebte und wirkte eine Vielzahl griechischer Denker, was angesichts der in der philologischen Forschung üblichen Verengung auf die als repräsentativ geltenden „Augusteer“ wie Vergil, Horaz und Ovid bisweilen in Vergessenheit gerät. 97 Ob die in Rom wirkenden griechischen Schriftsteller einen festen Intellek‐ tuellen-Zirkel bildeten, ist fraglich. De Jonge spricht von einem „Netzwerk“ von Intellektuellen, die einen regen Austausch von Ideen pflegten. 98 Die Forschung konnte zumindest den näheren Umkreis des Dionysios anhand 3.1 Leben, Werk und Zeit 33 <?page no="34"?> 99 S. etwa de Jonge (2008) 27-29; Hidber (1996) 5-7. 100 S. Dihle (2011) 54. 101 Delcourt (2005) 34. 102 Vgl. Delcourt (2005) 33-35. Fragmente und weitere Informationen zu seiner Biographie bei Beck / Walter (2001 / 2004) 2, 346-357. Zur Rolle griechischer Dichter innerhalb des römischen Patronagesystems s. Whitmarsh (2011). 103 Vgl. Delcourt (2005) 29: „[…] il faut remarquer aussi que Denys semble se désintéresser totalement de la littérature latine non historiographique. Nulle trace chez lui des poètes si brillants de son époque, qui évoquent pourtant en maintes occasions le passé romain; l’absence de Virgile est d’autant plus étonnante que le premier livre des Antiquités romaines accorde une large place à Énée et ses Troyens.” 104 Für eine mögliche Anspielung auf Cicero im De Thucydide (Thuc. 50) s. de Jonge (2008) 15. Vgl. Delcourt (2005) 29f. 105 Ant. 1,7,2. Vgl. dazu Delcourt (2005) 28-30. Zum Umgang des Dionysios mit seinen Quellen s. ferner Fromentin (1998) 52-60. 106 Eine übersichtliche Zusammenstellung bietet Delcourt (2005) 29 Anm. 45. der Widmungsträger seiner rhetorischen Schriften identifizieren, zu denen offenbar sowohl Griechen als auch Römer zählten. 99 Dionysios bewegte sich somit nicht in einem vom römischen Kulturbetrieb abgetrennten und rein griechisch geprägten Elfenbeinturm. Grundsätzlich scheint die Mehrzahl der griechischen Denker, die sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert in Rom aufhielten, eine pro-römische Einstellung gehabt und die neue Hauptstadt der Welt als einen dem griechischen Polis-System ähnlichen Stadtstaat betrachtet zu haben. 100 Als römischer Vermittler scheint in diesem Kreis Q. Aelius Tubero von besonderer Bedeutung gewesen zu sein, der als eine Art Patron für Dionysios fungierte - Delcourt nennt ihn „l’ami et protecteur de Denys“ 101 - und, aus einflussreicher Familie stammend und in hohem Maße literarisch interessiert, selbst als Verfasser eines Geschichtswerkes hervortrat, das mindestens von den Anfängen Roms bis zu den Bürgerkriegen reichte und sowohl von Dionysius als auch von Livius benutzt wurde. 102 Inwieweit Dionysios in Kontakt mit den lateinischen Dichtern seiner Zeit wie Ovid, Vergil, Horaz u.a. kam, lässt sich nicht mit Gewissheit feststellen, da er die heute als „typisch augusteisch“ geltenden Autoren in seinen Werken nicht erwähnt. 103 Erstaunlicherweise findet sich auch in seinem gesamten erhaltenen Œuvre einschließlich der rhetorischen Schriften kein einziger direkter Hinweis auf Cicero. 104 Nach eigener Aussage erlernte Dionysios in Rom die lateinische Sprache und hatte somit unmittelbaren Zugang zu den Quellen für sein Geschichtswerk, ob es sich nun im Einzelnen um schriftlich Festgehaltenes wie historiographische Texte oder allgemein um Dokumente in Archiven oder um mündliche Überlieferung handelte. 105 Er nennt auch immer wieder namentlich Quellen, die er für die Antiquitates herangezogen habe. 106 Wie verhält es sich allerdings in dieser Hinsicht mit dem großen 34 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="35"?> 107 Vgl. hierzu exemplarisch Delcourt (2005) 29: „On s՚étonnera davantage, en revanche, de certaines absences. Tite-Live, d’une part, n’est jamais mentionné par son collègue d’Halicarnasse.” Gabba (1991) 95 und 213 ist sich sicher, dass Dionysios das Geschichts‐ werk des Livius gekannt haben müsse und die teilweise unterschiedliche Gestaltung bestimmter Episoden als bewusste Abgrenzung von diesem anzusehen sei. Diese Annahme bleibt freilich hypothetisch. 108 Vgl. Delcourt (2005) 39 Anm. 1. 109 Im Einzelnen sind dies: die Epistula ad Ammaeum I und II, De compositione verborum, De Dinarcho, De oratoribus veteribus (Praefatio, De Lysia, De Isocrate, De Isaeo), De Demosthene, De Thucydide sowie die Epistula ad Cn. Pompeium Geminum. 110 Sie zu kennen wäre von hohem Erkenntnisgewinn, da gerade die Nachahmung der als vorbildlich definierten Autoren einen Grundpfeiler in Dionysios’ Klassizismus-Konzept darstellt. 111 Vgl. Delcourt (2005) 40: „Œuvre historique et réflexion littéraire constituent certes les deux pôles de l’activité intellectuelle de Denys, mais ces pôles ne se superposent pas: ils sont intimement entremêlés.” Vgl. ferner Sacks (1983). Die Betätigung als Historiker einerseits und als Sprach- und Stilkritiker andererseits mag für heutige Vorstellungen erstaunlich anmuten, war aber in der griechisch-römischen Antike nicht weiter ungewöhnlich, s. Sacks (1983) 383. lateinischen Gegenstück, dem Geschichtswerk des Livius? Ob und inwieweit dieser Dionysius als Quelle gedient haben mag, ist nicht zu eruieren, da er in den Antiquitates mit keinem Wort erwähnt wird. 107 Somit gestaltet sich auch die relative Chronologie beider Geschichtswerke problematisch. Von den ursprünglich 20 Büchern der Antiquitates Romanae sind die ersten zehn vollständig und das elfte größtenteils erhalten, die Bücher 12 bis 20 lediglich durch Fragmente kenntlich, deren Einordnung schwierig ist. 108 Neben den Antiquitates Romanae ist von Dionysios ein umfangreiches Corpus an Schriften literaturkritisch-rhetorischen Inhalts überliefert, das größte erhal‐ tene aus der griechisch-römischen Antike. Es umfasst Abhandlungen und Briefe an Personen aus dem intellektuellen Umkreis des Dionysios und beschäftigt sich vorrangig mit sprachlich-stilkritischen Fragestellungen. 109 Bedauerlicherweise nur fragmentarisch tradiert ist die Abhandlung De imitatione. 110 Historiogra‐ phie und Literaturkritik sind im Schaffen des Dionysios nicht voneinander zu trennen, wiewohl die philologische Forschung ihn zumeist entweder als Historiker oder als Literaturkritiker untersucht, was freilich auch aus arbeits‐ ökonomischen Gründen naheliegt, da eine erschöpfende Gesamtüberschau über das Werk von einem Einzelnen wohl kaum zu leisten ist. Allerdings ist die Kenntnis der literaturkritischen Schriften für ein adäquates Verständnis der Antiquitates unabdingbar; die Frage, wie man Geschichte schreiben solle, und die Analyse historiographischer Texte anderer Autoren nehmen in ihnen großen Raum ein. Die Opuscula rhetorica bereiten gewissermaßen in der Theorie vor, was sodann in den Antiquitates in praxi ausgeführt ist. 111 3.1 Leben, Werk und Zeit 35 <?page no="36"?> 112 Dihle (2011) 47. Vgl. zur Thematik ferner Wisse (1995). 113 Gabba (1982a) 43 in Bezug auf die praefatio zu orat. vet.: „[…] in a sense, a genuine political-cultural program.“ 114 Hidber (1996). Wichtig zur Thematik ist ferner Gelzer (1979). 115 Konkret ab dem Tode Alexanders 323 v. Chr., vgl. orat. vet. praef. 1,2. Zum umstrittenen Begriff des Hellenismus vgl. Bichler (1983) 140-157 sowie Kassel (1987). 116 Orat. vet. praef. 1,1; 1,2; 2,1; 3,1. Zum klassizististischen Dreischritt s. Gelzer (1979) 10-13, hier 10: „Klassizistische Kunstgestaltung greift bewusst auf schon geschaffene und als vorbildlich anerkannte Werke einer früheren Zeit zurück. Dabei liegt der Neu‐ schöpfung klassizistischer Kunstwerke jeweils eine mehr oder weniger klar formulierte Theorie zugrunde, die sie in ein bestimmtes Verhältnis zu jenen Vorbildern setzt.“ Vgl. auch Hidber (1996) 14f.: „Klassizistische Kunstgestaltung greift […] - in Reaktion auf einen negativ beurteilten Zustand der Kunst der unmittelbaren Vergangenheit bzw. allenfalls auch noch der Gegenwart, - bewusst zurück auf Werke der nun zu massgebenden Vorbildern für das eigene Schaffen erklärten Autoren einer weiter zurückliegenden Periode.“ 3.2 Das klassizistische Konzept des Dionysios Albrecht Dihle bezeichnet den Klassizismus als „dominant factor of the imperial civilization, both on the Greek and Roman side“. 112 Umso wertvoller ist daher die Auseinandersetzung mit den Schriften des Dionysios von Halikarnass, da sie uns die erste umfassend ausgearbeitete klassizistische Theorie der griechisch-römi‐ schen Antike präsentieren. Die Frage, inwieweit Dionysios tatsächlich der erste oder der einzige Intellektuelle war, der überhaupt ein derartiges Unterfangen in Angriff nahm, muss natürlich mit Blick auf die Quellenlage letztlich unbeant‐ wortet bleiben. Wie bereits erwähnt, war er Teil einer klassizistisch orientierten Anzahl griechischer Denker in Rom, jedoch ist einzig von ihm ein derart umfangreiches Schriftencorpus überliefert, das es uns erlaubt, das Wesen dieses Klassizismus näher zu beleuchten. Über das intellektuelle Umfeld des Dionysios in Rom ist in den letzten Jahren umfangreich publiziert worden, besonders der von (und um) Dionysios praktizierte Klassizismus, sein „klassizistisches Programm“, 113 ist Gegenstand mehrerer neuerer Monographien. Grundlegend für das Verständnis des Klassi‐ zismus-Konzeptes, welches uns sowohl in den literaturkritisch-rhetorischen Schriften als auch in seinem Geschichtswerk entgegentritt, ist die Studie Hidbers. 114 So bedient sich Dionysios des Dekadenzmodells des sogenannten klassizistischen Dreischritts, indem er im Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts das Ideal der Literatur und insbesondere der Rhetorik verortet, das in hellenistischer Zeit 115 dem Verfall preisgegeben gewesen sei, jedoch zu Dionysiosʼ eigener Zeit wieder zu alter Geltungsmacht zurückgefunden habe. 116 Dieses Modell geht nicht erst auf Dionysios und sein direktes Umfeld zurück. Von ähnlichen klassizistischen Ansätzen wissen wir bereits aus dem 36 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="37"?> 117 S. Hidber (1996) 23. Vgl. auch Gelzer (1979) 33f. 118 Vgl. Hidber (1996) 19 f., s. auch ebd. 22: „[…] fest steht, dass das Schema des „klassizis‐ tischen Dreischritts“ schon in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. - zumindest im Bereich der bildenden Kunst und einer allgemeinen παιδεία - benutzt wurde, mithin keine Erfindung des Dionys darstellt.“ 119 Hidber (1996) 24: „Das umfassende attizistisch-klassizistische Programm, welches bei Dionys begegnet, hat verschiedene, unterschiedlich weit zurückreichende Wurzeln; bereits im 2. Jh. wurde - zumindest in der Theorie der bildenden Kunst, vielleicht aber auch der Rhetorik - das strukturelle Element des klassizistischen Dreischritts entworfen. Dieses sowie die übrigen, im folgenden zu untersuchenden Elemente und Stränge, bündelten die augusteischen Rhetoren zu einer umfassenden, theoretisch fundierten klassizistischen Bildungs- und Literaturgestaltungskonzeption.“ 120 Zur Entstehung des Attizismus s. Hidber (1996) 30-37; zum römischen Attizismus in Beziehung zu Dionysios ebd. 37-44. Vgl. zudem Gelzer (1979) 19-24. Zu Dionysios als Vorläufer des Attizismus der Zweiten Sophistik s. Swain (1996) 21-27. 121 S. Gelzer (1979) 14-17 und Dihle (2011) 48. 122 S. Gelzer (1979) 16: „Diese erste Diskussion um den Attizismus ist eine Diskussion zwischen Römern und um Römer. Der Attizismus ist wohl in dem Jahrzehnt vor 46 in Rom und für Römer konzipiert worden. Er sollte ihnen einen Weg zeigen, wie auch sie, durch die richtige imitatio der richtigen klassischen Vorbilder, zu echten „Attikern“ werden könnten.“ Als Beleg für die Entstehung des Attizismus in Rom führt Gelzer die berühmte Dionysios-Stelle orat. vet. 3,1 an, in der die Eroberung der Welt durch die Römer als αἰτία und ἀρχή für die Entstehung des Attizismus genannt wird. Vgl. Gelzer (1979) 16f. Hellenismus, jedoch schien es damals noch an einer ausgebildeten klassizisti‐ schen Theorie wie derjenigen des Dionysios zu fehlen. 117 Auch andere Literaten wie etwa Cicero sahen in der Zeit um bzw. nach Alexander einen Wendepunkt. 118 Allerdings scheint es erst im intellektuellen Klima unter Augustus zu einer sys‐ tematischen Ausarbeitung, zur Entwicklung eines regelrechten Programms aus vereinzelt anzutreffenden früheren klassizistischen Tendenzen gekommen zu sein. 119 Inwieweit der römische Attizismus mit der Entstehung des Klassizismus um Dionysios zusammenhängt, ist in der Forschung umstritten. 120 Die für den rhetorischen Diskurs des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zentralen Begriffe des Attizismus und Asianismus tauchen in Rom um die Mitte eben dieses Jahrhunderts bei Cicero erstmals als Schlagworte für zwei unterschiedliche Arten rhetorischer Prosa auf und verweisen auf eine unter römischen Intellek‐ tuellen zum damaligen Zeitpunkt geführte Debatte. 121 Thomas Gelzer verortet das Aufkommen des Attizismus dementsprechend im Rom der 50er Jahre und definiert diesen als eine Orientierung für die Römer, wie sie sich mittels der aktiven Nachahmung von als klassisch angesehenen Vorbildern ebenfalls zu „Attikern“ entwickeln könnten. 122 Mit Blick auf die Antiquitates Romanae des Dionysios ist bemerkenswert, dass die Orientierung an diesen Vorbildern von Angehörigen der römischen 3.2 Das klassizistische Konzept des Dionysios 37 <?page no="38"?> 123 Zum mos maiorum instruktiv Haltenhoff (2000). Vgl. auch die ebd. 16 Anm. 5 vorge‐ nommene Definition desselben „als „von den Vorvätern gestiftete und überkommene Gewohnheit“, im Sinne einer Kontinuität des Handelns, das dem Römer aus der Vergangenheit als Vorbild und Verpflichtung entgegentrat und seine Fortführung in den Resultaten auch der gegenwärtigen und zukünftigen Handlungsentscheidungen beanspruchte“. Haltenhoff hebt zu Recht den „situativen Charakter“ (24) römischer Wertbegriffe wie pietas, fortitudo und fides hervor, ebenso wie deren Handlungsge‐ bundenheit (26). Zum mos maiorum s. ferner Bettini (2000) sowie Mutschler (2000). Vgl. auch Haltenhoff (2001) und Hölscher (2001), der das Entstehen der eminent geschichtsstiftenden Rolle des mos maiorum ins 4./ 3.-Jahrhundert v.-Chr. datiert. 124 S. Dihle (2011) 47. 125 Vgl. Dihle (2011) 47. 126 S. Hidber (1996); vgl. ferner Hidber (2011) 118. Oberschicht als dem eigenen Selbstverständnis angemessen eingestuft und von Politikern wie Cicero keineswegs als Widerspruch zur kulturellen Identität der Römer empfunden wurde. Das Zusammendenken der griechischen und der römischen Kultur in den Antiquitates Romanae, die darin vertretene These von der griechischen Abstammung der Römer und deren Rolle als Träger griechi‐ scher Wert- und Moralvorstellungen entstanden somit in einem intellektuellen Umfeld, dem solches Denken vertraut war. Der von Dionysios von Halikarnass vertretene Klassizismus umfasst zwei Ebenen, eine sprachliche sowie eine ethisch-moralische. Auf den ersten Blick rückt er damit in die Nähe der Orientierung an der Vergangenheit, wie sie die Römer selbst vornahmen, indem sie immer wieder aufs Neue das Herkommen und den mos maiorum zur Verhaltensrichtlinie bestimmten; bekanntestes Bei‐ spiel ist das Geschichtswerk des Livius. 123 Allerdings unterscheidet sich der Klassizismus seiner Definition nach insofern vom mos maiorum, als dieser sich auf die gesamte Vergangenheit der Römer beziehen kann, während jener sich beschränkt auf eine bestimmte Epoche, welche als vorbildlich angesehen wird, namentlich das 4.-Jahrhundert v. Chr. 124 Das klassizistische Konzept des Dionysios lässt sich am besten nachvollziehen in seiner Abhandlung De oratoribus veteribus. Hier sind die attizistischen Tendenzen, die in der griechisch-römischen Welt bis dato vereinzelt kursierten, erstmalig zu einem ganzheitlichen System verarbeitet. 125 Insbesondere aus der umfangreichen Vorrede, die Hidber als das „klassizistische Manifest des Dionysios“ bezeichnete, wird deutlich, welche Vorstellungen dieser mit einem konsequent praktizierten Attizismus verbindet und was er sich von selbigem erhofft. 126 Genau genommen stellt der Klassizismus, wie Dionysios ihn gesehen wissen will, nicht lediglich ein sprachlich-literarisches Phänomen dar, das aus der schriftlichen Nachahmung bestimmter Vorlagen wie Demosthenes und Thukydides besteht; vielmehr handelt es sich dabei um ein umfassendes Bil‐ 38 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="39"?> 127 S. Hidber (1996) 46 f., zum Bildungsideal der φιλόσοφος ῥητορική umfassend ebd. 44-56. Vgl. dazu ferner Gelzer (1979) 19-24; Gabba (1982a) 47; Fox (1996) 71-74; Delcourt (2005) 45-47; Wiater (2011a) 65-92. 128 Vgl. Hidber (1996) 74 f.; Poulakos / Depew (2004); Classen (2010). 129 Zum Aufkommen literarischer Kanones im 5./ 4. Jahrhundert v. Chr. s. Nicolai (2017) 43. 130 S. Hidber (1996) 16-18. Vgl. auch Gelzer (1979) 24-26, der nach Analyse der Quellen zu dem Schluss kommt, „dass „das Attische“ nicht eine Bezeichnung für konkret definierte, feststehende Qualitäten oder gar für von Werken attischer Herkunft hergeleitete, sachliche oder stilistische Eigentümlichkeiten ist, sondern ein allgemeines Ideal, das als symbolische Qualitätsmarke den Werken und den Bestrebungen klassizistischer Gestaltungsweise und ihren Vorbildern zugelegt wird“ (26). 131 Zum Konzept der Mimesis bei Dionysios s. Wiater (2011a); Gelzer (1979) 34-37; Hidber (1996) 56-75 sowie Delcourt (2005) 43-47. dungsprogramm, in dessen Zentrum als Vorbild - neben anderen kanonischen Autoren, besonders Rednern - der griechische Rhetor Isokrates und dessen Bildungsideal einer φιλόσοφος ῥητορική steht. So soll das intensive Studium der Klassiker der Vermittlung von Bildung, sprachlicher Artikulation und - vor allem - ethischen Werten dienen und auf diese Weise zu moralischem Handeln im Privaten und insbesondere im öffentlichen Leben anleiten, hierin dem Ideal des ciceronischen Staatsmannes nicht unähnlich. 127 Dieses Bildungsideal umfasst sowohl die Sprachals auch die Handlungsebene (λόγοι und βίος), 128 es beabsichtigt somit den Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen. Allerdings ist einzuwenden, dass sich die von Dionysios als kanonisch 129 propagierten Autoren zum Teil nicht unwesentlich voneinander unterscheiden und mitnichten allesamt Attiker sind - so ist für ihn der vorbildliche griechische Historiker schlechthin keineswegs Thukydides, wie unter dem Schlagwort „Klassizismus“ eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern der ganz und gar „unklassische“ Herodot. Auch die von Dionysios verfemte asianische Lite‐ ratur lässt sich inhaltlich nicht ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Folglich ist nicht eindeutig zu eruieren, wie Dionysios sein Ideal des Klassischen im Einzelnen definiert wissen möchte. 130 3.3 Das Programm der Antiquitates Romanae und ihr Publikum Besondere Aufmerksamkeit innerhalb des klassizistischen Programms des Dio‐ nysios verdient das Konzept der Mimesis, die auf zwei Ebenen eine Rolle spielt. Zum einen bezeichnet Mimesis in den stilkritischen Schriften die empfohlene Methode der Literaturproduktion. 131 Hierbei handelt es sich um die sprach‐ 3.3 Das Programm der Antiquitates Romanae und ihr Publikum 39 <?page no="40"?> 132 Vgl. Delcourt (2005) 45: „[…] lʼidéal de μίμησις qui se donne à lire dans les Antiquités vise à l’édification des responsables politiques et des citoyens au moyen des exemples de bonne conduite fournis par les grands hommes du passé. C’est dans ce rôle de catalogue des actions dignes de susciter l’imitation qu’une œuvre historique trouve sa raison d’être.” 133 Ant. 1,6,3-4. Vgl. dazu Delcourt (2005) 46. Die Zitierweise der Antiquitates Romanae folgt Jacoby, der Scripta rhetorica Usener-Radermacher mit Zählung nach Aujac. lich-stilistische Nachahmung der als vorbildlich angesehenen Autoren, die dazu dient, die Artikulationsfähigkeit in ihrer praktischen Anwendung sowohl im Schriftlichen, etwa bei der Abfassung eines eigenen Geschichtswerkes, als auch bei der Tätigkeit im öffentlich-politischen Bereich zu optimieren. In den Antiquitates ist es die Nachahmung im Bereich der moralisch richtigen Lebensführung, zu der der Text den Rezipienten anleiten will. Die Darstellung der römischen Geschichte des Dionysios ist inhaltlich und in ihrer Absicht exempla-Geschichtsschreibung und steht hierin dem Geschichtswerk des Livius nahe: Anhand von Beispielen vorbildlichen Verhaltens aus der römischen Vergangenheit soll der Leser eine Richtschnur für sein eigenes Handeln erhalten. Man hat die Antiquitates in diesem Zusammenhang denn auch als Katalog nachahmenswerter Handlungen bezeichnet. 132 An dieser Stelle wird das in der Forschung kontrovers diskutierte Problem des Adressatenkreises der Antiquitates besonders relevant: Gilt die implizite Auf‐ forderung, diese positiven Verhaltensmuster nachzuahmen, für alle denkbaren Leser oder zielt sie primär entweder auf ein griechisches oder ein römisches Publikum? Die folgende Passage scheint auf die zeitgenössischen Römer als Nachkommen ihrer berühmten Vorfahren bezogen (οἱ ἀπ᾽ ἐκείνων τῶν ἰσοθέων ἀνδρῶν νῦν τε ὄντες καὶ ὕστερον ἐσόμενοι): διὰ ταύτας μὲν δὴ τὰς αἰτίας ἔδοξέ μοι μὴ παρελθεῖν καλὴν ἱστορίαν ἐγκαταλειφθεῖσαν ὑπὸ τῶν πρεσβυτέρων ἀμνημόνευτον, ἐξ ἧς ἀκριβῶς γραφείσης συμβήσεται τὰ κράτιστα καὶ δικαιότατα τῶν ἔργων· τοῖς μὲν ἐκπεπληρωκόσι τὴν ἑαυτῶν μοῖραν ἀνδράσιν ἀγαθοῖς δόξης αἰωνίου τυχεῖν καὶ πρὸς τῶν ἐπιγιγνομένων ἐπαινεῖσθαι, ἅ ποιεῖ τὴν θνητὴν φύσιν ὁμοιοῦσθαι τῇ θείᾳ καὶ μὴ συναποθνήσκειν [αὐτῆς] τὰ ἔργα τοῖς σώμασι· τοῖς δὲ ἀπ᾽ ἐκείνων τῶν ἰσοθέων ἀνδρῶν νῦν τε οὖσι καὶ ὕστερον ἐσομένοις μὴ τὸν ἥδιστόν τε καὶ ῥᾷστον αἱρεῖσθαι τῶν βίων, ἀλλὰ τὸν εὐγενέστατον καὶ φιλοτιμότατον, ἐνθυμουμένους ὅτι τοὺς εἰληφότας καλὰς τὰς πρώτας ἐκ τοῦ γένους ἀφορμὰς μέγα ἐφ᾽ ἑαυτοῖς προσήκει φρονεῖν καὶ μηδὲν ἀνάξιον ἐπιτηδεύειν τῶν προγόνων· 133 Aus diesen Gründen schien es mir angeraten, eine edle Geschichte, die von den Vorfahren unbeachtet gelassen worden ist, nicht unerinnert zu übergehen, aus 40 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="41"?> 134 Vgl. für Kritik an den späteren Römern: ant. 2,6,1-2,6,4; 4,24,4-8; 5,77,1-6; 9,27,3; 10,17,6. Dionysios sieht die Römer seiner Zeit in Gefahr, sich von den (griechischen) Werten zu entfernen, die Rom groß gemacht haben. Um ihr Griechisch-Sein und ihren Anspruch auf Vorherrschaft zu erhalten, ist eine Rückbesinnung auf und kontinuier‐ liche Ausrichtung des eigenen Verhaltens an diesen Werten erforderlich. S. Wiater (2011a) 201-205. Vgl. auch Wiater (2014) 176 Anm. 177: „So schreibt Dionysios sich und seinem Werk eine entscheidende Rolle für den römischen Machterhalt zu: Die Römer benötigen Griechen wie ihn, um die Traditionen ihrer Vorfahren fortführen und so die entscheidende Grundlage ihrer Macht und Prosperität bewahren zu können.“ Vgl. dazu zudem Peirano (2010) sowie Dench (2005) 234f. 135 Delcourt (2005) 47. Die Schaffung von Kontinuität, die dieses Denkmodell bewirkt, betont auch Wiater (2011a) 203f. der sich, wenn sie genau aufgeschrieben ist, die besten und gerechtesten Werke ergeben werden: Die guten Männer, die die ihnen zugemessene Lebenszeit bereits ausgeschöpft haben, werden immerwährenden Ruhm und Lob bei den Nachgeborenen erlangen, was die Natur der Sterblichen der Natur der Götter ähnlich werden und ihre Werke nicht zugleich mit dem Körper sterben lässt. Die aber von jenen gottgleichen Männern abstammen, sowohl heute als auch in der Zukunft, werden nicht das süßeste und leichteste Leben wählen, sondern das vornehmste und ehrliebendste, da sie bedenken, dass es denjenigen, die ihre Abstammung auf so edle Anfänge zurückführen, zukommt, hoch von sich zu denken und nicht zu beginnen, was der Vorfahren unwürdig ist. Liest man diesen Abschnitt vor dem Hintergrund anderer Stellen in den Antiqui‐ tates, die sich kritisch über das Verhalten von Römern in jüngerer Zeit äußern, so ist ihm eine Aufforderung an die Römer des ersten Jahrhunderts zu entnehmen, ihr Handeln wieder stärker an den moralischen Standards auszurichten, die die Römer der Frühzeit gesetzt hätten. 134 Es ist allerdings eine Frage der Interpreta‐ tion, ob es sich hierbei um eine Anleitung zu eigenem Handeln in der politischen Öffentlichkeit handelt. Denkbar wäre, dass Dionysios weniger ambitiöse Ziele verfolgte und in erster Linie auf die grundsätzliche moralische Charakterbildung seiner Rezipienten einzuwirken suchte, eine spätere praktische Anwendung dieser Bildung in politischem Rahmen jedoch miteinkalkulierte oder zumindest nicht ausschloss. Anouk Delcourt hat in diesen Worten das Konzept einer engen Bindung an die Vergangenheit gesehen, die durch die Erzählung hergestellt wird: „[…] il s’instaure entre l’individu et son passé une relation intime et privilégiée, car l’imitation permet l’émulation. Les grands hommes fournissent à leurs descendants des modèles de comportement qui déterminent l’action de ceux-ci.” 135 Während der oben zitierte Abschnitt auf einen vorrangig römischen Adres‐ satenkreis hindeutet, suggerieren andere Passagen der Antiquitates ein griechi‐ 3.3 Das Programm der Antiquitates Romanae und ihr Publikum 41 <?page no="42"?> 136 Für ein überwiegend römisches Zielpublikum sprechen sich aus: Palm (1959) 11; Hill (1961); Bowersock (1965) 130 f.; Luraghi (2003) 270-277 und 281-285. 137 Zu den Topoi, mit denen sich die Vorrede in die Tradition der griechischen Historio‐ graphie einreiht, s. Fromentin (1993) 177. 138 Vgl. die Beschreibung der Abfolge der Weltreiche, als deren bedeutendstes Rom genannt wird, ant. 1,2,1-3,6. 139 Ant. 1,4,1-2. sches Zielpublikum. Über die Frage, an Leser welcher der beiden Kulturen sich die Antiquitates Romanae wenden, besteht daher in der philologischen For‐ schung keine Einigkeit. 136 Zwar stehen die Gründe, die Dionysios zur Abfassung seines Geschichtswerkes bewogen haben, mit einiger Gewissheit fest, da er sie selbst in der Vorrede 137 nennt: Er möchte seine Leser davon überzeugen, dass die Römer keineswegs durch eine (ungerechte) Laune des Zufalls zur Weltherr‐ schaft gelangt sind, sondern dies verdientermaßen aufgrund ihrer Tugenden und Wertvorstellungen so gekommen ist, und dass die Römer ihrem Ursprung nach Griechen sind. Jedoch kann diese Aussage in Hinsicht auf das Zielpublikum auf unterschiedliche Art und Weise gedeutet werden. So beinhaltet die Dar‐ stellung der römischen Frühzeit durch Dionysios für ein römisches Publikum einen Mehrwert insofern, als die These der Gräzität der Römer zur Aufwertung ihrer Identität nutzbar gemacht werden konnte und ihnen die Möglichkeit bot, sich in einen Kreis altehrwürdiger Kulturvölker aufgenommen zu sehen 138 und etwaige Minderwertigkeitsgefühle speziell gegenüber den als älter und kulturell überlegen empfundenen Griechen zu überwinden. Gleichzeitig lässt die folgende Erklärung auf ein griechisches Adressatenpublikum schließen: Ὅτι δ᾽ οὐκ ἄνευ λογισμοῦ καὶ προνοίας ἔμφρονος ἐπὶ τὰ παλαιὰ τῶν ἱστορουμένων περὶ αὐτῆς ἐτραπόμην, ἀλλ᾽ ἔχων εὐλογίστους ἀποδοῦναι τῆς προαιρέσεως αἰτίας, ὀλίγα βούλομαι προειπεῖν […]. ἔτι γὰρ ἀγνοεῖται παρὰ τοῖς Ἕλλησιν ὀλίγου δεῖν πᾶσιν ἡ παλαιὰ τῆς Ῥωμαίων πόλεως ἱστορία, καὶ δόξαι τινὲς οὐκ ἀληθεῖς, ἀλλ᾽ ἐκ τῶν ἐπιτυχόντων ἀκουσμάτων τὴν ἀρχὴν λαβοῦσαι τοὺς πολλοὺς ἐξηπατήκασιν, ὡς ἀνεστίους μέν τινας καὶ πλάνητας καὶ βαρβάρους καὶ οὐδὲ τούτους ἐλευθέρους οἰκιστὰς εὐχομένης, οὐ δι᾽ εὐσέβειαν δὲ καὶ δικαιοσύνην καὶ τὴν ἄλλην ἀρετὴν ἐπὶ τὴν ἁπάντων ἡγεμονίαν σὺν χρόνῳ παρελθούσης, ἀλλὰ δι᾽ αὐτοματισμόν τινα καὶ τύχην ἄδικον εἰκῆ δωρουμένην τὰ μέγιστα τῶν ἀγαθῶν τοῖς ἀνεπιτηδειοτάτοις· καὶ οἵ γε κακοηθέστεροι κατηγορεῖν εἰώθασι τῆς τύχης κατὰ τὸ φανερὸν ὡς βαρβάρων τοῖς πονηροτάτοις τὰ τῶν Ἑλλήνων ποριζομένης ἀγαθά. 139 Ich will wenige Worte darüber vorausschicken, dass ich mich nicht ohne Überlegung und gründliche Voraussicht der Frühzeit der römischen Geschichte zugewandt habe, sondern dass ich wohlüberlegte Gründe für meine Wahl anzuführen habe. […] Denn 42 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="43"?> 140 Zum Originalitätsanspruch, den Dionysios an den Tag legt, indem er als Erster Zutreffendes über die römische Frühzeit schreiben will, s. Schultze (2000), insbesondere 11 f. Vgl. ferner Fuhrer (2012) 132-135. 141 Zur Rolle und zur Verwendung des Lateinischen im Werk des Dionysios s. Rochette (1997) 231-233. 142 Darauf verweist bereits Rhys Roberts (1900) 442. An neueren Arbeiten vgl. insbesondere Adams (2003); Rochette (2012). Zur Verbreitung des Lateinischen im griechischspra‐ chigen Raum s. Rochette (1997). 143 Ebenso Fox (1996) 53-55. die Frühgeschichte der Stadt Rom ist fast allen Griechen noch unbekannt, und die meisten werden von gewissen Meinungen getäuscht, die nicht wahr sind, sondern aus zufällig Gehörtem ihren Ursprung nehmen. So rühme sich die Stadt irgendwelcher Heimatlosen, Wanderer und Barbaren, die nicht einmal frei gewesen seien, als ihrer Gründer, und sei nicht durch Götterverehrung, Gerechtigkeit und die andere Tugend mit der Zeit zur Herrschaft über alle anderen gelangt, sondern durch irgendeinen Zufall und ein ungerechtes Schicksal, das planlos die größten Güter denjenigen schenke, die diese am wenigsten verdienten: Und die allzu Böswilligen pflegen das Schicksal offen anzuklagen, dass es den Niedrigsten unter den Barbaren die Güter der Griechen zur Verfügung stelle. Auf den ersten Blick wendet sich Dionysios nun wiederum an griechische Leser: Er nennt als Motivation für seine Arbeit, er wolle der Unkenntnis der Griechen über die römische Geschichte abhelfen, damit diese nicht länger böswilligen Vorurteilen über die niedrige Abkunft und das unverdiente Glück der Römer Glauben schenken. 140 Zudem schrieb er sein Geschichtswerk in griechischer Sprache. Dazu ist freilich zu sagen, dass es eine Verkennung des intellektuellen Umfeldes der Antiquitates bedeuten würde, die Sprache als Indiz für ein rein griechisches Lesepublikum ins Feld zu führen. Dass Dionysios seine Schriften sämtlich auf Griechisch abfasste, mag den banalen Grund haben, dass er, obwohl er mindestens 20 Jahre lang in Rom gelebt und nach eigenen Angaben das Lateinische erlernt hatte, in seiner Muttersprache nach wie vor über die sicherere und gewandtere Artikulationsfähigkeit verfügte. 141 Er konnte davon ausgehen, dass die Mehrheit der römischen Oberschicht der griechischen Sprache so weit mächtig war, dass sie sein Werk ohne Schwierigkeiten zu rezipieren vermochte. Die römische Elite war zur Zeit des Augustus längst zweisprachig. 142 Stärkeres Gewicht besitzt hingegen die Angabe, griechische Leser über die römische Geschichte informieren zu wollen. Hiermit ist eindeutig ein griechisches Publikum angesprochen. 143 Das gezeigte Nebeneinander von Hinweisen auf römische und solchen auf griechische Adressaten lässt sich erklären, wenn man von der (ohnehin anachro‐ 3.3 Das Programm der Antiquitates Romanae und ihr Publikum 43 <?page no="44"?> 144 Ant. 1,6,5. 145 So bereits Delcourt (2005) 67: „[…] il nous semble réducteur d’aborder la question du lectorat de Denys par le seul biais de la nationalité. Le simple fait que l’on puisse arguer à la fois de lecteurs romains et de lecteurs grecs indique assez que l’œuvre n’est strictement réservée ni aux uns, ni aux autres, mais entend toucher tous les gens capables de lire le grec, au rang desquels figurent de nombreux Romains. À l’instar des Histoires de Polybe, les Antiquités romaines ont été écrites à destination d’un public gréco-romain.” 146 Wallace-Hadrill (2008) 38 ff.; er spricht zudem ebd. 1 von „the danger of monolithic constructions of cultures and identities. Identities are multiple and overlapping“. 147 S. Wallace-Hadrill (2008) 41. Vgl. ferner Wiater (2011b) 61f.: „[…] for the author, the historical work is a testimony of his cultural identity; for the readers, it is a means of assuring themselves of their cultural identity because it allows them to connect emotionally and thus identify with the political and cultural tradition of their ancestors. Thus historiography establishes what I suggest to call an “imagined community“, between author, reader, and the historical actors, a community, that is, which is not based on personal acquaintance of its members but on their shared emotional attitude towards a set of moral, cultural, and political ideas and values. Through the mediation of the historiographer, the readers are thus invited to inscribe themselves into a historical continuum providing the framework from within which they interpret the past and present, their interrelation, and their own role in it.“ Gould (1989) 5 verweist mit Blick auf Herodot darauf, dass es sich bei Halikarnass um eine griechische Stadt in karischem Gebiet gehandelt habe; Herodot habe seine griechische Identität daher nicht nach Kriterien der Geographie, sondern der sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeit definiert. Das Gleiche lässt sich für Dionysios sagen. Vgl. auch Marincola (2011) 348, der die Entstehung des Konzeptes des Griechischen als vorrangig kultureller Identität in das 5. Jahrhundert v. Chr. datiert: „Isocrates and others begin to see Greek as a cultural, nistischen) Kategorie des Nationalen absieht. Der Umstand, dass der Verfasser sich offenbar beiden Kulturkreisen, dem griechischen wie dem römischen, zugehörig fühlte, 144 kann als Hinweis darauf gelten, dass es ihm um einen spezifischen Wertekanon ging, den er bei seinen Adressaten voraussetzte. 145 Dionysios, aus dem griechisch geprägten Kleinasien stammend und nach Rom übergesiedelt, schreibt im vollen Bewusstsein seiner griechischen Bildung und in griechischer Sprache ein Geschichtswerk, das die Römer zu Hellenen macht, sie seinem eigenen Herkommen gewissermaßen anverwandelt. Andrew Wal‐ lace-Hadrill hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Identität bzw. Identitäten in der Antike nicht unbedingt statisch waren, sondern vielmehr komplex verhandelte Phänomene darstellten. 146 Das Griechische stand vor allem anderen für eine kulturelle Identität und keine politische, da es niemals einen „Staat“ Griechenland oder ein „griechisches Reich“ gegeben hatte, nicht einmal zu Alexanders Zeiten; das Römische dagegen war wohl ebenfalls keine nationale Kategorie, sondern primär eine juristische, wie ein Blick auf das römische Bürgerrechtssystem nahelegt. 147 44 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="45"?> not an ethnic, category, and these authors suggest, if somewhat tentatively, that Greek paideia is open to all.“ Einen ähnlichen Ansatz verfolgt bereits Hall (2002). 148 So auch Hidber (1996), vgl. ebd. 78 Anm. 325. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Problematik bietet Schultze (1986), bes. 135-139. Vgl. ferner Wiater (2011a) 92-116. 149 Zum Konzept von Narrator und Narratee sowie der Unterscheidung dieser beiden Begriffe von Autor und Leser s. de Jong (2004) 1-6. 150 Schultze (1986) 138. Allerdings gab es neben griechischen Autoren, die ihren Lands‐ leuten die römische Geschichte nahebringen wollten, auch Versuche von römischer Seite, die griechische Welt auf sich aufmerksam zu machen: So verfasste etwa Lucullus eine Geschichte des Marserkrieges in griechischer Sprache; von Rutilius Rufus ist eine Geschichte der Römer - ebenfalls auf Griechisch - bezeugt, s. Bowersock (1965) 4. 151 Dazu umfassend Wiater (2011a). 152 Vgl. Fromentin (1998) 4. Natürlich verband auch die These der trojanischen Abstam‐ mung die Römer mittelbar mit der griechischen Tradition, wie Fromentin einräumt, doch „[…] elle n’avait jamais impliqué qu’il y eût entre les Grecs et les Romains de véritables liens de sang: à l’époque de Denys, Virgile, dans son Enéide, démontra précisément le contraire, en présentant les Troyens comme un peuple italien et l’arivée d’Enée en Italie comme un retour vers la terre d’origine.“ Vgl. auch Gabba (1991) 11 Meines Erachtens ist davon auszugehen, dass sich die Antiquitates Romanae sowohl an griechische als auch an römische Leser wenden, die einen bestimmten Wertekanon klassizistischer Prägung teilen. 148 Dabei wird primär dem griechi‐ schen Rezipienten die Rolle eines externen Narratees zugewiesen, der auf der textuellen Ebene stärker angesprochen wird, während die implizite Leserschaft auch solche Leser einbezieht, die sich selbst als Römer verstehen. 149 So möchte Dionysios, wie erwähnt, dem nicht-römischen Rezipienten die Begründung für Größe und Aufstieg Roms geben und Vorurteile gegenüber dem imperium Romanum abbauen. Er liefert den Griechen zu diesem Zweck die nach seiner eigenen Aussage erste umfassende und zusammenhängend erzählte Darstellung der römischen Frühgeschichte, welche die bis dahin publizierten Werke wie das des Timaios wohl an Quellenreichtum übertroffen haben dürfte, da Dionysios sich selbst in Rom aufhielt und dadurch Zugang zu historischem Wissen besaß, das anderen griechischen Historikern vor ihm verschlossen geblieben war. 150 Die Grundthese, auf der diese „Apologie“ Roms beruht, ist die, dass die Römer ihrer ethnischen Abstammung nach Griechen seien; Dionysios unternimmt mit seinem Geschichtswerk den großangelegten Versuch, eine gemeinsame griechisch-römische Identität zu konstruieren. 151 Hiervon können (und sollen) auch die Römer seiner Zeit profitieren. Mit dieser These distanzieren die Antiquitates sich von dem römischen Abstammungskonzept, das im Zuge der Etablierung des Prinzipates und der vorgeblichen Rückbesinnung auf die römische Vergangenheit unter Augustus propagiert wurde und das den Aspekt der trojanischen Herkunft und der Vermischung mit autochthonen italischen Stämmen betonte. 152 3.3 Das Programm der Antiquitates Romanae und ihr Publikum 45 <?page no="46"?> und Dench (2005) 260. Peirano (2010) 40 sieht in der im ersten Buch der Antiquitates konstruierten Abstammung der Römer einen Kompromiss zwischen der von Vergil und anderen Autoren favorisierten These des trojanischen Ursprungs und der in augusteischer Zeit schon lange bekannten These einer griechischen Abstammung. 153 So bereits Delcourt (2005), vgl. ebd. 67f.: „[…] Denys veut séduire le plus large public possible: aux πολιτικοί, il ajoute les ϕιλόσοϕοι, mais aussi et surtout tous les gens avides de trouver dans la lecture d’une œuvre historique un divertissement de qualité. Potentiellement, les Antiquités s’adressent donc à l’homme cultivé, quelle que soit sa nationalité ou son statut social - il s’agit, pourrait-on dire, d’une Histoire „démocratique”, comme l’était celle d’Hérodote.” Ebenso Fromentin (1993) 180: „[…] son histoire s’adresse à un public aussi large que possible, c’est-à-dire qu’elle est utile à un public aussi large que possible.“ 154 Ant. 1,8,3. Zur Stelle und zur Frage nach dem Zielpublikum ausführlich Fromentin (1993), die u.a. das Motiv des exemplum für den Leser hervorhebt und auf die Parallele zu ant. 11,1,1 verweist. Prägnant ebd. 181 zur Rekonstruktion historischer causae in den Antiquitates: „De cette enquête sur les destinataires de l’histoire il ressort que Denys conçoit son œuvre comme un mélange d’informations diverses intégrées à la chaîne reconstituée des causes historique et qui s’adresse à plusieurs publics à la fois.“ Das Zielpublikum des Dionysios ist folglich ein heterogenes, das sowohl über einen ausreichend hohen Bildungsstand verfügt, um sein Geschichtswerk überhaupt schätzen zu können, als auch generell an den darin transportierten Wertvorstellungen interessiert ist. 153 Überhaupt ist er nach eigenem Bekunden bestrebt, mit den Antiquitates eine möglichst breite Gruppe potenzieller Leser anzusprechen: σχῆμα δὲ ἀποδίδωμι τῇ πραγματείᾳ οὔθ᾽ ὁποῖον οἱ τοὺς πολέμους ‹μόνους› ἀναγράψαντες ἀποδεδώκασι ταῖς ἱστορίαις οὔθ᾽ ὁποῖον οἱ τὰς πολιτείας αὐτὰς ἐφ̓ ἑαυτῶν διηγησάμενοι οὔτε ταῖς χρονικαῖς παραπλήσιον, ἃς ἐξέδωκαν οἱ τὰς Ἀτθίδας πραγματευσάμενοι· μονοειδεῖς γὰρ ἐκεῖναί τε καὶ ταχὺ προσιστάμεναι τοῖς ἀκούουσιν· ἀλλ᾽ ἐξ ἁπάσης ἰδέας μικτὸν ἐναγωνίου τε καὶ θεωρητικῆς ‹καὶ ἡδείας›, ἵνα καὶ τοῖς περὶ τοὺς πολιτικοὺς διατρίβουσι λόγους καὶ τοῖς περὶ τὴν φιλόσοφον ἐσπουδακόσι θεωρίαν καὶ εἴ τισιν ἀοχλήτου δεήσει διαγωγῆς ἐν ἱστορικοῖς ἀναγνώσμασιν, ἀποχρώντως ἔχουσα φαίνηται. 154 Ich habe meinem Werk eine Anlage gegeben, wie sie weder die Verfasser von Monographien über Kriege noch die Autoren von Spezialabhandlungen über Verfas‐ sungsformen ihren Werken gegeben haben und die auch nicht den Chroniken gleicht, wie sie die Verfasser der athenischen Lokalgeschichte herausgebracht haben; all diese sind nämlich eintönig und dem Leser bald lästig. Vielmehr ist mein Werk nach seiner ganzen Anlage eine Mischung aus Praxis, Theorie und Unterhaltung, damit es sich sowohl für Leser als brauchbar erweist, die sich mit Politik befassen, als auch für diejenigen, die an philosophischen Betrachtungen interessiert sind, außerdem für 46 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="47"?> 155 Vgl. Schultze (1986) 136; Marincola (1997) 29f. 156 Vgl. Marincola (1997) 244; Delcourt (2005) 42. 157 Pol. 1,1,2 und 12,25e1. Vgl. Walbank (1972) 27 sowie 55-58 und 66-96; Pelling (2008) 231. 158 Zum Leben des Polybios s. Walbank (1972) 6-13. 159 Pol. 1,1,5. 160 So vor Dionysios und Polybios auch und vor allem Herodot, s. Walbank (1972) 2 f., Cartledge (1990) und Hartog (²2001); vgl. ferner Hall (2002) 172-189. Vgl. zur solche, die vielleicht nur den Wunsch nach einer unbeschwerten Beschäftigung mit historischer Literatur haben. Dionysios möchte folglich drei Kategorien von Lesern ansprechen: den politisch interessierten bzw. aktiven Bürger, den Intellektuellen sowie denjenigen, dem bei der Lektüre eines Geschichtswerkes in erster Linie am literarischen Genuss, an der Unterhaltung, gelegen ist. 155 3.4 Polybios Mit der Ausrichtung seines Geschichtswerkes auf einen möglichst breiten Adressatenkreis unterscheidet sich Dionysios in einem wichtigen Punkt von Polybios, zu dem er in Stoff und zentraler Fragestellung große Ähnlichkeit aufweist. Beide Historiker versuchen ihren griechischen Rezipienten eine über‐ zeugende Erklärung für den Aufstieg Roms zur weltbeherrschenden Macht im Mittelmeerraum zu geben. 156 Dabei geht es Polybios vorrangig darum, mithilfe der historischen Darstellung anwendbares Wissen für das politische Leben zu vermitteln. Dies bedeutet für ihn, dass die praktische politische Erfahrung den idealen Historiker mit seinem idealen Leser verbindet. 157 Im Unterschied zu Dionysios verfügte Polybios selbst über solche Erfahrung durch seine Zugehörigkeit zur politischen Elite seiner Heimat Achaia sowie durch die Nähe zu Scipio Aemilianus. 158 Die beiden teilten jedoch ihre kulturelle Herkunft als Griechen; Polybios gelangte im Zuge der makedonischen Kriege im Jahre 167 v. Chr. als politische Geisel nach Rom und verfasste unter dem Eindruck der zeitgeschichtlichen Ereignisse Historien, die einem griechischen Publikum die Gründe aufzeigen sollten, weshalb es den Römern gelingen konnte, sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer beherrschenden Macht im Mittelmeerraum zu entwickeln. 159 Das als potenziell bedrohlich empfundene Aufeinandertreffen von Griechen und Nicht-Griechen stellt ein Thema dar, das griechische Historiker immer wieder zu Reflexion und dem Versuch schriftlicher Bewältigung veranlasste. 160 Mit dem Erstarken Roms als politischer Macht, die ihren Einflussbereich 3.4 Polybios 47 <?page no="48"?> Dichotomie Griechen/ „Barbaren“ auch Champion (2004) 31-46, speziell zu Rom ebd. 47-57, sowie Delcourt (2005) 100-105 und Jensen (2018). 161 Im Unterschied zu früheren Bedrohungen wie den Perserkriegen trat in den Ausein‐ andersetzungen mit den Römern rasch deren militärische Überlegenheit zutage. Die Römer erschienen als siegreiche Eroberer, denen letztlich die Machtübernahme über die gesamte Oikumene gelang. Vgl. Marincola (2011) 348. S. zum Thema der anti-römischen Reaktion hierauf grundlegend Fuchs (²1964). S. auch Gabba (1991) 13: „From the second half of the fourth century B.C. onward, the problems of Rome’s origins assumed a new importance as the Romans ever more decisively affirmed their power in Campania and southern Italy. Knowledge of Rome then became a political fact of life for the world of Magna Graecia, and the theory of a Greek or Trojan origin of Rome, no longer confined to the ruminations of ethnography, became charged with fresh significance.“ Die These vom griechischen Ursprung der Römer taucht bereits vor Dionysios in griechischen Texten auf, etwa bei Hellanikos von Lesbos FGrHist 4 F 84. S. dazu Peirano (2010) 40 und Gabba (1991) 12-15. FGrHist 4 F 84 entspricht ant. 1,72,1-6, wo Dionysios selbst griechische Vorgänger nennt, die versucht hatten, die Gründung Roms in ein genealogisches System einzuordnen, das diese auf den Trojabzw. Odysseus-Mythos zurückführte. Die Einschätzung Delcourts (2005) 79, bei der in den Antiquitates vorgenommenen „affirmation du caractère originellement grec des Romains“ handle es sich um eine „thèse originale et audacieuse“, ist zu relativieren; vgl. ebd. 83-93. Delcourt sieht die Originalität des Dionysios weniger in der These von Roms griechischem Charakter und Ursprung, sondern vielmehr in der Komplexität und teleologischen Aufladung dieser These: s. ebd. 113-115. In der Tat kann die Intensität, mit der Dionysios die Auffassung der griechischen Abstammung der Römer vertritt, als Alleinstellungsmerkmal des Textes gelten. 162 Polybios stellt die römische Geschichte als „success-story“ dar, so Walbank (1972) 178. 163 Pol. 1,1,5. Vgl. Walbank (1972) 13; 157. S. auch ebd. 21: „Polybius՚ purpose in writing was to awaken his fellow-countrymen to the significance of Rome and to explain the character of the Roman constitution and the growth of Roman power to men who were increasingly having to deal with Roman envoys and generals.“ Die Frage nach der ethnischen Herkunft der Römer hat für Polybios keine besondere Bedeutung, vgl. Gabba (1991) 16. zunächst auf das griechisch geprägte Süditalien und anschließend auch auf den weiteren griechischen Raum auszudehnen vermochte, erhielt die Auseinander‐ setzung mit diesem Thema allerdings eine Dringlichkeit, die man bis dahin so nicht gekannt hatte und die die Frage nach der Identität und Herkunft der Römer einschloss. 161 Beide Historiker, Polybios wie Dionysios, nehmen durch ihre Darstellungen der römischen Geschichte eine Vermittlerrolle ein: Sie ver‐ suchen, den Griechen die fremde Kultur der Römer begreiflich zu machen und Vorurteile gegenüber der noch vergleichsweise jungen Weltmacht abzubauen. 162 Während es bei Dionysios vorwiegend ethisch-moralische Werte sind, die die weltpolitische Vormachtstellung der Römer ermöglicht haben und die in engem Zusammenhang stehen mit ihrer ethnischen Herkunft, sieht Polybios eine ent‐ scheidende Voraussetzung in der römischen Verfassung (τίνι γένει πολιτείας). 163 48 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="49"?> 164 Ant. 1,8,2. Dazu Schultze (2000) 9f. 165 Ant. 1,4,1-5,4. Dazu Fox (1996) 50-53; Delcourt (2005) 52. 166 So Schultze (2000) 45 und Pelling (2008) 233; ebenso Fox / Livingstone (2007) 544. Die gleiche Auffassung findet sich bereits bei Gabba (1991) xiii und Delcourt (2005) 51, wenngleich dort der plakative Begriff des „prequel“ nicht fällt. Dionysios selbst nennt ant. 1,8,2 den Endpunkt seines Geschichtswerkes; s. dazu Delcourt (2005) 50 f. Peirano (2010) 39 sieht die Begegnung der Römer mit Pyrrhus, die am Ende der Antiquitates steht, als „the final test of the true identity“ der Römer, in dem Dionysios beweisen könne, dass diese den Griechen inzwischen moralisch überlegen seien. 167 Vgl. Gabba (1991) 16: „Greek and Latin documentation of the origins of the Roman ethnos, heavily weighted toward a predominance of the Greek elements, was known, investigated, and quoted by Dionysius. His approach, however, differed substantially; for him it was not limited to the period of the city’s origins. Instead, the Greek character of the Romans takes the form of a lengthy process, a structure underlying the city’s history and culture, which survived not only in the external aspects of the civilization (writing, language, and artistic production), but also in the nature and customs of the people, its religious and political institutions, and the high ideals that presided over the life of the city. He had a special view of the development of Roman history: hellenization, or rather the original Hellenic character, predating the phase of post-Alexandrian corruption, is seen not as surviving in fossil form but as continuing to be a vital and operative force throughout the course of Roman history. It is the primary historical and moral justification for a Roman hegemony that was superior to all previous hegemonies. It is also a preliminary and indispensable element in the groundwork for Dionysius’s political viewpoint and the future it prefigured.“ Dementsprechend zielt das Werk des Polybios in erster Linie auf politische Geschichte ab, wohingegen Dionysios inhaltlich einen umfassenderen Ansatz verfolgt und die gesamte Lebensweise der Römer beschreiben will, wie er in seiner Vorrede zum Ausdruck bringt. 164 Ein wichtiger Unterschied zwischen den Historien und den Antiquitates Romanae besteht in ihrem Umgang mit der römischen Frühgeschichte: Diese fehlt bei Polybios, da er Zeitgeschichte zu schreiben sucht. Dagegen bezieht Dionysios die gesamte Frühzeit mit ein, was für sein Vorhaben, den Nachweis der griechischen Abstammung und Prägung der Römer zu erbringen, unab‐ dingbar ist. 165 Damit bietet er gewissermaßen ein „prequel“ zum Geschichtstext des Polybios, der seine Darstellung erst im Jahr 264 v. Chr. beginnen lässt. 166 Dionysios sieht in der römischen Geschichte ein kontinuierliches Wirken griechischer Werte, das auf soziokultureller ebenso wie auf politischer Ebene geschieht. In diesem Sinne stellt die römische Geschichte einen Prozess dar, der in die weltpolitische Situation der augusteischen Zeit mit Rom als Herrscherin über den orbis terrarum mündet und in dem das griechische Element kausative Funktion erhält. 167 Die Vergangenheit ist in der Gegenwart präsent und umge‐ kehrt. 3.4 Polybios 49 <?page no="50"?> 168 Vgl. Fuchs (²1964); Bowersock (1965) 101-111; Deininger (1971). 169 Vgl. Bowersock (1965) 1; Christ (2002) 82-84. Bei Plut. Sulla 24,4 ist die Rede von 150 000 Römern, die innerhalb des von Mithridates angesetzten Tages ermordet worden seien. Zur Motivation der Bewohner der Provinz Asia, diesem Befehl nachzukommen, s. Christ (2002) 83, der auf die vorangegangene Ausbeutung durch die römische Obrigkeit verweist. 170 Vgl. Bowersock (1965) 103-108. 171 Vgl. Bowersock (1965) 108. Deininger (1971) 245; 264 f. hebt hervor, dass der griechische Widerstand gegen Rom nach 168 v. Chr. primär von den unteren Schichten der Bevölkerung ausging, während die griechische Oberschicht sich mehr und mehr mit der römischen Fremdherrschaft arrangierte. 172 Vgl. Fuchs (²1964) 14 f. zu griechischen Schriftstellern, von denen romfeindliche Äuße‐ rungen überliefert sind; ebd. 15-17 zum Niederschlag antirömischer Propaganda in der römischen Geschichtsschreibung der Zeit. Mit einer solchermaßen legitimierenden Darstellung reagierte Dionysios auf eine in der griechischsprachigen Welt des ersten Jahrhunderts v. Chr. sichtbare Ablehnung der römischen Herrschaft, die zum einen in der Literatur der Zeit ihren Ausdruck fand, zum anderen sich wiederholt in Aufständen an verschie‐ denen Orten des Imperiums entlud. 168 Im Zuge des Kampfes um die Provinz Asia zwischen Rom und Mithridates VI. Eupator kam es 88 v. Chr. zu einem Massaker an circa 80 000 Römern und Italikern, das auf Befehl des Mithridates geschah und als sogenannte Vesper von Ephesos in die Geschichte eingehen sollte. 169 Aus der Regierungszeit des Augustus sind mehrere Erhebungen in den Provinzen überliefert, so unter anderem in Kyzikos, Tyros und Sidon sowie auf Zypern, in Thessalien und Alexandria, 170 und auch noch nach dessen Tod manifestierte sich der Widerstand gegen Rom in Aufständen, auch wenn diese fernab der Hauptstadt stattfanden. 171 Derartige Rebellionen vermochten zwar nicht grundsätzlich die Stabilität der römischen Herrschaft in den Provinzen zu gefährden, doch sie zeigen, dass die Römer im griechischsprachigen Raum auch lange Zeit nach dessen Unterwerfung keineswegs allgemein akzeptiert waren und man ihnen gegenüber zum Teil tiefsitzenden Groll empfand. 172 Ange‐ sichts dessen konnte sich ein pro-römisch eingestellter griechischer Historiker unter Augustus schwerlich damit begnügen, die nunmehr faktisch eingetretene Weltherrschaft der Römer mit deren politisch-militärischer Überlegenheit zu rechtfertigen. Um sein griechisches Publikum mit der zu erduldenden Fremd‐ herrschaft zu versöhnen, konnte Dionysios nicht umhin, die Römer als nicht nur politisch, sondern auch und in erster Linie sittlich überlegen darzustellen und in dieser Hinsicht deutlich über das Werk des Polybios hinauszugehen. Darüber hinaus mochte in den klassizistisch orientierten Intellektuellenkreisen im augusteischen Rom ein hellenistischer Geschichtsschreiber wie Polybios 50 3 Zum soziokulturellen Hintergrund der Antiquitates Romanae <?page no="51"?> 173 Ant. 1,6,3. 174 Pol. 12,25g-h. Vgl. Gozzoli (1976) 171, die den bei Polybios in diesem Zusammenhang wichtigen Terminus ἔμφασις Anm. 70 mit ἐνάργεια identifiziert; dagegen betrachtet Verdin (1974) 304 f. die beiden Begriffe als verschieden und interpretiert ἔμφασις bei Polybios als Anschaulichkeit im Sinne eines vertieften Verständnisses der Geschichte, das aus der Kenntnis des genauen Herganges und der Gründe eines historischen Zusammenhanges erwächst. 175 Vgl. dazu auch die Polybios-Kritik des Dionysios comp. 4,15. zwar inhaltlich rezipiert werden, doch konnte er ihnen nicht als stilistisches Vorbild gelten. Wichtig für den Wert und den Nutzen, den der Leser aus einer Erzählung der römischen Frühgeschichte ziehen kann, ist Dionysios zufolge die Detail‐ liertheit der Darstellung. 173 Während für Polybios die eigene Erfahrung des Historikers eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass der Leser von einem Geschichtstext zu profitieren vermag, 174 benötigt der von Dionysios intendierte Rezipient diese nicht unbedingt. Vielmehr ist es Aufgabe des Histo‐ rikers, das Material so zu gestalten, dass der Leser die Gründe der historischen Entwicklung nachvollziehen kann. 175 Einen wesentlichen Beitrag hierzu leisten in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae verschiedene Methoden zur Erzeugung von Anschaulichkeit, die sich unter dem Oberbegriff der enargeia subsumieren lassen und denen ein wesentlicher Anteil an der Vermittlungsab‐ sicht des Textes zukommt. Ihnen ist das folgende Kapitel gewidmet. 3.4 Polybios 51 <?page no="53"?> 4 Enargeia Seht! seht! welch seltsam Wunder! Wie? Ein Schwan, ein Schwan zieht einen Nachen dort heran! - Ein Ritter drin hoch aufgerichtet steht; wie glänzt sein Waffenschmuck! Das Augʼ vergeht vor solchem Licht! - Seht! näher kommt er an! An einer goldnen Kette zieht der Schwan! (Richard Wagner, Lohengrin, 1. Aufzug, 3. Szene) Die Ankunft des geheimnisvollen Schwanenritters Lohengrin in Richard Wag‐ ners gleichnamiger Oper liefert ein (in mehrerlei Hinsicht) anschauliches Bei‐ spiel für die in der Welt des Theaters oftmals genutzte Möglichkeit, Abwesendes bzw. nicht Sichtbares mit Hilfe von Sprache darzustellen. Lohengrin nähert sich auf einem Fluss von ferne dem Geschehen in einem Kahn, von einem Schwan gezogen; sein Kommen wird begleitet durch den Chor der Männer von Brabant, die eine Schilderung dessen geben, was sie sehen. Der Regisseur ist dadurch der zwingenden Notwendigkeit enthoben, die bühnentechnisch anspruchsvolle Ankunft des Ritters samt Fluss, Zugtier und Gefährt umsetzen zu müssen, da die Zuschauer im Publikum diese durch den Bericht der Männer wahrnehmen können. Moderne Inszenierungen verzichten denn auch mitunter darauf und lassen Lohengrin erst dann die Bühne betreten, wenn er das Ensemble von Fluss, Kahn und Schwan bereits hinter sich gelassen hat. Dass diese Methode auf den Botenbericht als eine Konvention des antiken Dramas zurückgeht, ist hinreichend deutlich. Das Verfahren, Abwesendes an‐ wesend werden zu lassen, kennzeichnet dabei keineswegs allein diese Gattung, sondern ist im Grunde Merkmal jeder Erzählung, sei sie textlich fixiert oder nicht. Die Tätigkeit des Erzählers in der Antike wie heute besteht darin, einen spezifischen Gegenstand mit den Mitteln der Sprache lebendig werden zu lassen. Im Idealfall stellt sich der Leser das, was erzählt wird, eine Handlung, das Aussehen einer Figur oder eines Objekts, bildlich vor; je plastischer das Bild, das <?page no="54"?> 176 Vgl. Bosch (2020) 26: „When employed correctly, in the arts of oratory, poetry, literature, and the visual arts, enargeia transforms art into life through its descriptive power by provoking an emotional response to evocative imagery.“ 177 S. Meijering (1987) 29; Zanker (1987) 40; Webb (1997b) 229; Otto (2009) 103-106 zu den Übersetzungsvarianten bei Cicero; Plett (2012) 7 f. Zur Etymologie des Terminus ἐνάργεια s. Graf (1995) 143; Webb (1997b) 229; Manieri (1998) 97-99; Webb (1999) 7. 178 Vgl. etwa Plett (2012); Bosch (2020) im weiteren Sinne; Klein / Webb (2021). er vor seinem inneren Auge wahrnimmt, desto anschaulicher und lebendiger die Erzählung, und umgekehrt. 176 Dabei spricht man im Deutschen von Anschaulichkeit, die griechische An‐ tike belegte dieses Phänomen mit dem Ausdruck ἐνάργεια. Im Lateinischen bürgerten sich als äquivalente Begriffe v. a. evidentia und illustratio oder auch demonstratio und repraesentatio ein. 177 Bereits diese Termini machen deutlich, dass das Konzept der enargeia es in erster Linie mit der Optik zu tun hat, mit dem, was der Rezipient vor seinem geistigen Auge sieht. Es geht ferner um die Klarheit dieses geistigen Bildes, um seine Deutlichkeit und Plastizität - um die Frage, wie unmittelbar der Rezipient das Bild, das seine Vorstellungskraft dank der Worte des Erzählers heraufbeschworen hat, „wahrnimmt“. Dabei stellt enargeia als narrative Technik keineswegs eine besondere Eigenart antiker Literatur dar; in der Tat durchzieht sie die Literaturen seit der Antike bis heute. 178 In diesem Kapitel soll es darum gehen, mithilfe welcher erzählerischer Mittel die Bücher zur Königszeit der Antiquitates Romanae Formen von Anschaulich‐ keit erzeugen, die sich unter dem Oberbegriff der enargeia subsumieren lassen. Dabei wird sich zeigen, dass der Text verschiedene solcher Mittel verwendet, einzeln ebenso wie in Kombination, um eine möglichst starke emotionale Involvierung des Lesers in das historische Geschehen zu erreichen und derge‐ stalt die Rezeption zu steuern. Zunächst seien allerdings einige grundsätzliche Bemerkungen zum Phänomen der enargeia vorausgeschickt. 4.1 Theorie der enargeia Die Beschäftigung mit dem Phänomen der enargeia hat in den unmittelbar zurückliegenden Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt, der in Zusammenhang steht mit dem zu Beginn der 1990er Jahre unter maßgebli‐ chem Einfluss von William J. T. Mitchell einsetzenden pictorial turn. Seither sind zahlreiche Untersuchungen zu den Themenkomplexen Anschaulichkeit, Beschreibung, Textualität und Visualität erschienen, auch und besonders zu Fragestellungen, die sich mit ekphrastischer Darstellung in der griechisch-rö‐ 54 4 Enargeia <?page no="55"?> 179 Angesichts der hohen Zahl an Forschungsbeiträgen ist man versucht, geradezu von einem Boom der Ekphrasis-Forschung zu sprechen. Zu nennen sind e.g. Manakidou (1993); Goldhill / Osborne (1994); Boehm / Pfotenhauer (1995); Webb (1999); Harrison (2001) speziell zum Phänomen der proleptischen Ekphrasis; Arnulf (2004); Ratkowitsch (2006); Wimböck / Leonhard / Friedrich (2007). Theorie und Praxis der enargeia sind bei den antiken Autoren oftmals verbunden mit Theorie und Praxis der Ekphrasis. Hierbei gilt es zu beachten, dass der Terminus „Ekphrasis“ im modernen Verständnis die Beschreibung eines Werkes der Bildenden Kunst, eines Gemäldes, einer Skulptur oder Ähnlichem bezeichnet, in der Antike jedoch in umfassenderer Bedeutung gebraucht wurde für Beschreibungen jeglicher Art. Vgl. hierzu Becker (1995) 2. 180 Vgl. Zanker (1987); Manakidou (1993); Goldhill (1994); Laird (1996); Zanker (2004); Rengakos (2006); Otto (2009). 181 S. Walker (1993) zu Thukydides und Dionysios; Hornblower (1994) und Soares (2011) zu Thukydides; Levene (1997) zu Tacitus; Tsitsiou-Chelidoni (2009) zu Livius; Gotteland (2016) zu Cassius Dio; Feldherr (2021) zu Sallust. Die genannten Beiträge befassen sich mit Techniken der enargeia im weiteren Sinne. 182 Slatkin (2007). Die homerischen Epen galten den antiken Theoretikern als besonders bildhaft und anschaulich, s. Zanker (1987) 40. 183 Vgl. Zangara (2004) 252. 184 S. Anm. 198. Der Herkunft und Bedeutung der beiden Begriffe und der mit ihnen verbundenen epistemologischen und rhetorisch-narrativen Konzepte widmet sich umfassend Otto (2009) 31-134. mischen Literatur, aber auch in den neueren Literaturen, befassen. 179 Innerhalb dieser Forschung lässt sich eine Fokussierung auf hellenistische Literatur und besonders auf deren poetische Gattungen konstatieren, damit einhergehend auch auf die römischen Dichter der augusteischen Zeit als vorrangige Rezipi‐ enten alexandrinischer Dichtung. 180 Demgegenüber sind die Repräsentanten anderer Epochen und Gattungen etwas ins Hintertreffen geraten; so finden sich etwa nur vereinzelte Auseinandersetzungen zu Techniken der Anschaulichkeit bei den griechischen und römischen Historikern. 181 Verständlich wird diese Schwerpunktsetzung der Forschung durch einen Blick auf ihr Quellenmaterial, denn obschon bestimmte erzählerische Verfahren zur Generierung von Anschaulichkeit in der abendländischen Literatur bereits zu deren Beginn, genauer: in den homerischen Epen, begegnen, 182 so setzt die bewusste Reflexion der enargeia erst im Hellenismus ein. Zum einen ist für diese Zeit erstmals ein Bewusstsein der enargeia als eines narrativen Mittels bezeugt, das Eingang findet in den literaturtheoretischen Diskurs, der in den intellektuellen Zentren des Hellenismus geführt wird. 183 Der Begriff ἐνάργεια stammt aus der hellenistischen Erkenntnisphilosophie, ebenso wie der eng damit verknüpfte Begriff φαντασία. 184 Zum anderen stellt die Zeit des Kallimachos, des Theokrit und des Apollonios von Rhodos eine Hochzeit der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung 4.1 Theorie der enargeia 55 <?page no="56"?> 185 Für die anderen Varianten des Epos, die in hellenistischer Zeit gepflegt wurden, sind Aussagen zu ihrem Grad der Anschaulichkeit kaum möglich, da die Überlieferungslage als desolat zu bezeichnen ist. Vgl. jedoch Ziegler (²1966). 186 Vgl. Zanker (1987) 41: „The Hellenistic age clearly felt an intellectual and aesthetic need for discussion of literary pictorialism. The poets of the Alexandrian period were concerned, as no other period before, to exploit pictorial effects, so that the preoccupation was common to practitioner as well as theorist.“ Vgl. ferner Fowler (1989). 187 Zanker (1987). 188 So auch Zanker (1981) 298. 189 Vgl. Zanker (1981) 298. dar, sowohl was die sogenannten kleineren Gattungen wie Epyllion und Idyll angeht, als auch im Bereich des mythologischen Epos - zumindest insofern, als man die Argonautika des Apollonios als exemplarisch für diese Spielart der Gattung nehmen darf. 185 Der Hellenismus befasst sich in besonders hohem Maße mit Phänomenen der enargeia, was sowohl für die Literatur in praxi gilt als auch für den metaliterarischen Diskurs. 186 Wie bereits Zanker überzeugend dargelegt hat, zeigt sich in den überlieferten Texten ein bemerkenswertes Interesse an den Themenkomplexen des Visuellen, der Bildenden Kunst, an Fragen der Ästhetik und der Beziehung von Bild und Text. 187 Da man gerade die kleineren Gattungen als pars pro toto für die hellenistische Dichtung anzusehen geneigt war und diese in der Tat bei geringem Umfang eine erstaunliche Bündelung von Verfahren aufweisen, die beim Leser den Eindruck maximaler Anschaulichkeit erwecken sollen, erscheint es nachvollziehbar, dass andere Gattungen und Epochen darüber weitgehend vernachlässigt wurden. Ein wenig erstaunlich mutet allerdings der Umstand an, dass von Seiten der Forschung dem enargeia-Begriff weniger Interesse zuteilwurde als dem der Ekphrasis, ist jene doch auf das Engste mit dieser verbunden und bedingt sie, zumindest nach antiker Auffassung, erst. 188 Eine Auseinandersetzung mit Ver‐ fahren ekphrastischer Erzählung kann nicht umhin, sich auch und zuallererst mit dem Phänomen der enargeia zu befassen. In der antiken Theorie wurden die beiden Begriffe zum Teil sogar synonym gebraucht. 189 Stattet ein Verfasser seinen Text mit der Eigenschaft der enargeia aus, so erfolgt dies in der Absicht, den Leser zu einer stärkeren emotionalen Involvierung in das Erzählte anzuregen. Ein wesentlicher Grundzug, der die antiken enargeia-Theorien vereint, ist die Forderung, dem Leser das Gefühl zu geben, selbst bei den berichteten Ereignissen zugegen zu sein, gleichsam als unsichtbarer Beobachter in das Geschehen hineingezogen zu werden und es vor seinem inneren Auge sehen zu können. Der Text soll den Leser zu dem motivieren, was man heute umgangssprachlich als „Kopfkino“ kennt. 56 4 Enargeia <?page no="57"?> 190 Weder Platon noch Aristoteles kommen in ihren dichtungstheoretischen Überlegungen explizit auf ihn zu sprechen. Zwar nimmt bei Aristoteles die Mimesis eine zentrale Position innerhalb seiner Literaturtheorie ein, doch scheint dieser Begriff bis zum Hellenismus in erster Linie für den Nachahmungscharakter der Bildenden Künste wie Malerei und Plastik in Verwendung gewesen zu sein und ist darüber hinaus auch in der aristotelischen Poetik keineswegs mit dem hellenistischen enargeia-Konzept gleichzusetzen. S. Zanker (1987) 39 und 41. 191 S. Zanker (1981) 305-310; Otto (2009) 31-134. Zur Differenzierung von der aristoteli‐ schen ἐνέργεια s. Radke-Uhlmann (2009). 192 Vgl. Zanker (1987) 47: „In the history of the word enargeia, current in second-century literary criticism, we can see the invention of a technical term conveying for literature what mimēsis had, from the fourth century onwards, come to convey for fine art: at first, visual accuracy of representation and, after the Greek revolution in art, realistic, trompe l’oeil [sic] representation of objects as they appear in nature. Pictorialism had at last received explicit recognition as an aim of poetry itself.“ 193 Vgl. Webb (1997b) 230 mit Verweis auf Quint. inst. 8,3,67 und Long. sublim. 15,9: „En effet, dans toutes les définitions de l’enargeia en rhétorique, l’on trouve l’idée que cette qualité rend vivant le discours. De plus, elle agit sur les émotions, et son effet sur l’auditeur est souvent exprimé en termes très physiques: elle permet au discours de pénétrer l’âme, de dominer l’auditeur.“ 194 Vgl. Aphth. prog. 12. Zum Thema Schweinfurth (2008); Byre (1976). Die Verwendung des Begriffes ἐνάργεια bzw. des Adjektivs ἐναργής als Bezeichnung für eine spezifische Eigenschaft eines Textes im Sinne von „An‐ schaulichkeit“ ist spätestens für das 2. Jahrhundert v. Chr. belegt 190 und stellt aller Wahrscheinlichkeit nach eine Übernahme aus dem Sprachgebrauch helle‐ nistischer Philosophie dar. Der Gebrauch ist nachgewiesen bei Vertretern des Epikureismus, auch bei Epikur selbst, wie auch der Stoa. Der Terminus wurde zunächst wohl nur in philosophischem Kontext verwendet und fand von dort Eingang in rhetorische und literaturtheoretische Diskurse, insbesondere über Dichtung und auch Geschichtsschreibung. 191 Ab welchem Zeitpunkt der Begriff der enargeia sich in der theoretischen Reflexion über Dichtung entwickelt hat und dort Fuß zu fassen begann, lässt sich anhand der Quellenlage nicht mit Sicherheit feststellen. Der Terminus hat sich in nacharistotelischer Zeit für die Erzeugung von Anschaulichkeit und Lebensnähe eines Textes bzw. einer Rede etabliert, in jedem Fall für eine Schilderung, die mit Mitteln der Sprache operiert, um beim Rezipienten bestimmte mentale Bilder zu erzeugen. 192 Ihren Platz hat enargeia als Terminus technicus zunächst in der rhetorischen Theorie, die damit die Lebendigkeit der Rede bezeichnet, welche auf die Emotionen der Zuhörer einwirkt und es dem Redner erleichtert, das Publikum von seiner Darstellung zu überzeugen. 193 Literarische enargeia begegnet häufig in der Form der Ekphrasis. Auch ekph‐ rastische Darstellungen von Orten und dergleichen kommen vor. 194 Hier ist der 4.1 Theorie der enargeia 57 <?page no="58"?> 195 Laird (1996) 78. 196 Schweinfurth (2008) 21. 197 Quint. inst. 6,2,30. S. Webb (1997a) 124 mit weiteren Stellen. Auch bei Dionysios spielt das Kriterium der Wahrscheinlichkeit eine Rolle in der Theorie rhetorischer enargeia, s. Kapitel 4.4. 198 Ein wichtiger Terminus, dem die antiken Rhetorik- und Literaturtheoretiker breiten Raum gewähren, ist φαντασία. Der Begriff kam in philosophischem, genauer: epistemo‐ logischem Kontext auf und wurde sukzessive in den rhetorischen Diskurs übernommen. Er ist nicht mit unserer Definition von (schöpferischer) Fantasie gleichzusetzen, s. Armisen (1979) und (1980); Rosenmeyer (1986); Watson (1988) und (1994); Beil (1993); Webb (1997a) 117-121; Manieri (1998); Otto (2009) 132 f. Vgl. auch grundlegend Bundy (1927). Huitink (2017) vertritt die These, dass sich mit dem Rückgriff auf Erklärmuster aus dem Bereich des Visuellen nicht alle Wirkungsweisen der enargeia erklären ließen, und verfolgt stattdessen einen „enaktivitischen“ Ansatz, der beim Rezipienten die biologische und kognitive Komponente mit einschließen soll. 199 In diesem Zusammenhang sei erstens auf Lukian verwiesen, der hist. conscr. 51 die Historiographie mit der Kunst eines Phidias vergleicht (dazu Demandt [1978] 370; Walker [1993] 353 f.), zweitens auf Plut. de glor. Ath. 347a: τῶν ἱστορικῶν κράτιστος ὁ τὴν διήγησιν ὥσπερ γραφὴν πάθεσι καὶ προσώποις εἰδωλοποιήσας (dazu Walker [1993] 357; Rood (1998) 3-5; Feldherr [2021] 173). Plutarch nennt an dieser Stelle Primat der Optik konstitutiv. Die Ekphrasis eines Kunstwerkes hat mimetische Funktion insofern, als sie mit Mitteln der Sprache einen rein visuellen Eindruck, das Äußere des Kunstwerks, abbildet bzw. nachahmt. 195 Die Forschung bietet mehrere Übersetzungsmöglichkeiten für enargeia bzw. evidentia an; Dagmar Schweinfurth etwa schlägt „Plausibilität“ vor. 196 Gemeinhin wird als deutsche Entsprechung der Begriff „Anschaulichkeit“ bevorzugt. Auch mir scheint „Anschaulichkeit“ unter den zur Verfügung ste‐ henden Möglichkeiten die geeignetste Übersetzung zu sein, da sie den für das antike enargeia-Verständnis so wichtigen Aspekt des Visuellen und der Bildhaftigkeit von Sprache beinhaltet. Der Begriff der Plausibilität hingegen geht an diesem wesentlichen Aspekt vorbei: Techniken der enargeia ist es darum zu tun, die Vorstellungskraft des Rezipienten so weit anzuregen, dass er vor seinem inneren Auge das Bild zu erblicken vermag, das der Text mit Worten beschreibt. Inwieweit die dargestellten Ereignisse dafür „plausibel“ zu sein haben, also wahrscheinlich bzw. realitätsnah wirken, ist zwar laut Quintilian wichtig für eine Darstellung, die ἐναργής sein will. 197 Das Wesentliche ist allerdings, die Darstellung so lebendig und deutlich zu gestalten, dass der Leser in die Lage versetzt wird, sich den Gegenstand bildlich vorzustellen. 198 Bereits die Antike zog eine Parallele zwischen der mit Mitteln der Sprache erzeugten enargeia eines Textes und der Anschaulichkeit, die durch die nach‐ ahmende Wirkung eines Werkes der Bildenden Künste generiert wird. 199 Die Forschung hat zudem auf die eminent bildhafte Darstellungsweise hellenisti‐ 58 4 Enargeia <?page no="59"?> Thukydides als denjenigen Historiker, der durch enargeia die Gefühle des Rezipienten besonders gut anzusprechen vermag; vgl. Meijering (1987) 31. 200 S. Phinney (1967). 201 Dazu Fuhrmann (²1992) 17; Zanker (2000). 202 Vgl. Walker (1993) 358. 203 E.g. Eur. Hec. 560f. 204 Francobandiera (2021) 85 spricht treffend von „images mentales accumulées dans la mémoire des spectateurs“. Webb (1997a) 124-127, hier 124, vertritt die Auffassung, scher Dichter hingewiesen, auch und gerade des Apollonios, dessen Argonautika mehrere Szenen enthalten, die durch gezielte Schaffung von enargeia (insbe‐ sondere durch den Eindruck von Licht und Schatten, von Farbnuancen, der Verteilung der Figuren im Raum) die Anmutung eines Gemäldes oder einer Statue(ngruppe) transportieren. 200 Die Analogie zwischen Bildender Kunst und Literatur zieht sich seit Aristo‐ teles durch den Literaturdiskurs und hat sich dank der Wirkungsmacht der aris‐ totelischen Poetik als ein fester Topos innerhalb desselben etablieren können. Bekanntlich definiert Aristoteles sowohl die Dichtkunst als auch Künste wie Malerei, Tanz und Musik als Mimesis, die sich zwar vom Wesen her gleichen, in der Art der Darstellungsmittel jedoch unterscheiden. 201 In der Tat unterscheidet sich die Bildende Kunst von der Literatur insofern, als erstere einen geringeren Grad an Vorstellungsvermögen voraussetzt, um anschaulich zu wirken. Das Konzept der rhetorisch-literarischen enargeia erfor‐ dert eine durch die Sprache erzeugte Bildhaftigkeit, die für den Leser die Illusion generiert, er sehe tatsächlich die Dinge, Personen und Ereignisse, von denen die Rede ist, vor seinem inneren Auge. Demgegenüber haben es Werke der Bil‐ denden Künste gewissermaßen einfacher, denn sie liefern an sich bereits Bilder, die der Rezipient nicht erst selbsttätig in seiner Vorstellungskraft erzeugen muss. Die damit einhergehende intellektuelle Anstrengung ist demnach geringer als beim Lesen eines Textes oder beim Anhören einer Rede. 202 Die Analogie zwischen der enargeia der Rede und Literatur einerseits und den Bildenden Künsten andererseits begegnet allerdings keineswegs ausschließlich in den theoretischen Auseinandersetzungen der Antike, bei Plutarch oder Lukian, sondern sie wird darüber hinaus auch in der literarischen Praxis bemüht, wenn es darum geht, an das visuelle Gedächtnis des Lesers zu appellieren. So kann ein Text den Anblick einer Figur oder eines Objektes beschreiben in der Art: „X sah aus wie eine Statue des Praxiteles“ oder: „X war in seiner Schönheit einem Gemälde vergleichbar“. 203 Auch dies ist eine Form der enargeia; sie setzt freilich beim Leser ein gewisses Bildungsniveau voraus, etwa die besagte Statue des Praxiteles zu kennen oder schon einmal ein derartiges Gemälde betrachtet zu haben. 204 Gelingt dies, so kann sie mit einem einfachen Nenner, einem Appell 4.1 Theorie der enargeia 59 <?page no="60"?> dass für rhetorische enargeia jeder Art eine „experience of shared cultural values“ erforderlich sei. 205 Dazu Francobandiera (2021) 84 f. mit Beispielen aus der Tragödie. 206 Diese Aufteilung folgt Otto (2009) 128-134; 219. 207 S. die ausführlichen Darstellungen bei Meijering (1987) 39-44 sowie bei Otto (2009) 67-134, insbesondere 76-91 zu Demetrios. 208 Demetr. eloc. 209-220; vgl. dazu Otto (2009) 76-91; Plett (2012) 12 f.; Long. sublim. 15; vgl. dazu Otto (2009) 91-103 sowie Webb (1997a). An Stellen bei Quintilian sind hervorzuheben inst. 6,2,26-36 und 8,3,61-69 sowie 9,2,40; vgl. dazu Webb (1997a); Otto (2009) 108-127; Plett (2012) 8f. an die visuelle Erinnerung des Lesers, über den Vergleich einen besonders hohen Grad an Anschaulichkeit hervorrufen. Das literarisch Beschriebene wird bildhaft vor das innere Auge des Lesers gestellt, indem er sich an ein anderes bereits Geschautes erinnert. Der Text ist damit der zwingenden Notwendigkeit enthoben, genauer ins Detail gehen zu müssen, um das Bild anschaulich zu machen. Es genügt der Hinweis auf dasjenige, dem das Beschriebene ähnlich sei. 205 Der Terminus enargeia stellt bei näherer Betrachtung einen Oberbegriff dar, unter dem mehrere erzählerische Mittel subsumiert werden können, welche das gleiche Anliegen verfolgen, nämlich den Leser das berichtete Geschehen mög‐ lichst unmittelbar miterleben zu lassen. Nina Otto konnte in ihrer Monographie zu Theorie und Praxis der enargeia in der alexandrinischen Dichtung überzeu‐ gend darlegen, dass es im Wesentlichen drei erzählerische Mittel sind, die beim Leser den Eindruck von enargeia erzeugen, nämlich 1) die Schilderung sinnlicher Wahrnehmungen der Figuren, 2) die ausführliche und detaillierte Beschreibung, 3) der Appell an die Emotionen bzw. Affekte des Lesers. 206 Diese drei Methoden bzw. Strategien zur Erzeugung von Anschaulichkeit lassen sich ihrerseits weiter untergliedern in verschiedene Mittel; sie werden von den antiken Theoretikern selbst für wesentlich erachtet und ausführlich diskutiert. 207 Wichtige Vertreter der Reflexion über das Konzept der enargeia sind Demetrios, Ps.-Longin und Quintilian, die sich in ihren Werken mit diesem Thema befassen. 208 Ausgehend von Ottos Ansatz sollen im Folgenden diese drei Methoden zur Erzeugung von Anschaulichkeit näher erläutert werden. 4.2 Praxis der enargeia: Wichtige Verfahren 4.2.1 Schilderung sinnlicher Wahrnehmung Die Vorgehensweise, mittels der Darstellung sinnlicher Wahrnehmung der Figuren beim Leser den Eindruck unmittelbaren (Mit-)Erlebens zu generieren, 60 4 Enargeia <?page no="61"?> 209 Vgl. Otto (2009) 80. 210 Ach. Tat. 5,1,1-5. 211 Eine subtile Abwandlung dieses erzählerischen Verfahrens ist die Evozierung von Objekten, die der Erzähler selbst nur vor seinem inneren Auge sehen kann, weil er sich umfasst grundsätzlich sämtliche Sinne des Menschen. So hat der Erzähler die Möglichkeit, visuelle, akustische, haptische, olfaktorische und gustatorische Eindrücke der Protagonisten zu referieren, die mit dem Geschehen einher‐ gehen. 209 Hierbei kommt es nicht nur auf die Beschreibung sinnlicher Eindrücke an, sondern auch darauf, das innere Auge des Lesers durch die wiederkehrende Erwähnung des anzusprechenden Sinnes (etwa: „sehen“, „Blick“, „Auge“) zu aktivieren. Typisch für dieses Verfahren ist die Beschreibung Alexandrias im Roman des Achilleus Tatios: Τριῶν δὲ πλεύσαντες ἡμερῶν εἰς Ἀλεξάνδρειαν ἤλθομεν. Ἀνιόντι δέ μοι κατὰ τὰς Ἡλίου καλουμένας πύλας, συνηντᾶτο εὐθὺς τῆς πόλεως ἀστράπτον τὸ κάλλος, καί μου τοὺς ὀφθαλμοὺς ἐγέμισεν ἡδονῆς. […] Ὀλίγους δὲ τῆς πόλεως σταδίους προελθὼν ἦλθον εἰς τὸν ἐπώνυμον Ἀλεξάνδρου τόπον. Εἶδον δὲ ἐντεῦθεν ἄλλην πόλιν […]. Ἐγὼ δὲ μερίζων τοὺς ὀφθαλμοὺς εἰς πάσας τὰς ἀγυιὰς θεατὴς ἀκόρεστος ἤμην καὶ τὸ κάλλος ὅλως οὐκ ἐξήρκουν ἰδεῖν. Τὰ μὲν ἔβλεπον, τὰ δὲ ἔμελλον, τὰ δὲ ἠπειγόμην ἰδεῖν, τὰ δὲ οὐκ ἤθελον παρελθεῖν: ἐκράτει τὴν θέαν τὰ ὁρώμενα, εἷλκε τὰ προσδοκώμενα. Περιάγων οὖν ἐμαυτὸν εἰς πάσας τὰς ἀγυιὰς καὶ πρὸς τὴν ὄψιν δυσερωτιῶν εἶπον καμὼν ‘ὀφθαλμοί, νενικήμεθα’. 210 Nach einer Fahrt von drei Tagen kamen wir nach Alexandria. Als ich an das so genannte Sonnentor herantrat, begegnete mir sogleich die strahlende Schönheit der Stadt und erfüllte meine Augen mit Wonne. […] Als ich einige Stadien weiter durch die Stadt gegangen war, kam ich auf den Platz, der nach Alexander benannt ist. Hier sah ich eine weitere Stadt […]. Ich ließ meine Blicke über alle Straßen hin schweifen, war ein unersättlicher Betrachter und dennoch nicht fähig, die Schönheit in ihrer Gänze zu schauen. Manches sah ich, anderes wollte ich sehen, zu manchem drängte es mich hin, anderes wollte ich nicht versäumen. Was ich sah, nahm meinen Blick gefangen, was ich erwartete, riss ihn mit sich. Und wie ich so alle Straßen durcheilte, in den Anblick heillos verliebt, sagte ich schließlich ermattet: „Augen, wir sind besiegt! “ Durch die hier zitierte Schilderung dessen, was sich den Augen des Ich-Erzählers darbietet, nämlich die Stadt Alexandria in all ihrer Schönheit (κάλλος), evoziert der Text das Bild der Stadt, ihrer Gebäude und Plätze, vor dem geistigen Auge des Lesers. Dieser hat das Gefühl, gleichsam an Stelle des Ich-Erzählers durch die Straßen zu spazieren und die beschriebenen ästhetischen Eindrücke selbst wahrzunehmen. 211 4.2 Praxis der enargeia: Wichtige Verfahren 61 <?page no="62"?> nicht mit ihnen am selben Ort befindet; so in den Exildichtungen Ovids. Vgl. Webb (1997a) 117. 212 Francobandiera (2021) 87 f. mit Verweis u.a. auf Demetr. eloc. 219-220. 213 Zur enargeia des Klangs vgl. Meijering (1987) 42 f. und Francobandiera (2021) 87-100. 214 Ov. met. 1,637f. 215 S. Aristot. poet. 1455a; Aphth. prog. 12. Vgl. dazu Zanker (1981) 298; Meijering (1987) 14- 18; Webb (1997a) 120 und (1997b) 229 f.; Otto (2009) 104 f.; 112; 123; Huitink (2017) 170. Die Antike erachtete gemeinhin den Sehsinn als den wichtigsten und unmittelbarsten der Sinne. Dies gilt auch und besonders für die Historiographie. Vgl. Feldherr (2021). 216 Otto (2009) 90. Nicht allein die Evozierung von Visuellem trägt zur literarischen enargeia bei. Die enargeia speziell des Klanges ist ein Gebiet, das noch der genaueren Erkundung harrt und in der enargeia-Diskussion oftmals marginal behandelt wird, wiewohl in der antiken Literatur gerade diese Form der Anschaulichkeit - auch in Form lautmalender Sprache 212 - häufig begegnet, und dies, ohne eng an eine bestimmte Gattung gebunden zu sein. 213 Um ein Beispiel aus dem Bereich des Gehörsinns anzuführen, sei auf Ovids Erzählung von Ios Verwandlung in eine Kuh verwiesen. Die unglückliche Io verliert mit ihrer menschlichen Gestalt zugleich ihre Stimme und kann nur noch ein dumpfes Muhen hervorbringen, vor dem sie selbst erschrickt: et conata queri mugitus edidit ore pertimuitque sonos propriaque exterrita uoce est. 214 Und beim Versuch zu klagen, brachte sie aus ihrem Mund nur Muhen hervor, fürchtete sich vor dem Klang und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Auch hier wird durch die Beschreibung einer sinnlichen Wahrnehmung, hier eines Klangs, der Eindruck der Unmittelbarkeit hervorgerufen. In der zitierten Passage kommt hinzu, dass der Erzähler Ios Reaktion auf das, was sie hört, wiedergibt: Sie vernimmt den animalischen Klang ihrer neuen Stimme und erschrickt vor dessen Fremdheit. Dadurch wird die emotionale Involvierung des Lesers in das Geschehen aktiviert, da er sich in die Figur der Io hineinversetzt und Mitleid mit ihrem Leiden empfindet. Dessen ungeachtet bevorzugt die antike Literatur Eindrücke speziell aus dem visuellen Bereich. Die Betonung des Sehsinnes und der Illusion, das Erzählte selbst zu erblicken, als sei man dabei, durchzieht die antiken enar‐ geia-Theorien. So sprechen die Theoretiker seit Aristoteles oftmals von dem „Vor-Augen-Stellen“ (subiectio sub/ ante oculos; ὑπ᾽ ὄψιν) einer Sache oder eines Ereignisses. 215 Die Forschung spricht diesbezüglich von vermittelter Au‐ genzeugenschaft. 216 Verglichen mit den poetischen Gattungen übt die antike 62 4 Enargeia <?page no="63"?> 217 Die einschlägige Stelle ist Demetr. eloc. 209-220. Demetrios geht dort auf die Genauigkeit der Darstellung (ἀκριβολογία) sowie auf die Wiederholung (διλογία) ein. Beide Mittel dienen ihm zufolge der Erzeugung von Anschaulichkeit. S. Otto (2009) 76-83; Francoban‐ diera (2021) 81-83. Vgl. ferner Meijering (1987) 39-41. Zu Demetrios grundlegend Grube (1961) und Chiron (2001). 218 Vgl. Otto (2009) 89: „Inhaltlich wird ἐνάργεια dadurch herbeigeführt, daß die Begleitum‐ stände eines Ereignisses über das Maß, das von der Sache her gefordert zu sein scheint, hinaus dargestellt werden.“ 219 Sall. Iug. 93,2-5. Geschichtsschreibung eher Zurückhaltung bei der Darstellung optischer oder anderer Sinneseindrücke, wenngleich auch sie dieses Mittel als Möglichkeit begreift, den Leser intensiver am Geschehen teilhaben zu lassen. 4.2.2 Ausführlichkeit der Darstellung Eine wichtige Bedingung für den Eindruck des Lesers, selbst am Geschehen beteiligt zu sein, ist für die antiken Theoretiker die Ausführlichkeit der Darstel‐ lung. Laut Demetrios entsteht enargeia aus einer genauen Darstellung, die nichts übergeht oder auslässt und eine Handlung in kleine Einzelschritte zerlegt, die der Reihe nach erzählt werden, und/ oder Begleitumstände einbezieht. 217 Eine allzu knappe, auf die wesentlichen Fakten reduzierte Schilderung eines Geschehens dürfte selten als anschaulich empfunden werden. 218 Durch die Genauigkeit und Ausführlichkeit der Darstellung, die nicht allein die bloße Handlung schildert, sondern darüber hinaus die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf scheinbar nebensächliche Details und Einzelheiten lenkt, hat dieser den Eindruck, die Handlung in ihrer umfassenden Gesamtheit mitzuerleben, er wird gleichsam mit jedem Detail, das ihm mitgeteilt wird, näher ans Geschehen gerückt. Ein berühmtes Beispiel ist der Schnecken sammelnde Ligurer, der Marius durch sein gründliches Studium des Geländes zu einem wichtigen Sieg verhilft: […] forte quidam Ligus, ex cohortibus auxiliariis miles gregarius, castris aquatum egressus, haud procul ab latere castelli, quod auorsum proeliantibus erat animum aduortit inter saxa repentis cocleas; quarum quom unam atque alteram, dein plures peteret, studio legundi paulatim prope ad summum montis egressus est. Vbi postquam solitudinem intellexit, more ingeni humani cupido difficilia faciundi animum inuadit. Et forte in eo loco grandis ilex coaluerat inter saxa, paulum modo prona, deinde inflexa atque aucta in altitudinem, quo cuncta gignentium natura fert. Quoius ramis modo, modo eminentibus saxis nisus Ligus in castelli planitiem peruenit, quod cuncti Numidae intenti proeliantibus aderant. Exploratis omnibus quae mox usui fore ducebat, eadem regreditur, non temere uti escenderat, sed temptans omnia et circumspiciens. 219 4.2 Praxis der enargeia: Wichtige Verfahren 63 <?page no="64"?> 220 Vgl. dazu Brescia (1997). 221 S. Brescia (1997) 79; Grethlein (2006) 309f. 222 Es ist eine im literaturtheoretischen Diskurs der Antike anerkannte Forderung, dass sowohl Dichter als auch Historiker und Redner bei ihrem jeweiligen Publikum Affekte hervorrufen sollen. Vgl. Armisen (1980) 14-22 zur theoretischen Fundierung durch Ps.-Longin und Quintilian; vgl. ferner Meijering (1987) 31. Zufällig ging da ein Ligurer, ein gewöhnlicher Soldat der Hilfstruppen, aus dem Lager, um Wasser zu holen. Nicht weit von der Seite der Burg, die den Kämpfenden abgewandt war, bemerkte er zwischen den Felsen zahlreiche Schnecken, von denen er erst die eine oder andere, dann immer mehr sammelte und so im Sammeleifer allmählich fast bis zur Spitze des Berges gelangte. Nachdem er dort erkannt hatte, dass er allein war, überkam, wie es der Menschen Art ist, die Lust, Schwieriges zu tun, seinen Sinn. Und zufällig wuchs an dieser Stelle zwischen den Felsen eine große Steineiche, die ein wenig geneigt war und dann sich hinauf in die Höhe bog, wohin die Natur alle Arten von Gewächsen treibt. Bald auf deren Äste, bald auf die vorspringenden Felsen gestützt, gelangte der Ligurer auf das Burgplateau, weil alle Numider gespannt bei den Kämpfenden zugegen waren. Nachdem er alles ausgekundschaftet hatte, was nach seiner Meinung in Kürze nützlich sein würde, ging er auf demselben Weg zurück, aber nicht achtlos, wie er aufgestiegen war, sondern alles ringsum prüfend und registrierend. Die äußerst detaillierte Beschreibung des Sallust 220 vermittelt dem Leser Einzel‐ heiten, die für das Verständnis der Handlung nicht zwingend erforderlich sind. Wollte der antike Autor mit derartiger Ausführlichkeit die Glaubwürdigkeit seines Berichts eher verstärken, hat diese auf manche heutigen Leser eher den gegenteiligen Effekt. 221 Dennoch bietet eine detailreiche Beschreibung dem Autor die Möglichkeit, auch abstraktere Konzepte und Gedankengänge zu vermitteln. In diesem Beispiel ist es der mos ingeni humani, dessen Lust an der Herausforderung in der ganzen Szenerie gespiegelt wird. 4.2.3 Hervorrufen von Emotionen des Lesers Neben der Beschreibung sinnlicher Eindrücke und Ausführlichkeit der Darstel‐ lung dient ferner das Hervorrufen von Emotionen auf Seiten des Rezipienten der Erzeugung von enargeia. 222 Dies kann auf mehrere Arten erfolgen; einen definierten Kanon entspre‐ chender gestalterischer Mittel aufzustellen ist kaum möglich. Konstitutiv ist in jedem Falle der Appellcharakter an die Gefühle des Lesers; ein gängiges Verfahren stellt etwa die psychologisch überzeugende und genaue Darstellung der Gefühlswelt der Figuren dar. Der Leser wird dadurch zur Identifikation mit 64 4 Enargeia <?page no="65"?> 223 Dies legen auch die theroretischen Quellen nahe, s. Webb (1997a) 120f. 224 Ov. met. 1,637f. 225 Vgl. Armisen (1980) 4 zur psychologischen Funktionsweise der Rhetorik: „[…] son domaine n’est pas celui de la vérité scientifique, qui s’impose par la seule évidence du raisonnement : parce qu’elle fonctionne au niveau de l’opinion et du vraisemblable, sa tâche est non de convaincre, mais de persuader, par le recours aux passions et à l’imagination, dont Aristote, […] a montré qu’elles étaient liées.“ S. zu dieser Theorie des Aristoteles ebd. 5-8. Anders Webb (1997a) 112: „The ability to arouse the emotions of an audience was vital to the ancient orator. To achieve persuasion, he had to be able to move his audience as well as convince them by reasoned argument.“ 226 Vgl. Webb (1997a) 112 f. und 121-124. diesen angeregt und kann seine eigene Reaktion auf das erzählte Geschehen mit derjenigen der Figuren vergleichen. Diesen psychologischen Mechanismus machen sich insbesondere Strategien der Fokalisation zunutze. Ein Affekt, auf den Techniken der enargeia besonders häufig abzielen, ist das Mitgefühl. 223 Um noch einmal die oben zitierte Passage aus Ovid zu bemühen: et conata queri mugitus edidit ore pertimuitque sonos propriaque exterrita uoce est. 224 Wie bereits angedeutet, ermöglicht die Beschreibung von Ios emotionaler Reaktion (dem Erschrecken über den Klang der eigenen Stimme) dem Leser die Identifikation mit der Figur der in eine Kuh verwandelten Nymphe. Er kann ihr Leiden an der unfreiwilligen Metamorphose nachvollziehen und reagiert sei‐ nerseits mit Mitgefühl. Über die derartige Einbeziehung der affektiven Reaktion des Rezipienten ergeben sich für den Verfasser eines Textes Möglichkeiten zur indirekten Leserlenkung: Indem er dessen Emotionen mithilfe der Darstellung gezielt steuert, kann er die Interpretation in eine gewünschte Richtung führen. Im Fall des angeführten Beispiels würde dies bedeuten, beim Leser über das Mitleid mit Io eine kritische Haltung gegenüber Iuppiter als Urheber ihrer Metamorphose und damit ihres Kummers zu erzeugen und zur kritischen Reflexion des Verhaltens der Götterfiguren im ovidischen Epos anzuregen. Die Erzeugung von Anschaulichkeit ist ein darstellerisches Verfahren, das, wie bereits dargelegt, in der griechischen Rhetorik seinen Ausgangspunkt hat. Dort geht es darum, mithilfe einer Schilderung, die möglichst ἐναργής ist, die Interpretation des Hörers in eine Richtung zu lenken und ihn von einer bestimmten Sichtweise zu überzeugen. 225 Dabei verdienen zwei Aspekte des enargeia-Konzeptes besondere Hervorhebung: Zum einen ist dies die Vorstel‐ lung der Vorhersehbarkeit emotionaler Reaktion. Offenkundig ging man davon aus, dass Rezipienten auf bestimmte Phänomene stets in der gleichen Weise re‐ agierten und ihre Affekte daher gewissermaßen mechanisch zu steuern seien. 226 4.2 Praxis der enargeia: Wichtige Verfahren 65 <?page no="66"?> 227 Dies ist eine Forderung, die bereits Aristoteles aufgestellt hat (Aristot. poet. 1455a) und die in der Folge wiederholt rezipiert wurde, vgl. Meijering (1987) 14-18. 228 Vgl. Quint. inst. 8,3,67-69. 229 S. Becker (1995) 25. 230 Darauf wurde in der Forschung bereits mehrfach hingewiesen; vgl. Walker (1993) 353 Anm. 2. 231 Vgl. Webb (2009) 93-95. 232 Long. sublim. 26,2. Vgl. Webb (1997a) 114; (2009) 98. 233 S. Blanck (1992) 71f. Zum anderen handelt es sich um die Überzeugung der antiken Theoretiker, der Redner bzw. Verfasser eines narrativen Textes müsse die Emotionen, die er beim Rezipienten hervorzurufen wünsche, zunächst selbst empfinden bzw. das Bild des beschriebenen Gegenstands vor seinem geistigen Auge sehen, um beides an sein Publikum vermitteln zu können. 227 Gerade in der antiken Redekunst war es vonnöten, die Zuhörer mit klaren und anschaulichen Worten zu erreichen, ihre Aufmerksamkeit wach zu halten und ihnen nicht zuletzt das Hörverständnis zu erleichtern. Zudem kam es nicht unwesentlich darauf an, sein Publikum zu beeindrucken, es über den Appell an seine Emotionen zu überzeugen und ihm in Erinnerung zu bleiben. 228 Die antiken enargeia-Theorien stimmen in einem entscheidenden Punkt überein: Sie heben den Eindruck der Autopsie hervor. So sprechen sie, wie wir bereits gesehen haben, explizit davon, der Text müsse dem Leser das Beschrie‐ bene möglichst lebendig und wirklichkeitsnah „vor Augen stellen“. Der Text bzw. die Sprache soll möglichst weitgehend zurücktreten hinter den Bildern, die während der Lektüre in der Vorstellung des Lesers entstehen. Gelingt es dem Text, sich selbst vergessen zu machen, so ist die Illusion vollkommen und die angestrebte Wirkung erreicht. 229 Für die antiken Theoretiker präsentiert sich enargeia in erster Linie als ein kognitives, psychologisches Phänomen und nur untergeordnet als ein linguistisches. 230 Die sprachlichen Äußerungen, die eingesetzt werden, um enargeia zu erzeugen, müssen nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr geht es um eine bestimmte Eigenschaft des Textes, ein Vermögen, welches zwar durch Sprache erst entstehen kann, diese jedoch transzendiert. Die verwendete Sprache, die gebrauchten Formulierungen, sind primär das Medium eines Übermittlungsprozesses; von Belang ist das Bild, das sich beim Rezipienten einstellen soll. 231 Dass das antike enargeia-Konzept primär ein Konzept der Bildhaftigkeit und weniger der Sprache bildet, hängt mit der antiken Rezeptionspraxis zusammen, die sowohl für die forensische Rede als auch für das Lesen narrativer Texte insofern die gleiche darstellte, als der Rezipient in beiden Fällen ein Zuhörer war; 232 es ist hinreichend bekannt, dass der antike Leser einer Papyrusrolle den Text laut las. 233 66 4 Enargeia <?page no="67"?> 234 S. Zanker (1981) 301 f. Vgl. auch Huitink (2017) 169. 235 Allan / de Jong / de Jonge (2017) 36. 236 Allan / de Jong / de Jonge (2017) 37ff. 237 Zur enargeia in den homerischen Epen ausführlich Allan / de Jong / de Jonge (2017). 238 S. Walker (1993) 374. 239 S. oben Anm. 199. 240 Plut. Art. 8,1, s. Huitink (2017) 170. 241 Vgl. Zangara (2004) 253. 4.3 Enargeia in der Geschichtsschreibung Eine anschauliche Wirkung auf den Leser kann ein Text unabhängig davon erreichen, welcher Gattung er angehört. Bemerkenswerterweise schrieben die antiken Theoretiker die Entwicklung der Ekphrasis und mithin der enargeia neben der Poesie gerade auch der Historiographie zu. 234 Als Autoren, deren Darstellungsweise einen besonders hohen Grad an enargeia aufweise, galten Homer, Herodot und Lysias. 235 Insbesondere den homerischen Epen wurde das Lob zuteil, den Leser mit ihrer bildhaften Erzählung stark in ihren Bann zu ziehen. 236 Da die griechische Historiographie in der Verwendung ihrer gestalterischen Mittel häufig auf das Reservoir zurückgriff, das Ilias und Odyssee geschaffen hatten, fanden auch dort bereits vorhandene Methoden der enargeia Eingang in Geschichtstexte. 237 Der Übergang von einer Textgattung zur anderen ist in diesem Sinne fließend. Antike Geschichtsschreibung wurde u.a. daran ge‐ messen, wie nahe die Darstellung der vermuteten historischen Situation kam und wie lebendig diese dem Leser vor Augen geführt wurde. 238 So bezeichnet Plutarch Thukydides als Historiker, dessen Schaffung von enargeia besonders zu rühmen sei. 239 Doch auch Xenophon wird von ihm lobend erwähnt für seine Fähigkeit, das erzählte Geschehen mittels enargeia vor das innere Auge des Rezipienten zu bringen und dessen Emotionen anzusprechen. 240 Setzt der Historiker in seinem Text Strategien zur Erzeugung von enargeia ein, so bietet ihm dies wie in anderen literarischen Gattungen die Möglichkeit, die Leserlenkung erheblich zu intensivieren. Da die Wirkung der enargeia in der Aufhebung der Distanz zwischen Leser und Text besteht, kann sie in einem erzählenden Geschichtstext dazu beitragen, die beschriebene Historie gegen‐ wärtig erscheinen zu lassen. Die zeitliche Kluft zwischen Vergangenheit und Ge‐ genwart verringert sich, was einer Geschichtsschreibung entgegenkommt, die mit Konzepten von Exemplarität arbeitet, wie dies bei Dionysios und Livius der Fall ist. 241 Dadurch kann die Interpretation eines historischen Geschehens gezielt in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Allerdings werden Methoden der Bildhaftigkeit in der Geschichtsschreibung bereits im antiken Diskurs kontro‐ 4.3 Enargeia in der Geschichtsschreibung 67 <?page no="68"?> 242 Hier ist insbesondere auf Polybios zu verweisen, der sich wiederholt kritisch bis polemisch gegen die Verwendung von Techniken ausspricht, die den Leser eines Geschichtstextes auf der affektiven Ebene ansprechen. Vgl. e.g. Pol. 2,16,13-15; 2,56; 3,48,8. Dazu aufschlussreich Walbank (1972) 34 f. mit weiteren Stellen; Zangara (2004) 256 f.; 269f. 243 Die Problematik zieht sich bis hinein ins 20. Jahrhundert und in die Diskussion über die Existenz einer sogenannten tragischen Geschichtsschreibung. Vgl. Kapitel 2. 244 Burck (²1964) 197-233. 245 Burck (²1964) 200f. 246 Liv. 5,41,4-10, s. Burck (²1964) 201. 247 Liv. 1,58,6-59,2, s. Burck (²1964) 202. 248 Burck (²1964) 203-233. vers beurteilt, da sie zum Teil im Verdacht stehen, den Text ins Unsachliche und Fiktive abdriften zu lassen, und als unpassend für eine historische Darstellung empfunden werden. 242 In der Forschung hat man denn auch Historikern wie Dionysios, die intensiv auf Techniken der Leserinvolvierung zurückgreifen, den Vorwurf des allzu Pathetischen gemacht. 243 Während die Verwendung von enargeia-Strategien in den Antiquitates Ro‐ manae allerdings bisher lediglich am Rande und nicht systematisch analysiert wurde, hat sich bereits Erich Burck im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts ausführlich der enargeia und ihren Erscheinungsformen im Geschichtswerk des Livius gewidmet. 244 Hierbei konnte er zeigen, dass sich Livius gezielt verschiedener Techniken bedient, um bei seinem Lesepublikum den Eindruck der Anschaulichkeit zu erzeugen. Hierunter nennt er etwa die „visuelle Kon‐ zeption“ von Einzelszenen 245 wie beispielsweise, als die Gallier das eroberte Rom durchqueren 246 oder wenn von der altrömischen Tugendhaftigkeit und dem Selbstmord der Lucretia erzählt wird. 247 Doch geht er ebenso auf die Verwendung von Aristien herausragender Kämpfer und das Erregen der Emotionen des Lesers als Mittel der enargeia ein. 248 Hierbei spielt für Burck stets auch die Gegenüberstellung mit Dionysios eine Rolle, jedoch primär, um der Aussage Nachdruck zu verleihen, dass Livius diesem in der Verwendung dieses erzähle‐ rischen Mittels überlegen sei, da er es nicht wie die sogenannte peripatetische Geschichtsschreibung und deren Nachfolger - zu denen Burck Dionysios rechnet - als bloßen rhetorischen Schmuck begreife, sondern gezielt einsetze und zugleich mit sinnstiftendem Gehalt fülle. 4.4 Äußerungen des Dionysios zu enargeia Nicht nur durch den Historiker Dionysios, sondern durch die griechisch-römi‐ sche Geschichtsschreibung im Allgemeinen sieht man sich vor die Schwierigkeit 68 4 Enargeia <?page no="69"?> 249 Zwar gibt es aus der Zeit vor Lukian Hinweise auf Abhandlungen geschichtstheoreti‐ schen Inhalts, doch sind sie uns nicht erhalten. So sind sowohl für Theophrast als auch für Praxiphanes verlorene Werke des Titels Περὶ ἱστορίας bezeugt, über deren Inhalt nichts Genaues bekannt ist, vgl. Walbank (1972) 36f. 250 Folgende Stellen befassen sich mit dem Begriff ἐνάργεια bzw. dem zugehörigen Adjektiv: Lys. 7,1; Isokr. 2,2 und 11,3; Is. 3,1; Dem. 58,2; Pomp. 3,17 und 4,3 (add. Usener). In den Antiquitates wird ἐναργής im Sinne von „klar, deutlich“ verwendet, vgl. ant. 1,25,3 (coni. Jacoby) und 2,60,5. 251 E.g. Meijering (1987) 30; Plett (2012) 19f. 252 Vgl. Bonner (1969) 43-48. 253 Lys. 7,1-3. gestellt, dass sie kaum Aussagen selbstreflexiver Art über den Einsatz ihrer narrativen Techniken zu bieten pflegt. Somit ist man angewiesen auf das wenige, das die jeweiligen Autoren in ihren zumeist knapp gehaltenen Methodenka‐ piteln mitteilen; und dort wird gemeinhin über anderes reflektiert als über enargeia. Dionysios bildet hierin keine Ausnahme. Zwar besitzen wir aus der Zeit bis um Christi Geburt mehrere Schriften dichtungstheoretischen Inhalts - Aristoteles, Horaz, Ps.-Longin -, die uns Aufschluss geben über den damaligen poetologischen Diskurs, doch ein vergleichbares Werk über die Theorie der Geschichtsschreibung, eine Ars historiographica, besitzen wir mit Ausnahme der späteren Abhandlung Lukians nicht. 249 Was allerdings die enargeia betrifft, so stellt Dionysios insofern dennoch eine Ausnahme dar, als er in seinen rhetorischen Werken den Versuch unternimmt, ein erzählerisches Mittel zu beleuchten, das er selbst in seinem Geschichtswerk anwendet. 250 Eine aufschlussreiche und in der Forschung mehrfach herange‐ zogene Passage, 251 in der Dionysios seine Auffassung von enargeia darlegt, findet sich in seiner Abhandlung De Lysia, die anhand einer Analyse der Redeweise des attischen Redners eine Orientierungshilfe für die Adepten der rhetorischen Ausbildung liefern möchte. Die Methode, nach der Dionysios vorgeht, ist folgende: Er untersucht die Eigenheiten des Lysias’schen Stils und hebt diejenigen Charakteristika hervor, die seiner Ansicht nach zur Imitierung geeignet sind bzw. die man vermeiden sollte. 252 Dort heißt es: ἔχει δὲ καὶ τὴν ἐνάργειαν πολλὴν ἡ Λυσίου λέξις. αὕτη δ᾿ ἐστὶ δύναμίς τις ὑπὸ τὰς αἰσθήσεις ἄγουσα τὰ λεγόμενα, γίγνεται δ᾿ ἐκ τῆς τῶν παρακολουθούντων λήψεως. ὁ δὴ προσέχων τὴν διάνοιαν τοῖς Λυσίου λόγοις οὐχ οὕτως ἔσται σκαιὸς ἢ δυσάρεστος ἢ βραδὺς τὸν νοῦν, ὃς οὐχ ὑπολήψεται γινόμενα τὰ δηλούμενα ὁρᾶν καὶ ὥσπερ παροῦσιν οἷς ἂν ὁ ῥήτωρ εἰσάγῃ προσώποις ὁμιλεῖν. ἐπιζητήσει τε οὐθέν, ‹οἷον› εἰκὸς τοὺς μὲν ἂν δρᾶσαι, τοὺς δὲ παθεῖν, τοὺς δὲ διανοηθῆναι, τοὺς δὲ εἰπεῖν. κράτιστος γὰρ δὴ πάντων ἐγένετο ῥητόρων φύσιν ἀνθρώπων κατοπτεῦσαι καὶ τὰ προσήκοντα ἑκάστοις ἀποδοῦναι πάθη τε καὶ ἤθη καὶ ἔργα. 253 4.4 Äußerungen des Dionysios zu enargeia 69 <?page no="70"?> 254 Die Bedeutung des Terminus δύναμις stellt Zangara (2004) 252 heraus. Aufschluss‐ reich sind auch die Darlegungen des Dionysios über die Fähigkeit des Homer, das Beschriebene lebendig vor Augen zu stellen, s. comp. 20,8-22: Der Eindruck der Lebendigkeit ergibt sich aus dem Zusammenwirken von detaillierter Beschreibung und der Anordnung der Wortsilben. 255 Demetr. eloc. 209-210. Dies hat bereits Usher in seiner Loeb-Ausgabe gesehen, vgl. Usher (1974) 33 Anm. 2. 256 So auch Zanker (1981) 297 und (1987) 39: „He means by enargeia the stylistic effect in which appeal is made to the senses of the listener and attendant circumstances are decribed in such a way that the listener will be turned into an eye-witness: he will inevitably see the events Lysias depicts and, as it were, feel as if he is in the presence of the characters introduced. The importance attached to sight is clear in Dionysius᾽ definition as it is in the rhetors᾽ when they discuss ekphrasis or pictorial description.“ Vgl. Cic. part. 6,20: est enim haec pars orationis, quae rem constituat paene ante oculos, is enim maxime sensus attingitur: sed ceteri tamen, et maxime mens ipsa moueri potest. 257 So bereits bei Aristoteles in Bezug auf die Wirkung der rhetorischen Lexis; s. Armisen (1980) 9. Die Redeweise des Lysias besitzt viel enargeia. Man versteht darunter die Fähigkeit, das Gesagte den Sinnen zu präsentieren. Sie entsteht aus der Erfassung der Begleit‐ umstände. Wer die Reden des Lysias mit Aufmerksamkeit liest, wird weder so stumpf noch so widerstrebend noch so begriffsstutzig sein, dass er nicht mitbekommt, wie er das Dargestellte sieht und sich gleichsam in Gesellschaft der vom Redner vorgeführten Figuren befindet, so als wären sie anwesend. Und er wird nichts vermissen, was jeder einzelne getan, erlitten, gedacht oder gesagt hat. Denn Lysias war von allen Rednern der beste darin, die Natur der Menschen zu durchschauen und einem jeden die ihm zukommenden Emotionen, Charaktereigenschaften und Taten zuzuweisen. Enargeia stellt hier für Dionysios eine stilistische (λέξις) Qualität der Rhetorik dar, denn sie zeichnet ihm zufolge die Redeweise des Lysias (in hohem Maße) aus. Sie besteht in der Fähigkeit (δύναμίς τις) seiner Rede, 254 dem Hörer das Gefühl zu geben, dieser nehme die beschriebenen Dinge selbst wahr. Diese Darlegung über das Wesen der enargeia in den Reden des Lysias ruft die bei Demetrios formulierte Forderung nach Ausführlichkeit der Darstellung im Sinne der Einbeziehung aller begleitenden Umstände in Erinnerung. 255 Zudem gleicht sie insoweit den enargeia-Konzepten anderer antiker Quellen, als auch sie den Vergleich vom Leser/ Zuhörer als Augenzeugen zugrunde legt. Gelingt es der Rede, diesen Eindruck zu erzeugen, so besitzt sie die Qualität der enargeia. Besonders wichtig ist nach dieser Definition der Gesichtssinn, auch hierin stimmt Dionysios mit den meisten anderen Autoren überein. 256 Es handelt sich um das Verfahren, den Leser über die Illusion einer sinnlichen Teilhabe an den geschilderten Ereignissen zu einer intensiveren Involvierung in die Erzählung anzuregen. 257 70 4 Enargeia <?page no="71"?> 258 Meijering (1987) 30. Bemerkenswert ist, dass es neben der ausführlichen Darstellung der beglei‐ tenden Umstände, der Details und Akzidentien, noch der Erfüllung eines weiteren Kriteriums bedarf, damit eine Rede auf das Publikum ἐναργής wirkt: Die Personen, von denen die Rede ist, müssen glaubwürdig sein (εἰκός). Dies gilt sowohl für ihre Handlungen (τοὺς μὲν ἂν δρᾶσαι) als auch für ihre Emotionen (τοὺς δὲ παθεῖν) und das von ihnen Gedachte (τοὺς δὲ διανοηθῆναι) und Gesagte (τοὺς δὲ εἰπεῖν). Als εἰκὸς ist all das einzustufen, was - erfahrungsgemäß - der menschlichen Natur entsprechend (φύσιν ἀνθρώπων) bei bestimmten Charakteren auf eine bestimmte Weise einzutreten pflegt bzw. von diesen an Emotionen und Handlungen zu erwarten ist (πάθη τε καὶ ἤθη καὶ ἔργα). Mit anderen Worten: Den guten und anschaulichen Redner (in diesem Falle Lysias) zeichnet es aus, dass er aufgrund genauer und langer Beobachtung der menschlichen Natur das Wahrscheinliche vom Unwahrscheinlichen zu unterscheiden weiß und dementsprechend das Geschehen nach den Kategorien des Erwartbaren darzustellen versteht. Redner und Publikum teilen die gleichen Erfahrungen und Kenntnisse der menschlichen Natur und können sich daher in dem gleichen mentalen Erwartungshorizont bewegen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass nach der hier dargelegten Auffassung des Dionysios enargeia als Eigenschaft durchaus auf die Worte und nicht auf die imaginären Bilder bezogen zu sein scheint, die die Worte hervorrufen. Er schreibt explizit, die Redeweise des Lysias verfüge über ein hohes Maß an enargeia (ἔχει δὲ καὶ τὴν ἐνάργειαν πολλὴν ἡ Λυσίου λέξις). In der zitierten Passage wird keine Erläuterung gegeben, mit welchen kon‐ kreten Mitteln enargeia bewirkt werden könne oder sollte, worauf bereits Meije‐ ring aufmerksam gemacht hat. 258 Zwar liefert Dionysios eine Definition dessen, was er unter dem Begriff der enargeia versteht; auf Ratschläge zur praktischen Umsetzung kommt es ihm hier jedoch nicht an. Diese Leerstelle mag erstaunen, da Dionysios in seinen literaturtheoretischen Schriften eine ebenso umfassende wie profunde Kenntnis der Kunst des Erzählens offenbart und an praktischen Vorschriften nicht spart. Doch wäre eine Erörterung verschiedener Arten der Schaffung von enargeia möglicherweise in der Charakterisierung eines Redners weniger am Platze gewesen und hätte nach dem Empfinden des Dionysios eher in ein Handbuch zur Redepraxis gehört. Über die Gründe für sein Stillschweigen lässt sich nur spekulieren; dass Dionysios Verfahren der enargeia-Erzeugung kannte und beherrschte, davon legt sein Geschichtswerk beredtes Zeugnis ab. Allerdings scheint es für Dionysios gerade für einen Historiker von Belang zu 4.4 Äußerungen des Dionysios zu enargeia 71 <?page no="72"?> 259 Amm. II 2,2 zählt zu den χρώματα [τῆς Θουκυδίδου λέξεως] u.a. τὸ δεινὸν καὶ τὸ φοβερόν. 260 Vgl. auch Pomp. 6 zu Theopomp, der für seine gründliche Darlegung der historischen causae gelobt wird. Dazu Sacks (1983) 70f. 261 Lys. 2-14. 262 Lys. 15,1-3. sein, die Affekte des Lesers zu aktivieren: So hebt er an Thukydides dessen Fähigkeit hervor, den Leser aufzuregen und zu erschrecken. 259 Die Vollständigkeit einer Darstellung im Sinne des detaillierten Berichtes über einen Vorgang und der Einbeziehung von Begleitumständen ist eine gestalterische Vorgehensweise, welche, wie dieses Kapitel zeigen wird, die Erzählweise in den frühen Büchern der Antiquitates Romanae als ein wesentli‐ ches Moment prägt. Sie wird auf theoretischer Ebene im De Lysia wiederholt thematisiert, nicht nur in der oben besprochenen Passage. Ihre wichtige Rolle kann als eine Kernaussage des Traktats angesehen werden, wird sie doch als eine der entscheidenden Tugenden des Rhetors gerühmt, die Dionysios den jungen Rednern seiner Zeit zur Nachahmung anempfiehlt. 260 Nachdem Dionysios sich zunächst ausführlich mit den stilistischen Qualitäten der lysiani‐ schen Redekunst beschäftigt hat und ihre Vorbildfunktion herausgestellt hat, 261 wendet er sich in Kapitel 15 der Behandlung des Stoffs zu und eröffnet seine Erörterungen, indem er auf die umfassende Einbeziehung aller Komponenten des Sachverhaltes hinweist, die für das Anliegen der Rede wirksam werden könnten: εὑρετικὸς γάρ ἐστι τῶν ἐν τοῖς πράγμασιν ἐνόντων λόγων ὁ ἀνήρ, οὐ μόνον ὧν ἅπαντες ἂν εὕροιμεν, ἀλλὰ καὶ ὧν μηθείς. οὐδὲν γὰρ ἁπλῶς Λυσίας παραλείπει τῶν στοιχείων, ἐξ ὧν οἱ λόγοι, οὐ τὰ πρόσωπα, οὐ τὰ πράγματα, οὐκ αὐτὰς τὰς πράξεις, οὐ τρόπους τε καὶ αἰτίας αὐτῶν, οὐ καιρούς, οὐ χρόνους, οὐ τόπους, οὐ τὰς ἑκάστου τούτων διαφορὰς ἄχρι τῆς εἰς ἐλάχιστον τομῆς, ἀλλ᾽ ἐξ ἁπάσης θεωρίας καὶ παντὸς μερισμοῦ τὰς οἰκείας ἀφορμὰς ἐκλέγει. δηλοῦσι δὲ μάλιστα τὴν δεινότητα τῆς εὑρέσεως αὐτοῦ οἵ τε ἀμάρτυροι τῶν λόγων καὶ οἱ περὶ τὰς παραδόξους συνταχθέντες ὑποθέσεις, ἐν οἷς πλεῖστα καὶ κάλλιστα ἐνθυμήματα λέγει καὶ τὰ πάνυ δοκοῦντα τοῖς ἄλλοις ἄπορα εἶναι καὶ ἀδύνατα εὔπορα καὶ δυνατὰ φαίνεσθαι ποιεῖ, κριτικὸς ὧν δεῖ λέγειν καὶ ὅτε μὴ πᾶσιν ἐξῆν χρῆσθαι τοῖς εὑρεθεῖσι, τῶν κρατίστων δὲ καὶ κυριωτάτων ἐκλεκτικός, εἰ μὴ καὶ μάλιστα τῶν ἄλλων ῥητόρων, οὐδενός γε ἧττον. 262 Er ist ein findiger Mann, was die in den gegebenen Tatsachen liegenden Argumente betrifft, nicht nur solche, die wir wohl alle finden könnten, sondern auch solche, die sonst keiner finden würde. Er lässt absolut keinen der Teile, aus denen ein Argument 72 4 Enargeia <?page no="73"?> besteht, außer Acht: weder die Personen, noch die Umstände, noch die Handlungen selbst, noch das spezifische Verhalten mit seinen Ursachen, noch die Gelegenheiten, noch die Zeiten, noch die Orte, noch die Widersprüche zwischen diesen bis ins kleinste Detail; sondern aus der ganzen Untersuchung und aus jeder Analyse wählt er die geeigneten Elemente aus. Am meisten wird seine Meisterschaft im Auffinden in jenen Reden deutlich, die ohne Zeugen auskommen müssen und über ungewöhnliche Fälle verfasst sind. In diesen bringt er die meisten und schönsten Enthymeme und bewirkt, dass Fälle, die anderen aussichtslos und unmöglich zu sein scheinen, mühelos und handhabbar wirken. Er kann beurteilen, was gesagt werden muss, und wenn es einmal nicht möglich ist, alles zu verwenden, was er herausgefunden hat, dann ist er im Auswählen der stärksten und wichtigsten Argumente vielleicht nicht besser als alle anderen Redner, aber dennoch keinem unterlegen. Zweierlei erscheint hier für unsere Fragestellung relevant: Zum einen ist es die an dieser Stelle implizierte umfassende Kenntnis und Verwertung an Sachinfor‐ mationen, die dem Redner über den Fall, den er vor Gericht zu vertreten hat, zur Verfügung stehen. Dionysios zufolge durchdringe Lysias alles ihm Vorliegende bis hinein in kleinste Einzelheiten, um es seiner Redeintention dienstbar zu machen und daraus wo nötig seine Argumentation zu konstruieren, anstatt sich lediglich auf das scheinbar Naheliegende zu stützen. Dionysios bezieht sich hier eindeutig auf den Inhalt forensischer Reden und auf die erforderliche Eigenschaft des Redners, den zur Verhandlung stehenden Sachverhalt zur Gänze auszuschöpfen und für die Argumentation nutzbar zu machen. Der rhetorische Aspekt der Vollständigkeit ist von Bedeutung sowohl auf der stilistischen Ebene (Lys. 7,1) als auch bei der Verwertung des Materials der Rede (Lys. 15,1-2). Die Einbeziehung von Details ermöglicht es dem Redner einerseits, den Grad an Anschaulichkeit seiner Darlegungen zu erhöhen, sodass das Publikum sich im wahren Wortsinn „im Bilde“ glaubt; andererseits bietet sie ihm ein Reservoir an argumentativen Möglichkeiten, auf die er für seine Überzeugungsarbeit zurückgreifen kann. Es scheint mir eine Parallele zu bestehen zwischen dem hier und in der oben referierten Definition von enargeia Dargelegten und der in den frühen Büchern der Antiquitates geübten Praxis. Es ist ein wichtiges Stilmerkmal des Historiographen Dionysios, einen historischen Vorgang in großer Ausführlichkeit, ja Breite darzustellen und unter Umständen auch Details in die Darstellung zu integrieren, welche dem Lesepublikum für den Handlungsverlauf möglicherweise wenig relevant bis gänzlich belanglos zu sein scheinen. Diese seine Vorgehensweise, auf die Schilderung der Begleitumstände eines historischen Geschehens zurückzugreifen, um dem Text Anschaulichkeit zu verleihen und den Lesern die Illusion der Augenzeugenschaft zu verschaffen, 4.4 Äußerungen des Dionysios zu enargeia 73 <?page no="74"?> 263 S. Kapitel 4.5.3. 264 Vgl. ant. 1,77,1-3; 1,84,1-8. Vgl. Gabba (1961) 99, der in dieser Vorgehensweise das Streben des Dionysios nach rationaler Wahrheit ausgedrückt sieht. Ich stimme Gabbas Interpretation zu, halte es jedoch für wahrscheinlich, dass dieser Wahrheitsbegriff insofern mit dem Konzept der Vollständigkeit verbunden ist, als er es dem Leser ermöglicht, sich durch die Gegenüberstellung mehrerer Versionen so gut als möglich informiert zu wähnen und dadurch gleichsam die Illusion des Dabei-Seins zu erhalten. 265 Pomp. 3,17. wird weiter unten behandelt werden. 263 Dabei beschränkt Dionysios sich nicht auf das Stilistische, sondern befolgt diese Vorgehensweise auch im Umgang mit seinem Stoff und fügt wiederholt mehrere Überlieferungen nebeneinander ein. 264 Offenbar stellt enargeia für ihn also eine Qualität dar, die allen sprachlichen Äußerungen zu eigen sein kann, und bildet somit eine Art Bindeglied zwischen den Gattungen. Die Erzeugung von enargeia in einer Rede, sei es nun vor Gericht oder anderswo, fungiert letztlich nur als ein untergeordnetes Mittel, das einem bestimmten Zweck dient, nämlich dem Zweck, das Publikum von der Richtigkeit des juristischen oder politischen Standpunktes des Redners zu überzeugen. Der Weg dorthin führt über die Einbeziehung der Emotionen der Zuhörer, die von einer anschaulichen Darstellung angesprochen werden. Hierin gleicht die rhetorische der dichterischen enargeia, denn auch diese ist letztlich tendenziös, wenn man so will; auch sie wird zu dem Zweck eingesetzt, eine psychologische Kommunikation zwischen dem Text und dem Lesepublikum herzustellen, wobei die Illusion des Dabei-Seins als Medium fungiert. Auch der Dichter zielt mit der Schaffung von enargeia darauf ab, den Leser via Aktivierung seiner Affekte in eine bestimmte Richtung zu lenken, eine Textstelle auf eine bestimmte Weise zu deuten oder eine bestimmte Weltsicht des Autors anzunehmen. Die erzählende Geschichtsschreibung nun bezieht in ihr narratives Repertoire Gestaltungsmittel der Dichtung ein; diese poetisierende Tendenz trifft auch und gerade auf diejenigen Historiker zu, die sich einem Thema zuwandten, für das die Quellenlage sich nicht günstig darstellte, wie es im Falle des Dionysios und des Livius für die römische Frühzeit der Fall ist. Beide waren vor die Aufgabe gestellt, eine Vergangenheit, die lediglich in gröbsten Zügen und sagenhafter Ausschmückung überliefert war und für die ihnen keine Originalquellen zu Gebote standen, in einer Art und Weise darzustellen, die zum einen mit der kollektiven memoria in Einklang stand und zum anderen beim Leser das Gefühl von historischer Genauigkeit und Ausführlichkeit erwecken sollte. Eine Erwähnung der Bedeutung von rhetorischer enargeia speziell für ein Geschichtswerk findet sich im Brief an Pompeius. 265 Nachdem Dionysios sich mit der Themenwahl von Herodot und Thukydides und dem Umgang der 74 4 Enargeia <?page no="75"?> beiden mit ihrem Stoff auseinandergesetzt hat, widmet er sich der Stilkritik. Hier unterscheidet er drei Tugenden bzw. Qualitäten (ἀρεταί), die einen guten Historiker auszeichnen. Zunächst ist dies als oberste Tugend die dialektale Reinheit, sodann das angemessene Sprachniveau und Vokabular, an dritter Stelle die mit Klarheit verbundene Kürze. Diese drei Qualitäten gelten als Haupttugenden, denen eine Reihe nachrangiger ἀρεταί untergeordnet ist. Deren erste stellt die enargeia dar, gefolgt von der Nachahmung von Charakter und Affekten. Dionysios geht an dieser Stelle nicht weiter auf das Thema der enargeia ein, sondern begnügt sich mit der bloßen Nennung des Begriffs. Worin enargeia besteht, was sie ausmacht und mit welchen Mitteln sie zu generieren ist, lässt er offen, ebenso wie er es auch in der oben zitierten Passage aus dem De Lysia dem Leser überlässt, sich diese Fragen selbst zu stellen und zu beantworten. Vermutlich konnte er bei seinen rhetorisch gebildeten Lesern eine gewisse Kenntnis über Techniken der enargeia voraussetzen. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Im Bereich der Rhetorik bedeutet es für Dionysios enargeia, wenn es den Worten des Redners gelingt, das Gesagte in die imaginäre Wahrnehmung der Zuhörer zu transferieren, mit anderen Worten: Glaubt der Zuhörer die Geschehnisse, von denen der Redner spricht, so wahrzunehmen, als sei er selbst dabei, so verfügt die Rede über die Qualität der enargeia. Dieses Ziel wird erreicht durch eine genaue Darstellung der Begleitumstände. Die Reden des Lysias stellen ein Musterbei‐ spiel für enargeia dar, da sie es vermochten, den Rezipienten das Gefühl zu geben, sie nähmen selbst an den geschilderten Ereignissen teil, sähen diese mit eigenen Augen und stünden den erwähnten Personen tatsächlich gegenüber. Die Darlegungen im De Lysia über das Wesen der rhetorischen enargeia bewegen sich im Rahmen dessen, was die hellenistischen enargeia-Theoretiker unter dem Begriff verstanden. Eine Rede, die ἐναργής sein soll, muss Dionysios zufolge drei Aspekten gerecht werden: 1. Sie muss die Geschehnisse in einer gewissen Ausführlichkeit schildern, um plastisch zu wirken, und hierfür auch Begleitumstände mit einbeziehen. 2. Sie muss hierüber beim Zuhörer die Illusion erzeugen, das Geschilderte selbst wahrzunehmen. 3. Sie muss glaubwürdig sein, d. h. sie darf nur das darstellen, was entspre‐ chend der menschlichen Natur wahrscheinlich ist (εἰκός, πρέπον). Nicht nur die Rhetorik, auch die anderen literarischen Gattungen und speziell die Geschichtsschreibung stellen einen Ort für enargeia dar. Auf welche Weise und mit welchen Zielsetzungen die Erzählung der Frühzeit in den Antiquitates 4.4 Äußerungen des Dionysios zu enargeia 75 <?page no="76"?> Romanae sich entsprechender Verfahren bedient, soll als nächstes erörtert werden. 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae Der folgende Abschnitt thematisiert vier erzählerische Mittel, die das Ge‐ schichtswerk des Dionysios zur Schaffung von Anschaulichkeit und zur Inten‐ sivierung der Text-Leser-Interaktion einsetzt und die als charakteristisch für die Erzählweise der Bücher zur Königszeit anzusehen sind. Darüber hinaus geben sie Aufschluss über die Auffassung des Dionysios, wie einem griechischen Lesepublikum die römische Geschichte erzählt werden sollte. Konkret handelt es sich um 1. die Einbeziehung der Emotionen des Lesers, 2. den Einsatz von Fokalisatoren, 3. die Ausführlichkeit der Darstellung und insbesondere der inneren Motiva‐ tionen der Figuren, 4. die Thematisierung des Visuellen. Diese vier Mittel stehen in enger Beziehung zu der im De Lysia gegebenen De‐ finition von enargeia. Wie zu zeigen sein wird, spielt insbesondere das Mittel der Ausführlichkeit und der Einbeziehung von Begleitumständen des Geschehens eine hervorstechende Rolle in den Königszeitbüchern, doch auch der zu dieser Definition gehörende Aspekt der Glaubwürdigkeit begegnet wiederholt in Form von psychologisch genauer und realistischer Figurenzeichnung. Die im De Lysia aufgestellte Forderung schließlich, der Rezipient müsse das Beschriebene vor seinem inneren Auge sehen, kann als übergreifendes Ziel der genannten erzählerischen Mittel gesehen werden. Eine aufmerksame Lektüre der Bücher zur Königszeit zeigt zudem, dass dort bestimmte Einzelszenen durch die gezielte Kombination verschiedener Mittel hervorgehoben werden. In der Regel wird nicht nur eine einzige, sondern mehrere Strategien zugleich angewandt, die der Erzeugung von enargeia dienen. Beispielhaft zu nennen sind die Aussetzung der Zwillinge Romulus und Remus, der Kampf von Horatii und Curiatii, die Inthronisation des Servius Tullius, die Erzählung von den Verbrechen der Tullia sowie die Selbsttötung der Luc‐ retia. Um die Übersichtlichkeit der folgenden Überlegungen zu gewährleisten, werden die genannten enargeia-Strategien jedoch jeweils isoliert betrachtet. Dies erschien vorteilhafter, als anhand der umfassenden Besprechung einer Einzelszene sämtliche darin angewendeten enargeia-Strategien zu analysieren und diesen Vorgang mit sämtlichen wichtigen Einzelszenen zu wiederholen. 76 4 Enargeia <?page no="77"?> 266 Vgl. Kapitel 2 und Anm. 816. 4.5.1 Einbeziehung der Emotionen des Lesers 4.5.1.1 Vorbemerkungen Wie wir gesehen haben, stellt die Aktivierung der Emotionen des Rezipienten in der griechisch-römischen Rhetoriktheorie ein wichtiges Mittel zur Schaffung von enargeia dar. Der Rezipient wird in die Lage versetzt, sich in die am erzählten Geschehen beteiligten Personen einzufühlen, und tritt somit in engere Interaktion mit der Erzählung. Die Bücher der Königszeit der Antiquitates Romanae setzen an vielen Stellen auf dieses Verfahren; gerade die auf die Emotionen des Publikums abzielende Darstellung einzelner Szenen ist charakteristisch für die Erzählweise des Textes. Die Forschung hat eine solche Erzählweise lange Zeit unter dem Begriff der tragischen Geschichtsschreibung klassifiziert, der durch die Gleichsetzung mit Prinzipien des Pathetischen bis Grotesken in Verruf geraten ist. Man hat den An‐ tiquitates Romanae bisweilen zum Vorwurf gemacht, sie steigerten emotionale Szenen wie etwa die Selbsttötung der Lucretia ins übertrieben Pathetische, ja Grausige um der Lust an der Rhetorik willen und verfehlten damit den Anspruch einer Geschichtsdarstellung auf solide Sachlichkeit und maßvoll-neutrale Dar‐ stellung. 266 Diese Kritik legt freilich einen unpassenden Maßstab an den Text an, da sie Gepflogenheiten der modernen Geschichtsschreibung auf einen antiken Text anzuwenden sucht und dabei den Literaturcharakter der Antiquitates außer Acht lässt. Der Vorwurf übertriebener Emotionalität bezieht sich weniger auf die Art der Darstellung an sich, sondern zielt in erster Linie auf diese Art der Darstellung in einem Geschichtswerk: Anstößig fand man nicht so sehr, dass die Angehörigen der Lucretia weinen und klagen und der Vater sich über ihre Leiche wirft, anstößig erschien vielmehr, dass sie das in einem Text tun, von dem zu erwarten sei, sich möglichst frei von Emotionen zu halten und auf die Schilderung von Sachverhalten zu beschränken. Wäre diese Schilderung Teil eines Epos oder einer Tragödie (wobei sich das Geschehen bei letzterer haupt‐ sächlich hinter der Bühne abspielen würde und dem unmittelbaren Blick des Zuschauers entzogen wäre), so wäre Kritik dieser Art vermutlich ausgeblieben. Als Entgegnung auf derart kritische Stimmen ist zum einen zu sagen, dass mittlerweile der Begriff und die Vorstellung einer sogenannten tragischen Geschichtsschreibung ihrerseits kritisch betrachtet werden. Die Forschung ist zu der Auffassung gelangt, dass das Konzept als überholt zu gelten hat, da es auf falschen Prämissen beruht. Es postulierte eine regelrechte Schule der tragischen Historiographie, der es vor allem auf eine effektheischende 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 77 <?page no="78"?> 267 S. grundlegend Walbank (1985b), der zeigen konnte, dass die angeblichen Hauptcha‐ rakteristika der tragischen Geschichtsschreibung bis in voraristotelische Zeit zurück‐ reichen, und der zudem darauf hinweist, dass die Vertreter derselben in erster Linie nur indirekt durch die Kritik des Polybios greifbar sind. 268 Ant. 4,4,3. Darbietung des Stoffes angekommen sei, die auf die Emotionen des Lesers abzielte. Ihren Ursprung habe diese Schreibweise in der Umgebung des Peripatos gehabt, in Schülern des Aristoteles, die dessen Lehren in verzerrter Form auf die Geschichtsschreibung übertragen hätten. Die Richtigkeit einer solchen Theorie kann jedoch nicht bewiesen werden; bei genauem Quellenstudium ist sie vielmehr als modernes Forschungskonstrukt einzustufen. 267 Zum anderen missachtet die genannte Kritik den Umstand, dass die Anti‐ quitates Romanae eine emotionale Art der Darstellung keineswegs um ihrer selbst willen betreiben, sondern diese vielmehr bewusst und mit bestimmten Zielen einsetzen. Dies gilt es im Folgenden an entsprechenden Textabschnitten nachzuweisen. 4.5.1.2 Tanaquils Pläne Hierzu sei zunächst ein Blick auf die Ereignisse geworfen, die der Inthronisation des Servius Tullius vorausgehen. Nach dem tödlichen Anschlag auf den alten König L. Tarquinius befindet sich dessen Familie in Lebensgefahr, da die Attentäter die Macht in Rom zur Gänze an sich bringen wollen. Es ist die Königin Tanaquil, die weiß, was nun zu tun ist, um die Gefahr des Staatsstreichs abzuwenden und das Überleben ihrer Enkel zu sichern: ἐνθυμουμένη δὲ τὴν περὶ τὸν οἶκον ἐρημίαν καὶ περιδεὴς οὖσα, μὴ κατασχόντες οἱ Μάρκιοι τὴν ἀρχὴν ἄρωνται τὰ παιδία καὶ πᾶσαν τὴν βασιλικὴν συγγένειαν ἀφανίσωσι, πρῶτον μὲν ἐπέταξε τὰς τῶν βασιλείων θύρας κλεῖσαι καὶ φύλακας ἐπ᾽ αὐταῖς ἐπέστησε διακελευσαμένη μηδένα παριέναι μήτ᾽ ἔσω μήτ᾽ ἔξω· ἔπειτ᾽ ἐκ τοῦ δωματίου πάντας ἐξελθεῖν κελεύσασα τοὺς ἄλλους, ἐν ᾧ τὸν Ταρκύνιον ἡμιθνῆτα ἔθεσαν, τὴν δ᾽ Ὀκρισίαν καὶ τὸν Τύλλιον καὶ τὴν θυγατέρα τὴν συνοικοῦσαν τῷ Τυλλίῳ κατασχοῦσα καὶ τὰ παιδία ὑπὸ τῶν τροφῶν ἐνεχθῆναι κελεύσασα λέγει πρὸς αὐτούς· 268 Sie dachte an die Einsamkeit im Haus und war in großer Angst, dass die Söhne des Marcius, wenn sie in den Besitz der Herrschaft gelangen sollten, die Kinder beseitigen und die gesamte königliche Verwandtschaft töten würden. Als erstes befahl sie, die Palasttore zu verschließen, und platzierte Wächter vor diesen mit der Anweisung, niemanden herein oder hinaus zu lassen: Dann befahl sie allen anderen, aus dem 78 4 Enargeia <?page no="79"?> 269 S. ausführlicher zur Rede der Tanaquil Kapitel 5.3.2.1.1. 270 Ant. 4,5,1. Gemach zu gehen, in welches sie den halbtoten Tarquinius gelegt hatten, hielt aber Ocrisia, Tullius und ihre Tochter, die mit Tullius verheiratet war, zurück und befahl, dass die Kinder von den Ammen hereingetragen würden. Zu ihnen sprach sie: Es folgt die Rede der Tanaquil, in der sie Servius Tullius dazu auffordert, entsprechend ihrem Plan die Macht zu übernehmen. 269 Anschließend heißt es: Ταῦτ᾽ εἰποῦσα καὶ τῶν παιδίων ἑκάτερον εἰς τὰς ἀγκάλας ἐμβαλοῦσα τοῦ τε γαμβροῦ καὶ τῆς θυγατρὸς καὶ πολὺν ἐξ ἀμφοτέρων κινήσασα οἶκτον, 270 So sprach sie und legte je eines der Kinder in die Arme ihres Schwiegersohnes und ihrer Tochter und erregte bei beiden großes Mitgefühl. Die Rede der Tanaquil ist sorgfältig gerahmt von dem Bild der Familie am Totenbett des alten Königs. Als Vorbereitung auf diese Rede erfährt der Leser zunächst, dass Tanaquil alle Anwesenden entfernen lässt, die nicht unmittelbar in ihre Pläne eingeweiht werden sollen, und die beiden noch kleinen Enkelsöhne hereinbringen lässt. Dass es sich um noch recht kleine Kinder handeln muss, geht daraus hervor, dass sie sie ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn in die Arme legt. Der Text schafft auf diese Weise eine Atmosphäre, die den Leser auf die Situation einstimmt und die Emotionen, mit denen er die Rede der Tanaquil aufnehmen soll, in eine bestimmte Richtung lenkt: Die Nennung der wehrlosen Kinder, deren Leben in Gefahr ist, sowie die Szenerie am Totenbett des Tarquinius evozieren eine affektiv aufgeladene Stimmung, in der Furcht und Jammer dominieren. Tanaquil wird als περιδεής beschrieben, das Mitgefühl und der Kummer von Servius Tullius und seiner Frau als Reaktion auf die Rede sind ebenfalls explizit genannt (οἶκτος). Dadurch wird der Rezipient dazu aufgefordert, sich diese Emotionen anzueignen, wobei ihm insbesondere Tullius und seine Gattin als Identifikationsfiguren dienen können, da sie auf der intradiegetischen Ebene die Adressaten der von Tanaquil gesandten Botschaft sind, ebenso wie der Leser selbst es auf der extradiegetischen Ebene ist. Diese „indirekte Leseanweisung“ erfolgt in einer krisenhaften Situation, in der einer‐ seits durch die Schaffung einer geheimnisvoll-gespannten Atmosphäre (das Hinausschicken der Personen, die geheime Versammlung am Bett des Königs) Dramatik erzeugt wird, andererseits durch die Schilderung von Emotionen der Figuren an die Gefühle des Lesers appelliert wird. Dessen Ratio wird weitestgehend außen vor gelassen; dem Text kommt es darauf an, ihn auf emotionaler Ebene anzusprechen und zu lenken. Der Ort für intellektuelle 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 79 <?page no="80"?> 271 Ant. 4,38,4-6. 272 Hinzu kommt die Ausführlichkeit der Schilderung; das Geschehen ist gegliedert in die streng chronologische Abfolge der einzelnen Aktionen der Beteiligten. Den emotionalen Gehalt der Szene hebt auch Wiater (2018) 120 Anm. 173 hervor. Eine Betätigung des Lesers ist nicht die Schilderung der Situation, sondern die darin eingebettete Rede selbst, die darauf abzielt, sowohl die strategische als auch die rhetorische Gewandtheit der Tanaquil herauszustellen. 4.5.1.3 Ermordung des Servius Tullius Eine ähnliche Vorgehensweise zeigt sich bei der Beschreibung der Ermordung des greisen Königs Servius Tullius, nachdem es kurz zuvor zum entscheidenden Rededuell mit Tarquinius Superbus gekommen ist. Tarquinius beleidigt den König, so dass dieser nicht mehr an sich halten kann: ὡς δὲ ταῦτ᾽ ἤκουσεν ὁ Τύλλιος, ἐκπικρανθεὶς ἐπὶ τῷ λόγῳ παρὰ τὸ συμφέρον ὥρμησεν ἐπ᾽ αὐτὸν ὡς ἐξαναστήσων τῆς ἕδρας. καὶ ὁ Ταρκύνιος ἄσμενος τοῦτ᾽ ἰδὼν ἀναπηδᾷ τ᾽ ἀπὸ τοῦ δίφρου, καὶ συναρπάσας τὸν γέροντα κεκραγότα καὶ τοὺς ὑπηρέτας ἐπικαλούμενον ἔφερε. γενόμενος δ᾽ ἔξω τοῦ βουλευτηρίου μετέωρον ἐξαρπάσας αὐτὸν ἀκμάζων τὸ σῶμα καὶ ῥωμαλέος ἀνὴρ ῥιπτεῖ κατὰ τῶν κρηπίδων τοῦ βουλευτηρίου τῶν εἰς τὸ ἐκκλησιαστήριον φερουσῶν. μόγις δ᾽ ἐκ τοῦ πτώματος ἀναστὰς ὁ πρεσβύτης ὡς εἶδε μεστὰ τὰ πέριξ ἅπαντα τῆς περὶ τὸν Ταρκύνιον ἑταιρείας, τῶν δ᾽ αὐτοῦ φίλων πολλὴν ἐρημίαν, ἀπῄει στένων κρατούντων καὶ παραπεμπόντων αὐτὸν ὀλίγων, αἵματι πολλῷ ῥεόμενος καὶ κακῶς ὅλον ἑαυτὸν ἐκ τοῦ πτώματας ἔχων. 271 Als Tullius dies hörte, wurde er zornig über die Äußerung und stürzte, ohne die Folgen zu bedenken, auf ihn zu, um ihn von seinem Sitz zu verjagen. Tarquinius, der dies mit Wohlgefallen sah, sprang vom Thron auf, ergriff den Greis, der schrie und seine Diener herbeirief, und trug ihn weg. Als er außerhalb des Ratsgebäudes angelangt war, riss er ihn empor, da er ja körperlich auf der Höhe seiner Kraft stand und ein sehr starker Mann war, und schleuderte ihn die Stufen zum Ratsgebäude hinab, welche zum Versammlungsplatz führen. Nur mühsam stand der alte Mann nach dem Sturz wieder auf und als er sah, dass alles rund um ihn her voll war von den Anhängern des Tarquinius, er von seinen Freunden aber gänzlich verlassen war, da begab er sich stöhnend fort, während ihn nur wenige hielten und begleiteten, blutüberströmt und gänzlich schlimm zugerichtet nach dem Sturz. Die Szene ist stark darauf angelegt, das Mitgefühl des Lesers zu wecken. 272 Tarquinius, dessen körperliche Vitalität eigens hervorgehoben und mit dem 80 4 Enargeia <?page no="81"?> vergleichbare Vorgehensweise findet sich auch in der Beschreibung des sein Land umpflügenden Cincinnatus ant. 10,17,4-5. 273 Man vergleiche die sich unmittelbar anschließende Kontrastierung mit Tullia (ant. 4,39,1-4), die als aktiv Handelnde die letzten Schritte zur Ermordung ihres Vaters unternimmt. 274 Ant. 4,39,3. Alter und der Gebrechlichkeit des Tullius kontrastiert wird, hebt mühelos den greisen König in die Höhe und schleudert ihn die Treppe des Ratsgebäudes hinunter, die zum comitium führt. Das Bild des verletzten Königs ist deutlich um Anschaulichkeit bemüht: Nur mit größter Anstrengung kann er sich nach dem Sturz wieder aufrichten, er sieht sich von den Anhängern des Tarquinius umgeben und ohne seine Freunde, die ihn schützen könnten, und schleppt sich hilflos, auf wenige Freunde gestützt, nach Hause, blutüberströmt und insgesamt übel zugerichtet. Mit dieser Schilderung wird der Leser in seinen Emotionen angesprochen; auch die Erwähnung sinnlicher Wahrnehmung tritt zu diesem Zweck hinzu: der jämmerliche Anblick des blutüberströmten Königs, sein Stöhnen, sein geschundener blutiger Körper. Zudem liegt besonderes Gewicht auf der Einsamkeit und Verlassenheit des Tullius, der sich, als er sich umblickt, einer großen Zahl an Anhängern seines Schwiegersohnes gegenübersieht und selbst nur über wenige treue Helfer verfügt, die ihn stützen und zu seinem Haus begleiten können. Die erzählerischen Mittel werden also gezielt eingesetzt und gebündelt, um ein möglichst jammervolles Bild des greisen Königs entstehen zu lassen. Tullius soll an dieser Stelle ganz als passive Figur erscheinen, die den Verbrechen des Schwiegersohns und der Tochter machtlos ausgeliefert ist. Bezeichnenderweise wird bis zu seiner Ermordung keine Rede des Greises erwähnt, seine letzte Handlung und seine letzten Worte, von denen der Leser Kenntnis hat, ist die Auseinandersetzung mit Tarquinius um den Königsthron. Nachdem er die Treppe hinabgeschleudert worden ist, ist Tullius verstummt und nicht mehr zu aktivem Handeln oder Sprechen in der Lage; auch dies trägt zu seiner Darstellung als Opfer bei, die das Mitgefühl des Lesers hervorruft. 273 Dem gleichen Zweck dient die Beschreibung des Leichnams des alten Königs, nachdem die Leute des Tarquinius Superbus ihn auf Betreiben der Tullia niedergestreckt haben: […] οἳ τάχει πολλῷ τὴν μεταξὺ διανύσαντες ὁδὸν ἐγγὺς ὄντα τῆς οἰκίας ἤδη τὸν Τύλλιον καταλαβόντες κατέσφαξαν. ἔτι δὲ νεοσφαγοῦς ἐρριμμένου τοῦ σώματος καὶ σπαίροντος ἡ θυγάτηρ παρῆν. 274 Diese legten mit großer Schnelligkeit die dazwischen liegende Wegstrecke zurück, ergriffen Tullius, der bereits nahe bei seinem Hause war, und schlachteten ihn ab. 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 81 <?page no="82"?> 275 Ebenso Wiater (2018) 121 Anm. 175, dort allerdings zur Kontrastierung Tullia - Maultiertreiber. Vgl. die ähnlich anschauliche Schilderung des Todes des Brutus im Kampf ant. 5,15,2-3 sowie die Rede des Volkstribunen Decius, in der dieser ant. 7,44,4 von Leichenbergen und einem großen Kessel voll Bürgerblut spricht, mit denen die Plebeier in der Auseinandersetzung um Coriolan an den Patriziern Rache genommen hätten. 276 S. Anm. 816. Während sein gerade niedergemetzelter Körper noch dalag und und zuckte, erschien seine Tochter. Auch hier orientiert sich die Darstellung am Ziel der intensiven emotionalen Involvierung des Lesers. Die detaillierte Schilderung der Umstände der Ermor‐ dung ebenso wie das Bild des am Boden liegenden Körpers, der noch Zuckungen erkennen lässt, weckt Mitgefühl und Entsetzen und sorgt dafür, dass der Rezipient sich von den Handlungen der Tullia und des Tarquinius Superbus emotional distanziert. 275 Wie die bisher besprochenen Textabschnitte zeigen, besteht das Ziel der Darstellungsweise somit in einer gezielten Leserlenkung. Um diese zu erreichen, setzt der Text auf die Anwendung verschiedener Mittel wie der Beschreibung von Gefühlen der Figuren, der kontrastierenden Gegenüberstellung oder der Schaffung einer emotional aufgeladenen Atmosphäre. Zudem weist die Erzäh‐ lung eine Detailfreude auf, die den Eindruck der Anschaulichkeit erhöht. Auch und insbesondere die Einbeziehung grausiger Einzelheiten wie im Falle der Ermordung des Tullius unterscheidet sich von der distanzierteren Erzählweise des Livius. 4.5.1.4 Selbstmord der Lucretia Zur weiteren Verdeutlichung dieses narrativen Mechanismus und zu seiner Einschätzung sei zusätzlich noch die Schilderung des Selbstmordes der Lucretia herangezogen, die in der Forschung den Vorwurf des allzu Grausigen provoziert hat. 276 Lucretia hat im Haus ihres Vaters bereits von der erlittenen Vergewaltigung berichtet: καὶ μετὰ τοῦτ᾽ ἀσπασαμένη τὸν πατέρα καὶ πολλὰς λιτανείας ἐκείνου τε καὶ τῶν σὺν αὐτῷ παρόντων ποιησαμένη θεοῖς τε καὶ δαίμοσιν εὐξαμένη ταχεῖαν αὐτῇ δοῦναι τὴν ἀπαλλαγὴν τοῦ βίου σπᾶται τὸ ξιφίδιον, ὃ κατέκρυπτεν ὑπὸ τοῖς πέπλοις, καὶ μίαν ἐνέγκασα διὰ τῶν στέρνων πληγὴν ἕως τῆς καρδίας ὠθεῖ [τὸ ξίφος]. κραυγῆς δὲ καὶ θρήνου καὶ τυπετοῦ γυναικείου τὴν οἰκίαν ὅλην κατασχόντος ὁ μὲν 82 4 Enargeia <?page no="83"?> 277 Ant. 4,67,1-2. πατὴρ περιχυθεὶς τῷ σώματι περιέβαλλε καὶ ἀνεκαλεῖτο καὶ ὡς ἀνοίσουσαν ἐκ τοῦ τραύματος ἐτημελεῖτο, ἡ δ᾽ ἐν ταῖς ἀγκάλαις αὐτοῦ σπαίρουσα καὶ ψυχορραγοῦσα ἀποθνήσκει. τοῖς δὲ παροῦσι Ῥωμαίων οὕτω δεινὸν ἔδοξεν εἶναι καὶ ἐλεεινὸν τὸ πάθος, ὥστε μίαν ἁπάντων γενέσθαι φωνήν, ὡς μυριάκις αὐτοῖς κρεῖττον εἴη τεθνάναι περὶ τῆς ἐλευθερίας ἢ τοιαύτας ὕβρεις ὑπὸ τῶν τυράννων γενομένας περιορᾶν. 277 Und danach küsste sie ihren Vater und richtete viele Bitten an ihn und an die, die bei ihm waren, erflehte von Göttern und göttlichen Mächten, ihr eine schnelle Erlösung vom Leben zu gewähren, zog den Dolch hervor, den sie unter ihren Gewändern verborgen hatte, und, nachdem sie einen einzigen Stoß durch die Brust geführt hatte, stieß sie ihn bis in ihr Herz. Während das ganze Haus davon widerhallte, dass die Frauen schrien und klagten und sich gegen die Brust schlugen, warf sich der Vater über ihren Körper und umarmte ihn und rief sie immer wieder an und kümmerte sich um sie, als würde sie sich von der Wunde erholen. Sie aber, in seinen Armen noch zuckend, hauchte ihre Seele aus und verschied. Den anwesenden Römern aber schien dieses Ereignis so schrecklich und mitleiderregend zu sein, dass sie alle einstimmig riefen, es sei zehntausendmal besser, für die Freiheit zu sterben, als solch anmaßendes Tun der Tyrannen zuzulassen. Der Vorgang der Selbsttötung wird mit großer Ausführlichkeit präsentiert und entspricht genau der im De Lysia angeführten Definition von enargeia: Er ist in kleinste Einzelschritte gegliedert, was den Eindruck einer exakten und wahrheitsgemäßen Wiedergabe des Geschehens hervorruft. Der Leser kann Teil um Teil der Handlung mitverfolgen und vor seinem inneren Auge erstehen lassen. Insbesondere die Schilderung des Suizides selbst ist präzise und detailliert: Lucretia stürzt sich nicht einfach in ihren Dolch, sondern sie zieht die Waffe aus ihrem Gewand und stößt sie sich mit einem Hieb durch die Brust in das Herz - mit beinahe medizinisch anmutender Genauigkeit wird beschrieben, wie der Dolch in ihren Körper eindringt und seinen Weg zu ihrem Herzen nimmt. Der emotionale Gehalt der Beschreibung wird zusätzlich erhöht durch den ausdrücklichen Hinweis auf das Herz als Sitz der Gefühle der in ihrer Ehre zutiefst verletzten Frau und als Sitz ihrer Lebenskraft, die sie sich nimmt. Ein wesentliches Merkmal dieser Szene ist somit das Pathos, mit dem die Selbsttötung und die Reaktionen der Anwesenden ausgestattet sind. Denn der Text holt noch weiter aus, um den Eindruck auf den Leser möglichst wirkungsvoll zu gestalten, indem der genauen Beschreibung der Selbsttötung eine nicht minder genaue Beschreibung der Reaktion der Figuren folgt, die 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 83 <?page no="84"?> 278 Ähnlich Francobandiera (2021) 90 zur enargeia des Klanges im Botenbericht der Tragödie: „L’ajout d’une manifestation sonore de détresse qui suit la visualisation d’une catastrophe peut, en effet, souligner sa nature pathétique de manière plus immédiate que ne le ferait un commentaire […], en même temps que la délégation du cri à un des personnages laisse une forme d’objectivité au récit du messager.“ Vgl. auch die Beschreibung der Reaktion der römischen Bevölkerung, als Coriolan mit seinem Heer gegen Rom zieht, ant. 8,22,2; ferner die Schilderung, wie die Nachricht vom Tod ihrer Soldaten im Kampf gegen die Etrusker die Römer in der Stadt in Aufregung versetzt, ant. 9,24,2. 279 Ant. 4,70,2-3 kommt Lucretias Ehemann Collatinus hinzu und schließt sich dem allgemeinen Klagen an. dem Vorgang beiwohnen. Hier wird zusätzlich zur optischen Illusion auch der Klang bemüht, den die Frauen mit ihrem Schreien und Wehklagen und dem Schlagen auf die Brust erzeugen, und auch Lucretias Vater wird gezeigt, wie er immer wieder den Namen seiner Tochter ruft. Der Leser wird Zeuge, wie er sich über den Körper seiner Tochter wirft und versucht, die Blutung zu stillen, und wie Lucretia (wiederum mit nahezu medizinischer Genauigkeit) in seinen Armen von einem letzten Zucken geschüttelt wird und stirbt. Die genannten klanglichen Äußerungen vervollständigen den sinnlichen Eindruck des Geschehens und tragen zur Steigerung des Gefühlsgehaltes der Szenerie bei. Der Darstellung wäre ein wesentlicher Teil ihrer Anschaulichkeit und emotionalen Wirkungskraft genommen, fehlte die Nennung dieser begleitenden akustischen Wahrnehmungen. 278 Die gefühlvolle Schilderung des Geschehens an dieser Stelle ist allerdings meines Erachtens nicht mit einem Übermaß an Pathos gleichzusetzen. Vielmehr bedient sie sich eines Realismus, der dem Ereignis durchaus angemessen ist. Man halte sich die Vorgänge vor Augen und versetze sich in die Lage der Figuren: Eine junge Frau erdolcht sich im Haus ihres Vaters, in Anwesenheit ihrer Familie, die auf ein derartiges Ereignis zudem nicht vorbereitet ist. 279 Die emotionale Reaktion der Umstehenden, die Zeugen dieses Selbstmordes werden, ist gänzlich nachvollziehbar. Welcher Vater, der mitansehen muss, wie seine Tochter sich einen Dolch in ihr Herz stößt, würde anders reagieren als Lucretius? Die mit lauter Stimme klagenden Frauen, der sich über den Körper der Tochter werfende Vater - all das ist keineswegs leeres und übertriebenes Schwelgen in Emotionalität. Vielmehr dringt hier in die Geschichtsschreibung ein Moment des Realismus, der conditio humana, ein, welcher von der Philologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20.-Jahrhunderts als unpassend für eine historische Darstellung befunden wurde. Freilich: Der Text hätte die Vorgänge weniger ausführlich und weniger gefühlsbetont schildern können. Doch dient ihm gerade die erzeugte enargeia 84 4 Enargeia <?page no="85"?> 280 Ant. 5,7,1-8,6. dazu, den Leser zu einer bestimmten Interpretation des historischen Geschehens anzuregen. In diesem Falle soll dieser zu dem Schluss kommen, dass die Monarchie in Rom unter Tarquinius Superbus derart degeneriert ist, dass eine revolutionäre Veränderung unausweichlich ist. 4.5.1.5 Hinrichtung der Söhne des Brutus Nicht immer aber ist das Erwecken von Emotionen ungefährlich für das Anliegen des Autors, denn diese können den Leser auch in eine andere als die beabsichtigte Wirkung lenken. Dies fürchtet Dionysios bei der Erzählung von der Hinrichtung der Söhne des Brutus nach der Vertreibung der Tarquinier. 280 Die Geschehnisse dürfen insofern zur Königszeit gezählt werden, als die eben erst ausgerufene Republik noch instabil ist und die Möglichkeit einer Rückkehr zur Monarchie besteht. Die Situation ist die folgende: In Rom herrscht Uneinigkeit über eine mögliche Rückkehr der Tarquinier aus dem Exil; es werden Stimmen laut, welche meinen, die Republik stehe auf so festen Füßen, dass man von den Tarquiniern keine Gefahr mehr zu befürchten habe und ihrem Wunsch nach Rückkehr stattgeben könne. Es wird wortreich über das Für und Wider debattiert, die Reden zeichnen sich durch Besonnenheit und der Sache angemessene Beurteilungen aus. Wäh‐ renddessen bildet sich jedoch unter der patrizischen Jugend eine Gruppierung, welche die Rückkehr zur Monarchie favorisiert und durch einen Staatsstreich die Tarquinier in ihr altes Amt einsetzen will. Zu der Gruppe der Verschwörer zählen auch zwei Söhne des amtierenden Konsuls Brutus. Wie es der Zufall (oder das fatum) will, wird die Verschwörung eines Nachts aufgedeckt; am Morgen des darauffolgenden Tages begibt sich Brutus auf die Rostra, um sich vor versammelter Bürgerschaft mit dem Fall zu befassen. Er erkennt unter den Briefen der Verschwörer das Siegel und die Handschriften seiner Söhne und zeigt eine unerwartete Reaktion: Er lässt die Briefe laut verlesen und fordert die beiden jungen Männer zu einer Stellungnahme auf. Diese wagen nicht zu leugnen und gestehen unter Tränen ihre Teilnahme an der Verschwörung. Nachdem sie gesprochen haben, hält Brutus eine kleine Weile inne, steht auf und heißt die Versammelten schweigen. Die Menge wartet auf die Bekanntgabe seines Beschlusses. Er verkündet, dass seine Söhne zum Tode zu verurteilen seien. Die versammelte Bürgerschaft reagiert mit Entsetzen: Die Menge schreit auf ob dieser unerwarteten Kundgebung, dass ein Vater seine eigenen Söhne zum Tode verurteilen wolle, zumal sie Brutus als Befreier von der Tyrannei 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 85 <?page no="86"?> 281 Den Tod seiner Söhne hat Brutus ant. 4,70,5 vorweggenommen, als er einen Eid schwor, dass er bis zu seinem Tode gegen die Tyrannis kämpfen werde und er selbst und seine Kinder es nicht überleben sollten, falls er diesen Eid brechen würde. Vgl. Wiater (2018) 171 Anm. 290. Damit kontrastiert die Haltung seines Amtskollegen Collatinus, der die Hinrichtung seiner ebenfalls an der Verschwörung beteiligten Neffen zu verhindern sucht (ant. 5,9,1-12,3). 282 Ant. 5,8,1. der Tarquinier betrachten, dem sie zu Dank verpflichtet sind, und nicht wollen, dass ein Mann von solch untadeligem Charakter mit dem Verlust seiner Söhne bestraft werden solle. Brutus indes reagiert nicht auf das Schreien und Klagen der Menge, sondern lässt seine Söhne durch die Liktoren abführen, obwohl jene ihn eindringlich anflehen. Die Bürgerschaft beobachtet ungläubig, wie Brutus seine Söhne ohne Milde und Gnade der für Staatsverräter vorgesehenen Strafe zuführen lässt, sie entsprechend den Sitten und Gebräuchen zuerst auf dem Forum foltern und anschließend enthaupten lässt. 281 Diesem Abschnitt stellt der Historiker folgende bemerkenswerte Reflexion voran: δέδοικα μὴ σκληρὰ καὶ ἄπιστα τοῖς Ἕλλησι δόξω λέγειν, ἐπειδὴ πεφύκασιν ἅπαντες ἀπὸ τῶν ἰδίων παθῶν τὰ περὶ τῶν ἄλλων λεγόμενα κρίνειν καὶ τὸ πιστὸν ἄπιστον ἐφ᾽ ἑαυτοὺς ποιεῖν· 282 Ich fürchte, ich werde den Griechen Rohes und Unglaubwürdiges zu erzählen scheinen, da ja alle von Natur aus das, was über andere erzählt wird, nach ihren eigenen Erfahrungen beurteilen und, von sich ausgehend, das Glaubwürdige zum Unglaubwürdigen machen. Die hier vorgenommene Verwahrung gegen den Vorwurf der Unglaubwürdig‐ keit evoziert das zur enargeia-Definition des De Lysia gehörende Kriterium des εἰκός bzw. des der menschlichen Natur Gemäßen. Der Autor fürchtet, dass seine intendierten griechischen Leser ihm keinen Glauben schenken werden, da das zu erzählende Geschehen ihren moralischen Maßstäben zutiefst widersprechen muss. Das Handeln des Brutus ist den Erwartungen sowohl des intrawie des extradiegetischen Publikums diametral entgegengesetzt. Um sich folglich nicht als unzuverlässiger Historiker zu disqualifizieren, muss Dionysios der Episode eine Relativierung voranschicken und den Leser darauf vorbereiten, wie er das Folgende aufzunehmen hat. Die Relativierung besteht in dem Hinweis, wie abhängig der Maßstab des Glaubwürdigen von den subjektiven Erfahrungen und der kulturellen Prägung des einzelnen ist. Mittels dieser regelrechten Entschuldigung bei seinem griechischen Pu‐ blikum will der Historiker verhindern, dass dieses, ohne „Leseanweisung“ 86 4 Enargeia <?page no="87"?> 283 Ant. 5,8,4. 284 Man beachte den Wortlaut, der das Verhalten der Tanaquil in Erinnerung ruft, denn diese wird gerade von der Schreckensvorstellung der Leere im Palast dazu bewogen, das Leben ihrer Enkelkinder zu retten. Vgl. Kapitel 4.5.1.2 285 Ant. 5,8,6. den sich bei der Lektüre einstellenden Gefühlen überlassen, dem Handeln des Brutus gegenüber nur Ablehnung, aber kein tieferes Verständnis altrömischer Sitten entwickelt. Die eigentliche Erzählung zieht sodann alle Register einer emotional aufgeladenen Darstellung. Hierbei ist nun bemerkenswert, dass zwei Fokalisatoren eingesetzt werden. Zunächst wird die Szene der Verurteilung, Folterung und Hinrichtung der Söhne aus Sicht der versammelten Bürger geschildert: Diese bitten Brutus um Gnade für seine Söhne und halten sein Vorgehen für ebenso außergewöhnlich wie das griechische Zielpublikum des Dionysios: θαυμαστὸν μὲν καὶ τοῦτο πᾶσιν ἐφάνη τὸ μηδὲν ἐνδοῦναι τὸν ἄνδρα μήτε πρὸς τὰς δεήσεις τῶν πολιτῶν μήτε πρὸς τοὺς οἴκτους τῶν τέκτων, πολλῷ δ᾽ ἔτι τούτου θαυμασιώτερον τὸ περὶ τὰς τιμωρίας αὐτῶν ἀμείλικτον. 283 Wundersam erschien allen dies, dass der Mann weder dem Flehen der Bürger nachgab noch den Klagen seiner Kinder. Noch wundersamer aber als dies erschien seine Unerbittlichkeit bei ihrer Bestrafung. Am Ende der Episode jedoch wird der Blick des Lesers auf die seelische Verfasstheit des Brutus gerichtet: ὑπὲρ ἅπαντα δὲ τὰ παράδοξα καὶ θαυμαστὰ τοῦ ἀνδρὸς τὸ ἀτενὲς τῆς ὄψεως καὶ ἄτεγκτον ἦν· ὅς γε τῶν ἄλλων ἁπάντων ὅσοι τῷ πάθει παρεγένοντο κλαιόντων μόνος οὔτ᾽ ἀνακλαυσάμενος ὤφθη τὸν μόρον τῶν τέκνων οὔτ᾽ ἀποιμώξας ἑαυτὸν τῆς καθεξούσης τὸν οἶκον ἐρημίας 284 οὔτ᾽ ἄλλο μαλακὸν οὐθὲν ἐνδούς, ἀλλ᾽ ἄδακρύς τε καὶ ἀστένακτος καὶ ἀτενὴς διαμένων εὐκαρδίως ἤνεγκε τὴν συμφοράν. οὕτως ἰσχυρὸς ἦν τὴν γνώμην καὶ βέβαιος τὰ κριθέντα διατηρεῖν καὶ τῶν ἐπιταραττόντων τοὺς λογισμοὺς παθῶν καρτερός. 285 Alles Unerwartete und Wundersame aber überragte bei dem Mann die Starrheit und Ungerührtheit seines Blickes. Denn während alle anderen, die dem Unglück beiwohnten, weinten, sah man ihn als einzigen weder in Tränen ausbrechen über das Los seiner Kinder noch sich selbst beweinen wegen der Einsamkeit, die sein Haus erfüllen würde, noch irgendeiner anderen Schwäche nachgeben, sondern ohne Tränen und ohne Seufzen und ohne sich abzuwenden harrte er aus und ertrug tapfer das Unglück. So stark war er in seinem Entschluss, so entschlossen, bei 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 87 <?page no="88"?> 286 Der Ausspruch Uvo Hölschers ist geradezu zum geflügelten Wort innerhalb der Altertumswissenschaften geworden. Vgl. Hölscher (1994), darin der Originalkontext auf Seite-278. seiner Entscheidung zu bleiben, und so überlegen den Gefühlen, welche die Vernunft verwirren. Hier wird der Leser nicht nur mit dem Anblick des unerbittlichen Brutus konfrontiert. Durch die Art der Darstellung wird er zugleich dazu angeregt, sich in das Innenleben des Konsuls hineinzuversetzen und das grausame Geschehen noch einmal aus dessen Perspektive wahrzunehmen. Die erzählerische Absicht tritt am Ende klar zutage: Anders als die römischen Bürger (und anders als die griechischen Leser, wie impliziert wird) ist Brutus kein Gefangener seiner Gefühlsregungen (πάθη). Indem der Text beim Leser diese Empfindungen zunächst nach allen Regeln der Kunst erweckt und ihn dann gewissermaßen gezwungen hat, dieselben in der Identifikation mit Brutus zu unterdrücken, hat er einen Lernprozess in Gang gesetzt, der zu einem besseren Verständnis dessen führen kann, was die Römer an diesem grausamen Verhalten bewunderten. Die Römer werden damit in eine gewisse Ferne gerückt, sie werden zum Studienobjekt, das man von außen betrachtet und dessen Wesen erklärungsbe‐ dürftig ist. Das Rombild des Dionysios ist somit von einer gewissen Ambivalenz geprägt: Die Römer sind fremd und dennoch vertraut; sie sind das „nächste Fremde“. 286 Brutus mag als exemplum für die Disziplin und das Pflichtgefühl der Römer gegenüber dem Staat angesehen werden und dadurch einen Teil zu der Erklärung beisteuern, weshalb die Römer in der Lage waren, sich im Laufe weniger Jahrhunderte nahezu den gesamten bekannten Erdkreis zu unterwerfen. Die Sicherheit und der Bestand des Staates stellen für ihn das Höchste dar, das es zu schützen gilt. Diese Verpflichtung fordert unbedingten Gehorsam; sie wiegt schwerer als die Verpflichtung gegenüber der Familie und gegenüber sich selbst. Sie wiegt auch schwerer als die eigenen Gefühle, als die Liebe und das Mitgefühl mit den Nachkommen. Man könnte den Söhnen des Brutus jugendliche Torheit attestieren und ihnen ihre Teilnahme an der Verschwörung nachsehen. Die römische Bevölkerung ist gewillt, diesen Weg zu gehen, um Brutus vor dem Verlust seiner Nachkommen zu bewahren. Doch Brutus stellt seine Pflicht gegenüber dem Staat über die Liebe zu seinen Kindern. Der Leser, insbesondere der nicht-römische Leser, mag mit Bestürzung und Widerwillen reagieren auf die Darstellung solcher Härte und Unerbittlichkeit, doch er mag sie auch bewundern in dem Bewusstsein, dass er selbst dazu nicht imstande gewesen wäre. So erscheint Brutus als Gegenbild des Lucretius, der 88 4 Enargeia <?page no="89"?> 287 Ich vermag mich daher nicht der Auffassung Delcourts anzuschließen, die die Meinung vertritt, Dionysios präsentiere dem Leser Rom als idealen griechischen Stadtstaat, s. Delcourt (2005) 12f.: „Fille de l’Hellade, Rome a préservé mieux que quiconque, affirme-t-il, l’héritage du plus noble passé grec; devenue capitale impériale, elle n’en demeure pas moins la plus parfaite des πόλεις helléniques. C’est donc une Rome exemplaire que s’emploient à construire les Antiquités romaines, une πόλις idéale à laquelle chaque génération apporte de nouveaux modèles de vertu.“ Sicherlich ist Brutus als ein exemplum aus der römischen Geschichte gedacht, doch nicht als ein nachahmenswertes, ebenso wenig, wie Tullia dies ist. Delcourt geht in ihrer Monographie auf die Figur des Brutus nicht ein, wie überhaupt manche Gestalten, die in der Darstellung der römischen Frühzeit durch Dionysios eine wichtige Rolle spielen, von ihr nicht erwähnt werden, so auch Tullia. Zwar ist Dionysios darum bemüht, die römische Frühgeschichte als von griechischer Vorbildlichkeit, etwa der politischen Institutionen, geprägt darzustellen. Doch eine ideale πόλις ist das frühe Rom aus seiner Sicht nicht. Das Handeln des Brutus wird mitnichten idealisiert, vielmehr entschuldigt Dionysios sich bei seinen griechischen Lesern geradezu dafür, dass die Römer damals derart hart und pflichtbewusst gewesen seien. Auch der Vater der Horatii ist unter diese Kategorie zu subsumieren, s. unten Kapitel 6.2.1. Ähnlich wie Delcourt äußert sich auch Pritchett (1975) xxvii: „Just as in his great historical work called Roman Antiquities, Dionysius, interpreting and modifying the old legendary history, suppressed whatever was unfavorable to his hypothesis that the Romans were, after all, not barbarians, but a pure Greek race […].“ sich über den Selbstmord seiner Tochter kaum zu beruhigen weiß und als zutiefst erschütterter Vater gezeichnet ist. Die beiden Söhne des Brutus können gewissermaßen als Gründungsopfer für die neue Republik betrachtet werden; die neue Staatsform, die den römischen Bürgern die Freiheit bringt und sie durch die Jahrhunderte bis zur Weltherr‐ schaft führt, muss mit einem im Grunde unmenschlichen Opfer erkauft werden. Dadurch erhält sie umso höhere Weihe. Ein Vater muss seine zutiefst mensch‐ liche Liebe zu seinen Nachkommen überwinden und gegen seine innerste Natur verstoßen, um den Bestand des Staates nicht zu gefährden. Lucretia ist nicht das einzige Gründungsopfer der Republik. Anders gesehen könnte man allerdings ebenso sagen: Jede Gründung ist versehrt, befleckt mit einem Verbrechen - die Gründung der Stadt Rom erfolgte unter dem Vorzeichen des Brudermordes an Remus, die Gründung der neuen Republik erfolgt unter dem Vorzeichen eines Kindermordes durch den eigenen Vater. 287 4.5.2 Fokalisatoren 4.5.2.1 Vorbemerkungen Am letzten Beispiel hat sich gezeigt, wie die Erzeugung von Emotionen und der Einsatz von Fokalisationsfiguren miteinander verbunden sind. Dionysios setzt 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 89 <?page no="90"?> 288 Ich schließe mich der These von Pelling (2009) 509 Anm. 5 an, wonach der Terminus „Fokalisierung“ alternativ verwendeten Begriffen wie „Blick/ gaze“ vorzuziehen ist. Grundlegend zum Fokalisator in der griechischen Literatur, wenn auch ursprünglich nur auf Homer bezogen, ist de Jong (1987) 29-40. Das Urbild der internen Beobach‐ terfigur ist in der großangelegten Teichoskopie der Ilias zu finden, als Helena von der trojanischen Stadtmauer aus die griechischen Helden betrachtet und dem König Priamos deren Identität erörtert (Il. 3,121-244, dazu Fuhrer [2014] 23-25). Zum Fokali‐ sator bei Livius Pausch (2011) 125-157. 289 Daria Francobandiera, die die enargeia des Botenberichts in der Tragödie untersucht hat, formuliert es folgendermaßen (Francobandiera [2021] 76 f.): „[…] la mention d’observateurs qui réagissent émotionnellement aux faits racontés est, en effet, un procédé narratif bien documenté, que nous retrouvons aussi bien chez Homère que dans les récits de bataille de Thucydide, et qui sert justement à solliciter la participation des auditeurs réels. Les spectateurs s’identifient, en d’autres termes, aux témoins fictifs du duel et sont appelés à partager leurs regards et leurs émotions.“ 290 De Jong (1991) 1-3; 12-19. interne Beobachterfiguren zur Steuerung der Rezeption immer wieder ein. Mit‐ unter erfolgt dies so beiläufig, dass es dem Leser kaum als literarischer Kunstgriff auffällt, aber dennoch seine Wirkung entfaltet. Zum einen erhöht sich durch die Beschreibung der Reaktion einer Figur auf das erzählte Geschehen der Eindruck der Lebendigkeit. Zum anderen wird der Leser dazu angeregt, seine eigene Reaktion mit derjenigen der Figur zu vergleichen und ggf. zu modifizieren. Der Fokalisator 288 dient also gewissermaßen als interner Orientierungspunkt für die externe Deutung. 289 Die Einführung einer Einzelfigur oder einer Gruppe, die als interner Beob‐ achter fungiert und aus deren Perspektive das Geschehen wiedergegeben wird, bringt mit sich zudem den erzählstrategischen Vorteil, dass der Text anschaulich wird, ohne dass der Erzähler selbst bei den Vorgängen anwesend war. Der Leser bekommt den Eindruck der Unmittelbarkeit und der Teilhabe an den Geschehnissen, ohne dass ein auktorialer Erzähler bemüht werden muss, bei dem der Leser sich womöglich die Frage stellen würde, woher dieser sein Wissen bezieht, da er doch nicht selbst Augenzeuge war. Eine Figur als Fokalisator auftreten zu lassen, erhöht somit den Grad der Glaubwürdigkeit der Darstellung, was insbesondere in einem Geschichtstext von Vorteil ist. Andererseits ist der Einsatz eines Fokalisators mit Restriktion verbunden, weil dieser, anders als der Erzähler, nicht allwissend sein kann. 290 Als Fokalisatoren fungieren in den Antiquitates Romanae nicht nur promi‐ nente Einzelfiguren, sondern auch Gruppen anonym bleibender Menschen. Es handelt sich dabei etwa um die Bevölkerung der Stadt Rom, das römische Heer, die Patrizier, eine umstehende Menge, die einem Ereignis beiwohnt, Passanten auf der Straße. Durch diese Figuren(gruppen) lenkt der Text den Blick des Lesers 90 4 Enargeia <?page no="91"?> 291 Ant. 4,66,1. 292 Während der römischen Republik stellte das Fahren von Frauen im Wagen ein vom Staat gewährtes Privileg der matrona dar, in der Kaiserzeit war es ein Statussymbol weiblicher Angehöriger des Kaiserhauses. Das Fahren der Frau im Wagen ist somit per se in einem öffentlichen Kontext verortet und zielt auf das Gesehen-Werden der Fahrerin ab. S. dazu Hudson (2016) 218. Der Kunstgriff des Dionysios, das Gesehen-Werden der Lucretia zu thematisieren, ist somit in nuce bereits im Motiv selbst enthalten. 293 Vgl. Kapitel 4.6.1.4. auf bestimmte Vorgänge und Personen und legt die Basis für die vom Autor gewünschte Interpretation. 4.5.2.2 Lucretia Um dies konkret am Text zu verdeutlichen, kehren wir noch einmal zu Lucretia zurück: Nach der Vergewaltigung durch Sextus Tarquinius begibt sich Lucretia mit dem Wagen nach Rom zu ihrem Vater. Unterwegs begegnen ihr Passanten, die sie grüßen, und einige erkundigen sich danach, was ihr denn zugestoßen sei. Sie aber ist so kummervoll und in sich versunken, dass sie auf keine Ansprache reagiert. Auch hier sehen wir, ähnlich wie bei der Verurteilung der Brutus-Söhne, eine doppelte Fokalisation. Der Leser erlebt die Erzählung zunächst aus der Perspektive der Lucretia, doch tritt auch die Außenperspektive hinzu: 291 Durch die Augen der Passanten eröffnet sich dem Leser ein Blick auf die Außenwirkung der Lucretia, ohne dass diese konkret beschrieben würde. 292 Der Text kann an dieser Stelle auf eine Konkretisierung der Personen verzichten, da es für den Verlauf der Geschichte nicht von Belang ist, wem Lucretia auf ihrem Weg begegnet und wer sie danach fragt, was ihr widerfahren sei. Der Kunstgriff des Fokalisators funktioniert auch in der anonymisierten und beiläufigen Form, wie sie hier vorliegt. Die Anteilnahme, die die Passanten beim Anblick der Lucretia empfinden, überträgt sich auf den Leser. Nach dem Selbstmord der Lucretia 293 wird die Reaktion der anwesenden Patrizier berichtet, allerdings ist diese wesentlich distanzierter und weniger emotional als die der Frauen und des Vaters. Sie gehören nicht sämtlich zur familia des Lucretius und stehen dem Vorgang somit emotional ferner. Dies gilt freilich auch für den Leser, der ja wie die Patrizier die Beobachterperspektive in‐ nehat und nicht zur Familie gehört, aber durch die fingierte Augenzeugenschaft dem Vorgang beiwohnt und von seinem emotionalen Gehalt ergriffen wird. Die Schilderung der Männer kann folglich den Leser dazu anregen, die Szene ebenso aufzufassen wie sie. Er kann das Schicksal der Lucretia, die Schändung durch Sextus Tarquinius und den Selbstmord, als ein furchtbares Unglück deuten und 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 91 <?page no="92"?> 294 S. ausführlich unten S. 94f. 295 Ant. 3,2,1-20,4. 296 Vgl. Walker (1993) 367. Mitgefühl mit der Frau empfinden, die symbolisch für den römischen Staat steht, also auch mit Rom selbst unter der Herrschaft des Tarquinius. 4.5.2.3 Die Horatii und Curiatii Ein besonders hervorstechendes Beispiel für den Einsatz von Fokalisation bietet das dritte Buch der Antiquitates Romanae. Dort evoziert die Erzählung der Horatii-Episode durch die Verwendung von Personengruppen als interne Beob‐ achter eine regelrechte Theaterszenerie: 294 Unter dem König Tullus Hostilius kommt es zum Konflikt zwischen Rom und seiner Mutterstadt Alba. Da beiden Städten von außen eine weitere Gefahr in Gestalt einer Rebellion der Etrusker droht, beschließen sie, den Krieg schnell zu beenden. Zu diesem Zweck sollen stellvertretend für die beiden Städte je drei Brüder gegeneinander antreten, auf römischer Seite die Horatii, auf albanischer die Curiatii; diejenige Stadt, deren Stellvertreter siegreich sind, soll die Vorherrschaft über die andere über‐ nehmen. 295 Als es zum entscheidenden Kampf zwischen den Drillingspaaren kommt, nutzt der Text im ersten Teil des Kampfes die Schilderung der zuschau‐ enden Personen und ihrer Reaktionen auf das Geschehen, um den Leser auf emotionaler Ebene stärker in das Geschehen einzubinden: 296 Τέως μὲν οὖν ἡσυχία τε καὶ σιγὴ κατεῖχεν ἀμφοτέρας τὰς δυνάμεις· ἔπειτα ἀναβοήσεις τε ἀθρόαι παρ᾽ ἀμφοτέρων αὐτῶν ἐγίνοντο καὶ παρακελεύσεις τοῖς μαχομένοις ἐναλλὰξ εὐχαί τε καὶ οἰμωγαὶ καὶ παντὸς ἄλλου πάθους ἐναγωνίου φωναὶ συνεχεῖς, αἱ μὲν πρὸς τὰ δρώμενά τε καὶ ὁρώμενα ὑφ᾽ ἑκατέρων, αἱ δὲ πρὸς τὰ μέλλοντά τε καὶ ὑποπτευόμενα· καὶ ἦν πλείω τὰ εἰκαζόμενα τῶν γινομένων. ἥ τε γὰρ ὄψις ἐκ πολλοῦ διαστήματος γινομένη πολὺ τὸ ἀσαφὲς εἶχε, καὶ τὸ πρὸς τοὺς οἰκείους ἀγωνιστὰς ἑκάστοις συμπαθὲς ἐπὶ τὸ βεβουλημένον ἐλάμβανε τὰ πρασσόμενα, αἵ τε συνεχεῖς τῶν μαχομένων ἐπεμβάσεις καὶ ὑπαναχωρήσεις καὶ εἰς τὸ ἀντίπαλον αὖθις ἀντιμεταστάσεις πολλαὶ καὶ ἀγχίστροφοι γινόμεναι τὸ ἀκριβὲς τῆς γνώμης ἀφῃροῦντο· καὶ ταῦτα ἐπὶ πολὺν ἐγίνετο χρόνον. ῥώμην τε γὰρ σώματος ἔτυχον ὁμοίαν ἔχοντες ἑκάτεροι καὶ τὸ γενναῖον τῆς ψυχῆς ἰσόρροπον ὅπλοις τε καλλίστοις ἐσκεπασμένοι τὰ σώματα ὅλα καὶ γυμνὸν οὐδὲν ἀπολιπόντες μέρος ὅ τι καὶ τρωθὲν ὀξεῖαν ἔμελλεν οἴσειν τὴν τελευτήν, ὥστε πολλοὶ Ῥωμαίων τε καὶ Ἀλβανῶν ἐκ τοῦ φιλονεικεῖν τε καὶ συμπαθεῖν τοῖς σφετέροις ἔλαθον αὑτοὺς τὸ τῶν 92 4 Enargeia <?page no="93"?> 297 Ant. 3,19,1-3. 298 Ant. 3,19,4-20,4. Vgl. auch ant. 8,89,2; 9,21,4. κινδυνευόντων μεταλαβόντες πάθος ἀγωνισταί τε μᾶλλον ἐβούλοντο ἢ θεαταὶ τῶν δρωμένων γεγονέναι. 297 Eine Zeit lang herrschten Stille und Schweigen bei beiden Streitkräften. Dann kam es bei beiden massenhaft zu Aufschreien und Anfeuerungen der Kämpfer im Wechsel mit Bitten und Klagen und fortwährenden Äußerungen jeder anderen Empfindung, die man im Kampf zu haben pflegt, zum Teil auf das hin, was von beiden Seiten getan und gesehen wurde, zum Teil auf das hin, was geschehen würde und erwartet wurde: Und die Vermutungen waren zahlreicher als die Dinge, die wirklich geschahen. Denn die Sicht war sehr ungenau, da man aus großem Abstand zusah, und das Mitfühlen mit den jeweils eigenen Kämpfern verzerrte das Getane zum Gewünschten. Zudem ver‐ hinderten das ununterbrochene Angreifen der Kämpfenden und ihr Zurückweichen und zahlreiche wiederholte rasch sich vollziehende Stellungswechsel zum Gegner hin ein klares Urteil. Und dies geschah über eine lange Zeit. Denn beide Parteien besaßen zufällig eine ähnliche Körperkraft und die gleiche edle Anlage in ihrer Seele. Auch waren sie am ganzen Körper durch die schönsten Rüstungen bedeckt und ließen keinen Teil entblößt, dessen Verwundung zu einem raschen Ende geführt hätte, so dass viele Römer und Albaner aus dem Mitfiebern und Mitleiden mit den Ihren heraus unwissentlich das Empfinden der Männer in Gefahr annahmen und lieber Kämpfer als Zuschauer des Geschehens sein wollten. Bemerkenswert ist die unterschiedlich ausführliche Wiedergabe des Kampfes, die das Geschehen in zwei Teile gliedert. Im Anschluss an die hier zitierte Passage gewinnt der Kampf mit einem Mal an Geschwindigkeit und Dramatik. Dieser Eindruck entsteht zum einen durch eine Steigerung der Ausführlichkeit der Erzählung, zum anderen durch den Wechsel von der indirekten zur direkten Wiedergabe des Kampfes. Die Detailliertheit, mit der im zweiten Teil die jeweiligen Verletzungen beschrieben werden, sticht ins Auge: Bei nahezu jedem Schwerthieb erfährt der Leser, wie er vonstatten geht, an welcher Körperstelle des Opfers die Klinge eindringt und welche physisch-medizinischen Konse‐ quenzen sich daraus für die Kampfsituation ergeben. 298 Der zitierte Abschnitt allerdings stellt die Kampfhandlung in knappen und allgemeinen Formulierungen dar; zudem wird sie nur indirekt, nämlich durch die Reaktionen der Zuschauer, angedeutet. Was genau sich auf dem Kampfplatz abspielt, erfährt der Leser kaum, obgleich der auktoriale Erzähler es ihm verraten könnte. Stattdessen nimmt der Text die Perspektive der Römer und Albaner ein, die den Kampf beobachten: Diese befinden sich zu weit entfernt, um 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 93 <?page no="94"?> 299 Vgl. Thuc. 7,69,4-72,1, dazu Walker (1993) 364. 300 So auch Walker (1993) 368. 301 Vgl. Kapitel 4.5.1.2. und 4.5.1.5. genau sehen zu können, und sind deshalb im Unklaren über die Kampfhandlung. Diese Ungewissheit zwingt sie, Mutmaßungen anzustellen. So werden sie (und damit der Leser) in großer Spannung gehalten. Der Text rezipiert hier eine in Dion. Hal. Thuc. 26,2-27,4 als imitationswürdig angesehene Kampfszene aus Thukydides. 299 Die Umstehenden fiebern mit den Kämpfern regelrecht mit und werden emotional in das Geschehen, dem sie beiwohnen, involviert. Daraus ergibt sich eine Identifikation der Zuschauer mit den Akteuren, wie der Text ex‐ plizit mitteilt: ὥστε πολλοὶ Ῥωμαίων τε καὶ Ἀλβανῶν ἐκ τοῦ φιλονεικεῖν τε καὶ συμπαθεῖν τοῖς σφετέροις ἔλαθον αὑτοὺς τὸ τῶν κινδυνευόντων μεταλαβόντες πάθος ἀγωνισταί τε μᾶλλον ἐβούλοντο ἢ θεαταὶ τῶν δρωμένων γεγονέναι. Diese Aussage gilt indes nicht nur für die Männer aus Rom und Alba. Vielmehr hat sie metatextuelles Potenzial, denn hier wird auf der Erzählebene gespiegelt, was sich zwischen dem Leser der Antiquitates und der erzählten Geschichte abspielt bzw. idealerweise abspielen soll: Wie die römischen und albanischen Soldaten durch das Ansehen des Kampfes emotional ergriffen und in den Kampf gewissermaßen hineingezogen werden, sich mit den Kämpfern identifizieren und mit ihnen mitfühlen, so ergeht es auch dem Leser eines erzählenden Textes, der die Handlungen der Figuren vor seinem inneren Auge erblickt und dadurch zum Zuschauer des Geschehens wird. Auch er wird in Spannung versetzt, seine Emotionen werden aktiviert, er identifiziert sich mit den Figuren; auch er verfolgt - im Idealfall - mit angehaltenem Atem den Fortgang der Handlung. Diese Spiegelung der Beziehung zwischen Leser und Text in der Beziehung zwischen Zuschauern und Kampfhandlung ist bemerkenswert, da sie Dionysios als selbstreflexiven Autor ausweist, der um die Funktionsmechanismen von Literatur weiß und diese gezielt einzusetzen versteht, um auf den Leser einzuwirken. 300 Bezeichnenderweise ist diese Passage der dramatischen Schilderung des Hauptkampfes vorgeschaltet. Daraus erschließt sich ihre vorbereitende Funk‐ tion, denn der Leser wird darauf eingestimmt, was nun folgt und in welcher emotionalen Verfasstheit er die entscheidende Phase des Kampfes rezipieren soll. Es handelt sich um eine indirekte Leseanweisung, wie wir sie bereits in der Tanaquil- und in der Brutus-Szene kennen gelernt haben. 301 An der Darstellung der Horatii-Episode im dritten Buch erscheint neben der Verwendung von Figurengruppen als Fokalisatoren ein weiteres erzählerisches Merkmal, das Aufmerksamkeit verdient. Es handelt sich um die Gleichsetzung 94 4 Enargeia <?page no="95"?> 302 Ant. 3,18,1. 303 Die Analogie zum Drama wird ant. 3,21,1 und 3,22,10 wieder aufgegriffen. Die Tötung der Horatia soll also als eine der angekündigten Peripetien aufgefasst werden, mit denen nicht primär das Hin und Her der Kampfhandlung zwischen Horatii und Curiatii gemeint ist. 304 Vgl. mit ähnlicher Aussage Quint. inst. 6,1,26. 305 Webb (2009) 104. der Erzählung mit einem Bühnenstück. So weist Dionysios selbst den Leser explizit darauf hin, indem es vor Beginn des Kampfes heißt: Ἀπαιτούσης δὲ τῆς ὑποθέσεως καὶ τὸν τρόπον διεξελθεῖν τῆς μάχης ἀκριβῶς καὶ τὰ μετὰ ταύτην γενόμενα πάθη θεατρικαῖς ἐοικότα περιπετείαις μὴ ῥᾳθύμως διελθεῖν πειράσομαι καὶ περὶ τούτων ἐπ᾽ ἀκριβείας ἕκαστον, ὡς ἐμὴ δύναμις, εἰπεῖν. 302 Da mein Vorhaben es verlangt, sowohl die Art und Weise des Kampfes genau zu erzählen als auch die danach folgenden Affekte, die Umschwüngen im Theater gleichen, nicht leichtfertig wiederzugeben, will ich versuchen, ein jedes über diese Dinge genau zu schildern, wie es in meiner Macht steht. In diesem einleitenden Zusatz wird das Geschehen mit einer Bühnenhandlung verglichen. Die Nennung von Peripetien ist zugleich eine Aufforderung an den Leser, das nun Folgende mit gesteigerter Aufmerksamkeit zu lesen, denn er kann sich sicher sein, dass der Text ihm etwas Spannendes zu bieten haben wird. 303 Die Gefühle der Akteure gleichen den plötzlichen Gefühlsumschwüngen, die beim Publikum durch eine Wendung des Geschehens ausgelöst werden. Der Text soll also funktionieren wie ein Drama auf der Bühne und den Leser so stark fesseln, als ob er nicht zu Hause in seinem Zimmer säße mit der Papyrusrolle in der Hand, sondern als wäre er ein Zuschauer im Theater, wo die emotionale Involvierung des Rezipienten aufgrund der Unmittelbarkeit des Dargestellten und der dramatischen Handlungsweise in der Regel stärker ist als beim Lesen einer Erzählung. 304 Ruth Webb 305 hat auf die in der Antike empfundene Nähe der Erzeugung von enargeia zum Theater hingewiesen, da auch der Schauspieler in einem Drama mit der Illusion des „als ob…“ arbeitet und den Zuschauern mittels seiner Darstellung das Gefühl gibt, sie seien direkt in das Geschehen involviert, das sich gerade vor ihren Augen abspielt. Ein Zuschauer im Theater fühlt sich tatsächlich als Augenzeuge der dargestellten Handlung, obgleich er selbstverständlich weiß, dass die Schauspieler diese nur spielen. Auch die in der Horatii-Erzählung zum Einsatz kommende Technik der Fo‐ kalisation ist bereits an sich dem Drama verwandt. Denn dieses zielt wesentlich auf die Affekte des Publikums ab; es führt die Gefühle der handelnden Personen 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 95 <?page no="96"?> 306 Vgl. Demandt (1978) 336. 307 Vgl. Kapitel 4.1. 308 Ant. 3,18,2. vor Augen und stellt diese als Vergleichspunkt dar. 306 Der Zuschauer sieht sich aufgefordert, seine eigenen Emotionen mit denen der Bühnenfiguren zu vergleichen, sich gegebenenfalls mit den Figuren zu identifizieren oder von ihnen zu distanzieren. In jedem Falle aber soll das Bühnengeschehen auf seine affektiven Reaktionen einwirken. Die Formulierungen ἀκριβῶς und μὴ ῥᾳθύμως des Erzählers gehen auf die beabsichtigte Vorgehensweise ein, nämlich das Geschehen genau und sorgfältig in seinen Einzelheiten darzustellen. Die Betonung liegt auf Genauigkeit und Gründlichkeit - mit diesen Begriffen greift der Text auf das etablierte Reper‐ toire der enargeia-Theoretiker und auch auf den De Lysia zurück. 307 In dieser Aussage gibt Dionysios dem Leser einen Hinweis auf seine Vorstellung von der Aufgabe eines Historikers. Die Darstellung lässt nichts aus und ist bemüht, das Geschehen in seinen Einzelheiten wiederzugeben, damit der Leser den Eindruck erhält, es werde ihm nichts vorenthalten und er kenne den Hergang der Ereignisse so gut wie die Augenzeugen auf der Erzählebene. Doch nicht allein die Taten der Figuren, der Kampf, sollen genau wiedergegeben werden, sondern darüber hinaus die πάθη der Akteure, welche die Taten begleiten bzw. sich aus diesen ergeben. In einem einzigen Satz werden drei Kernbegriffe antiker enargeia-Konzepte (die Theateranalogie, die Ausführlichkeit der Darstellung, das πάθος) verwendet und miteinander verknüpft, um den Leser bereits vorab auf die Art und Weise einzustimmen, in der er die nun folgende Darstellung rezipieren soll. Die Analogie zum Drama baut der Text im Anschluss weiter aus: Auch der Raum, in dem sich die Handlung abspielt, gleicht einem Theater, denn die Horatii und Curiatii stehen einander auf einem Kampfplatz gegenüber, um welchen die Zuschauer sich gruppieren. 308 Der Text konstruiert hier gleichsam ein Drama im Drama, eine Theaterhand‐ lung innerhalb einer Theaterhandlung: Dass der Leser die Geschichte der Horatii als einem Drama vergleichbar auffassen soll, weiß er bereits; darüber hinaus erblickt er nun vor seinem inneren Auge eine zweite Dramenhandlung, nämlich den Kampf der Drillingspaare auf der σκηνή des Kampfplatzes mit den θεαταί an den Seiten. Die Evozierung der Dramenszenerie wertet dabei die Geschehnisse in den Augen des Rezipienten auf, denn das Drama galt seit jeher als ehrwürdige Gattung, die Anspruch darauf erheben konnte, allgemeingültige, überzeitliche Aussagen über das Wesen und Handeln von Menschen und Göttern zu machen. 96 4 Enargeia <?page no="97"?> 309 Zum einen ist es der alte Vater der Horatii, der sie in ihrer Entscheidung bestärkt, sich im Kampf für das Vaterland einzusetzen (ant. 3,17,2-5), zum anderen die Schwester, die dieses Wertesystem nicht teilt und dafür ihr Leben lassen muss (ant. 3,21,1-8). Vgl. Kapitel 6.2.1. 310 Liv. 1,25,1-6. Bezeichnenderweise ist die Bühnenszenerie auf die Kampfszene beschränkt, sie findet sich weder davor noch danach wieder. Gerahmt wird sie von zwei Familienszenen, die dem Ganzen nochmals gesteigerte Tragik verleihen. 309 Auch bei Livius werden die Gefühle der beiden Heere beschrieben, die dem Kampf zwischen den Horatii und Curiatii beiwohnen: Foedere icto trigemini, sicut conuenerat, arma capiunt. Cum sui utrosque adhortarentur, deos patrios, patriam ac parentes, quidquid ciuium domi, quidquid in exercitu sit, illorum tunc arma, illorum intueri manus, feroces et suopte ingenio et pleni adhortantium uocibus in medium inter duas acies procedunt. Consederant utrimque pro castris duo exercitus, periculi magis praesentis quam curae expertes; quippe imperium agebatur in tam paucorum uirtute atque fortuna positum. Itaque ergo erecti suspensique in minime gratum spectaculum animo intenduntur. Datur signum infestisque armis uelut acies terni iuuenes magnorum exercituum animos gerentes concurrunt. Nec his nec illis periculum suum, publicum imperium seruitiumque obuersatur animo futuraque ea deinde patriae fortuna quam ipsi fecissent. Vt primo statim concursu increpuere arma micantesque fulsere gladii, horror ingens spectantes perstringit et neutro inclinata spe torpebat uox spiritusque. Consertis deinde manibus cum iam non motus tantum corporum agitatioque anceps telorum armorumque sed uolnera quoque et sanguis spectaculo essent, duo Romani super alium alius, uolneratis tribus Albanis, exspirantes corruerunt. Ad quorum casum cum conclamasset gaudio Albanus exercitus, Romanas legiones iam spes tota, nondum tamen cura deseruerat, exanimes uicem unius quem tres Curiatii circumsteterant. 310 Nachdem der Vertrag geschlossen ist, ergreifen die Drillinge, wie man übereinge‐ kommen ist, die Waffen. Während die Ihren sie jeweils mit der Erinnerung daran ermuntern, dass die heimatlichen Götter, das Vaterland und die Eltern und was sich an Bürgern zu Hause und was im Heer befinde, nun auf ihre Waffen, auf ihre Hände blicken, schreiten sie vor in die Mitte zwischen den beiden Heeren, kämpferisch sowohl durch von Natur aus als auch durch die Anfeuerungen der Stimmen um sie her. Die zwei Heere hatten sich auf beiden Seiten vor ihren Lagern niedergelassen, mehr von gegenwärtiger Gefahr befreit als von Sorge; denn es ging ja um die Herrschaft, die in der Tüchtigkeit und dem Geschick so weniger lag. Deshalb konzentrieren sie sich also aufmerksam und voll Spannung auf das keineswegs angenehme Schauspiel. Es wird das Zeichen gegeben und mit erhobenen Waffen gehen die je drei jungen Männer 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 97 <?page no="98"?> 311 Dies ist eine der Stellen, zu der Dionysios seine römischen Quellen namentlich nennt: Er folge der Version des Fabius Pictor, mit der auch L. Cincius, Cato d. Ä. und Calpurnius Piso sowie „die meisten übrigen Historiker“ übereinstimmten (ant. 1,79,4). 312 Eine frühe ikonographische Darstellung erwähnen die Antiquitates selbst, s. ant. 1,79,8. 313 Ant. 1,79,4-8. wie Schlachtreihen mit dem Mut großer Heere aufeinander los. Weder diese noch jene haben die ihnen drohende Gefahr im Sinn, sondern die Herrschaft und Knechtschaft ihrer jeweiligen Stadt und dass das Schicksal ihrer Heimat dasjenige sein werde, das sie geschaffen haben. Wie sofort mit dem ersten Aufeinandertreffen die Waffen klirrten und die blitzenden Schwerter leuchteten, überläuft es die Zuschauer mit Schrecken und es stockten Stimme und Atem, da sich die Hoffnung nach keiner der beiden Seiten hin neigen konnte. Im Nahkampf schließlich, als nicht mehr nur die Bewegung der Körper und das Hin und Her von Angriff und Verteidigung, sondern auch Wunden und Blut zum Schauspiel beitrugen, da stürzten zwei Römer zu Boden, einer über den anderen, und starben, wohingegen die drei Albaner verwundet waren. Während das albanische Heer bei ihrem Fallen vor Freude aufschrie, hatte die römischen Legionen bereits jede Hoffnung, doch noch nicht die Sorge verlassen: Sie waren erstarrt vor Furcht um das Los des einzigen, den die drei Curiatii umstellt hatten. Doch ist diese Schilderung knapper und konziser gehalten als die des Dionysios, der die Passage detailliert und ausführlich gestaltet. Bei diesem wird der Reaktion der Zuschauer mehr Raum gegeben als in Ab urbe condita. Zwar schafft auch der lateinische Text eine Atmosphäre der Spannung und des Mitfieberns auf den Ausgang des Kampfes hin, doch geschieht dies deutlich sparsamer und zurückhaltender. Der Leser wird nicht in derart hohem Maße angeleitet, wie er die Darstellung der Kampfhandlung gefühlsmäßig aufzufassen habe, wie dies in den Antiquitates der Fall ist. 4.5.2.4 Faustulus Auch in einer anderen Episode aus der Frühgeschichte Roms, der in der römischen Tradition große Bedeutung zukam 311 und die auch in der Ikono‐ graphie anzutreffen ist, 312 lässt sich das Verfahren der Leserlenkung durch die Beschreibung interner Figurenreaktion feststellen. Es handelt sich um die Geschichte der Errettung der Zwillinge Romulus und Remus durch die Wölfin im ersten Buch: 313 So wird der Thron von Alba Longa, der eigentlich dem rechtmäßigen Erben Numitor zusteht, von dessen Bruder Amulius usurpiert. Um seine Herrschaft zu schützen, versucht Amulius die Linie seines Bruders zum Aussterben zu zwingen, indem er zunächst den Sohn des Numitor töten lässt und 98 4 Enargeia <?page no="99"?> 314 Die divergierenden Überlieferungen zum Vater der Zwillinge stellt der Text ant. 1,77,1-3 vor. 315 Ant. 1,76,1-1,79,3. 316 Ant. 1,79,4-6. Man beachte die akustische Dimension, die hier - selten in den frühen Büchern der Antiquitates Romanae - hinzugezogen wird, um beim Leser das Mitleid mit den beiden zum Tode bestimmten wehrlosen Säuglingen zu erhöhen. 317 Ant. 1,79,6. 318 Ant. 1,79,6-7. 319 Ant. 1,79,7-8. 320 Ant. 1,79,8-11. sodann die Tochter Ilia / Rhea Silvia zur Vestalin bestimmt. Dennoch wird sie überraschend schwanger 314 und bringt Zwillingsknaben zur Welt, die ihr sofort weggenommen und zur Aussetzung auf dem Tiber bestimmt werden. 315 Die Erzählung von der Aussetzung und Rettung der beiden Säuglinge wird sodann in kleinen Einzelschritten wiedergegeben: Der Leser wird Zeuge, wie die Diener des Amulius die Knaben in einer Wanne aufnehmen und zum Tiber bringen, um sie ins Wasser zu werfen. Als die Diener in die Nähe des Flusses gelangen, stellen sie fest, dass er durch starke Regenfälle über die Ufer getreten ist, und setzen die Wanne an der letzten zugänglichen Stelle auf das Wasser. Die Wanne mit den beiden Knaben schwimmt ein Stück den Fluss hinab und gerät in den Untiefen gegen einen Stein; die Kinder werden herausgeschleudert und winden sich unter Klagelauten im Schlamm. 316 Da nähert sich unverhofft eine Wölfin, welche vor Kurzem geworfen hat und deren Zitzen daher prall von Milch sind; sie streckt ihnen die Zitzen vor die kleinen Münder und leckt sie mit der Zunge sauber. 317 An dieser Stelle wird nun eine interne Beobachterfigur eingeschaltet: Einer der in der Nähe ihre Herden weidenden Hirten gewahrt die Wölfin, die die beiden Knaben umsorgt, und es verschlägt ihm vor Staunen die Sprache. Der Hirte holt rasch seine Gefährten herbei, um ihnen dieses Wunder zu zeigen, und gemeinsam stehen sie um die Wölfin herum und sehen zu, wie sie sich um die Kinder kümmert. 318 In der Annahme, ein übernatürliches Geschehen zu erblicken, kommen sie noch näher und vertreiben die Wölfin mit Geschrei. Zwar gelingt ihnen dies letztlich, doch bleibt das Tier dabei ganz ruhig. 319 Dieses Verhalten verstärkt bei den Hirten den Eindruck des Wunderbaren der Begebenheit. Der Hirte Faustulus, der mit der Aufsicht über die Schweineherden des Königs betraut ist, nimmt sich der Kinder an und zieht sie groß. 320 Der Text erhebt hier den Vorgang des Sehens zu einem Gestaltungselement, das zum einen über eine Fokalisationsfigur zur Leserlenkung beiträgt; zum anderen kann es auch die Handlung vorantreiben: 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 99 <?page no="100"?> 321 Ant. 1,79,6-7. 322 Wie es sich in diesem Zusammenhang mit der Wölfin verhält, bleibt unklar: Bei Livius wird sie der Kinder aufgrund von deren Jammern (puerilem uagitum) gewahr (Liv. 1,4,6); Dionysios äußert sich nicht dazu, ob die Wölfin die Kinder zuerst gehört oder gesehen hat. Ihm kommt es vor allem auf das Sehen der Hirten (und damit des Lesers) an. 323 Ant. 1,79,8. ἐν δὲ τούτῳ τυγχάνουσιν οἱ νομεῖς ἐξελαύνοντες τὰς ἀγέλας ἐπὶ νομήν (ἤδη γὰρ ἐμβατὸν ἦν τὸ χωρίον) καί τις αὐτῶν ἰδὼν τὴν λύκαιναν ὡς ἠσπάζετο τὰ βρέφη τέως μὲν ἀχανὴς ἦν ὑπό τε θάμβους καὶ ἀπιστίας τῶν θεωρουμένων· ἔπειτ᾽ ἀπελθὼν καὶ συλλέξας ὅσους ἐδύνατο πλείστους τῶν ἀγχοῦ νεμόντων (οὐ γὰρ ἐπιστεύετο λέγων) ἄγει τοὖργον αὐτὸ θεασομένους. ὡς δὲ κἀκεῖνοι πλησίον ἐλθόντες ἔμαθον τὴν μὲν ὥσπερ τέκνα περιέπουσαν, τὰ δ᾽ ὡς μητρὸς ἐξεχόμενα, δαιμόνιόν τι χρῆμα ὁρᾶν ὑπολαβόντες ἐγγυτέρω προσῄεσαν ἀθρόοι δεδιττόμενοι βοῇ τὸ θηρίον. 321 Währenddessen trieben die Hirten gerade ihre Herden auf die Weide (schon war der Ort nämlich wieder begehbar) und als einer von ihnen die Wölfin sah, wie sie die Säuglinge liebkoste, da war er eine Zeit lang stumm vor Erstaunen und Unglauben über das, was er sah. Dann entfernte er sich und versammelte so viele der in der Nähe weilenden Hirten, wie er konnte (denn man schenkte dem, was er sagte, keinen Glauben), und führte sie dorthin, damit sie die Sache selbst sähen. Als auch jene näherkamen und begriffen, dass die Wölfin mit den Kindern umging, als seien es ihre eigenen, sie aber sich zu ihr wie zu einer Mutter verhielten, da nahmen sie an, etwas Göttliches zu erblicken, und kamen näher, während sie gemeinsam das Tier durch Geschrei erschreckten. Die Erzählung inszeniert an dieser Stelle das Bild von der Wölfin und den Menschenkindern und zugleich das Sehen selbst. Dem Motiv des Sehens kommt für den Gang der Erzählung insgesamt eine entscheidende Bedeutung zu. Die mit der Aussetzung der Knaben beauftragten Diener des Amulius sehen, dass der Tiber über seine Ufer getreten ist, und entscheiden sich daraufhin, die Kinder am Fuße des Palatins auszusetzen; der Hirte, der die beiden schließlich findet, erblickt sie durch Zufall, und holt seine Gefährten, um das Wunder ebenfalls zu sehen. 322 Die die Säuglinge nährende Wölfin wird zum Tableau, das der Leser durch die Augen der Hirten betrachtet. Hier ist die Brücke geschlagen zur Bildenden Kunst. Bezeichnenderweise erwähnt der Text nur wenige Sätze später eine Bronzeskulptur aus der römischen Frühzeit, die zur Zeit des Dionysios noch erhalten gewesen sei und die das wundersame Ereignis in einem Bildwerk festgehalten habe. 323 Die Bezüge zwischen Text und Bild sind offenkundig, man kann auch geradezu vom „Text als Bild“ sprechen. 100 4 Enargeia <?page no="101"?> 324 Dem Zweck des Innehaltens in der Erzählung dienen häufig ekphrastische Einschübe; man denke an die Schildbeschreibung Hom. Il. 18,478-608. Zur Schildbeschreibung s. Byre (1992). Der Eindruck der Beschaulichkeit setzt sich fort in der häuslichen Szene ant. 1,79,10, als Faustulus, der die Knaben von den Hirten übernimmt, mit den Zwillingen zu seiner Ehefrau kommt. Diese hat soeben selbst ein Kind zur Welt gebracht, das nicht am Leben geblieben ist, und trauert um ihr totes Neugeborenes. Faustulus spricht tröstende Worte zu ihr und überreicht ihr Romulus und Remus, damit sie sie stille und als Ersatz für ihr totes Kind großziehe. Eine solch intime Szene fehlt bei Livius gänzlich. Dionysios nutzt die erzählerischen Möglichkeiten, die sie ihm bietet, indem er um Faustulus eine Atmosphäre von häuslicher Wärme und Gefühlstiefe kreiert. Romulus und Remus sind also bei dem Hirten gut aufgehoben und wachsen in einer liebevollen Pflegefamilie heran. Dies trägt zum positiven Gesamteindruck bei, den der Leser sich von den Römern und ihrem Ahnherrn Romulus machen soll. 325 Dazu Slatkin (2007). 326 Anders verhält es sich bei Livius, denn dort tritt lediglich ein einziger Hirte in Erscheinung; es ist explizit Faustulus, der die Knaben mit der Wölfin entdeckt und sie mit zu sich und seiner Frau Larentia nimmt. S. Liv. 1,4,6-7. 327 Ant. 1,77,2. Das Bild, auf dem die Hirten und der Leser verweilen, wirkt in der Erzählung wie ein kurzes Innehalten, ein Moment, an dem die Ereignisse zur Ruhe kommen, nachdem eben noch von den Mordplänen des Amulius die Rede war und der Leser mit dem Schicksal der auf dem Fluss in Lebensgefahr befindlichen Kinder mitgefiebert hat. 324 Bereits in der Ilias kommt dem Vorgang des Sehens eine wichtige Rolle als Gestaltungsmittel zu. Das Sehen kann einerseits als Auslöser einer Reaktion fungieren, die die Handlung vorantreibt; andererseits kann es als Ruhepunkt dienen und den Fortgang des Geschehens unterbrechen, etwa wenn eine Figur etwas sieht, das sie in Staunen versetzt und innehalten lässt wie in der soeben besprochenen Szene. Bewirkt der Anblick eine bestimmte emotionale Reaktion der Figur, so kann der Leser seine eigenen Gefühle dazu in Beziehung setzen und sich davon in seiner Reaktion auf das Gelesene beeinflussen lassen. 325 Die Funktion der Hirten als Beobachterfiguren an dieser Stelle ist nicht minder aufschlussreich als in der Horatii- oder der Lucretia-Episode. Denn auch hier dienen sie dazu, die vom Historiker gewünschte Reaktion des Lesers vorwegzunehmen: Die Hirten, die zwar als Kollektiv auftreten, von denen aber doch der Finder als Individuum herausragt, 326 erblicken die Wölfin, die die beiden Menschenkinder säugt, und reagieren auf diesen ungewöhnlichen Anblick mit Staunen und Sprachlosigkeit. Es ist ihnen sogleich klar, dass hier göttliche Mächte am Werk sein müssen. Die Überlieferung, der zufolge Romulus und Remus von einem Gott gezeugt worden seien, erhält somit für den Leser Glaubwürdigkeit; 327 die Annahme, dass die Rettung der Zwillinge 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 101 <?page no="102"?> 328 Ant. 1,79,9. 329 Liv. 1,4,6-7. vom Schicksal gewollt sei und die Wölfin ein Instrument der Götter darstelle, 328 führt zu der Überzeugung, dass somit auch die Gründung Roms vom Schicksal vorherbestimmt und legitimiert ist. Konsequenterweise sind dadurch auch der Aufstieg Roms zur Weltmacht und die Herrschaft über die restliche Staatenwelt in einen göttlichen Nimbus gehüllt und erhalten ihre Legitimation auf der metaphysischen Ebene. Dies ist die Deutung, die der Text dem Leser an die Hand geben will: Die beschriebene Reaktion der Hirten soll ihm nahelegen, das Ereignis, den „Anblick“, dessen Zeuge er beim Lesen wird, ebenso als Zeichen des Übernatürlichen zu interpretieren wie sie. Die Rettung der beiden Knaben, von denen der eine dereinst die Stadt Rom gründen wird, wird als θαῦμα inszeniert, als ein Wunder, das man mit ehrfürchtigem Staunen schaut. Um die Eigenart des Textes zu verdeutlichen, mag ein kurzer Vergleich mit der entsprechenden Version bei Livius hilfreich sein: Tenet fama cum fluitantem alueum, quo expositi erant pueri, tenuis in sicco aqua destituisset, lupam sitientem ex montibus qui circa sunt ad puerilem uagitum cursum flexisse; eam submissas infantibus adeo mitem praebuisse mammas ut lingua lambentem pueros magister regii pecoris inuenerit - Faustulo fuisse nomen ferunt; ab eo ad stabula Larentiae uxori educandos datos. 329 Man erzählt sich, es sei, als seichtes Wasser die dahintreibende Wanne, in der man die Knaben ausgesetzt hatte, auf trockenem Grund zum Halten gebracht hatte, eine durstige Wölfin aus den umliegenden Bergen auf das Wimmern der Kinder hin herbeigelaufen. Diese habe den Säuglingen derart friedlich ihre Zitzen dargeboten, dass der Hirt der königlichen Herde sie dabei gefunden habe, wie sie die Knaben mit ihrer Zunge ableckte. Dessen Name sei Faustulus gewesen; von ihm seien sie zu den Ställen gebracht und seiner Frau Larentia zur Aufzucht übergeben worden. Die Darstellung der Szene ist insgesamt wesentlich knapper und sparsamer gehalten als bei Dionysios. Es fehlen die zahlreichen kleinen Details, mit denen die Erzählung in den Antiquitates ausgestaltet ist und die diese farbig und anschaulich machen, etwa die sich im Schlamm windenden weinenden Säuglinge, ihr brutales Herausgeschleudertwerden aus der Wanne, der Anblick der prall gefüllten Zitzen der Wölfin, der Schlamm, den sie von den Körpern der Kinder ableckt. Es fehlt auch die großangelegte Auffindungsszene mit der Gruppe der Hirten, ferner deren Emotionen, das ungläubige Staunen und die 102 4 Enargeia <?page no="103"?> 330 Der Leser wird etwas später explizit darauf hingewiesen, ant. 1,79,9. Auf die Überliefe‐ rung, der zufolge es sich bei Larentia, der Gattin des Faustulus, um eine Prostituierte mit dem „Berufsnamen“ Wölfin gehandelt habe, gehen die Antiquitates an dieser Stelle noch nicht ein; eine derartig skandalöse Geschichte um den Stadtgründer Romulus würde denn auch das Ansehen der Weltmacht Rom beim griechischen Lesepublikum empfindlich gestört haben. Sie wird ant. 1,84,4 in einem Nachtrag eher kursorischen Charakters präsentiert, ohne Angabe einer vertrauenswürdigen Quelle wie ant. 1,79,4. Als Gewährsleute für diese Tradition werden lediglich „andere“ genannt, s. ant. 1,84,1. Vgl. Liv. 1,4,7. 331 Ant. 1,79,12-83,3. Überzeugung vom göttlichen Ursprung der Begebenheit. 330 Livius inszeniert die Episode nicht, wie Dionysios es tut, wenn dieser die Wölfin und die Kinder als θαῦμα zeichnet. Wie in der oben besprochenen Kampfszene der Horatii und Curiatii spielt auch hier die Theater-Assoziation eine Rolle. Denn die Wölfin, die die Kinder säugt, wird als Schauspiel präsentiert, das von den umstehenden Hirten (und dem Leser) betrachtet werden kann. Die Verwendung eines Fokalisators kehrt nur wenige Kapitel später im Rahmen der Umstände wieder, die zur Anagnorisis zwischen den Zwillingen und ihrem Großvater Numitor führen. Nachdem Romulus erfahren hat, dass er und Remus Findelkinder sind, geht er nach Alba, um seinen dort gefangen gehaltenen Bruder zu befreien und ihrer beider Herkunft zu offenbaren. Dar‐ aufhin macht sich Faustulus auf, ihm in die Stadt zu folgen, da er argwöhnt, dass man am Königshof den Worten des Jünglings keinen Glauben schenken und diesen womöglich als Betrüger bestrafen werde. 331 Die Sorge lässt ihn nicht ruhen; er nimmt als Beweisstück die Wanne, in der die Säuglinge auf dem Tiber ausgesetzt worden waren, und begibt sich nach Alba. Der Eintritt in die Stadt flößt ihm Angst ein: Als er das Tor durchschreitet, ist er nervös und so ängstlich bemüht, die Wanne zu verbergen, dass er gerade dadurch die Aufmerksamkeit eines Wächters auf sich zieht, der ihn denn auch zu sich ruft und mit Gewalt die Wanne aus ihrer Umhüllung reißt. Über den Anblick eines derart gewöhnlichen Gegenstandes erstaunt, der so gar nicht zu der offensichtlichen Nervosität passt, die ihm Faustulus verdächtig machte, verlangt der Wächter Aufklärung über die Zusammenhänge. Die Erzählung dieser kleinen Begebenheit ist von Realismus geprägt: Die emotionale Verfassung des Faustulus ist vollkommen glaubwürdig. Die Sorge und Angst, wie es seinen Ziehkindern in der Stadt ergehen mag und ob Romulus womöglich durch seine Ansprüche auf königliche Abstammung in Gefahr geraten könnte, sowie sein Entschluss, ihnen zu folgen und beizustehen, charakterisieren ihn, psychologisch plausibel, als liebevollen Vater. Seine Auf‐ regung beim Betreten der Stadt ist ebenfalls überzeugend dargestellt: Als er 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 103 <?page no="104"?> 332 S. Kapitel 4.4. 333 S. Kapitel 2. die Stadtgrenze überschreitet, gelingt es ihm nicht, seine Gefühle zu verbergen. Gerade durch sein ängstliches Bemühen, unauffällig zu erscheinen, macht er sich verdächtig und wird angehalten. Sein Gefühlszustand wird wiederholt explizit hervorgehoben, seine Angst und Verlegenheit werden betont. Auch die Reaktion des Wächters, sein Argwohn und sein Erstaunen ob der Entdeckung der schlichten Wanne wirken realistisch. Das wesentliche Element ist hier die psychologisch überzeugende Darstellung der Figuren, ihrer Gefühle und ihres Agierens. Der Leser nimmt das Geschehen durch die Figur des Fokalisators wahr und ist in der Lage, sich mit diesem zu identifizieren. Hier ist es aufschlussreich, sich noch einmal die Beurteilung der Lexis des Lysias in Erinnerung zu rufen, die Lys. 7,1-3 liefert. 332 Als eine entscheidende Bedingung rhetorischer enargeia hält Dionysios dort die psychologische Glaub‐ würdigkeit der Personen fest, von denen der Redner zu seinem Publikum spricht. Gerade diese psychologische Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ist es, die aus der Szene um Faustulus spricht. Die Figuren und ihr Handeln werden ebenso einfühlsam wie realistisch geschildert, um beim Leser den Eindruck zu erwecken, dass es sich genauso abgespielt habe. Dass Faustulus sich in großer Sorge und Aufregung befindet und ängstlich bemüht ist, seine Absichten vor den Wächtern zu verbergen, wird jedem Leser einleuchtend erscheinen, der sich in seine Situation versetzt. Somit lebt und handelt die Figur zwar in einer Frühzeit, die dem Leser fern ist, doch der Text ist bemüht, eine Brücke zu schlagen zwischen Figur und Publikum, die Figuren als Menschen zu zeichnen, deren psychologische Verfasstheit derjenigen der Leser gleicht. Hier ist keine ehrfurchtsvolle Distanz zu spüren, kein zeitlicher Abgrund, der den Adressaten der Erzählung von den Figuren trennt. Für den Text gibt es an dieser Stelle im Fühlen und Handeln der Menschen offenbar überzeitliche Konstanten, die unveränderlich sind. 4.5.3 Ausführlichkeit der Darstellung 4.5.3.1 Vorbemerkungen An den bisher betrachteten Textpassagen deutete sich bereits an, dass es ein charakteristischer Wesenszug der frühen Bücher der Antiquitates ist, histori‐ sche Begebenheiten in großer Ausführlichkeit und Breite zu schildern, was auf manchen neuzeitlichen Leser irritierend gewirkt hat. 333 Stellt man Livius vergleichend gegenüber, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass bei Dionysios 104 4 Enargeia <?page no="105"?> 334 Die im Vergleich zu Livius ausführlichere Darstellung der römischen Königszeit durch Dionysius hebt auch Oakley (2019) 127 f. hervor. 335 Vgl. Oakley (2019) 128. 336 Oakley (2019) 140 scheint mir die Bedeutung der enargeia und der Genauigkeit der Darstellung für Dionysios zu unterschätzen. Aufschlussreich ist die praefatio zum elften Buch (ant. 11,1,1-6), in der Dionysios ankündigt, alle Einzelheiten der Abschaffung des Decemvirats zu schildern, da Ausführlichkeit und eine genaue Darlegung der historischen Gründe und Motivationen zum Nutzen und zur Freude des Lesers sei; hier umreißt er das Konzept der enargeia, die die Folge solcher Darstellung sei: ἥδεται γὰρ ἡ διάνοια παντὸς ἀνθρώπου χειραγωγουμένη διὰ τῶν λόγων ἐπὶ τὰ ἔργα καὶ μὴ μόνον ἀκούουσα τῶν λεγομένων, ἀλλὰ καὶ τὰ πραττόμενα ὁρῶσα (ant. 11,1,3). Ebenso Verdin (1974) 303. die gleichen Episoden tendenziell detaillierter ausgeführt sind. Ein augenfälliges Beispiel bietet etwa der Selbstmord der Lucretia, der bei Livius im Wesentlichen auf das Kapitel 1,58 konzentriert ist, während er bei Dionysios die Kapitel 4,64,4 bis 4,67,2 umfasst. 334 Allerdings scheint es mir verfehlt, den frühen Büchern der Antiquitates Romanae aus ihrer Ausführlichkeit einen Vorwurf machen zu wollen. Denn diese Ausführlichkeit entspringt erstens der Interessenlage ihres Autors, 335 zweitens zeugt sie von dem Bemühen des Textes um größtmögliche Genauigkeit und Anschaulichkeit, mithin also um enargeia, und diese soll dazu beitragen, die Aussage des Textes dem Leser näher zu bringen. 336 Wie wir gesehen haben, schließen die im Corpus rhetoricum vorgebrachten Reflexionen sich der von den Theoretikern aufgestellten Forderung nach Ausführlichkeit als wichtiger Bedingung für enargeia an. Diese Übereinstimmung auf der theoretischen Ebene schlägt sich denn auch in der Praxis, in den Büchern zur Königszeit, nieder. Im Folgenden sei eine Auswahl an Textpassagen beleuchtet, die den Einsatz dieses erzählerischen Mittels in besonders augenfälliger Weise zeigen. Die Ausführlichkeit des Geschehens wird zunächst häufig durch die Auftei‐ lung einer Handlung in kleinere Schritte erzielt, die der Historiker der Reihe nach berichtet. Hinzu kommt die Einbeziehung von Details, die für den Gang der Erzählung nicht unbedingt von Belang sind. 4.5.3.2 Lucretia Als erstes Beispiel soll die nächtliche Szene der Vergewaltigung der Lucretia herangezogen werden. Das Subjekt im Folgenden ist Sextus Tarquinius, der die Gelegenheit gekommen sieht, seinen Plan in die Tat umzusetzen: ὡς δὲ μετὰ τὸ δεῖπνον ἀπῆλθε κοιμησόμενος ἐπισχὼν τῆς νυκτὸς πολὺ μέρος, ἐπειδὴ καθεύδειν ἅπαντας ἐνόμιζεν, ἀναστὰς ἧκεν ἐπὶ τὸ δωμάτιον, ἐν ᾧ τὴν Λουκρητίαν 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 105 <?page no="106"?> 337 Ant. 4,64,5-65,1. 338 Ant. 4,66,1-2. ᾔδει καθεύδουσαν, καὶ λαθὼν τοὺς παρὰ ταῖς θύραις τοῦ δωματίου κοιμωμένους εἰσέρχεται ξίφος ἔχων. Ἐπιστὰς δὲ τῇ κλίνῃ διεγερθείσης ἅμα τῷ συνεῖναι τὸν ψόφον τῆς γυναικὸς καὶ πυνθανομένης, ὅστις εἴη, φράσας τοὔνομα σιωπᾶν ἐκέλευε καὶ μένειν ἐν τῷ δωματίῳ σφάξειν αὐτὴν ἀπειλήσας, ἐὰν ἐπιχειρήσῃ φεύγειν ἢ βοᾶν. 337 Als er nach dem Mahl weggegangen war, um sich schlafen zu legen, verbrachte er den Großteil der Nacht wartend und als er glaubte, alle schliefen, erhob er sich und ging zu dem Gemach, von dem er wusste, dass Lucretia darin schlief. Und unbemerkt von den Männern, die vor der Tür des Gemaches schliefen, ging er, ein Schwert mit sich führend, hinein. Als er an ihr Bett trat und als die Frau beim ersten Geräusch aufwachte und fragte, wer er sei, da sagte er ihr seinen Namen, befahl ihr, zu schweigen und im Zimmer zu bleiben, und drohte ihr, sie zu ermorden, wenn sie zu fliehen oder zu schreien versuchen würde. Die Schilderung der Vorgehensweise des Sextus Tarquinius ist untergliedert in die konkreten einzelnen Handlungsschritte, die er unternimmt: den Gang nach dem Essen in sein Zimmer, das sich anschließende nächtliche Wachen und Warten, das Aufstehen und den heimlichen Gang zum Schlafzimmer der Lucretia, sein Eintreten, den Gang zu ihrem Bett; sodann das Erwachen und die Frage der Lucretia, die Antwort des Sextus und seine Drohungen. Der Text lässt keinen der Handlungsschritte aus, sondern gibt sie nacheinander, in genauer chronologischer Abfolge, wieder. Damit einher geht die Nennung von Einzelheiten, auf die der Leser für das Verständnis des Geschehens nicht notwendigerweise angewiesen wäre: die zeitliche Angabe des Abendessens und des Zeitraums, den Sextus verstreichen lässt, die Erwähnung der Bediensteten vor Lucretias Zimmertür und des Schwertes, des Bettes und des Geräusches, durch das sie aus dem Schlaf fährt, sowie die Wiedergabe des Wortwechsels. Auf ähnliche Weise verfährt der Text, als es um Lucretias Fahrt nach Rom zum Haus ihres Vaters geht: ἡ δὲ Λουκρητία δεινῶς φέρουσα τὸ συμβεβηκὸς ὡς εἶχε τάχους ἐπιβᾶσα τῆς ἀπήνης εἰς Ῥώμην ᾤχετο, μέλαιναν ἐσθῆτα περιβαλομένη καὶ ξιφίδιόν τι κρύπτουσα ὑπὸ τῇ στολῇ, οὔτε προσαγορεύουσα κατὰ τὰς συναντήσεις οὐδένα τῶν ἀσπαζομένων οὔτ᾽ ἀποκρινομένη τοῖς μαθεῖν βουλομένοις, ὅ τι πέπονθεν, ἀλλὰ σύννους καὶ κατηφὴς καὶ μεστοὺς ἔχουσα τοὺς ὀφθαλμοὺς δακρύων. ὡς δ᾽ εἰς τὴν οἰκίαν εἰσῆλθε τοῦ πατρός· ἔτυχον δὲ συγγενεῖς ὄντες τινὲς παρ᾽ αὐτῷ· τῶν γονάτων αὐτοῦ λαβομένη καὶ περιπεσοῦσα τέως μὲν ἔκλαιε φωνὴν οὐδεμίαν προϊεμένη, ἔπειτ᾽ ἀνιστάντος αὐτὴν τοῦ πατρὸς καὶ τί πέπονθεν ἀξιοῦντος λέγειν· 338 106 4 Enargeia <?page no="107"?> 339 Mit Trauerkleidung und Dolch verhält es sich wie mit Bett und Schwert in der vorangegangenen Szene: Auch sie stellen Details dar, die für den Ablauf des Geschehens an sich nicht sonderlich belangvoll sind, jedoch eine starke Symbolkraft besitzen und den Grundton der Erzählung angeben. Zudem ist die Erwähnung des Dolches als foreshadowing anzusehen, das der Spannungserzeugung dient. Zur sexuellen Konnotation des Dolches s. Fögen (²2002) 44. 340 Die Wiedergabe innerer Vorgänge unterstützt darüber hinaus die Figurencharakteri‐ sierung, vgl. Rood (2018) 162-164 in Bezug auf Thukydides. Lucretia aber litt furchtbar unter dem, was ihr widerfahren war, und bestieg, so schnell sie konnte, den Wagen und eilte nach Rom, in ein schwarzes Gewand gehüllt und einen Dolch unter dem Überwurf verborgen. Weder sprach sie jemanden von denen an, die sie bei der Begegnung grüßten, noch antwortete sie denen, die erfahren wollten, was ihr widerfahren sei, sondern sie war tief in Gedanken versunken, niedergeschlagen und hatte die Augen voll Tränen. Als sie in das Haus ihres Vaters eintrat - zufällig waren einige Verwandte bei ihm -, nahm sie dessen Knie und hielt sie umfasst und weinte eine Zeit lang, ohne ein Wort zu sprechen. Dann richtete der Vater sie auf und verlangte von ihr, zu sagen, was ihr widerfahren sei. Auch hier ist die Aktion in einzelne Schritte zerlegt, die nacheinander be‐ schrieben werden: Lucretia besteigt den Wagen; sie eilt nach Rom; auf dem Weg begegnen ihr Menschen, die die ansprechen; sie betritt das Haus ihres Vaters; sie umfasst seine Knie; sie weint; der Vater richtet sie auf und spricht zu ihr; sie antwortet. Wiederum bezieht die Erzählung begleitende Umstände ein: das Leiden der Lucretia, ihre Trauerkleidung, den unter dem Mantel verborgenen Dolch, 339 die Fragen der Passanten, die Kommunikation mit dem Vater Lucretius. 4.5.3.3 Romulus Die an den vorangegangenen Beispielen gezeigte Ausführlichkeit betrifft nicht nur die Wiedergabe äußerer Handlung, sondern sie charakterisiert auch die Darstellung innerer Vorgänge in den Büchern der Königszeit und darüber hinaus. Der Text legt größten Wert auf die explizite und genaue Darlegung der Motivation der Akteure, wie sie in deren Handeln geschichtsformend zum Aus‐ druck kommt. 340 So werden die Überlegungen und inneren Beweggründe, aus denen die Figuren handeln, ausführlich und eingehend beschrieben. Zu diesem Zweck kommen einerseits direkte Reden zum Einsatz, die die Figuren entweder im Zwiegespräch oder vor einer kleineren oder größeren Gruppe wie Familie, Senat oder Volksversammlung halten und in denen sie die Gedankengänge schildern, die sie zu einer bestimmten Überzeugung oder Handlung motivieren. Andererseits nutzt der Text auch die Gelegenheit, an entscheidenden Stellen, 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 107 <?page no="108"?> 341 Vgl. ant. 11,1,1-5; dazu Oakley (2019) 137. 342 Ant. 1,80,3-4. an denen eine direkte Rede sich nicht günstig in den Gang der Erzählung einfügen ließe, in einer Art Vorläufer des stream of consciousness die Vorgänge zu schildern, die sich im Geist der Figur abspielen. Dionysios ist stets sichtbar bemüht, seinen Lesern die Gründe für das Verhalten seiner Figuren zu vermitteln und einsichtig zu machen: Der Text soll keinen Zweifel daran lassen, weshalb die betreffende geschichtliche Person so und nicht anders gehandelt hat. 341 So erfährt der Rezipient im ersten Buch der Antiquitates genau, was in dem jungen Romulus vorgeht, nachdem Remus in einer Auseinandersetzung mit verfeindeten Rinderhirten nach Alba in Gefangenschaft geraten ist: Ῥωμύλος δ᾽ ἐπειδὴ τὸ περὶ τὸν ἀδελφὸν ἔγνω πάθος, διώκειν εὐθὺς ᾤετο δεῖν τοὺς ἀκμαιοτάτους ἔχων τῶν νομέων, ὡς ἔτι κατὰ τὴν ὁδὸν ὄντα καταληψόμενος τὸν Ῥῶμον· ἀποτρέπεται δ᾽ ὑπὸ τοῦ Φαιστύλου. ὁρῶν γὰρ αὐτοῦ τὴν σπουδὴν μανικωτέραν οὖσαν ‹οὗτος› νομισθεὶς ὁ πατήρ, ‹ἃ› τὸν ἔμπροσθεν χρόνον ἀπόρρητα ποιούμενος τοῖς μειρακίοις διετέλεσεν, ὡς μὴ θᾶττον ὁρμήσωσι παρακινδυνεῦσαί τι πρὶν ἐν τῷ κρατίστῳ τῆς ἀκμῆς γενέσθαι, τότε δὴ πρὸς τῆς ἀνάγκης βιασθεὶς μονωθέντι τῷ Ῥωμύλῳ λέγει. μαθόντι δὲ τῷ νεανίσκῳ πᾶσαν ἐξ ἀρχῆς τὴν κατασχοῦσαν αὐτοὺς τύχην τῆς τε μητρὸς οἶκτος εἰσέρχεται καὶ Νεμέτορος φροντίς, καὶ πολλὰ βουλευσαμένῳ μετὰ τοῦ Φαιστύλου τῆς μὲν αὐτίκα ὁρμῆς ἐπισχεῖν ἐδόκει, πλείονι δὲ παρασκευῇ δυνάμεως χρησάμενον ὅλον ἀπαλλάξαι τὸν οἶκον τῆς Ἀμολίου παρανομίας κίνδυνόν τε τὸν ἔσχατον ὑπὲρ τῶν μεγίστων ἄθλων ἀναρρῖψαι, πράττειν δὲ μετὰ τοῦ μητροπάτορος ὅ τι ἂν ἐκείνῳ δοκῇ. 342 Sobald Romulus erfahren hatte, was seinem Bruder widerfahren war, meinte er, es sei notwendig, sie [die Rinderhirten] sofort mit den Kräftigsten der Hirten verfolgen, um Remus noch auf dem Weg einzuholen. Er wurde aber von Faustulus davon abgebracht. Da dieser nämlich sah, dass sein Eifer allzu blindwütig war, erzählte der vermeintliche Vater damals, von der Notwendigkeit gezwungen, dem Romulus ohne seinen Zwilling das, was er früher stets vor den jungen Männern geheim gehalten hatte, damit sie sich nicht überstürzt in Gefahr begäben, bevor sie den Höhepunkt ihrer Kraft erreicht hätten. Als der junge Mann von Anfang an das ganze Schicksal erfahren hatte, das sie ereilt hatte, beschlich ihn Kummer um die Mutter und Sorge um Numitor, und nachdem er gemeinsam mit Faustulus vieles beraten hatte, schien es ihm richtig, zwar den sofortigen Impuls zu unterdrücken, aber mit größerem Krafteinsatz die ganze Familie von dem Unrecht zu befreien, das ihnen durch Amulius widerfuhr, und für den größten Gewinn das äußerste Risiko einzugehen, gemeinsam mit dem Großvater aber das zu tun, was jenem gut erscheine. 108 4 Enargeia <?page no="109"?> 343 Ant. 3,21,2. Daraufhin begibt sich Romulus mit Unterstützung der Seinen nach Alba, um sich seinem Großvater zu erkennen zu geben und seinen Bruder aus der Gefan‐ genschaft zu befreien. Diese Handlungen kann der Leser nun einordnen und verstehen, da er soeben über die Überlegungen des Romulus und des Faustulus informiert worden ist. Der Text verrät dem Leser auch die Beweggründe, die Faustulus bislang dazu motiviert haben, den Zwillingen ihre wahre Herkunft zu verschweigen. Die Erzählung legt also Wert auf eine nachvollziehbare und psychologisch überzeugende Darstellung von Ursache und Wirkung, genauer: der Ursachen für das Handeln der Akteure. 4.5.3.4 Horatius Die Wiedergabe des inneren Erlebens einer Figur zur Erklärung und Veran‐ schaulichung ihres Tuns begegnet auch in der Geschichte der Horatia, die von ihrem Bruder aufgrund ihres Verhaltens getötet wird, da dieses nicht dem patriarchalischen Normenkodex entspricht. Als sie aus Angst um das Leben ihres Verlobten, gegen den ihr Bruder gekämpft und den er getötet hat, der Obhut von Mutter und Amme entflieht und in ihrer Aufregung bis vor das Stadttor läuft, erblickt ihr Bruder sie in der Menschenmenge: ὡς γὰρ ἐγγὺς ἐγένετο τῶν πυλῶν, ἄλλον τε ὄχλον ὁρᾷ παντοδαπὸν ἐκχεόμενον ἐκ τῆς πόλεως καὶ δὴ καὶ τὴν ἀδελφὴν προστρέχουσαν· διαταραχθεὶς δὲ κατὰ τὴν πρώτην ὄψιν, ὅτι καταλιποῦσα τὴν μετὰ μητρὸς οἰκουρίαν παρθένος ἐπίγαμος εἰς ὄχλον αὑτὴν ἔδωκεν ἀγνῶτα, καὶ πολλοὺς λαμβάνων λογισμοὺς ἀτόπους τελευτῶν ἐπὶ τοὺς ἐπιεικεῖς καὶ φιλανθρώπους ἀπέκλινεν, ὡς ἀσπάσασθαί τε πρώτη τὸν σωθέντα ἀδελφὸν ποθοῦσα καὶ τὰς ἀρετὰς τῶν τεθνηκότων παρ᾽ αὐτοῦ μαθεῖν βουλομένη τῶν εὐσχημόνων ὑπερίδοι γυναικεῖόν τι πάσχουσα. 343 Denn als er nahe an die Tore herangekommen war, sah er eine vielgestaltige Volks‐ masse sich aus der Stadt ergießen und darunter auch seine Schwester auf ihn zulaufen. Beim ersten Anblick war er erschüttert, dass sie als heiratsfähige Jungfrau zugleich mit ihrer Mutter auch das schützende Heim verlassen und sich in eine Menge Fremder hineinbegeben hatte, und obgleich er viele außergewöhnliche Gründe dafür fand, neigte er schließlich doch zu den wahrscheinlichen und menschenfreundlichen, dass sie, da es sie danach verlangt habe, den geretteten Bruder als erste zu begrüßen, und da sie die Leistungen der Getöteten von ihm erfahren wollte, die Schicklichkeit aufgrund einer weiblichen Gefühlsregung missachtet habe. 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 109 <?page no="110"?> 344 Ant. 3,21,6. Vgl. Kapitel 5.3.2.2.3. 345 Wie bereits eingangs erwähnt, durchzieht das Bemühen um eine möglichst ausführliche Darstellung die Bücher zur Königszeit insgesamt. Als eine kleine Auswahl markanter Beispiele für eine enargeia schaffende Ausführlichkeit können jedoch genannt werden: ant. 2,45,1-46,1 (Einsatz der Sabinerinnen für den Frieden); 4,5,1-3 (List der Tanaquil); 4,46,1-48,3 (Ermordung des Turnus Herdonius); 4,59,1-61,4 (Bau des kapitolinischen Tempels). 346 Vgl. ant. 11,1,3 mit 5,56,1: ἐγὼ δὲ καὶ τὸν τρόπον τῆς συλλήψεως τῶν ἀνδρῶν ἱστορίας ἄξιον εἶναι νομίσας ἔκρινα μὴ παρελθεῖν, ἐνθυμούμενος ὅτι τοῖς ἀναγινώσκουσι τὰς ἱστορίας οὐχ ἱκανόν ἐστιν εἰς ὠφέλειαν τὸ τέλος αὐτὸ τῶν πραχθέντων ἀκοῦσαι, ἀπαιτεῖ δ᾽ ἕκαστος καὶ τὰς αἰτίας ἱστορῆσαι τῶν γινομένων καὶ τοὺς τρόπους τῶν πράξεων καὶ τὰς διανοίας τῶν πραξάντων καὶ τὰ παρὰ τοῦ δαιμονίου συγκυρήσαντα, καὶ μηδενὸς ἀνήκοος γενέσθαι τῶν πεφυκότων τοῖς πράγμασι παρακολουθεῖν· τοῖς δὲ πολιτικοῖς καὶ πάνυ ἀναγκαίαν ὑπάρχουσαν ὁρῶν τὴν τούτων μάθησιν, ἵνα παραδείγμασιν ἔχοιεν πρὸς τὰ συμβαίνοντα χρῆσθαι. Vgl. Verdin (1974) 302. In diesem Fall dient die Wiedergabe der Gedanken des Horatius zwar nicht direkt der Verdeutlichung seiner Handlung (der Ermordung der Schwester), doch mittelbar trägt sie durchaus dazu bei. In seiner Rede 344 gibt Horatius als unmittelbaren Grund für seinen Zorn und die daraus resultierende Tat in erster Linie die mangelnde pietas der Schwester gegenüber Heimat und Familie an, doch beeinflussen die Überlegungen beim Anblick der ihm entgegen laufenden Schwester ebenfalls seinen Affekt, da ihn die Unschicklichkeit ihres Verhaltens bereits im ersten Moment befremdet. 345 Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Die anhand der unter‐ suchten Beispiele aufgezeigte Ausführlichkeit in der Darlegung der inneren Beweggründe der Figuren dient dem Text als Mittel zur Erzeugung von enargeia. Die Breite der Wiedergabe speziell rationaler Erwägungen mag den Leser des 21. Jahrhunderts befremdlich anmuten, da dieser, wenn es um das Thema der Anschaulichkeit in einem erzählenden Text geht, eine ausführliche Schilderung primär der emotionalen Verfasstheiten erwarten würde. Schließlich soll der Rezipient in seinen eigenen Emotionen angesprochen werden und über diese in enge Interaktion mit dem Text treten. Für Dionysios ist die in einem Geschichtswerk erwünschte Ausführlichkeit der Darstellung jedoch auf drei Komponenten bezogen: auf die äußere Handlung sowie die emotionalen und rationalen inneren Vorgänge der Akteure. 346 Durch den Eindruck der Vollständigkeit generiert der Text beim Rezipienten die Illusion, das Geschehen in seiner Gesamtheit zu überschauen, doch zugleich auch kognitiv zu durchschauen. Denn diese Art der Ausführlichkeit spricht sowohl das bildliche Vorstellungsvermögen als auch die Ratio an: Auf der einen Seite vermittelt eine detailgenaue Schilderung, die nichts auslässt und das Geschehen in seine Einzelschritte aufgegliedert beschreibt, den Eindruck, 110 4 Enargeia <?page no="111"?> 347 S. Kapitel 4.5.2.3. 348 Vgl. ant. 3,18,1; 3,21,1. selbst als Augenzeuge anwesend zu sein, da man die Handlungselemente als „Kopfkino“ vor dem inneren Auge ablaufen sieht. Zugleich verschafft eine solche Vorgehensweise dem Leser das Gefühl einer intellektuellen Saturiertheit, da er das Geschehen in seiner Ganzheit erfasst und verstanden zu haben glaubt. 4.5.4 Thematisierung des Visuellen In den vorangegangenen Textabschnitten aus den Antiquitates, die sich durch die gezielte Schaffung von enargeia auszeichnen, deutete sich bereits an, dass der Text immer wieder den Vorgang des Sehens thematisiert. Dabei wird das Motiv des Sehens auf unterschiedliche Weise eingesetzt: Zum einen kann es die Handlung vorantreiben, indem ein bestimmter Anblick eine Figur zu einer Reaktion veranlasst. Zum anderen kann es als Ruhepunkt in der Ereignisfolge fungieren, wenn die Figur etwas erblickt, das sie innehalten und bei dem Geschauten verweilen lässt. Damit verbunden bietet das Motiv des Sehens insofern die Möglichkeit zur Erzeugung von Anschaulichkeit, als der Leser durch die Augen der Figuren am Geschehen teilhat. So spielt das Visuelle in der Geschichte um die Horatii und Curiatii eine wichtige Rolle auf mehreren Ebenen. Einerseits wird in der einleitenden Kampf‐ sequenz das Sehen bzw. das Nicht-Sehen-Können der beiden zuschauenden Heere gestalterisch eingesetzt, um enargeia zu generieren. Paradoxerweise dient hier gerade die Inszenierung des Nicht-Sehens als das entscheidende Mittel zur Schaffung von Anschaulichkeit. 347 Andererseits fungiert das Sehen aber auch als Movens, das die Handlung vorantreibt und einen Umschwung des Geschehens mit herbeiführt. 348 Der Text folgt hier dem Schema, dass eine Figur durch den Anblick eines Gegenstands zu einer bestimmten Reaktion motiviert wird. Denn die Schwester des Horatiers erkennt unter den Rüstungen der gefallenen Curiatier das bunte Gewand, das sie selbst für ihren Verlobten als Hochzeitsgeschenk hergestellt hat, und begreift, dass ihr Bruder diesen getötet hat: ἔξω δὲ γενομένη τῆς πόλεως ὡς τὸν ἀδελφὸν εἶδε περιχαρῆ τοὺς ἐπινικίους ἐπικείμενον στεφάνους, οἷς αὐτὸν ὁ βασιλεὺς ἀνέδησε, καὶ τοὺς ἑταίρους αὐτοῦ φέροντας τὰ τῶν πεφονευμένων σκῦλα, ἐν οἷς ἦν πέπλος ποικίλος, ὃν αὐτὴ μετὰ τῆς μητρὸς ἐξυφήνασα τῷ μνηστῆρι δῶρον εἰς τὸν μέλλοντα γάμον ἀπεστάλκει (ποικίλους γὰρ ἔθος ἐστὶν ἀμφιέννυσθαι πέπλους Λατίνων τοῖς μετιοῦσι τὰς νύμφας), τοῦτον δὴ τὸν πέπλον θεασαμένη πεφυρμένον αἵματι τόν τε χιτῶνα κατερρήξατο 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 111 <?page no="112"?> 349 Ant. 3,21,4. 350 Lucretia wird ant. 4,64,4 als die schönste Frau in Rom bezeichnet: ταύτην τὴν γυναῖκα καλλίστην οὖσαν τῶν ἐν Ῥώμῃ γυναικῶν καὶ σωφρονεστάτην ἐπεχείρησεν ὁ Σέξτος διαφθεῖραι […]. 351 Ant. 4,65,1. καὶ ταῖς χερσὶν ἀμφοτέραις παίουσα τὸ στῆθος ἐθρήνει καὶ ἀνεκαλεῖτο τὸν ἀνεψιόν, ὥστε πολλὴν κατάπληξιν εἰσελθεῖν ἅπαντας ὅσοι κατὰ τὸν αὐτὸν ἦσαν τόπον. 349 Als sie, außerhalb der Stadt angelangt, ihren Bruder überglücklich und mit Sieges‐ kränzen bedeckt erblickte, mit denen ihn der König geschmückt hatte, und sah, wie seine Gefährten die Rüstungen der Erschlagenen trugen, unter welchen sich ein buntes Gewand befand, das sie mit ihrer Mutter gewebt und dem Verlobten als Geschenk für die künftige Hochzeit gesandt hatte (denn es ist Brauch, dass diejenigen der Latiner, welche um eine junge Frau werben, bunte Gewänder tragen), als sie also dieses Gewand mit Blut befleckt sah, da zerriss sie ihr Kleid, schlug mit beiden Händen gegen ihre Brust und klagte und rief ihren Vetter beim Namen, so dass alle, die an demselben Ort waren, große Bestürzung überkam. Das blutbefleckte Gewand dient als Mittel der Anagnorisis und löst die emotio‐ nale Reaktion der Schwester aus, die wiederum die emotionale Reaktion des Horatiers provoziert, der die junge Frau mit seinem Schwert tötet. Der Anblick eines Gegenstandes bewirkt somit eine Wendung der Ereignisse und sorgt für neuerliche Dramatik, als das Geschehen mit dem Ende der Kampfhandlung und der siegreichen Heimkehr des Horatius bereits zur Ruhe gekommen schien. Zudem ist die Beschreibung des Gewandes und seiner Geschichte dazu angetan, auch das Mitgefühl des Lesers zu erregen, sowohl im Hinblick auf den gefallenen Curiatier als auch auf die trauernde Horatia. Als weiteres Beispiel sei nun nochmals auf die Lucretia-Erzählung einge‐ gangen, da in ihr der Aspekt des Visuellen wiederholt eine hervorgehobene Rolle spielt. So fungiert das Sehen gleich zu Beginn der Episode als das zentrale Moment, das die Handlung überhaupt erst in Gang bringt, denn Sextus Tarquinius ist von der äußeren Erscheinung der Lucretia derart eingenommen, dass er sie zu begehren beginnt. 350 Das Sehen spielt auch in der eigentlichen Vergewaltigungsszene eine Rolle, hier freilich wiederum in seiner Verneinung, im Nicht-Sehen. 351 Als Sextus Tarquinius mit dem Schwert in der Hand in das Schlafgemach der Lucretia ein‐ dringt, ist es finstere Nacht, so dass Lucretia ihn nicht sehen kann. Ein Geräusch (das nicht näher spezifiziert wird) verrät ihr die Anwesenheit eines Fremden. Ihre Frage, wer er sei, hebt indirekt die im Raum herrschende Dunkelheit hervor. Im Gegensatz zu den übrigen Szenen der Lucretia-Erzählung, die sich durch 112 4 Enargeia <?page no="113"?> 352 Ant. 4,67,1-2. 353 Vgl. Matthes (2000) 35, die den performativen Charakter der Selbsttötung bei Livius hervorhebt: „Her suicide is a performance for a particular audience. Lucretia under‐ stands how her sexual violation will be understood and consequently orchestrates her death in such a way as to ensure that her violation will be read the way she wants.“ Dies gilt analog für Dionysios, wenngleich dieser die Selbststilisierung als exemplum für die Nachwelt, die Lucretia bei Livius mit ihrer letzten Rede vornimmt, nicht in seine Darstellung integriert. S. dazu Kapitel 6.2.2.3.3. 354 Vgl. Matthes (2000) 6 f., auch 9-14. Zur hochemotionalen Konnotation des Anblicks der Leiche vgl. auch Fögen (²2002) 34: „Eine Leiche ist in antiken Kulturen ein unreiner, hoch infektiöser Gegenstand. […] Blutbesudelt und unrein wurde Lucretia vor dem Senatsgebäude öffentlich ausgestellt. So blutrünstig inszeniert Dionysios das Geschehen.“ hohe Bildhaftigkeit auszeichnen, werden hier die Vorgänge dem Leser nicht bildlich beschrieben. Das Fehlen optischer Eindrücke steigert paradoxerweise die Anschaulichkeit der Situation, denn der Leser befindet sich dadurch genauso im Dunklen wie Lucretia. Hierzu kontrastierend funktioniert die Schilderung des Selbstmordes der Lucretia, der sich allerdings im hellen Licht des Tages und in Anwesenheit einer größeren Anzahl von Augenzeugen vollzieht: der Frauen, des Vaters Lucretius und der Patrizier, die dieser auf Wunsch seiner Tochter hat herbeiholen lassen. 352 Die Patrizier werden ausdrücklich hinzugerufen, um als Zeugen ihres Berichtes über die Vergewaltigung zu fungieren; sie dienen als Garanten der Glaubwür‐ digkeit. In diesem Sinne scheint es beinahe, als schrieben die Antiquitates nach Anweisung der Lucretia, indem sie die Tat, die ihr die Ehre genommen hat und die zu erwähnen sie sich schämt, lediglich andeuten und bewusst nicht näher ausgestalten, jedoch im Kontrast dazu Lucretias eigene Tat zur Wiederherstel‐ lung ihrer Ehre durch ausführliche Beschreibung der Nachwelt überliefern. Somit wird die Art und Weise, wie Lucretia ihr Ende erinnert haben will, durch den Text in ihrem Sinne gesteuert. 353 Lucretia befolgt eine wesentliche Forderung der enargeia: Sie stellt ihren Selbstmord den Anwesenden vor Augen und macht sie und darüber auch die Leser zu Augenzeugen ihres Handelns. Der Anblick der Leiche der Lucretia dient als Movens für historisches Geschehen. Es ist die Zurschaustellung der Selbsttötung, der die römischen Pa‐ trizier beiwohnen, und es ist der Anblick des blutüberströmten Leichnams einer jungen Frau, der bei ihnen eine emotionale Reaktion auslöst, nämlich Entsetzen und Mitgefühl von solcher Intensität, dass sie beschließen, der Herrschaft der Tarquinier ein Ende zu bereiten und den Staatsstreich zu planen. 354 Auch als die Patrizier zum Forum ziehen, um die Volksversammlung zum Sturz der Tyrannen 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 113 <?page no="114"?> 355 Vgl. Mastrorosa (2018) 66 Anm. 16, die die Darstellung des aufgebahrten Leichnams zwar mit enargeia in Verbindung bringt, dies jedoch nicht ausreichend konkretisiert, und die zudem den Aspekt des Visuellen nicht erörtert. 356 Ant. 4,76,3. 357 Das Agieren von Patriziern und Plebeiern in gemeinsamer Sache heilt die Spaltung der Gesellschaft, die durch die Umstände der Machtübernahme des Servius Tullius entstanden ist, s. Kapitel 5.3.2.1.1. und 6.2.2.1.1. 358 Ant. 4,39,3-4. aufzurufen, spielt die aufgebahrte Leiche eine Rolle, da ihr Anblick die Plebeier erschüttert und deren Bereitschaft zum Aufstand erhöht: 355 ἠκολούθουν δ᾽ αὐτοῖς οἱ θεράποντες ἐπὶ κλίνης μέλασιν ἀμφίοις ἐστρωμένης κομίζοντες ἀθεράπευτόν τε καὶ πεφυρμένην αἵματι τὴν νεκράν· ἣν πρὸ τοῦ βουλευτηρίου τεθῆναι κελεύσαντες ὑψηλὴν καὶ περιφανῆ συνεκάλουν τὸν δῆμον εἰς ἐκκλησίαν. 356 Es folgten ihnen die Diener, die auf einer mit schwarzen Tüchern bedeckten Bahre den Leichnam trugen, der nicht hergerichtet und von Blut besudelt war: Sie befahlen, diesen vor dem Ratsgebäude erhöht und gut sichtbar abzulegen, und beriefen das Volk zur Versammlung ein. Auch hier ist es wieder der Anblick des Frauenkörpers, der dazu beiträgt, die Plebeier zu gemeinsamem Handeln mit den Patriziern zu bewegen, und so die Eintracht des römischen Volkes generiert. 357 Das Motiv des Sehens spielt auch, wenngleich weniger prominent, eine Rolle in der Szene der Schändung des Leichnams des Servius Tullius durch seine Tochter, die mit dem Maultierkarren über diesen hinwegfährt: ἔτι δὲ νεοσφαγοῦς ἐρριμμένου τοῦ σώματος καὶ σπαίροντος ἡ θυγάτηρ παρῆν. στενοῦ δ᾽ ὄντος πάνυ τοῦ στενωποῦ, δι᾽ οὗ τὴν ἀπήνην ἔδει διελθεῖν, αἱ ἡμίονοι τὸ πτῶμα ἰδοῦσαι διεταράχθησαν, καὶ ὁ προηγούμενος αὐτῶν ὀρεοκόμος παθών τι πρὸς τὸ τῆς ὄψεως ἐλεεινὸν ἐπέστη καὶ πρὸς τὴν δέσποιναν ἀπέβλεψε. 358 Während sein gerade niedergemetzelter Körper noch dalag und und zuckte, erschien seine Tochter. Da die Gasse, durch die der Wagen hindurchfahren musste, überaus eng war, scheuten die Maulesel, als sie die Leiche erblickten, und der ihnen vorangehende Treiber, in dem sich aufgrund des mitleiderweckenden Anblicks ein Gefühl regte, blieb stehen und blickte auf seine Herrin. Das Sehen fungiert an dieser Stelle zum einen als retardierendes Moment, da der Anblick der Leiche sowohl Maultiere als auch Treiber dazu veranlasst, die Fahrt zu unterbrechen. Zum anderen dient es insofern der Schaffung von enargeia, als über die Verwendung von Fokalisatoren die Emotionen des Lesers 114 4 Enargeia <?page no="115"?> 359 Vgl. dazu Wiater (2018) 121 Anm. 175, der ebenfalls das Mitleid als zentralen Aspekt der Darstellung nennt und zudem ausführt: „Dionysius zielt […] auf den Kontrast zwischen dem Maultiertreiber (der als solcher ein einfacher Mann der unteren Klasse ist) und sogar den Maultieren selbst ab, die von dem Anblick erschreckt (ein weiterer zentraler Begriff der „mimetischen“ Geschichtsschreibung) und bewegt werden, und der eigenen Tochter des Toten, die den Wagen brutal über den Leichnam fahren lässt. Der Leser wird sich hier mit seiner eigenen Reaktion eher auf der Seite des einfachen Maultiertreibers befinden und sich emotional-wertend von Tullia distanzieren.“ 360 Ant. 5,8,1-6. Weitere Textpassagen, in denen das Visuelle eine geschichtsbewegende Rolle spielt, sind ant. 4,2,1-2 und 4,2,4 (Wunderzeichen im Zusammenhang mit der Abstammung des Servius Tullius), ant. 4,4,3 und 4,5,1-2 (Tanaquils List nach dem Anschlag auf Tarquinius), ant. 4,8,3 (Rede des Tullius in Begleitung der Enkel des Tarquinius), ant. 4,10,6 (Auftreten des Tullius als Redner), ant. 4,38,3 und 4,38,6 (Konfrontation zwischen Tullius und Tarquinius Superbus in der Kurie). 361 Die Szene bildet einen Kontrast zum Vorangegangenen ant. 5,72,2-3, der Schilderung der Aktionen der Verschwörer, die im Verborgenen stattfinden. Bezeichnenderweise wird die Verschwörung verraten, da ein Sklave durch einen Spalt in der Tür alles beob‐ achtet hat. Auch hier spielt also das Sehen eines Vorgangs eine handlungsmotivierende Rolle. 362 Ant. 5,8,2. aktiviert werden: Die Tiere und der Treiber sind von dem, was sie sehen, zutiefst erschüttert und erregen mit ihrer Reaktion das Mitgefühl des Rezipienten für den ermordeten König und Ablehnung gegenüber Tullia. 359 In der Erzählung von der Verurteilung und Hinrichtung der Söhne des Brutus wird in ähnlicher Weise das Moment des Sehens als gestalterisches Mittel nutzbar gemacht. 360 Auch hier spielt das Visuelle eine zentrale Rolle für den Gang der Handlung und die Reaktionen der Figuren, durch welche die Interpretation des Lesepublikums beeinflusst wird. So spielt sich der ganze Vorgang am frühen Morgen bei hellem Tageslicht ab, zumal in aller Öffentlichkeit, auf den Rostra vor versammelter Bürgerschaft. 361 Brutus nimmt in seiner Funktion als Konsul die Briefe der Verschwörer in Empfang und erblickt darunter auch diejenigen, die seine Söhne verfasst haben. Das Erblicken und Erkennen von Siegel und Handschrift ist ein wesentliches Element im Erzählzusammenhang und wird daher ausdrücklich erwähnt: ὡς εὗρε τὰς ὑπὸ τῶν υἱῶν γραφείσας [sc. τὰς ἐπιστολάς] ταῖς σφραγῖσιν ἑκατέραν γνωρίσας καὶ μετὰ τὸ λῦσαι τὰ σημεῖα τοῖς χειρογράφοις, ἀναγνωσθῆναι πρῶτον ἐκέλευσεν ἀμφοτέρας ὑπὸ τοῦ γραμματέως εἰς τὴν ἁπάντων τῶν παρόντων ἀκοήν· 362 Als er die beiden von seinen Söhnen geschriebenen Briefe an den Siegeln und, nachdem diese gelöst worden waren, an der Handschrift erkannt hatte, befahl er zuerst, dass beide vom Schreiber vorgelesen würden, auf dass alle Anwesenden es hören sollten. 4.5 Verfahren der enargeia in den Antiquitates Romanae 115 <?page no="116"?> 363 Ant. 5,8,3; 5,8,6. 364 Ant. 5,8,5. Zum einen erhöht die Erwähnung des Sehvorganges die Anschaulichkeit der Darstellung, zum anderen wirkt das aus dem Sehen resultierende Begreifen der Situation durch Brutus als Ursache für die nun folgenden Ereignisse, die Verurteilung und Hinrichtung seiner eigenen Söhne. Die nun folgenden Geschehnisse auf der Rednertribüne, denen die römische Bevölkerung als Augenzeuge beiwohnt, erregen bei dieser eine hochemotionale Reaktion. 363 Die Bürger sehen mit an, wie Brutus seine Söhne zu sich ruft und sie zum Tode verurteilt; sie sehen seinen Gesichtsausdruck und den der beiden jungen Männer, sie sehen ihr Flehen und ihre Angst, und sie müssen ebenso wie Brutus dabei zusehen, wie sie auf grausame Art gefoltert und enthauptet werden. Der Aspekt des Visuellen wird dabei wiederholt hervorgehoben: οὔτε γὰρ ἄλλοθί που συνεχώρησεν ἀπαχθέντας τοὺς υἱοὺς ἔξω τῆς ἁπάντων ὄψεως ἀποθανεῖν, οὔτ᾽ αὐτὸς ἐκ τῆς ἀγορᾶς ὑπανεχώρησεν, ἕως ἐκεῖνοι κολασθῶσι, τὴν δεινὴν θέαν ἐκτρεπόμενος, οὔτ᾽ ἄνευ προπηλακισμοῦ ἀφῆκεν αὐτοῖς τὴν ἐψηφισμένην ἐκπληρῶσαι μοῖραν· ἀλλὰ πάντα τὰ περὶ τὰς τιμωρίας ἔθη καὶ νόμιμα φυλάττων, ὅσα τοῖς κακούργοις ἀπόκειται παθεῖν, ἐν ἀγορᾷ πάντων ὁρώντων αἰκισθέντας τὰ σώματα πληγαῖς, αὐτὸς ἅπασι τοῖς γιγνομένοις παρών, τότε συνεχώρησε τοὺς αὐχένας τοῖς πελέκεσιν ἀποκοπῆναι. 364 Denn weder gestattete er, dass seine Söhne anderswohin weggeführt und außer Sichtweite aller starben, noch zog er sich selbst vom Marktplatz zurück, bis jene bestraft worden waren, und wandte sich von dem schrecklichen Anblick ab, noch ließ er zu, dass sie ohne Misshandlung das ihnen bestimmte Schicksal erfüllten: Stattdessen wahrte er bei der Bestrafung alle Sitten und Gebräuche, welche Übeltäter zu erleiden haben, und nachdem ihre Körper auf dem Marktplatz vor aller Augen durch Schläge gequält worden waren, wobei er selbst bei allem zugegen war, da getattete er, dass man ihnen den Hals mit Beilen durchtrennte. Die Autopsie des Brutus und des Volkes wird ausdrücklich und wiederholt genannt und dient der kontrastierenden Gegenüberstellung beider Reaktionen: Im Gegensatz zur Bevölkerung lässt Brutus sich von dem, was er sieht, gerade nicht emotional beeinflussen, sondern behält in unmenschlich scheinender Weise seine sachliche Distanz als Amtsträger. Die Volksmenge wird demgegen‐ über zum Repräsentanten einer humanen Haltung, mit der das intendierte griechische Lesepublikum sich höchstwahrscheinlich identifizieren wird. Dieser extreme Kontrast verstärkt zusätzlich zur Schilderung des bloßen Geschehens 116 4 Enargeia <?page no="117"?> 365 Vgl. ant. 5,8,1. den Eindruck der Erschütterung und des Unglaublichen, der sich beim griechi‐ schen Leser in Bezug auf das unerbittliche Verhalten des Brutus einstellt. 365 4.6 Ergebnisse Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Die Bücher zur Königszeit verwenden gezielt narrative Verfahren zur Schaffung von Anschaulichkeit, die den Rezipienten zur emotionalen wie kognitiven Interaktion mit der Erzählung veranlassen. Dabei setzen sie vor allem auf die Aktivierung der Gefühle des Lesers, auf die ausführliche Darstellung äußerer wie innerer Vorgänge und auf den Einsatz von Fokalisatoren. Hinzu kommt die Thematisierung des Sehvorgangs, die zum einen ebenfalls der Erzeugung von enargeia dient und zum anderen immer wieder auf metatextueller Ebene zu Reflexionen über das historische Geschehen anregt. Häufig treten diese Verfahren in Kombination auf und lenken so die Aufmerksamkeit des Lesers auf bestimmte Szenen, die für den Fortgang der Erzählung bzw. der römischen Geschichte von erhöhter Bedeutung sind. Der Umgang mit diesen Strategien der Anschaulichkeit spiegelt die theoreti‐ sche Beschäftigung des Dionysios mit enargeia in den Scripta rhetorica wider, da diese darunter die Ausführlichkeit der Erzählung (Lys. 7,1) ebenso verstehen wie die Einbeziehung der Emotionen des Lesers; hinzu kommt der Aspekt der Plausibilität, die mittelbar zur Anschaulichkeit beiträgt und die in den Büchern der Königszeit wiederholt durch psychologischen Realismus generiert wird. Mithilfe der Schaffung von enargeia gelingt es dem Text, eine bestimmte Sichtweise auf die historischen Ereignisse zu transportieren, die sich aus der Interaktion des Lesers mit der Erzählung ergibt. Die beobachtete ausführliche Beschreibung der inneren Vorgänge der Fi‐ guren, ihrer Gefühle und Überlegungen, durch die ihr Handeln motiviert und für den Leser begreifbar wird, ist an sich untypisch für die antike Geschichts‐ schreibung. Der konventionelle Ort für eine solche Schilderung ist die direkte Rede, wie sie denn auch von Historikern vielfach genutzt worden ist, um sichtbar zu machen, aufgrund welcher rationalen und irrationalen Beweggründe die historischen Personen in einer bestimmten Situation so und nicht anders reagieren. Darüber hinaus kann mittels einer Rede auf elegante Weise eine Charakterisierung der Figuren vorgenommen werden, die über die Darlegung von Handlungsmotivationen hinausgeht. Zwar nutzen die Antiquitates Romanae diese Möglichkeit, die ihnen die Rede bietet; sie geben sich jedoch damit nicht 4.6 Ergebnisse 117 <?page no="118"?> 366 Vgl. Verdin (1974) 305: „La fonction de l’enargeia, selon Denys, réside plutôt, nous semble-t-il, dans sa force d’argumentation.“ 367 Ant. 8,39-54. zufrieden. Es ist, als reiche es dem Autor nicht aus, als wolle er sich nicht darauf verlassen, dass der Leser die notwendigen Informationen, die er zum Verständnis und zur Deutung einer Figur oder eines Vorganges braucht, aus dem Geschehen selbst und/ oder aus einer direkten Rede zu entnehmen versteht. Dionysios möchte durch seine ebenso subtile wie eindringliche Leserlenkung sicherstellen, dass die Sichtweise der römischen Frühzeit, die er dem griechi‐ schen Publikum vermitteln möchte, auch tatsächlich übernommen wird. 366 Die in den Königszeitbüchern erkennbare Tendenz zur eindringlichen Aus‐ gestaltung von Einzelszenen unter Verwendung von Techniken der enargeia setzt sich in den Büchern der Antiquitates, die die Zeit der römischen Republik zum Inhalt haben, nicht in gleichem Maß fort. Die emotionale Involvierung des Lesers findet ab dem sechsten Buch reduzierter statt; eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, stellt indes die großangelegte Szene dar, in der von der Gesandtschaft der römischen Frauen berichtet wird, die sich unter der Führung von Valeria und Veturia in das Lager des Coriolan begeben, um diesen um die Beilegung des Konfliktes mit Rom zu bitten. 367 118 4 Enargeia <?page no="119"?> 368 An umfassenden jüngeren Untersuchungen sind beispielsweise Hagmaier (2008) zu Thukydides und Scardino (2007) zu Herodot und Thukydides zu nennen. 369 S. Kapitel 2. 370 Zu nennen sind v. a. Wiseman (1979) 51 f.; Richard (1993); Valette (2012); Schultze (2019). Zu stilistischen Vorbildern der Reden bei Dionysios s. Flierle (1890). Peter (1874) ist ein typisches Beispiel für die ältere Forschungsmeinung abwertender Tendenz, s. ebd. 522: „Es bleibt uns nun noch übrig, eine Seite der Auffassung und Darstellung des Dionysius ins Auge zu fassen, in welcher sich seine Art und Weise am deutlichsten verräth. Es ist dies seine Rhetorik, die theils in den endlosen, das ganze Gepräge eigener Erfindung an sich tragenden, oft nachweisbar aus kurzen Notizen herausgesponnenen Reden theils in den nicht selten ans Lächerliche anstreifenden Uebertreibungen hervortritt.“ 5 Reden Anders als in modernen Geschichtsdarstellungen üblich, integriert der antike Historiker häufig direkte Reden in sein Narrativ, die den Figuren meist an einem für den weiteren Fortgang des Geschehens bedeutsamen Punkt in den Mund gelegt werden. In diesem Kapitel soll es um die Frage gehen, welche Funktionen mit der Verwendung direkter Rede in den Büchern der Königszeit der Antiquitates Romanae verbunden sind. Zu diesem Zweck möchte ich un‐ tersuchen, welche Bedeutung Reden auf der Erzählebene für die historische Handlung besitzen, und daher die Aufmerksamkeit auf ihre Verankerung im Erzählkontext und etwaige Wechselwirkungen mit diesem lenken, ebenso wie auf Aspekte der Sinnstiftung und der indirekten Figurencharakterisierung. Welche Wirkung auf den Rezipienten verfolgen die Reden? Welchen Einfluss haben sie auf seine Deutung der römischen Geschichte? Eine systematische Untersuchung der Reden in den Antiquitates Romanae steht derzeit noch aus; erstaunlicherweise wurden sie von der Forschung bislang nur wenig beachtet, obwohl dem Thema der Rede bei anderen griechischen Historikern große Auf‐ merksamkeit geschenkt wurde. 368 Dieser Umstand mag umso mehr befremden, als Dionysios lange Zeit primär als Rhetoriker wahrgenommen wurde. 369 Zwar gibt es einzelne Studien zu bestimmten Reden, doch nur wenige übergreifende Ansätze. 370 Hinzu kommt, dass letztere tendenziell eher allgemeine Aussagen <?page no="120"?> 371 So widmet Meins (2019) den Reden in den Antiquitates Romanae einen (kurzen) Abschnitt, doch enthält dieser primär Überlegungen, welche Wirkungsweise Dionysios einer Rede sowohl in der Erzählung als auch in der politischen Praxis zugeschrieben habe, und führt dafür nur wenige Beispiele an. Darüber hinaus sind die theoretischen Aussagen des Dionysios über die Rolle von Reden im Geschichtstext mit Ausnahme von ant. 7,66 dort nicht berücksichtigt; vgl. Meins (2019) 139-152. Kefallonitis (2008) befasst sich u.a. mit der Rolle der Reden im siebten Buch der Antiquitates, doch dies vorrangig unter dem Aspekt ihrer strukturellen Bedeutung für die Einheit des Buches. 372 Vgl. Pausch (2010b) 3 und (2011) 158. Bereits Polybios fordert, bei der Wiedergabe einer Rede auch deren Veranlassung und Gründe sowie deren Folgen zu nennen, s. Pol. 12,25b1-2, dazu Meins (2019) 140. über die Verwendung der Rede durch Dionysios machen, ohne sie anhand von Beispielen zu veranschaulichen. 371 Das Kapitel ist folgendermaßen strukturiert: Der eigentlichen Untersuchung geht ein kurzer Überblick über die Rolle der Rede in der griechisch-römischen Historiographie und ihrer möglichen Funktionen voraus. Im Anschluss daran werden zentrale Aussagen, die Dionysios in den Antiquitates Romanae und in den Scripta rhetorica zu diesem Thema vornimmt, beleuchtet und in Beziehung zu der Frage gesetzt, welche Kriterien er bei der Verwendung von Reden in einem Geschichtswerk für maßgeblich erachtet. Hierauf werden mehrere umfassendere direkte Reden aus den Büchern der Königszeit exemplarisch im Hinblick auf die oben umrissene Fragestellung untersucht. Dabei wird sich zeigen, dass es kaum möglich ist, einer einzelnen Rede lediglich eine einzige Funktion zuzuweisen, da Dionysios die Einschaltung von Reden häufig zur Umsetzung mehrerer gleichzeitiger Darstellungsziele nutzt. 5.1 Reden in der griechisch-römischen Historiographie und ihre Funktionen Reden in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung werden häufig als von der Erzählung isolierbare Einheiten betrachtet und ohne Einbeziehung des Kontextes und der Rolle der Reden im Erzählganzen analysiert, wobei sprachlich-stilistische Kriterien im Vordergrund stehen. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass Reden oftmals zu Glanzstücken der Erzählkunst des jeweiligen Autors ausgearbeitet sind, mit dem Ziel, beim Rezipienten bereits durch eine eindrucksvolle ästhetische Wirkung eine bestimmte (oder mehrere gleichzeitige) Reaktion(en) hervorzurufen. Die Verflechtungen mit dem unmit‐ telbar vorhergehenden und ihre Bedeutung für das weitere Geschehen geraten dabei leicht in den Hintergrund. 372 Eine solche Herangehensweise ist insofern als problematisch anzusehen, als häufig Wechselbeziehungen zwischen einer 120 5 Reden <?page no="121"?> 373 Vgl. dazu Pausch (2010b) 4, wonach neben dem unmittelbaren Kontext einer Rede, dem direkt vorangehenden und dem direkt nachfolgenden Geschehen, auch der weitere Kontext im Sinne anderer Partien desselben Geschichtswerkes oder intertextueller Bezüge zu anderen Werken zu berücksichtigen ist. 374 Vgl. Fox / Livingstone (2007) 542. 375 Walbank (1985a) 242 mit Verweis auf Thuc. 1,22,1-2; Dion. Hal. imit. 3,3 und Pomp. 3,20 sowie Thuc. 25,1 und 55,3; Quint. inst. 10,1,101. Vgl. ferner Fornara (1983) 143f. 376 Vgl. Woodman (1988) 13. Vgl. auch Fox / Livingstone (2007) 543: „Wars and political debates make up a substantial proportion of all historical texts; public speech-making can, along with battles, be seen as the main political event in classical antiquity.“ Zur politischen Rolle der Rede in der römischen Republik s. Hölkeskamp (1995), besonders 16 f., und Connolly (2007); zur Rolle der politischen Rede im archaischen und klassischen Griechenland Scardino (2007) 46-49. Vgl. treffend Marincola (²2008) 118: „It would be difficult to over-emphasize the importance of speech in Greek and Roman life. Classical societies were dominated by the spoken word: facility and accomplishment in speaking were, after military achievement, the greatest glories one could win, and assured the way to success and renown.” 377 Zu Kratippos s. Dion. Hal. Thuc. 16,2, zu Pompeius Trogus Just. epit. 38,3,11. Justin weist an der genannten Stelle darauf hin, dass die von ihm 38,4-7 gebrachte Rede des Mithridates bei Pompeius Trogus als oratio obliqua stehe und dieser an Livius und Sallust die Verwendung direkter Reden pro sua oratione getadelt habe. Hieraus wird gemeinhin der Schluss gezogen, dass Trogus auf den Einsatz umfangreicherer direkter Reden vollständig verzichtet habe. Aufgrund des Umstandes, dass uns der Text des Pompeius Trogus nur in der durch Justin bearbeiteten Form vorliegt, ist eine eindeutige Rede und ihrem (unmittelbaren und/ oder mittelbaren) narrativen Kontext 373 bestehen, die für ihre Aussage und Funktion relevant sind. Die Betrachtung von Reden in antiken Geschichtswerken wird darüber hinaus erschwert durch die unterschiedlichen Auffassungen von Geschichts‐ schreibung einerseits und Rhetorik andererseits, die für die Antike und für die Moderne gelten. 374 Das Vorkommen weitgehend fingierter Reden in einem Geschichtstext stellte für den antiken Rezipienten keineswegs eine Irritation dar, sondern gehörte wie andere Elemente (etwa Schlachtenbeschreibungen) zur Gattung der erzählenden Historiographie. Das historische Geschehen stellte sich den Griechen als eine Einheit aus Handlungen und Reden bzw. Überle‐ gungen dar, πράξεις καὶ λόγοι, 375 denn Historie war in erster Linie politische Geschichte. Dabei besaß die Rhetorik in der politischen Praxis demokratischer oder oligarchischer Poleis eine zentrale Funktion, da sich das dortige politische Leben mittels Rede und Gegenrede vollzog. 376 In der griechisch-römischen Antike war die Verwendung längerer direkter Reden in einem historiographischen Text die Norm, von der lediglich zwei Ausnahmen überliefert sind. Es handelt sich um den unter Augustus oder Tibe‐ rius schreibenden Pompeius Trogus sowie den von Dionysios von Halikarnass erwähnten Athener Kratippos, der wohl ein Zeitgenosse des Thukydides war. 377 5.1 Reden in der griechisch-römischen Historiographie und ihre Funktionen 121 <?page no="122"?> Beantwortung dieser Frage jedoch kaum möglich. Vgl. Fornara (1983) 143 und 161 f.; Walbank (1985a) 242 Anm. 2; Adler (2011) 37-58. Fornara (1983) 143 Anm. 1 datiert Kratippos etwas später als Thukydides: „In all probability, Cratippus was a Hellenistic writer justifying his own aversion to the speech at a time when it had become vulnerable to attack.“ Vgl. zur Konvention der Rede im antiken Geschichtswerk Woodman (1988) 13 sowie Marincola (²2008) 119. 378 Vgl. Cartledge (1990) 33. 379 Vgl. Woodman (1988) 13, Walbank (1985a) 243; Gould (1989) 48f. 380 So Walbank (1985a) 243: „To let historical characters speak for themselves is, however, a more dramatic method and recalls the long association of historiography from its earliest beginnings with epic and drama.“ Ebenso Walbank (1985b) 237: „History and tragedy are thus linked together in their common origin in epic, in their use of comparable and often identical material, and in their moral purpose. It is therefore not very surprising that the treatment proper to one genre should fairly frequently be applied to the other, and that the historian who seeks to play upon his reader’s emotions should be attacked as a would-be tragedian.“ Laut Markellinos (Vita Thuc. 38) führte Herodot das Mittel der direkten Rede in die Geschichtsschreibung ein, vgl. Fornara (1983) 143. 381 So Kratippos, FGrHist 64 F 1 (= Dion. Hal. Thuc. 16,2); Diod. 20,1,1-2,2; Just. epit. 38,3,11. Für diese und weitere Stellen vgl. Marincola (²2008) 118 ff. Vgl. auch Fornara (1983) 146-151. Zur Problematik ferner Fox / Livingstone (2007); zur Redenkritik des Polybios Fornara (1983) 157 f. und Nicolai (2017) 46 sowie Meins (2019) 63f. Die Gründe für diese heute ungewöhnlich anmutende darstellerische Praxis sind in der Forschung bereits vielfach untersucht worden; sie lassen sich, abge‐ sehen vom genannten lebensweltlichen Bezug, auf die gattungsgeschichtliche Verwandtschaft der Geschichtsschreibung mit dem Epos zurückführen: Die Geschichtsschreibung übernahm sowohl ihr ur-eigentliches Thema, die κλέα ἀνδρῶν, 378 als auch verschiedene narrative Mittel wie die Rede aus dem Epos als der ersten literarischen Gattung der Griechen; die homerischen Helden halten oft und gerne Reden. 379 Zudem scheint nicht nur das Epos, sondern ebenso das Drama auf diese Entwicklung Einfluss gehabt zu haben. 380 Zwar lassen sich in der griechisch-römischen Literatur bisweilen auch Stimmen vernehmen, die die Verwendung von Reden in Geschichtsdarstel‐ lungen kritisieren, jedoch scheint es sich in den betreffenden Quellen weit‐ gehend um eine literaturästhetische Problematik zu handeln, etwa um die Verwendung zu langer oder zu häufiger direkter Reden oder um deren über‐ mäßige Ausschmückung und daraus möglicherweise erwachsende negative Auswirkungen auf die Rezeption, weniger um ein Infragestellen von Reden im Geschichtstext an sich. 381 Anstatt aus heutiger Perspektive das Vorkommen direkter Rede in einem Geschichtswerk per se zu problematisieren, gilt es vielmehr die Literarizität antiker Geschichtserzählungen zu bedenken, die eine strikte Trennung von Dar‐ 122 5 Reden <?page no="123"?> 382 So auch Fox (2001) 77. Vgl. Hose (2009) 185. 383 Vgl. Fornara (1983) 155 zur Thematik, hier speziell mit Bezug auf die Reden im Geschichtswerk des Thukydides: „But is it not evident that our dilemma is the special dilemma of our own traditional scholarship, of a modern literary and historical criticism disoriented by our habituation to quotation marks and unsettled by the need to separate the Thucydidean element from the historical “document”? In other words, our problem arises from our insistence on a clear-cut distinction between objective and subjective truth.” 384 S. Marincola (²2008) 121 f., besonders 122: „It is not a question of mendacity, but rather that the historian focuses on the things that he has decided are important and conducive to a “proper” interpretation.” Vgl. auch 121: „[…] in almost every historiographical speech there will have been a mixture of what was actually known and what could be surmised.” 385 Marincola (²2008) 122. stellungsweise und Inhalt nicht kennen. Dieser Eigenart entbehrt die moderne Geschichtsschreibung, so sie wissenschaftlichen Anspruch erheben will. Die Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts nahm an, dass jedes geschichtliche Ereignis einen objektiv wahren Kern besitze, welcher nicht durch interpretie‐ rende Darstellungen des Historikers „verfälscht“ werden dürfe. 382 Eine solche Herangehensweise sieht denn auch im Einsatz direkter Rede ein Problem, da sie die Frage nach der Unterscheidung von Autorstimme und Sprecherstimme und damit auch der Authentizität der Rede aufwirft. 383 Doch geht man bei dieser Sichtweise von falschen Prämissen aus und verkennt einerseits das Selbstver‐ ständnis erzählender Geschichtsschreibung als Literatur, die eine bestimmte Wirkungsabsicht verfolgt, andererseits die Arbeitsweise ihrer Verfasser. Letz‐ teres wird beispielsweise hervorgehoben von John Marincola, der gegenüber dem Bemühen um die Aufteilung von Geschichtstexten in „fiktionale“ und „wahre“ Elemente zugunsten einer literarischen Betrachtung argumentiert, die vielmehr von einer Frage der Fokalisierung ausgeht und der zufolge der antike Historiker wie jeder andere Schriftsteller seinen Stoff nach ästhetischen und intentionalen Gesichtspunkten behandelt, manches in seine Darstellung aufnehmend oder hervorhebend, anderes wiederum weglassend, je nachdem, ob sich bestimmte Elemente in seine Deutung und Leserlenkung einfügen oder ihr im Wege stehen. 384 So konnte etwa Thukydides eine bestimmte, historisch bezeugte, Rede nicht oder zumindest nicht in ihrem genauen Wortlaut doku‐ mentiert finden und ließ sich bei der Schilderung in seinem Werk von einem gewissen Maß an „imaginative reconstruction“ 385 leiten, da er auf die Rede nicht verzichten wollte, weil sie ihm für seine Darstellung von Wert erschien. Hierbei spricht der Sprecher zwar so, wie er nach dem Verständnis des Thukydides 5.1 Reden in der griechisch-römischen Historiographie und ihre Funktionen 123 <?page no="124"?> 386 S. Marincola (²2008) 122. Vgl. Woodman (1988) 9-15 und Walbank (1985a) 244-246 zu Thuc. 1,22. 387 Vgl. Pausch (2010b) 1; Pausch (2010c) 35 f.; Pausch (2011) 160-165; Pritchett (1975) xxix. Vgl. ferner Marincola (²2008) 120-127 sowie Morgan (2007). Fornara (1983) 142-168 zufolge war mit dem Redensatz des Thukydides das Prinzip der möglichst getreuen inhaltlichen Wiedergabe einer Rede in die Geschichtsschreibung eingeführt und wurde bis zum Beginn der Kaiserzeit als verbindlich angesehen, wobei man dem Historiker allerdings gewisse Freiheiten in der Gestaltung der Rede zugestand. 388 Woodman (1988) 14. Dies sei ein Teil der antiken Weltsicht, der dem heutigen Menschen fehle. 389 So auch Marincola (²2008) 120 unter weiterem Hinweis darauf, dass sich bei einer tatsächlich gehaltenen Rede die einzelnen Zuhörer unterschiedlich an Wortlaut und Argumentation erinnert haben werden, unterschiedliche Fassungen bzw. Wiedergaben folglich unvermeidlich waren. 390 Pausch (2010c) 51. in der gegebenen Situation wahrscheinlich gesprochen habe, jedoch dessen ungeachtet mit der Stimme des Thukydides. 386 Für unsere Fragestellung ist der Grad der Authentizität einer Rede somit von nachgeordneter Bedeutung; es soll nicht darum gehen, anhand redenim‐ manenter und kontextueller Kriterien zu bestimmen, wie hoch die Wahrschein‐ lichkeit ist, dass eine bestimmte Rede tatsächlich so oder anders (oder überhaupt nicht) gehalten wurde. Vielmehr gilt es, ihre Rolle als literarisches Darstellungs‐ mittel in den Blick zu nehmen und ihre Funktion im Erzählganzen sowie die mit dieser einhergehende Wirkung auf den Rezipienten näher zu bestimmen. Eine solche Herangehensweise liegt umso näher, als davon auszugehen ist, dass ein antiker Rezipient um den fiktiven Charakter der Reden wusste. 387 Woodman vertritt die Auffassung, dass diese für den Leser eine Realität „of their own“ hatten. 388 Zudem dürfte es einem antiken Historiker natürlich schwer möglich gewesen sein, den exakten Wortlaut einer Rede zu eruieren, die zwar tatsächlich ge‐ halten, jedoch nicht aufgezeichnet und publiziert wurde. 389 In der philologischen Forschung herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, „dass die meisten antiken Historiker gar nicht den Anspruch erhoben haben, in ihren Werken die direkte Wiedergabe eines häufig nicht existenten, jedenfalls aber kaum dokumentierbaren Originals [einer Rede] zu bieten. Vielmehr ist es offenkundig ihr Anliegen, dem Leser durch weitgehende Umformulierungen, den Verzicht auf die Aufnahme publizierter Reden und explizite Hinweise auf die Fiktiona‐ lität zu verdeutlichen, dass diese Reden gerade auch als ihre eigene Stimme und damit als Teil der historiographischen Darstellung verstanden werden sollen.“ 390 Bereits einleitende Formulierungen des Erzählers, die das Ungefähre 124 5 Reden <?page no="125"?> 391 Vgl. Pausch (2010c) 57. Für eine knappe Zusammenstellung derartiger Floskeln s. Marincola (²2008) 120. Vgl. Laird (1999) 124 f. zu Formeln wie locutus fertur: „The presence or absence of such an expression in connection with presentations of speech in historiography is really no criterion at all for the faithfulness of the rendering to anything that might have been originally uttered. It has everything to do with a historical narrator’s rhetoric and virtually nothing to do with the truth of the case.“ 392 Woodman (1988) 14 verweist darauf, dass die wörtliche Wiedergabe einer Rede durch den antiken Historiker zum einen kaum im Bereich des quellentechnisch Möglichen lag, zum anderen jedoch auch nicht als erstrebenswert angesehen wurde. Vgl. ebd. 13: „Verbatim speeches and classical historiography are a contradiction in terms. As far as I know, the only historian who included verbatim speeches was Cato - and it is significant that they were his own speeches.“ Eine andere Auffassung vertritt Fornara (1983) 143 f., der aus Thuc. 1,22,1 folgert, Thukydides habe zumindest in der Theorie das Ideal der wörtlich wiedergegebenen Rede vertreten. 393 So bereits bei Homer; vgl. de Jong (1991) 131 f.; Scardino (2007) 52; Marincola (²2008) 120. 394 Scardino (2007) 53; 59; 122. des Wortlautes andeuten, wie τοιαῦτα oder talia, konnten vom Leser als Fiktionalitätssignal aufgefasst werden. 391 Es versteht sich im Grunde von selbst, dass eine Rede in einem antiken Geschichtswerk in aller Regel nicht den originalen Wortlaut wiedergibt, ihn schwerlich wiedergeben kann, da der Historiker meist nicht über die entspre‐ chenden Quellen verfügte, zumal wenn er selbst nicht als Augenzeuge zugegen gewesen war, 392 etwa weil er über eine weit zurückliegende Zeit schrieb, wie es auf Dionysios und seine Darstellung der römischen Frühgeschichte zutrifft. Die Einschaltung einer direkten Rede durch den Historiker kann dabei verschiedene Funktionen erfüllen: Zum einen generiert sie innerhalb des Erzähl‐ textes einen dramatisierenden Effekt. Sie trägt zum Eindruck von Lebendigkeit bei und dient insofern der variatio, als sie den Erzählfluss zu unterbrechen und der Gefahr der Monotonie entgegenzuwirken vermag, die sich ohne Ab‐ wechslung in der Präsentationsform des Stoffes leicht einstellen könnte. Mit den Schlagworten Dramatisierung des Geschehens und Spannungserzeugung, Retardierung und Aufbau bestimmter Erwartungen in Bezug auf den Fortgang der Ereignisse lässt sich diese Funktion der direkten Rede grob umreißen. 393 Zum anderen bieten direkte Reden dem Erzähler die Möglichkeit zu indirekter Charakterisierung der sprechenden Figur, ohne dass er dafür auf auktoriale Kommentierungen zurückgreifen muss. 394 Dabei kann der Historiker der Figur 5.1 Reden in der griechisch-römischen Historiographie und ihre Funktionen 125 <?page no="126"?> 395 Scardino (2007) 122. Zu berücksichtigen ist, dass der Historiker die Möglichkeit hat, seine Figuren in trügerischer Absicht sprechen und sie ihren tatsächlichen Charakter zunächst verbergen zu lassen. Beispiele hierfür sind die (indirekte) Rede des Ambiorix an die römischen Gesandten Caes. Gall. 5,27 oder die an Seneca gerichtete Rede des Nero Tac. ann. 14,55-56. Die Aufdeckung des „wahren“ Charakters des Sprechers erfolgt im erstgenannten Beispiel verzögert, als sich Caes. Gall. 5,32 herausstellt, dass Ambiorix die Römer mit seinen Worten in eine Falle gelockt hat. Der Historiker kann aber auch im unmittelbaren Kontext einer Trugrede durch entsprechende Hinweise ihren Charakter als solche kennzeichnen, wie dies im Anschluss an die Nero-Rede Tac. ann. 14,56 geschieht. Zu Trugreden in der antiken Literatur vgl. Fuchs (1993) und Grossardt (1998), die allerdings ihr Vorkommen in der Geschichtsschreibung nicht berücksichtigen. 396 So auch Marincola (²2008) 119. 397 Tac. Agr. 30-32. Als weitere Beispiele wären zu nennen Liv. 9,1; Tac. ann. 12,37. Vgl. Marincola (²2008) 119. Was Reden betrifft, die römische Historiker Vertretern anderer ethnischer Gruppen in den Mund legen, so hat Adler (2011) gezeigt, dass die Gleichsetzung „nicht-römischer Sprecher = anti-römische Tendenz der Rede” keines‐ wegs als verbindlich anzusehen ist, sondern die Aussage derartiger Reden (bzw. ihrer jeweiligen Verfasser) häufig komplex und erst durch eine differenzierte Interpretation zu erschließen ist. 398 So nutzt Thukydides die Verwendung von Antilogien, um „l’ensemble d’une situation“ zu analysieren, s. de Romilly (1956) 187. Vgl. dazu Stahl (1966) 31f. 399 Vgl. Scardino (2007) 44; Pausch (2011) 187-189. individuelle Züge verleihen, doch ist dies eher unüblich; oftmals sind die Redner als Typen charakterisiert. 395 Reden können zudem über erklärende bzw. kommentierende Funktion ver‐ fügen: Sie geben dem Leser Aufschluss über die Motivierung der Akteure, über ihre Überlegungen und die Beweggründe für ihr Tun, und tragen auf diese Weise zum Verständnis des Geschehens bei. 396 Dies lässt sich ausweiten auf Sprecher, die unterschiedliche Ansichten über ein und dieselbe Thematik vertreten, auf von Antagonisten bzw. Feinden gehaltene Reden, wie im Falle der berühmten Calgacus-Rede bei Tacitus. 397 In Form von Rede und Gegenrede, der sogenannten Antilogie, kann der Historiker ein und denselben Sachverhalt aus der Perspektive zweier Figuren präsentieren. 398 Indem die Reden das Für und Wider reflektieren, eröffnet sich dem Autor der Weg zu einer multiperspekti‐ vischen bzw. polyphonen Geschichtsdarstellung, welche den Rezipienten die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachten und ihn zu der Erkenntnis gelangen lässt, dass es eine einzige und objektiv „richtige“ bzw. „wahre“ Sicht auf die Geschichte schwerlich geben kann. 399 Daneben ist der His‐ toriker jedoch auch in der Lage, durch die stärkere Gewichtung einer der beiden Reden einer bestimmten Sichtweise den Vorzug zu geben. Darüber hinaus kann die Einschaltung einer Rede einen Ort für übergreifende Reflexionen schaffen, welche nicht allein auf das unmittelbar dargestellte Geschehen bezogen sind, 126 5 Reden <?page no="127"?> 400 Vgl. Adler (2011) 11, der zudem darauf hinweist, dass eine Rede auch „partly in homage to an earlier historian“ verfasst werden könne. Dies lässt sich freilich weiter fassen, da sich dem Historiker durch die Evozierung entsprechender intertextueller Bezüge nicht nur die Möglichkeit zur Ehrbezeugung, sondern im Gegenteil auch zur bewussten Abgrenzung von anderen Autoren oder zur Leserlenkung allgemein bietet. 401 Fox / Livingstone (2007) 543; Adler (2011) 11. Adler merkt hierzu unter Bezugnahme auf Andersen (2001) an, dass eine stilistisch besonders ausgefeilte und überzeugend wirkende Rede nicht notwendigerweise als solche intendiert sein müsse, da in den an‐ tiken Quellen verschiedentlich eine skeptische bzw. misstrauische Haltung gegenüber Rednern zum Ausdruck komme, die allzu überzeugend zu sprechen verstünden. 402 Dagegen Laird (1999) 133f. 403 Scardino (2007) 44. sondern dieses transzendieren und bestimmte Inhalte auf einer grundsätzlichen Ebene verhandeln können. Häufig dienen direkte Reden zudem der Akzentuierung von Situationen, denen aus Sicht des Autors für den Gang des historischen Geschehens hohe Bedeutung zukommt. Die Einschaltung einer Rede hat in diesem Fall gewisser‐ maßen mikroskopische Wirkung, da sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Situation lenkt und deren krisenhaften Charakter in potenzierter Form vor Augen führt. Hierbei kann die Gestaltung der Rede von dem Wissen des Historikers um den Fortgang der Ereignisse geprägt sein, d. h. dieser hat die Möglichkeit, durch entsprechende Leserlenkung in der Rede die Art und Weise zu beeinflussen, in der das sich anschließende historische Geschehen interpretiert werden soll. 400 Diese Funktion der Akzentuierung und der intensi‐ vierten Leserlenkung machen sich die frühen Bücher der Antiquitates Romanae besonders häufig zunutze, wie sich im Laufe dieses Kapitels erweisen wird. Schließlich bieten Reden dem Historiker die Möglichkeit, seine rhetorischen Fertigkeiten unter Beweis zu stellen. 401 Sie erlauben ihm, alle Register seiner Gestaltungskunst zu ziehen und das ästhetische Vergnügen des Rezipienten bei der Lektüre zu erhöhen. Eine ansprechende und effektvolle stilistische Gestaltung kann darüber hinaus unterstützend dazu beitragen, eines oder mehrere der oben genannten Wirkungsziele einer Rede zu erreichen. Im Falle indirekter Reden, die entweder für sich stehen oder einer direkten Rede vor- oder nachgeschaltet sein können, liegt der Fokus weniger auf der Interaktion mit dem Rezipienten, bringen sie doch allgemein eine größere Distanz zum Gesagten zum Ausdruck 402 und signalisieren dem Leser, dass der Redeninhalt von geringerer Bedeutung ist und daher nicht wörtlich wiederge‐ geben zu werden braucht. 403 Zudem können der Rahmung einer direkten Rede in oratio obliqua stilistische Beweggründe zugrunde liegen, da sie den Übergang zwischen Erzählung und Rede zu glätten vermag. 5.1 Reden in der griechisch-römischen Historiographie und ihre Funktionen 127 <?page no="128"?> 404 Vgl. Pausch (2014) 281. 405 Zu nennen ist hier insbesondere das zwölfte Buch der Historien. Vgl. Pausch (2014) 283; zur Verwendung der Rede bei Polybios s. Walbank (1985a) 253-260. 406 Dion. Hal. Thuc. 42,5: ταῦτα δὴ τὰ Θουκυδίδου ζηλωτὰ ἔργα, καὶ ἀπὸ τούτων τὰ μιμήματα τοῖς ἱστοριογραφοῦσιν ὑποτίθεμαι λαμβάνειν. Vgl. auch Dion. Hal. Thuc. 1,2. 407 Vgl. Sacks (1983) 65 und Nicolai (2017) 42. 408 Diese Auffassung scheint auch Meins (2019) 144 zu vertreten, wenngleich dort nicht explizit davon die Rede ist. 5.2 Zur Theorie der Figurenrede in den Scripta rhetorica des Dionysios Im Fall des Dionysios von Halikarnass befinden wir uns in der seltenen Situation, theoretische Ausführungen eines Historikers heranziehen zu können, in denen er über die Art und Weise reflektiert, wie Geschichte zu schreiben sei und welche Vorgehensweise dabei zu wählen, welche Fehler zu vermeiden seien, auch und gerade bei der Verwendung direkter Reden. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Polybios, doch sind sie bei diesem überwiegend polemischer Natur und gegen andere, seiner Meinung nach inferiore, Historiker gerichtet. 404 Zudem bilden sie kein zusammenhängendes Ganzes, sondern sind an verschiedenen Stellen in die Geschichtsdarstellung eingeschaltet, und erschweren dadurch ihre Deutung. 405 Dionysios hingegen hat sich in seinem rhetorisch-literaturkri‐ tischen Corpus in ausführlicher Form über Theorie und Praxis der Geschichts‐ schreibung geäußert und schließt in diese Aussagen auch den Umgang mit Reden dergestalt ein, dass auf bestimmte grundsätzliche Ansichten zu diesem Thema geschlossen werden kann. Im Gegensatz zu Polybios verfolgt er damit das didaktische Ziel, den Lesern der Scripta rhetorica Hinweise für die praktische Umsetzung an die Hand zu geben. So existiert beispielsweise eine Passage in De Thucydide, aus welcher mit hinreichender Deutlichkeit hervorgeht, dass Dionysios seine Kritik der thukydideischen Reden als Orientierungshilfe nicht nur für die Adepten der Rhetorikausbildung seiner Zeit intendiert hat, sondern darüber hinaus auch angehende Historiker anzusprechen beabsichtigt. 406 Zur Zeit des Dionysios ist es Bestandteil des rhetorischen Curriculums, sich als vorbildlich angesehene Reden aus Geschichtswerken zum Modell zu nehmen und diese in eigenen Übungsreden nachzuahmen. 407 Auch und gerade der Historiker ist zu dieser Vorgehensweise angehalten, wenn es darum geht, ein eigenes Geschichtswerk zu verfassen. Dies lässt den Schluss zu, dass die Reden in den Antiquitates Romanae in dem Bewusstsein gestaltet wurden, dass sie selbst ebenfalls anderen Historikern als nachahmenswertes Modell dienen würden. 408 128 5 Reden <?page no="129"?> 409 Die Rede ist von C. Macleod, Review of D. Proctor, The Experience of Thucydides, London Review of Books (21 Jan.-3 Feb. 1982) 26, 52. 410 Hornblower (1987) 46 f. Zur Rolle des Angemessenen s. ausführlich unten S.-132-138. 411 Hornblower (1987) 49. Bereits vor 35 Jahren hat Simon Hornblower auf einen Aspekt hingewiesen, der bei der Beschäftigung mit den Reden im thukydideischen Geschichtswerk zu berücksichtigen ist und ebenso für Reden in der Historiographie nach Thu‐ kydides gilt: Die Reden befinden sich keineswegs isoliert im luftleeren Raum, in einem geistigen Vakuum, sondern sie stehen in einem umfassenderen Diskurs über griechische Rhetorik, der auf mehreren sich wechselseitig ergänzenden und beeinflussenden Ebenen stattfindet: „An excellent modern treatment of the Melian Dialogue 409 opens by pointing out that the phrase ta deonta puts Thucydides firmly in a rhetorical tradition, and by comparing what Gorgias said about his purpose in the Helen: to say rightly what is appropriate (to deon). And Isokrates [sic] has the phrase too. This rhe‐ torical approach to Thucydides has enormously deepened our understanding of the speeches: parallel after parallel can be produced between what Thucydidean speakers say and what was said by the practitioners and theoreticians of Greek rhetoric - the authors of tragedy, forensic oratory, philosophical dialogues and the rhetorical handbooks of the fourth century. No one can for the future ignore the relation between Thucydides᾽ speeches and productions of these various types.“ 410 Hornblower weist zugleich nachdrücklich darauf hin, dass die Verortung der thukydideischen Reden im rhetorischen Kontext des 4. Jahrhunderts v. Chr. nicht zwangsläufig eine einseitige Rezeption dieses Diskurses durch den His‐ toriker bedeutet; vielmehr sei ein reziprokes Verhältnis anzunehmen, ja aller Wahrscheinlichkeit nach hätten die Reden des Thukydides den rhetorischen Diskurs geprägt und nicht umgekehrt. 411 Daher scheint es umso dringlicher geboten, die Reden in den Antiquitates Romanae vor dem Hintergrund der theoretischen Darlegungen zu betrachten, welche Dionysios in seinen rhetorischen Schriften vornimmt, und danach zu fragen, ob aus diesen Darlegungen Hinweise für das Verständnis der Funktion zu gewinnen sind, die die Reden in seinem Geschichtswerk erfüllen. Gerade Dionysios befand sich in einem rhetorischen Diskurs, der mehrere Jahrhunderte umspannte und der nicht nur die zeitlich näher liegende Rhetorik-Landschaft des Hellenismus in sich aufgenommen hatte, sondern im Rückgriff auf den attizistischen Kanon des 4. Jahrhunderts aus jenem Reservoir schöpfte, von dem 5.2 Zur Theorie der Figurenrede in den Scripta rhetorica des Dionysios 129 <?page no="130"?> 412 Die Aussagen über die Rolle von Reden in einem Geschichtstext, die im rhetorisch-li‐ teraturkritischen Corpus des Dionysios zu finden sind, haben nur vereinzelt Beachtung gefunden, wichtig dazu sind Gozzoli (1976), Fox / Livingstone (2007) 555-558 und Nicolai (2017). Dagegen gibt es mehrere Beiträge, die sich mit seinen Überlegungen zur Historiographie als solcher beschäftigen: S. Grube (1950); Sacks (1983); Heath (1989); Weaire (2002); Weaire (2005). 413 Nicolai (2017) 42: „[…] the treatise by Dionysius of Halicarnassus on Thucydides, which contains, among extant rhetorical treatises, the largest number of analyses and assessments on the subject of speeches appearing in writings on history.“ 414 Dion. Hal. Thuc. 49-50. 415 Dion. Hal. Thuc. 14,3: […] οὔτε τοὺς ἀποσταλέντας ἄνδρας εἴρηκεν οὔτε τοὺς ῥηθέντας ἐκεῖ λόγους ὑπ᾽ αὐτῶν οὔτε τοὺς ἐναντιωθέντας, ὑφ᾽ ὧν πεισθέντες Λακεδαιμόνιοι τὰς διαλλαγὰς ἀπεψηφίσαντο· φαύλως δέ πως καὶ ῥᾳθύμως ὡς περὶ μικρῶν καὶ ἀδόξων πραγμάτων ταῦτα εἴρηκε. Bezugspunkt ist Thuc. 2,59,1-2. bei Hornblower die Rede ist und das seinerseits durch frühere rhetorische Praxis geprägt war. 412 Dionysios äußert sich im Corpus seiner rhetorischen Schriften an verschie‐ denen Stellen zur Rolle direkter Reden in einem Geschichtswerk. Besonders De Thucydide nimmt unter den literaturtheoretischen Schriften der Antike insofern eine Sonderstellung ein, als er sich darin ausführlicher mit diesem Thema beschäftigt als andere überlieferte Autoren. 413 Dionysios kritisiert beispielsweise an den Reden des Thukydides, dass diese häufig eine allzu artifizielle Sprachgestaltung aufwiesen, welche dem in einer realen Redesituation angewandten Stil nicht entspreche, sondern von tatsäch‐ lich gesprochener Sprache weit entfernt sei und dunkel bis bizarr anmute; sprächen reale Menschen auf diese Art und Weise, könnten nicht einmal ihre eigenen Eltern sie verstehen und wären auf einen Dolmetscher angewiesen. 414 Aus dieser Kritik wird die Erwartung des Dionysios deutlich, dass der Historiker bei der Gestaltung von Reden eine gewisse Lebensnähe in der Wahl der Stilhöhe zu berücksichtigen habe, um plausibel zu wirken. Eine weitere wichtige Forderung des Dionysios ist es, an historisch bedeut‐ samen Stellen Reden in das Geschichtswerk zu integrieren; fehlen diese, ist es für ihn ein Kunstfehler. 415 Hierzu zählen Situationen, die für den weiteren Geschehensverlauf entscheidend sind, Wendepunkte in der Geschichte, oder Situationen, in denen eine Entwicklung ihren Anfang nimmt oder zu einem Ende kommt. Somit dienen Reden als Verständnis- und Orientierungshilfe für den Leser, der anhand der Informationen, die er ihnen entnehmen kann, das Geschehen einzuordnen und zu beurteilen vermag. Dionysios nimmt den Historiker in die Pflicht, nicht lediglich einen Geschehensablauf darzustellen, sondern dem Leser ein für das Verständnis dieses Ablaufes hilfreiches Mittel an die Hand zu geben. Es reicht nicht aus, zu erzählen, was geschehen ist, sondern 130 5 Reden <?page no="131"?> 416 Ant. 1,5,1-4. Die Auffassung von der Historiographie als Vermittlerin von Wahrheit kommt bei Dionysios nicht nur dort, sondern auch an anderen Stellen zum Ausdruck: s. ant. 1,1,2; Thuc. 8,1; Pomp. 1,3. 417 Vgl. Cartledge (1990) 34. Folglich ist es unzutreffend, in Dionysios einen Historiker zu sehen, den man nicht ernst nehmen könne; Dionysios selbst hat sich als ernsthafter Historiker verstanden und sollte dementsprechend beurteilt werden. Zur diesbezügli‐ chen Haltung der Forschung s. oben Kapitel 2. 418 Thuc. 2,35-46. Bezeichnenderweise integriert Dionysios den von ihm erwähnten Epitaphios auf Brutus als ersten Konsul der Republik nicht in seine Darstellung, vgl. ant. 5,17,2. der Leser muss ebenso die Möglichkeit haben zu erfahren, warum etwas so und nicht anders geschehen ist. Die Aufgabe des Historikers, Hintergründe und kausale Zusammenhänge zu verdeutlichen und Erklärungshilfe zu leisten, weist Dionysios allerdings nicht nur anderen Geschichtsschreibern wie Thukydides zu; vielmehr ist sie ein Anspruch, den er auch an sein eigenes Geschichtswerk stellt. Die Antiquitates Romanae präsentieren sich als Text, der dem Lesepublikum die Wahrheit über sein Thema vor Augen führen will: In der Vorrede wird als Begründung für die Abfassung des Werkes angeführt, es seien in der griechischen Welt viele unzutreffende Auffassungen über das Wesen und die Geschichte der Römer im Umlauf, denen es eine Berichtigung gegenüberzustellen gelte. 416 Dieser Wahrheitsanspruch reiht die Geschichtsdarstellung des Dionysios in eine Tradition ein, die das Forschen nach und Benennen von Ursachen als wesentliches Definitionsmerkmal von Historiographie betrachtet; der Ursprung dieser Haltung wird bei Herodot angesetzt. 417 Im Umkehrschluss zu der im soeben angeführten Abschnitt des De Thucydide entwickelten Argumentation stellt es für Dionysios gleichermaßen einen Kunst‐ fehler dar, wenn der Historiker an einer unbedeutenden Stelle des Geschehens eine Rede einfügt. In diesem Sinne übt Dionysios Kritik am Epitaphios des Perikles, den Thukydides diesen halten lässt, als Athen sich seit einem Jahr im Krieg befindet: 418 Es sei nicht ersichtlich, weshalb Thukydides eine Rede ausgerechnet an dieser Stelle seiner Darstellung eingefügt habe, denn weder seien die Gefallenen des ersten Kriegsjahres zahlreich gewesen noch hätten sie etwas Bedeutendes für ihre Vaterstadt geleistet: Ὁ δὲ δὴ περιβόητος ἐπιτάφιος […], κατὰ τίνα δή ποτε λογισμὸν ἐν τούτῳ κεῖται τῷ τόπῳ μᾶλλον ἢ οὐκ ἐν ἑτέρῳ; εἴ τε γὰρ ἐν ταῖς μεγάλαις συμφοραῖς τῆς πόλεως, ἐν αἷς Ἀθηναίων πολλοὶ καὶ ἀγαθοὶ μαχόμενοι διεφθάρησαν, τοὺς εἰωθότας ὀλοφυρμοὺς ἐπ᾽ αὐτοῖς ἐχρῆν λέγεσθαι, εἴ τ᾽ ἐπὶ ταῖς μεγάλαις εὐπραγίαις, ἐξ ὧν δόξα τις ἐπιφανὴς ἢ δύναμις ἐγένετο τῇ πόλει, τιμᾶσθαι τοῖς ἐπιταφίοις ἐπαίνοις τοὺς ἀποθανόντας, 5.2 Zur Theorie der Figurenrede in den Scripta rhetorica des Dionysios 131 <?page no="132"?> 419 Dion. Hal. Thuc. 18,1-2. 420 Thuc. 4,9-23; 4,26-40. 421 Dion. Hal. Thuc. 18,3-4. 422 Dion. Hal. Thuc. 18,6-7. ἐν ᾗ βούλεταί τις μᾶλλον βύβλῳ ἢ ἐν ταύτῃ τὸν ἐπιτάφιον ἥρμοττεν εἰρῆσθαι· ἐν ταύτῃ μὲν γὰρ οἱ κατὰ τὴν πρώτην τῶν Πελοποννησίων εἰσβολὴν πεσόντες Ἀθηναῖοι κομιδῇ τινες ἦσαν ὀλίγοι, καὶ οὐδ᾽ οὗτοι λαμπρόν τι πράξαντες ἔργον, ὡς αὐτὸς ὁ Θουκυδίδης γράφει· 419 Der berühmte Epitaphios aber […], aus welchem Grund nur steht er eher an dieser Stelle als an irgendeiner anderen? Wenn die Notwendigkeit bestand, angesichts der großen Katastrophen für die Stadt, in denen viele tüchtige Athener im Kampf gefallen sind, die üblichen Klagereden auf diese anzustimmen, oder im Gegenteil aufgrund großer Erfolge, durch die der Stadt offensichtlicher Ruhm oder Macht zuteilgeworden war, die Gefallenen mit rühmenden Grabreden zu ehren, dann hätte man den Epitaphios in jedem beliebigen anderen Buch eher als in diesem platzieren müssen. An diesem Punkt nämlich waren die im Zuge der ersten Invasion der Peloponnesier gefallenen Athener nur sehr wenige, und sie haben auch nichts Herausragendes vollbracht, wie Thukydides selbst schreibt. Angemessener wäre es gewesen, fährt Dionysios fort, wenn Thukydides im vierten Buch eine Rede auf die Gefallenen der siegreichen Athener in der Schlacht bei Pylos 420 eingefügt hätte, da diese ein derartiges Denkmal für ihren ruhmvollen Einsatz für ihre Polis verdient hätten. Ferner gebe es zahlreiche weitere Beispiele, an denen Gefallene es mehr als diejenigen des ersten Kriegs‐ jahres verdient hätten, mit einer Leichenrede wie dem perikleischen Epitaphios gewürdigt zu werden, und Thukydides ihnen dies nicht zugestanden habe. 421 Der einzige erkennbare Grund, weshalb Perikles über einen derart unbedeutenden Anlass eine derart bedeutende Rede halte, sei keineswegs ein inhaltlicher, sondern ein erzähltechnischer, denn da Perikles bekanntlich bereits im zweiten Jahr des Peloponnesischen Krieges verstorben sei, habe Thukydides noch die Gelegenheit wahrnehmen wollen, ihm eine große Rede zuzuteilen, mit der er seinen Charakter und seine Bedeutung als Staatsmann vor Augen führen könne. 422 Diese von Dionysios vorgebrachte Erklärung legt den Schluss nahe, dass er die Funktion einer Rede nicht allein nach der Maßgabe definiert, dem Leser die Hintergründe des historischen Geschehens zu verdeutlichen, sondern 132 5 Reden <?page no="133"?> 423 Dionysios geht wohl nicht fehl in der Annahme, Thukydides habe die Rede aufgrund hoher persönlicher „Wertschätzung“ für Perikles eingefügt; dies ist auch die Position der modernen Forschung, s. Sonnabend (²2011) 88. 424 Zum πρέπον speziell bei Dionysios s. Meins (2019) 61-79. 425 Dion. Hal. Thuc. 36,1. Bezugspunkt ist Thuc. 2,71-75. Vgl. zur Stelle Nicolai (2017) 52 und Meins (2019) 74f. 426 S. Kapitel 4.4. dass Reden für ihn auch über das Potenzial zur Charakterisierung einer Figur verfügen und der Historiker sich dieses zunutze machen darf. 423 Freilich verkennt Dionysios mit seiner Kritik an der Platzierung des Epita‐ phios die offenkundige Kontrastfunktion, die dieser in der Gegenüberstellung mit der unmittelbar anschließenden Schilderung der Pestepidemie in Athen erfüllt. Jedoch liegt dies darin begründet, dass für ihn das wohl wichtigste gestalterische Kriterium, welches er auf den Einsatz von Reden anwendet, das des πρέπον ist, das die Angemessenheit der Rede im Hinblick auf den Sprecher und die Redesituation sowie den (intrawie extradiegetischen) Adressaten beschreibt. Sein Verständnis dieses Konzeptes soll nun anhand ausgewählter Äußerungen erläutert werden. 424 So finden in seiner Thukydides-Kritik die Reden der Gesandten von Plataia und des spartanischen Königs Archidamos lobende Hervorhebung im Sinne des πρέπον: […] καὶ λόγους ἀποδίδωσιν, οἵους εἰκὸς ἦν ὑπὸ ἀμφοτέρων εἰρῆσθαι, τοῖς ‹τε› προσώποις πρέποντας καὶ τοῖς πράγμασιν οἰκείους καὶ μήτ᾽ ἐλλείποντας τοῦ μετρίου μήτε ὑπεραίροντας, λέξει τε κεκόσμηκεν αὐτοὺς καθαρᾷ καὶ σαφεῖ καὶ συντόμῳ καὶ τὰς ἄλλας ἀρετὰς ἐχούσῃ· τήν τε ἁρμονίαν οὕτως ἔναυλον ἀποδέδωκεν ἅμα *** τοῖς ἡδίστοις παρεξετάζεσθαι. 425 Und [Thukydides] bringt [hier] Reden an, wie sie von beiden Seiten wahrscheinlich gehalten wurden; sie sind den Personen angemessen, zum Gegenstand passend und lassen zum rechten Maß nichts fehlen, noch übertreiben sie. Er hat sie mit einem reinen, klaren, konzisen Stil geschmückt, der auch über alle anderen rhetorischen Tugenden verfügt. Und den Rededuktus hat er so wohlklingend gestaltet, dass man sie mit den schönsten [Reden] vergleichen kann. Die Verwendung des Begriffes εἰκός lässt an Lys. 7,1-3 denken; dort rühmt Dionysios es als eine der hervorstechenden Qualitäten des Lysias, dass die Menschen, die dieser schildere, stets entsprechend dem Kriterium des εἰκός handelten und sprächen und dadurch auf den Zuhörer einen überzeugenden Eindruck machten. 426 Ähnlich verhält es sich hier; Dionysios wendet den Maßstab des εἰκός somit sowohl auf die rhetorische Praxis in der Polis an 5.2 Zur Theorie der Figurenrede in den Scripta rhetorica des Dionysios 133 <?page no="134"?> 427 Vgl. Mildner / Rutherford (2013); Platt (2014); zur Bedeutung des πρέπον für Dionysios s. insbesondere auch Pomp. 3,20; vgl. Meins (2019) 61-79. 428 Vgl. Wiater (2011a) 159 f. Meins (2019) 61 verortet den Beginn der theoretischen Auseinandersetzung mit dem rhetorischen πρέπον bei Arist. rhet. 1408a. 429 Dion. Hal. Thuc. 41,4. Dazu Meins (2019) 64f. 430 Thuc. 1,22,1. als auch auf Reden in einem erzählenden Geschichtswerk. Folglich befindet sich der Redner in der gleichen Rolle wie der Historiker, denn beide sind dazu angehalten, den Eindruck der Plausibilität zu transportieren, des „So hätte es wirklich geschehen können“. In beiden Fällen ist es das Ziel, den Adressaten von der Glaubhaftigkeit der berichteten Ereignisse zu überzeugen und ihn mit den Mitteln der erzählenden Rede an diesen teilhaben zu lassen. Dieser Effekt erhöht seinerseits die Bereitschaft des Zuhörers, sich emotional auf die Erzählung einzulassen. Im Zustand des Affiziert-Seins, der emotionalen Involvierung in das erzählte Geschehen, kann er der Aussageabsicht des Redners wie des Historikers mit größerer Aufmerksamkeit und Geneigtheit folgen. Er wird sich leichter davon überzeugen lassen, der Sichtweise der beiden zuzustimmen, ob es nun darum geht, ihn von der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten zu überzeugen, oder darum, ihm eine bestimmte Deutung eines historischen Ereigniszusammenhangs nahezulegen. Die Begriffe des εἰκός und des πρέπον wirken insofern zusammen, als die Angemessenheit der Rede zum Eindruck der Wahrscheinlichkeit beträgt; bei letzterem handelt es sich um ein mehr darstellerisches, ästhetisches, Prinzip, bei ersterem um ein logisches. 427 Bei der Maßgabe, dass eine Rede dem Charakter des Sprechers ebenso wie der Redesituation angemessen zu sein habe, handelt es sich um eine Auffassung, die im rhetorisch-literarischen Diskurs der Antike wiederholt begegnet. Daher empfiehlt es sich an dieser Stelle, die Rolle des πρέπον in ihrem kulturge‐ schichtlichen Kontext zu betrachten, denn Dionysios war keineswegs der erste griechische Literaturtheoretiker, der sich mit dem Thema des Angemessenen befasste. Verfolgt man die Spuren dieses Konzeptes chronologisch zurück, so gerät Thukydides in den Blick, 428 genau genommen dessen berühmter Redensatz, auf den sich Dionysios in seiner Kritik des Melierdialoges explizit bezieht: 429 καὶ ὅσα μὲν λόγῳ εἶπον ἕκαστοι ἢ μέλλοντες πολεμήσειν ἢ ἐν αὐτῷ ἤδη ὄντες, χαλεπὸν τὴν ἀκρίβειαν αὐτὴν τῶν λεχθέντων διαμνημονεῦσαι ἦν ἐμοί τε ὧν αὐτὸς ἤκουσα καὶ τοῖς ἄλλοθέν ποθεν ἐμοὶ ἀπαγγέλλουσιν· ὡς δ᾽ ἂν ἐδόκουν μοι ἕκαστοι περὶ τῶν αἰεὶ παρόντων τὰ δέοντα μάλιστ᾽ εἰπεῖν ἐχομένῳ ὅτι ἐγγύτατα τῆς ξυμπάσης γνώμης τῶν ἀληθῶς λεχθέντων, οὕτως εἴρηται· 430 134 5 Reden <?page no="135"?> 431 Dazu Fornara (1983) 144 f.; Woodman (1988) 11-15. Zum in der Forschung ebenso ausführlich wie kontrovers diskutierten Redensatz des Thukydides s. Hornblower (1991) ad loc. sowie Feddern (2016), der 119 Anm. 1 eine Zusammenstellung bisheriger Publikationen bietet. Feddern konzentriert sich vorwiegend auf die Deutung der Formulierung τὰ δέοντα, die er als übereinstimmend mit dem πρέπον-Begriff des Dionysios ansieht. Vgl. dazu Hornblower (1987) 45 ff. Hose (2009) 189 interpretiert τὰ δέοντα als das in einer bestimmten historischen Situation Notwendige und folgt damit Egermann (1972) 576: „τὰ δέοντα ist das rein Sachliche, das, was das vorliegende Problem der betreffenden geschichtlichen Situation verlangte.“ 432 So auch Walbank (1985a) 245; vgl. dazu Meins (2019) 65f. 433 Vgl. Hornblower (1987) 45ff. 434 Vgl. Nicolai (2017) 45. 435 FGrHist 124 F 44. Was nun in Reden beide Gegner vorgebracht haben, teils während der Vorbereitungen zum Krieg, teils im Krieg selber, davon den genauen Wortlaut im Gedächtnis zu behalten war schwierig, sowohl für mich, was ich selber anhörte, als auch für meine Zeugen, die mir von anderswo solche berichteten. Wie aber meiner Meinung nach jeder Einzelne über den jeweils vorliegenden Fall am ehesten sprechen musste, so sind die Reden wiedergegeben unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten. (Übersetzung H. Vretska / W. Rinner) Die Frage, was Thukydides mit der Formulierung τῆς ξυμπάσης γνώμης meint, gibt bis heute Anlass zu unterschiedlichen Deutungen. 431 Offenbar birgt der Satz einen Widerspruch in sich, der zwischen den Formulierungen τῶν ἀληθῶς λεχθέντων und ὡς δ᾽ ἂν ἐδόκουν ἐμοὶ ἕκαστοι περὶ τῶν αἰεὶ παρόντων τὰ δέοντα μάλιστ᾽ εἰπεῖν besteht. Denn ersteres bezieht sich auf das, was tatsächlich gesagt wurde, letzteres auf das Kriterium des der Situation jeweils Angemessenen, dessen, was zu sagen eine bestimmte Redesituation erfordert haben muss. Hier sind wir bei einem Prinzip, das Ähnlichkeit mit dem des πρέπον aufweist. 432 Zwar fällt der Begriff an dieser Stelle nicht, doch scheint sich hinter der Formulierung τὰ δέοντα ein gedankliches Konzept zu verbergen, das in die gleiche Richtung zielt. 433 Das Verständnis von πρέπον erweitert sich allerdings im Laufe der Zeiten bis hin zum 1. Jahrhundert v. Chr., in dem Dionysios lebt und schreibt: Handelt es sich im zitierten Redensatz des Thukydides noch um ein Prinzip, das vor allem die Redesituation betrifft, die Umstände, unter denen und aus denen heraus eine Rede gehalten wird, 434 so findet sich in einem Fragment des Kallisthenes der Begriff nicht nur auf die Situation, sondern mit gleicher Gewichtung auf die Person des Redners bezogen. 435 Das πρέπον erweitert somit nach Thukydides sein Bedeutungsspektrum und schließt nun auch die Forderung mit ein, die Rede müsse dem Charakter 5.2 Zur Theorie der Figurenrede in den Scripta rhetorica des Dionysios 135 <?page no="136"?> 436 Walbank (1985a) 246; Meins (2019) 61f. 437 Hist. conscr. 58. Vgl. Meins (2019) 62. 438 Walbank (1985a) 261. Eine Ausnahme scheint Polybios gewesen zu sein, der die Forderung nach Wahrheit über das Kriterium des Angemessenen stellte, s. ebd. Aller‐ dings sagt Polybios auch, es sei nicht zwingend erforderlich, immer und überall den genauen Wortlaut einer Rede wiederzugeben, sondern der Historiker dürfe durchaus das Material gestalten, Kürzungen und Änderungen in der Formulierung vornehmen, solange der Sinn der Rede erhalten bleibe, s. Walbank (1985a) 249. 439 Pohlenz (1933). und/ oder der Stellung des Redenden angemessen sein. 436 Noch bei Lukian wird der Begriff in diesem Sinne gebraucht. 437 Dies entspricht der Verwendung des Terminus durch Dionysios. Ob und inwieweit das Prinzip des πρέπον im Widerspruch steht zum Wahrheitsanspruch, den ein Geschichtswerk (auch in seinen Reden) erhebt, ist ein zu weites Feld, als dass an dieser Stelle hinreichend darauf eingegangen werden könnte und sollte. Es erscheint mir zweifelhaft, dass Dionysios sich der damit einhergehenden Problematik bewusst war; die rhetorischen Schriften enthalten keinen Hinweis darauf. An keiner Stelle des überlieferten Textes äußert Dionysios sich zu der Frage, ob eine Rede in einem Geschichtstext nur das wiedergeben solle, was tatsächlich gesagt wurde. Das Wesentliche, auf das es ihm ankommt, ist das πρέπον. Freilich wäre es nun ein Leichtes, diesen Befund negativ zu werten und Dionysios den Vorwurf zu machen, er sei in seiner Reflexion hinter Thukydides zurückgeblieben. Doch steht Dionysios, wie wir gesehen haben, mit seiner Fokussierung auf das πρέπον nicht allein: Es scheint im antiken Literaturdiskurs eine verbreitete Auffassung gewesen zu sein, dass die Verwendung von Reden durch den Historiker in erster Linie das Prinzip des πρέπον zu beachten habe und der Wahrheitsanspruch dahinter zurücktrete. 438 Die Geschichte des Terminus wie des damit verbundenen ästhetischen Kon‐ zeptes hat Max Pohlenz vor knapp einem Jahrhundert in einer Schrift aufgear‐ beitet, welche in der Forschung leider wenig Berücksichtigung findet, für das Verständnis des πρέπον allerdings einen wertvollen Beitrag leistet. 439 Pohlenz konnte anhand eines chronologischen Überblicks über die Verwendungsweisen des Begriffs in der griechischen und lateinischen Literatur zum einen nach‐ weisen, dass dieser im Laufe der Jahrhunderte eine Bedeutungserweiterung vom rein Ästhetischen hin zum Philosophisch-Ethischen durchlief, zum anderen, dass das πρέπον in der griechischen Literatur von Anfang an auf vielen Ebenen eine Rolle spielte, in Fragen der Poesie, der Rhetorik, der Ethik und der Ästhetik der Bildenden Künste. Der Maßstab des πρέπον galt sowohl für Personen im 136 5 Reden <?page no="137"?> 440 Pohlenz (1933) 53-55. 441 Pohlenz (1933) 55: „Schon um 400 ist eine ästhetische Theorie ausgebildet, die von dem künstlerisch gestalteten Logos, der Poesie wie der Prosa, in der Anwendung der Kunstmittel, in der Sprache wie in der Ökonomie (Ausdehnung der Teile), in der Anpassung an die Personen wie an den Gegenstand die Wahrung des Angemessenen, des πρέπον verlangt.“ 442 Pohlenz (1933) 60 Anm. 2. 443 Zur Rolle des πρέπον bei Isokrates s. Ramírez Vidal (2017) und Pohlenz (1933) 54 f., für Cicero und Quintilian ebd. passim. 444 Wenngleich die vollkommene Beherrschung des πρέπον als im Grunde nicht erlernbar galt, sondern dafür eine gewisse natürliche Befähigung für notwendig erachtet wurde, s. Pohlenz (1933) 64: „Man kann wohl die einzelnen Kunstmittel erlernen; aber um sie alle angemessen anzuwenden, muß man von Natur die Anlage zum Redner mitbringen, aber auch durch lange Übung sich den rechten Takt und das nötige Feingefühl aneignen. Dazu kann theoretischer Unterricht sehr wenig tun.“ wirklichen Leben (im Sinne ethisch-moralisch angemessenen Verhaltens) als auch für die Darstellung literarischer Figuren. 440 Die stilistische Forderung nach Einhaltung des πρέπον bei der Darstellung eines Gegenstandes beschränkt sich somit keineswegs auf die rein rhetorische Disziplin, sondern erfasst das gesamte Gebiet der Kunstprosa und der Dichtung und stellt einen gattungsübergreifenden Beitrag zum damaligen literarischen Diskurs dar. 441 In den lateinischen Stildiskurs hat das πρέπον unter dem Namen des aptum bzw. decorum Einzug gehalten, insbesondere durch die Vermittlung Ciceros. 442 Aufschlussreich für das Verständnis der Funktion des πρέπον bei Dionysios ist ferner die Verwendung des Begriffs durch Isokrates, dem die Beherrschung des πρέπον als ein zentraler Bestandteil der Aufgaben des Redners gilt - eine Auffassung, welche nicht allein von ihm vertreten wurde, sondern sich auch bei Gorgias, Theophrast, Cicero und Quintilian finden lässt. 443 Es ist Ausdruck der Teilhabe an einem umfassenden Diskurs, dass Dionysios in seiner Ausein‐ andersetzung mit dem Gebrauch der Reden im Geschichtswerk des Thukydides als wesentlichen Kritikpunkt anführt, dieser habe den Prinzipien des πρέπον nicht zu genügen verstanden. Nicht erst in augusteischer Zeit, als Dionysios seine kritischen Schriften verfasste, war die Meisterung des Umgangs mit dem πρέπον wichtiger Bestandteil der rhetorischen Ausbildung. 444 Im De Lysia gibt Dionysios eine weitere Definition dessen, was er unter dem Begriff des πρέπον versteht, hier speziell auf die Lexis des Lysias bezogen: οἴομαι δὲ καὶ τὸ πρέπον ἔχειν τὴν Λυσίου λέξιν οὐθενὸς ἧττον τῶν ἀρχαίων ῥητόρων, κρατίστην ἁπασῶν ἀρετὴν καὶ τελειοτάτην, ὁρῶν αὐτὴν πρός τε τὸν λέγοντα καὶ πρὸς τοὺς ἀκούοντας καὶ πρὸς τὸ πρᾶγμα (ἐν τούτοις γὰρ δὴ καὶ πρὸς ταῦτα 5.2 Zur Theorie der Figurenrede in den Scripta rhetorica des Dionysios 137 <?page no="138"?> 445 Lys. 9,1-5.Weitere Passagen im rhetorisch-kritischen Werk des Dionysios, in denen Vorstellungen des Angemessenen eine Rolle spielen, sind: Lys. 13,3; Dein. 6,4; 8,6; Dem. 13,2; 15,2-7; 18,7-8; 48,5; Pomp. 3-6; Thuc. 34; 36-45; comp. 20,1-7. 446 Meins (2019) 67. Er bezieht sich für seine These auf Dion. Hal. Thuc. 44-45. τὸ πρέπον) ἀρκούντως ἡρμοσμένην. καὶ γὰρ ἡλικίᾳ καὶ γένει καὶ παιδείᾳ καὶ ἐπιτηδεύματι καὶ βίῳ καὶ τοῖς ἄλλοις, ἐν οἷς διαφέρει τῶν προσώπων πρόσωπα, τὰς οἰκείας ἀποδίδωσι φωνὰς πρός τε τὸν ἀκροατὴν συμμετρεῖται τὰ λεγόμενα οἰκείως, οὐ τὸν αὐτὸν τρόπον δικαστῇ καὶ ἐκκλησιαστῇ καὶ πανηγυρίζοντι διαλεγόμενος ὄχλῳ. […] ληπτέον δὴ καὶ τὸ πρέπον τῆς λέξεως παρὰ Λυσίου. 445 Ich bin der Meinung, dass auch hinsichtlich des prepon, welches doch die stärkste und vollkommenste unter allen rhetorischen Tugenden ist, der Stil des Lysias keinem der alten Redner nachsteht; sehe ich doch, dass er ihn sowohl dem Redenden als auch den Zuhörenden als auch der Situation (und in diesen und auf diese [drei] Dinge bezogen findet sich ja das prepon) hinreichend angepasst hat. Denn er verwendet eine Sprache, die zum jeweiligen Alter, zur Abkunft, zum Bildungsstand, zum Beruf, zur Lebensführung und zu allem anderen, worin sich eine Person von anderen unter‐ scheidet, passt. Auch berechnet er das Gesagte so, dass es genau zur Zuhörerschaft passt: Er spricht einen Richter nicht auf die gleiche Weise an wie einen Teilnehmer an einer Volksversammlung oder eine Festgesellschaft. […] Also soll man sich auch bezüglich des stilistischen prepon an Lysias ein Beispiel nehmen. Somit wird die Lexis des Lysias als angemessen bewertet, da sie das πρέπον in dreifacher Hinsicht wahrt: in Bezug auf ihr Verhältnis zur Person des Redners, zum Rezipienten sowie zu ihrem Gegenstand. Friedrich Meins zufolge wendet sich Dionysios in seinen rhetorischen Schriften gegen die Verwendung einer Rede im Geschichtstext als Ort für „die Darstellung individueller Charakterzüge und verborgener Absichten der historischen Protagonisten“. 446 Was das Charakterisierungspotenzial von Reden betrifft, so machen die Antiquitates Romanae sich dieses allerdings wiederholt zunutze; zudem dienen sie oftmals der Artikulation der Motive und Überle‐ gungen des Sprechers, die ihn zu einer bestimmten Handlung veranlassen. Die im Folgenden vorgenommene Analyse des Redengebrauchs in den Königszeit‐ büchern wird dies näher ausführen. 138 5 Reden <?page no="139"?> 447 Flierle (1890). 448 Cary (1937) xviif. 449 Scardino (2007) 5: „Nicht nur Dionysios, für den die Reden in den Geschichtswerken in erster Linie schmückenden Charakter haben, dazu dienen, die Erzählung abwechs‐ lungsreich und unmittelbar zu gestalten, und die rhetorische Kunst des Historikers verraten, verkannte deren historiographische Funktion […].“ 450 Vgl. Kapitel 2, insbesondere Anm. 35. 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae Obgleich Dionysios in De Thucydide in mehrfacher Hinsicht Kritik an dessen Werk übt, orientieren sich die Reden in den Antiquitates Romanae dennoch stilistisch an diesem, ebenso wie an Xenophon und Demosthenes, wie Flierle bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat. 447 Die Reden fanden ebenso wie die Antiquitates als Ganzes in der philologischen Forschung wenig Gnade; so liest man im Vorwort zur Loeb-Ausgabe der ersten beiden Bücher, verfasst 1937 von Earnest Cary: „One of his [sc. Dionysios’]fundamental principles for the acquiring of a good style was the imitating of classical models, and in the speeches of the Antiquities we see how it was to be done. Not only do we find single phrases and sentences from Demosthenes, Thucydides and Xenophon paraphrased and amplified, but even the tenor of entire passages in those authors is imitated. It is not at all surprising, therefore, that these speeches fail almost completely to perform their true function of revealing the character and the motives of the different speakers. Nor are they redeemed by any profound thoughts, unless in the imitated passages, or by any original sentiments; for the most part they are little more than a succession of cheap platitudes and rhetorical commonplaces. Indeed, we might almost believe at times that we were reading the declamations of Dionysius’ own pupils.” 448 Carlo Scardino leitet aus der Redenkritik des De Thucydide die Annahme ab, Dionysios habe in Verkennung der gestalterischen Möglichkeiten der Rede in deren Verwendung durch den Historiker kaum anderen als ornamentalen Nutzen gesehen. 449 Er geht damit von der auch bei Cary vorherrschenden com‐ munis opinio aus, die in Dionysios keinen ernsthaften Historiker, sondern einen Rhetoriker sah, der sein Geschichtswerk gewissermaßen als Plattform für rhe‐ torische Exerzitien missbraucht habe. 450 Dieser Auffassung möchte ich mit der nachfolgenden Untersuchung des Redengebrauches in den Königszeitbüchern entgegentreten, da die nähere Betrachtung der Reden unter Berücksichtigung des Erzählzusammenhanges zeigt, dass ihnen insbesondere im Rahmen der kulturellen Transferleistung, die die Antiquitates zu erbringen suchen, hohe Bedeutung zukommt. 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 139 <?page no="140"?> 451 Ant. 7,66,3. 452 Vgl. Gabba (1991) 69 f. und Meins (2019) 140. Meins weist ebd. zudem darauf hin, dass Dionysios mit dieser Auffassung „ein bekanntes Motiv“ aufgreife, ohne jedoch auf dessen Herkunft näher einzugehen. Mit Fornara (1983) 143 f. ist diese bei Thukydides zu sehen; vgl. dazu auch Kefallonitis (2008) 202 Anm. 36. 453 Kefallonitis (2008) 202 f. hebt die Rolle der Reden als geschichtsformendes Medium für die Ereignisse des siebten Buches der Antiquitates hervor und nimmt Bezug auf ant. 7,66 und 11,1,3-6. Vgl. auch Meins (2019) 141f. 454 Ant. 7,66,4. Hierfür sei zunächst die Begründung in den Blick genommen, die Dionysios selbst für die Verwendung von Reden in seinem Geschichtswerk gibt: θαυμάσαιμι δ᾽ ἄν, εἴ τινες τὰς ἐν τοῖς πολέμοις πράξεις ἀκριβῶς οἴονται δεῖν ἀναγράφειν, καὶ περὶ μίαν ἔστιν ὅτε μάχην πολλοὺς ἀναλίσκουσι λόγους, τόπων τε φύσεις καὶ ὁπλισμῶν ἰδιότητας καὶ τάξεων τρόπους καὶ στρατηγῶν παρακλήσεις καὶ τἆλλα διεξιόντες ὅσα τῆς νίκης αἴτια τοῖς ἑτέροις ἐγένετο· πολιτικὰς δὲ κινήσεις καὶ στάσεις ἀναγράφοντες οὐκ οἴονται δεῖν ἀπαγγέλλειν τοὺς λόγους, διʼ ὧν αἱ παράδοξοι καὶ θαυμασταὶ πράξεις ἐπετελέσθησαν. 451 Ich darf mich wohl wundern, wenn gewisse Leute meinen, sie müssten das Kriegsge‐ schehen genau wiedergeben, und manchmal viele Worte über eine Schlacht verlieren und die Gestalt der Orte, die Eigenarten der Bewaffnungen, die Schlachtordnungen und die Ansprachen der Feldherren und das Übrige im Detail durchgehen, was auch immer ursächlich zum Sieg für eine der beiden Seiten beigetragen hat: Wenn sie von innerstaatlichen Veränderungen und Aufständen berichten, halten sie es nicht für notwendig, die Reden wiederzugeben, durch welche das unerwartete und außergewöhnliche Geschehen vollbracht worden ist. Nach dem Verständnis des Dionysios sind die λόγοι folglich ebenso wichtig wie die πράξεις, denn sie können insofern ebenfalls als solche gelten, als sie bestimmte Ereignisse zu provozieren vermögen. 452 Die Rede stellt somit eine geschichtsformende Kraft dar und kann als αἰτία historischer Entwicklungen fungieren. 453 Die Römer seien, so Dionysios weiter, insofern ein Vorbild, als sie den Konflikt um Coriolan, der verheerende Folgen für die noch junge Republik hätte zeitigen können, nicht mit Hilfe des Schwertes beigelegt hätten, 454 sondern mit Hilfe des Wortes: ἀλλ᾽ ὥσπερ ἀδελφοὺς ἀδελφοῖς ἢ παῖδας γονεῦσιν ἐν οἰκίᾳ σώφρονι περὶ τῶν ἴσων ‹καὶ› δικαίων διαλεγομένους πειθοῖ καὶ λόγῳ διαλύεσθαι τὰ νείκη, ἀνήκεστον δ᾽ ἢ ἀνόσιον ἔργον μηθὲν ὑπομεῖναι δρᾶσαι κατ᾽ ἀλλήλων· οἷα Κερκυραῖοί τε κατὰ τὴν στάσιν εἰργάσαντο καὶ Ἀργεῖοι καὶ Μιλήσιοι καὶ Σικελία πᾶσα καὶ συχναὶ ἄλλαι 140 5 Reden <?page no="141"?> 455 Ant. 7,66,5. 456 Ant. 11,1,3. 457 Vgl. Walbank (1985a) 261, Gabba (1991) 68; ferner Meins (2019) 139f. πόλεις. ἐγὼ μὲν οὖν διὰ ταῦτα προειλόμην ἀκριβεστέραν μᾶλλον ἢ βραχυτέραν ποιήσασθαι τὴν διήγησιν· 455 Sondern dass sie wie Brüder mit Brüdern oder Kinder mit ihren Eltern in einer be‐ sonnenen Familie über Gleichheit und Gerechtigkeit sprachen und mit Überzeugung und Vernunft die Streitigkeiten auflösten und dass sie keine unverzeihliche oder frevelhafte Tat gegeneinander geschehen ließen: So hielten es die Kerkyraier mit ihrem Aufstand und die Argiver, die Milesier, ganz Sizilien und viele andere Städte. Ich habe es daher vorgezogen, meine Erzählung lieber ausführlicher als kürzer zu gestalten. Die Einschaltung von Reden bildet somit einen Schlüssel zu adäquatem Ver‐ ständnis des Geschehens, den der Historiker dem Leser nicht vorenthalten darf. Dies nähert die ausführliche Wiedergabe von Reden der Funktion der Ausführlichkeit in der Darstellung an, die für Dionysios eine große Rolle spielt, wie Kapitel 4 gezeigt hat. Eine ähnliche Aussage findet sich auch zu Beginn des elften Buches: Dort geht der Schilderung der Abschaffung des Decemvirates ein Abschnitt voran, in dem Dionysios die Gründe für die Ausführlichkeit seiner Darstellung angibt und in dem er auch die Wiedergabe der gehaltenen Reden rechtfertigt: […] ἀλλ᾽ εὐθὺς ἀξιοῦσι καὶ τίνες ἦσαν αἱ κατασχοῦσαι τὴν πόλιν ἀνάγκαι, δι᾽ ἃς ταῦτα τὰ δεινὰ καὶ σχέτλια ὑπέμεινε, καὶ τίνες οἱ πείσαντες αὐτοὺς λόγοι καὶ ὑπὸ τίνων ῥηθέντες ἀνδρῶν καὶ πάντα, ὅσα παρακολουθεῖ τοῖς πράγμασι, διδαχθῆναι. 456 Sondern man will sofort darüber belehrt werden, welche Zwangslage die Stadt in ihrem Griff hatte, deretwegen sie diese schrecklichen und entsetzlichen Dinge erduldete, welche Reden sie überzeugten und von welchen Männern sie gehalten wurden, sowie über alles, was zu den Begleitumständen der Geschehnisse gehörte. Nach dieser Auffassung von Geschichtsschreibung ist es nur folgerichtig, dass die überlieferten Teile der Antiquitates Romanae ab Buch 3 zu rund einem Drittel aus Reden bestehen. 457 Auf die ersten beiden Bücher trifft dieses Verhältnis allerdings nicht zu: So verzichten diese nahezu vollständig auf die Verwendung von Reden. Im ersten Buch überwiegt die reine Darstellung, es enthält nur sehr wenige direkte Reden. Hierbei handelt es sich um die Begegnung Aeneas/ Latinus (1,58-59) sowie die Reden des Numitor (1,81,5 und 1,82,1) und des Faustulus (1,83,1) sowie die 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 141 <?page no="142"?> 458 Vgl. Schultze (2000) 23 und 30-32. kurzen Äußerungen, die im Zusammenhang mit der Romgründung und dem Augurium für Romulus und Remus stehen (1,86,4 und 1,87,4). Für alle diese Reden gilt, dass sie sich in ihrem Umfang deutlich von den späteren Reden, wie sie ab dem dritten Buch erscheinen, abheben; mitunter werden sogar nur wenige Worte gesprochen. Für das zweite Buch stellt sich der Befund ähnlich dar: Auch hier sind lediglich wenige und kurze direkte Reden in die Erzählung integriert; diese umfassen die Verfassungs-Rede des Romulus (2,3,8), der ein umfangreicher Abschnitt in oratio obliqua vorausgeht (2,3,1-7), sowie die zugehörige Reaktion des Volkes (2,4,1-2), eine weitere Rede des Romulus (2,35,3-4) und die kurze Rede der Vestalin Aemilia (2,68,4). Mit dem dritten Buch nimmt die Anzahl der Reden erheblich zu, wobei eine auffallende Häufung für die Darstellung der Entscheidungsfindung festzustellen ist, die dem Kampf zwischen Horatii und Curiatii vorausgeht. Dort sind vierzehn Reden versammelt; eine derart hohe Anzahl überrascht selbst dann, wenn man den insgesamt großen Umfang in Rechnung stellt, den die Horatii-Episode in den Antiquitates einnimmt. Darüber hinaus handelt es sich bei den einzelnen Reden keineswegs um kurze Abschnitte von wenigen Worten, sondern in der Mehrzahl um Reden von einiger Länge. Das vierte Buch weist sodann eine hohe Dichte an Reden auf; auffallend erscheint, dass hier erst mit dem Eingreifen der Tanaquil in die römische Innenpolitik die Verwendung umfangreicher direkter Reden einsetzt, als es um die Umstände der Machtübernahme des Servius Tullius geht. Die Reden werden gehalten von Mitgliedern der Königsfamilie und von Figuren (Lucretia und Brutus), die Opfer der Gewaltherrschaft des Tarquinius Superbus darstellen. Ihnen gemeinsam ist, dass es sich um Figuren handelt, die für die politische Entwicklung Roms unter den Etruskern eine wichtige Rolle spielen, sei es aktiv (Tanaquil, Servius Tullius, Tullia, Tarquinius Superbus, Sextus Tarquinius) oder passiv (Lucretia, Brutus). Wie zu zeigen sein wird, werfen die Reden sozusagen Schlaglichter auf den Niedergang der Königsherrschaft in Rom, indem sie dessen wesentliche Etappen markieren. Der erwähnte zurückhaltende Gebrauch direkter Rede in den ersten beiden Büchern lässt sich dahingehend erklären, dass es sich um die Darstellung von mythischen Vorgängen handelt, in denen kaum konkrete Akteure auszumachen sind. Dionysios beruft sich denn auch im ersten Buch häufiger als in den nach‐ folgenden Büchern auf Traditionen oder Darstellungen anderer Historiker. 458 Die Darstellung konzentriert sich in der Hauptsache auf die Ursprünge des rö‐ mischen Volkes und bietet mehr ausführliche aitiologische sowie genealogische 142 5 Reden <?page no="143"?> 459 Das erste Buch bildet gewissermaßen die Einleitung zu den folgenden Büchern; möglicherweise wurde es sogar separat publiziert. Vgl. Fromentin (1998) 3: „Le livre I, tout entier consacré à l’exposé de la thèse des origines grecques de Rome, occupe dans les Antiquités Romaines une place singulière: sa forme démonstrative, qui contraste avec celle des livres suivants, et les événements qu’il relate, antérieurs de plusieurs siècles à la fondation de Rome proprement dite, font de ce livre une introduction à l’ensemble de l’œuvre. Il est très probable, […] qu’il fut d’abord publié seul; une telle publication séparée et anticipée laisse aussi supposer que Denys avait des raisons de redouter l’accueil que le public réserverait à sa théorie.“ Ebenso Gabba (1991) 98, der als Beleg für die These einer separaten Publikation auf ant. 7,70,1 verweist. 460 Vgl. Verg. Aen. 12,176-215. Erörterungen als konkrete Handlung. 459 Die späteren Bücher dagegen lassen eine Vielzahl an einzelnen Figuren direkt zu Wort kommen, deren Wirken fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Römer war. Für das erste Buch lässt sich die Tendenz erkennen, trotz geringer Verwendung von Reden die wenigen Exemplare an Stellen zu platzieren, die zentrale Mo‐ mente in der Entstehungsgeschichte Roms ansprechen. So zählt die direkte Konfrontation zwischen Aeneas und Latinus zu den in der Tradition fest veran‐ kerten Begebenheiten, da sie die unabdingbare Voraussetzung dafür schafft, dass Rom viele Generationen später durch einen Nachkommen gegründet werden kann. 460 Die Reden des Numitor und des Faustulus akzentuieren den nächsten entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Gründung Roms und damit zur Entstehung des späteren Weltreiches, wie die augusteischen Leser es kannten. Sie umrahmen die für den weiteren Fortgang der geschichtlichen Entwicklung so wichtige Anagnorisis zwischen Numitor und seinen Enkeln, welche zur Vertreibung des unrechtmäßigen Herrschers Amulius führt und ebenfalls einen Grundstein für die Gründung Roms legt. Auch die kurzen direkten Reden, die im Zusammenhang mit dem Gründungsakt wiedergegeben werden, waren zu Dionysios̕ Zeit sinngemäß Teil des kollektiven Gedächtnisses der Römer, so dass eine Darstellung der Romgründung sie nicht gut übergehen konnte. Eine Eigenart der Erzählweise in den Königszeitbüchern besteht in dem Umstand, dass Dionysios nicht nur seinen männlichen Akteuren direkte Reden in den Mund legt, sondern auch mehreren weiblichen Figuren Reden größeren Umfangs zugeteilt werden. Dabei handelt es sich um Frauen, die der Überliefe‐ rung zufolge aktiv in die römische Geschichte eingegriffen haben; ihr Wirken vollzieht sich bei Dionysios vor allem durch das Medium der Rede. Bei der Mehrzahl der Reden in den Antiquitates Romanae handelt es sich um politische Reden. Der Begriff „politische Rede“ ist hierbei von mir im weiteren Sinne gebraucht, so fallen in diese Kategorie Reden von Königen an die Bevölkerung, Reden von Fürsten untereinander, Reden von und an Gesandte, 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 143 <?page no="144"?> 461 Vgl. Blom (2019) 363. 462 Zur Definition des Terminus πολιτικοὶ λόγοι, den Dionysios in den Scripta rhetorica für Reden in Geschichtstexten verwendet, s. Sacks (1983) 65; Gabba (1982a) 44; Wiater (2011a) 65-77. Zum Gebrauch bei Isokrates, der seine Reden selbst mit dieser Bezeich‐ nung versieht und darunter eine Rede versteht, die die Belange der Polis betrifft und für den Adressaten sowohl nützlich als auch angenehm zu hören sei, s. Too (1995) 10-35. Vgl. zusätzlich Fox / Livingstone (2007) 551: „Isocratesʼ distinctive philosophia consists in the cultivation of highly elaborate, stylistically perfect political discourse (logos politikos) aimed at good ends, in particular the objective of unity of purpose (homonoia) among the Greeks which will lead to them fighting against non-Greeks, and not amongst themselves.“ Dieses Prinzip wendet Dionysios in der Rede des Brutus vor der Volksversammlung an, als es darum geht, Patrizier und Plebeier zu gemeinsamem Vorgehen gegen die Tarquinier zu motivieren. Vgl. Kapitel 5.3.2.2.4. Davon abgesehen, lässt sich das Konzept der πολιτικοὶ λόγοι auf die Reden in der Darstellung der Königszeit nur bedingt anwenden. 463 Fox / Livingstone (2007) 555. Vgl. Swain (1996) 21-27. auch Reden von Einzelpersonen an politische Führungspersonen wie etwa die Rede des Brutus, als er die im Hause des Lucretius anwesenden Patrizier zum Sturz der Tarquinier aufruft. Einerseits ist dieses Übergewicht der Reden mit politischen Implikationen durch die Thematik eines Geschichtswerkes bedingt, das den Aufstieg Roms zur Weltmacht und dessen innenwie außenpolitische Faktoren behandelt, und bedarf zumindest in dieser Hinsicht kaum einer wei‐ teren Erläuterung. Die römische Geschichte war in erster Linie politische und militärische Geschichte. 461 Andererseits ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich für Dionysios mit dem Begriff πολιτικοὶ λόγοι ein komplexes Konzept verband, das auf Isokrates zurückging und dem zufolge die Praxis der Rede nach klassizistischen Idealen (stilistisch und moralisch) wichtiger Bestandteil des klassizistischen Mimesis-Programms war. 462 Dionysios spielt eine wichtige Rolle im Kontext des griechischen Klassizismus des 1. Jahrhunderts v. Chr., der insofern weitreichende Folgen zeitigte, als er in die Zweite Sophistik mündete und mit zur Bildung einer griechischen Literatursprache und eines Idealbildes der griechischen Klassik beitrug. 463 Politik und Rhetorik bilden in diesem Zusammenhang eine Einheit. Wie Matthew Fox und Niall Livingstone ausführen: „Dionysiusʼ rhetorical interests are inseparable from his cultural and political ones: the imitation of classical models of rhetoric was a means of perpetuating the political ideals elaborated most clearly by Isocrates, of a Greek world imbued with a sense of its own destiny, one founded upon philosophical ideals. It was in looking back to Isocrates, and by adapting his ideas about rhetoric to a different linguistic and cultural context, that Dionysius paved the way for the so-called Second Sophistic, a period when rhetorical performance once again flourished 144 5 Reden <?page no="145"?> 464 Fox / Livingstone (2007) 555. 465 Ant. 4,65,1. 466 Ant. 4,65,2-3. in the semi-autonomous poleis of the Greek world under Roman rule, where the language of classical rhetoric was used to explore the political and philosophical ramifications of Roman power in relation to Greek traditions.“ 464 5.3.1 Die Kombination von direkter und indirekter Rede An mehreren Stellen der Königszeitbücher begegnet das Verfahren, dass eine Rede nicht zur Gänze in direkter Form wiedergegeben ist, sondern dass die oratio recta erst einsetzt, nachdem ein Teil der Rede in indirekter Form vorangegangen ist. Ein Beispiel dafür ist die Rede des Sextus Tarquinius im vierten Buch, als er mit dem Schwert in der Hand in das Schlafgemach der Lucretia eindringt und sie bedroht: Ἐπιστὰς δὲ τῇ κλίνῃ διεγερθείσης ἅμα τῷ συνεῖναι τὸν ψόφον τῆς γυναικὸς καὶ πυνθανομένης, ὅστις εἴη, φράσας τοὔνομα σιωπᾶν ἐκέλευε καὶ μένειν ἐν τῷ δωματίῳ σφάξειν αὐτὴν ἀπειλήσας, ἐὰν ἐπιχειρήσῃ φεύγειν ἢ βοᾶν. τούτῳ καταπληξάμενος τῷ τρόπῳ τὴν ἄνθρωπον αἱρέσεις αὐτῇ δύο προὔτεινεν, ὧν ποτέραν αὐτὴ προῃρεῖτο λαβεῖν ἠξίου, θάνατον μετ᾽αἰσχύνης ἢ βίον μετ᾽ εὐδαιμονίας. 465 Als er an ihr Bett trat und die Frau beim ersten Geräusch aufwachte und fragte, wer er sei, da sagte er ihr seinen Namen, befahl ihr, zu schweigen und im Zimmer zu bleiben, und drohte ihr, sie zu ermorden, wenn sie zu fliehen oder zu schreien versuchen würde. Nachdem er dem Frauenzimmer auf diese Weise Schrecken eingejagt hatte, bot er ihr zwei Möglichkeiten zur Wahl an und forderte, dass sie die von ihr bevorzugte nehme: einen Tod in Schande oder ein Leben in Wohlstand. Erst danach setzt die direkte Rede ein: Εἰ μὲν γὰρ ὑπομενεῖς, ἔφη, χαρίσασθαί μοι… 466 Auffallend ist, dass gerade der hochdramatische Beginn der Rede nicht in direkter, sondern in indirekter Form gegeben wird. Der indirekte Teil beinhaltet die wesentlichen Informationen sowohl für Lucretia als auch für den Leser; die übrige, direkte, Rede stellt demgegenüber lediglich eine breitere Ausgestaltung und Differenzierung dar. Sie dient zum einen zur Charakterisierung des Sextus Tarquinius und zur Darlegung seiner Motivationen für den Leser. Zum anderen stellt sie eine Art Ruhepunkt für den Leser dar, um den Auftakt dieser für antikes Werteverständnis derart ungeheuerlichen Szene abzumildern. Sie gibt ihm die Möglichkeit, das soeben Gehörte zu verarbeiten, bevor es zur eigent‐ lichen Vergewaltigung der Lucretia kommt. Die Überleitung von Erzähltext 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 145 <?page no="146"?> 467 Im Gegensatz dazu ist die Darstellung des Livius eher abrupt gestaltet, vgl. Liv. 1,58,2: Vbi exceptus benigne ab ignaris consilii cum post cenam in hospitale cubiculum deductus esset, amore ardens, postquam satis tuta circa sopitique omnes uidebantur, stricto gladio ad dormientem Lucretiam uenit sinistraque manu mulieris pectore oppresso „Tace, Lucretia“ inquit; „Sex. Tarquinius sum; ferrum in manu est; moriere, si emiseris uocem.“ 468 Ant. 4,65,4. 469 Ant. 2,3,1-8. 470 Ant. 2,3,1-7. 471 Ant. 2,3,8. zu direkter Rede in Form von oratio obliqua bewirkt zudem in Kombination mit der Beschreibung von Sextusʼ Eindringen in das Gemach einen fließenden Übergang. 467 An die Rede des Sextus in oratio recta schließen die Worte an: Ὡς δὲ πολὺς ἦν ἀπειλῶν θ᾽ ἅμα καὶ ἀντιβολῶν καὶ διομνύμενος ἀληθεύειν τῶν λεγομένων ἑκάτερον, εἰς ἀνάγκην ἦλθεν ἡ Λουκρητία φοβηθεῖσα τὴν περὶ τὸν θάνατον ἀσχημοσύνην εἶξαί τε καὶ περιιδεῖν αὐτὸν ἃ προῃρεῖτο διαπραξάμενον. 468 Als er unablässig drohte und zugleich flehte und schwor, jedes einzelne seiner Worte sei wahr, da sah sich Lucretia aus Furcht vor dem unschicklichen Tod gezwungen, nachzugeben und das zu erdulden, was er ihr antun wollte. Somit geht die direkte Rede des Sextus Tarquinius zum einen wieder in die indirekte Form über, zum anderen wird das, was er noch sagt, in knapper Form zusammengefasst, da es sich wohl im Wesentlichen um ähnliche Drohungen und Versprechungen handelt wie die, die in direkter Form gegeben sind, dem Leser also der Eindruck der Redundanz erspart werden soll. Im vorliegenden Fall hat die Wiedergabe einer Rede in kombinierter Form von oratio recta und oratio obliqua also zwei verschiedene Funktionen. So dient dieses Verfahren der Verknappung von Inhalten, die der Leser bereits kennt und deren Wiederholung den Eindruck von Langatmigkeit hervorrufen, mithin zur Ermüdung des Lesers und dem Nachlassen seiner Aufmerksamkeit beitragen würde. Zudem sorgt sie wiederum für einen behutsameren Übergang zwischen Erzähltext und direkter Rede. Ein weiteres Beispiel für die Verbindung von indirekter und direkter Rede findet sich im zweiten Buch. Es handelt sich um die Rede des Romulus im Zusammenhang mit dessen Machtübernahme. 469 Eingeleitet wird sie wie die Rede des Sextus Tarquinius zunächst in indirekter Form, 470 bevor der Text zur Wiedergabe in oratio recta wechselt. 471 Der weitaus größere Anteil der Äußerungen des Romulus steht somit in indirekter Rede. Bemerkenswert ist 146 5 Reden <?page no="147"?> 472 Ant. 2,3,1: ὑποθεμένου τοῦ μητροπάτορος καὶ διδάξαντος ἃ χρὴ λέγειν. 473 Ant. 2,4,1: Τοιαῦτα μὲν ὁ Ῥωμύλος ἐκ διδαχῆς τοῦ μητροπάτορος, ὥσπερ ἔφην, ἀπομνημονεύσας ἐν τοῖς πλήθεσιν ἔλεξεν. 474 So auch Wiater (2011a) 175f. indes nicht allein die Abwechslung von oratio recta und oratio obliqua; es ist auch der einleitende Hinweis, der der gesamten Rede vorausgeschickt wird, dass Romulus hinsichtlich deren Inhalt von seinem Großvater Numitor instruiert worden sei. 472 Der gleiche Hinweis findet sich zusätzlich ein weiteres Mal im Anschluss an die Wiedergabe der direkten Rede. 473 Somit ist der Wortlaut, den die Römer als intradiegetische Adressaten hören, zwar derjenige des Romulus, Thema und Argumentation jedoch stammen von einer anderen Figur, dem greisen Numitor. Dadurch wird natürlich die Rolle des Romulus in dieser entscheidenden Rede, in der es um die künftige monarchische Verfassung Roms geht, erheblich abgeschwächt. Zugleich verfügt der Inhalt jedoch über höhere Autorität, da Numitor zum einen als alter Mann und zum anderen als König den Eindruck von Weisheit und Überlegung transportiert, den der jugendliche Ro‐ mulus nur bedingt zu bieten vermag. Die beiden Figuren ergänzen sich insofern, als Romulus als Verkörperung von Jugend, Tatkraft und Zukunftsorientiertheit gelten kann und Numitor als der erfahrene verständige Kopf, der die Ordnung des Staatswesens konzipiert hat. Der für die römische Identität so bedeutsame mos maiorum und damit einhergehende Konzepte von Autorität und Legitimität mögen hier eine Rolle spielen. Doch diese Denkfigur ist nicht allein in römischer Denkweise fest verwurzelt; die Figur des weisen Ratgebers, die in Gestalten wie Nestor verkörpert ist, spielt auch in der griechischen Literatur eine Rolle. 474 Insofern dürften nicht nur römische, sondern auch griechische Leser in der Urheberrolle, die der Text Numitor in Bezug auf die römische Verfassung zuschreibt, eine Aufwertung und Legitimation dieser Verfassung gesehen haben. Ein Grund für die Wiedergabe der Romulus-Rede in weitgehend indirekter Form mögen zudem auch hier Überlegungen der Ästhetik sein, in denen die Erzeugung eines fließenden Überganges von Erzählung über indirekte Rede hin zur direkten Rede für erstrebenswert gehalten wird. Dessen ungeachtet scheint mir die hauptsächliche Begründung in der expliziten Nennung des Numitor als Urheber und Gewährsmann der Qualität des Redeninhaltes zu liegen, denn die Worte, die Romulus zur Versammlung spricht, stellen in sich bereits insofern eine indirekte Rede dar, als sie die Ideen eines anderen präsentieren. In diesem Sinne ist es erzähltechnisch konsequent, die Rede indirekt wiederzugeben, damit sich beim Leser der Eindruck einstellt, es handle sich tatsächlich um die Wiedergabe der Worte des Numitor. Daneben gilt für diese Romulus-Rede das Gleiche wie für alle Reden aus den Büchern über die frühe Königszeit: 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 147 <?page no="148"?> 475 Vgl. Fromentin (1998) 52: „L’importance que Denys accorde, sur le plan théorique, à la recherche et à l’examen critique des sources littéraires et l’application systématique qu’il fait de ce principe dans le livre I, qui abonde en références textuelles et en citations d’auteurs, sont l’un des traits qui le distinguent le plus nettement de Tite-Live.“ 476 Meins (2019) 141-144, hier 144. Erstaunlicherweise fällt der Begriff des πρέπον bei Meins in diesem Zusammenhang nicht, obwohl er zweifelsohne gemeint sein muss. 477 Ant. 7,34,3-5. 478 Ant. 9,44,5-45,2. 479 Meins (2019) 144. Ebd. heißt es weiter: „[…] deren Wortlaut Dionysios der Leserschaft vorenthält.“ 480 Ant. 9,44,6-8. 481 Ant. 9,45,1-2. Dionysios können keine Quellen zur Verfügung gestanden haben, allenfalls später entstandene Überlieferungen. Mittels weitreichender Verwendung der indirekten Form entgeht er dem Dilemma, einen Original-Wortlaut einer Rede und damit Zugang zu Originaldokumenten zu simulieren, über den er nicht verfügte, und vermeidet es, sich womöglich dem Vorwurf der Unglaubwürdig‐ keit auszusetzen. 475 Friedrich Meins vertritt in Bezug auf die Verwendung indirekter Rede in den Antiquitates die Auffassung, diese werde in Fällen eingesetzt, in denen die gehaltene Rede aus Sicht des Dionysios nicht den Kriterien des πρέπον entsprochen habe, sondern „der Situation und dem Publikum nicht angemessen“ gewesen sei und daher „Schaden“ verursacht habe. Derartige Reden seien aus Sicht des Dionysios nicht nachahmenswert und würden daher nicht in oratio recta gegeben. 476 Meins legt seiner These eine Rede des Coriolan 477 sowie eine Rede des Appius Claudius 478 zugrunde; beide Reden stehen in oratio obliqua. Sie tragen zu einer Zuspitzung des innenpolitischen Konfliktes bei, in dessen Zusammenhang sie gehalten werden. Wenngleich Meinsʼ These über eine gewisse Plausibilität zu verfügen scheint, so ist sie dennoch zu hinterfragen, beruht sie doch in einem der beiden Fälle, auf die sie sich stützt, auf einer unzutreffenden Annahme. So heißt es bei Meins über die Rede des Appius Claudius: „Diese Rede wird von Dionysios nicht einmal paraphrasiert, lediglich sein Urteil über ihre Form und Wirkung gibt er zum Besten.“ 479 Ein Blick in den Text der Antiquitates zeigt jedoch, dass der Leser über die Ausführungen des Appius Claudius keineswegs im Unklaren gelassen wird, denn der Hauptteil der Rede ist in oratio obliqua gegeben, 480 ihr Schluss sogar in oratio recta. 481 Zudem finden sich bei Dionysios direkte Reden, die auf der politischen Ebene Schaden verursachen, obwohl sie in ihrer Gestaltung der Situation und dem intradiegetischen Adressaten entsprechen und der Sprecher mit ihnen die 148 5 Reden <?page no="149"?> 482 Ant. 4,4,4-8. Verwirklichung seiner Redeabsicht erreicht, wie etwa die Reden der Tanaquil und der Tullia, auf die ich weiter unten eingehen werde. Das Kriterium des πρέπον bietet somit keine ausreichende Erklärung für die Wiedergabe einer Rede in der indirekten statt in der direkten Form. Vielmehr scheint mir zusätzlich zu den oben genannten möglichen Gründen die Auffassung des Dionysios von der historischen Bedeutung einer Situation eine zentrale Rolle zu spielen, insbesondere wenn es sich um Reden handelt, die eine innenpolitische (insbesondere institutionelle) Veränderung nach sich ziehen. Dies entspricht der theoretischen Forderung des Dionysios nach der Einschaltung von direkten Reden an bedeutsamen Punkten des Geschehens. Die nachfolgende Analyse ausgewählter Reden aus den Königszeitbüchern wird dies veranschaulichen. 5.3.2 Analyse ausgewählter Reden 5.3.2.1 Frauen als politische Akteure Ein Merkmal, das Dionysios von anderen griechischen Historikern wie Thu‐ kydides unterscheidet, ist der Umstand, dass er seinen Frauenfiguren umfang‐ reiche Reden in den Mund legt, die für die historische Entwicklung von nachhaltiger Bedeutung sind. In den Büchern der Königszeit handelt es sich hierbei um die großen Reden der beiden etruskischen Königinnen Tanaquil und Tullia, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen. Ihnen ist nicht nur gemeinsam, dass sie von Frauen gehalten werden, sondern sie erfüllen darüber hinaus auch ähnliche Funktionen innerhalb des Erzählzusammenhangs, weshalb es naheliegt, sie in einer gemeinsamen Sektion zu betrachten. 5.3.2.1.1 Tanaquil Die Rede der Tanaquil 482 motiviert die Machtübernahme des Servius Tullius, nachdem der alte König Tarquinius dem Attentat der Söhne des Ancus Marcius zum Opfer gefallen ist. Der Text nimmt das Ergebnis der Rede im Sinne eines foreshadowing bereits vorweg, denn ant. 4,4,2 heißt es, Tanaquil habe ihrem 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 149 <?page no="150"?> 483 Zu den näheren Umständen s. Kapitel 4.5.1.2. Zur Technik des foreshadowing bzw. des „suspense of anticipation“ s. Miltsios (2009) 484f.: „As is well known, the foreshadowing of future events does not destroy suspense, and where it occurs it usually adds to the anticipation an element of uncertainty concerning not the outcome, but the manner of fulfillment. In this way, various possible future courses of action are opened up for us as readers, who are left free to wait and watch what we either wish or dread to see happen. As we are led to share the emotions of the characters and hope or fear with them, our expectancy is all the more intensified. Hence the foreshadowing of the future action lessens by no means our interest in the story; on the contrary, it leaves us in a state of emotional tension as to the way in which the action will unfold.“ Die Vorgehensweise des Dionysios, den Ausgang eines historischen Ereignisses bereits vorwegzunehmen und dadurch eine sogenannte Wie-Spannung aufzubauen, kehrt auch ant. 3,72,1-2 und 4,27,7 wieder. 484 Die Rede ist zwar auch an die anderen im Raum anwesenden Personen, die Frau des Servius Tullius und seine Mutter Ocrisia, gerichtet, da Tanaquil häufig in der 2. Person Plural spricht, doch ist der primäre Adressat Servius Tullius. 485 Ant. 4,4,4. Schwiegersohn den Weg zur Königsherrschaft gebahnt; der Leser wird also mit Spannung verfolgen, auf welche Weise dies nun geschieht. 483 Tanaquil beginnt ihre Rede an Servius Tullius folgendermaßen: 484 Ταρκύνιος μὲν ἡμῖν ὁ βασιλεύς, ὦ Τύλλιε, παρ᾽ ᾧ τροφῆς καὶ παιδείας ἔτυχες, ἁπάντων μάλιστα σὲ τιμήσας φίλων καὶ συγγενῶν ἀνόσια παθὼν ἐκπεπλήρωκε τὴν ἑαυτοῦ μοῖραν οὔτε περὶ τῶν ἰδίων πραγμάτων διαθέμενος οὐδὲν οὔτε περὶ τῶν κοινῶν καὶ πολιτικῶν ἐπισκήψας, ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ἀσπάσασθαί τινα ἡμῶν καὶ προσαγορεῦσαι τοὺς ἐσχάτους ἀσπασμοὺς δυνηθείς. ἔρημα δὲ καὶ ὀρφανὰ τὰ δύστηνα ταυτὶ παιδία καταλείπεται κίνδυνον οὐ τὸν ἐλάχιστον ὑπὲρ τῆς ψυχῆς τρέχοντα· εἰ γὰρ ἐπὶ Μαρκίοις τοῖς ἀνελοῦσι τὸν πάππον αὐτῶν τὰ τῆς πόλεως ἔσται πράγματα, τὸν οἴκτιστον ἀπολοῦνται τρόπον ὑπ᾽ αὐτῶν· ἔσται γ᾽ οὐδ᾽ ὑμῖν ἀσφαλὴς ὁ βίος, οἷς ἐνεγγύησε Ταρκύνιος τὰς ἑαυτοῦ θυγατέρας ἐκείνους ὑπεριδών, ἐὰν οἱ φονεύσαντες αὐτὸν τὴν ἀρχὴν κατάσχωσιν, οὐδὲ τοῖς ἄλλοις αὐτοῦ φίλοις καὶ συγγενέσιν οὐδ᾽ ἡμῖν ταῖς ἀθλίαις γυναιξίν· ἀλλὰ πάντας ἡμᾶς φανερῶς τε καὶ κρύφα πειράσονται διολέσαι. 485 Tarquinius, unser König, o Tullius, der dich nährte und erzog und der dich von allen Freunden und Verwandten am meisten ehrte, hat sein Schicksal erfüllt, indem er Frevelhaftes erleiden musste, ohne eine Bestimmung über seine privaten Angelegen‐ heiten getroffen zu haben und ohne etwas für das Gemeinwesen und die politischen Belange verfügt zu haben. Stattdessen konnte er nicht einmal einen von uns umarmen und das letzte Lebewohl sprechen. Einsam und verwaist lässt er diese armen Kinder hier zurück, deren Leben nicht wenig bedroht ist: Wenn nämlich die Macht über den Staat bei den Marcii liegen wird, die ihnen den Großvater genommen haben, 150 5 Reden <?page no="151"?> 486 Ebenso Wiater (2018) 42 Anm. 17. 487 So auch ant. 4,4,5: τοὺς ἐκεῖνον ἀποκτείναντας ἄνδρας ἀνοσίους καὶ πᾶσιν ἡμῖν ἐχθροὺς. 488 Man beachte die rhetorische Wendung οὐδ᾽ ἡμῖν ταῖς ἀθλίαις γυναιξίν: Tanaquil widerlegt de facto mit ihrer Rede das Klischee der zu bedauernden Frau, die sich schutzlos der Gefahr ausgeliefert sieht und auf männliche Hilfe angewiesen ist; denn sie ist es ja, die mit ihrem strategischen Geschick das Überleben der Familie sichert und Servius Tullius Unterstützung bietet, nicht umgekehrt. Vgl. zur Charakterisierung der Tanaquil auch Noggler (2000) und Wiater (2018) 42 f. Anm. 17. 489 Tanaquils hervorragende Eigenschaft ist ihre σοφία, vgl. ant. 4,2,2 sowie 3,47,4. S. dazu Wiater (2018) 42 Anm. 17. 490 Ant. 4,4,5-6. dann werden sie von diesen auf die jammervollste Weise getötet werden. Und auch euer Leben wird nicht sicher sein, wenn die Mörder des Tarquinius zur Herrschaft gelangen, da er euch seine Töchter zur Frau gab und jene überging, und auch nicht das Leben seiner anderen Freunde und Verwandten und das von uns armen Frauen: Sondern uns alle werden sie offen und heimlich zu vernichten suchen. Der Beginn der Rede verleiht der Situation Dramatik und zielt darauf ab, die Emotionen der intrawie extradiegetischen Rezipienten anzusprechen, die mit der Königsfamilie und insbesondere den kleinen Enkelkindern Mitleid empfinden und um deren Leben fürchten sollen. 486 Sollte es den Attentätern gelingen, nach dem Anschlag auf den König nun die Macht im Staat an sich zu reißen, ist damit zu rechnen, dass sie ohne Zögern sämtliche Nachkommen des Tarquinius beseitigen werden, um ihre Machtposition zu sichern und sich vor Vergeltungsversuchen zu schützen. Tanaquil hebt das Frevelhafte (ἀνόσια) des Attentats hervor und kontrastiert die verbrecherischen Absichten der Mörder mit den Wohltaten, die Servius Tullius von Tarquinius empfangen habe und die dessen guten Charakter herausstellen. 487 Diese Anfangsworte charakterisieren Tanaquil als Frau, die sich entspre‐ chend dem griechisch-römischen Weiblichkeitsideal um die Sicherheit ihrer Familie sorgt. 488 Doch die Fortsetzung ihrer Rede zeigt sodann ihre Klugheit, 489 denn sie trägt einen Plan vor, wie es gelingen könne, die Gefahr für Staat und Familie zu bannen; es sei nicht der rechte Zeitpunkt, auf Waffengewalt zurück‐ zugreifen, vielmehr erfordere die Situation eine List: Man dürfe es nicht an die Öffentlichkeit dringen lassen, dass der König verstorben sei, sondern müsse vorgeben, er sei am Leben und habe für die Zeit seiner Krankheit den Servius Tullius als Stellvertreter eingesetzt, was der Bevölkerung nicht unangenehm sein werde, da dieser den alten König schon öfter bei den Regierungsgeschäften unterstützt habe. 490 Sie fährt fort: 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 151 <?page no="152"?> 491 Ant. 4,4,7-8. 492 So auch Wiater (2018) 45 Anm. 21. 493 Ant. 4,4,8. 494 Ant. 4,5,1-3. ὅταν δὲ τὸν παρόντα κίνδυνον διασκεδάσωμεν, οὐδὲν γὰρ ἔτι τῶν ἐχθρῶν ἰσχυρόν ἐστι ζῆν τοῦ βασιλέως ἀγγελλομένου, παραλαβὼν σὺ τάς τε ῥάβδους καὶ τὴν τῶν ὅπλων ἐξουσίαν κάλει τοὺς βουλεύσαντας ἀποκτεῖναι Ταρκύνιον ἐπὶ τὸν δῆμον ἀπὸ τῶν Μαρκίου παίδων ἀρξάμενος καὶ πρόθες αὐτοῖς δίκας· τιμωρησάμενος δὲ τούτους ἅπαντας, ἐὰν μὲν ὑπομείνωσι τὰς κρίσεις, θανάτοις, ἐὰν δ᾽ ἐρήμους ἀφῶσιν, ὃ μᾶλλον αὐτοὺς οἶμαι ποιήσειν, ἀειφυγίᾳ καὶ δημεύσει τῶν ὑπαρχόντων, καθίστασ᾽ ἤδη τὰ περὶ τὴν ἀρχὴν ὁμιλίαις τε φιλανθρώποις τὸ πλῆθος ἀναλαμβάνων καὶ τοῦ μηδὲν ἀδίκημα γενέσθαι πολλὴν ἔχων φροντίδα καὶ τοὺς ἀπόρους τῶν πολιτῶν εὐεργεσίαις τισὶ καὶ δωρεαῖς ὑπαγόμενος· ἔπειθ᾽ ὅταν ἡμῖν καιρὸς εἶναι δοκῇ, τότε λέγωμεν ἀποτεθνηκέναι Ταρκύνιον καὶ ταφὰς αὐτοῦ ποιῶμεν ἀπὸ τοῦ φανεροῦ. 491 Wenn wir die gegenwärtige Gefahr gebannt haben - denn die Feinde verfügen über keine Macht mehr, wenn gemeldet wird, der König lebe -, übernimm du die Rutenbündel und die Gewalt über das Heer, und rufe diejenigen vor das Volk, die den Entschluss zur Ermordung des Tarquinius gefasst haben, beginnend mit den Söhnen des Marcius, und mache ihnen den Prozess. Hast du diese alle bestraft - wenn sie der Verhandlung beiwohnen, mit dem Tod, wenn man sie, wie ich es für wahrscheinlicher halte, in Abwesenheit verurteilt, mit ewiger Verbannung und Konfiszierung ihres Besitzes -, dann festige sofort deine Herrschaft, indem du die Menge durch freundlichen Umgang für dich gewinnst und viel Umsicht darauf verwendest, dass kein Unrecht geschehe, und indem du die Armen unter den Bürgern durch Wohltaten und Geschenke für dich einnimmst: Wenn uns dann der rechte Moment gekommen scheint, dann wollen wir verkünden, dass Tarquinius verstorben ist, und wollen ihn öffentlich bestatten. Die Rede endet in einer Ringkomposition, 492 denn Tanaquil ruft ihrem Schwie‐ gersohn nochmals die von Tarquinius und ihr selbst empfangenen Wohltaten in Erinnerung. Zudem legt sie ihm ans Herz, ihren Enkeln den Vater zu ersetzen und die Königsherrschaft an den älteren von beiden (den späteren Tarquinius Superbus) abzutreten, sobald dieser erwachsen sei. 493 Die Reaktion der intradiegetischen Rezipienten zeigt, dass Tanaquils Rede er‐ folgreich ist, denn ihr Plan wird genauso umgesetzt, wie sie ihn dargelegt hat. 494 So gelingt es ihr tatsächlich, Servius Tullius die Königsmacht zu verschaffen und die Attentäter ihres Mannes deren Bestrafung zuzuführen. Die Gefahr eines Staatsstreichs und der Auslöschung ihrer Familie ist somit durch ihr strategisches Geschick und ihre wirkungsvolle Rhetorik beseitigt worden. Doch 152 5 Reden <?page no="153"?> 495 Delcourt (2005) 330 bezeichnet Servius Tullius in den Antiquitates als „figure pro‐ téiforme“, da dieser Gestalt in der Tat eine starke Ambivalenz innewohnt. Servius Tulliusʼ fragwürdige Abstammung im Zusammenhang mit den Vorzeichen, die seine Bestimmung zur Herrschaft ankündigen, die den bisherigen politischen Usancen nicht entsprechende Machtübernahme und die von diesem König durchgeführten innenpolitischen Reformen rücken ihn in ein zweifelhaftes Licht. Aufgrund seiner volksfreundlichen Politik steht er sogar im Verdacht, die Monarchie durch eine Demo‐ kratie ersetzen zu wollen, s. ant. 4,40,3. Vgl. Delcourt (2005) 322-337. 496 Ant. 4,7,2. 497 Ant. 4,7,3-12,3. Vgl. Briquel (1998) 400 f.; Wiater (2018) 50 Anm. 33. 498 Ebenso Delcourt (2005) 327. Man bedenke allerdings, dass auch die Söhne des Ancus Marcius ihren Anspruch auf die Königswürde unter Berufung auf ihre Abstammung rechtfertigen; s. ant. 3,72,1. spiegelt die Rede die ambivalente Rolle der Tanaquil in den Antiquitates, denn ihr Vorgehen zur Sicherung der Macht für ihren Schwiegersohn hat nicht nur private Implikationen; es bedeutet nicht lediglich die Rettung ihrer Angehörigen vor der drohenden Ermordung durch die Söhne des Ancus Marcius und die Bewahrung der Königswürde innerhalb der Familie. Auf der staatspolitischen Ebene wohnt dem Eingreifen der Tanaquil eine starke Problematik inne, stellt es doch eine Abkehr von den bis dahin in Rom üblichen Konventionen der Herrscherwahl dar. Um diesen zu entsprechen, müsste Servius Tullius eigentlich durch öffentliche Wahl und durch die Bestätigung des Senats zum König bestimmt werden. 495 Die Patrizier reagieren denn auch mit Missfallen auf die Umstände seiner Inthronisation; 496 es kommt zu einem Riss innerhalb der Gesellschaft, da Servius Tullius sich zur Sicherung seiner Herrschaft auf die Volksversammlung stützt und sich nur von dieser als König bestätigen lässt. 497 Das Prinzip der freien Wahl wird umgangen zugunsten des dynastischen Prinzips. 498 Die Frau, Tanaquil, fungiert somit als Grund für eine gravierende innenpolitische Veränderung, welche das Funktionieren der staatlichen Insti‐ tutionen betrifft. Doch nicht nur das Prinzip der freien Wahl ist durch die Umstände der Thronbesteigung des Servius Tullius aufgehoben, auch die Trans‐ parenz der römischen Politik ist beseitigt. Durch ihren Geheimplan, durch das Agieren einer einzigen Familie in einer staatlichen Angelegenheit von höchstem öffentlichen Interesse, in einer Frage, in der bis zu diesem Zeitpunkt der Senat an den politischen Entscheidungen beteiligt war, ist ein Grundpfeiler des römischen Staates, namentlich der öffentliche Vollzug der Politik, obsolet geworden. Dies geschieht in der großangelegten Szene am Totenbett des Königs Lucius Tarquinius, die man als Geheimkabinett betrachten kann; die Öffentlich‐ keit bleibt davon ausgeschlossen. Durch ihr Handeln bereitet Tanaquil somit mittelbar der Entwicklung hin zur Gewaltherrschaft des Tarquinius Superbus 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 153 <?page no="154"?> 499 In ähnlicher Weise stachelt im ersten Buch Amita Turnus zum Krieg gegen die Trojaner und Latiner an, jedoch kommt ihr im Text keine vergleichbar bedeutende Rolle zu wie Tullia; s. ant. 1,64,2. 500 Ant. 4,29,1. 501 Das Wegschicken der Bediensteten als Verschwörungsmotiv kehrt wieder im Rahmen des Geheimtreffens, das die Rückführung der gestürzten Tarquinier nach Rom bewirken den Boden. Ihre hortative Rede an Servius Tullius ist vom Leser aitiologisch aufzufassen, da von ihr der Anstoß für diese Entwicklung ausgeht. 5.3.2.1.2 Tullia Die Figur der Tullia setzt die durch Tanaquils politisches Agieren nach dem Tod des Tarquinius eingeleitete problematische Entwicklung des Königtums in Rom fort. Besonders deutlich kommt dies in der Rede der Tullia zum Ausdruck, die den Auftakt zu deren Verbrechen bildet. 499 Es entspricht dem wagemutigen und durch und durch unweiblich konnotierten Charakter der Figur, dass sie sich nicht scheut, in die „männliche“ Rolle eines Redners zu schlüpfen. Die an ihrer unverwirklichten Herrschsucht leidende Tullia hegt den Plan, ihren Vater, den König, zu beseitigen, um selbst an die Macht im Staat zu gelangen. Da ihr Ehemann Arruns zu solcher Freveltat nicht bereit ist, richtet sie ihr Augenmerk kurzerhand auf ihren Schwager Lucius Tarquinius, der mit ihrer Schwester verheiratet ist und dessen ehrgeizigen Charakter sie kennt. Sie bestellt ihn zu einer Unterredung zu sich und legt in einer umfangreichen Paränese ihre verbrecherischen Pläne offen sowie den Wunsch, diese zusammen mit Tarquinius zu verwirklichen: καὶ ἐπειδὴ παρεγένετο, μεταστῆναι κελεύσασα τοὺς ἔνδον, ἵνα μόνη διαλεχθείη πρὸς μόνον, Ἆρ᾽, ἔφησεν, ὦ Ταρκύνιε, μετὰ παρρησίας ἔξεστί μοι καὶ ἀκινδύνως ἅπαντα εἰπεῖν, ὅσα φρονῶ περὶ τῶν κοινῇ συμφερόντων, καὶ καθέξεις οὓς ἂν ἀκούσῃς λόγους; ἢ σιωπᾶν ἄμεινόν ἐστί μοι καὶ μὴ φέρειν εἰς μέσον βουλὰς ἀπορρήτους; 500 Und sobald er eingetroffen war, hieß sie diejenigen, die im Zimmer waren, sich zurückziehen, damit sie sich unter vier Augen unterhalten könnten, und sagte: „Tarquinius, ist es mir möglich, offen und gefahrlos alles auszusprechen, was ich über unseren gemeinsamen Nutzen denke, und wirst du das, was du hörst, für dich behalten? Oder ist es besser für mich, zu schweigen und meine geheimen Pläne nicht offen zu legen? “ Bereits dieser Auftakt zeigt die Klugheit der Sprecherin, denn sie sorgt dafür, dass die Unterredung keine unerwünschten Mitwisser hat, und schickt die (nicht näher bezeichneten) Anwesenden aus dem Zimmer, 501 um sich sodann der Verschwiegenheit des Tarquinius zu vergewissern. Tullia ist sich also der 154 5 Reden <?page no="155"?> soll, s. ant. 5,7,2. Vgl. dagegen das Aufgreifen des Motivs im positiven Sinne ant. 4,70,4, als die Patrizier im Hause des Lucretius über die Vertreibung der Tarquinier beraten. 502 Ant. 4,29,2. 503 Ant. 4,29,2. moralischen und staatspolitischen Tragweite ihres Planes durchaus bewusst. Um ganz sicher zu gehen, dass der Inhalt des Gesprächs zwischen ihr und Tarquinius bleibt, lässt sie diesen noch zusätzlich zu seiner Versicherung einen Schwur tun, mit niemandem darüber zu sprechen. Er geht bereitwillig darauf ein; dies wird dem Leser jedoch nur indirekt mitgeteilt, seine genauen Worte erfährt man nicht. 502 In der gesamten Szene ist es allein Tullia, die spricht, wodurch die Aufmerksamkeit und auch die Verantwortung für den Gang der Erzählung auf ihre Person konzentriert wird. Tarquinius bleibt für den Leser in dieser entscheidenden Situation stumm. Nachdem sie nun also ausreichende Vorsichtsmaßnahmen getroffen hat, setzt Tullia zu ihrer Rede an: Μέχρι τίνος, ὦ Ταρκύνιε, τῆς βασιλείας ἀποστερούμενος ἀνέχεσθαι διανοῇ; πότερον ἐκ ταπεινῶν καὶ ἀσήμων ἔφυς προγόνων καὶ διὰ τοῦτ᾽ οὐκ ἀξιοῖς ἐπὶ σεαυτῷ μέγα φρονεῖν; ἀλλὰ πάντες ἴσασιν, ὅτι τοῖς μὲν ἀρχαίοις ὑμῶν προγόνοις Ἕλλησιν οὖσι καὶ ἀφ᾽ Ἡρακλέους γεγονόσι τῆς εὐδαίμονος ἄρξαι Κορίνθου τὴν αὐτοκράτορα ὑπῆρξεν ἀρχὴν ἐπὶ πολλάς, ὡς ἀκούω, γενεάς· τῷ δὲ πάππῳ σου Ταρκυνίῳ μεταθεμένῳ τὴν οἴκησιν ἐκ Τυρρηνῶν ταύτης βασιλεῦσαι τῆς πόλεως ἐξεγένετο δι᾽ ἀρετήν· οὗ σὺ κληρονομεῖν οὐ μόνον τῶν χρημάτων, ἀλλὰ καὶ τῆς βασιλείας ὀφείλεις πρεσβύτερος υἱωνὸς ὤν. 503 Wie lange noch, Tarquinius, gedenkst du der Herrschaft fern zu bleiben, die man dir geraubt hat? Stammst du etwa von niedrigen und unscheinbaren Vorfahren ab und hältst dich deshalb für unwürdig, stolz auf dich selbst zu sein? Aber es wissen alle, dass deine Ahnen von Alters her Griechen sind und von Herakles abstammen und viele Generationen hindurch, wie ich höre, die alleinige Herrschaft über das wohlhabende Korinth innehatten: Dein Großvater Tarquinius, der seinen Wohnsitz aus dem Land der Tyrrhener hierher verlegt hatte, gelangte durch seine Tüchtigkeit zur Königsherrschaft über diese Stadt. Dir steht es zu, nicht nur seine Besitztümer zu erben, sondern auch die Königswürde, weil du sein ältester Enkel bist. Erstaunlich mutet der Beginn von Tullias Rede an: „Wie lange noch …? “ Sie setzt mit Wucht ein, nämlich mit dem geschickt formulierten Vorwurf der Pas‐ sivität an Tarquinius, der einen Pfeil auf dessen männliches Selbstverständnis abschießt. Dies allein wäre bereits bemerkenswert, da die offensive Direktheit zur Charakterisierung ihres Wesens als unweiblich im Sinne mangelnder Zu‐ 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 155 <?page no="156"?> 504 Cic. Catil. 1,1: quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? Zur Entstehungszeit der Antiquitates Romanae, also in den Jahren zwischen 30 und 8 v. Chr., waren Ciceros Catilinarien, gehalten im Jahre 63 v. Chr., bereits seit langem in Buchform greifbar, da Cicero sie nur drei Jahre nach den Ereignissen, also 60 v. Chr., durch Atticus hatte veröffentlichen lassen. Es erscheint unwahrscheinlich, dass der Rhetoriker Dionysios diesen Reden während seiner Zeit in Rom nicht begegnet wäre, zumal sie bereits in der Antike maßgeblich zum Ruhm Ciceros als führender Redner Roms beitrugen. Doch nicht nur die einleitenden Worte, auch die Struktur der Tullia-Rede evoziert die erste Catilinarie, denn sie geriert sich wie diese als Abfolge rhetorischer Fragen. 505 Sall. Cat. 20,9-10. rückhaltung beiträgt. Jedoch fallen darüber hinaus die in diesem Redenanfang enthaltenen intertextuellen Bezüge ins Auge: Der antike Leser mag bei den Worten μέχρι τίνος… an Ciceros berühmte Anfangsworte an Catilina gedacht haben. 504 Doch lässt sich von der Tullia-Rede nicht nur eine Parallele zur ersten Catilinarie ziehen. Es liegt nahe - und sogar fast näher -, den Blick auf ein anderes Geschichtswerk zu richten, das in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. in Rom geschrieben wurde und das eine Rede enthält, die eine hervor‐ stechende intertextuelle Ähnlichkeit aufweist: die Rede des Catilina in Sallusts De coniuratione Catilinae (20,2-17): Quae quo usque tandem patiemini, o fortissumi uiri? Nonne emori per uirtutem praestat quam uitam miseram atque inhonestam, ubi alienae superbiae ludibrio fueris, per dedecus amittere? Verum enim uero, pro deum atque hominum fidem, uictoria in manu nobis est: uiget aetas, animus ualet; contra illis annis atque diuitiis omnia consenuerunt. Tantummodo incepto opus est, cetera res expediet. 505 Wie lange noch werdet ihr dies ertragen, tapferste Männer? Ist es denn nicht besser, durch virtus zu sterben, als ein elendes und ehrloses Leben durch Schande zu verlieren, ein Leben, das euch zum Spielball fremder Willkür macht? Nein, wahrhaftig! Bei den Göttern und Menschen, der Sieg ist in greifbarer Nähe, unsere Jugend verleiht uns Kraft, unser Mut Stärke; dagegen ist bei jenen alles durch ihr Alter und ihren Reichtum erlahmt, wir müssen nur beginnen, das Übrige wird sich ergeben. Auch hier gleicht der Anfang der Rede der Formulierung, mit der Tullia ihre Rede einleitet. Bei Sallust spricht der als Erzschurke dargestellte Catilina zu seinen Mitverschwörern, um sie zum Staatsstreich zu motivieren, durch den er an die Macht gelangen will. Die Situation findet sich ebenso bei Dionysios, mit dem Unterschied, dass der Erzschurke bei ihm eine Frau ist. Auch Tullia wirft ihrem textinternen Adressaten Passivität vor und nutzt für ihre Argumentation den 156 5 Reden <?page no="157"?> 506 Ant. 4,29,3-5. Ant. 4,29,5 wird das Motiv des Zauderns wieder aufgenommen: τί οὖν ἔτι μέλλεις […]. 507 Vgl. Schmal (2014) 31. 508 Sallusts Tod wird in das Jahr 34 v. Chr. datiert. Zu Lebzeiten des Dionysios war er eine Berühmtheit, s. Weaire (2005) 257. 509 Valerius Maximus eröffnet seine Reihe der Beispiele moralisch schlechten, verbreche‐ rischen Redens und Handelns, kurz: der abschreckenden exempla, mit Tullia: Nunc, quatenus uitae humanae cum bona tum etiam mala substitutis exemplorum imaginibus persequimur, dicta inproba et facta scelerata referantur. (9,11) Vnde autem potius quam a Tullia ordiar, quia tempore uetustissimum, conscientia nefa‐ rium, uoce monstri simile exemplum est? cum carpento ueheretur et is, qui iumenta agebat, succussis frenis constitisset, repentinae morae causam requisiuit, et ut comperit corpus patris Seruii Tulli occisi ibi iacere, supra id duci uehiculum iussit, quo celerius in conplexum interfectoris eius Tarquinii ueniret. qua tam impia tamque probrosa festinatione non solum se aeterna infamia, sed etiam ipsum uicum cognomine sceleris conmaculauit. (9,11,1) Auf Tullia folgt an dritter Stelle das exemplum des L. Sergius Catilina: L. uero Catilina in senatu M. Cicerone incendium ab ipso excitatum dicente „sentio“, inquit „et quidem illud, si aqua non potuero, ruina restinguam“. quem quid aliud existimemus quam conscientiae stimulis actum reum [a] se inchoati parricidii peregisse? (9,11,3) Vgl. zur Darstellung der Tullia bei Valerius Maximus Hudson (2016) 222f. Hinweis auf seine königliche Abstammung, sein jugendliches Alter und seine Tatkraft sowie seine mutige Veranlagung. 506 Sallusts Monographie über die Catilinarische Verschwörung entstand wohl 42 v. Chr., als die dargestellten Ereignisse bereits rund 20 Jahre zurücklagen. 507 Ob Dionysios Sallusts Werke kannte, entzieht sich unserer Kenntnis. Als er in Rom ankam, war Sallust zwar bereits seit mehreren Jahren verstorben, jedoch nicht lange genug, um bereits in Vergessenheit geraten zu sein, ganz im Gegenteil. 508 Möglicherweise beziehen die Antiquitates sich hier auf die Figur des Catilina, wie sie in schriftlichen Quellen wie Cicero und Sallust dargestellt war. Die Parallelisierung von Catilina und Tullia scheint in der Antike eine gängige Rezeptionsweise gewesen zu sein; so deutet eine spätere Belegstelle in der römischen Literatur darauf hin. Das Nebeneinander der beiden ist belegt bei Valerius Maximus und zieht sich somit offenbar als Topos durch die römische Literatur der ausgehenden Republik und der frühen Kaiserzeit. 509 Die beiden Figuren, von denen die eine historisch ist, die andere hingegen der legendenhaften römischen Frühzeit entstammt, die eine männlich, die andere weiblich ist, scheinen im kollektiven Bewusstsein der Römer die gleiche Funktion erfüllt zu haben: als abschreckendes exemplum für Unmoral und Frevel. Hierbei ergänzen sie sich insofern in idealer Weise, als Tullia sich als weibliches Pendant zu Catilina konstruieren lässt. In Dionysios sehen wir einen griechischen Historiker, der sich dieser Zusammenstellung bedient, um 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 157 <?page no="158"?> 510 Ant. 4,28,4. Das Argument der Feigheit macht sich auch Coriolan ant. 7,24,3 zunutze, als er die Patrizier gegen die Plebeier aufzuwiegeln versucht und die Spaltung innerhalb der römischen Gesellschaft vertieft. 511 Was in Widerspruch steht zur Darstellung des Dionysios, der ja gerade betont, dass Servius Tullius insofern rechtswidrig an die Macht gekommen sei, als er ohne Zustim‐ mung der Patrizier zum König ausgerufen worden war. 512 Ant. 4,29,4. 513 Ant. 4,27,7. sein Charakterbild der Tullia zum möglichst eindrucksvollen exemplum der Frevlerin, der Erzschurkin, zu stilisieren. In ihrer Rede argumentiert Tullia psychologisch geschickt und versteht es, Tarquinius bei seinem Selbstwertgefühl zu packen, um ihn für ihre Pläne zu gewinnen. Den Vorwurf mangelnder Männlichkeit, ja Feigheit und Verweich‐ lichung, hat sie gegenüber ihrem Ehemann erfolglos ins Feld geführt. 510 Bei dem ehrgeizigen Tarquinius dagegen geht diese Taktik auf. Das Motiv der Befähigung zur Herrschaft wird von ihr ausführlich eingesetzt und zudem (in Form eines unterstellten Mangels) auf den greisen Servius Tullius bezogen, dessen vermeintlich niedrige Abkunft von einer Sklavin sie ebenso schmäht (ohne zu bedenken, dass sie nach dieser Argumentation als seine leibliche Tochter somit selbst ebenfalls von niedriger Herkunft ist) wie seine guten Beziehungen zur römischen Oberschicht, womit sie ihrem Vater unterstellt, er sei lediglich durch Vetternwirtschaft mit den Patriziern an die Macht gekommen und zur Herrschaft nicht berechtigt. 511 Tullias Schmeicheleien, mit denen sie Tarquinius davon zu überzeugen sucht, dass er der geeignete Mann sei, an der Spitze des Staates zu stehen, setzen sich fort: Sie rühmt Kühnheit und Wagemut des Tarquinius 512 und betont deren Bedeutung als unabdingbare Eigenschaften für einen König. Diese Eigenschaften charakterisieren nun zum einen den Tarquinius in den Augen des Lesers und befähigen ihn zur Herrschaft, zum anderen machen sie ihn zum geeigneten Werkzeug in Tullias ehrgeizigen Plänen, denn nur aufgrund dieser Eigenschaften ist er bereit zum Staatsstreich, den ihr Ehemann bisher angelehnt hat. Tullias Rede hat an dieser Stelle klar dramatisierenden Effekt. Der Leser weiß bereits, dass der König Servius Tullius durch ein Attentat seiner eigenen Tochter und seines Schwiegersohnes ums Leben kommen wird, da der Erzähler dies nur wenige Kapitel zuvor angekündigt hat. 513 Diese Ankündigung versetzt den Leser in eine Erwartungshaltung, da er sich fragen muss, wie es zu einem solchen Verbrechen kommen konnte. Der Spannungssteigerung dienen zudem die folgenden Kapitel, in denen die Vorgeschichte von den beiden Töchtern des 158 5 Reden <?page no="159"?> 514 Ant. 4,28,1-5. 515 Ant. 4,29,7. 516 Vgl. Sacks (1983) 75: „Dionysius hopes to prove to the Greeks that the early Romans were not barbarians but were a noble people worthy of their later empire (I 4-5, 6.3). In a sense, then, the main thesis of the work is in itself a moral judgment.“ S. Kapitel 3.3. Servius Tullius und ihren Ehemännern dargelegt wird. 514 Tullia wird in diesem Abschnitt wiederholt als frevelhafte Gattin, die ihren Vater hasst, bezeichnet und ihr von Herrschsucht geprägtes Wesen aufgezeigt, so dass der Leser von ihrer nun folgenden Rede nichts Gutes erwarten wird. Die Auflösung der Wie-Span‐ nung wird beinahe bis zu deren Ende hinausgezögert, den eigentlichen Plan von der Ermordung der Ehepartner legt Tullia erst im letzten Absatz offen. 515 Genau genommen wird die Spannung an dieser Stelle gar nicht aufgelöst, da Tullia von der Art und Weise, wie sie ihren Vater beseitigen möchte, nicht spricht. Der Leser muss also weiter den Gang der Ereignisse verfolgen, um die Umstände des Todes des Servius Tullius zu erfahren. Die Rede dient einerseits der Veranschaulichung von Tullias frevelhaftem und skrupellosem Charakter, andererseits hebt sie ihre Klugheit und Entschlossen‐ heit hervor, mit denen sie ihren Wunsch von der Macht in die Tat umsetzen will. Gleichzeitig markiert sie den Beginn der Reihe von Tullias Verbrechen und damit des Abgleitens des Staates in die Gewaltherrschaft des Tarquinius Superbus, die letztlich zu einer gravierenden innenpolitischen Umwälzung in Form der Etablierung der Republik führt. Der Rede kommt somit eine offensichtliche aitiologische Funktion zu, ebenso wie dies bei der Rede der Tanaquil der Fall war. 5.3.2.2 Römer und Griechen: Verhandlung von Identitäten 5.3.2.2.1 Aeneas und Latinus Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Verwendung von Reden in den Büchern der Königszeit liegt in ihrer Rolle als Vehikel, um die These der Gräzität der Römer zu transportieren. 516 Damit leisten die Reden einen zentralen Beitrag zu dem in den Antiquitates angestrebten Kulturtransfer. Dies gilt bereits für die erste direkte Rede im Geschichtswerk: Es handelt sich um die Rede des Aeneas, der König Latinus gegenübersteht und auf dessen Vorwürfe, die Trojaner hätten sich widerrechtlich an der Habe der Latiner vergriffen, mit einer Erklärung antwortet: Ἡμεῖς γένος μὲν Τρῶές ἐσμεν, πόλεως δὲ οὐ τῆς ἀφανεστάτης ἐν Ἕλλησιν ἐγενόμεθα· ἣν ἀφαιρεθέντες ὑπ᾽ Ἀχαιῶν δεκαετεῖ πολέμῳ χειρωθεῖσαν, ἀλῆται περιερχόμενοι 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 159 <?page no="160"?> 517 Ant. 1,58,2-4. πόλεώς τε καὶ χώρας ἐν ᾗ τὸ λοιπὸν οἰκήσομεν ἀπορίᾳ, θεοῖς δὲ κελεύουσι πειθόμενοι δεῦρ᾽ ἀφίγμεθα· καὶ ἡμῖν ὡς τὰ θέσφατα λέγει λιμὴν τῆς πλάνης ἥδε ἡ γῆ μόνη λείπεται. ποριζόμεθα δὲ ἐκ τῆς χώρας ὧν ἡμῖν δεῖ δυστυχέστερον μᾶλλον ἢ εὐπρεπέστερον, ὡς ἥδιστα νεωστὶ ἐβουλόμεθα. ἀμειψόμεθα δὲ αὐτὰ πολλαῖς καὶ ἀγαθαῖς ἔργων ἀμοιβαῖς παρέχοντες ὑμῖν καὶ σώματα καὶ ψυχὰς εὖ πρὸς τὰ δεινὰ πεπαιδευμένας χρῆσθαι ὁπόσα βούλεσθε, τὴν ὑμετέραν γῆν φυλάττοντες ἀδῄωτον, τὴν δὲ τῶν πολεμίων προθύμως συγκατακτώμενοι. ἱκέται δὲ ὑμῶν γινόμεθα μὴ πρὸς ὀργὴν τὰ πεπραγμένα λαμβάνειν, ἐνθυμηθέντας ὡς οὐ σὺν ὕβρει, ἀλλ᾽ ὑπ᾽ ἀνάγκης ταῦτα βιασθέντες ἐποιοῦμεν· ἅπαν δὲ σύγγνωμον τὸ ἀκούσιον. καὶ δεῖ ὑμᾶς μηδὲν ἐναντίον βουλεῦσαι περὶ ἡμῶν χεῖρας προεχομένων, εἰ δὲ μή, θεοὺς καὶ δαίμονας οἳ κατέχουσι τήνδε τὴν γῆν παραιτούμενοι συγγνώμονας ἡμῖν γενέσθαι καὶ ὧν ἠναγκασμένοι δρῶμεν πειρασόμεθα πολέμου ἄρχοντας ὑμᾶς ἀμύνεσθαι. οὐ γὰρ ἂν νῦν πρώτου οὐδὲ μεγίστου πολέμου τοῦδε ἀπολαύσαιμεν. 517 Wir sind unserer Herkunft nach Troer und stammen aus einer Stadt, die unter den Griechen nicht die unbedeutendste ist. Diese raubten uns die Achaiaer, nachdem sie sie in zehnjährigem Krieg unterworfen hatten. Als Wanderer ziehen wir umher in der Not, eine Stadt und ein Land zu finden, wo wir künftig wohnen werden, und sind hierher gekommen, auf den Willen der Götter vertrauend: Und wie die Göttersprüche sagen, bleibt uns einzig dieses Land als Hafen unserer Irrfahrt. Wir holen uns aus dem Land das, was wir benötigen, mehr aus Unglück denn aus Schicklichkeit, wie es uns vor Kurzem noch am liebsten war. Vergelten werden wir euch dies im Gegenzug mit vielen guten Taten, indem wir euch sowohl unsere Körper als auch unsere Seelen, die gut gegen Schlimmes gewappnet sind, zur freien Verfügung stellen und dafür sorgen, dass euer Land unversehrt bleibt, während wir das Land der Feinde eifrig hinzuerwerben. Wir flehen euch an, unsere Taten nicht als Grund für Zorn zu nehmen und stattdessen daran zu denken, dass wir dies nicht aus Anmaßung getan haben, sondern von einer Notlage gezwungen: Alles, was gegen den freien Willen geschieht, verdient es, verziehen zu werden. Auch dürft ihr keinen feindlichen Beschluss über uns fassen, die wir euch unsere Hände entgegenstrecken. Andernfalls werden wir die Götter und göttlichen Mächte, die über dieses Land wachen, bitten, uns auch das zu verzeihen, was wir unter Zwang tun, und euch, die ihr Krieg beginnt, abzuwehren. Denn damit genießen wir nun wohl nicht den ersten und auch nicht den größten Krieg. Die Rede des Aeneas hat apologetischen Charakter: Sie beinhaltet die moralische Rechtfertigung für das Verhalten der Trojaner, die sich aus den umliegenden Siedlungen der Latiner das Nötigste zum Überleben und zum Bau einer Wohn‐ 160 5 Reden <?page no="161"?> 518 Der letzte Satz mutet wie ein foreshadowing auf zwei Ebenen an: zum einen auf der textuellen Ebene, denn die Antiquitates berichten im Folgenden von zahlreichen Kämpfen, die die Römer gegen andere Volksstämme zu führen haben; zum anderen dürfte der Leser des 1. Jahrhunderts v. Chr. die Kriege assoziiert haben, die Rom zu seiner Position als beherrschende Macht im Mittelmeerraum geführt hatten. 519 Zu beachten ist, dass Latinus die Ankömmlinge zunächst als Feinde betrachtet und von einer Traumerscheinung dazu aufgefordert wird, sie freundlich aufzunehmen: s. ant. 1,57,4, wo die Trojaner bereits als Griechen bezeichnet werden. Dazu Peirano (2010) 50. 520 So auch Peirano (2010) 50 zur Stelle sowie zu ant. 20,6,1f.: „These acts of recognition could be read as protreptic: the Greek characters, who are forced by the events to change their former negative opinion of the Romans, mirror the Greek audience of the AR with its preconceptions about the Romans, preconceptions which Dionysius is hoping to change with his narrative.“ 521 Ant. 1,58,5. 522 So auch Wiater (2014) 126 Anm. 121. Vgl. ant. 1,57,3-4 und den Exkurs 1,61,1-62,2, in dem Dionysios die griechische Abstammung der Trojaner ausführlich darlegt. statt beschafft haben. Aeneas als Stammvater der Römer wird dem intendierten griechischen Leser als pflichtbewusster Stammesführer präsentiert, der die Verletzung des Gastrechts gegenüber den Latinern nicht aus freien Stücken begangen hat, sondern gegen seinen Willen, da ihn die Sorge um das Überleben seiner Gruppe dazu genötigt hat. Im Gegenzug für gnädige Aufnahme durch Latinus bietet er sich und die Seinen als Verbündete in der Auseinandersetzung mit äußeren Feinden an. Seine pietas wird gesondert hervorgehoben, da er die Trojaner auf Geheiß der Götter nach Italien geführt habe, ebenso wie sein Mut darin zum Ausdruck kommt, dass er den Latinern Hilfe im Kriegsfall verspricht und sich darüber hinaus der Auseinandersetzung mit ihnen nicht entziehen wird, so sie seine Bitte um wohlwollende Aufnahme ablehnen sollten. 518 Auch die anschließende Gegenrede des Latinus charakterisiert diesen als moralisch guten Menschen, 519 doch darüber hinaus regt seine humane Reaktion das Lesepublikum dazu an, ebenso zu empfinden wie er und Mitgefühl mit Aeneas und den Seinen zu haben: 520 ὡς δὲ ταῦτα ὁ Λατῖνος ἤκουσεν ἀπεκρίνατο πρὸς αὐτόν· Ἀλλ᾽ ἔγωγε εὔνοιάν τε πρὸς ἅπαν τὸ Ἑλληνικὸν γένος ἔχω καὶ συμφοραῖς ἀνθρώπων ἀναγκαίαις πάνυ ἄχθομαι […]. 521 Als Latinus dies vernommen hatte, antwortete er ihm: „Ich für meinen Teil empfinde Wohlwollen gegenüber dem ganzen Griechengeschlecht und es betrübt mich sehr, wenn Menschen von Unglück bedrängt werden.“ Auffallend ist an dieser Stelle die explizite Identifizierung der Trojaner als Griechen. 522 Die Rede transportiert die wichtige These der Antiquitates, dass die Römer ihrer Herkunft nach Griechen seien. Darüber hinaus setzen beide Reden 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 161 <?page no="162"?> 523 Peirano (2010) 48-51 sieht die Begegnung zwischen Aeneas und Latinus und das Ende der Antiquitates Romanae als teleologisch konzipierte Ringkomposition: Mit der Rede des (seiner Abstammung nach griechischen) Latinus, in der dieser die ethnische Gleichwertigkeit der Trojaner anerkennt, korrespondiere die Aussage des Pyrrhus ant. 20,6,1f., in der dieser die moralische Überlegenheit der Römer anerkennt. Vgl. ebd. 51: „Thus, the two recognition scenes together highlight both aspects of Dionysiusʼ vision of Rome’s relation to Greece as he outlines them in the preface. The story, which started as a demonstration of the Greek origin of the Romans by the narrator and culminated in the recognition and acceptance of the Trojans by a Greek king, ends with the recognition of the moral superiority of the Romans on the part of another Greek king.“ 524 Ant. 3,7,2-11,11. 525 Der Konflikt wird bereits ant. 1,66,2 in Zusammenhang mit der Gründung Albas durch Ascanius angedeutet. Er spielt offenkundig für Dionysios eine wichtige Rolle in der Entwicklung Roms. 526 Ant. 3,7,2-10,2. ein Signal für den Leser, indem sie der Begegnung von Aeneas und Latinus erhöhte Bedeutung verleihen. Für den Verlauf der römischen Geschichte ist dieses Aufeinandertreffen insofern entscheidend, als Aeneas und die Seinen in dem ihnen von den Göttern bestimmten Land eine Bleibe und Unterstützung finden und somit die Voraussetzung für die spätere Gründung der Stadt Rom geschaffen wird. Wäre der Konflikt zwischen Trojanern und Latinern an dieser Stelle nicht beigelegt worden, so hätte es ein römisches Weltreich womöglich nie gegeben. Die mit diesem Redenpaar vorgenommene Betonung der griechischen Ab‐ stammung der Trojaner findet gewissermaßen ihre Fortsetzung in der Antilogie Tullus Hostilius/ Mettius Fufetius, die ebenfalls auf die Herausstellung der Gräzität der Römer abzielt, allerdings dort stärker in Bezug auf die gemeinsamen griechischen Werte als auf die ethnische Herkunft. 523 5.3.2.2.2 Tullus Hostilius und Mettius Fufetius Die Reden des Tullus Hostilius und des Mettius Fufetius im dritten Buch bilden eine Tetrade, die je zwei Reden der beiden umfasst. 524 Diese sind als Antilogien konstruiert; sie markieren die schwierige Entscheidungsfindung der Römer und Albaner, die dem Kampf der Horatii und Curiatii vorausgeht und in der über eine friedliche Beilegung des Konfliktes der beiden Städte 525 verhandelt wird. In der ersten Antilogie erklären die beiden Heerführer ihre Bereitschaft zum Friedensschluss und stellen Überlegungen an, auf welche Weise dieser am besten herbeigeführt werden könne; von Tullus kommt der Vorschlag, die Albaner sollten ihre Stadt aufgeben und nach Rom übersiedeln. Mettius Fufetius spricht sich zwar grundsätzlich für die Vorherrschaft einer der beiden Städte über die andere aus, lehnt es jedoch ab, dass diese Rom zufallen solle. 526 Die 162 5 Reden <?page no="163"?> 527 Ant. 3,10,3-11,11. 528 Es hat seinen Grund, dass in beiden Antilogien zuerst Fufetius das Wort ergreift, denn dadurch kann Tullus Hostilius auf dessen Argumente reagieren und diesen wichtige Ergänzungen hinzufügen, die die Überlegenheit der Römer herausstellen. Die Argumentationsstruktur der hier zitierten Fufetius-Rede beleuchtet Richard (1993) 126. 529 Ant. 3,10,3. 530 Auch Wiater (2014) 274 Anm. 298 hebt diesen Punkt hervor: „Man beachte, wie Dionysius hier die Rede einer historischen Figur dazu nutzt, eines der zentralen Themen seiner Darstellung auf der Ebene der Erzählung zu diskutieren: die Frage der Abstammung der Römer und ihrer Zugehörigkeit zu den Griechen oder den Barbaren, aus der sich - jedenfalls aus griechischer Sicht - entscheidende Argumente für oder gegen die Anerkennung der römischen Herrschaft ergeben. Nur wenn die Römer letztlich Griechen sind und sowohl von Griechen abstammen (diesen Nachweis hat Dionysius ausführlich im ersten Buch geführt) als auch sich kulturell und in ihrem Wertesystem von den Griechen herleiten, ist ihre Machtposition für viele Zeitgenossen des Dionysius überhaupt erst hinnehmbar.“ Wiater verweist in diesem Zusammenhang auf Richard (1993). zweite Antilogie besteht sodann aus zwei Reden, in denen die beiden die Gründe für ihren jeweiligen Anspruch auf Vorherrschaft erklären. 527 Zunächst spricht Mettius Fufetius: 528 Ἡμεῖς, ὦ Τύλλε, καὶ τῆς μὲν ἄλλης ἄρχειν ἄξιοί ἐσμεν Ἰταλίας, ὅτι ἔθνος Ἑλληνικὸν καὶ μέγιστον τῶν κατοικούντων τήνδε τὴν γῆν ἐθνῶν παρεχόμεθα, τοῦ δὲ Λατίνων ἔθνους, εἰ καὶ μηδενὸς τῶν ἄλλων [ἐθνῶν], ἡγεῖσθαι δικαιοῦμεν οὐκ ἄτερ αἰτίας, ἀλλὰ κατὰ τὸν κοινὸν ἀνθρώπων νόμον, ὃν ἡ φύσις ἔδωκεν ἅπασι, τῶν ἐκγόνων ἄρχειν τοὺς προγόνους. 529 Wir, Tullus, sind würdig, auch über das übrige Italien zu herrschen, da wir ein griechisches Volk sind und zudem das größte der Völker darstellen, die dieses Land bewohnen. Über das Latinervolk die Führung innezuhaben aber - wenn schon über keines der anderen - beanspruchen wir nicht ohne Grund, sondern gemäß dem allen Menschen gemeinsamen Brauch, den die Natur ihnen gegeben hat, dass die Vorfahren über die Nachkommen herrschen. Der Albaner Fufetius führt den Anspruch seiner Stadt auf die Führungsrolle auf deren griechische Abstammung zurück (über den Gründer Ascanius als Sohn des Aeneas, der, wie wir gesehen haben, Dionysios zufolge als Trojaner auch Grieche war) sowie auf ein Gebot des Naturrechts, dass stets das Ältere über das Jüngere herrsche. Das letztere Argument ist an dieser Stelle nicht von Belang, da es mir primär um die Betrachtung der Diskussion griechischer Identität geht. 530 Fufetius fährt fort, seine Position argumentativ zu untermauern, indem er darauf hinweist, dass Alba seinen ursprünglich griechischen Charakter bewahrt habe - im Gegensatz zu Rom, dessen Bewohner sich (durch die Asyl-Politik des 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 163 <?page no="164"?> 531 Zur Einrichtung des Asyls durch Romulus s. ant. 2,15,3. 532 Ant. 3,10,4-6. Vgl. besonders die Betonung des Rechts des Stärkeren ant. 3,10,5, die auf die praefatio 1,5,2 verweist; s. Sautel (1999) ad loc. Dionysios nutzt also hier die Rede des Tullus, um ihm seine eigene Ansicht in den Mund zu legen. 533 Richard (1993) 126: „Il poursuit par une réfutation vigoureuse de chaque argument développé par son interlocuteur.“ Zur Struktur der Argumentation der Tullus-Rede im Einzelnen s. ebd. 126f. 534 Ant. 3,11,1-2. 535 Ant. 3,11,1. 536 Ant. 3,11,4. Romulus) 531 mit Angehörigen anderer Ethnien wahllos vermischt hätten und dadurch ungriechisch geworden seien. Zudem hielten die Albaner seit jeher an ihrer Verfassung fest, bei den Römern dagegen herrschten im Inneren chaotische Zustände, da ihre Stadt jung sei und noch zu keiner festen Ordnung gefunden habe. 532 Hierauf entgegnet Tullus Hostilius seinerseits mit einer Rede, die die Argu‐ mente des Fufetius Punkt für Punkt aufgreift und widerlegt: 533 Das Naturrecht, auf das Fufetius sich beruft, entkräftet er mit dem Hinweis darauf, dass es erfah‐ rungsgemäß nicht auf alle Städte zutreffe; so herrschten etwa die Spartaner über ihre eigenen Vorfahren, die Dorer. 534 Zudem sei der Vorwurf des Ungriechischen verfehlt, da auch Rom als Kolonie Albas griechischer Abstammung sei 535 und darüber hinaus seinen griechischen Charakter durch die Asylpolitik keineswegs eingebüßt habe: ἡμεῖς γὰρ τοσούτου δέομεν αἰσχύνεσθαι κοινὴν ἀναδείξαντες τὴν πόλιν τοῖς βουλομένοις, ὥστε καὶ σεμνυνόμεθα ἐπὶ τούτῳ μάλιστα τῷ ἔργῳ, οὐκ αὐτοὶ τοῦ ζήλου τοῦδε ἄρξαντες, παρὰ δὲ τῆς Ἀθηναίων πόλεως τὸ παράδειγμα λαβόντες, ἧς μέγιστον κλέος ἐν Ἕλλησίν ἐστι, καὶ διὰ τοῦτο οὐχ ἥκιστα εἰ μὴ καὶ μάλιστα τὸ πολίτευμα. 536 Wir brauchen uns nicht dafür zu schämen, dass wir denjenigen, die wollen, unsere Stadt als eine gemeinsame angeboten haben, sodass wir auf diese Tat am meisten stolz sind, denn wir haben dieses großzügige Werk nicht als erste begonnen, sondern uns ein Beispiel an der Stadt der Athener genommen, die unter den Griechen die ruhmreichste ist, und nicht am wenigsten, sondern womöglich am meisten durch diesen politischen Beschluss. 164 5 Reden <?page no="165"?> 537 Vgl. Richard (1993) 132. Sautel (1999) sieht das Motiv der Philanthropie ant. 3,11,6 als Bezug zu augusteischer Ideologie und zudem als Ausdruck persönlicher Erfahrung des Dionysios, der als exilierter Grieche Zugang zu den höchsten Kreisen der römischen Gesellschaft erhalten und dafür Dankbarkeit empfunden habe. S. Sautel (1999) ad loc. 538 Ant. 3,11,5. 539 Dazu Richard (1993) 130, der hier den Bezug zur griechischen Geschichte betont, in deren Verlauf manche Städte an Bevölkerungsschwund litten - ein Thema, das griechische Denker wie Polybios beschäftigte. 540 S. Richard (1993) 131-133 zur hier vorgenommenen Umkehrung des Stasis-Konzeptes; vgl. Wiater (2014) 279 Anm. 306, der Bezüge zu Hesiod und Sallust sieht. 541 Ant. 3,11,5-9. Das Argument der Attraktivität für andere Städte stellt eine Art foreshado‐ wing von Dionysiosʼ eigener Zeit dar. Dass sich bereits in der römischen Frühzeit andere Städte gerne der Führung Roms anvertraut hätten, erleichtert es dem griechischen Leser in augusteischer Zeit, die überlegene Position Roms über die griechischen Stadtstaaten zu akzeptieren. Diese können sich ein Vorbild an den Latinerstädten nehmen, von denen Tullus spricht. Vgl. auch ant. 1,3,4 sowie die Umkehrung des Motivs ant. 7,18,3, wo die Abwanderung von Teilen der römischen Bevölkerung in Nachbarstädte die Tullus greift also den Vorwurf des Ungriechischen auf und wendet ihn durch Bezugnahme auf Athen als Präzedenzfall ins Positive, mit dem er gerade den griechischen Charakter der Stadt Rom betonen kann. 537 Er fährt fort: καὶ τὸ πρᾶγμα ἡμῖν πολλῶν γενόμενον ἀγαθῶν αἴτιον οὔτ᾽ ἐπίμεμψιν οὔτε μεταμέλειαν ὡς ἡμαρτηκόσι φέρει, ἄρχει τε καὶ βουλεύει καὶ τὰς ἄλλας τιμὰς καρποῦται παρ᾽ ἡμῖν οὐχ ὁ πολλὰ χρήματα κεκτημένος οὐδὲ ὁ πολλοὺς πατέρας ἐπιχωρίους ἐπιδεῖξαι δυνάμενος, ἀλλ᾽ ὅστις ἂν ᾖ τούτων τῶν τιμῶν ἄξιος. οὐ γὰρ ἐν ἄλλῳ τινὶ τὴν ἀνθρωπίνην εὐγένειαν ὑπάρχειν νομίζομεν, ἀλλ᾽ ἐν ἀρετῇ. 538 Und die Sache, die Ursache für viel Gutes ist, bringt uns weder Kritik noch Reue, als ob wir einen Fehler gemacht hätten. Bei uns herrscht, beschließt und genießt die anderen Ehren nicht derjenige, der viel Besitz erworben hat, und auch nicht derjenige, der viele einheimische Vorfahren aufweisen kann, sonder wer immer dieser Ehren würdig ist. Denn wir glauben, dass die gute Abstammung von Menschen aus nichts Anderem erwächst als aus Tugend. Die Stadt Rom kann also Tullus zufolge als überlegene Bewahrerin griechischer Werte gelten, da sie die ἀρετή als höchste Tugend ansieht. Die weitere Argu‐ mentation seiner Rede hebt hervor, dass Rom seine Stärke aus seiner durch die Zuwanderer bedingten Größe 539 und gerade aus seiner innenpolitischen Instabilität beziehe, da diese die Bewohner zu dem positiven Ehrgeiz motiviere, sich für das Wohl der Stadt zu engagieren. 540 Als sichtbaren Beweis für diese Stärke und Anziehungskraft führt Tullus den Umstand an, dass sich bereits viele latinische Kolonien Albas freiwillig mit Rom zusammengeschlossen hätten. 541 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 165 <?page no="166"?> tiefgreifende innenpolitische Zerrüttung Roms aufgrund der mangelnden concordia der Stände veranschaulicht. 542 Richard (1993) 128 spricht von „deux conceptions différentes de l’hellénisme, sinon deux visions antithétiques de l’histoire exprimées, l’une, en terme de fixisme, l’autre, de dynamisme.“ Zu intertextuellen Bezügen dieser Konzepte s. ebd. 128-130. 543 Zur ἀρετή als Entsprechung des politischen novitas-Begriffs mit intertextuellen Be‐ zügen s. Richard (1993) 130; zum Bezug der Tullus-Rede auf das Ideal der ϕιλόσοφος ῥητορική ebd. 129. 544 Liv. 1,23,5-10. 545 Vgl. ant. 3,7,1 mit Sautel (1999) ad loc. 546 Vgl. ant. 3,5,1. S. auch e.g. Thuc. 1,24-55; Hdt. 7,51 und 8,22. Ebenso Richard (1993) 128. Vgl. Miller (1997) 272 zum Verhältnis von griechischer Mutterstadt und Kolonie generell, 276-279 zum Thema bei Herodot, 279-288 bei Thukydides. Vgl. ant. 1,16,1-3 zur Kolonisation als griechischem Brauch. Jean-Claude Richard hat in dieser Antilogie die Gegenüberstellung zweier Konzepte des Griechischen gesehen, eines statischen (Fufetius/ Alba) und eines dynamischen (Tullus/ Rom). 542 Letzteres kann dem griechischen Rezipienten der Antiquitates als tragbares Fundament dienen, auf das er seine Interpretation der römischen Geschichte gründet. Es reflektiert den Aufstieg Roms als einer griechischen Polis, die durch Einbeziehen nicht-griechischer Elemente an Kraft gewonnen hat und dem Anschein nach ihr griechisches Wesen verloren, dieses aber in Wahrheit stärker bewahrt hat als andere griechische Städte. Zentral für die Definition von griechischer Identität ist der Begriff der ἀρετή, der sich genau in der Mitte der Argumentation befindet. 543 Die Häufung von Reden, die dem Kampf der Horatii und Curiatii vorangeht, weist dieser Episode eine herausragende Bedeutung innerhalb der römischen Frühgeschichte zu. Zieht man Livius zum Vergleich heran, so lässt sich die wesentlich umfangreichere Bearbeitung durch Dionysios konstatieren. Zudem sticht der bei ihm so prominente griechische Bezug ins Auge, der bei Livius fehlt. 544 Bei Dionysios spiegelt sich der Konflikt zwischen Kolonie und Metro‐ polis im großangelegten Stellvertreterkampf der Drillingspaare, denn diese sind ebenso blutsverwandt, wie die beiden Städte es im übertragenen Sinne sind. 545 Aus diesem Befund lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Für Dionysios stellt der Konflikt zwischen Rom und Alba ein zentrales Ereignis der römischen Geschichte dar, da die Zukunft der Römer auf Messers Schneide stand. Hätten im entscheidenden Kampf die Albaner gesiegt, so wäre Rom als selbständige Macht von der politischen Bühne verschwunden. Der Konflikt markiert darüber hinaus die Ablösung der Kolonie Rom von der Metropolis. Dies ist ein Motiv, das in der griechischen Geschichtsschreibung wiederholt thematisiert wird; mangelnde Loyalität oder gar Krieg gegen die Mutterstadt unterliegt dabei einer negativen Beurteilung. 546 Umso dringender stellt sich für die Darstellung 166 5 Reden <?page no="167"?> 547 Vgl. Sautel (1999) x: „Il a en effet réussi à résoudre le conflit entre Rome et sa métropole en mettant tous les torts du côté d’Albe, à laver ainsi la mémoire romaine de ce complexe de « parricide » auquel Tite-Live n’a pas échappé (I, 29).“ 548 Richard (1993) 130. Vgl. auch Sautel (1999) zu ant. 3,11,4. 549 Ant. 3,21,5-6. 550 Ant. 3,21,2. 551 Ant. 3,21,3. in den Antiquitates die Aufgabe, die Loslösung Roms von Alba und seine Weigerung, sich zu unterwerfen, mit Argumenten zu rechtfertigen, die dem griechischen Leser einleuchtend und überzeugend erscheinen. Diesen Zweck erfüllt die Argumentation des Tullus, die verdeutlicht, dass Rom sowohl auf der politischen Ebene als auch in ethisch-moralischer Hinsicht die überlegene der beiden Städte darstellt. 547 Das genannte Konzept des dynamischen „hellénisme“, der ein „hellénisme idéal“ 548 ist, dient zur Legitimation der Römer, in diesem Konflikt die Vorherrschaft über ihre Metropolis errungen zu haben. 5.3.2.2.3 Horatia und Horatius Die Komplexität der Funktion der kulturellen Vermittlung lässt sich am Beispiel einer weiteren Antilogie im dritten Buch aufzeigen. Hinzu kommt in diesem Fall eine deutlich dramatisierende Wirkung der direkten Reden. Es handelt sich um die Auseinandersetzung zwischen dem Horatier, der als einziger Überlebender aus dem Kampf gegen die Curiatii hervorgegangen ist, und seiner Schwester. 549 Dazu kommt es, als der siegreiche Horatier mit den Rüstungen der drei getöteten Curiatii in die Stadt zurückkehrt. Die römische Bevölkerung strömt ihm jubelnd entgegen; er erblickt in der Menge seine Schwester. Dieser Anblick schockiert den Horatier, da es sich für die Schwester nicht schickt, aus dem Haus und der mütterlichen Aufsicht zu entlaufen, um sich auf der Straße unter die Menge zu mischen. Er reagiert zunächst mit Verwirrung und weiß nicht, was er davon halten soll. Schließlich kommt er zu dem wohlwollenden Schluss, seine Schwester habe wahrscheinlich aus Freude über seinen Sieg das ihr geziemende Verhalten vergessen, wie es bei Frauen ja vorkommen könne. 550 Doch der Erzähler stellt diese Annahme seiner Figur sogleich richtig: Nicht die Sorge um die im Kampf stehenden Brüder habe die Schwester auf die Straße getrieben, sondern ihre Liebe zu einem der Curiatier, mit dem ihr Vater sie verlobt hatte. Aus Angst um sein Leben lief sie aus dem Haus wie eine Mänade; die Amme, die ihr nachlief, konnte sie nicht zurückhalten. 551 Als sie ihren heimkehrenden Bruder und die Rüstungen der Curiatii erblickt, erkennt sie darunter ein blutbeflecktes farbiges Gewand, das sie selbst als Hochzeitsgabe für ihren Verlobten angefertigt hat. Hierauf zerreißt sie ihr Kleid, schlägt mit 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 167 <?page no="168"?> 552 Ant. 3,21,4. 553 Ant. 3,21,5. 554 Ant. 3,21,6-7. 555 Ant. 3,21,8-10. Vgl. Sautel (1999) ad loc.: „Il ne semble pas qu’on puisse trouver trace de telles allusions dans la partie des A. R. qui nous est conservée […] ni non plus à l’époque historique […].“ Sautel kommt zu diesem Schluss, da er offensichtlich ein exaktes Wiederaufgreifen des Motivs der Dankesopfer und Feierlichkeiten erwartet, die ein Vater darbringt, dessen Kinder zum Wohl der Gemeinschaft ihr Leben verloren haben. Gestattet man dem Text allerdings etwas größere Freiheit in der Variation des Motivs, so taucht es in der Schilderung der Hinrichtung der Brutus-Söhne ant. 5,7,1-8,6 auf. 556 Ant. 3,21,1. den Händen gegen ihre Brust und klagt laut um den toten Verlobten. 552 In ihrer Trauer klagt sie den Bruder mit harten Worten an. 553 Dieser wirft ihr in einer heftigen Gegenrede Pflichtvergessenheit gegenüber Heimat und Familie vor und tötet sie im Zorn mit seinem Schwert. 554 Die grausame Tat wird anschließend vom Vater gutgeheißen, der toten Horatia werden die üblichen Bestattungsriten und die Beisetzung im Familiengrab verweigert. Der Vater, der innerhalb eines einzigen Tages drei seiner vier Kinder verloren hat, feiert den Sieg über Alba mit Opfern und einem Festmahl, weil ihm sein persönliches Unglück gegenüber den Interessen des Staates nichts gilt - derart inhumanes Verhalten, so fügt der Erzähler kommentierend an, sei bei den Römern der Frühzeit nicht selten gewesen und er werde noch öfter Gelegenheit haben, davon zu berichten. 555 Der Text baut bereits zu Beginn der Episode Spannung auf, indem er den Leser auf das Ende hinweist und explizit den Mord des Horatius an seiner Schwester ankündigt: Ἔδει δὲ ἄρα καὶ τοῦτον ἄνθρωπον ὄντα μὴ πάντα διευτυχεῖν, ἀλλ᾽ ἀπολαῦσαί τι τοῦ φθονεροῦ δαίμονος, ὃς αὐτὸν ἐκ μικροῦ μέγαν ἐν ὀλίγῳ θεὶς χρόνῳ καὶ εἰς ἐπιφάνειαν θαυμαστὴν καὶ παράδοξον ἐξάρας κατέβαλε φέρων αὐθημερὸν εἰς ἄχαριν συμφορὰν ἀδελφοκτόνον. 556 Doch auch dieser sollte, da er ein Mensch war, nicht in allem vom Glück begünstigt sein, sondern etwas vom Daimon des Neides genießen, der ihn in kurzer Zeit von einem Kleinen zu einem Großen gemacht und zu wunderbarem und unerwartetem Ruhm emporgehoben hatte und dann hinabwarf, indem er ihn am selben Tag in das abstoßende Unglück des Geschwistermordes führte. Die Tötung der Horatia wird hier einerseits vom ethischen Standpunkt aus kritisiert, andererseits jedoch relativiert der Bezug auf göttliches Wirken, das dem jungen Horatier sein Glück geneidet habe, dessen Schuld. 168 5 Reden <?page no="169"?> 557 Ant. 3,21,5. Die nähere Untersuchung der Rede der Horatia erfolgt in Kapitel 6.2.1., weshalb an dieser Stelle darauf verzichtet wird. 558 Vgl. ant. 3,15,1-3; 3,16,3. Das Motiv des Kampfes zwischen Blutsverwandten bezieht sich nicht nur auf die privat-familiären Bande zwischen Horatii und Curiatii, sondern spiegelt darüber hinaus den politischen Konflikt zwischen der Mutterstadt Alba und ihrer Kolonie Rom. S. Kapitel 5.3.2.2.2. 559 Vgl. zum Bild der körperlichen Anwesenheit im Gegensatz zu geistigem Verrat am Vaterland auch die Rede des Brutus ant. 5,10,7. Brutus und der junge Horatier werden somit durch intratextuelle Verknüpfung in ähnlicher Weise charakterisiert. 560 Ant. 3,21,6. In diesem Zusammenhang erfüllt die in die Erzählung eingefügte Antilogie der Geschwister, die dem Mord unmittelbar vorangeht, mehrere Funktionen. Zuerst spricht die Schwester des Horatius und klagt diesen mit harten Worten des Verwandtenmordes an. 557 Die Rede dient zunächst dazu, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die der Erzähler zuvor nur aus der Außensicht geschil‐ dert hat. Die heftige Anklage an den Bruder macht die Trauer über das Schicksal der toten Curiatier und besonders des Verlobten deutlich und stellt eine klare Verurteilung des Kampfes zwischen Horatii und Curiatii dar, da er der Frau als zutiefst inhuman erscheint und ihren Bruder auf die Stufe eines Tieres hinab‐ sinken ließ. Das Unbehagen über den Kampf zwischen Blutsverwandten prägte bereits die vorangegangenen Verhandlungen zwischen Alba und Rom. 558 Zwar hat die (patriarchalische) Staatsraison dieses Unbehagen mit der Entscheidung für den Stellvertreterkampf verdrängt, doch wird es hier nun von der Figur der Horatia wieder aufgegriffen und in Worte gefasst. Als der Horatier die Frage vernimmt, von wem er sein Herz habe, kann er nicht mehr an sich halten und unterbricht die Schwester mit einer Gegenrede: κἀκεῖνος ὑπολαβών, Φιλοῦντος, ἔφη, τὴν πατρίδα πολίτου καὶ τοὺς κακῶς αὐτῇ βουλομένους κολάζοντος, ἐάν τε ἀλλότριοι τύχωσιν αὐτῆς ὄντες, ἐάν τε οἰκεῖοι· ἐν οἷς τίθεμαι καὶ σέ, ἥτις ἑνὶ καιρῷ τὰ μέγιστα ἀγαθῶν τε καὶ κακῶν συμβεβηκότα ἡμῖν ἐπιγνοῦσα τήν τε νίκην τῆς πατρίδος, ἣν ὁ σὸς ἀδελφὸς ἐγὼ πάρειμι κατάγων, καὶ τὸν θάνατον τῶν ἀδελφῶν οὐκ ἐπὶ τοῖς ἀγαθοῖς, ὦ μιαρὰ σύ, τοῖς κοινοῖς τῆς πατρίδος χαίρεις οὔτ᾽ ἐπὶ ταῖς συμφοραῖς ταῖς ἰδίαις τῆς οἰκίας ἀλγεῖς, ἀλλ᾽ ὑπεριδοῦσα τῶν σεαυτῆς ἀδελφῶν τὸν τοῦ μνηστῆρος ἀνακλαίεις μόρον, οὐδ᾽ ὑπὸ τοῦ σκότους ἀποφθαρεῖσά που κατὰ μόνας, ἀλλ᾽ ἐν τοῖς ἁπάντων ὀφθαλμοῖς, καί μοι τὴν ἀρετὴν καὶ τοὺς στεφάνους ὀνειδίζεις, ὦ ψευδοπάρθενε καὶ μισάδελφε καὶ ἀναξία τῶν προγόνων. ἐπειδὴ τοίνυν οὐ τοὺς ἀδελφοὺς πενθεῖς, ἀλλὰ τοὺς ἀνεψιούς, καὶ τὸ μὲν σῶμα ἐν τοῖς ζῶσιν ἔχεις, τὴν δὲ ψυχὴν παρὰ τῷ νεκρῷ, 559 ἄπιθι πρὸς ἐκεῖνον ὃν ἀνακαλῇ καὶ μήτε τὸν πατέρα μήτε τοὺς ἀδελφοὺς καταίσχυνε. 560 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 169 <?page no="170"?> 561 Ant. 3,21,7. 562 Vgl. Hdt. 4,180,2, wo der Begriff im Zusammenhang mit einem bei den Machlyern gebräuchlichen Ritual verwendet wird, bei dem Gruppen von Mädchen gegeneinander kämpften; die Mädchen, die in der Folge an ihren Wunden verstürben, würden ψευδοπάρθενοι genannt. Und jener unterbrach sie und sagte: „Von einem Bürger, der sein Vaterland liebt und diejenigen, die diesem übel wollen, bestraft, seien sie Ausländer oder Verwandte: Zu diesen rechne ich auch dich, die du einsiehst, dass uns in einem einzigen Augenblick das Beste und das Schlimmste widerfahren ist: der Sieg des Vaterlandes, den ich, dein Bruder, nach Hause bringe, und der Tod der Brüder, und dennoch freust du dich weder über das öffentliche Glück unseres Vaterlandes, du Stück Dreck, noch trauerst du über das private Unglück unserer Familie. Stattdessen verachtest du deine eigenen Brüder und beklagst das Los deines Verlobten, und dies, ohne dich in Dunkelheit und Einsamkeit zurückzuziehen, sondern vor aller Augen! Meine Tüchtigkeit und meine Kränze schmähst du, du falsche Jungfrau und Bruderhasserin und unserer Ahnen Unwürdige! Da du nun nicht deine Brüder beweinst, sondern deine Vettern, und deinen Körper zwar unter den Lebenden hast, deine Seele aber bei einer Leiche, so verschwinde zu jenem, den du herbeirufst, und beschäme weder deinen Vater noch deine Brüder! “ Nachdem er diese Worte gesprochen hat, tötet er sie kurzerhand mit seinem Schwert. 561 Seine Rede bringt einen Standpunkt zum Ausdruck, der demjenigen der Schwester diametral entgegengesetzt ist: Während die Frau humanes Ver‐ halten gegenüber anderen einfordert und das Fehlen dieser Humanität als Herabsinken des Menschen in einen animalischen Zustand ansieht, vertritt der Mann ein patriarchalisches Weltbild, in dem für derlei Rücksichten kein Platz ist und das die Liebe zum Vaterland über menschliche Bindungen stellt. Zudem tadelt er die Schwester mit harten Worten für ihre Loyalität gegenüber den Curiatiern, die sie eigentlich ihm und ihrer Herkunftsfamilie schuldig sei. Es ist bezeichnend für seine patriarchalische Sichtweise, dass der Horatier die Rede mit einem Hinweis auf ihrer beider Vater eröffnet und schließt und die Anrede ψευδοπάρθενε 562 καὶ μισάδελφε καὶ ἀναξία τῶν προγόνων gebraucht sowie die fehlende Freude über seine eigene ἀρετή kritisiert. Zudem provoziert es seinen Zorn, dass sie mit dem Verlassen des Elternhauses und der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Trauer gegen seine Auffassung angemessenen weibli‐ chen Verhaltens verstößt. Neben der Präsentation zweier in ethischer Hinsicht entgegengesetzter Sichtweisen auf den Kampf der Horatii und Curiatii dient die Antilogie der Dramatisierung des Geschehens. Man hat in ihr eine Parallele zu einem tra‐ 170 5 Reden <?page no="171"?> 563 Oakley (2010) 124; Schultze (2019) 165. 564 Liv. 1,26,1-4. 565 Vgl. Schultze (2019) 168: „Dionysius has left the sister and brother as the final two speakers, thereby emphasising the personal and emotional confrontation.“ 566 Ant. 3,21,7. 567 Ant. 3,21,7-10. gischen ἀγών gesehen. 563 Es ist bezeichnend, dass in die Version des Livius keine Rede der Horatia eingefügt ist; dort spricht allein der Horatier. 564 Durch die Antilogie bietet sich den Antiquitates die Möglichkeit, der Begebenheit höheren emotionalen Gehalt zu verleihen sowie die Spannung auf das Ende hinauszuzögern, da der Leser erst den Schluss beider Reden abwarten muss, bevor es zu dem eingangs angekündigten Geschwistermord kommt. 565 Zudem kommt der emotionalen Rede der Schwester kausative Funktion zu: Durch ihre heftige Anklage provoziert sie den Horatier zu seiner Reaktion, bestehend aus Gegenrede und Tötungsakt. Dieser Umstand erscheint besonders beachtenswert im Hinblick auf die Kommentierung des Geschehens durch den Erzähler, die sich unmittelbar anschließt: οὕτω δὲ ἄρα μισοπόνηρα καὶ αὐθάδη τὰ τῶν τότε Ῥωμαίων ἤθη καὶ φρονήματα ἦν καί, εἴ τις αὐτὰ βούλοιτο παρὰ τὰ νῦν ἔργα καὶ τοὺς ἐφ᾽ ἡμῶν ἐξετάζειν βίους, ὠμὰ καὶ σκληρὰ καὶ τῆς θηριώδους οὐ πολὺ ἀπέχοντα φύσεως, ὥστε πάθος οὕτω δεινὸν ὁ πατὴρ ἀκούσας οὐχ ὅπως ἠγανάκτησεν, ἀλλὰ καλῶς καὶ προσηκόντως ὑπέλαβε τὸ πραχθὲν ἔχειν· 566 So voller Hass auf alles Schlechte und so unerbittlich waren der Charakter und die Gedanken der damaligen Römer und - wollte man sie mit den heutigen Taten und unserer Lebensweise vergleichen - so roh und harsch und nicht weit entfernt von der Natur wilder Tiere, dass der Vater, als er von einem so schrecklichen Schicksalsschlag erfuhr, nicht nur nicht zornig wurde, sondern erwiderte, das Getane sei gut und angemessen gewesen. Da die Antiquitates dem griechischen Rezipienten veranschaulichen wollen, dass die Römer aufgrund ihrer Herkunft und ihrer ethisch-moralischen Vor‐ bildlichkeit verdientermaßen zur Weltmacht geworden sind, stellt sich für die Horatia-Erzählung das Problem der Rechtfertigung des Mordes. Daher kritisiert der Text explizit die unbesonnene Handlung des Horatius und das gefühllose Verhalten des Vaters, 567 doch nutzt er auch die Rede der Horatia, um ihre Ermordung wenigstens zum Teil als das Ergebnis einer Provokation zu deuten. Livius, der keine Rede der Horatia anbringt, benötigt gewissermaßen keine Entschuldigung, um seinem Publikum das abstoßende Faktum eines Geschwis‐ termordes zu präsentieren. Seine römischen Leser waren mit der Tradition des 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 171 <?page no="172"?> 568 Vgl. Schultze (2019) 161. 569 Ant. 5,7,1-8,6. Vgl. Kapitel 4.5.1.5. 570 Schultze (2019) 167 verweist auf die politischen Implikationen der Tötung der Horatia für die Entwicklung des römischen Staates, da bei der Entscheidung über die Verurtei‐ lung des Horatius erstmals das römische Volk als Richter über ein Kapitalverbrechen fungiert. Somit bewirkt die Antilogie der Geschwister eine innenpolitische Verände‐ rung, ebenso wie dies bei den untersuchten Reden der Tanaquil und der Tullia der Fall war. Horatier-Kampfes und seiner Begleitumstände vertraut und betrachteten diese als Teil ihrer kollektiven Identität. 568 Mit Blick auf ein griechisches Publikum und die erklärten Ziele des Werkes haben die Antiquitates somit erhöhten Legi‐ timationsbedarf bei der Schilderung dieser Begebenheit und greifen dafür auf Techniken wie die Integrierung direkter Rede und auktoriale Kommentierung zurück. Die Einschaltung der Erzählerstimme, die an dieser Stelle das gefühllose Verhalten des Vaters (und des Horatius, der seine Schwester getötet hat) zwar kritisiert, doch zugleich als damals bei den Römern eben üblich relativiert, kehrt in einer ähnlichen Situation wieder, als der erste Konsul der jungen römischen Republik seine eigenen Söhne öffentlich hinrichten lässt, da sie an der Verschwörung zur Rückführung der Tarquinier beteiligt waren. 569 Der Erzähler deutet an, dass der potenzielle griechische Leser von der Schilderung der Geschehnisse in seinem Moralempfinden verletzt wurde. Ein Verhalten, das von derartiger Härte gegenüber den nächsten Verwandten gekennzeichnet ist, so stellt es der Text dar, ist in der griechischen Kultur undenkbar; im alten Rom dagegen war es die Norm. Diese Art von Kommentierung ist Teil des Anliegens der Antiquitates Romanae, einer von griechischen Wertbegriffen geprägten Welt die römische Geschichte nahe zu bringen und wo möglich begreifbar zu machen. Das nicht Begreifbare - wie die Haltung eines Vaters, den der Verlust dreier Kinder nicht zu erschüttern vermag, solange dieser zum Wohle des Staates und zum Erhalt der patriarchalischen Ordnung geschieht - wird durch die Relativierung, es sei eben in der alten Zeit das Übliche gewesen, abgemildert, wenngleich es letztlich nicht nachvollziehbar gemacht werden kann. 570 5.3.2.2.4 Brutus Wie anhand der untersuchten Reden gezeigt werden konnte, verbinden die Antiquitates mit ihnen neben den Funktionen der Figurencharakterisierung und der Dramatisierung das Anliegen, bestimmte Situationen der römischen Geschichte zu akzentuieren, die für den weiteren Verlauf der Historie von Bedeutung waren. Hinzu kommt ihre Aufgabe der Unterstützung der These, die Römer seien durch ihre Herkunft Griechen und teilten mit diesen zentrale kulturelle Werte. Eine Rede, welche die beiden letztgenannten Funktionen in 172 5 Reden <?page no="173"?> 571 Ant. 4,77,1-83,5. 572 Ant. 4,67,2. 573 Zur Verdeutlichung seines vorbildlichen Charakters ist ant. 4,68,1-69,4 eigens ein Exkurs in den Erzählzusammenhang eingeschoben, der u.a. seine trojanische Abstam‐ mung und seine ἀρετή hervorhebt und die Verbrechen schildert, die Brutus und seine Familie von Seiten der mit ihnen verwandten Tarquinier erleiden mussten. Vgl. Wiater (2018) 169 Anm. 285, der Brutus als „archetypischen Unterdrückten“ sieht, „der endlich die Verbrechen des archetypischen Tyrannen am Volk und stellvertretend für das Volk rächen wird“. 574 Ant. 4,70,4-5. Die Beschreibung des Brutus, der den Dolch der Lucretia in die Hand nimmt und an ihrer Leiche seinen entschlossenen Schwur tut, führt dem Leser die historische Tragweite des Ereignisses vor Augen. 575 Ant. 4,71,1-76,2. Beachtenswert ist der dem Schwur-Motiv inhärente Bezug zur athe‐ nischen Geschichte: So verpflichteten die Buleuten in Athen sich durch Eid, jeden zu töten, der eine Tyrannenherrschaft anzustreben schien, s. Barceló (1993) 191. 576 Die Vorbereitungen zu Volksversammlung und Rede umfassen ant. 4,76,3-4. Mögli‐ cherweise evoziert die Schilderung des aufgebahrten Leichnams der Lucretia die im kollektiven Gedächtnis der Römer zur Zeit des Dionysios noch präsente Erinnerung an die Aufbahrung der Leiche Caesars, s. Mastrorosa (2018) 66 Anm. 16. herausgehobener Weise vereint, findet sich im vierten Buch; sie stellt das letzte Beispiel dar, das in diesem Kapitel näher beleuchtet werden soll. Es handelt sich um die Rede des Brutus, in der er die Plebeier zu gemeinsamem Vorgehen gegen die Tyrannenherrschaft der Tarquinier aufruft. 571 Nach der Selbsttötung der Lucretia im Haus ihres Vaters rufen die dort anwesenden Patrizier, die das Unglück mitangesehen haben, einstimmig aus, sie wollten lieber für die Freiheit sterben als derlei Verbrechen der Tyrannen zulassen. 572 Als Collatinus eintrifft, befindet er sich in Begleitung des Brutus, der sogleich den führenden Part in der Verschwörung gegen die Tarquinier übernimmt. 573 Er mahnt die Patrizier zu einmütigem Vorgehen und schwört der Tyrannis ewige Feindschaft. 574 Anschließend verpflichtet er die Patrizier zum selben Schwur und legt die geplante Vorgehensweise dar; daraufhin findet eine Beratung über die Einrichtung einer neuen Verfassung statt. 575 Die nächste Szene führt den Leser auf das Forum, wo die Patrizier Lucretias Leichnam öffentlich aufbahren lassen und Brutus vor dem versammelten römischen Volk eine umfangreiche Rede hält. 576 Zunächst spricht er von sich selbst und erklärt, dass er sich aus Angst vor den Nachstellungen der Tarquinier, die seiner Familie Schlimmes angetan hätten, lange Jahre verstellt und Schwachsinn vorgetäuscht habe, um nicht wie sein 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 173 <?page no="174"?> 577 Ant. 4,77,1-4. Der Leser kennt die Vergangenheit des Brutus bereits aus dem Exkurs, doch die römische Bevölkerung ist darüber nicht informiert, was die Doppelung zu ant. 4,68,1-69,1 und 4,70,4 erklärt. 578 Man beachte die Kontrastierung von τὰ κοινά mit dem privaten Unglück des Brutus, das er nur kurz geschildert hat, bevor er zu dem für ihn wesentlicheren Teil der Rede, dem Unglück des Staates, übergeht: Dies lässt eine patriotische Haltung erkennen, die auch und gerade in der späteren Hinrichtung seiner eigenen Söhne zum Ausdruck kommt. 579 Ant. 4,78,1. Vater und Bruder ermordet zu werden. 577 Sodann nennt er den Grund für die Einberufung der Volksversammlung: Τὰ δὲ κοινά, 578 ὑπὲρ ὧν ὑμᾶς εἰς ἐκκλησίαν συνεκάλεσα, ταῦτ᾽ ἐστί. Ταρκύνιον οὔτε κατὰ τοὺς πατρίους ἡμῶν ἐθισμοὺς καὶ νόμους τὴν δυναστείαν κατασχόντα οὔτ᾽, ἐπειδὴ κατέσχεν ὅπως δή ποτε λαβών, καλῶς αὐτῇ καὶ βασιλικῶς χρώμενον, ἀλλ᾽ ὑπερβεβληκότα πάντας ὕβρει τε καὶ παρανομίᾳ τοὺς ὅπου δή ποτε γενομένους τυράννους, ἀφελέσθαι τὴν ἐξουσίαν βεβουλεύμεθα συνελθόντες οἱ πατρίκιοι, πάλαι μὲν δέον, ἐν καιρῷ δὲ νῦν αὐτὸ ποιοῦντες ἐπιτηδείῳ, ὑμᾶς τ᾽, ὦ δημόται, συνεκαλέσαμεν, ἵνα τὴν προαίρεσιν ἀποδειξάμενοι τὴν ἑαυτῶν συναγωνιστὰς ἀξιώσωμεν ἡμῖν γενέσθαι, πράττοντας ἐλευθερίαν τῇ πατρίδι, ἧς οὔτε πρότερον ἡμῖν ἐξεγένετο μεταλαβεῖν, ἐξ οὗ Ταρκύνιος τὴν ἀρχὴν κατέσχεν, οὔθ᾽ ὕστερον, ἐὰν νῦν μαλακισθῶμεν, ἐξέσται. 579 Die öffentliche Angelegenheit, deretwegen ich euch zur Versammlung zusammenge‐ rufen habe, ist folgendes: Tarquinius hat weder gemäß den Bräuchen und Gesetzen unserer Väter die Herrschaft übernommen, noch hat er sie seit dieser Übernahme - auf welche Weise auch immer er sie ergriff - auf gute und eines Königs würdige Art gebraucht. Vielmehr hat er an Hochmut und Ungesetzlichkeit alle bisher - wo auch immer - dagewesenen Tyrannen übertroffen. Wir Patrizier sind zusammengekommen und haben beschlossen, ihm seine Macht zu entreißen - etwas, das schon lange nötig war und das wir nun im günstigen Augenblick tun. Und euch, ihr Plebeier, haben wir zusammengerufen, um euch unsere Absicht zu verkünden und euch dann aufzufordern, unsere Mitkämpfer zu werden, und so dem Vaterland die Freiheit wieder zu geben. Weder konnten wir früher an ihr teilhaben, seitdem Tarquinius die Herrschaft ergriffen hatte, noch werden wir es künftig können, wenn wir jetzt schwach sind! Hier wird das Motiv der Eintracht in den Mittelpunkt gerückt, das die Erzählung vom Sturz der Tarquinier in den Antiquitates kennzeichnet. Es ist bereits in der Verpflichtung der Patrizier zu gemeinsamem Schwur und gemeinsamem Han‐ 174 5 Reden <?page no="175"?> 580 Ant. 4,70,4; 4,71,1. Die Bedeutung des concordia-Motivs für die Erzählung hebt auch Wiater (2018) 170 Anm. 288 und 291 sowie 307 hervor. Vgl. ferner ant. 5,1,2 und 5,13,1. Das Thema „Einheit der Bürgerschaft“ spielt auch in späteren Büchern der Antiquitates Romanae eine zentrale Rolle: So kommt den Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebeiern vor allem in den Büchern 7 und 8 breiter Raum zu; auch ist wiederholt explizit von der Einheit Roms und der bedrohten Eintracht zwischen den Ständen die Rede. Vgl. e.g. ant. 7,1,1; 7,18,1; 7,20,1; 7,29,4; 7,32,3; 7,54,1; 9,48,5. 581 Vgl. Wiater (2018) 188 Anm. 321. 582 Ant. 4,79,1-4. Hier konzentriert die Rede sich auf die Verbrechen, die Tarquinius in seinem privaten Umfeld begangen hat und an denen Tullia maßgeblich beteiligt war; sie werden als Frevel gegenüber den Göttern und als durch und durch ungriechisch, ja sogar unmenschlich, gebrandmarkt, s. 4,79,2: ἀνόσια καὶ ἐξάγιστα καὶ οὔθ᾽ Ἑλλάδος οὔτε βαρβάρου γῆς οὐδαμόθι γενόμενα πρῶτος εἰς τὴν Ῥωμαίων πόλιν εἰσαγαγὼν καὶ μόνος. Vgl. Wiater (2018) 182 Anm. 309. 583 Ant. 4,80,1. Vgl. zur hier beschriebenen Paranomie als Kennzeichen der Tyrannis der Tarquinier Wiater (2018) 183 Anm. 312. Vgl. auch ant. 5,2,2. Zum Gegensatz Tyrannis/ Isonomie, der in Athen in ideologischer Weise gebraucht wurde und sich offenbar insbesondere um die Person des Hippias zentrierte, s. Barceló (1993) 187-196. deln begegnet. 580 Indem Brutus stellvertretend für die Patrizier die Plebeier dazu aufruft, sich ihnen anzuschließen und ihr Vorhaben tatkräftig zu unterstützen, kann der Riss, der seit der Machtübernahme des Servius Tullius die römische Bevölkerung durchzogen hat, geheilt werden. 581 Brutus fährt fort und ruft der Bevölkerung mit eindringlichen Worten die moralische Schlechtigkeit des Tarquinius Superbus in Erinnerung; 582 anschlie‐ ßend schildert er die Vergewaltigung der Gesetze, die dieser bereits durch seine widerrechtliche Machtübernahme vorgenommen habe: Ἀλλὰ τί τούτοις ἐπιτιμῶ τοσαύτας ἔχων αὐτοῦ παρανομίας κατηγορεῖν ἔξω τῶν εἰς τοὺς συγγενεῖς καὶ κηδεστὰς γενομένων, τὰς εἰς τὴν πατρίδα καὶ πάντας ἡμᾶς ἐπιτελεσθείσας, εἰ δὴ καὶ παρανομίας δεῖ καλεῖν αὐτάς, ἀλλ᾽ οὐκ ἀνατροπὰς καὶ ἀφανισμοὺς ἁπάντων τῶν τε νομίμων καὶ τῶν ἐθῶν; αὐτίκα τὴν ἡγεμονίαν, ἵν᾽ ἀπὸ ταύτης ἄρξωμαι, πῶς παρέλαβεν; ἆρά γ᾽ ὡς οἱ πρὸ αὐτοῦ γενόμενοι βασιλεῖς; πόθεν; πολλοῦ γε καὶ δεῖ. 583 Aber was tadle ich diese Dinge, da ich ihn wegen so vieler Ungesetzlichkeiten anklagen kann außer denen, die gegen seine Verwandten und seine Schwiegereltern geschahen, wegen derer nämlich, die gegen unser Vaterland und gegen uns alle begangen wurden - wenn man diese überhaupt als Ungesetzlichkeiten bezeichnen kann und nicht vielmehr als Verkehrungen und Zerstörungen aller Gesetze und Bräuche? Wie hat er denn, um damit zu beginnen, die Herrschaft übernommen? Etwa wie die Könige vor ihm! ? Woher denn? Weit gefehlt! 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 175 <?page no="176"?> 584 Ant. 4,80,2-4. 585 Ant. 4,81,1-2. 586 Ant. 4,81,3-82,2. Lucretias durch die Vergewaltigung unrein gewordener Körper muss zusammen mit der bisherigen Staatsform, als deren Symbolisierung er dient, geopfert werden, um die Befleckung des Staates durch die Tyrannen aufzuheben und die „unrein[e] Vergangenheit“ zu beenden, s. Fögen (²2002) 36. 587 Ant. 4,82,3-4. Die Vorgänger des Tarquinius auf dem Königsthron hätten stets nach den überkommenen Bräuchen die Macht übernommen; Brutus hebt in diesem Zusammenhang insbesondere auf die übliche Bestätigung neuer Könige durch die Volksversammlung ab, die Tarquinius einfach übergangen habe. Anstelle durch den Willen von Senat, Volk und römischen Göttern seine Herrschaft le‐ gitimieren zu lassen, habe er sie gewaltsam und regelwidrig an sich gerissen und missbraucht. 584 Unter seiner Tyrannenherrschaft seien die Patrizier jeder Macht beraubt und zahlreichen Nachstellungen ausgesetzt, doch weitaus schlimmer sei die Lage der Plebeier, die sich geradezu in einer Art Sklaverei befänden. 585 Sollte die Herrschaft von Tarquinius auf seine Nachkommen übergehen, so werde sich die Situation noch weiter verschlechtern: Das Schicksal der Lucretia stehe stellvertretend für die künftige Gewalt, die die Bevölkerung zu erwarten habe. 586 ὦ θαυμαστὴ σὺ καὶ πολλῶν ἐπαίνων ἀξία τῆς εὐγενοῦς προαιρέσεως, οἴχῃ καὶ ἀπόλωλας οὐχ ὑπομείνασα τυραννικὴν ὕβριν, ἁπάσας ὑπεριδοῦσα τὰς ἐν τῷ ζῆν ἡδονάς, ἵνα σοι μηδὲν ἔτι τοιοῦτον συμβῇ παθεῖν. ἔπειτα σὺ μέν, ὦ Λουκρητία, γυναικείας τυχοῦσα φύσεως ἀνδρὸς εὐγενοῦς φρόνημα ἔσχες, ἡμεῖς δ᾽ ἄνδρες γενόμενοι γυναικῶν χείρους ἀρετῇ γενησόμεθα; καὶ σοὶ μέν, ὅτι μίαν ἐτυραννήθης νύκτα τὴν ἀμίαντον ἀφαιρεθεῖσ᾽ αἰδῶ μετὰ βίας, ἡδίων καὶ μακαριώτερος ἔδοξεν ὁ θάνατος εἶναι τοῦ βίου, ἡμῖν δ᾽ ἆρ᾽ οὐ παραστήσεται τὸ αὐτὸ τοῦτο ὑπολαβεῖν, ὧν Ταρκύνιος οὐ μίαν ἡμέραν, ἀλλὰ πέμπτον καὶ εἰκοστὸν ἔτος ἤδη τυραννῶν, πάσας ἀφῄρηται τὰς ἐν τῷ ζῆν ἡδονὰς ἐλευθερίαν ἀφελόμενος; οὐκ ἔστιν ἡμῖν, ὦ δημόται, βιωτὸν ἐν τοιούτοις καλινδουμένοις κακοῖς, ἐκείνων τῶν ἀνδρῶν οὖσιν ἀπογόνοις, οἳ τὰ δίκαια τάττειν ἠξίουν τοῖς ἄλλοις καὶ πολλοὺς ὑπὲρ ἀρχῆς καὶ δόξης ἤραντο κινδύνους· ἀλλὰ δυεῖν θάτερον ἅπασιν αἱρετέον, ἢ βίον ἐλεύθερον, ἢ θάνατον ἔνδοξον. 587 O du Wunderbare, du so vielen Lobes Würdige wegen deines edlen Entschlusses, du bist von uns gegangen und bist tot, weil du die Anmaßung der Tyrannen nicht erdulden wolltest! Alle Freuden, die das Leben bereit hält, verachtetest du, damit dir nicht noch einmal Derartiges widerfahre! Hattest dann du, Lucretia, der eine weibliche Natur zuteil wurde, die Gesinnung eines edlen Mannes, während wir Männer an Tapferkeit hinter den Frauen zurückstehen sollen? Und schien dir, da du nur eine 176 5 Reden <?page no="177"?> 588 Ant. 4,82,5-83,4. 589 Vgl. Wiater (2018) 188 Anm. 321. 590 Ant. 4,83,5. 591 Ant. 4,84,1-2. Zum auch hier wieder verwendeten Motiv der concordia vgl. Wiater (2018) 188 Anm. 322. einzige Nacht lang der Willkür eines Tyrannen ausgeliefert warst und dir deine unbefleckte Keuschheit mit Gewalt entrissen wurde, der Tod süßer und glückseliger zu sein als das Leben, uns aber soll es nicht in den Sinn kommen, ebenso zu empfinden, obwohl Tarquinius über uns nicht nur einen einzigen Tag lang, sondern bereits das fünfundzwanzigste Jahr als Tyrann gebietet und uns alle Freuden des Lebens entrissen hat, da er uns die Freiheit nahm? Nichts Lebenswertes gibt es für uns, ihr Plebeier, in solch wirbelnden Übeln, denn wir sind die Nachfahren jener Männer, die forderten, den anderen das rechte Verhalten aufzuerlegen, und zahlreiche Gefahren für Herrschaft und Ruhm auf sich nahmen! Aber von zwei Dingen müssen alle eines wählen: entweder ein Leben in Freiheit oder einen ruhmvollen Tod! Daraufhin ermahnt Brutus das Volk, sich nun zu diesem geeigneten Zeitpunkt die geraubte Freiheit zurückzuholen, und ermuntert es, voll Zuversicht auf die Hilfe der Götter, die eigene Stärke und die Unterstützung der Bundesgenossen aktiv zu werden. 588 Seine Schlussworte greifen noch einmal das Motiv der Eintracht auf: 589 μαντεύομαι δὲ καλοῖς ἐγχειρήμασιν εὐτυχὲς ἀκολουθήσειν τέλος. εἴη δὲ τούτοις ἅπασι ταὐτὸ λαβοῦσι θάρσος καὶ μιᾷ γνώμῃ χρησαμένοις, σώζειν θ᾽ ἡμᾶς καὶ σώζεσθαι ὑφ᾽ ἡμῶν. 590 Ich prophezeie, dass edlen Unternehmungen ein glückliches Ende folgen wird. Mögen alle diese Männer, die den gleichen Mut und die gleiche Absicht besitzen, uns retten und auch von uns gerettet werden! Die Rede des Brutus ruft bei den Plebeiern die von ihm und den Patriziern beabsichtigte Reaktion hervor, da sie, von ihren Emotionen überwältigt, sich einstimmig der Führung der Patrizier anvertrauen und mit ihnen den Kampf gegen die Tyrannen aufnehmen wollen. 591 Ihre Funktion scheint daher zunächst offensichtlich zu sein: Sie trägt zusammen mit der Selbsttötung der Lucretia dazu bei, eine gravierende Veränderung des römischen Staatswesens zu motivieren. Zur Charakterisierung der sprechenden Figur trägt sie insofern nicht bei, als der Leser Brutus bereits in den vorangegangenen Szenen kennen gelernt hat und über seine Vorgeschichte und ἀρετή informiert ist. Allerdings gilt dies nur für den extradiegetischen Rezipienten, denn die intradiegetischen Rezipienten in Gestalt der Plebeier wissen bis dato nicht Bescheid über den wahren Charakter 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 177 <?page no="178"?> 592 Ant. 4,71,1-4; 4,73,1-75,4. 593 S. Poletti (2015) 232 f. mit Verweis auf Liv. 1,59,2-7 und Plut. Publ. 1,3-4. 594 Ant. 4,71,1-6; vgl. Poletti (2015) 231-235. Das von Vernunft und Gesetzestreue geprägte Vorgehen der Patrizier kontrastiert mit der Willkürherrschaft der Tarquinier, die es zu beenden gilt. 595 Fögen (²2002) 30 hebt hervor, dass eine Verfassung im eigentlichen Sinn den Römern zwar fremd war: „Bekannt und bewußt war ihnen [sc. den Römern] - jedenfalls dem Dionysios - jedoch, daß eine jede neue politische Organisation, die der Republik wie die des Augustus, nach Legitimation giert, daß sie ihre eigene Existenz tunlichst nicht auf Zufall, nicht auf Gewalt und besser auch nicht allein auf die Vorsehung der Götter stützen sollte. Akzeptabler als Grundlage der neuen Staatsform war hingegen ein Beschluß des römischen Volks. Ein ordentlicher, ein nicht-revolutionärer Volksbeschluß aber kann - das weiß Dionysios genau aus der politischen Praxis - nur herbeigeführt werden, wenn ein Magistrat „von Amts wegen“ das Volk einberuft. Dionysios setzt - anachronistisch - auf strenge Legalität: Brutus habe als vom König selbst eingesetzter Tribun der Celeres (der Reiterei) eben dieses Recht, die Volksversammlung einzube‐ rufen und einen „Zwischenkönig“ zu benennen, einen interrex oder griechisch: einen μεσοβασιλεύς.“ S. dazu ant. 4,75,1-2 und 4,76,1. Fögen (²2002) 31 sieht die Ernennung eines interrex als Scharnier zwischen alter und neuer Staatsform, wodurch Dionysios den Übergang von der Monarchie zur Republik als bruchlos darstellen könne und griechischen Erwartungen entspreche: „Der interrex, der Herrscher, der „dazwischen“ steht, verbindet, was nicht zusammengehört. Er löst dadurch den Zirkel auf, daß man eine Ordnung braucht, um eine Ordnung herzustellen, eine „Grundnorm“ benötigt, um Normativität zu begründen, und einen Anfang vor den Anfang setzen muß, damit man anfangen kann. Für Dionysios gibt es damit keine Stunde Null, nicht einmal eine rechtsfreie Sekunde. Kein Bruch, geschweige denn eine Revolution, sondern nur eine des Brutus. Dieser muss die Bevölkerung erst für sich gewinnen, um sie von seinem Plan des Staatsstreichs überzeugen zu können; zudem gilt es, einen möglichst großen Kontrast zwischen seiner lauteren Persönlichkeit und dem Wesen des Tarquinius Superbus aufzubauen. Die wichtigste Veranlassung, diese Rede des Brutus in die Erzählung einzu‐ fügen, ist allerdings in dem Legitimationsbedarf der Verfassungsänderung zu sehen. Beatrice Poletti hat anhand einer Untersuchung der beiden vorangegan‐ genen Reden des Brutus an die Patrizier 592 gezeigt, dass sich die Vorphase des Sturzes der Tarquinier in den Antiquitates in einem wichtigen Punkt von anderen Versionen wie Livius und Plutarch unterscheidet, da sie sich weniger emotional-impulsiv vollzieht als bei diesen; stattdessen gehen die Patrizier um Brutus planvoll und überlegt vor. 593 Der Text weist wiederholt auf die Legalität ihres Vorgehens hin. 594 Doch auch und gerade die von Poletti nicht untersuchte Rede des Brutus vor der Volksversammlung etabliert mit Nachdruck den Kontrast zwischen der unter Tarquinius herrschenden παρανομία einerseits und der Gesetzestreue andererseits, für die die Patrizier stehen und die sie im Staatswesen wieder herstellen wollen. 595 Bezeichnenderweise geht Brutus in 178 5 Reden <?page no="179"?> Umbenennung des Amts von rex in consul und dessen Verdopplung kennzeichnen den Ursprung der römischen Republik - und all dies auf juristisch einwandfreier Grundlage, κατὰ νόμον, nach dem nomos, der nach der Vorstellung und Erfahrung des Griechen Dionysios immer schon da war.“ 596 Besonders ant. 4,78,1; 4,80,1-4. Daher kann Brutus in seiner Rede, die er im Kreis der Patrizier über die neue Verfassung hält, für eine reformierte Monarchie plädieren. Die Patrizier verständigen sich ja gerade nicht darauf, die Monarchie als Staatsform abzu‐ schaffen, sondern darauf, sie lediglich zu modifizieren und gegen künftigen Missbrauch abzusichern: s. ant. 4,73,1-75,4. Vgl. auch ant. 5,2,2 und 5,20. Zur Modifikation der Monarchie durch Brutus vgl. Fögen (²2002) 27-29 und Mastrorosa (2018). 597 Vgl. Wiater (2018) 166 f. Anm. 281, der auf die unterschiedliche Akzentuierung der Rolle der Lucretia bei Livius und Dionysios hinweist, hier 167: „Diese sexuelle Komponente [sc. in der Livius-Version] spielt bei Dionysius bezeichnenderweise hier keine Rolle: Nicht der Verlust der römischen Männlichkeit, sondern der Verlust des politischen Wertes der Freiheit ist bei ihm das Kernthema. Auch hat er die Rolle der Lucretia im Vergleich zu Livius deutlich reduziert: Bei ihm hält sie nur eine direkte Rede, in der sie ihren Vater dazu auffordert, „so viele Freunde und Verwandte“ zusammenzurufen, wie er könne; so schafft Lucretia bei Dionysius lediglich die Voraussetzung für kollektives Handeln (ὀμόνοια/ homonoia; concordia), die richtige Deutung der Konsequenzen ihres Selbstmordes und somit die eigentliche Umsetzung des kollektiven Handelns schreibt er dann jedoch den römischen Männern zu […].“ Zum Motiv der ὀμόνοια, das die Verfassungsänderung prägt, s. auch ebd. Anm. 288; 291; 321; 322. Vgl. zum Thema des Erotischen allerdings Fögen (²2002) 44, deren Interpretation derjenigen Wiaters entge‐ gengesetzt ist: „Die erotische Komponente fehlt bei Livius vollständig, bei Dionysios von Halikarnaß ist sie allenfalls durch dessen obsessiven Gebrauch des Dolchs […] vertreten.“ 598 Ant. 4,81,3-82,5. 599 Vgl. Wiater (2018) 171 Anm. 290. Lucretia dient Brutus als exemplum, mit dem er seine Argumentation unterstützt; ein exemplum ist sie in zweierlei Hinsicht, da sie zum einen als Opfer der Gewaltherrschaft exemplarische Bedeutung verliehen bekommt, zum anderen als Vorbild für die männliche Bevölkerung Roms dient, die sich an ihrem mutigen Verhalten ein Beispiel nehmen soll. Vgl. ant. 4,82,3. seiner Argumentation nicht von einer Kritik der Monarchie an sich aus, sondern von der Degeneration derselben, seitdem Tarquinius als König herrscht. 596 Lucretia fungiert dabei nicht als Grund zur Reformierung der Verfassung, sondern lediglich als Anlass. Der eigentliche Grund besteht in der Vernichtung aller Legalität durch die Willkürherrschaft des Tyrannen. 597 So kommt Brutus erst spät und recht kurz auf Lucretias Schicksal zu sprechen, indem er dieses als Warnung gebraucht, man dürfe nicht abwarten, bis Tarquinius seine Macht (mit dem Tode) abgebe, da von seinen Nachkommen noch Schlimmeres zu gewärtigen sei als von ihm selbst. 598 Das Schicksal der Frau wird in seiner Rede als Hortativ eingesetzt, um die Plebeier zu gemeinsamem Handeln zu bewegen. 599 5.3 Reden in den Königszeitbüchern der Antiquitates Romanae 179 <?page no="180"?> 600 Zu diesen und weiteren Bezügen zwischen ant. 4,71,1-4; 4,73,1-75,4 und der Selbstdar‐ stellung des Augustus in den Res gestae s. Poletti (2015). 601 Ant. 4,77,3-4. 602 R. Gest. div. Aug. 2: qui parentem meum trucidauerunt, eos in exilium expuli iudiciis legitimis ultus eorum facinus […]. Vgl. Poletti (2015) 234 f.; da sie die Rede des Brutus vor der Volksversammlung nicht in ihre Untersuchung einbezieht, geht sie auch auf die Parallelität der Aussagen über die Ermordung des Vaters nicht gesondert ein. Wiater (2018) 209 Anm. 26 sieht darüber hinaus in ant. 5,12,2 eine Parallele zwischen Brutusʼ milden Worten gegenüber seinem Amtskollegen Collatinus und der clementia, die Caesar und Augustus für sich beanspruchten. 603 Zur Einrichtung der Verfassung durch Romulus s. ant. 2,3,1-29,2. 604 Die Antiquitates gebrauchen für die Verfassung des Romulus den Begriff εὐκοσμία, s. ant. 2,24,1. Dionysios führt bestimmte von Romulus etablierte Einrichtungen auf bereits bestehende griechische Vorbilder zurück, s. dazu Peirano (2010) 41. 605 Vgl. das Verbum παρανομεῖν in Bezug auf das Handeln des Tarquinius Superbus in ant. 4,44,1; das Substantiv παρανομία in ant. 4,78,1-2; 4,72,2; 4,80,1; als Adjektiv im Superlativ auf Tarquinius bezogen: παρανομώτατος in ant. 4,46,3. Die Betonung der Legalität des patrizischen Vorgehens gegen die Tyrannen und der Anspruch, die an sich positive Staatsform der Monarchie zu refor‐ mieren, lassen Bezüge zur Abfassungszeit der Antiquitates erkennen, denn auch Octavian/ Augustus präsentierte der Bevölkerung sein Vorgehen gegen die Caesarmörder und die Einrichtung des Prinzipats als gesetzeskonforme Maßnahmen und vor allem letztere als Befreiung von Unterdrückung und als Restauration der republikanischen Verfassung. 600 Zu Beginn seiner Rede an die Bevölkerung berichtet Brutus davon, wie Tarquinius zuerst seinen Vater und sodann seinen älteren Bruder habe töten lassen, um sich in den Besitz des Familienvermögens zu bringen, und dass nun für ihn der Zeitpunkt der Vergeltung gekommen sei. 601 In ähnlicher Weise legitimierte Octavian/ Augustus die Verfolgung der Caesarmörder. 602 Somit stünde die Gestalt des Brutus in den Antiquitates in einer Linie der Kontinuität, die über Romulus als Urheber der römischen Verfassung bis zu Augustus reicht. Dies legt bereits der Umstand nahe, dass Brutus sich explizit für die Bewahrung der Grundzüge der Monarchie ausspricht, die von Romulus herrühren. 603 Zusätzlich zu diesem römischen Traditionszusammenhang weist die Rede einen Bezug zur griechischen Geschichte auf, denn das so stark hervorgehobene Motiv der Gesetzeskonformität im Gegensatz zur παρανομία der Tarquinier evoziert eine Parallele zur Gestalt des Solon und dessen Ideal der εὐνομία. Brutus erscheint als Erneuerer der von Romulus gegebenen ausgewogenen 604 Verfassung, die durch das rechtswidrige Agieren der Tarquinier empfindlich verletzt worden ist. 605 Wie einst Solon hat er seine wahre Intelligenz verborgen und Schwachsinn vorgetäuscht, um der Verfolgung durch die Tarquinier zu 180 5 Reden <?page no="181"?> 606 Vgl. ant. 4,68,2; 4,70,4; 4,77,2-4 mit Plut. Sol. 8. 607 Die Verwendung von Begriffen wie εὐκοσμία und παρανομία evoziert die Reformen der athenischen Verfassung durch Solon, wie dieser sie insbesondere in Fr. 4 W. (3 G.-Pr.) skizziert; vgl. dazu Blaise (2006) und insbesondere Raaflaub (2006). Vgl. ferner Walter (1993) 104 f. S. auch Poletti (2015) 234 zu Sparta und Athen als Modell für die von Brutus vorgeschlagenen Reformen sowie zu intertextuellen Bezügen zu Hdt. 3,80-82 und Pol. 6,3-9. 608 Vgl. Wiater (2018) 87 Anm. 99 (Bezugspunkt ist die Rede des Servius Tullius ant. 4,23,1-6): „Reden wie die des Servius Tullius spielen eine wichtige Rolle im historischen Programm des Dionysius. Grundsätzlich dienen sie dazu, den einzelnen historischen Ereignissen, hier den Maßnahmen des Königs, einen tieferen politischen oder (po‐ pulär-)philosophischen Sinn abzugewinnen und diesen in konzentrierter Form darzu‐ stellen. […] Zum anderen realisieren Reden wie die vorliegende Dionysius̕ anderen wesentlichen Anspruch, dass sein Werk dem Leser Material für seine Aktivität als Redner/ Politiker bzw. für philosophisch-politische Reflexionen bieten und somit zur „politischen Bildung“ und deren praktischer Umsetzung beitragen will […].“ entgehen, 606 wie Solon bringt er nun den römischen Staat wieder in sein Gleichgewicht. 607 Mit dieser großen Rede des Brutus will Dionysios die römische Verfassung somit aus der römischen ebenso wie der griechischen Historie heraus begründen und legitimieren. 5.4 Ergebnisse Was die Verwendung von Reden in den Büchern der Königszeit betrifft, so ergibt sich zusammenfassend folgender Befund: Die Reden dienen mitnichten nur als schmückendes Beiwerk, das auf die Unterhaltung des Lesers abzielt. Zwar tragen sie in der Tat zur variatio innerhalb der Erzählung bei und können dramatisie‐ rende Wirkung entfalten, doch von größerer Bedeutung ist ihre Funktion der Akzentuierung wichtiger Stationen in der römischen Frühgeschichte. 608 Sowohl die Redenpaare Aeneas/ Latinus und Tullus Hostilius/ Mettius Fufetius als auch die großen Einzelreden von Tanaquil, Tullia und Brutus betonen krisenhafte Punkte, an denen die weitere Entwicklung des römischen Staatswesens zur Entscheidung stand und die mittelbar oder unmittelbar dazu beigetragen haben, dass Rom und die Römer zu dem geworden sind, was sie zur Zeit des Dionysios darstellen: die beherrschende Macht im Mittelmeerraum. Dies entspricht der in den Scripta rhetorica vorgebrachten theoretischen Forderung, Reden an bedeutsamen Stellen des Geschehens zu platzieren. In diesem Sinne entspricht der Gebrauch von Reden dem Konzept des πρέπον, das für Dionysios eine zentrale Rolle spielt. Die Reden motivieren jeweils die entsprechende histori‐ sche Veränderung und sind daher als geschichtsformende Kräfte ausführlich 5.4 Ergebnisse 181 <?page no="182"?> 609 Ein besonders augenfälliges Beispiel ist die Coriolan-Episode ant. 7,20-67. S. dazu Ke‐ fallonitis (2008), insbesondere 200 f. Dionysios sieht in der Eskalation des Konfliktes um Coriolan, der sich anschickt, mit Militärgewalt gegen seine Heimatstadt vorzugehen, die größte Gefahr seit der Gründung Roms, da das Schicksal der Stadt auf Messers Schneide stand; s. ant. 7,20,2. wiederzugeben. Dies ist ein darstellerisches Verfahren, das in den Antiquitates nicht nur für die Schilderung der Königszeit charakteristisch ist, sondern sich in den späteren Büchern fortsetzt. 609 Zur Rolle der Reden als αἰτίαι trägt auch die häufige Wiedergabe der Reaktion der intradiegetischen Adressaten bei, die einerseits dem Leser die Möglichkeit zum Vergleich mit seiner eigenen Reaktion bietet und eine bestimmte Interpretationsrichtung vorgeben kann, andererseits die Folgen der Rede auf der Erzählebene aufzuzeigen vermag. Mit dieser aitiologischen Funktion eng verknüpft ist ihre Rolle als Vehikel, um die These zu transportieren, die Römer seien ihrer Herkunft und ihren Werten nach Griechen, wie sie in den besprochenen Reden wiederholt zum Ausdruck kommt, besonders in den beiden Antilogien und in der Rede des Brutus. Dies steht im Rahmen des Kulturtransfers zwischen Griechenland und Rom, den die Antiquitates zu vollziehen suchen, und fügt sich damit in das Bild ein, das sich bereits aus dem enargeia-Kapitel ergeben hat. Die einzelnen Funktionen der Reden lassen sich nur schwer voneinander trennen, da deren Integrierung in den Erzähltext in der Regel mehrere Ziele verfolgt. So dient die indirekte Charakterisierung von Figuren wie Aeneas, Romulus, Tullus Hostilius, Horatius und seiner Schwester, Tanaquil und Tullia, die in ihren Reden vorgenommen wird, auf der Ebene der Sinnstiftung bzw. der Erklärung des historischen Geschehens weiteren Zielen: Oftmals veranschauli‐ chen die Reden den Charakter einer Figur als exemplum und/ oder als Ursache für wichtige politische Veränderungen, wie im Fall von Tanaquil und Tullia. Die Reden können aber auch durch die Hervorhebung bestimmter Eigenschaften der Figur zur Transportierung des positiven Römerbildes beitragen, das die Antiquitates vermitteln wollen. Dabei ist eine gewisse typisierende Tendenz nicht von der Hand zu weisen, etwa im Falle der Tullia, der Horatii-Geschwister, aber auch des Aeneas. Dies liegt in den Rollen begründet, die den Figuren von der römischen Überlieferung zugeschrieben wurden und die die Möglichkeiten des Historikers zu individueller Charakterzeichnung zwangsläufig einschränkten; dieser konnte kaum anders, als eine größtmögliche Kongruenz dieser Rollen und seiner Geschichtsdarstellung anzustreben. Dionysios gelingt es allerdings, die von der Tradition vorgegebenen Personenprofile seinen Darstellungsabsichten behutsam anzupassen und etwa Aeneas und Latinus als von griechischen 182 5 Reden <?page no="183"?> 610 Es erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass in der Erzählung vom Konflikt der Römer mit den Sabinern keine direkte Rede von den Frauen gehalten wird, die mit ihrer Intervention die Beilegung des Konfliktes herbeiführen, s. ant. 2,45,1-46,3. Insbesondere von Hersilia, auf die die Schlichtung maßgeblich zurückgeht und die auch namentlich zweimal (ant. 2,45,2.6) als Urheberin des Friedens genannt wird, würde man an dieser Stelle eine direkte Rede erwarten. Doch der Text verzichtet darauf, dem Leser die Worte wiederzugeben, die letztlich den Friedensschluss bewirkt haben, und geht lediglich in gedrängter und indirekter Form darauf ein, s. ant. 2,45,6. 611 Meines Erachtens beruht Meinsʼ Annahme auf einer unzutreffenden Auslegung von Dion. Hal. Thuc. 44. Zudem ist die Aussage, in deren Zusammenhang er sich auf Thuc. 44 beruft, in sich widersprüchlich und ihr Bezug zu der Dionysios-Stelle nicht klar. In Thuc. 44-45 geht es nicht darum, dass der Historiker seine Figuren grundsätzlich keine Aussagen über sich selbst machen lassen solle, sondern darum, dass Dionysios zufolge die Aussagen des Perikles über sich selbst, die Thukydides ihm in den Mund legt, der Redesituation nicht angemessen gewesen seien. Werten geprägt zu charakterisieren, wozu ihre Reden den entscheidenden Beitrag leisten. Die indirekte Charakterisierung durch Reden bietet dem Historiker die Möglichkeit, seiner Darstellung den Eindruck erhöhter Glaubwürdigkeit zu verleihen. Im Falle der Tullia weiß der Leser zwar bereits von ihrem verdorbenen Charakter, bevor es zu ihrer geheimen Unterredung mit Tarquinius Superbus kommt, da der Erzähler ihn durch eine auktoriale Äußerung darüber in Kenntnis gesetzt hat. Doch im Anschluss an diese Informationen aus gewissermaßen zweiter Hand, nämlich der des Erzählers, wird dem Leser sodann durch das Medium der direkten Rede vor Augen geführt, dass die bereits erfolgte auktoriale Charakterisierung zutreffend ist - sie geht aus den Worten der Figur selbst hervor und erscheint dadurch von höherer Glaubwürdigkeit. Dieses Verfahren ist besonders dann angebracht, wenn dem Redner nur eine einzige Rede im Geschichtswerk zugedacht ist, denn in diesem Fall muss der Text aus dieser kurzen Sequenz das Möglichste machen, wenn er dem Leser ein überzeugendes Figurenporträt vor Augen führen soll. Für andere Figuren, die über einen län‐ geren Erzählzeitraum im Geschehen verbleiben, wie etwa Brutus oder Romulus, besteht diese Notwendigkeit nicht. Hier stehen mehr Zeit und mehr geeignete Situationen zur Verfügung, um ihren Charakter mit bestimmten Attributen zu versehen. Auffällig ist, dass Dionysios nicht nur die männlichen Akteure, sondern auch seine Frauenfiguren umfangreich zu Wort kommen lässt. 610 Die Aussage von Meins, Dionysios sehe die Rede nicht als geeigneten Ort an, um die inneren Vorgänge einer historischen Person darzulegen, ist insofern unzutreffend, als in den Königszeitbüchern diese Vorgehensweise wiederholt zum Einsatz kommt - das prägnanteste Beispiel ist die an Tarquinius Superbus gerichtete Verschwörungsrede der Tullia. 611 5.4 Ergebnisse 183 <?page no="184"?> Indem Reden die Motivationen und Überlegungen der historischen Akteure zum Ausdruck bringen, veranschaulichen sie Prozesse der Entscheidungsfin‐ dung auf der politischen Ebene. Das diskursive Reden stellt für Dionysios ein zentrales Mittel der römischen Politik dar, das Widersprüche aufzulösen und Konflikte zu beheben vermag und auf diese Weise die Stadt in krisenhaften Situationen ihrer Geschichte zu retten vermochte. Diese Fähigkeit der Römer stellt einen der Faktoren dar, die ihren politischen Aufstieg zur Weltmacht bedingt haben. 184 5 Reden <?page no="185"?> 612 Vgl. McClain (2020) 226f. 613 Vgl. Valette (2012) 1. 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, welche Funktion der Darstellung von Frauenfiguren in den Büchern der Königszeit der Antiquitates Romanae zukommt und durch welche narrativen Mittel diese Funktion gekenn‐ zeichnet ist. Im Gang der Untersuchung wird stärker als in den vorhergehenden Kapiteln der Vergleich mit Livius herangezogen werden, da in dessen Geschichtswerk die Frauen der römischen Frühzeit eine ähnlich prominente Rolle spielen 612 wie in den Antiquitates Romanae und seine Darstellung somit eine geeignete Folie bietet, vor der die spezifische Eigenart der Erzählweise des Dionysios deutlicher hervortritt. Beide Texte heben sich insofern von dem Gros der griechischen und römischen Historiographie ab, als sie der Darstellung von Frauenfiguren, die durch eigenständiges Handeln in den Gang der Geschichte eingreifen und deren Aktivität weitreichende Folgen im politischen Bereich zeitigt, breiten Raum widmen. 613 Insbesondere nach den Konventionen der griechischen Ge‐ schichtsschreibung, in deren Tradition sich die Antiquitates positionieren, ist das Auftreten weiblicher Akteure unüblich. Frauen in der (griechischen) Historie stellten für den griechischen Rezipienten etwas Ungewöhnliches und Fremdes dar. Umso erstaunlicher erscheint daher die Häufigkeit, mit der Dionysios in seiner Erzählung der römischen Königszeit Frauengestalten auftreten lässt und ihr Wesen und Handeln in Relation zum Verlauf der Geschichte setzt. Für den von ihm intendierten griechischen Adressatenkreis dürfte diese Präsenz der Frau einer Erklärung bedurft haben. Es stellt sich daher die Frage, welche Absicht Dionysios mit der starken Hervorhebung weiblichen Wirkens in seiner Geschichtsdarstellung verfolgt, mit anderen Worten: welche Funktion das histo‐ rische Agieren der Frau innerhalb des Textes einnimmt und welche Auswirkung dies auf das Geschichtsverständnis des Rezipienten haben soll. <?page no="186"?> 614 Zur Stellung der Frau in der griechisch-römischen Antike und damit verbundenen Fragestellungen seien an neueren Monographien und Sammelbänden exemplarisch genannt: für die griechische Welt Just (1991); Hoffmann (1992); Lefkowitz (1992); Schnurr-Redford (1996); King (1998); Dillon (2002); Cole (2004); Goff (2004); Gilhuly (2009); Scheer (2011); für den römischen Bereich Hallett (1984); Rawson (1992a) und (1992b); Clark (1994); Treggiari (1993); Gardner (1995); Setälä / Savunen (1999); Mutschler (2010); Richlin (2014); Caldwell (2015); Hemelrijk (1999); Raepsaet-Charlier (2016); Strong (2016); zur Frau in der griechisch-römischen Antike allgemein Po‐ meroy (1985); Hawley / Levick (1995); Fantham et al. (1994); Dettenhofer (1994a); Roll‐ inger / Ulf (2000); Späth / Wagner-Hasel (2000); McHardy / Marshall (2004); Berrino (2006); Hartmann / Hartmann / Pietzner (2007); McClure (2008); James / Dillon (2012); Fabre-Serris / Keith (2015). Als Überblick über die Forschungsgeschichte instruktiv ist Feichtinger (2002). 615 Entsprechend der Prominenz der Frauengestalten in ihren Werken haben besonders Livius und Herodot großes Forschungsinteresse erregt. Angeführt seien beispielsweise zu Livius die Beiträge von Smethurst (1950); Piper (1971); Martin (1985); Cailleux (2017). Aus der reichen Literatur zu Herodot sei verwiesen auf Blok (2002), die einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand bietet. Zu Frauengestalten im Werk des Tacitus s. Wallace (2016). 616 Kowalewski (2002). 617 Kowalewski (2002) 9. 6.1 Frauengestalten in der griechischen Historiographie vor Dionysios Die altertumswissenschaftliche Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten in hohem Maße mit Fragen nach dem Geschlechterverhältnis und insbesondere der Stellung der Frau in der griechisch-römischen Antike beschäftigt; die Literatur zu diesem Thema ist mittlerweile kaum noch überschaubar. 614 Mit dem zunehmenden Interesse der philologischen Forschung an den An‐ tiquitates Romanae ist in jüngerer Zeit daher auch die Darstellung der Frauen‐ figuren in diesem Werk thematisiert worden. Hierbei handelt es sich jedoch primär um die Konzentration auf einzelne Frauengestalten. Übergreifende Fragestellungen fehlen oder sind nur in verhaltenen Ansätzen vorhanden. Dies spiegelt freilich die Situation im Großen wider: Zwar sind zu den allermeisten griechischen und römischen Historikern Analysen darüber erschienen, wie sie ihre Frauenfiguren einsetzen, doch handelt es sich häufig um vereinzelte Beiträge über jeweils eine bestimmte Frauengestalt, z. B. „die Geschichte der Lucretia bei Livius“. Eine Monographie über „Frauen bei X“ bildet die Ausnahme. 615 Ein Glücksfall ist daher die großangelegte Studie von Barbara Ko‐ walewski, 616 welche es sich zur Aufgabe macht, die Frauengestalten im Werk des Livius systematisch zu erfassen und ihre Funktion unter erzähltechnischem und kompositorischem Aspekt herauszuarbeiten. 617 Eine derartige Untersuchung wäre auch über andere Historiker wünschenswert. 186 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="187"?> 618 Vgl. etwa Delcourt (2005), die zwar ein eigenes Kapitel zum Thema „Processus de dégradation de la royauté de Tarquin l’Ancien à Tarquin le Superbe“ (301-354) aufweist, jedoch die Rolle, die die Frauenfiguren in diesem Prozess spielen, weitgehend unerörtert lässt. 619 Noggler (2000). 620 Angabe bei Noggler (2000) 247. Vgl. ebd.: „Die Häufigkeit der Angaben über weibliche Wesen - Frauen, Nymphen, Göttinnen - nimmt in der Darstellung der zeitlich jüngeren Perioden (ab ca. 450-270 v. Ch. [sic]) ab. Grob eingeteilt finden sich namentlich genannte Frauen besonders häufig in der Geschichte der Zeit der Einwanderung in italisches Gebiet (1. Buch) als Bindeglied in einer Genealogie, in aitiologischer Funktion für die Lokalisation der Siedler oder als Beraterinnen (auf göttlicher und menschlicher Ebene). Dieser thematische Kontext verändert sich ab der Zeit der „Könige“ bis in die frühe Republik. Nun wird eine konkrete Geschichte herausragender Frauen erzählt. Diese greifen zum Teil auch aktiv in den historischen Ablauf ein (Ilia und Laurentia, Hersilia, Tarpeia, Tanaquil und Okrisia, Tullia, Lukrezia, Veturia und Volumnia in der Coriolan-Episode, Verginia). Hingegen finden sich in der Schilderung der Ereignisse ab ca. 450 fast nur mehr namenlose Frauen, die, mit ihren Kindern in einem Atemzug genannt, als Opfer oder als Objekt der Verteidigung in kriegerischen Auseinandersetzungen erscheinen.“ 621 Noggler (2000) 247. Zwar überwiegen auch in den Antiquitates Romanae die männlichen Akteure, wie es in einem antiken Geschichtswerk nicht anders zu erwarten ist. Dennoch sind Frauengestalten bei Dionysios durchaus nicht so marginal vertreten, wie es die Dionysios-Forschung hat scheinen lassen, indem sie das Thema lange Zeit nicht in den Blick genommen hat. 618 Wichtig und in ihrem Ansatz bislang nahezu alleinstehend ist der Beitrag von Lisa Noggler, der sich zwar in erster Linie mit der Figur der Tanaquil bei Dionysios auseinandersetzt, diese jedoch in allgemeinere Überlegungen zur Frauendarstellung in den Antiquitates einbettet und eine systematische Kategorisierung unternimmt. 619 So finden nach Nogglers Recherchen an rund 190 Stellen in den Antiquitates Frauengestalten Erwäh‐ nung. 620 Hierbei erfolgt die nähere Charakterisierung der jeweiligen Frauen durch a) Namen, b) Verwandtschaftsbeziehungen und c) etwaige religiöse bzw. kultische Funktionen in der Rolle der Göttin, Nymphe, Priesterin oder ähnlichem. 621 Insbesondere der Aspekt der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit spielt für den Historiker Dionysios eine bedeutende Rolle. Frauen werden über ihre Funktion innerhalb der Familienstruktur definiert und ihr Verhalten wird dementsprechend beurteilt. Die Prominenz der Frau in den Antiquitates Romanae ist verbunden mit der antiken Konvention, Gestalten und Ereignisse der Vergangenheit unter dem Kriterium des Exemplarischen zu beurteilen und daraus einerseits retrospektiv Erkenntnisse über den Gang der Geschichte abzuleiten sowie andererseits Ori‐ entierung für die Zukunft zu gewinnen. Diese Praxis stellt einen Modus der Ge‐ 6.1 Frauengestalten in der griechischen Historiographie vor Dionysios 187 <?page no="188"?> 622 Zum Thema jüngst Rood / Atack / Phillips (2020) 145-168, hier v. a. 145; die Komplexität des exempla-Begriffs in antiker Theorie und Praxis ist von den Verfassern umfassend herausgearbeitet. Vgl. auch Mehl (2014) 263-270. Vgl. ferner Müller-Funk (2004) zum Aufheben-Wollen des zeitlichen Abstands als Grundzug der Erinnerung insgesamt, insbesondere in vormodernen Kulturen. 623 Vgl. Walbank (1985a) 243; Rood / Atack / Phillips (2020) 145-168 mit zahlreichen Belegen aus der griechischen Literatur. Für Mehl (2014) 264 stellt der Umgang römi‐ scher Historiker mit moralischen exempla eine Eigenart dar, die der griechischen Geschichtsschreibung (mit Ausnahme von Xenophon, der sich damit nicht durchzu‐ setzen vermocht habe) fremd sei. 624 Vgl. aus der umfangreichen Literatur besonders Gallia (2012); Rood / Atack / Phillips (2020) 150 f.; Bücher (2006); Langlands (2018). Die ethische Situationsbezogenheit römischer exempla stellt Langlands (2011) heraus; vgl. dazu auch Mehl (2014) 265, der jedoch Langlands (2011) und (2018) nicht zu kennen scheint. 625 Mehl (2014) 264 f. definiert die Wirkungsweise eines historischen exemplum folgender‐ maßen: „Historical exempla were considered to be useful particularly in the public sphere, serving the public interest. It requires explanation, therefore, that such examples focus on the behavior of individual men and women and that they are written for individuals who are supposed to read and imitate them. The answer is that exemplary behavior that has proved communally beneficial, and all later actions of individuals emulating this example have the effect of integrating the individuals into their society and state: a Roman following the positive example of - of course - another Roman proves to be a true Roman, and his action can serve as an example for future generations to cope successfully with the same type of challenge.“ 626 Rood / Atack / Phillips (2020) 146: „Roman writers carried with them a mental reposi‐ tory of military and domestic figures (both male and female) who could be invoked as either positive or negative paradigms.“ 627 Rood / Atack / Phillips (2020) 146. 628 Vgl. Bücher (2006) zur Rolle der exempla in der römischen Rhetorik; dieser genügte oftmals die bloße Namensnennung zur Evozierung eines historischen exemplum, s. ebd. 159 f. sowie Rood / Atack / Phillips (2020) 146-148. schichtsreflexion dar, der die These einer Kluft zwischen dem Damals und dem Jetzt nicht gelten lässt, sondern im Gegensatz dazu geschichtliche Kontinuität postuliert und von der Annahme eines überzeitlich gültigen Wertesystems ausgeht. 622 Das Denken in exempla-Kategorien charakterisiert sowohl den grie‐ chischen als auch den römischen Umgang mit Geschichte, 623 doch spielten diese in der römischen Kultur eine besonders hervorragende Rolle. 624 Den Römern galt die Vergangenheit als Ansammlung ethischer Verhaltensmuster, die zur Definierung der kollektiven Identität herangezogen werden konnten. 625 Dies umfasste sowohl männliche als auch weibliche Geschichtsakteure. 626 Hierbei verband sich die exemplarische Funktion von Frauen oftmals mit der Einhal‐ tung bzw. der Abkehr von geschlechtsspezifischen Normen. 627 Dabei ist die sogenannte dramatische Geschichtsschreibung anders als die Rhetorik 628 auf die 188 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="189"?> 629 Begriffe wie „dramatische“ oder „dramatisierende“ bzw. „tragische“ Geschichtsschrei‐ bung gelten inzwischen als veraltet und werden mehr und mehr durch Bezeichnungen wie „moralisierend“ oder „ethisch“ ersetzt. Zum Thema ist jüngst Hau (2016) zu nennen. Zur Definition und zum Versuch der Herleitung aus peripatetischer Theorie s. Zegers (1959), dazu die entsprechende Kritik durch Walbank (1985a) 243f. 630 Blok (2002) 226. 631 Vgl. Harvey (1985). 632 Vgl. Lateiner (1989) 140. 633 Vgl. Harvey (1985); s. oben Anm. 618. Im Falle des Dionysios sind derartige Aussagen freilich unter Vorbehalt zu treffen, da die Antiquitates Romanae nicht zur Gänze überliefert sind. plastische Ausmalung der einzelnen Figur bzw. der Einzelszene angewiesen, um ihre Ziele zu erreichen. 629 Es versteht sich von selbst, dass ein Historiker wie beispielsweise Thukydides unter dem Aspekt der Präsenz der Frau weniger ergiebig ist. Dies hat nichts zu tun mit etwaigen chauvinistischen Tendenzen des Verfassers, sondern mit Thema und Zielpublikum des Werkes. Thukydides ist als Chronist des Pelopon‐ nesischen Krieges in erster Linie an der politischen Dimension und an den Handlungen der Kriegsakteure interessiert, an denen Frauen keine Teilhabe hatten. Wie Josine Blok es ausdrückt: „In writing the history of the Peloponne‐ sian War, Thucydides bestowed upon war the quality of being - or revealing - the essence of history, simultaneously presenting this view as the objective truth […]. As a consequence, he considered the more or less rational behaviour and decisions of those who were politically and strategically responsible to be the decisive factors in the historical process and hence the things really worth knowing. His approach inevitably produced a historiography in which women could not be expected to figure as historical agents.” 630 So finden sich bei Thukydides insgesamt nur etwa zwanzig Erwähnungen von Frauen, welche auch keine bestimmte Funktion besitzen wie im Geschichtswerk des Herodot, sondern nur eine untergeordnete Rolle spielen und zumeist als anonymes Kollektiv auftauchen, etwa als Kriegsgefangene. 631 Namentlich genannt werden in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges nicht mehr als sechs Frauenfiguren. 632 Bezeichnend ist fernerhin der Umstand, dass bei Thukydides - ebenso wie in den Antiquitates des Dionysios - Bedeutung und Häufigkeit von Frauengestalten mit fortschreitender Chronologie abnehmen, weibliche Figuren also primär in genealogisch-aitiologischen bzw. ktistischen Zusammenhängen von Interesse sind und weniger als Akteurinnen, die durch eigenverantwortliches Handeln den Geschichtsverlauf beeinflussen. 633 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Historien von Dionysiosʼ Landsmann Herodot, in denen den Frauen eine gewichtige Rolle 6.1 Frauengestalten in der griechischen Historiographie vor Dionysios 189 <?page no="190"?> 634 Vgl. Blok (2002) 225: „Women play a salient role in the historical world as Herodotus portrays it. They partake in all activities that form the body of the Histories: they rule kingdoms, produce or nurture royal children, take vital decisions, found oracles, serve in simple jobs, fall victim to war, take revenge, and participate in warfare. Women perform some of these activities on a smaller scale than men, notably in the fields of politics and military action; in others they outdo the men’s contribution, particularly when taking responsibility for religious observance and the preservation of social stability.” Die wichtige Funktion, welche den Frauengestalten im herodoteischen Geschichtswerk zukommt, hat als einer der ersten Erwin Wolff (1964) erkannt. Eine systematische Aufarbeitung bietet Dewald (1981). 635 Vgl. Dewald (1980) 12 mit 375 Belegen und Cartledge (1993) 128 mit 381. Vgl. zum Thema ferner Gould (1989) 129-132, der 130 f. auch auf den Aspekt des Atypischen verweist, der mit der großen Zahl an weiblichen Figuren in diesem griechischen Geschichtstext verbunden ist: „But though there may be no single formula which covers the role of women in Herodotus, what is most striking throughout is what I would call the visibility of women in the world as Herodotus presents it, and their often paramount role in determining what happens; this is in stark contrast to the way in which the public world of political action appears elsewhere in Greek literature.“ 636 Hdt. 1,8-12. 637 Hdt. 1,205-214. 638 Hdt. 1,184. 639 Hdt. 2,100. 640 Hdt. 8,69. zukommt. 634 Zwar gehen in der Forschung die genauen Angaben auseinander, doch kann man mit insgesamt knapp 400 Stellen rechnen, an denen Frauen Erwähnung finden. 635 Bemerkenswert ist hierbei nicht allein die eindrucksvolle Anzahl an Stellen, an denen von Frauen die Rede ist, sondern vielmehr folgender Befund: In seinen Historien lässt Herodot zahlreiche Frauen auftreten, die als eigenständige Akteurinnen durch ihr Handeln die Geschichte mitgestalten; sie dienen nicht lediglich als Beutegut und damit als Auslöser eines Krieges wie in den berühmten Eingangszeilen der Historien, ganz im Gegenteil: Man denke an die Erzählung von Kandaules und seiner Gattin, 636 an den Sieg der Massageten‐ fürstin Tomyris 637 oder an die zahlreichen sagenhaften Berichte über die Köni‐ ginnen des Vorderen Orients, die Herodot detailliert und eingängig zu gestalten weiß, etwa über die Klugheit der Semiramis, die mittels eines ausgeklügelten Dammbaus die Wasser des Euphrat bändigt, 638 oder über die Ägypterin Nitokris, die den Mord an ihrem Bruder durch eine eindrucksvolle List rächt. 639 Aber auch eine Landsfrau Herodots, Artemisia, nötigt als Herrscherin von Halikarnass durch ihre Tapferkeit im Krieg dem persischen Großkönig Xerxes Bewunderung und Respekt ab. 640 Doch es sind nicht nur Herrscherinnen bzw. Aristokratinnen im weiteren Sinne, die in den Historien auftauchen: Wie Carolyn Dewald gezeigt hat, handelt es sich bei Herdotos Frauenfiguren zum Teil auch um Angehörige niederer sozialer Schichten, beispielsweise um Prostituierte oder 190 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="191"?> 641 Dewald (1980) 12. 642 Dewald (1980) 12. Vgl. die Aufstellung ebd. 13: „About a third of the women mentioned in the Histories appear as individual actors trying to achieve some goal. Forty of these are family members, someone’s wife, mother, daughter, or sister; sixty-seven are professional women, all but seven of them priestesses; finally, fourteen are independent agents in the public sphere, who make decisions unconstrained by the opinions or power of male relatives.” Vgl. ferner Blok (2002) 232. 643 Dewald (1980) 15. 644 Vgl. Dewald (1980) 15: „Herodotus’ women do not act from hysteria or undertake actions that are unreasonable, i. e., actions that a man would not take […]. Both within the family and in a larger social context, Herodotus’ women act to preserve themselves and those in their care; they act in accordance with the nomoi of their societies; in distinction to men who act in the Histories, they generally succeed in their objectives.” Ammen. 641 Häufig genannt werden neben Herrscherinnen und Priesterinnen auch die „family women“, also Frauen, die in einer wie auch immer gearteten Verwandtschaftsbeziehung zu den männlichen Protagonisten stehen, sei es als Ehefrauen bzw. Witwen, als Töchter, Mütter, Schwestern etc. 642 Diese zeichnen sich in der Regel durch einen hohen Grad an Loyalität zu ihrer Familie, d. h. primär zu den Männern als Ehemännern, Vätern, Söhnen, Brüdern usw. aus. 643 Sucht man die herodoteischen Frauenfiguren in einen weiteren literaturge‐ schichtlichen Kontext einzuordnen, so scheint der Vergleich mit den Protago‐ nistinnen der attischen Tragödie am nächsten zu liegen, da diese zum einen als einzige Gattung eine vergleichbare Anzahl an bedeutenden Frauenfiguren aufweisen kann. Zum anderen scheinen die motivischen und strukturellen Gemeinsamkeiten der Tragödie und der Historien des Herodot eine Gegenüber‐ stellung geradezu aufzudrängen. Allerdings konnte Dewald bereits vor einigen Jahrzehnten aufzeigen, dass dieser Vergleich im Grunde auf schwachen Füßen steht, da sich die herodoteischen Frauengestalten in einem entscheidenden Punkt von den Heldinnen der attischen Tragödie unterscheiden: Während diese oftmals aus dem Affekt heraus handeln, zeichnen sich gerade die Frauen‐ gestalten bei Herodot durch eine bemerkenswerte Rationalität aus. Ihr Denken und Handeln beruht in der Regel auf wohldurchdachten Vernunfterwägungen und befindet sich zudem in Übereinstimmung mit den von der Gesellschaft sanktionierten Sitten und Gebräuchen und - dies im Unterschied zu vielen männlichen Protagonisten wie etwa Xerxes oder Dareios - sie sind in aller Regel erfolgreich bei dem, was sie tun. 644 Jedoch gilt es in diesem Zusammenhang den ethnographischen Kontext zu bedenken, in dem die Geschichtsdarstellung des Herodot und seine Schilderung aktiver Frauen situiert ist. Wie die obige Zusammenstellung erkennen lässt, sind Herodots einflussreiche Frauen primär durch ihre Zugehörigkeit zu nicht-grie‐ chischen Kulturen charakterisiert. Öffentlich-politisches Wirken von Frauen 6.1 Frauengestalten in der griechischen Historiographie vor Dionysios 191 <?page no="192"?> 645 Vgl. Kunst (2007) 259 zum antiken Rollenverständnis: „Geschlechterbinarität wird als unerläßliches Strukturelement der Gesellschaft aufgefaßt. Wesentliches Merkmal ist das Gegensatzpaar aktiv/ passiv. Zweigeschlechtlichkeit oder die Überschreitung dieser als männlich/ weiblich aufgefaßten Verhaltensnormen wird immer dann als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung angesehen oder herausgestellt, wenn die männliche Prärogative im öffentlichen Leben bedroht ist. Das kann mittelbar wie im Fall äußerer Bedrohung, politischer Krise der Fall sein, aber auch unmittelbar [sic] wenn das Verhalten einer individuellen Frau den ihr zugeschriebenen Aktionsraum im Kontext von Haus und Familie durchbricht oder zu durchbrechen scheint. Gleichzeitig macht die obsessive Wahrnehmung dieser Phänomene deutlich, als wie zerbrechlich diese Ordnung empfunden wurde, die keineswegs als gegeben wahrgenommen wurde, sondern beständiger Bestätigung bedurfte.“ kann damit als spezifische Eigenart fremder Ethnien eingeordnet werden, deren Lebensweise sich von derjenigen der Griechen unterscheidet. Darstellungen von Frauenfiguren in der griechischen Geschichtsschreibung lassen sich grob einteilen in die beiden Kategorien „aktiv“ und „passiv“ 645 , mit anderen Worten: in Frauenfiguren, die aus eigener Initiative heraus handeln und deren Aktionen eine Veränderung der Ausgangssituation zur Folge haben (können), sowie in Frauenfiguren, die als „Opfer“ im weiteren Sinne gezeichnet werden, als Opfer abstrakter Mächte ebenso wie als Opfer von Individuen, so etwa als Leidtragende eines Krieges, als Opfer von Vertreibung, Verskla‐ vung, Vergewaltigung und Ähnlichem, oder aber auch als Opfer männlicher Interessen, zumeist als politisches Gut bei Verheiratungen. Freilich sind die Grenzen zwischen diesen Gruppen fließend. So unterwirft sich beispielsweise die (übrigens durchgehend namenlose) Gattin des lydischen Königs Kandaules bei Herodot gerade nicht den Interessen der Männer in ihrer Umgebung, indem sie zum einen Rache nimmt für die Entehrung, die ihr eigener Ehemann ihr zugefügt hat, und zum anderen die törichte Handlung ihres Mannes als Anlass nimmt, ihre eigenen Pläne zu verwirklichen. Aus diesem Grund eignet sie sich als Beispiel für eine eigenständige Frau. Jedoch zeigt Herodot sie in der Ausgangssituation aus genau der gegenteiligen Perspektive: Für ihren Mann ist sie zunächst nicht mehr als ein Objekt, mit dem er sich vor seinem Vertrauten Gyges brüsten möchte. Erst im Laufe der Erzählung entdeckt der Leser, dass es sich hier um eine Frau handelt, die gerade nicht der Instrumentalisierung durch männliche Macht dienen will und sich mit Entschlossenheit und planvollem Handeln dagegen zur Wehr setzt, um ihre persönliche Ehre zu bewahren. Vor dem Hintergrund dieser Traditionen sollen nun im Folgenden mehrere prominente Frauenfiguren der römischen Königszeit in der Darstellung durch Dionysios in den Blick genommen werden. 192 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="193"?> 646 S. Kapitel 5.3.2.2.3. 647 Zu Horatia bei Livius s. Kowalewski (2002) 42-50 und Albrecht (2016) 207 f., der vor allem die Rolle des Vaters herausarbeitet. 648 Ant. 3,21,2-4. Vgl. Schultze (2019) 164, die in Horatias Webarbeit sowie dem Mänaden-Vergleich eine intertextuelle Parallele zu Andromache in Hom. Il. 22,460 sieht. Darüber hinaus stellt das Weben des Hochzeitsgewandes für Schultze einen Verweis auf das Ideal der mit Wollarbeit beschäftigten matrona in später Republik und augusteischer Zeit dar. Die Anagnorisis mittels des Gewandes interpretiert Schultze folgendermaßen, s. ebd. 164f.: „The mention of decorated attire for Latin bridegrooms fulfils two ends: it ostensibly provides information for Dionysiusʼ contemporaries, familiar with the plain or praetextate togas that constituted Roman formal dress; and it also marks a shared practice of betrothal gift-giving which plays to Dionysiusʼ constant theme that the Romans are, by descent and culture, truly Greek.“ S. auch ebd. 165 Anm. 18. 649 Der Erzähler bezeichnet ant. 3,21,3 Horatias Weglaufen aus dem geschützten häuslichen Raum als unüblich: ἡ δὲ ἄρα οὐ τοὺς ἀδελφοὺς ποθοῦσα τὰς ἀσυνήθεις ἐτόλμησεν ἐξελθεῖν ὁδούς […]. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass mit diesem Ausdruck eine erlebte Rede des Bruders gemeint sein könnte; der Erzähler kommentiert hier das Verhalten der jungen Frau aus seiner Perspektive. 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 6.2.1 Horatia Eine Frauenfigur, die die Antiquitates besonders hervorheben, ist im dritten Buch die Schwester der drei Horatii, auf die bereits an anderer Stelle eingegangen wurde. 646 Spielt sie bei Livius nur eine untergeordnete Rolle, 647 so widmet Dionysios ihr breiten Raum und lässt sie sogar eine Rede halten, wodurch sie als eigenständige Person und aktiv Handelnde auftritt. Hier lässt sich an der Art und Weise der Figurenpräsentation ein wichtiges Darstellungsziel des Textes erkennen: Es handelt sich um die Vermittlung zwischen griechischer und römischer Kultur. Horatia wird zunächst als typisch weiblich beschrieben: Normalerweise hält sie sich offenkundig zu Hause in der Obhut von Mutter und Amme auf, wie es sich nach griechisch-römischer Vorstellung für ein junges Mädchen im Heiratsalter gehört, und widmet sich häuslichen Tätigkeiten wie dem Herstellen eines Hochzeitsgewands für ihren zukünftigen Ehemann. 648 Soweit entspricht sie dem von ihr erwarteten Verhaltenskodex, der in den Überlegungen ihres Bruders zum Ausdruck kommt. 649 Diesen Kodex verletzt sie allerdings dadurch, dass sie sich aus dem häuslichen Rahmen hinausbegibt und durch die Straßen der Stadt läuft, noch dazu alleine, und sich unter die versammelten Menschen mischt. Explizit wird die Unbesonnenheit dieses Verhaltens genannt: Horatia 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 193 <?page no="194"?> 650 Ant. 3,21,3: ὥσπερ αἱ μαινάδες. Dies stellt eine Strategie der kulturellen Assimilierung mit Blick auf den griechischen Leser dar, denn das Agieren der Horatia wird ihm mit einem Vergleich aus seiner eigenen Kultur anschaulich gemacht. 651 Ant. 3,21,2. 652 Ant. 3,21,5. läuft davon „wie die Mänaden“; 650 sie ist also von ihrem Affekt, der Angst um den geliebten Mann, getrieben und lässt sich dadurch zu transgressivem Handeln verleiten. Hätte dieser Affekt der eigenen Familie gegolten, dies wird deutlich, so wäre er nach antikem Verständnis entschuldbar gewesen. 651 Doch man erwartet von ihr, die Gefühle für ihren Verlobten und die Trauer um ihn hinter den Staatsinteressen zurückzustellen. Dies zu leisten ist sie nicht imstande - eine zutiefst menschliche Reaktion, möchte man denken, doch sie steht im Widerspruch zu dem Wertesystem, das die römischen Männer, hier Bruder und Vater, vertreten. Als sie nach dem Kampf ihrer Brüder gegen die Curiatii auf den Horatier trifft, der mit den Rüstungen der Getöteten im Triumph nach Rom zurückkehrt, und unter den Rüstungen das Gewand erkennt, das sie ihrem Verlobten als Hochzeitsgabe geschenkt hat, verleiht sie ihrer Trauer mit folgenden Worten Ausdruck: ἀνακλαυσαμένη δὲ τὸν μόρον τοῦ μνηστῆρος ἀτενέσι τοῖς ὀφθαλμοῖς εἰς τὸν ἀδελφὸν ὁρᾷ καὶ λέγει· μιαρώτατε ἄνθρωπε, χαίρεις ἀποκτείνας τοὺς ἀνεψιοὺς κἀμὲ τὴν παναθλίαν ἀδελφὴν ἀποστερήσας γάμου, ὦ δύστηνες ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ἔλεος εἰσέρχεταί σε τῶν ἀπολωλότων συγγενῶν, οὓς ἀδελφοὺς ἐκάλεις, ἀλλ᾽ ὥσπερ ἀγαθόν τι διαπεπραγμένος ἐξέστηκας τῶν φρενῶν ὑπὸ τῆς ἡδονῆς καὶ στεφάνους ἐπὶ τοῖς τοιούτοις ἐπίκεισαι κακοῖς τίνος ἔχων ψυχὴν θηρίου; 652 Als sie das Schicksal ihres Verlobten beklagt hat, blickt sie mit starren Augen auf ihren Bruder und sagt: „Du Abstoßendster unter den Menschen, du freust dich darüber, deine Vettern erschlagen und mich, deine tiefunglückliche Schwester, ihrer Hochzeit beraubt zu haben, du Scheusal! Überkommt dich stattdessen gar kein Mitleid mit den getöteten Verwandten, die du Brüder nanntest, sondern bist du von Sinnen vor Freude, als hättest du etwas Gutes vollbracht, und trägst Kränze aufgrund eines solchen Übels? Von was für einem wilden Tier hast du deine Seele? “ Horatia ist nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihren Worten transgressiv, da sie den Bruder heftig angeht und mit Schmähungen überzieht. Auffallend ist, dass sie den Mänaden-Vergleich, den der Erzähler kurz zuvor auf sie angewendet hat, sinngemäß aufgreift und auf den Bruder ummünzt (ἐξέστηκας τῶν φρενῶν). Der Vergleichspunkt mit den Mänaden ist deren 194 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="195"?> 653 Ich stimme nicht mit Wiater (2014) 290 Anm. 313 überein, der aus dem Mänaden-Ver‐ gleich eine eindeutig ablehnende Haltung des Autors ableitet: „Ein sehr bezeichnender Vergleich, den Dionysius hier vornimmt, um dem Leser die Schwere des Kontrollver‐ lustes der Schwester in negativ-wertender Weise zu verdeutlichen.“ Auch dem Bruder wird ant. 3,21,7 von Seiten des Erzählers explizit Kontrollverlust vorgeworfen: ταῦτ᾽ εἰπὼν οὐκ ἐφύλαξεν ἐν τῷ μισοπονήρῳ τὸ μέτριον. Zum Mänaden-Vergleich vgl. auch Schultze (2019) 164. 654 Ant. 3,21,7: οὕτω δὲ ἄρα μισοπόνηρα καὶ αὐθάδη τὰ τῶν τότε Ῥωμαίων ἤθη καὶ φρονήματα ἦν καί, εἴ τις αὐτὰ βούλοιτο παρὰ τὰ νῦν ἔργα καὶ τοὺς ἐφ᾽ ἡμῶν ἐξετάζειν βίους, ὠμὰ καὶ σκληρὰ καὶ τῆς θηριώδους οὐ πολὺ ἀπέχοντα φύσεως […]. Die Umkehrung des Vergleichs durch den Erzähler hebt auch Schultze (2019) 166 f. hervor. Für die Verwendung von θηρίον und verwandten Begriffen in den Antiquitates s. ebd. 167 Anm. 17. 655 Vgl. das Motiv der εὐσέβεια, das der Vater ant. 3,17,3 auf die Bereitschaft seiner Söhne zum Stellvertreterkampf anwendet, und seinen Bezug zum Konzept der patria potestas; s. dazu Sautel (1999) ad loc. mit Verweis auf ant. 2,46. Die Assoziation der Horatia mit Antigone drängt sich auf, weigert sich doch auch diese, sich einem von einem Menschen - ihrem Onkel - erlassenen Gebot verpflichtet zu fühlen, das die höhere Pflicht gegenüber Familie und Göttern zu missachten verlangt. Auch das Verbot des Vaters, Horatias Leichnam zu bestatten, erinnert an den Antigone-Mythos. 656 Dies wird auch von Schultze (2019) 163 hervorgehoben. 657 Vgl. Schultze (2019) 167: „Dionysius is ostensibly ascribing Horatius senior’s action to the primitive state of society of the age of Rome’s third king, but also (in view of the father’s despotic ban on burying his daughter properly) suggesting that to take paternal power to this extreme has something tyrannical about it […].“ Vgl. ebd. 175. Vgl. dazu die Ankündigung des Dionysios ant. 1,8,2, die Lebensweise und die Bräuche der Römer der Frühzeit zu beschreiben. ekstatischer Zustand, ihr Außer-sich-Sein, das sie die üblichen Normen mensch‐ licher Zivilisation vergessen lässt. Genau dies wirft Horatia ihrem Bruder vor, indem sie ihn der fehlenden Humanität zeiht. Die durch den Mänaden-Vergleich implizierte Kritik an Horatias Transgression wird somit relativiert, denn es ist nicht mehr eindeutig, wer von den beiden Geschwistern sich nun eigentlich zivilisiertem Verhalten entfremdet hat. 653 Zudem greift wenig später wiederum der Erzähler den von Horatia gebrauchten Vergleich des θηρίον auf und wendet ihn auf den Vater der beiden an. 654 Implizit trifft dieser Vorwurf auch den Sohn, der in seinem Denken mit jenem übereinstimmt. 655 Die Figur der Horatia - sie ist übrigens bei Dionysios gänzlich namenlos 656 und somit primär durch ihre Stellung zu den männlichen Figuren Vater, Bruder und Verlobtem definiert - ist keine Figur, die durch ihr Handeln den Gang der römischen Geschichte folgenschwer verändert. Ihr kommt im Text vor allem die Funktion zu, das Wertesystem des altrömischen Patriarchats kontrastierend zu beleuchten; 657 sie ist ein Opfer dieses Wertesystems, das sie nicht teilen kann. Die patria potestas, die über Leben und Tod der Angehörigen entscheiden 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 195 <?page no="196"?> 658 S. ant. 3,21,7-10. 659 Neben Dionysios und Livius fungieren als Quellen der Tanaquil-Sage: Cic. rep. 2,34; Ov. fast. 6,626-636. Für weitere Quellenangaben s. Martin (1985) 5 Anm. 1. Zu Tanaquil allgemein s. Meyers (2016). darf, wird hier durch ihren Bruder verkörpert. Der Affekt der Frau wird zwar als irrational charakterisiert und ihr Verhalten nicht gutgeheißen, doch die einfühlsame und detaillierte Darstellung der Figur lassen annehmen, dass die Sympathie des Erzählers dennoch bei ihr liegt. Zudem wird ihrem Gefühl die Härte und emotionale Kälte der Staatsraison und der pietas gegenüber Heimat und Familie gegenübergestellt, welche eine ausdrückliche Kritik erfährt 658 und als der griechischen Kultur entgegengesetzt definiert wird. 6.2.2 Drei Frauen - drei Stationen In dem nun folgenden Abschnitt stehen drei Frauen im Mittelpunkt: Tanaquil, Tullia und Lucretia. Diese Auswahl erfolgte aus mehreren Gründen: Erstens bildet die Königszeit den Schwerpunkt der gesamten Studie, zweitens ragen alle drei bei Dionysios und Livius gleichermaßen durch die Ausführlichkeit ihrer Darstellung heraus und drittens lassen sich an ihnen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Funktionalisierung von Frauenfiguren bei beiden Historikern besonders gut herausarbeiten. Einem kurzen Abriss der Charakterisierung der jeweiligen Frau durch die römische Tradition folgt der Blick auf ihre Darstellung bei den beiden Autoren und der Vergleich dieser Darstellungen miteinander. Die Untersuchung des Livius ist dabei weniger umfassend gehalten als die des Dionysios, da Livius als Folie dienen soll, um die Besonderheiten der Frauengestaltung in den Antiquitates Romanae aufzuzeigen. 6.2.2.1 Tanaquil Die etruskische Ehefrau des fünften römischen Königs L. Tarquinius Priscus gilt in der Tradition als Paradigma der ehrgeizigen und machtbewussten Frau, die ihrem Ehemann als kluge Ratgeberin den Weg zum Thron ebnet und nach seinem Tod auch ihrem Schwiegersohn Servius Tullius mit umsichtigem und taktisch geschicktem Vorgehen zur Königswürde verhilft. 659 Aus einer der vornehmsten Familien in der etruskischen Stadt Tarquinii stammend und seit ihrer Kindheit an eine hohe gesellschaftliche Stellung gewöhnt, leidet sie unter dem sozialen Abstieg, den ihre Verheiratung mit dem Sohn eines Einwanderers nach sich gezogen hat, und kann ihren ebenfalls ehrgeizigen Mann schließlich zur Auswanderung nach Rom bewegen, wo sie sich bessere Aufstiegsmöglich‐ 196 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="197"?> 660 Vgl. zum Begriff Kowalewski (2002) 58. Auch Tullia, die Ehefrau des letzten römischen Königs Tarquinius Superbus, lässt sich in diese Kategorie einordnen, vgl. ebd. 58: „In Tanaquil und Tullia, jenen beiden berühmt-berüchtigten Etruskerinnen der römischen Königszeit, gestaltet Livius den Typus der ehrgeizigen Frau, die politische Entwick‐ lungen bewusst in ihrem Sinne zu beeinflussen suchte und ihrem Ehemann durch unermüdliches Engagement und diplomatisches Geschick zur Königswürde verhalf.“ Zu Tanaquil und Tullia bei Livius insgesamt vgl. Kowalewski (2002) 58-90. 661 So Hall (1985). 662 So Amann (2006). 663 S. dazu Cailleux (2017), die das Motiv im Geschichtswerk des Livius untersucht hat. 664 Vgl. ant. 2,60,5-61,1. 665 Vgl. die Interpretation bei Herrmann (1964) 23, der zufolge Egeria „l’esprit conseiller mais discret et nocturne“ der Frauen verkörpert. keiten erhofft. Durch die sichere Deutung mehrerer von den Göttern gesandter Vorzeichen und durch ihren souveränen Umgang mit den Instrumenten der Macht spielt sie eine wichtige Rolle bei der Wahl ihres Gatten und, nach dessen Tod, ihres Schwiegersohnes zum römischen König, so dass sie in der Forschung gerne mit der Bezeichnung „Königsmacherin“ versehen wird. 660 Umstritten ist die Frage, ob Tanaquils Charakter eine möglicherweise faktisch gegebene liberalere und aktivere Stellung der Frau bei den Etruskern widerspiegelt 661 oder als Kunstprodukt der Historiographen eine reine Projektion römischer Vorstellungen ist. 662 Das Motiv „Beraterin eines Königs“ spielt in der griechisch-römischen Ge‐ schichtsschreibung eine nicht unbedeutende Rolle. 663 In diesem Zusammenhang ist auf die römische Überlieferung hinzuweisen, der zufolge Numa Pompilius des Nachts geheime Ratschläge und Weisheiten von der Nymphe Egeria empfangen habe, die dem Wohle des Staates dienten. 664 Diese Ratgeberin eines Mannes ist in der antiken Literatur keineswegs negativ konnotiert. Man hat mit Recht den Aspekt des Geheimen, des Nicht-Öffentlichen ihrer Rolle betont, der mit dem in Griechenland und Rom vorherrschenden gesellschaftlichen Ideal zurückhaltenden weiblichen Verhaltens kompatibel ist, 665 was freilich auf das Wirken einer Tanaquil nur bedingt zutrifft. 6.2.2.1.1 Tanaquil in den Antiquitates Romanae 6.2.2.1.1.1 Inthronisation des L. Tarquinius Priscus Die Figur der Tanaquil begegnet dem Leser der Antiquitates Romanae erstmals im dritten Buch. Zunächst wird sie nur vage genannt in der Rekapitulation des Lebens des L. Tarquinius Priscus vor dessen Wahl zum römischen König, bevor sie in der Szene des Adlerprodigiums als aktiv handelnde und namentlich genannte Person in Erscheinung tritt. 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 197 <?page no="198"?> 666 Ant. 3,46,4. 667 Ant. 3,46,5. Über Lucumo und seinen Bruder: αὐτοῖς γυναῖκας ἐκ τῶν ἐπιφανεστάτων οἴκων λαμβάνει. 668 Ant. 3,47,1-2. 669 Ant. 3,47,2. 670 Ant. 3,47,3-4. 671 Zur Filzmütze als Symbol der künftigen Königswürde s. Kowalewski (2002) 62 Anm. 22. Ihre Herkunft wird dem Leser nicht weiter erläutert; ihm soll es genügen, dass sie aus einer der bedeutendsten Familien der etruskischen Stadt Tarquinii stammt, und tatsächlich benötigt man auch keine weiteren Angaben, da ihre Herkunft und Familie im weiteren Verlauf der Erzählung keine Rolle spielen. Dionysios gibt eine ausführliche Darlegung der Vorgeschichte des römischen Königs L. Tarquinius, der nach dem Tod des Ancus Marcius die Herrschaft über‐ nimmt. Demnach ist jener ursprünglich griechisch-etruskischer Abstammung, genauer: der Sohn eines korinthischen Einwanderers und einer Etruskerin, und trägt den etruskischen Namen Lucumo. 666 Er hat von seinem Vater, einem Kaufmann, ein immenses Vermögen übernommen und wurde mit einer vor‐ nehmen Etruskerin verheiratet, die an dieser Stelle noch nicht näher bezeichnet wird. 667 Dennoch gilt der Sohn eines Emigranten in Tarquinii als Fremder und leidet unter der niedrigen sozialen Stellung und der damit verbundenen Nichtachtung. 668 Er beschließt daher, mit Familie und Hab und Gut nach Rom auszuwandern und dort sein Glück zu versuchen, denn die noch junge Stadt bietet Fremden ausgezeichnete Aufstiegsmöglichkeiten, da sich ihre sozialen Strukturen noch nicht gefestigt haben: […] τά τε χρήματα πάντα συσκευασάμενος καὶ τὴν γυναῖκα ἐπαγόμενος καὶ τῶν ἄλλων φίλων καὶ οἰκείων τοὺς βουλομένους· 669 Er packte all seinen Besitz zusammen und nahm seine Frau und alle anderen Freunde und Familienmitglieder mit, die wollten. Unweit von Rom auf dem Ianiculum, wo sich dem Reisenden, der aus Etrurien kommt, erstmals das Panorama der Stadt eröffnet, ereignet sich eine wunder‐ same Begebenheit: 670 Ein Adler stürzt sich aus den Lüften auf Lucumo herab, verletzt ihn aber nicht, sondern hebt ihm seine Filzmütze vom Kopf und fliegt damit davon; bald darauf kehrt er zurück, setzt ihm die Mütze wieder korrekt auf und verschwindet endgültig. 671 Hier nun tritt seine Gattin Tanaquil erstmals unter ihrem Namen (in der gräzisierten Form Τανακύλλα) und zugleich erstmals als handelnde Person auf. Während die übrigen Reisenden in ratloser Verwunderung verharren, nimmt sie ihren Ehemann beiseite und weiß das 198 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="199"?> 672 Ant. 3,47,4. Die Frage, ob den etruskischen Frauen tatsächlich die Fertigkeit der Vogelschau zu eigen war, ist umstritten; vgl. etwa Cailleux (2017) 490 Anm. 14 und Kowalewski (2002) 62 Anm. 24 sowie Meyers (2016) 308. 673 Das Motiv der „Beratungsszene” gehört zum Typus der Frau als Ratgeberin eines Königs, wie Cailleux (2017) 488 („scènes de conseil“) konstatiert. Dionysios integriert es auch in seine Darstellung der Tullia, der Frau des letzten römischen Königs. S. Kapitel 5.3.2.1.2. 674 Ant. 3,48,3-49,1. 675 Vgl. Martin (1985) 7f.: „Ayant réussi dans son entreprise, Tanaquil s’efface, laissant son époux occuper désormais le devant de la scène historique.” Inwieweit bei Dionysios in Bezug auf Tanaquil von „entreprise” gesprochen werden kann, wird im Folgenden erörtert werden. 676 Ant. 3,73,1-4. 677 Lucius und Arruns Tarquinius; Lucius ist der spätere siebte und letzte König von Rom, L. Tarquinius Superbus. Vorzeichen als Hinweis auf künftige Königswürde zu deuten. Wie der Erzähler eigens anfügt, ist sie als Etruskerin ganz selbstverständlich mit der Praxis der Vogelschau vertraut; 672 sie deutet das Zeichen denn auch mit großer Sicherheit, nicht ohne ihrem Gatten zu raten, wie er sich nach ihrer Ankunft in Rom verhalten solle, um dort Ansehen und Einfluss zu gewinnen, damit die Römer ihm die Herrschaft aus freien Stücken aufgrund seiner Verdienste verleihen würden. 673 Nach dieser kurzen Episode schwenkt der Blick des Erzählers wieder zurück auf die Person des Tarquinius und die Geschichte seines allmählichen Aufstiegs in der Stadt Rom. 674 Er erlangt durch sein gewinnendes und integres Verhalten (und durch seinen Reichtum) bereits zu Lebzeiten des Ancus Marcius eine Vorrangstellung in der Bevölkerung und beim König selbst. Tanaquil spielt während dieser Entwicklung augenscheinlich keinerlei Rolle; sie wird nach dem Adlerprodigium nicht mehr erwähnt und die Darstellung konzentriert sich allein auf ihren Ehemann, der schließlich nach dem Tode des Marcius zum römischen König gewählt wird. 675 Sie selbst betritt die Bühne erst wieder zu Beginn des vierten Buches, das die Herrschaft ihres Schwiegersohnes Servius Tullius und danach des L. Tarquinius Superbus zum Inhalt hat. 6.2.2.1.1.2 Inthronisation des Servius Tullius Im Jahre 576 v. Chr., so erzählt es Dionysios, stirbt Tarquinius nach langer Regentschaft eines gewaltsamen Todes: Er fällt einem Anschlag durch die Söhne des Ancus Marcius zum Opfer, die sich seit seiner Wahl zum römischen König um die Herrschaft betrogen fühlen. 676 Bei seinem Tod hinterlässt der alte König zwei unmündige Enkelkinder 677 und zwei verheiratete Töchter, aber keinen Sohn, die Nachfolgefrage ist also offen und zudem die Zukunft der Familie 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 199 <?page no="200"?> 678 Ant. 4,1,1. 679 Ant. 4,1,2-2,4. 680 Ant. 4,1,2. 681 Vgl. dazu Delcourt (2005) 324. 682 Zu Dionysiosʼ Umgang mit der Überlieferung, der zufolge Servius Tullius als Sklave geboren wurde, s. Delcourt (2005) 323-326. 683 Ant. 4,2,1. 684 Ant. 4,2,2. gefährdet. 678 Nach der Exposition dieser widrigen Umstände ist ein Exkurs über Abstammung und Herkunft des Servius Tullius eingeschaltet, 679 in dem auch Tanaquil wieder in Erscheinung tritt, und zwar abermals in der Rolle der klugen Zeichendeuterin, als die der Leser sie im dritten Buch bereits kennen gelernt hat: Bei der Einnahme der Latinerstadt Corniculum schenkte Tarquinius vor Jahren seiner Gemahlin die Kriegsgefangene Ocrisia als Sklavin, deren im Kampf gegen Rom gefallener Mann zur Herrscherfamilie von Corniculum gehört hatte. 680 Tanaquil, die dem Schicksal der Ocrisia mit Interesse und Anteilnahme begegnet, erkennt das Unwürdige an deren Stellung als Sklavin und schenkt ihr die Freiheit, da sie zudem von ihrer Klugheit beeindruckt ist. 681 In der Gefangenschaft bringt Ocrisia einen Sohn zur Welt, den nachmaligen Servius Tullius; 682 mit dessen Geburt und Kindheit werden zwei Berichte über wundersame Vorzeichen verbunden, die Dionysios an dieser Stelle einfügt. Zum einen werde überliefert, Servius Tullius sei in Wahrheit göttlicher Abstammung gewesen, da seiner Mutter einst, als sie im Königspalast diente und im Begriff war, die gebräuchlichen Opferkuchen auf dem heiligen Herd darzubringen, ein männliches Geschlechtsteil erschienen sei, das sich über dem Herdfeuer gezeigt habe. 683 Abermals, wie schon in der Erzählung vom Adlerprodigium, versetzt das sonderbare Zeichen alle anderen in Erstaunen und Ratlosigkeit, allein Tanaquil reagiert rational und besonnen und deutet souverän das Zeichen: τὸν μὲν οὖν Ταρκύνιον ἀκούσαντά τε καὶ μετὰ ταῦτ᾽ ἰδόντα τὸ τέρας ἐν θαύματι γενέσθαι, τὴν δὲ Τανακυλίδα τά τ᾽ ἄλλα σοφὴν οὖσαν καὶ δὴ καὶ τὰ μαντικὰ οὐδενὸς χεῖρον Τυρρηνῶν ἐπισταμένην εἰπεῖν πρὸς αὐτόν, ὅτι γένος ἀπὸ τῆς ἑστίας τῆς βασιλείου πέπρωται γενέσθαι κρεῖττον ἢ κατὰ τὴν ἀνθρωπείαν φύσιν ἐκ τῆς μιχθείσης τῷ φάσματι γυναικός. 684 Tarquinius sei von dem Gehörten und danach vom Anblick des Wunders in Staunen versetzt worden, Tanaquil jedoch, die auch sonst klug gewesen sei und sich unter den Tyrrhenern am besten auf die Zeichendeutung verstanden habe, habe zu ihm gesagt, es sei vorherbestimmt, dass aus dem königlichen Herdfeuer ein Geschlecht entstehe, 200 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="201"?> 685 Ant. 4,2,2. 686 Ant. 4,2,3. Dionysios überlässt es dem Leser, selbst über die Glaubwürdigkeit dieser Begebenheit zu entscheiden. Vgl. dazu treffend Wiater (2018) 38 Anm. 9: „[…] scheint mir Dionysios den Leser einzuladen, die Idee einer göttlichen Abstammung vielleicht nicht in allen Einzelheiten zu glauben, aber doch auch nicht völlig zu verwerfen, sondern als eine Möglichkeit weiterhin in Betracht zu ziehen. Dass die Abstammung großer Männer zwischen menschlichen und göttlichen Vätern oszillierte, war dem Leser ja auch sonst aus der antiken Mythologie vertraut, man denke z. B. an Amphitryon und Herakles und Mars und Romulus und Remus.“ 687 Ant. 4,2,4. 688 Vgl. dazu Delcourt (2005) 324f. 689 Ant. 4,3,1-4. welches stärker sein werde als menschliche Natur und aus der Vereinigung der Frau mit der Erscheinung hervorgehe. An dieser Stelle wird ausdrücklich auf Tanaquils Klugheit und ihre hervorra‐ gende Qualität als Zeichendeuterin hingewiesen. Sie erklärt ihrem Gatten in einer neuerlichen „Beratungsszene“ die Bedeutung der Erscheinung. Daher wird auf Beschluss des Königs Ocrisia, die das Zeichen als Erste gesehen hat, als Braut in dem Raum eingeschlossen, in dem ihr die Erscheinung begegnet ist. 685 Neun Monate später bringt sie den Knaben Servius Tullius zur Welt. 686 Dionysios führt noch eine zweite Begebenheit aus dessen Kindheit an, die die göttliche Bestimmung veranschaulicht und in der Tanaquil erneut im Zusammenhang mit einem von den Göttern gesandten Zeichen auftritt, allerdings diesmal ohne ihre Funktion als Zeichendeuterin auszuüben: 687 Als der Junge einmal um die Mittagszeit im Säulengang des Königspalastes eingeschlafen ist, erscheint auf seinem Haupt eine leuchtende Flamme. Zugegen sind seine Mutter und Tanaquil, die sich zufällig gerade im Säulengang aufhalten, sowie weitere nicht näher spezifizierte Anwesende. Die verängstigte Ocrisia eilt zu ihrem Sohn und rüttelt ihn wach; in diesem Moment verschwindet die Flamme. Wie Tanaquil sich in Bezug auf die Erscheinung verhält, erzählt Dionysios nicht. Er verlässt ihre Person denn auch sogleich, um den Blick des Lesers ganz auf Servius Tullius zu lenken: Es schließt sich ein Bericht über dessen Taten und Verdienste in Krieg und Innenpolitik an, der mit Nachdruck seine Befähigung zum Regenten herausstreicht. 688 Aufgrund seines vorbildlichen Charakters gibt ihm der alternde König Tarquinius eine seiner Töchter zur Frau und überträgt ihm einen Teil der Regierungsgeschäfte, die er nicht mehr selbst bewältigen kann. Die Bevölkerung leistet keinen Widerstand, da auch sie dem Servius Tullius wegen seiner herausragenden Leistungen und Wohltaten gewogen ist, und akzeptiert ihn ohne Schwierigkeiten als Stellvertreter des Königs. 689 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 201 <?page no="202"?> 690 Ant. 4,4,1-4,5,3. S. Kapitel 4.5.1.2. und 5.3.2.1.1. 691 Ant. 4,4,1. 692 S. Kapitel 4.5.1.2. Die Anwesenheit der Ocrisia bei der vertraulichen Unterredung verdeutlicht die Wertschätzung, die die ehemalige Sklavin im römischen Königshaus genießt. Dies charakterisiert sowohl sie selbst als auch Tanaquil, die ihr stets Achtung und Respekt entgegengebracht hat. 693 Ant. 4,4,4-8. S. Kapitel 5.3.2.1.1. 694 Ant. 4,5,1. 695 Ant. 4,5,2. Bauman (1994) vertritt die These, die Verheimlichung von Tarquiniusʼ Tod durch Tanaquil rezipiere eine ähnliche Vorgehensweise der Livia beim Tod des Augustus, von der in der kaiserzeitlichen Geschichtsschreibung berichtet wird, und sei dem Tanaquil-Stoff erst durch Dionysios und Livius hinzugefügt worden. 696 Ant. 4,5,3. 697 Ant. 4,8,1-12,3. Es folgt die Erzählung von der Ermordung des alten Königs und der Thron‐ besteigung des jungen Tullius, und dies ist der dramatische Moment, in dem Tanaquil ihren großen Auftritt hat, indem sie durch umsichtiges und energisches Handeln das Überleben ihrer Familie sichert und ihrem Schwiegersohn zur Herrschaft verhilft. 690 Die Episode spielt sich bei Dionysios folgendermaßen ab: Nachdem der Leser zunächst explizit darauf hingewiesen worden ist, dass Servius Tullius sowohl durch seine natürliche Befähigung als auch durch den Willen der Götter, der sich in den beschriebenen Vorzeichen kundgetan hat, zur Königswürde prädestiniert ist, 691 schwenkt der Blick wieder auf Tanaquil. Diese reagiert schnell: Sie lässt den Zugang zum Königspalast abriegeln und versammelt Servius Tullius und seine Gattin sowie Ocrisia in dem Gemach, in welchem der halbtote König liegt. 692 Mit ihrer Rede fordert sie Servius Tullius auf, mittels einer List die Königsherrschaft zu übernehmen. 693 Als der Zeitpunkt günstig erscheint, verlässt sie das Krankenzimmer und befiehlt ihren Dienern, den König zu pflegen und die Ärzte zu rufen. Die folgende Nacht wartet sie ab, um am anderen Tag von einem Fenster des Palastes aus zu der versammelten Menge zu sprechen und die gefesselten Attentäter vorzuführen. 694 Diese Rede der Tanaquil gibt Dionysios nicht direkt wieder, sondern in geraffter oratio obliqua. Als Tanaquil an der Reaktion der Menge abliest, dass diese auf der Seite des Tarquinius steht, täuscht sie das Scheitern des Mordversuches vor, und teilt mit, der König habe Servius Tullius zum einstweiligen Stellvertreter in privaten wie öffentlichen Belangen bestimmt. 695 Daraufhin übernimmt dieser wie geplant die Regierung 696 und lässt sich nach angemessener Zeit vom Volk zum Nachfolger des Tarquinius wählen. 697 Über Tanaquils weiteres Schicksal informiert der Text den Leser nicht. Sie wird le‐ 202 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="203"?> 698 Ant. 4,30,2-3. Dionysios erwähnt hier Tanaquil nicht um ihrer selbst willen, denn sein Anliegen ist es, die (seiner Meinung nach unzutreffende) Chronologie des Fabius Pictor zu kritisieren, der Arruns, den Bruder des Tarquinius Superbus, zum Sohn der Tanaquil und des Tarquinius Priscus mache. 699 Ebenso Michels (1951) 14 f., die auf die Darstellung Cic. rep. 2,20-21 verweist, welche ebenfalls darauf verzichtet, Tanaquil als die eigentliche Kraft hinter der Thronbestei‐ gung des Tarquinius Priscus zu präsentieren. Michels vermutet, dass Versionen, die Tanaquil positiver und weniger als transgressive Frau darstellen, möglicherweise auf eine entsprechende Bearbeitung des Stoffes bei Ennius zurückgehen, und sieht einen Beleg für diese alternative Tradition auch in ant. 4,30,2-3, wo Dionysios auf die Version des Fabius Pictor hinweist. Diese Überlieferung diene der Betonung ihrer pietas. Vgl. dazu auch Stevenson (2011) 184. 700 Vgl. Michels (1951) 14: „Dionysius tells us that Tarquin moved to Rome because he was snubbed in Tarquinii (III, 47), not because of the restless pride and ambition of Tanaquil, who comes into the story only when she interprets for her husband the prodigy which foretells his future greatness. There is no suggestion in Dionysius that Tarquin came to the throne by any but legal means.“ 701 Vgl. Meyers (2016) 307 zu dieser Rolle, mit der Tanaquil in der Tradition assoziiert war. diglich noch einmal in Verbindung mit einer Version des Fabius Pictor erwähnt, der zufolge Tanaquil ihren ermordeten Sohn Arruns begraben habe. 698 6.2.2.1.1.3 Die Darstellung der Tanaquil bei Dionysios und ihr Ziel Betrachtet man die Darstellung der Tanaquil in den besprochenen Kapiteln, so ist festzustellen, dass Dionysios darum bemüht ist, ihre Funktion als „Königs‐ macherin“, die sie in der Tradition verkörpert, abzuschwächen und die beiden Könige, denen sie den Weg zum Thron ebnet, stärker hervortreten zu lassen. 699 Tanaquil wird als starke Frau gezeichnet, die aus einer der vornehmsten Familien Etruriens stammt und daher an eine hohe soziale Stellung gewöhnt ist. Weshalb sie trotz ihrer hohen Abkunft mit dem wenig geachteten Sohn eines griechischen Einwanderers verheiratet worden ist, erfährt der Leser nicht. Ver‐ mutlich ist der Grund für diese Vermählung im immensen Reichtum des jungen Lucumo und seiner Familie zu sehen. Der Impuls, Tarquinii zu verlassen und in Rom den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung zu verwirklichen, geht allein von ihm aus, seine Gattin spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle und wird nicht einmal mit Namen erwähnt. 700 Aktiv in Erscheinung tritt sie erst in der Rolle der klugen Zeichendeuterin 701 und Ratgeberin ihres Mannes, wodurch ihre bei Dionysios hervorstechendste Eigenschaft sichtbar wird: ihre Klugheit und ihr strategisches Geschick. Sie ist es, die ihrem Gatten aufgrund des von den Göttern gesandten Vorzeichens zu diplomatischem Vorgehen rät, damit er die ihm vorherbestimmte Herrschaft ohne Schwierigkeiten erlangen kann. Als ehrgeizig wird sie nicht beschrieben, sie taucht dementsprechend in der Schilderung des Aufstiegs des Tarquinius in Rom auch nicht mehr auf. Dem 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 203 <?page no="204"?> 702 Bei Dionysios steht Tarquinius in einer Reihe der Kontinuität mit den vorherigen Königen. Anders als bei Livius (s. Anm. 731) ist nicht von zweifelhaften Methoden der Machtergreifung die Rede, sondern Tarquinius verdankt die Königswürde seiner persönlichen Befähigung. Eine Degenerierung des römischen Königtums findet somit aus Sicht des Dionysios hier (noch) nicht statt. S. Delcourt (2005) 314-322. 703 Die Abschwächung der Rolle der Etruskerin Tanaquil im Zusammenhang mit der Machtübernahme der beiden Männer dürfte auch damit zusammenhängen, dass eine zu starke Betonung ihres Einflusses für Dionysiosʼ These von der Gräzität Roms hinderlich gewesen wäre. Tarquinius Priscus ist kein Etrusker, da sein Vater ein korinthischer Einwanderer war, und Servius Tullius ist latinischer Abstammung und somit nach der im ersten Buch dargelegten Genealogie des Dionysios ebenfalls Grieche. Somit setzt bei Dionysios mit dem Herrschaftsantritt des Tarquinius Priscus keine etruskische Fremdherrschaft über Rom ein. Zur Abstammung des Tarquinius Priscus bei Livius und Dionysios vgl. Delcourt (2005) 317 f., zur de-etruskisierenden Romdarstellung durch Dionysios ebd. 108-110. 704 Ich halte die Aussage von Meyers (2016) 308 für unzutreffend, die von „Tanaquil’s zealous promotion and manipulation of both Tarquin’s and later Servius Tullius’s claim to the throne in the accounts of both Livy and Dionysius of Halicarnassus“ spricht. So auch Delcourt (2005) 327: „C’est au courage et à l’ambition de Tanaquil qu’il [Servius Leser der Antiquitates wird der Eindruck vermittelt, ihr Mann habe sich die Königswürde, die ihm von den Göttern bereits zugedacht war, aufgrund seiner Verdienste und aus eigener Kraft verschafft. 702 Ebenso verhält es sich mit der Machtübernahme des Servius Tullius. Dessen persönliche Befähigung zum Herrscher, seine Verdienste und Leistungen für den Staat sowohl im Krieg als auch in der Innenpolitik, seine Beliebtheit bei der Bevölkerung und beim König werden nachdrücklich hervorgehoben, so dass die Rolle der Tanaquil demgegenüber zurücktritt. Der durch sein Alter geschwächte Tarquinius hat ihn bereits zu Lebzeiten als Mitregenten hinzugezogen, weil er sich den Regierungsgeschäften alleine nicht mehr gewachsen sah. Es hätte also, so wird dem Leser suggeriert, gar nicht unbedingt des Eingreifens einer Frau bedurft, um ihn endgültig auf den Thron zu heben, zumal seine Bestimmung zu höchsten Würden schon seit jeher von den Göttern beschlossene Sache war, wie aus der detaillierten Erzählung der beiden Vorzeichen hervorgeht, die mit seiner Abstammung und Kindheit in Verbindung stehen. 703 Im Zusammenhang mit diesen Vorzeichen wird Tanaquil erneut als kundige Zeichendeuterin dargestellt und ihre Klugheit betont. Darüber hinaus zeugt ihr respektvolles Verhalten gegenüber der Mutter des Servius Tullius von persönlicher Integrität. Auch während der Ereignisse nach dem Anschlag, den die Söhne des Ancus Marcius auf Tarquinius verübt haben, schwächt Dionysios die Rolle der Tanaquil ab und verleiht ihr nicht die Züge einer von Ehrgeiz und Geltungswillen getriebenen, „unweiblichen“ Frau, die Geschlechtergrenzen überschreitet und sich in männlich dominiertem Terrain bewegt. 704 Vielmehr handelt sie aus 204 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="205"?> Tullius] doit son extraordinaire ascension.“ Von „ambition“ ist meines Erachtens in der Rede der Tanaquil nichts zu spüren; die Hinweise, dass sie aus Furcht um das Überleben der Familie handelt, sind eindeutig, s. ant. 4,4,2-5. Delcourt (2005) 327 sieht als Ziel der Tanaquil, ihre Enkel auf dem Umweg über Servius Tullius auf den Thron heben zu wollen, und führt hierfür ant. 4,4,8 an. Allerdings muss man Tanaquils Wunsch nach der Königswürde für den älteren Enkel nicht zwangsläufig durch Ehrgeiz motiviert sehen: Tanaquil weiß sehr gut, dass ihre Familie nur dann vor weiteren Anschlägen durch die Verwandten des Ancus Marcius sicher sein wird, wenn sie im Besitz der Macht bleibt, auch über das Kindesalter der Enkel hinaus. 705 S. Noggler (2000). 706 Vgl. Noggler (2000) 251. 707 Vgl. Noggler (2000) 252 zur Rede der Tanaquil: „Sie positioniert sich darin als vor‐ bildliche Ehefrau, als Mutter ihrer Kinder bzw. Großmutter ihrer Enkel und als Schwiegermutter, die nur das Wohl und die Ehre ihrer Familie und sogar ihres Volkes vor Augen hat. Besonders das Wohlergehen der Enkelkinder wird von Tanaquil betont. Ihr listiger Plan zur Sicherung der Machtübernahme durch Tullius wird keineswegs in negativem Sinn als Trug bezeichnet. Er erhält angesichts der bedrohlichen Situation für ihre Familie und angesichts ihres Wunsches für eine gute Zukunft dieser Enkel besondere Dringlichkeit und Legitimation.“ 708 Vgl. Noggler (2000) 253: „Um ihre Ziele zu erreichen, betritt Tanaquil auch „öffentli‐ chen”, politischen und männerdominierten Boden, wenn sie etwa vom Balkon ihres Hauses aus ihre Rede an das Volk hält und diesem Weisungen erteilt. Sie betritt die Öffentlichkeit aber - in Dionysiosʼ Sinne - für ihr Vaterland, ihren Mann, ihre Familie - und besonders für ihre Kinder; sie handelt zum Teil im Dienste göttlicher Weisungen. typisch weiblich erscheinenden Motiven, da sie aus verständlicher Furcht um das Überleben ihrer Familie und vor allem ihrer kleinen Enkelsöhne agiert, deren Wohl sie ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter in einer rührenden Geste im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz legt. Dies verleiht ihr die Züge einer römi‐ schen matrona. 705 Allerdings tritt ebenso stark wie die weibliche Sorge um die Familie ihre Klugheit hervor, die der Leser bereits als ihr Hauptcharakteristikum kennen gelernt hat und die in ihrer ausführlichen Rede voll zur Geltung kommt, welche einerseits ihre rhetorischen Fähigkeiten herausstellt und andererseits ihren strategisch geschickten Plan zur Sicherung der Herrschaft durch Tullius darlegt. Diese nach antiken Vorstellungen für eine Frau ungebührliche Klugheit wird dem Leser als positive Eigenschaft vermittelt, da sie zur Erlangung positiver Ziele (der Rettung der Familie und der Abwendung des Staatsstreiches) eingesetzt wird. 706 Überhaupt dient die Rede der positiven Charakterisierung der Tanaquil und soll, wie die gefühlvolle Szene am Sterbebett des Tarquinius insgesamt, bei den Lesern Empathie für die Königsfamilie hervorrufen und das Vorgehen der Tanaquil in einem hellen Licht erscheinen lassen. 707 Auch ihre tatkräftige Initiative im Umgang mit der Bevölkerung, die dem griechischen Leser als befremdliches und einer Frau unangemessenes Verhalten erscheinen könnte, wird dadurch gerechtfertigt. 708 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 205 <?page no="206"?> Diese Motive sind für Dionysios in jedem Fall ehrbar und rechtfertigen damit offenbar die Mittel, die Tanaquil ergreift, nämlich die Überschreitung des informellen Rahmens weiblicher Wirksamkeit.“ 709 S. Kapitel 5.3.2.1.1. 710 Vgl. Michels (1951) 13; Stevenson (2011) 183. Die römische antiquarische Tradition sah Tanaquil mitunter als Urheberin zeremonieller Kleidungsstücke wie der toga praetexta, die für die Römer etruskischer Herkunft waren und die in Übergangsriten im Leben des Mannes eine Rolle spielten; die Rolle der Tanaquil, die ihrem Ehemann und ihrem Schwiegersohn den Übergang in einen neuen Status bereitet, wurde offenbar hiermit assoziiert. S. Meyers (2016) 310-313. 711 Liv. 1,34,1: cupidine […] ac spe magni honoris. Auch bei Livius ist er der Sohn eines korinthischen Kaufmannes namens Demaratos, der sich in Etrurien niedergelassen und eine Einheimische zur Frau genommen hat (1,34,2). Vgl. Delcourt (2005) 317. Dionysios geht auf die familiäre Herkunft des Tarquinius ausführlicher ein als Livius, da die griechischen Bezüge für ein griechisches Lesepublikum interessanter gewesen sein dürften, vgl. Delcourt (2005) 317. 712 Liv. 1,34,4: summo loco nata. Allerdings steht dieser positiven Darstellung ein Zug entgegen, der sich unter Umständen erst auf den zweiten Blick erschließt. Das politische Handeln der Tanaquil nach dem Tod ihres Mannes trägt in sich bereits die Tendenz zur Tyrannis, in welche die Herrschaft der Tarquinier bekanntlich übergeht. 709 6.2.2.1.2 Tanaquil bei Livius 6.2.2.1.2.1 Auswanderung nach Rom Anders als Dionysios schreibt Livius der Ehefrau des Tarquinius Priscus die Rolle der treibenden Kraft bei dessen gesellschaftlichem Aufstieg zu. Dies wird bereits in der Erzählung der Vorgeschichte des Tarquinius deutlich, als Tanaquil ihre erste Erwähnung findet und ihren Auftritt als beeinflussende Ehefrau, als eigentlicher Kopf des Paares, hat. 710 Unter der Herrschaft des Ancus Marcius, so Livius, emigriert ein gewisser Lucumo, uir impiger ac diuitiis potens, aus der Etruskerstadt Tarquinii nach Rom. Grund dafür ist sein großes Verlangen nach gesellschaftlicher Auszeich‐ nung, die ihm seine Heimatstadt aufgrund seiner Abstammung versagt. 711 Zwar wird Lucumo selbst als machtbewusst und umtriebig charakterisiert, den entscheidenden Impuls für die Auswanderung gibt jedoch seine Frau Tanaquil, die aus einer der vornehmsten Familien Etruriens stammt 712 und unter dem sozialen Abstieg durch ihre Heirat mit einem Fremden erheblich leidet. Sie erträgt die indignitas nicht, die in der Missachtung ihres Mannes durch seine Umgebung besteht, und dieses Gefühl der unverdienten und ungerechtfertigten gesellschaftlichen Zurücksetzung überwindet sogar die Liebe, die sie für ihre Heimat empfindet - der Leser gewinnt den Eindruck, Tanaquil sei zu nahezu 206 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="207"?> 713 Liv. 1,34,5. 714 Liv. 1,34,6. 715 Dazu Penella (2004). 716 Liv. 1,34,7-8. 717 Liv. 1,34,8. Ein wesentlicher Bestandteil der Bedeutung des Vorzeichens ist das „kor‐ rekte“ Wiederaufsetzen der Mütze, das beide Schriftsteller - Dionysios ebenso wie Livius - betonen und das für ein gewöhnliches Tier unmöglich wäre. 718 Liv. 1,34,9: laeta accepisse. 719 Liv. 1,34,9: perita ut uolgo Etrusci caelestium prodigiorum mulier. Vgl. Meyers (2016) 307f. 720 Liv. 1,34,9. 721 Liv. 1,34,11. 722 Liv. 1,34,12. 723 Livius ist hier deutlich knapper als Dionysios und verzichtet auf die ausführliche Schilderung der mit der Phallus-Erscheinung verbundenen Abstammung des Servius Tullius. S. Liv. 1,39,5-6. allem bereit, solange ihr Mann (und damit natürlich sie selbst) nur in eine hohe Stellung gelange. Sie fasst also den Beschluss, Tarquinii zu verlassen. 713 Da sie von den guten Aufstiegsmöglichkeiten gehört hat, die das noch junge Rom ehrgeizigen Menschen ohne Ansehen der Herkunft biete, erscheint ihr diese Stadt als geeigneter Ort für den Neuanfang. 714 Davon weiß sie ihren Ehemann zu überzeugen. Dies gelingt ihr umso leichter, als er selbst ehrgeizig ist 715 und Tarquinii nur die Heimat seiner Mutter darstellt, nach patriarchalischem Verständnis folglich nicht als solche zählt. Das Ehepaar macht sich mit seinem gesamten Besitz auf den Weg nach Rom. 716 Auf dem Ianiculum ereignet sich das berühmte Adlerprodigium. 717 Tanaquil reagiert auf dieses Vorzeichen mit Freude, 718 denn als Etruskerin weiß sie es zu deuten; 719 sie umarmt glücklich ihren Mann und befiehlt ihm (iubet), Hohes zu erhoffen, denn das Zeichen verheiße ihm höchste Auszeichnung unter den Menschen. 720 Sie kann also damit rechnen, dass sich ihre Hoffnungen, die sie mit der Umsiedlung nach Rom verbindet, erfüllen werden. Und in der Tat gelangt ihr Gatte, der fortan den römischen Namen L. Tarquinius führt, in Rom rasch zu Ansehen und Einfluss, sowohl aufgrund seines Vermögens als auch aufgrund seines gesellschaftlichen Engagements. 721 Er steigt sogar zum Ratgeber und Freund des regierenden Kö‐ nigs Ancus Marcius auf. 722 Welche Rolle Tanaquil für diesen schnellen sozialen Aufstieg spielt, bleibt im Dunklen. Livius erwähnt sie nach ihrem Auftritt in der Szene des Adlerprodigiums vorläufig nicht mehr. 6.2.2.1.2.2 Inthronisation des Servius Tullius Tanaquil begegnet dem Leser erneut, als Livius über Herkunft und Kindheit des Servius Tullius berichtet. Anders als bei Dionysios deutet sie das Flammenpro‐ digium: 723 Einem Diener, der sich anschickt, die Flamme zu löschen, wird dies 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 207 <?page no="208"?> 724 Liv. 1,39,1-4. 725 Liv. 1,40,1-7. 726 Liv. 1,41,1. 727 Liv. 1,41,2: dextram tenens orat ne inultam mortem soceri, ne socrum inimicis ludibrio esse sinat. McClain (2020) 230 zufolge veranlassen ihre Worte sowohl den intrawie den extradiegetischen Rezipienten dazu, sein Vertrauen in die altruistischen Absichten der Tanaquil zu stärken: „The fear that she conveys in indirect speech before she begins to instruct Servius about what he should do adds to her authority and creates a disposition in Servius and in Livy’s audience to trust her: Tanaquil’s focus is on safety, not on power.“ 728 Liv. 1,41,3: „Tuum est,“ inquit, „Serui, si uir es, regnum, non eorum qui alienis manibus pessimum facinus fecere. Erige te deosque duces sequere qui clarum hoc fore caput diuino quondam circumfuso igni portenderunt. Nunc te illa caelestis excitet flamma; nunc expergiscere uere. Et nos peregrini regnauimus; qui sis, non unde natus sis reputa. Si tua re subita consilia torpent, at tu mea consilia sequere.“ von Tanaquil verboten. Sie untersagt auch, den Jungen zu wecken, und wartet, bis er von selbst erwacht: In diesem Moment erlischt die Flamme. Daraufhin nimmt Tanaquil ihren Mann beiseite und deutet das von den Göttern gesandte Zeichen dahingehend, dass der kleine Servius Tullius dereinst das Königshaus aus einer Notsituation befreien werde und man ihn deshalb an Kindes statt annehmen solle. Folglich wächst er zusammen mit den eigenen Kindern des Königspaares auf und entwickelt sich zu einem vielversprechenden jungen Mann, der die übrige römische Jugend an Begabung auf jedem Gebiet übertrifft, so dass der König sich entschließt, ihn mit seiner Tochter zu verehelichen. 724 Als der alte König Tarquinius bei dem Attentat durch die Söhne des Ancus Marcius tödlich verwundet wird, 725 ist es auch bei Livius Tanaquil, die die gefahrvolle Situation zu meistern versteht. Sie befiehlt, den Königspalast zu schließen, und lässt alle Augenzeugen des Anschlags entfernen. Nach außen hin trifft sie die erforderlichen Vorkehrungen zur Pflege des Königs, so als gäbe es noch Hoffnung, sein Leben zu retten; zugleich jedoch bereitet sie heimlich alles Nötige für den Fall vor, dass der König nicht überleben sollte. 726 Sie lässt Servius Tullius zu sich rufen und führt ihn an das Bett des halbtoten Tarquinius. Dort ergreift sie seine rechte Hand und bittet ihn in indirekter Rede, den Tod ihres Gatten zu rächen und sie selbst nicht der Willkür der Feinde zu überlassen. 727 Die Kernaussage ihrer Rede gibt Livius direkt wieder, als sie ihn dazu auffordert, sich wie ein Mann zu verhalten und sich entsprechend seiner göttlichen Bestimmung die Herrschaft zu sichern; sollte er unsicher sein, wie er weiter vorzugehen habe, so solle er sich ruhig ihrem Rat anvertrauen. 728 Als die vor dem Königspalast versammelte Menge allzu unruhig wird, hält Tanaquil vom Fenster aus eine Rede an die Bevölkerung, befiehlt (iubet) ihr, guten Mutes zu sein und versichert, der König sei keineswegs in Gefahr und 208 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="209"?> 729 Liv. 1,41,4-5. 730 Liv. 1,41,6. 731 Vgl. Liv. 1,34,7: facile persuadet und 1,34,9: iubet mit ant. 3,47,4: ἀγαθῶν ἐλπίδων ἐνέπλησεν - συνεβούλευεν. 732 Vgl. Sautel (1999) zu ant. 3,47,4: „Le rôle de Tanaquil est beaucoup plus important dans le récit de Tite-Live, car elle y est tenue pour responsable de la décision prise par Tarquin de venir s’établir à Rome, comme aussi elle contribuera largement à l’accession de Servius au trône […]. Ceci est conforme à la place singulière tenue par les femmes dans la haute société étrusque […].“ werde binnen kurzem wieder regierungsfähig sein; für die Zwischenzeit habe er Servius Tullius als Stellvertreter bestimmt. 729 Folglich übernimmt Servius die Macht. 730 6.2.2.1.3 Die Darstellung der Tanaquil bei Dionysios und Livius im Vergleich Der Leser lernt Tanaquil bei Livius als ehrgeizige, machtbewusste Frau kennen, die keine Angst davor hat, Einfluss auf Männer auszuüben, und sie ihren Interessen entsprechend lenkt. Sie ist sich ihrer vornehmen Herkunft bewusst und lehnt es ab, sich mit den ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen in Tarquinii abzufinden. Vielmehr agiert sie zielstrebig und entschlossen, um den Makel der rangniedrigeren Heirat wieder auszugleichen. Die negative Konnotation als „unweibliches“, anmaßendes Verhalten einer Frau, die ihren Platz nicht kennt, wird allerdings dadurch abgemildert, dass Lucumo von Natur aus selbst ein ehrgeiziger Mensch ist und die Beeinflussung durch seine Frau ihn zu etwas bewegt, wonach er grundsätzlich auch strebt, sie ihn also nicht zwingt, gegen seinen Willen zu handeln. Neben ihrem Ehrgeiz ist es zweitens ihre Klugheit, die als hervorragende Charaktereigenschaft begegnet. Zwar wird sie nicht ausdrücklich - wie bei Dionysios - als klug bezeichnet, doch versteht sie sich auf die Zeichendeutung und weiß geschickt die Voraussetzungen zum Erlangen ihres Zieles zu schaffen, indem sie ihren Mann dazu bewegt, nach Rom auszuwandern. Dieses Bewegen ist bei beiden Historikern leicht unterschiedlich akzentuiert: Bei Livius über‐ redet und befiehlt sie, bei Dionysios rät und ermuntert sie. 731 Es wird bei Livius ebenso wie bei Dionysios nicht ganz deutlich, welchen Anteil Tanaquil letztlich an der Wahl ihres Mannes zum römischen König hat. Einerseits ist bei Livius sie es, die mit der Umsiedlung die Grundlage schafft, von der aus ein solcher Aufstieg erst möglich wird. 732 Andererseits wird durch das Adlerprodigium deutlich, dass die Königswürde längst vom fatum beschlossen ist und Tanaquil demnach lediglich als Werkzeug der Götter agiert. Zudem weist Livius wiederholt auf die Leistungsfähigkeit des Tarquinius hin und betont seine 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 209 <?page no="210"?> 733 Allerdings stellt die Herrschaftsübernahme des Tarquinius Priscus für Livius einen klaren Bruch mit den bisherigen Gepflogenheiten der Königswahl dar, da er durch Anwendung unlauterer Mittel an die Macht kommt, s. Liv. 1,35,1-2. Dazu Delcourt (2005) 302 f. Der weibliche Einfluss der Tanaquil, die die Umsiedlung nach Rom initiiert hat, trägt indirekt zum Eindruck des Zweifelhaften bei, den diese Machtübernahme erweckt. 734 Liv. 1,39,4: indoles regia; ant. 4,4,1: φύσεώς τε δὴ μετειληφὼς ἀποχρώντως κατεσκευασμένης πρὸς ἡγεμονίαν. 735 Dazu McClain (2020) 231, die in diesem Appell ein Charakteristikum weiblicher Rede sieht: „By challenging Serviusʼ identity and character through the apodosis of the condition (“if you are a man“), Tanaquil creates a situation in which Servius has no choice but to take control or prove himself not a man.“ 736 Liv. 1,58,8 und 1,59,5. Vgl. Calhoon (1997) 162. charakterlichen Qualitäten und die Macht seines Reichtums, die ihn in Rom bei Volk und regierendem König beliebt machen und ihm eine Spitzenposition in der Gesellschaft verschaffen. Von einer alleinigen Verantwortlichkeit der Tanaquil für den Aufstieg ihres Gatten ist nicht die Rede. 733 Größer sind die Unterschiede zwischen beiden Historikern bei der Gestaltung ihrer Rolle während der Machtübernahme des Servius Tullius. Beide beschei‐ nigen diesem zwar selbst eine natürliche Anlage zur Herrschaft, 734 er ist also keine Marionette der Tanaquil. Dennoch gibt sie die entscheidenden Impulse. Bei Dionysios erscheint sie als Hüterin der familiären Integrität, indem sie am Sterbebett des Tarquinius eine Familienversammlung mit Ocrisia, Servius Tullius, der mit ihm verheirateten Tochter und den beiden Enkeln abhält. Dort entwirft sie einen detaillierten Plan für die Übernahme der Herrschaft durch Servius, vor allem in der Absicht, Gefahr von der eigenen Familie abzuwenden. Ihr transgressives Verhalten wird dadurch gerechtfertigt. Bei Livius ist sie mit Servius allein und appelliert energisch an seine Männlichkeit (Liv. 1,41,3: tuum est, inquit, Serui, si uir es, regnum). Allein schon dieser Appell lässt Zweifel an dieser Männlichkeit aufkommen, der weiter genährt wird, wenn sie ihn am Ende ihrer kurzen Rede auffordert, ihren Anweisungen zu folgen, falls er selbst ratlos ist (si tua re subita consilia torpent, at tu mea consilia sequere). 735 Hier konstruiert der Text eine regelrechte Gender-Ironie, die sich bei Livius im weiteren Verlauf der römischen Geschichte fortsetzt, als Lucretia die römischen Männer zur Vergeltung ihrer Entehrung auffordert und als Brutus verlangt, die Römer sollten mannhafte Taten vollbringen und die Tarquinier stürzen. 736 6.2.2.2 Tullia Die Figur der Tullia, der Enkelin des Tarquinius Priscus und der Tanaquil, gilt in der römischen Tradition als die Frevlerin schlechthin, als Gegenbild zum Ideal 210 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="211"?> 737 Zur Entstehung der Tradition s. Kowalewski (2002) 88f. 738 Neben Livius und Dionysios sind als weitere Quellen zu nennen: Ov. fast. 6,587-624; Val. Max. 9,11,1; Sil. 13,831-838. 739 Dazu Hudson (2016). 740 Ant. 4,27,7. der römischen matrona. 737 Verheiratet mit dem späteren Tarquinius Superbus, übertrifft sie diesen noch an Zügellosigkeit und Grausamkeit, indem sie ihn, vom Verlangen nach der Königswürde getrieben, zum Mord an Schwester, Schwager und letztlich sogar dem Vater, Servius Tullius, anstiftet. Ihre Gestalt steht in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung symptomatisch für die Degenerierung des Königtums, die mit der Machtübernahme der Tarquinier beginnt, in Tarquinius Superbus und seiner Ehefrau ihren Tiefpunkt und mit der Vertreibung der Tarquinier aus Rom ihr Ende findet. 738 6.2.2.2.1 Tullia in den Antiquitates Romanae 6.2.2.2.1.1 Die Verbrechen der Tullia Dionysios gewährt der Figur der Tullia in seinem Geschichtswerk breiten Raum, wobei er sich nicht darauf verlässt, dass der Leser allein aufgrund ihrer Handlungen zu einem Urteil gelangen wird, sondern die Erzählung mit wiederkehrenden auktorialen Kommentierungen ihres Wesens und Tuns begleitet. So ist bereits mit ihrer ersten Erwähnung das zentrale Motiv ihres Lebens vorweggenommen, nämlich der Mord am eigenen Vater, für den sie der Nachwelt mehr als für ihre anderen Verbrechen im Gedächtnis bleiben wird: 739 ἡλικίας τε προβεβηκὼς ἐπὶ πολὺ καὶ τῆς κατὰ φύσιν τελευτῆς οὐ μακρὰν ἀπέχων, ἐπιβουλευθεὶς ὑπὸ Ταρκυνίου τε τοῦ γαμβροῦ καὶ τῆς ἑαυτοῦ θυγατρὸς ἀποθνήσκει. 740 Als er in seinem Lebensalter weit fortgeschritten ist und von seinem natürlichen Ende nicht mehr weit entfernt, da stirbt er durch eine Verschwörung seines Schwie‐ gersohnes Tarquinius und seiner eigenen Tochter. Die Voraussetzungen für diesen Mord legt Dionysios gewissenhaft dar. Der Leser wirft dafür zunächst einen Blick in die Familiengeschichte der Tullia: Servius Tullius wurde mit einer der beiden Töchter des Tarquinius Priscus und der Tanaquil vermählt; diese hat ihm zwei Töchter geschenkt, aber keinen männlichen Erben. Seine Töchter verheiratet er mit ihren Vettern, den beiden Enkeln des Priscus und der Tanaquil, für die er einst bei der Machtübernahme 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 211 <?page no="212"?> 741 Ant. 4,28,1: Ἦσαν τῷ Τυλλίῳ δύο θυγατέρες ἐκ γυναικὸς γενόμεναι Ταρκυνίας, ἣν ἐνεγύησεν αὐτῷ βασιλεὺς Ταρκύνιος. ταύτας τὰς κόρας ἐπιγάμους γενομένας ἐκδίδοται τοῖς ἀδελφιδοῖς τῆς μητρὸς αὐτῶν, υἱωνοῖς δὲ Ταρκυνίου, τῷ τε πρεσβυτέρῳ τὴν πρεσβυτέραν ἁρμόσας καὶ τῷ νεωτέρῳ τὴν νεωτέραν, οὕτως οἰόμενος αὐτὰς μάλιστα συνοίσεσθαι τοῖς λαβοῦσιν. 742 Ant. 4,28,2. Die Darstellung des Dionysios geht an dieser Stelle freilich vom männlichen Blickwinkel aus: ἔτυχε δὲ τῶν γαμβρῶν ἑκάτερος ἐναντίᾳ συναφθεὶς τύχῃ κατὰ τὴν οὐχ ὁμοτροπίαν. 743 Ant. 4,28,3. 744 Ant. 4,28,4. 745 Ant. 4,28,5. 746 Ant. 4,29,1-7. Zur direkten Rede der Tullia s. Kapitel 5.3.2.1.2. Die ältere Forschung hatte offenbar moralische Schwierigkeiten mit dieser Rede, für Peter (1874) 546 ist sie eine „wegen ihrer Frechheit besonders widerwärtige Rede“. 747 Ant. 4,30,2-3. die Vormundschaft übernommen hat. 741 Mit dieser Doppel-Ehe verbinden sich für ihn zwei Vorteile: Er hofft, durch sie seiner Familie die Königsherrschaft dauerhaft zu sichern, und kann darüber hinaus die Enkel des Tarquinius Priscus auf elegante Weise dafür entschädigen, dass er die Macht bis zu seinem Tode, entgegen den ursprünglichen Wünschen Tanaquils, nicht mehr abzugeben gedenkt. Die beiden Ehen nehmen jedoch keinen glücklichen Verlauf, da die Partner charakterlich vollkommen ungeeignet füreinander sind. Die ältere Tochter ist von sanftem, gutmütigem und vernünftigem Naturell und mit dem ehrgeizigen Lucius, dem späteren Superbus, verheiratet; Tullia, die jüngere, welche einen verdorbenen und machthungrigen Charakter besitzt, mit dem harmlosen Ar‐ runs. 742 Beide Töchter versuchen ihrem Wesen entsprechend, ihre Männer zum Guten bzw. zum Schlechten zu beeinflussen, jedoch ohne Erfolg. Bei Lucius, der als Enkel des Tarquinius Priscus Anspruch auf den Thron erhebt und nach einem Umsturz trachtet, bleiben die Beschwichtigungsversuche seiner Gattin ebenso ergebnislos, wie es die boshaften Tiraden der Tullia bei Arruns sind, den sie durch Beleidigungen und Vorwürfe zum Staatsstreich anstiften will, um an Stelle ihres Vaters zu herrschen. 743 Da ihre Beeinflussung keine Wirkung zeigt, beschließt Tullia, ihren Ehemann, der sie ihrer Meinung nach in ihrem Ehrgeiz nur behindert, zu beseitigen, 744 und bittet ihren Schwager Lucius zu einer geheimen Unterredung; sie weiß, dass er das gleiche Machtstreben besitzt wie sie. 745 Sie legt diesem in einer geschickt kalkulierten Rede ihren Plan dar, wie sie beide als Verbündete sich der Königsherrschaft bemächtigen könnten. 746 Tarquinius geht auf ihren Vorschlag ein, das geheime Abkommen wird durch Ehebruch besiegelt und wenig später versterben die ältere Schwester der Tullia und der jüngere Bruder des Lucius τοῖς αὐτοῖς πάθεσιν. 747 212 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="213"?> 748 Ant. 4,30,2-3. 749 Ant. 4,30,4. Vgl. Calhoon (1997) 161, die hervorhebt, dass Dionysios anders als Livius besonders die Ohnmacht des Vaters Servius Tullius herausstellt: Nicht Tullia selbst, sondern dieser hätte über ihre Eheschließung bestimmen müssen, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre. Die patria potestas des Servius Tullius wird durch das eigenmächtige Handeln seiner Tochter außer Kraft gesetzt. 750 Ant. 4,30,5. 751 Ant. 4,30,6. 752 Ant. 4,30,7-36,3. 753 Ant. 4,37,1-5. 754 Ant. 4,38,1. 755 Ant. 4,38,2. Nach dem kurzen Exkurs, in dem Dionysios die Chronologie des Fabius Pictor kritisiert, 748 schließt sich die lange Erzählung vom Sturz und Tod des Servius Tullius an. Zunächst wird von der gegen alle Sittlichkeit und Norm verstoßenden Eheschließung zwischen Tullia und Tarquinius berichtet, die erfolgt, nachdem sie sich ihrer jeweiligen Ehepartner entledigt haben. 749 Sodann beginnen sie, ihren Plan des Staatsstreichs ins Werk zu setzen, und bringen diejenigen Teile der Patrizier, die dem Servius Tullius aufgrund seiner volksfreundlichen Politik feindlich gesinnt sind, und die Armen auf ihre Seite. 750 Da sie dies in aller Öffentlichkeit betreiben, beginnt der alte König um Herrschaft und Leben zu fürchten und sucht die Verständigung mit Tochter und Schwiegersohn, was jedoch misslingt. 751 In der Folge beruft er eine Senatsversammlung ein, in der es zu einem heftigen Rededuell der beiden Männer kommt. 752 Servius Tullius appelliert daraufhin an das römische Volk als Entscheidungsträger, da ihm die Herrschaft von diesem einst verliehen worden sei. Er fordert die versammelten Bürger auf, ihn entweder aufgrund seiner Verdienste als rechtmäßigen König zu bestätigen oder aber dem Tarquinius die Herrschaft zu übergeben, sollte dessen Anspruch auf den Thron berechtigter sein als der seine. Darauf wird er vom Volk als König bestätigt und unter Jubel zu seinem Haus geleitet. 753 Dem entmutigten und bedrückten Tarquinius redet seine Ehefrau Tullia zu, er solle von nun an nicht mehr mit Worten, sondern mit Taten versuchen, sich des alten Königs zu entledigen. Sie beeinflusst ihn dahingehend, Reue über sein Verhalten vorzutäuschen und eine angebliche Versöhnung anzustreben, um den sich wieder in Sicherheit wähnenden Servius Tullius desto leichter beseitigen zu können. 754 Nachdem dieser auf die inszenierte Versöhnung ohne Schwierig‐ keiten eingegangen ist, geht Tarquinius wenig später offen zum Staatsstreich über und begibt sich, bekleidet mit dem Königsgewand und begleitet von seinen bewaffneten Anhängern, auf das Forum, wo er die Senatoren zu einer Versammlung einberuft. 755 Als der eilends benachrichtigte Servius Tullius in der 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 213 <?page no="214"?> 756 Ant. 4,38,3. 757 Ant. 3,48,4-6. S. Kapitel 4.5.1.3. 758 Ant. 4,39,1-2. 759 Ant. 4,39,2. 760 Ant. 4,39,3. 761 Ant. 4,39,5: οὗτος ὁ στενωπὸς ὄρβιος καλούμενος πρότερον ἐξ ἐκείνου τοῦ δεινοῦ καὶ μυσαροῦ πάθους ἀσεβὴς ὑπὸ Ῥωμαίων κατὰ τὴν πάτριον γλῶτταν καλεῖται. 762 Bei Livius wird noch beschrieben, wie sie im Zuge des Sturzes der Tarquinier aus Rom flieht, s. unten S.-158. Dionysios hat eine derartige Szene nicht, vgl. Michels (1951) 19. Kurie eintrifft, sieht er seinen Schwiegersohn im königlichen Ornat auf dem Königssessel sitzen. 756 Es kommt zunächst zu verbalen Beleidigungen zwischen den beiden, bis Servius Tullius zornentbrannt den Widersacher vom Thron zu zerren versucht; er wird von Tarquinius daran gehindert, der den laut schreienden alten König packt, aus der Kurie trägt und die Stufen zum comitium hinabschleudert. Servius Tullius erleidet gravierende Verletzungen. 757 An dieser Stelle tritt seine Tochter wieder in Erscheinung, die - wie der Leser erst jetzt erfährt - während der Ereignisse in der Kurie zum Forum geeilt ist und nun ihren Ehemann gemeinsam mit dessen Anhängern als neuen König begrüßt. 758 Sie fordert Tarquinius dazu auf, ihren Vater rasch zu töten, bevor dieser sein Haus erreiche, damit er ihnen die eben errungene Herrschaft nicht wieder aus den Händen reißen könne. 759 Tarquinius lässt den ohnehin schwer verletzten Tullius durch bewaffnete Diener auf offener Straße ermorden. 760 Bei dem noch zuckenden Leichnam trifft kurz darauf Tullia auf ihrem Wagen ein. Ihre Maulesel können in der engen Gasse dem Toten nicht ausweichen und scheuen; auch der Maultiertreiber schreckt zurück und sucht die ihn anstachelnde Tullia davon abzubringen, den Leichnam zu überfahren. Zornentbrannt schleudert diese ihre Fußstütze gegen den Maultiertreiber und zwingt ihn zum Gehorsam, woraufhin der Wagen mit Gewalt über die Leiche gelenkt wird. Der Erzähler fügt abschließend die Bemerkung an, dass die Gasse seither von den Römern als clivus sceleratus bezeichnet werde, in Erinnerung an diese Freveltat. 761 Tullias Schicksal wird nicht weiterverfolgt, ihr Name nach dieser Episode nicht mehr genannt. Sie verschwindet ebenso wie vor ihr Tanaquil im Dunkel der Vergangenheit. 762 6.2.2.2.1.2 Die Darstellung der Tullia bei Dionysios und ihr Ziel Die Art und Weise, in der Dionysios die Figur der Tullia darstellt, ist auf‐ schlussreich im Hinblick auf sein Verfahren der Leserlenkung, da hier in Fort‐ setzung der Tanaquil-Darstellung an einer weiblichen Gestalt ein bestimmtes Geschichtsbild veranschaulicht wird, von dem der Leser überzeugt werden soll. Dazu dient die direkte Charakterisierung durch auktoriale Kommentierungen 214 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="215"?> 763 Im Griechischen betont die passivische Konstruktion die Schwäche des Ehemannes. 764 S. unten S. 226. 765 Dies kommt besonders augenfällig in der Ermordung und Schändung des eigenen Vaters zum Ausdruck: Indem sie diesen entmachtet und tötet, setzt Tullia sich selbst an seine Stelle und eliminiert die Verfügungsgewalt des pater familias über seine Nachkommen. ebenso wie die indirekte Charakterisierung durch die Schilderung ihrer Hand‐ lungen und Äußerungen und der Reaktionen anderer Figuren. Diese Mittel sind mit Nachdruck kombiniert, um ein möglichst überzeugendes Bild von Tullias negativem Charakter zu schaffen, der symptomatisch für den Verfall des römischen Königtums während der Tarquinier-Herrschaft steht. So wird Tullias Geschichte von Anfang an von zahlreichen Kommentaren des Erzählers begleitet, die den Leser immer wieder explizit auf ihre frevlerische Natur hinweisen. Eine derartige auktoriale Präsenz ist weder bei Tanaquil noch später bei Lucretia festzustellen. Von Tullia heißt es ant. 4,28,2: ἀνοσία καὶ μισοπάτωρ καὶ πάντολμος […] γαμετή; ant. 4,28,3: ὑπὸ τῆς ἀνοσίας γυναικὸς ἐπὶ τἀναντία μετήγετο νουθετούσης τε καὶ λοιδορουμένης καὶ τὴν ἀνανδρίαν κακιζούσης; 763 ant. 4,28,4: αἱ τῆς μιαρᾶς παραινέσεις ἐπὶ τὰς ἀνοσίους πράξεις; ant. 4,28,5: ἡ κακὴ τὴν φύσιν; ant. 4,39,3: τὴν ἀνοσιωτάτην γυναῖκα; von Tullia und ihrem zweiten Ehemann ant. 4,30,5: αἱ ἀνόσιοι καὶ ἀνδροφόνοι φύσεις. Dass es sich bei der Betonung des „frevelhaften“ Charakters der Tullia um ein Stereotyp handelt, ist dabei weniger von Bedeutung als der Umstand, dass Dionysios sich dieses Stereotyps wiederholt bedient, um dem Leser die Verwor‐ fenheit und Degenerierung der Figur regelrecht einzuhämmern. Das Motiv des Frevels (ἀνόσιον) kehrt auch in der Lucretia-Geschichte im Verhalten des Sextus Tarquinius wieder, der sich über jede Art von Sitte und Anstand hinwegsetzt, um sein sexuelles Verlangen zu befriedigen. 764 Somit ist das Frevelhafte in der Missachtung menschlicher und göttlicher Werte und Normen zu sehen, wie Tullia sie gewissermaßen in Höchstform betreibt, indem sie, um ihren Hunger nach Macht zu stillen, nicht vor Ehebruch und dem heimtückischen Mord an Schwester und Schwager zurückschreckt, eine sittenwidrige Heirat eingeht und ihren Ehemann zum Mord an ihrem eigenen Vater antreibt. Die Reihe ihrer Verbrechen gipfelt in der Schändung von dessen Leichnam. Dabei ist es nicht wichtig, dass Servius Tullius bereits in sehr hohem Alter stand und ohnehin nicht mehr allzu lange gelebt hätte - ganz im Gegenteil lässt dieser Umstand die Machtgier der Tullia umso größer erscheinen, da sie nicht einmal die kurze Zeitspanne bis zum natürlichen Tod des Vaters abwarten will, um mit ihrem Mann selbst an die Herrschaft zu gelangen. Zur Befriedigung ihres Ehrgeizes geht Tullia im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen und setzt sich über sämtliche Schranken hinweg, die die patria potestas einer Frau üblicherweise zu setzen pflegt. 765 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 215 <?page no="216"?> 766 So auch Delcourt (2005) 348: „[…] au contraire de Tanaquil, qui veut privilégier sa descendance, Tullia agit donc pour elle seule.“ 767 S. Kapitel 4.5.1.3. 768 Ant. 4,29,6. 769 Zum Motiv der exzessiven bzw. pervertierten Sexualität als Bestandteil historiographi‐ scher Tyrannentopik s. Dunkle (1971) 16. 770 Zu Tullia bei Livius s. Kowalewski (2002) 75-90. 771 Hudson (2016) 225-228 betont den Aspekt der gestörten Vater-Tochter-Beziehung in der Darstellung der Tullia bei Livius, der sie weniger als Ehefrau und vorrangig als Paradigma der impia filia zeige. Vgl. ebd.: „[…] although Livy develops Tullia’s role as Durch ihr transgressives Denken und Handeln ist sie eine gravierende Bedrohung für das römische Patriarchat. Auch Tanaquil hat der römischen Tradition zufolge ihrem Mann indirekt zur Königswürde verholfen, doch wird diese Rolle von Dionysios, wie erwähnt, abgemildert. Tanaquil hat in den Antiquitates Romanae ihren großen Auftritt nicht bei der Machtübernahme ihres Gatten, sondern als es an dessen Sterbebett darum geht, das Überleben ihrer Familie und besonders ihrer kleinen Enkel zu sichern, und verkörpert die Tugenden einer römischen matrona. Fürsorge für die nächsten Verwandten und Empathie sind dagegen Qualitäten, die ihrer Enkelin Tullia vollkommen fehlen 766 - man halte sich nur die gefühlvolle Schilderung des schwer verletzten Greises Servius Tullius vor Augen, die beim Leser Mitleid für den König und Abscheu vor Tullia und ihrem Mann erregen soll. 767 Zu ihrem extremen Machttrieb und ihrer bis zum Äußersten gehenden Rück‐ sichtslosigkeit gesellen sich laut Dionysios Heimtücke (die heimlichen Morde an Schwester und Schwager und die perfide inszenierte Versöhnung mit dem Vater) und die erschreckende Energie, mit der sie ihren grausamen Weg zur Macht bis zum Ende geht. Die Eigenschaft der Klugheit, die an Frauen wie Tanaquil und Ocrisia positiv hervorgehoben wird, verkehrt sich bei Tullia ins Negative, da sie ihre Intelligenz lediglich zur Erlangung ihrer verbrecherischen Ziele und zur Beeinflussung ihrer Ehemänner einsetzt; dass sie der eigentliche Kopf in ihrer zweiten Ehe ist, wird dem Leser durch ihre Reden rasch klar. Dionysios attestiert ihr ferner eine zügellose Sexualität, wie aus der vertraulichen Unterredung mit Lucius Tarquinius hervorgeht; 768 ein Motiv, das in Sextus Tarquinius wieder begegnet und als Element antiker Tyrannentopik geläufig ist. 769 6.2.2.2.2 Tullia bei Livius Betrachtet man die Darstellung der Tullia durch Livius, der ihr wie Dionysios einen prominenten Platz in seiner Reihe weiblicher Gestalten zukommen lässt, so ergeben sich Parallelen in Charakterisierung und Aussageabsicht. 770 Auch für Livius ist mit der Tochter des Servius Tullius 771 der sittlich-moralische 216 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="217"?> overambitious, even uncontrollable, wife, her transgression as daughter is the actual focus of the story, and not her tyrannical behavior as wife.“ 772 Liv. 1,46,3: tulit enim et Romana regia sceleris tragici exemplum, ut taedio regum maturior ueniret libertas ultimumque regnum esset quod scelere partum foret. Bemerkenswert ist, dass Livius an dieser Stelle explizit vom römischen Königshaus als einem exemplum spricht. S. zu den Tragödienassoziationen der Erzählung unten S. 158. 773 Zu Tarquinius Superbus als Verkörperung des Tyrannischen in der römischen Tradition sowie zur Entstehung dieses Bildes s. Delcourt (2005) 337-339. 774 Liv. 1,46,7: initium turbandi omnia a femina ortum est. Vgl. dazu Cailleux (2017) 502. 775 Liv. 1,46,1: Seruius quamquam iam usu haud dubie regnum possederat, tamen quia interdum iactari uoces a iuuene Tarquinio audiebat se iniussu populi regnare […]. 776 Liv. 1,46,1. 777 Liv. 1,46,2. 778 Liv. 1,46,2: et ipse iuuenis ardentis animi et domi uxore Tullia inquietum animum stimulante. Unzutreffend ist meines Erachtens die These von Hudson (2016) 225f.: „[…] she is an excessively bad daughter because she is an excessively good wife, to the Tiefpunkt des Königtums in Rom erreicht. 772 Auch bei ihm übertrifft sie ihren Mann, der als Inbegriff des Tyrannen in die Geschichte eingegangen ist, 773 noch an Grausamkeit und Machtgier und wird denn auch expressis verbis als Ausgangspunkt einer Degradation bezeichnet, welche mit ihren Verbrechen noch während der Regierung des Servius Tullius einsetzt und schließlich zur Abschaffung der Monarchie und Gründung der Republik führt. 774 Bei Livius setzt die Handlung nicht mit Tullia selbst ein, sondern mit den ehrgeizigen Plänen des jüngeren Tarquinius, der aufgrund seiner direkten Abstammung von Tarquinius Priscus Anspruch auf den Thron erhebt. In den Augen der Bevölkerung ist allerdings der alte Servius Tullius der rechtmäßige Herrscher, da er die Macht nun bereits seit vielen Jahren praktisch ausübt. 775 Die offene Anschuldigung, Servius Tullius habe ohne die Zustimmung des Volkes die Macht an sich gebracht, bezieht sich auf die List der Tanaquil, welche ihn damals unter Umgehung der bis dahin üblichen Wahl dem Volk als Nachfolger ihres Mannes präsentiert hat. Darin liegt freilich eine gewisse Ironie, da der junge Tarquinius selbst seinen Anspruch auf den Thron nicht auf den Willen der Bevölkerung, sondern auf seine Abstammung gründet. Servius, der von den Anschuldigungen erfahren hat, lässt sich durch das Volk, das ihm aufgrund seiner pro-plebeischen Politik gewogen ist, als König bestätigen. 776 Tarquinius, der folglich über das Volk nichts gegen Tullius ausrichten kann, setzt daraufhin auf den Senat als Verbündeten bei seinen Bestrebungen und versucht diejenigen Senatoren auf seine Seite zu ziehen, die dem Tullius aufgrund seiner volksfreundlichen Haltung abgeneigt sind. 777 Vor diesem Hintergrund tritt nun Tullia in Erscheinung. Zwar ist Tarquinius ohnehin ehrgeizig und auf einen Umsturz bedacht, doch wird er von ihr noch zusätzlich dazu angetrieben. 778 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 217 <?page no="218"?> extent that she will stop at nothing to help further her husband’s ambitions.” Die Unterstützung, die Tarquinius Superbus bei Livius auf seinem Weg zur Macht von Tullia erfährt, ist ja keineswegs altruistisch motiviert, ganz im Gegenteil: Tullia begeht ihre Verbrechen und stachelt Tarquinius an, weil sie selbst ihren Machttrieb befriedigen will und sich des Tarquinius nur bedient, um ihr Ziel umzusetzen. Von einem „excessively good wife” kann folglich nicht die Rede sein. 779 Liv. 1,46,4: Hic L. Tarquinius - Prisci Tarquini regis filius neposne fuerit parum liquet; pluribus tamen auctoribus filium ediderim - fratrem habuerat Arruntem Tarquinium mitis ingenii iuuenem. His duobus […] duae Tulliae regis filiae nupserant, et ipsae longe dispares moribus. Livius bevorzugt die Version, der zufolge Lucius Tarquinius nicht der Enkel, sondern der Sohn des Tarquinius Priscus und der Tanaquil gewesen sei. Hierdurch erhält sein Anspruch auf den Thron zwar mehr Gewicht, doch nicht mehr Legitimität, da die römische Monarchie keine Erbmonarchie war und erst unter Augustus die Weitergabe der Macht innerhalb einer Dynastie üblich wurde. 780 Liv. 1,46,6: Angebatur ferox Tullia nihil materiae in uiro neque ad cupiditatem neque ad audaciam esse; tota in alterum auersa Tarquinium eum mirari, eum uirum dicere ac regio sanguine ortum: spernere sororem, quod uirum nacta muliebri cessaret audacia. Die Charakterisierung als ferox fügt sich in den Tragödien-Vergleich, denn sie ist dazu angetan, Tullia in die Riege vom Affekt in den Untergang getriebener Frauengestalten wie Klytaimestra, Medea usw. einzureihen. Vgl. Cailleux (2017) 494 zu Tanaquil, Tullia und Damarata bei Livius: „Ces femmes apparaissent donc comme des conseillères douteuses parce que leur comportement et leurs paroles sont dominés par l’émotion et par l’excès.” Vgl. ebd. 497. 781 Liv. 1,46,7: Contrahit celeriter similitudo eos, ut fere fit: malum malo aptissimum[…]. 782 Vgl. Dazu Cailleux (2017) 493 sowie Calhoon (1997) 155. Hier erhält der Leser bereits einen deutlichen Hinweis, wie er das Folgende zu interpretieren hat: als Beispiel (exemplum) für eine griechische Tragödie auf römischem Boden, in der die Affekte der Protagonistin in einer Reihe von Verbrechen das gesamte Königshaus in den Abgrund stürzen und sogar eine neue Staatsform herbeiführen. Es folgt wie bei Dionysios der Blick in das Familienalbum. 779 Von der Schwester der Tullia, der ersten Ehefrau des Tarquinius, die bei Dionysios immerhin als handelnde Person (wenngleich namenlos) in die Erzählung eingeführt wird, erfährt der Leser des Livius an dieser Stelle nichts. Der Fokus ist allein auf Tullia gerichtet, die in ihrer Ehe mit dem sanften und stillen Arruns unzufrieden ist und sich unter ihren Möglichkeiten wähnt. Im Mann ihrer Schwester dagegen erkennt sie einen ihr ähnlichen Charakter und beginnt, sich ihm anzunähern; dies wird begleitet von Schmähreden gegen ihren Gatten und ihre Schwester. 780 Ihr Schwager Lucius fühlt sich aus dem gleichen Grund von ihr angezogen. 781 Doch ist es Livius zufolge alleine Tullia, von der der Impuls ausgeht, ihrer beider Traum von der Macht in die Tat umzusetzen: sed initium turbandi omnia a femina ortum est. 782 In geheimen Unterredungen mit Tarquinius gewährt sie ihm Einblick in ihre Denkweise und suggeriert ihm, dass sie im Gegensatz zu ihrer Schwester die 218 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="219"?> 783 Liv. 1,46,7-8. 784 Liv. 1,46,9. 785 Liv. 1,47,1-6. Zur Rhetorik der Tullia, die das männliche Selbstverständnis des Tarqui‐ nius angreift, s. McClain (2020) 232 f. Vgl. dazu Bonfante (1986) 233: „In Roman eyes the Tarquins were diminished as men. Their permissiveness is featured in the story of the famous rape of Lucretia, told in masterly fashion by Livy.“ 786 Liv. 1,47,7; auch an dieser Stelle zieht Livius die Parallele zur Tragödie, indem er die Einflüsterungen der Tullia als muliebribus […] furiis bezeichnet. Vgl. dazu Seita (2000). 787 Liv. 1,47,8-12. Tarquinius streicht das Unrechtmäßige und Unwürdige heraus, das von der damaligen Funktion der Tanaquil ausgeht, da Servius Tullius die Herrschaft nicht auf legitime Weise und durch eigenen Verdienst erlangt habe, sondern muliebri dono. 788 Hudson (2016) 224 f. ist der Ansicht, dass die Darstellung von Tullias Verbrechen bei Livius den Leser dazu animiere, die Perspektive ihres Opfers Servius Tullius einzunehmen und ihn als den positiven Helden der Erzählung zu betrachten. 789 Liv. 1,48,1-4. 790 Liv. 1,48,5: Creditur, quia non abhorret a cetero scelere, admonitu Tulliae id factum. geeignete Partnerin zur Erlangung seiner Ziele wäre. 783 Ihre Reden, die Livius im Gegensatz zu Dionysios nur indirekt wiedergibt, zeigen Wirkung: Nahezu zeitgleich versterben die Schwester der Tullia und Arruns, woraufhin die beiden nun Verwitweten heiraten, ohne die Zustimmung des Servius Tullius zwar, doch unternimmt dieser auch nichts, um die Heirat zu verhindern. 784 Livius schildert, wie Tullia nun auch noch ihrem eigenen Vater nach dem Leben trachtet, um Königin zu werden: Unablässig bedrängt sie ihren Mann und hetzt ihn auf. Eine ihrer Reden gibt Livius direkt wieder, in der sie eine ähnliche Rhetorik anwendet wie die Tullia des Dionysios und Tarquinius insbesondere mit dem Vorwurf mangelnder Männlichkeit unter Druck setzt. 785 Von seiner Frau angetrieben, sichert Tarquinius sich zur Vorbereitung des Staatsstreiches die Unterstützung der Patrizier; 786 er begibt sich mit einer Gruppe bewaffneter Gefolgsleute auf das Forum und nimmt in der Kurie auf dem Königsthron Platz, um die Senatoren zu einer Versammlung einzuberufen und vor ihnen eine Schmährede auf Servius Tullius zu halten, welche in erster Linie auf die zweifelhaften Umstände von dessen Thronbesteigung abhebt. 787 Wie bei Dionysios erscheint daraufhin der rasch herbeigerufene Servius Tullius und es kommt unter beider Anhängern zum Tumult, zumal auch die aufgeregte Bevölkerung von draußen hereindrängt. Da packt Tarquinius seinen alten Schwiegervater und schleudert ihn die Stufen der Kurie hinunter. Dem von seinem verschreckten Gefolge verlassenen Servius Tullius 788 bleibt nichts anderes übrig, als, von dem Sturz geschwächt, den Heimweg anzutreten, auf dem er von den Dienern des Tarquinius eingeholt und ermordet wird. 789 Livius fügt den etwas vagen Satz hinzu, dass dieser Mord, wie man glaubt, auf den Rat der Tullia hin begangen worden sei, da sie ja auch vor den übrigen geschilderten Verbrechen nicht zurückgeschreckt sei. 790 Zumindest 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 219 <?page no="220"?> 791 Das Motiv der Frau im carpentum ist in der römischen Literatur negativ konnotiert, da die im Wagen fahrende Frau als potenziell bedrohlich, weil mit zu großer Macht ausgestattet, wahrgenommen wurde. S. Hudson (2016) 218. 792 Liv. 1,48,5-7. In dieser Szene setzt Livius mit besonders kräftigem Kolorit die Farben der Tragödie ein, indem er die Leichenschändung des Tullius als foedum inhumanumque scelus bezeichnet; Tullia wird als amens, agitantibus furiis sororis ac uiri beschrieben, die durch ihre Freveltaten den Zorn der Götter herausfordert und ihren Untergang heraufbeschwört. S. für den Bezug zur Tragödie ausführlich Hudson (2016) 220-223. 793 Liv. 1,59,13: Inter hunc tumultum Tullia domo profugit exsecrantibus quacumque ince‐ debat inuocantibusque parentum furias uiris mulieribusque. Auch 1,59,11 ist von ihr die Rede, als die Römer beschließen, Tarquinius mit Frau und Kindern zu verbannen, allerdings wird dort ihr Name nicht genannt. Das mit Macht und Bedrohung der Ordnung assoziierte Motiv der Frau im Wagen, für das Tullia paradigmatisch steht, ist hier umgekehrt, s. Hudson (2016) 233: „[…] note that Tullia is driven into exile as a roving pedestrian […].“ Mit der Erwähnung der aus der Stadt fliehenden Tullia versinnbildlicht Livius die Vertreibung der Tarquinier, denn die männlichen Mitglieder der Familie halten sich zum Zeitpunkt des Geschehens im Feldlager auf und können somit nicht als Flüchtende dargestellt werden, s. Michels (1951) 19. 794 Ebenso Michels (1951) 15. wisse man ziemlich sicher, dass sie mit ihrem Wagen aufs Forum gefahren sei, um dort ihren Mann als neuen König zu begrüßen, und, von ihm nach Hause geschickt, den Weg durch die Gasse genommen habe, in der der Leichnam ihres Vaters auf der Erde lag; nach der Untat, die sie dort begangen habe, sei die Gasse auf immer als vicus sceleratus benannt worden, da Tullia trotz des Widerstands des Wagenlenkers voll Raserei über den Toten hinweg gefahren sei. 791 Hierbei habe dessen in die Höhe spritzendes Blut ihren Wagen und ihr Gewand befleckt, wodurch sie bei ihrer Rückkehr ihr Haus entweiht und die Penaten erzürnt habe. Es sei absehbar gewesen, dass diese Entweihung die Rache der Götter in Form des Sturzes der Tarquinier nach sich ziehen würde. 792 Bei Livius ist die Geschichte der Tullia allerdings mit der Schändung ihres Vaters noch nicht zu Ende: Sie tritt noch einmal auf der Flucht in Erscheinung, als die Römer die Tarquinier aus der Stadt vertreiben. 793 6.2.2.2.3 Die Darstellung der Tullia bei Dionysios und Livius im Vergleich Stellt man nun die beiden Tullias, die des Dionysios und die des Livius, einander gegenüber, so lässt sich anders als bei Tanaquil in der Charakterisierung eine weitgehende Übereinstimmung konstatieren. 794 Beiden Autoren gilt sie als exemplarische Frevlerin, die, angetrieben von skrupelloser Machtgier, nicht vor schwersten Verbrechen wie parricidium und Leichenschändung zurückschreckt, um ihr Ziel der Königswürde für sich und ihren Ehemann zu erreichen. Um den Leser von dieser Sichtweise zu überzeugen, setzen die Antiquitates Romanae 220 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="221"?> 795 Vgl. Kapitel 4.5.1.3 und 5.3.2.1.2. 796 Vgl. ant. 4,39,2 mit Liv. 1,48,5. 797 Liv. 1,47,6: nec conquiescere ipsa potest, si, cum Tanaquil, peregrina mulier, tantum moliri potuisset animo, ut duo continua regna uiro ac deinceps genero dedisset, ipsa regio semine orta nullum momentum in dando adimendoque regno faceret. Vgl. Calhoon (1997) 156: „The tone of this passage is extremely ironical: Tullia’s aemulatio of her grandmother’s accomplishments is perverted because it focuses exclusively on the latter’s political genius, not on those virtues that the women of elite families were usually encouraged to imitate - chastity and loyalty to the family (patri similes uno de coniuge nati), thriftiness, and wool-working (lanam fecit).“ Zu Tullias Drang, es ihrer Großmutter gleichzutun, vgl. auch Michels (1951) 22 und Kowalewski (2002) 89f. 798 Vgl. Seita (2000) 486 f. und Michels (1951) 16-20. 799 Liv. 1,46,7-8. allerdings stärker auf direkte Leserlenkung und auf den kombinierten Einsatz erzählerischer Mittel: Sie ziehen gleichsam alle Register der erzählerischen Gestaltungsmöglichkeiten, um Tullia als exemplum einer pervertierten Frau (und einer pervertierten Monarchie) zu präsentieren. 795 Livius dagegen setzt diese sparsamer ein, wie er auch insgesamt in seiner Darstellung der Tullia wesentlich konziser vorgeht als Dionysios, weniger und kürzere direkte Reden in den Erzählfluss integriert und die oratio obliqua bevorzugt. Er verzichtet auf die ausführliche Beschreibung von Emotionen, wie sie bei Dionysios wiederholt vorkommt, ebenso wie auf Passagen, die derart plakativ an die Empathie des Lesers appellieren wie beispielsweise die Schilderung des Greises Servius Tullius, der von seinem Schwiegersohn die Stufen zum comitium hinabgestürzt wird und blutüberströmt und hilflos in sein Haus zu fliehen versucht. Zwar findet sich diese Szene auch bei Livius, doch ist sie dort wesentlich reduzierter ausgeführt. Auch geht die Ermordung des Servius Tullius bei Dionysios explizit auf eine Rede der Tullia zurück, während Livius sich nicht eindeutig festlegt, ob wirklich Tullia die Urheberin dieses Verbrechens war. 796 Andererseits macht Livius etwas explizit, das bei Dionysios allenfalls sehr indirekt angedeutet wird: Tullia ist eine ins Negative übersteigerte Tanaquil aus eigenem Antrieb. Sie will keine geringere Rolle bei der Erhebung von Königen spielen als diese, sie vielleicht gar übertreffen, indem sie nicht nur Herrschaft stiftet, sondern auch nimmt. 797 Weiterhin erwähnt Livius ausdrücklich, dass die römische Geschichte Tullias Handeln einen wahren Tragödienstoff zu verdanken habe. Sie bereitet mit ihren Verbrechen den Sturz des tarquinischen Königshauses vor, der ja tatsächlich in Acciusʼ Brutus eine dramatische Verar‐ beitung erfahren hatte. 798 Bei Dionysios ist es allein die oftmalige Erwähnung der ἀνοσιότης, die den Leser an die Tragödie und ihre Frauengestalten denken lässt. Wenn er bewusst Signale setzt, die auf eine verwandte Gattung verweisen, so sind es solche auf die politische Rhetorik: Während Tullia bei Livius 799 L. Tarqui‐ 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 221 <?page no="222"?> 800 Vgl. Wiater (2018) 104 f. Anm. 342. 801 Liv. 1,47,2-5: non sibi defuisse cui nupta diceretur, nec cum quo tacita seruiret; defuisse qui se regno dignum putaret, qui meminisset se esse Prisci Tarquini filium, qui habere quam sperare regnum mallet. „Si tu is es cui nuptam esse me arbitror, et uirum et regem appello; sin minus, eo nunc peius mutata res est quod istic cum ignauia est scelus. Quin accingeris? […] Aut si ad haec parum est animi, quid frustraris ciuitatem? Quid te ut regium iuuenem conspici sinis? Facesse hinc Tarquinios aut Corinthum; deuoluere retro ad stirpem, fratri similior quam patri.“ 802 Ant. 4,29,6: γυνή σοι σύνεστι μηδὲν ἐοικυῖα τοῖς σοῖς τρόποις, ἥ σε κηλοῦσα καὶ κατᾴδουσα μαλθακὸν ἀποδέδωκε, καὶ λήσεις ὑπ᾽ αὐτῆς γενόμενος ἐξ ἀνδρὸς τὸ μηδέν […]. 803 Vgl. die Formulierung Val. Max. 6,1,1: dux Romanae pudicitiae Lucretia. nius Superbus mit persönlichen Schmähungen gegen ihre Schwester und dessen Bruder von ihrem Vorhaben zu überzeugen trachtet, benutzt sie bei Dionysios die Terminologie griechischer Rhetorik über Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die freilich in ihrem Munde ihre eigentliche Bedeutung verliert. 800 Eine Gemeinsamkeit in der Darstellung betrifft den Aspekt der Gender-Ironie, der, wie wir gesehen haben, bei Livius bereits in der Rede der Tanaquil an Servius Tullius angelegt ist und den er in der Rede der Tullia wieder aufgreift. 801 In beiden Fällen sind die traditionellen Geschlechterrollen verkehrt, indem die Frau die eigentlich dem Mann zukommende Rolle der aktiv Handelnden usurpiert und den Mann mit dem Attribut der Passivität im Sinne mangelnder Männlichkeit versieht. Dionysios setzt in der großen Rede der Tanaquil eine derartige Inver‐ sion der Geschlechterrollen nicht ein, doch er wendet sie an, als Tullia in ihrer hortativen Rede an Tarquinius Superbus diesen zum gemeinsamen Vorgehen gegen die patriarchalische Ordnung, verkörpert durch Servius Tullius, auffor‐ dert. 802 Auf diese Weise distanzieren die Antiquitates die beiden Frauenfiguren voneinander: Tanaquil fügt sich stärker in ein idealisiertes Weiblichkeitsbild ein, während Tullia als extrem unweibliche Figur charakterisiert ist. Livius hingegen konstruiert für beide eine ähnliche Rolle transgressiven Handelns. 6.2.2.3 Lucretia Lucretia galt dem römischen Denken als Inbegriff der weiblichen Tugend, als feminines exemplum virtutis par excellence, insbesondere der Keuschheit, da sie sich nach der Vergewaltigung durch Sextus Tarquinius eigenhändig das Leben nahm und den Tod einem Leben als entehrte Frau bzw. als Frau eines Tyrannen vorzog. 803 In der Regel beruft man sich auf Livius als Quelle für den Lucretia-Stoff, da dessen Geschichtswerk die bekannteste Schilderung der Sage 222 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="223"?> 804 Daneben haben auch andere antike Autoren das Schicksal der Lucretia thematisiert, wie etwa Ov. fast. 2,723-852; Val. Max. 6,1,1; Cic. rep. 2,46. Zu den lateinischen Quellen s. Kowalewski (2002) 125-128 und Geldner (1977) 95 f. Geldner (1977) 13 unterscheidet in der Lucretia-Geschichte acht Motive: 1. die Wette um die edelste Frau, 2. die treusorgende Gattin und pflichterfüllte Ehefrau, 3. die Schönheit und Reinheit der Frau und die gerade dadurch erregte Leidenschaft des Mannes, 4. der Verwandte als Verführer, 5. die Frau als Opfer eines politischen Machthabers, 6. das gebrochene Gastrecht, 7. die Verleumdung, 8. die durch Selbstaufopferung des Lebens gerettete weibliche Keuschheit. 805 Diod. 10,20,1-22,5. Vgl. dazu Fögen (²2002) 22 und Geldner (1977) 95 f., der die These ver‐ tritt, Livius und Diodor seinen dem Dionysios unbekannt gewesen, ebd. 96: „Sicherlich hätte er sie mit seiner Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe (1,6,5) bei einer Benutzung aufgeführt, vor allem da er den gleichen Stoff wie der römische Historiker behandelt, dieser für die Römer, er selbst für die Griechen (1,4f).“ 806 Eine ausführliche Gliederung der Darstellung bei Dionysios unternimmt Geldner (1977) 97. 807 Der negative, ja offen tyrannische Charakter des Tarquinius Superbus wird bereits bei dessen erster Erwähnung hervorgehoben, vgl. ant. 4,41,1-2. Daran schließt sich ein langes Register seiner Schandtaten an, im Grunde besteht das ganze vierte Buch aus der Schilderung der Degenerierung des Königtums unter seiner Herrschaft. 808 Hier erscheint deutlich das Motiv des Unrechtmäßigen, da explizit gesagt wird, Tarqui‐ nius belagere Ardea unter einem Vorwand, der wahre Grund für die Belagerung aber sei seine Habgier (ant. 4,64,1). 809 Ant. 4,64,1. bietet. 804 Allerdings verarbeitet Dionysios den Stoff in weit umfangreicherer Form als seine wohl unmittelbaren Zeitgenossen Livius und Diodor, der den Stoff ebenfalls in sein Werk aufgenommen hat. 805 Da die Antiquitates Romanae sich neben anderen Zielsetzungen auch als exempla-Literatur in griechischer Sprache für ein römisches Lesepublikum präsentieren, hätte Dionysios auf die Lucretia-Sage nicht verzichten können. Allerdings setzt er in seiner Version eigene Akzente, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 6.2.2.3.1 Lucretia in den Antiquitates Romanae Die Grundzüge der Sage sind bei Dionysios die gleichen wie bei den römischen Autoren: 806 Unter Tarquinius Superbus, dessen hochfahrendes Verhalten bei der Bevölkerung schon seit geraumer Zeit Anstoß erregt, 807 befindet sich die Stadt Rom im Krieg gegen die Rutulerstadt Ardea, die Tarquinius in typischer Tyrannenmanier aus Habgier in seine Gewalt bringen will. 808 Die Belagerung zieht sich in die Länge, die Römer sind ihrer inzwischen müde und zur Revolte gegen den König bereit. 809 Vor diesem Hintergrund schickt Tarquinius seinen ältesten Sohn mit Namen Sextus in militärischer Mission in die benachbarte Stadt Collatia, wo er im Haus eines Verwandten gastlich aufgenommen wird, eines gewissen L. Tarquinius Collatinus. Dieser ist mit der Römerin Lucretia 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 223 <?page no="224"?> 810 S. Kapitel 4.5.3.2. und 4.5.4. 811 S. Kapitel 4.5.2.2. 812 Ant. 4,66,2. 813 Ant. 4,66,3. Hier ist die Kontrastierung mit Tanaquil und Tullia auffallend: Während diese ihre zentralen Reden unter Ausschluss der Öffentlichkeit halten, geht Lucretia genau gegenteilig vor und verschafft sich für das, was sie zu sagen hat, ein möglichst großes Publikum. Bei Lucretia wird das Private dadurch letztlich öffentlich-politisch, bei Tanaquil und Tullia das Politisch-Öffentliche zur Privatsache. 814 Ant. 4,67,1. Bemerkenswert ist, dass diese Rede der Lucretia nicht wiedergegeben wird. Doch weiß der Leser ja bereits um das Vorgefallene und kann somit an dieser Stelle sein Wissen abrufen. 815 Es handelt sich wohl um die erneute Bitte, das ihr zugefügte Unrecht zu rächen, obgleich der Erzähler sich zum Inhalt der Bitten nicht äußert. verheiratet. Es ergibt sich, dass Collatinus abwesend ist, und Sextus Tarquinius nutzt die Gelegenheit, um Lucretia zu vergewaltigen. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich ihm zu ergeben. 810 Am darauffolgenden Morgen verlässt Sextus in aller Frühe das Haus des Collatinus und begibt sich zu seinem Heer. Dominierte bisher seine Figur die Erzählung, so richtet sich nun die Perspektive auf die Frau, die entehrt zurückbleibt, auf ihre Emotionen und ihren Umgang mit dem Ehrverlust: Sie leidet sehr darunter und macht sich eilends auf den Weg nach Rom zu ihrem Vater, im Trauerhabitus und mit einem Dolch unter ihrem Umhang verborgen. 811 Dionysios lässt Verwandte zufällig bei ihrem Vater weilen, als sie dort eintrifft. Ohne Umschweife eilt sie sofort auf den Vater zu und umfasst seine Knie im Gestus einer griechischen Schutzflehenden. Vom Vater liebevoll nach dem Grund für ihren Kummer befragt, spricht Lucretia erstmals in der Erzählung in direkter Rede: Ἱκέτις ἔφη γίνομαί σου πάτερ δεινὴν καὶ ἀνήκεστον ὑπομείνασα ὕβριν, τιμωρῆσαί μοι καὶ μὴ περιιδεῖν τὴν σεαυτοῦ θυγατέρα θανάτου χείρονα παθοῦσαν. 812 „Deine Schutzflehende“, sprach sie, „bin ich, Vater, die einen schrecklichen und nicht wiedergutzumachenden Übergriff über sich ergehen lassen musste. Räche mich und sieh nicht zu, wie deine eigene Tochter Schlimmeres als den Tod erlitten hat! “ Die Familie versteht nicht, was gemeint ist, doch Lucretia besteht darauf, sich erst vor einer möglichst großen Menge an Zeugen zu erklären, ihr Vater solle rasch Leute herbeirufen, so viele wie nur möglich. 813 Der Vater kommt ihrem Wunsch nach; nachdem er Freunde und weitere Verwandte hat kommen lassen, spricht Lucretia von der erlittenen Vergewaltigung durch Sextus Tarquinius. 814 Sie schließt eindringliche Bitten an den Vater und die umstehenden römischen Männer an, 815 fleht zu den Göttern um einen raschen Tod und erdolcht sich. 224 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="225"?> 816 Ant. 4,67,1-2. Diese Szene, die sich so detailliert nur hier findet, hat bei der Diony‐ sios-Forschung Anstoß erregt. Vgl. dazu Geldner (1977) 103: „In dieser gräßlichen Beschreibung, die der Darstellung des Livius und dem Kurzbericht Diodors gegenüber‐ steht, läßt sich am deutlichsten der Stil der rhetorisch-pathetischen Geschichtsschrei‐ bung fassen.“ 817 Die Lucretii waren eine der ältesten und vornehmsten gentes in Rom, der Überlieferung nach war sogar der zweite König von Rom, Numa Pompilius, mit einer Lucretia verheiratet. 818 Vgl. Geldner (1977) 102. 819 Wenn auch in der Antike der Akt der Vergewaltigung an sich im Vergleich zu heute als weniger gravierendes Verbrechen angesehen wurde und in manchen Kontexten (Vergewaltigung von Sklavinnen oder im Krieg erbeuteten Frauen) beinahe als legitim erachtet wurde, war in Rom die Vergewaltigung von Frauen und Kindern doch nach der lex Iulia de vi unter Strafe gestellt. Vgl. Doblhofer (1994) 63; zur Lucretia-Episode als einer besonders berühmten Vergewaltigungserzählung ebd. 9-17, allerdings ohne Bezugnahme auf die literarische Ausformung bei Dionysios. Im Falle der Lucretia interpretiert Doblhofer (1994) 13 die von Lucretia veranlasste Versammlung ihrer Ange‐ Darauf folgt eine gefühlsbetonte Schilderung ihres Sterbens im Kreis der Familie. 816 Im Hinblick auf die Interpretation der Lucretia-Episode, wie sie bei Dionysios erzählt wird, gilt es zunächst, die Protagonistin näher zu beleuchten. Sie selbst ist etwas blasser gezeichnet als bei Livius, spielen doch bei Dionysios die Verwandtschaftsbeziehungen, durch die Lucretias Rolle definiert ist, eine stärkere Rolle als ihre Individualität als Frau. So begegnet sie dem Leser zunächst in der Rolle der Ehefrau des Collatinus und der Tochter eines angesehenen Römers und ist somit unter rechtlichem Gesichtspunkt eine freie Römerin. Dionysios geht, wenn auch nur in wenigen Worten, auf die Herkunft der Lucretia ein, wohl wissend, dass römische Rezipienten um die Bedeutung des Namens Lucretius wussten. 817 Die Abwesenheit des Ehemannes gehört zur Sage und ist unabdingbar für den Gang der Handlung, doch sie bewirkt zusammen mit der Szene im Haus des Vaters, dass Lucretias Rolle als Tochter stärker her‐ vorgehoben wird als die der Ehefrau. 818 Der Leser erfährt zudem gleich zu Beginn von bestehenden Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sextus Tarquinius und Collatinus. Lucretia entspricht also den Familienpflichten und dem Gastrecht, indem sie Sextus mit der gebührenden Freundlichkeit im Hause ihres Mannes aufnimmt. Es bedarf im Grunde kaum der Erwähnung, dass das Vergehen des Sextus aus diesen Bedingungen heraus umso verwerflicher erscheint, da er sich mit der Vergewaltigung seiner Gastgeberin zum einen gegen das Gastrecht selbst vergeht, zum anderen aber die verwandtschaftlichen Beziehungen seiner Familie zu der des Collatinus missachtet und sich darüber hinaus auch noch an einer freien römischen Bürgerin und verheirateten Frau vergeht. 819 Durch das 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 225 <?page no="226"?> hörigen als „altrömisches Familiengericht“, das eigentlich Ehebrecherinnen innerhalb der Familie zu verurteilen und zu strafen hatte. 820 Vgl. Kunst (2007) 253. 821 Ant. 4,64,4. 822 Der Begriff σωφροσύνη umfasst laut LSJ: „1. soundness of mind, prudence, discretion; sanity (opp. μανία); 2. moderation in sensual desires, selfcontrol, temperance“. 823 Zur Kontrastfunktion vgl. Wiater (2018) 163 Anm. 275. Dionysios spricht explizit von der „abartigen und verderblichen Begierde“ des Sextus Tarquinius (ant. 4,66,1: πονηρὰ καὶ ὀλέθριος ἐπιθυμία). 824 Zur Tyrannentopik in der Charakterzeichnung des Sextus Tarquinius vgl. Wiater (2018) 165 Anm. 278. Vgl. ferner Dunkle (1971); Delcourt (2005) 339-345. 825 Ant. 4,64,4. 826 Vgl. Michels (1951) 19. Vergehen des Sextus Tarquinius ist nach römischer Auffassung nicht nur die Ehre der Lucretia als Frau verletzt worden, sondern darüber hinaus die Ehre ihres Ehemannes Collatinus und ihrer gesamten Familie. 820 Insgesamt dient die erste Hälfte der Erzählung vornehmlich der Charakte‐ risierung des Sextus Tarquinius. Lucretia wird dagegen mit vergleichsweise wenigen und darüber hinaus weitgehend stereotypen Eigenschaften einer römischen matrona belegt: Neben den Angaben zu Herkunft und Familie erfährt der Leser über sie weiterhin lediglich, dass sie unter den römischen Frauen durch ihre äußere Erscheinung und ihre Sittsamkeit herausragt. 821 Jedoch haben diese beiden Eigenschaften weniger eine Funktion an sich als vielmehr in ihrem Bezug auf die Figur des Sextus Tarquinius: Es ist natürlich Lucretias Schönheit, an der sich sein Begehren entzündet, und ihre offenkundige Keuschheit, die als zusätzlicher starker Reiz (und als Herausforderung) auf ihn wirkt. Während bei Livius die pudicitia der Lucretia eine enorme Rolle spielt und mit Nach‐ druck als ihr hauptsächliches Charaktermerkmal hervorgehoben wird, steht die σωφροσύνη 822 in der Version des Dionysios eher im Hintergrund, wie überhaupt die Lucretia-Gestalt hinter der des Sextus Tarquinius zunächst zurücktritt. Die Eigenschaft der σωφροσύνη dient in erster Linie als Folie, um die negativen Charakterzüge des Sextus Tarquinius, vor allen Dingen seine Triebhaftigkeit und mangelnde pietas/ ὁσιότης, umso deutlicher hervortreten zu lassen. 823 Zu diesen Charaktermerkmalen eines Tyrannen, mit denen Dionysios die Figur des Sextus Tarquinius ausstattet, 824 gesellt sich ferner Hinterlist bzw. Heimtücke; der Leser erfährt, dass Sextus nicht in spontaner Leidenschaft für die Frau des Collatinus entbrennt, sondern sie bereits seit geraumer Zeit begehrt - er begegnet ihr nicht zum ersten Mal, 825 doch eröffnet sich ihm bei seinem jetzigen Aufenthalt durch die Abwesenheit des Collatinus erstmals die Möglichkeit, sein sexuelles Verlangen zu befriedigen, und er zögert nicht, die Gelegenheit zu seinem Vorteil zu nutzen. 826 Ob er sein Vorhaben schon länger 226 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="227"?> 827 S. Kapitel 5.3.1. 828 Vgl. Wiater (2018) 165 Anm. 279. 829 Ant. 4,65,2-3. 830 Diod. 10,20,2. 831 Vgl. dazu Schubert (1991) 83. 832 Ant. 4,65,4. im Geheimen geplant hat, erfährt der Leser nicht, doch es ist anzunehmen - zumindest hat er, als sich spontan die Gelegenheit bietet, sofort einen praktika‐ blen Plan bei der Hand, wie er sein Ziel umsetzen kann, was auf eine gewisse Vorbereitungszeit schließen lässt. Seine Vorgehensweise ist eine Kombination von Gewalt (Schwert, Drohungen, Erpressung) und List (Umgehen der Sklaven, Versprechungen). 827 Auch in der eigentlichen Vergewaltigungsszene, als Sextus in das Schlafge‐ mach der Lucretia eindringt, steht der Mann im Vordergrund. Als Handelnde kann in dieser Szene Lucretia zwar schwerlich in Erscheinung treten, doch auch ihre Gedanken und Emotionen werden nur sparsam angedeutet. Es ist auch einzig Sextus, der spricht. 828 Lucretia stellt lediglich die Frage nach seinem Namen, und auch dies nur in indirekter Rede. Dionysios lässt Sextus vor Lucretia eine Rede halten, in der er sie vor die Wahl stellt, ihm entweder zu Willen zu sein und an seiner Seite Königin zu werden oder von ihm getötet und neben einen ebenfalls toten Sklaven gelegt zu werden, um einen Ehebruch ihrerseits vorzutäuschen. 829 Das Angebot der Teilhabe an der Herrschaft, das bereits knapp bei Diodor 830 erscheint und motivisch dem Angebot der Frau des Kandaules an Gyges bei Herodot verpflichtet ist, 831 fehlt bei Livius. Dionysios gibt ihm in Sextusʼ Rede breiten Raum. Lucretia aber denkt über dieses Angebot nicht einen Augenblick lang nach, sondern erwägt vor ihrer Entscheidung, sich Sextus zu fügen, nur die Folgen des ehrlosen Todes. 832 Diese Diskrepanz - ein im Verhältnis zur Dramatik der Situation auffallend breit ausgeschmücktes Angebot der Teilhabe an der (Tyrannen-) Herrschaft gegenüber der Nicht-Beachtung dieses Angebots auf Seiten Lucretias - veranschaulicht die Botschaft, die Dionysios hier vermitteln will: Weiblicher Anstand und Freiheitsliebe, Ablehnung von Ehebruch und Ablehnung ungerechter Herrschaft sind Ausdruck ein und desselben Charakterzuges. Durch ihr Vorbild aktiviert Lucretia später eben denselben Charakterzug in der römischen Bevölkerung, der dann in einem römischen Männern gemäßen Handeln resultieren wird - dem entschlossenen Aufstand gegen die Tarquinier. In der Forschungsliteratur zur Lucretia-Episode bei Dionysios und Livius hat man die fehlende Schilderung von Emotionen in der Vergewaltigungsszene moniert und eine mangelnde emotionale Aktivierung des Rezipienten konsta‐ 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 227 <?page no="228"?> 833 Vgl. Wiater (2018) 165 Anm. 279: „Der Leser wird bei beiden Autoren bestenfalls minimal involviert.“ 834 Ant. 4,66,1. 835 Ant. 4,66,1: ἡ δὲ Λουκρητία δεινῶς φέρουσα τὸ συμβεβηκὸς ὡς εἶχε τάχους ἐπιβᾶσα τῆς ἀπήνης εἰς Ῥώμην ᾤχετο, μέλαιναν ἐσθῆτα περιβαλομένη καὶ ξιφίδιόν τι κρύπτουσα ὑπὸ τῇ στολῇ, οὔτε προσαγορεύουσα κατὰ τὰς συναντήσεις οὐδένα τῶν ἀσπαζομένων οὔτ᾿ ἀποκρινομένη τοῖς μαθεῖν βουλομένοις ὅ τι πέπονθεν, ἀλλὰ σύννους καὶ κατηφὴς καὶ μεστοὺς ἔχουσα τοὺς ὀφθαλμοὺς δακρύων. 836 Ant. 4,66,2-3. 837 Ant. 4,67,1: καὶ μετὰ τοῦτ᾿ ἀσπασαμένη τὸν πατέρα καὶ πολλὰς λιτανείας ἐκείνου τε καὶ τῶν σὺν αὐτῷ παρόντων ποιησαμένη θεοῖς τε καὶ δαίμοσιν εὐξαμένη ταχεῖαν αὐτῇ δοῦναι τὴν ἀπαλλαγὴν τοῦ βίου πέπλοις, καὶ μίαν ἐνέγκασα διὰ τῶν στέρνων πληγὴν ἕως τῆς καρδίας ὠθεῖ. tiert. 833 Dies ist insoweit zutreffend, als der Erzähler in beiden Fällen keine direkten Appelle an den Leser richtet und in der Tat die Emotionen der Beteiligten, insbesondere die der Lucretia, nur am Rande erwähnt. Dennoch ist das Ausmaß des Schreckens, das ihr von Seiten des Sextus Tarquinius angedroht wird, dem Leser so unmittelbar einleuchtend, dass es keiner weiteren Worte des Erzählers bedarf. Mit dem Wechsel von Nacht zu Tag und mithin auch mit dem Wechsel des Schauplatzes erfolgt bei Dionysios nach der Vergewaltigungsszene auch ein Wechsel der Personenperspektive und der Rolle des aktiv Handelnden. Als Sextus Tarquinius am Morgen das Haus des Collatinus verlässt, wird Lucretia aktiv und nimmt den Umgang mit der ihr zugefügten Befleckung selbst in die Hand. Und hier werden nun auch ihre Gefühle deutlicher geschildert als bisher: Der Leser erfährt explizit, dass sie unter der Entehrung „furchtbar leidet“ (δεινῶς φέρουσα τὸ συμβεβηκὸς), und erlebt die Eile, mit der sie nach Rom fährt, um ihre Verwandten zu verständigen. 834 Dionysios schildert den Aufbruch nach Rom denn auch bewusst in asyndetischer Manier, die Handlungen der Lucretia folgen in raschem Staccato aufeinander. 835 Es ist ihr offensichtlich wichtig, dass alles schnell vonstattengeht: Ihr rasches Handeln wird hervorgehoben, sie fährt zu ihrem Vater, lässt sich unterwegs nicht durch Passanten aufhalten; bei ihrem Vater angekommen, eilt sie ohne Umschweife zu ihm und drängt ihn, mit der Rache keine Zeit zu verlieren und schnell Zeugen herbeizurufen. 836 Der Grund für die Eile, die sie antreibt, wird erst offenbar, als sie die Götter um einen raschen Tod bittet und sich das Leben nimmt: 837 Sie kann, mit dem Makel der Vergewaltigung befleckt, nicht mehr weiterleben und will so schnell wie nur möglich sterben. Lucretia erscheint an diesem Tag als entschlossene Frau, die zwar leidet, doch genau weiß, was sie zu tun hat: Ihre Reaktion auf das ihr zugefügte Leid besteht nicht aus Hilflosigkeit oder passiver Verwirrung. Sie geht vielmehr planvoll und 228 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="229"?> 838 Ant. 4,63,1: διὰ γυναικὸς ὕβριν γαμετῆς, ἣν ὁ πρεσβύτατος αὐτοῦ τῶν παίδων Σέξτος διέφθειρεν, ἐξελαύνεται τῆς τ᾿ ἀρχῆς καὶ τῆς πόλεως. 839 An dieser Stelle erfolgt die erste Erwähnung der Lucretia in den Antiquitates. Die Stelle ist in ihrem genauen Wortlaut umstritten, da die handschriftliche Überlieferung keine Einheitlichkeit bietet. Gesichert ist allerdings die Bezeichnung ὕβρις für die Vergewaltigung der Lucretia durch Sextus Tarquinius, welche dadurch explizit in die Tyrannentopik eingereiht wird. Die gesamte Herrschaft des Tarquinius ist von dessen ὕβρις gekennzeichnet, wie die lange Schilderung seiner Regierungszeit dem Leser vor Augen führen soll. S. Wiater (2018) 161 Anm. 266. Vgl. auch Delcourt (2005) 345-352. 840 Ant. 4,63,2-3. 841 Ant. 4,63,3. überlegt vor, denkt noch daran, sich in Trauergewänder zu kleiden und sich mit einem Dolch auszustatten. Letzteres legt die Folgerung nahe, dass ihr Entschluss, sich zu töten, unmittelbar - oder zumindest bald - nach der Vergewaltigung feststand. Die Antiquitates Romanae widmen der Lucretia-Sage breiten Raum, jedoch übertrifft die Darstellung der politischen Ereignisse, welche die Vergewaltigung einer Frau hier nach sich zieht, die eigentliche Schilderung ihres Schicksals um ein Vielfaches an Länge. Bereits dies lässt vermuten, welche Interessen Dionysios verfolgt. So wird die Episode denn auch eröffnet mit einer rein dem Politischen geltenden kleinen Ouvertüre. Einerseits erfolgt hier die erste Erwähnung der Lucretia und ihres Schicksals, doch das Interesse des Erzählers gilt primär den innenpolitischen Folgen für den römischen König, wie der Kon‐ text zeigt. 838 Dem Leser wird ausdrücklich mitgeteilt, dass Tarquinius Superbus wegen der Vergewaltigung einer Frau aus Rom vertrieben wurde und nicht aus einem anderen, unmittelbar politischen, Grund. 839 Allerdings ist der Leser durch die vorangegangene Charakterisierung seiner Regierungszeit bestens über die Abneigung informiert, die Patrizier und Plebs gegen ihn hegen, und sieht in der Lucretia-Episode den sprichwörtlichen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Bei Dionysios wird dem Tarquinius durch ein Vogelorakel das bevorstehende Ende seiner Herrschaft angekündigt. Obgleich Tarquinius die Bedeutung dieses Vorzeichens klar erfasst, vermag er nichts dagegen zu unternehmen, dass das Schicksal seinen Lauf nimmt. 840 Die Lucretia-Episode zeitigt zwei für Dionysios zentrale Konsequenzen: einerseits die Vertreibung der Könige und damit die Gründung der römischen Republik und andererseits den Zusammenschluss von Patriziern und Plebeiern zu einem Kollektiv, das ein gemeinsames Ziel (den Sturz des Tyrannen) verfolgt und die von Servius Tullius initiierte Spaltung überwindet. 841 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 229 <?page no="230"?> 842 Livius weist der Lucretia-Episode eine entscheidende Bedeutung nicht nur für die römische Geschichte, sondern auch als Strukturelement seines Textes zu, s. Milnor (2008) 157. Zu Lucretia bei Livius insgesamt s. Kowalewski (2002) 107-123. 843 Liv. 1,57,6. 844 Liv. 1,57,7. 845 Liv. 1,57,8-9. Livius betont hier die Häuslichkeit der Lucretia: in medio aedium. Vgl. dazu Calhoon (1997) 155: „Unlike the princesses, whose unproductive and wasteful merrymaking parallels their husbandsʼ ineffective conduct at the camp, Lucretia’s activity not only indicates an emotional attachment to her absent husband, but also exemplifies the economic and patrimonial purpose of female chastity, which connected the production of labor and the preservation of its fruits with the production of legitimate heirs to the husband’s patrimony.“ Vgl. auch Bonfante (1986) 233, die auf die Nähe der Erzählung zu etruskischen Darstellungen der Bildenden Kunst verweist: „The story contrasts the classical Greek and Roman picture of the seated matron working the wool, surrounded, like a good materfamilias, by her household servants, with the picture (well known now from Archaic Etruscan paintings from Tarquinia) of elegant Etruscan ladies reclining with the men on banquet couches, amid musicians, dancers, and servants bringing food and drink […]. From a Roman point of view, Lucretia clearly won.“ Dazu Meyers (2016) 312, der zufolge die Verbindung der Römerin Lucretia mit privater Wollarbeit einen Kontrast zu der in antiquarischer Tradition mit der Herstellung öffentlich-zeremonieller Männerkleidung assoziierten Etruskerin Tanaquil beinhaltet. 846 Liv. 1,57,10. 847 Im Gegensatz zur Schilderung des Dionysios, dieser hatte angemerkt, Sextus Tarquinius habe schon länger das Verlangen empfunden, Lucretia zu besitzen. 6.2.2.3.2 Lucretia bei Livius Die Lucretia-Geschichte in Ab urbe condita weicht in ihrem Aufbau in mancher Einzelheit von der Darstellung des Dionysios ab. 842 Eingeleitet wird sie ebenfalls mit einer Beschreibung der Belagerung Ardeas: Die vornehme römische Jugend, die aufgrund der langen Belagerung Zerstreuung sucht, befindet sich bei einem Gastmahl bei Sextus Tarquinius. Zufällig kommt das Gespräch auf die Ehefrauen der jungen Männer. 843 Die Anwesenden loben die ihre jeweils in hymnischen Tönen, die Stimmung heizt sich zu einem regelrechten Frauen-Wettstreit auf. Lucretias Ehemann Collatinus, ein Verwandter des Sextus Tarquinius, macht den Vorschlag, die Ehefrauen unangekündigt aufzusuchen, um ihr Verhalten während der langen Abwesenheit ihrer Männer zu überprüfen - dabei würde zweifellos seine Frau Lucretia durch ihre Schönheit und Tugend den Sieg davontragen. 844 Sie sprengen noch in derselben Nacht nach Rom, wo sie die etruskischen Frauen der Oberschicht in Schwelgerei und vergnüglicher Geselligkeit vorfinden; einzig Lucretia treffen sie wie angekündigt im Kreise ihrer Dienerinnen bei der Wollarbeit an. 845 Sie empfängt ihren überraschend eingetroffenen Mann und seine Begleiter freundlich. 846 Offenbar begegnet Sextus Tarquinius der Lucretia bei diesem Anlass zum ersten Mal. 847 Ihn ergreift 230 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="231"?> 848 Vgl. Michels (1951) 19, der Wettstreit unter den Männern bei Livius „leads directly and logically to Sextus Tarquin’s seeing Lucretia and conceiving his passion for her“. 849 Liv. 1,57,11. 850 Liv. 1,58,1-2. 851 Liv. 1,58,4. Vgl. dazu Joshel (2008) 181: „Throughout the events leading up to and including the rape, Livy’s Lucretia is […] silent. Although the rape scene is highly dramatic, Livy gives us only Tarquin’s actions: he waits until the household is asleep, he draws his sword, he enters Lucretia’s bedroom, he holds her down, he speaks, pleads, and threatens. Lucretia is mute. Like Verginia’s, her terror eliminates speech, and her chastity makes her obdurate: she is a silent stone.“ 852 Die genauen Zeitangaben, die Dionysios dem Leser zur Orientierung bietet, fehlen bei Livius. Es ist jedoch anzunehmen, dass man sich auch bei ihm die Abreise des Sextus Tarquinius am Morgen nach der Vergewaltigung denken muss. 853 Liv. 1,58,7-8. sogleich eine mala libido Lucretiae per uim stuprandae, denn sowohl ihre Schönheit als auch ihre castitas üben einen starken Reiz auf ihn aus. 848 Wie bei Dionysios handelt es sich keineswegs um Liebe, sondern um eine explizit als verwerflich gekennzeichnete sexuelle Begierde, die der Mann notfalls mit Gewalt befriedigen will. Nachdem Collatinus nun also als Sieger aus diesem „Frauen-Wettstreit“ hervorgegangen ist, reiten die Männer zurück ins Lager vor Ardea. 849 Wenige Tage später kehrt Sextus Tarquinius heimlich nach Collatia zurück und wird von der ahnungslosen familia des Collatinus gastfreundlich aufge‐ nommen; welchen Vorwand er für sein Erscheinen verwendet hat, erfährt der Leser nicht. Als er das Haus schlafend wähnt, dringt er, mit seinem Schwert bewaffnet, in Lucretias Gemach ein. 850 Noch bevor sie ihrerseits sprechen kann, spricht er: Sie solle schweigen, er sei Sextus Tarquinius, wenn sie auch nur einen Laut hören lasse, werde er sie töten. Lucretia erweist sich im Angesicht der drohenden Vergewaltigung als furchtlos und gibt selbst dann nicht nach, als Sextus ankündigt, er werde sie töten. Da droht ihr Sextus wie bei Dionysios mit dem inszenierten Ehebruch mit einem Sklaven und erreicht so sein Ziel. 851 Nachdem Sextus Tarquinius wieder abgereist und Lucretia voll Kummer über die erlittene Entehrung zurückgeblieben ist, 852 schickt sie Boten nach Rom zu ihrem Vater und nach Ardea zu ihrem Ehemann: Sie sollen mit wenigen treuen Freunden zu ihr kommen. Lucretius und Collatinus leisten der Aufforderung sogleich Folge und finden Lucretia betrübt in ihrem Gemach vor. Diese bricht bei ihrem Erscheinen in Tränen aus und berichtet auf die besorgte Nachfrage ihres Gatten hin, was ihr zugestoßen ist. 853 Man versucht sie damit zu trösten, dass die Vergewaltigung ja gegen ihren Willen geschehen und sie daher schuldlos 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 231 <?page no="232"?> 854 Liv. 1,58,9. S. Fögen (²2002) 35 f. zur Weigerung der Lucretia, den juristischen Grundsatz, dem zufolge ohne böse Absicht auch keine Schuld bestehe, auf sich anzuwenden, da sie durch das Erleiden der Vergewaltigung unrein geworden ist, auch wenn sie selbst kein Unrecht begangen hat. 855 Liv. 1,58,10-11. Zu Lucretias Rolle als Opfer für die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung bei Livius s. Calhoon (1997) sowie Fögen (²2002) 36. 856 Liv. 1,59,1-2. Der Schwur über einer weiblichen Leiche war laut Calhoon (1997) 165 in der griechisch-römischen Antike eine ritualisierte Praxis, bevor man in den Krieg zog. 857 Vgl. Wiater (2018) 166 Anm. 280. 858 So auch Hudson (2016) 217 f., der zudem darauf verweist, dass Frauen in der lateinischen Literatur in der Regel als unbeweglich und nicht als Reisende dargestellt werden. sei; 854 doch sie verkündet, keine unkeusche Frau solle jemals die Möglichkeit haben, sich auf sie als exemplum zu berufen, und stößt sich vor aller Augen einen Dolch ins Herz. 855 Brutus, ein Freund ihres Mannes, schwört daraufhin, den blutigen Dolch in der Hand, an den Tarquiniern Vergeltung zu üben und künftig keinen König in Rom mehr zu dulden. Die übrigen Männer schließen sich dem Schwur an, da sich ihre Trauer über den Tod der Lucretia in Zorn gegen die Tyrannenherrschaft gewandelt hat. 856 6.2.2.3.3 Die Darstellung der Lucretia bei Dionysios und Livius im Vergleich Sowohl bei Dionysios als auch bei Livius ist die Darstellung der Lucretia ambivalent, was ihre Einordnung in Kategorien des typisch Weiblichen anbe‐ langt. Lucretia ist bei keinem der beiden Autoren als eindeutig „weiblich“ oder „unweiblich“ charakterisiert; vielmehr legt sie sowohl weiblich als auch männlich konnotierte Verhaltensweisen an den Tag. In der Zuschreibung dieser Verhaltensweisen und deren Funktionalisierung gehen die beiden Autoren unterschiedlich vor und setzen je eigene Akzente, die mit der unterschiedlichen Intention ihrer Werke und auch mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen zusammenhängen. Diese Unterschiede sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. So ist bemerkenswert, dass Lucretia in der Darstellung des Dionysios den οἶκος ihres Ehemannes verlässt, um sich zu ihrem Vater nach Rom zu begeben. Anders bei Livius: Dort verharrt sie in ihrem Haus und lässt die Angehörigen zu sich rufen. 857 Die Schilderung des Livius entspricht hier dem traditionellen Stereotyp der römischen matrona und ihrer engen Bindung an das Innere des Hauses, an Herd und Familie. Dieser Unterschied in der Präsentation ist umso auffälliger, als gerade in der Lebenswelt der Antike das umgekehrte Verhältnis herrschte und die römische Frau größere Bewegungsfreiheit genoss als die griechische. 858 Dass also gerade der römische Autor die Frau zu Hause bleiben 232 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="233"?> 859 Calhoon (1997) 152 weist darauf hin, dass Lucretia als weibliches Opfer für den Staat in einer Reihe mit Rhea Silvia, Tarpeia, Horatia und Verginia stehe, jedoch unter diesen durch ihren Status als matrona eine Ausnahmeerscheinung darstelle. Zu Lucretia als exemplum pudicitiae bei Livius vgl. auch Stevenson (2011) 186f. 860 Ein weiterer Autor, der Lucretia zum exemplum pudicitiae stilisiert, ist Cassius Dio. Auch er hat die Kontrastierung des ausschweifenden Lebensstils der Etruskerinnen auf der einen und der keuschen Häuslichkeit der Lucretia auf der anderen Seite, s. Cass. Dio F 11.14. Vgl. Mallan (2014) 763. 861 Ant. 4,45,3-4. Vgl. dazu Freund (2008) 313, der sich auf Livius bezieht. Jedoch ist seine Aussage ebenso auf die Antiquitates Romanae anwendbar: „In der Argumentation des Icilius erscheint die pudicitia […] als stark emotionsbehaftetes letztes Freiheitsgut, das es zu verteidigen gilt, nämlich als die Sicherheit von Frauen und Kindern vor triebgeleiteter Tyrannenwillkür.“ Vgl. dazu ant. 4,67,2: Die römischen Männer rufen einstimmig aus, es sei zehnmal besser, im Kampf für die Freiheit umzukommen, als derartige Schandtaten der Tyrannen hinzunehmen. und der griechische sie selbständig nach Rom reisen lässt, zeigt, wie sehr die livianische Darstellung darum bemüht ist, die Figur der Lucretia als exemplum der sittsamen, einhäusigen matrona zu zeichnen, welche ihren Wirkungskreis nicht überschreitet und im Privaten agiert. 859 Insbesondere das berühmte Bild der im Kreise ihrer Dienerinnen mit Wollarbeit beschäftigten Lucretia dient als einprägsames Beispiel für weibliche häusliche Tugend und altrömische Sittsamkeit, zumal in der Kontrastierung mit der Schilderung der etruskischen Prinzessinnen, die mit dem Motiv der τρυφή arbeitet. 860 Offensichtlich ist es Dionysios weniger als Livius um die exemplum-Funk‐ tion der Lucretia zu tun. Er greift diese zwar auf, doch ist die σωφροσύνη bei ihm ein Nebenmotiv, das zugunsten der politischen Implikationen im Hintergrund bleibt. Er verzichtet darauf, die pudicitia bzw. σωφροσύνη zu einem zentralen Motiv seiner Darstellung zu machen. Im Vordergrund steht vielmehr zunächst die politische Dimension. Dies zeigt auch die Figur des Sextus Tarquinius, dessen Motive und Emotionen genauer beleuchtet werden und dessen Charakter und Handlungen in das Gesamtbild der Tyrannenherrschaft seines Vaters eingepasst werden. Die Geschichte der Lucretia dient somit dazu, die Ruchlosigkeit der Tarquinierherrschaft zu exemplifizieren, und erweist sich hierfür als besonders geeignet, mehr noch als die innen- und außenpolitischen Grenzüberschreitungen des Tarquinius Superbus. Wenn die Tyrannenwillkür selbst bis in das Innerste der römischen Familie vordringt und das Wohl von Frau und Herd gefährdet, so hat dies eine andere Dimension als der Umstand, dass der Herrscher die Senatoren in einer Versammlung brüskiert. 861 Die Forschungsliteratur hat mithin bestritten, dass in der Lucretia-Episode in den Antiquitates eine der pudicitia bei Livius gleichzusetzende Eigenschaft überhaupt vorhanden sei. So heißt es in der Analyse von Stefan Freund: „Aus 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 233 <?page no="234"?> 862 Freund (2008) 323. 863 Freund (2008) 323 Anm. 122. 864 Ant. 4,66,2; 4,66,3; je nach Auslegung auch 4,67,1. 865 Ant. 4,64,4: ταύτην τὴν γυναῖκα καλλίστην οὖσαν τῶν ἐν Ῥώμῃ γυναικῶν καὶ σωφρονεστάτην. Die Junktur könnte natürlich auch eine Floskel sein, mit der Dionysios der römischen Überlieferung entgegenkommt, die Lucretia als exemplum pudicitiae schon vor seiner und des Livius Darstellung kannte. Ebenso könnte es sich um ein formelhaftes Epitheton handeln, denn ant. 4,1,2 wird die Mutter des Servius Tullius, Ocrisia, mit der gleichen Wendung charakterisiert. Vgl. Delcourt (2005) 324 Anm. 93. 866 Ant. 4,65,4. 867 In diesem Punkt weiterführend ist zudem die Interpretation von Joshel (2008) 170-172, die den männlichen Tarquiniern in der Darstellung des Livius einen Mangel an discip‐ lina attestiert, da sie ihren Körper und dessen Bedürfnisse nicht unter Kontrolle haben. Diese Auffassung von disciplina überschneidet sich mit dem Begriff der σωφροσύνη der Lucretia bei Dionysios, da auch diese die (körperliche) Selbstbeherrschung als wesent‐ liches Kriterium beinhaltet. Vgl. Mallan (2014) 765-767 zum Konzept der σωφροσύνη, insbesondere bei der Lucretia des Cassius Dio. [dem zuvor vorgenommenen] Vergleich zwischen Livius und der Parallelüber‐ lieferung ergibt sich Folgendes: Lucretia ist bei Cicero „schamhaft“ (pudens), bei den Griechen σώφρων, was „besonnen“ auch im Umgang mit Begierden, also: „keusch“ heißen kann, aber kein geschlechtsspezifisches Attribut ist. Eine Entsprechung für pudicitia, zumal als Lucretias Handlungsmotiv, findet sich nicht.“ 862 Weiterhin heißt es dort zum Handlungsmotiv der Lucretia, es sei „bei Dionysios von Halikarnass […] zunächst Furcht, dann Rache, was Lucretia antreibt.“ 863 Diese Interpretation greift meines Erachtens zu kurz; so wäre die Motivierung des Selbstmordes aus dem bloßen Rachegedanken heraus für den Leser unbefriedigend - wie sollte dies als effektive Rache an Sextus Tarquinius zu verstehen sein? Das Rachemotiv spielt in den Bitten der Lucretia an ihren Vater freilich eine gewichtige Rolle: Sie drängt ihn wiederholt, Vergeltung zu üben für die Schande, die sie erlitten hat. 864 Allerdings handelt es sich hierbei explizit um Rache für die Entehrung ihres Körpers. Zudem wird Lucretia zu Beginn der Erzählung als die schönste und sittsamste der römischen Frauen 865 eingeführt, und auch wenn man diese Formulierung lediglich als Formel auf‐ fasst, so ist als Grund, weshalb sie die Vergewaltigung über sich ergehen lässt, die Furcht vor der angedrohten Entehrung durch den inszenierten Ehebruch genannt. 866 Diese Furcht kann nur aus ihrer pudicitia/ σωφροσύνη erwachsen - würde Lucretia nicht über diese Eigenschaft verfügen, so hätte sie keine Furcht empfinden können und die Erpressung des Sextus Tarquinius hätte ihre Wirkung verfehlt. Eine Differenzierung zwischen Schamgefühl/ pudicitia und der hier beschriebenen Furcht vor Schande, wie Freund sie vornehmen will, halte ich folglich für kaum möglich. 867 234 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="235"?> 868 Liv. 1,58,10: „Vos“ inquit, „uideritis quid illi debeatur: ego me etsi peccato absoluo, supplicio non libero; nec ulla deinde impudica Lucretiae exemplo uiuet.“ 869 Liv. 1,58,8: Sex. est Tarquinius qui hostis pro hospite priore nocte ui armatus mihi sibique, si uos uiri estis, pestiferum hinc abstulit gaudium. Indirekt ist dieser Appell an die Männlichkeit auch in der Gegenüberstellung uos - ego in 1,58,10 enthalten. 870 S. Wiater (2018) 166 Anm. 281, der zudem auf Calhoon (1997) 165 f. verweist. Vgl. auch McClain (2020) 234, die in den Figuren der Sabinerinnen, Tanaquil, Tullia und Lucretia bei Livius ein wiederkehrendes Muster erkennt, da alle diese Frauen ihre männlichen Verwandten erfolgreich zu einer Verhaltensänderung auffordern. 871 S. McClain (2020) 234: „As a result of her words and suicide, these men [sc. die Patrizier um Lucretia] lead the Roman people to rise up and throw the Tarquin family out of Rome. Lucretia’s words to the men are also a direct challenge to Sextus, who used direct speech to address her […]. Livy shifts the power from Sextus to Lucretia by having her use direct speech to identify Sextus, tell her story and give her own command to the men. Livy has the men respond only in indirect speech to separate them from Sextus and to keep the focus on Lucretia’s words. Lucretia’s rejection of Sextus’ attempt to silence her seals not only his destruction but that of the monarchy.“ Die Reduzierung der exemplum-Funktion zeigt sich darüber hinaus in einem weiteren Umstand: Unmittelbar vor dem Akt der Selbsttötung hält Lucretia bei Livius eine direkte Rede, in der sie den Vorbildcharakter ihrer Tat herausstellt und die römischen Männer zu entsprechendem Handeln aufruft. 868 Eine derar‐ tige Rede fehlt bei Dionysios; auch gibt es keinen Hinweis der Erzählerstimme auf den exemplarischen Charakter von Lucretias Agieren. Zwar bedient Brutus sich ihrer als exemplum, als er zu der Volksversammlung spricht, doch eine so explizite Botschaft an den extradiegetischen Adressaten wie bei Livius findet sich auch dort nicht. Mit den beiden Reden der Lucretia bei Livius und ihrem Appell an die römischen Männer, das Vergehen des Sextus Tarquinius zu vergelten, verbindet sich zudem eine Inversion der Geschlechterrollen, die sich bei Dionysios so ebenfalls nicht findet. Die Lucretia des Livius unterstützt ihre Aufforderung zur Rache mit einem Appell an die Männlichkeit ihrer Adressaten. 869 Es ist die Frau, die den Männern vorgibt, was zu tun ist, und mit ihrer Selbsttötung als Beispiel für aktives und entschlossenes Handeln vorangeht. Lucretias „unweibliches“ Verhalten steht im Gegensatz zu dem Verhalten der Römer insgesamt, die die Tyrannenherrschaft des Tarquinius bis dato passiv erduldet haben. 870 Bereits der Umstand, dass Lucretia zwei direkte Reden hält, trägt zu dieser Umkehrung bei. Indem Lucretia das Wort ergreift, während die anwesenden Römer weitgehend stumm bleiben, kehrt sie die bisherigen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen um. 871 Demgegenüber stellt die Lucretia des Dionysios die Männ‐ lichkeit der Römer keineswegs direkt in Frage, sondern bestätigt diese vielmehr, indem sie ihren Vater bittet, zusammen mit den Patriziern zu beraten, welche 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 235 <?page no="236"?> 872 Ant. 4,66,3: ὅταν δὲ μάθῃς τὰς κατασχούσας αἰσχρὰς καὶ δεινὰς ἀνάγκας, βούλευσαι μετ᾽ αὐτῶν, ὅντινα τιμωρήσεις ἐμοί τε καὶ σεαυτῷ τρόπον […]. 873 Ein Infragestellen der Männlichkeit der Patrizier findet in anderem Zusammenhang statt, als die emotionale Reaktion des Lucretius und des Collatinus auf den Tod der Tochter bzw. Ehefrau geschildert und mit der besonnenen und entschlossenen Haltung des Brutus kontrastiert wird, der sie auffordert, ihr Klagen einzustellen und stattdessen gegen die Tyrannen vorzugehen, s. ant. 4,70,2-3. S. auch die Rede des Brutus ant. 4,82,3-4, in der er die Römer dazu aufruft, dem „männlichen“ Beispiel der Lucretia nicht nachzustehen. 874 Ant. 4,66,2. 875 Ant. 4,67,1. 876 Zur Hikesie als spezifischem Bestandteil griechischer ritueller Praxis s. Gould (1973), der 94-100 die Rolle der τιμή hervorhebt, die der um Schutz angeflehten Person zukommt. Diese Art der τιμή scheint mir hier durch Dionysios mit dem von Lucretias Vater verkörperten Konzept der patria potestas verknüpft zu sein. 877 Livius lässt ihn auch einmal - wenn auch nur kurz - zu Wort kommen, s. Liv. 1,58,7; bei Dionysios spricht er im Zusammenhang mit Lucretias Tod überhaupt nicht. 878 Vgl. Peter (1874) 547, der zwar den hier vorliegenden Unterschied zur Darstellung des Livius erkennt, doch keine Erklärung dafür gibt. Art der Vergeltung sie vornehmen wollten. 872 In dieser Hinsicht kann man somit die Lucretia der Antiquitates als weniger transgressiv bezeichnen, da sie stärker auf weibliche Zurückhaltung angelegt ist. 873 Auch ist ihre Bitte um Vergeltung in der Tat mehr Bitte und Wunsch als Aufforderung: So kommt sie zu ihrem Vater in der Rolle der Schutzflehenden, umfasst seine Knie und bezeichnet sich selbst explizit als ἱκέτις; 874 bevor sie sich tötet, richtet sie viele Bitten (πολλὰς λιτανείας) 875 an ihn und die römischen Männer. Der bei Livius so deut‐ liche Aspekt der Inversion der Geschlechterrollen und der damit verbundenen Machtverhältnisse ist in der Darstellung des Griechen Dionysios ersetzt durch eine Assimilierung der Lucretia an griechische Traditionszusammenhänge. 876 Festzuhalten gilt es ferner, dass Lucretia in der Erzählung des Dionysios stärker in der Rolle der Tochter und weniger als Ehefrau gezeigt wird. Collatinus ist zwar per se eine blasse Figur, auch bei Livius. Jedoch tritt er in der livianischen Darstellung zumindest etwas deutlicher in Erscheinung, zunächst in der Szene des Frauenwettstreites und danach, als er auf Lucretias Benachrichtigung hin nach Hause eilt. 877 Bei Dionysios lässt Lucretia ihm keinerlei Nachricht über die Notsituation zukommen, in der sie sich befindet, und verlässt das Haus ihres Ehemannes, um in das ihres Vaters zurückzukehren, wo sie nur Familie und Freunde der gens über das Vergehen des Sextus Tarquinius in Kenntnis setzt. Collatinus ist bei ihrer Selbsttötung nicht anwesend und kommt erst später hinzu. 878 Die Beziehung zwischen Vater und Tochter wird von Dionysios als von Vertrauen geprägt dargestellt. So überlässt Lucretia sich erst dann ihren Emotionen, als sie sicher bei ihrem Vater angekommen ist und sich vor ihm 236 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="237"?> 879 Ant. 4,67,2: κραυγῆς δὲ καὶ θρήνου καὶ τυπετοῦ γυναικείου τὴν οἰκίαν ὅλην κατασχόντος ὁ μὲν πατὴρ περιχυθεὶς τῷ σώματι περιέβαλλε καὶ ἀνεκαλεῖτο καὶ ὡς ἀνοίσουσαν ἐκ τοῦ τραύματος ἐτημελεῖτο, ἡ δ᾿ ἐν ταῖς ἀγκάλαις αὐτοῦ σπαίρουσα καὶ ψυχορραγοῦσα ἀποθνήσκει. τοῖς δὲ παροῦσι Ῥωμαίων οὕτω δεινὸν ἔδοξεν εἶναι καὶ ἐλεεινὸν τὸ πάθος, ὥστε μίαν ἁπάντων γενέσθαι φωνήν, ὡς μυριάκις αὐτοῖς κρεῖττον εἴη τεθνάναι περὶ τῆς ἐλευθερίας ἢ τοιαύτας ὕβρεις ὑπὸ τῶν τυράννων γενομένας περιορᾶν. 880 S. Johner (1992) und Hudson (2016). Hudson sieht das Motiv darüber hinaus mit Asso‐ ziationen des Übergangs von der Rolle der Tochter zur Rolle der Ehefrau verbunden, s. ebd. 232. Die Fahrt der Lucretia zum Haus ihres Vaters würde demnach eine Aufhebung ihrer Rolle als Ehefrau des Collatinus und Rückkehr in die Tochter-Rolle bedeuten. 881 Lucretia konzipiert ihre Selbsttötung bei Dionysios als unpolitische Angelegenheit. Zu ihrem Vater spricht sie explizit nur von Rache für sich selbst und für ihn, s. ant. 4,66,2-3. Auch gibt sie als Begründung für die von ihr gewünschte Anwesenheit von Freunden und Verwandten an, diese sollten von ihr persönlich über ihre Entehrung informiert werden und nicht durch andere davon erfahren, s. 4,66,3. 882 Zur Distanzierung der Lucretia von typisch „weiblichem“ Verhalten dient auch das von Dionysios wiederholt eingesetzte Motiv des Dolches: Fögen (²2002) 26 Anm. 22 verweist in die Rolle der Schutzflehenden begibt. Der Vater geht liebevoll auf seine Tochter ein und ist von ihrem Selbstmord zutiefst erschüttert. Die Reaktion ihrer Angehörigen auf ihren Tod wird in einer gefühlsbetonten Szene detailliert geschildert. 879 Die stärkere Gewichtung der Vater-Tochter-Beziehung kann als bewusste Veranschaulichung des römischen Konzepts der patria potestas und damit als Ausdruck des kulturellen Vermittlungsanliegens der Antiquitates Romanae aufgefasst werden, wie ich in Kapitel 6.4 näher erläutere. Auch die bei Livius nicht vorhandene Fahrt der Lucretia zum Haus ihres Vaters, auf die eingangs bereits hingewiesen wurde, ist in diesem Sinne zu erklären. Allerdings verfügt die Beschreibung der Reise nach Rom durch Dionysios über eine weitere Konnotation. So konstruieren die Antiquitates über das Motiv des Wagens, den Lucretia für ihre Fahrt benutzt, eine Reihe dreier herausgeho‐ bener Frauen der römischen Frühgeschichte. Tanaquil reist mit ihrem Ehemann in einem Wagen nach Rom, ebenso wie Tullia mit ihrem Maultierkarren den Leichnam ihres Vaters schändet. Das Motiv der Dame auf dem Wagen erscheint in der griechisch-römischen Antike im Zusammenhang mit Erzählungen, die von Macht und deren Übernahme handeln. 880 Indem der Text es auf Lucretia anwendet, geht die Macht der etruskischen Frauen gewissermaßen auf sie über und führt dazu, dass sie diesen (und ihren Männern) entzogen wird. Lucretia ist somit wie Tanaquil und Tullia als Frau markiert, die auf den Fortgang der römischen Geschichte einwirkt, wenngleich sie dies nicht absichtsvoll und nicht aus politischer Motivation heraus tut. 881 Hierfür ist es erforderlich, sie selbständig reisen zu lassen, anstelle sie - wie bei Livius - zu Hause sitzen und Wollarbeiten verrichten zu lassen. 882 Der Niedergang des römischen Königtums 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 237 <?page no="238"?> darauf, dass die von Lucretia gewählte Art der Selbsttötung in der griechischen Antike unüblich war: „Griechische Frauen pflegten sich zu strangulieren.“ 883 So auch Wiater (2018) 171 Anm. 290. Vgl. die weiteren Erwähnungen der Lucretia ant. 4,70,1-2; 4,70,3; 4,70,5; 4,71,2; 4,76,3; 4,82,1-3. Bei Livius ist sie weiterhin stets namentlich genannt, s. Liv. 1,59,1; 1,59,3; 1,59,8. Vgl. ferner Michels (1951) 19: „Dionysius seems much more interested in Brutus and the actual founding of the republic, while Livy emphasizes the moral side of the story, the chastity of Lucretia, and the villainy of the Tarquins.“ Die moralische Verkommenheit der Tarquinier wird jedoch von Dionysios ebenfalls stark betont. vollzieht sich in den Antiquitates folglich über Stationen, die jeweils mit einer Frauenfigur akzentuiert sind. Der Befund, dass Lucretia sich bei Dionysios nicht selbst zum exemplum stilisiert und ihre Selbsttötung nicht als politische Angelegenheit betrachtet, mithin weniger aktiv in die Geschichte eingreift als bei Livius, legt den Schluss nahe, dass die Frau hier in erster Linie als Auslöser einer politischen Verände‐ rung fungiert, sie selbst also weniger von Interesse ist. Diese Interpretation wird bestätigt durch die Instrumentalisierung des Leichnams durch die Patrizier, um die römische Bevölkerung zu einmütigem Vorgehen gegen die Tarquinier zu motivieren, sowie durch den Umstand, dass mit dem Eintreffen des Brutus im Haus des Lucretius die Aufmerksamkeit auf die römischen Männer und die politischen Implikationen des Geschehens gerichtet wird (und bleibt), während von Lucretia nur mehr in peripherer und überwiegend unpersönlicher Form die Rede ist. 883 Sie verschwindet von der historischen Bühne, nachdem sie ihre Rolle als ἀιτία zu Ende gespielt hat. Dieser Aspekt wurde bereits in Kapitel 5.3.2.2.4. anhand der Rede des Brutus vor der Volksversammlung hervorgehoben. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Schilderung der Lucretia bei Dionysios und Livius deutliche Unterschiede aufweist. Gleichen die beiden Historiker einander weitgehend, was die Charakterisierung der Tullia betrifft, so setzen sie in der Darstellung der Tanaquil und der Lucretia je andere Akzente. Was im Fall des Dionysios damit verbunden ist, soll im Folgenden noch ausführlicher erörtert werden. 6.2.3 Zwischenergebnis Die drei untersuchten Frauenfiguren Tanaquil, Tullia und Lucretia sind in den Antiquitates Romanae eng mit politischen Entwicklungen und Umwälzungen verbunden und markieren bestimmte innenpolitische Situationen. Tanaquil ist für Dionysios der erste Schritt auf dem Weg in den Abgrund, auf den das römische Königtum sich zubewegt, denn eine Frau, die aktiv in die Politik eingreift, entspricht offensichtlich nicht der gängigen Vorstellung 238 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="239"?> 884 Vgl. Cailleux (2017) 502. 885 Ant. 4,4,7: τὸν πρεσβύτερον αὐτῶν ἀποδεῖξαι Ῥωμαίων ἡγεμόνα. Vgl. Wiater (2018) 45 Anm. 22. einer Römerin oder Griechin, die im Verborgenen wirkt und ihr Tun auf den ihr zugedachten Wirkungskreis der Familie und des Hauses beschränkt. Verlässt die Frau diesen Bereich und beginnt in der Öffentlichkeit zu agieren, zeitigt dies unweigerlich negative Konsequenzen für die Gesellschaft - im Falle der Tanaquil für das römische Königtum, das sich mit zunehmendem Einfluss der Frauen immer weiter von den ursprünglichen Normen und Werten entfernt, welche es groß gemacht haben. In Tanaquil ist die Vorläuferin der Tullia zu sehen insofern, als sie als erste „Königsmacherin“ auftritt und mit Klugheit und taktischem Geschick ihrem Schwiegersohn den Weg zum Thron ebnet. Allerdings trägt Tanaquil bei Dionysios nicht nur negative Züge. Vielmehr wird ihrer Rolle eine gewisse Ambiguität zugeschrieben, denn sie ist zum einen der erste Schritt auf diesem Weg des Niederganges, zum anderen wird sie jedoch als um die Rettung ihrer Familie besorgte Großmutter dargestellt und bekommt die Züge einer römischen matrona verliehen. Eine explizit negative Charakterisierung der Tanaquil fehlt bei Dionysios. Dennoch markiert sie bei ihm und bei Livius, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, gewissermaßen den Anfang vom Ende der Königsherrschaft. 884 In den Antiquitates führt die an sich legitime Sorge um die Familie zur zweifelhaften Empfehlung des Enkels, des späteren Tarquinius Superbus, als künftigen König, 885 und bewirkt über die Umgehung der herkömmlichen Gepflogenheiten der Königswahl ein Auseinan‐ derdriften von Patriziern und Plebeiern. Bei Livius eröffnet sie das Leitthema der sich ihrer passiven Rolle überhebenden Frau, deren extreme Ausprägung bei Tullia sichtbar werden wird und deren schlimme Auswirkungen für den Staat erst durch die in ihrer Konsequenz zwar auch „männliche“, aber durch die Verbindung mit pudicitia dennoch weiblich konnotierte Tat der Lucretia geheilt werden können. Tullia trägt bei beiden Autoren ausschließlich negative Züge. Sie sind sich einig darin, dass ihre negativen Charakterzüge, die sich insbesondere in der Anmaßung aktiver, aggressiver, männlich konnotierter Urheberschaft beim Nehmen und Stiften von Macht und Herrschaft äußern, Mitursache für den Niedergang des etruskischen Königtums sind. Leicht unterschiedlich sind aber die Formen, in der sich dies äußert. Bei Dionysios ist Tullia durch diverse Morde eine Familienzerstörerin, wie Tanaquil eine Familienbewahrerin gewesen war. Sie wird zudem stärker als politisch argumentierende Akteurin gezeigt als bei Livius, wo ihre Angriffe und Argumente eher persönlichen als (vorgeblich) rational politischen Charakter tragen. 6.2 Exemplarische Frauengestalten bei Dionysios und Livius 239 <?page no="240"?> 886 Im Unterschied zur griechichsprachigen Welt setzt in Rom die schriftliche Überliefe‐ rung erst um 250 v.-Chr. ein, s. Fantham et al. (1994) 211; 216. 887 Vgl. Fantham et al. (1994) 223: „[…] the legendary traditions about queens and other women of early Rome were shaped by writers of a later age, motivated by the need to represent a Roman past as heroic and virtuous as Athenian legend had made Theseus or the early kings of Attica. In the edifying exemplary tales of Cicero and the idealizing narrative of Virgil, Livy, or Ovid, the early Romans succeeded through moral excellence, and their wives and mothers raised their voices only like Veturia, to remind their menfolk of their duty to the country.“ Vgl. ferner Joshel (2008) 166f. Auch wenn Lucretias Schicksal gerade in der späteren Rezeption als exemplum für sich steht, ist ihre Figur in den Antiquitates, wie sich gezeigt hat, in vollem Umfang nur vor der Folie ihrer beiden etruskischen „Vorgängerinnen“ verständlich. War bei diesen das Verhältnis männlich und weiblich konno‐ tierter Charaktereigenschaften, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, in für antikes Denken bedenklicher Weise gestört, zeigt sie durch ihre Tat nicht unbedingt in erster Linie, was eine mulier pudica an sich und jederzeit in ver‐ gleichbaren Fällen tun sollte, sondern sie rettet gewissermaßen die verfahrene politische Situation, in die nicht nur das Handeln des Sextus Tarquinius und des Tarquinius Superbus, sondern auch der beiden anderen Frauen den Staat gebracht hat. Sie handelt entschlossen, ihre Aggressivität aber wendet sich nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst. Ihre Überlegungen gelten nicht dem Staat, der Macht oder der politischen Zukunft, sondern allein der eigenen Ehre und der Frage, wie die ihrem Haus zugefügte Schmach getilgt werden kann. Aber gerade dadurch wird ihre Tat in einem für die Römer positiven Sinn politisch: Sie führt zur Einführung der republikanischen Staatsform. 6.3 Bezüge zur lebensweltlichen Realität Es mag naheliegen, sich bei der Lektüre der Antiquitates Romanae die Frage zu stellen, inwieweit der Text ein historisch plausibles Frauenbild transportiert. In diesem Zusammenhang ist indes zu berücksichtigen, dass Dionysios zu seiner Zeit keinerlei Zugriff auf Quellenmaterial aus der römischen Frühzeit gehabt haben dürfte, welches ihm gesicherte Informationen über die Lebenssituation der damaligen Frauen hätte bieten können. Eine nach moderner Auffassung zuverlässige Präsentation der römischen Frau dieser Zeit lag in jedem Fall au‐ ßerhalb seiner Möglichkeiten. 886 Dionysios orientierte sich an dem Material, das das kulturelle Gedächtnis der Römer bot und das durch die Jahrhunderte immer wieder umgestaltet worden war. 887 Doch ist die Frage nach der Plausibilität seiner Darstellung zusätzlich insofern problematisch, als es sich bei den Anti‐ 240 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="241"?> quitates Romanae um einen antiken Geschichtstext handelt, der unter Maßgaben verfasst wurde, welche sich von denen heutiger Historiographie unterscheiden, und der sich als Literatur versteht, als erzählender Text, der Möglichkeiten der kreativen Anverwandlung des Stoffes bietet. Dies steht keineswegs im Widerspruch zur Absicht der Information und Wahrheitsvermittlung, die die Antiquitates verfolgen. Der Text präsentiert seinen Adressaten ein bestimmtes Bild der römischen Geschichte, das von diesen als Wahrheit rezipiert werden soll. Unter diesem Aspekt ist die Gestaltung des Textes in ihren Einzelheiten zu sehen, auch und gerade die Darstellung der Figuren und in unserem Zusam‐ menhang der weiblichen Figuren, die im römischen Geschichtsverlauf agieren und diesen mittelbar - wie Lucretia - oder unmittelbar - wie Tanaquil und Tullia - beeinflussen. Die Frauenfiguren, die dem Leser auf den Seiten der Antiquitates Romanae entgegentreten, stellen somit eine Kombination dar aus den Zügen, mit denen die römische Überlieferung sie im Laufe der Zeit ausgestattet hatte, und der literarischen Formung durch den Historiker Dionysios, der mit diesen Frauenfi‐ guren ein spezifisches Darstellungsziel verbindet. Dionysios schrieb als Grieche für ein überwiegend griechisch geprägtes Publikum über „römische“ Frauen. Die vorangegangene Betrachtung ausgewählter Frauenfiguren hat gezeigt, dass er in der Darstellung dieser Frauen römische mit griechischen Komponenten verbindet. So tritt Lucretia als griechische Schutzflehende auf, während sie zugleich durch die Betonung der Rolle des Vaters in einen spezifisch römischen Kontext eingeordnet wird. Aus diesem Grund sollte man die oben genannte Fragestellung umformu‐ lieren: Wenn es nicht darum gehen kann, inwieweit die Antiquitates Romanae die Lebenswirklichkeit der Frau im frühen Rom wiedergeben, so ist vielmehr danach zu fragen, ob sich im Text Reflexe der Wahrnehmung der Frau in augusteischer Zeit finden, die für die Darstellung von Bedeutung sind. Anders ausgedrückt: Spiegelt Dionysios kulturelle Werte oder Traditionen, die mit römischer oder griechischer Weiblichkeit in Verbindung stehen und zu seiner Zeit (noch) aktuell waren, in seine Gestaltung der Frauenfiguren hinein, und wenn ja, was tragen sie zur Aussageabsicht des Textes für den Adressaten bei? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein kurzer Abriss über das erforderlich, was wir über die tatsächliche Stellung bzw. das Ideal der Frau bei Etruskern, Römern und Griechen wissen. 6.3 Bezüge zur lebensweltlichen Realität 241 <?page no="242"?> 888 Vgl. den Abriss der Forschungsgeschichte bei Amann (2000) 190 f. sowie Bonfante (1986) 234. Als Vertreter der Matriarchats-These sind in erster Linie Bachofen ( 8 1993) und Euing (1933) zu nennen. 889 Bonfante Warren (1973) 246. Zum Mantel als Kleidung des athenischen Bürgers s. Hartmann (2010). 6.3.1 Die Stellung der etruskischen Frau Die Frage, inwieweit Autoren wie Dionysios und Livius sich in der Darstel‐ lung etruskischer Frauen an der tatsächlichen Lebenswelt der Etruskerinnen orientieren, hat in der Fachwelt für eine ebenso kontrovers geführte wie lang anhaltende Diskussion gesorgt. So waren namhafte Forscher versucht, die Berichte der Griechen und Römer über die angeblich sehr freie bis unschickliche gesellschaftliche Stellung der Etruskerinnen wörtlich zu nehmen und die Erzäh‐ lungen um das tatkräftige Wirken etruskischer Königinnen in Rom wie Tanaquil als historische Realität und damit einhergehend als Belege für die Existenz eines etruskischen Matriarchats zu betrachten. Diese Herangehensweise gilt inzwischen als überholt. 888 Inzwischen ist die Forschung gewissermaßen bei einem Kompromiss ange‐ langt: In den zurückliegenden Jahrzehnten konnte vor allem anhand der archäo‐ logischen Hinterlassenschaft der Etrusker und insbesondere ihrer Grabkultur vielfach nachgewiesen werden, dass Frauen in der etruskischen Gesellschaft eine angesehene Stellung innehatten und mehr gesellschaftliche Freiheiten genossen als die Griechinnen und Römerinnen der archaischen Zeit. Jedoch ist man heute weit davon entfernt, die Schilderungen, wie sie sich etwa bei Livius und Dionysios finden, als verlässliche Eins-zu-Eins-Wiedergaben etruskischer Lebenswirklichkeit anzusehen. Es ist offenkundig, dass die griechischen und rö‐ mischen Berichte über die angebliche Stellung der etruskischen Frau tendenziös sind und oftmals auf falschen Schlussfolgerungen beruhen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Es sind figürliche Darstellungen erhalten, die etruskische Frauen in einem Mantel zeigen, dessen Schnitt die römische Toga, die Bekleidung des römischen Bürgers, vorwegnimmt. Hieraus schlossen die Römer auf eine bürgerrechtliche Gleichstellung der etruskischen Frauen und Männer, obwohl diese so wahrscheinlich nicht existierte. 889 Das Bild, das Griechen und Römer sich von der Lebensweise der Etrusker machten, ist in mancherlei Hinsicht verzerrt und beruht zu einem guten Teil, wie das obige Beispiel zeigt, auf Fehlinformationen oder Missverständnissen. Zudem diente es der Definierung und Abgrenzung der eigenen Identität. So liegen diverse Darstellungen etruskischer Lebensweise von griechischen und römischen Autoren vor, doch ist bei ihrer Beurteilung Vorsicht anzuwenden, 242 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="243"?> 890 Bonfante (1994) 248 f.; Briquel (1999) 156-192, zur Stellung der etruskischen Frau v. a. 164-172; Meyers (2016) 305f. 891 Bonfante Warren (1973) 242. 892 Bonfante Warren (1973) 242. 893 Liv. 1,57,9. 894 Bonfante (1994) 245; Fantham et al. (1994) 211. Die archäologischen Quellen sind in Amann (2000) umfassend dargestellt und ausgewertet. da diese Texte in aller Regel keine objektiven Berichte darstellen, sondern die Tendenz zeigen, die etruskische Kultur als fremdes, barbarisches Gegenstück zur eigenen Zivilisation zu präsentieren, und durch die Anwendung entsprechender Topoi und Stereotype gekennzeichnet sind. So wird den Etruskern generell ein ausschweifender, luxuriöser Lebensstil zugeschrieben - τρυφή ist hier das Stichwort -, der ins Zügellose insbesondere in sexueller Hinsicht übergeht. 890 Die Etrusker galten als ausschweifend, sie standen in dem Ruf, ausgesprochen sinnlich und dem Lebensgenuss hingegeben zu sein, bis hin zum Vorwurf der Dekadenz. 891 Ihre Frauen waren für die stark patriarchalisch geprägten Nachbarkulturen umso interessanter, als sie sich von deren Frauenideal offenbar unterschieden und das freie Leben der Männer zu teilen schienen. 892 Die Tendenz, die etruskische Kultur zum Kontrastbild aufzubauen und darüber die moralische Überlegenheit der römischen mores herauszustellen, ist in Liviusʼ Schilderung der etruskischen Königsherrschaft in Rom deutlich zu erkennen. Man braucht sich nur die einprägsame Gegenüberstellung der idealen Matrone Lucretia mit den etruskischen Prinzessinnen ins Gedächtnis zu rufen, die die Rö‐ merin des Nachts im Kreis ihrer Dienerinnen bei der Wollarbeit zeigt, während die Etruskerinnen feiern. 893 Bezeichnenderweise findet sich diese Vignette bei Dionysios nicht. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass er kein Römer war und keine etwaigen römischen Unterlegenheitsgefühle gegenüber der älteren etruskischen Kultur kompensieren wollte. Bei Livius werden offensichtlich die Vorurteile, die andere Kulturen gegenüber den Etruskern im Allgemeinen und ihren Frauen im Besonderen hegten, instrumentalisiert, um das eigene Frauenideal zu konturieren und zu überhöhen. Sucht man sich ein Bild von der Lebenswelt der etruskischen Frau im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. zu machen, so sieht man sich zusätzlich zu der problema‐ tischen griechisch-römischen Quellenlage mit dem Problem kaum vorhandener etruskischer Quellen konfrontiert. Abgesehen von einem gewissen Bestand an Inschriften fehlt eine schriftliche Überlieferung aus etruskischer Hand zur Gänze, so dass man in erster Linie auf die materiellen Hinterlassenschaften wie Grabmalereien und Skulpturen angewiesen ist. 894 Zur Quellenproblematik gesellt sich eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit, namentlich die der kon‐ 6.3 Bezüge zur lebensweltlichen Realität 243 <?page no="244"?> 895 Hallett (1984) 14-17. 896 S. Heurgon (1961) 140; Bonfante (1994) 257; Briquel (1999) 171f. 897 S. Heurgon (1961) 140; Bonfante (1994) 257; Briquel (1999) 168-171. 898 S. Bonfante (1994) 245. 899 Darauf weist u.a. der Umstand hin, dass archäologische Funde die Etruskerin in der Regel mit Mantel und Schuhen bekleidet darstellen, also nicht in Hauskleidung, wie dies bei Darstellungen griechischer Frauen die Norm ist; s. Bonfante (1994) 252. 900 S. Heurgon (1961) 140; Bonfante (1994) 244 f.; 247; 249; Briquel (1999) 164. 901 Man denke an die berühmten Darstellungen verstorbener Paare auf etruskischen Sarkophagen; vgl. e.g. Bonfante (1994) 245-256; Briquel (1999) 173f. kreten Unterscheidung spezifisch etruskischer Lebensweisen und Gebräuche der Frauen von denen weiblicher Angehöriger anderer italischer Stämme der Frühzeit, da das frühe Rom ein Konglomerat zahlreicher Stämme darstellte, deren kulturelle Eigenarten sich miteinander vermischten. 895 An gesicherter Kenntnis über die Stellung der etruskischen Frau sind die folgenden Fakten zu nennen: Im Gegensatz zur römischen Frau, die keinen Individualnamen besaß, sondern über das Patronymikon (etwa Lucretia als Tochter des Lucretius) bezeichnet zu werden pflegte, verfügten Etruskerinnen über eigene Vornamen, die sie über den Bereich der Anonymität hinaushoben und ihnen eine eigene Persönlichkeit zugestanden, welche unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem männlichen Verwandten, einem Vater oder Ehe‐ mann war, als dessen „Anhängsel“ die römische Frau sich bereits in nomineller Hinsicht zu definieren hatte. 896 In etruskischen Inschriften steht darüber hinaus oftmals in der Namensformel der Gentilname der Mutter neben dem des Vaters, bisweilen wird auch der Individualname der Mutter genannt. 897 Archäologische Funde von gravierten Handspiegeln legen die Annahme nahe, dass die Lesefähigkeit bei etruskischen Frauen relativ verbreitet gewesen sein muss und keinesfalls auf das männliche Geschlecht beschränkt war. 898 Die stärkere Beschränkung des Frauenlebens auf den Bereich des „Innen“, die bei Griechen und Römern die Stellung der Frau definierte, und ihre weitgehende Unsichtbarkeit in der Öffentlichkeit scheint in der etruskischen Kultur nicht üblich gewesen zu sein. 899 So war es den Frauen möglich, als Zuschauerinnen bei öffentlichen Spielen aufzutreten sowie an Gastmählern an der Seite der Männer teilzunehmen. 900 Eine hohe Wertschätzung der Frau lässt sich auch an der vielfach bezeugten Praxis ablesen, Frauengräber mit einer nicht minder prächtigen Ausstattung zu versehen als die Gräber der Männer. Das Verhältnis von Ehefrau und Ehemann scheint von gegenseitiger Achtung und Zuneigung geprägt gewesen zu sein und nicht von Unterordnung der Frau wie im griechisch-römischen Kulturbereich. 901 244 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="245"?> 902 S. Heurgon (1961); Bonfante (1994) 245. 903 Treffend ausgedrückt im Titel von Richlin (2014). 904 S. Pomeroy (1985) 227 f.; Caldwell (2015). Die etruskische Frau war also nach allem, was wir wissen, im Vergleich zur Römerin und zur Athenerin in ihrem sozialen Umfeld mit weniger Restrik‐ tionen konfrontiert. In ihrer Kultur pflegte man offensichtlich einen freieren und ungezwungeneren Umgang der Geschlechter miteinander und erlaubte der Frau größere Individualität und einen höheren Status als in Griechenland und Rom. In der Forschung neigt man sogar dazu, für die etruskische Zivili‐ sation eine weitgehende Gleichberechtigung der Geschlechter im alltäglichen Leben anzunehmen, wenn diese auch nicht zwangsläufig eine juristische war. 902 6.3.2 Die Stellung der römischen Frau Was die Lebenswelt der Frau im frühen Rom betrifft, so hat man sich mit einer ähnlich ungünstigen Quellenlage abzufinden wie bei den Etruskerinnen, auch erweist es sich als schwierig, etwaige Veränderungen im Status der Frau, die sich von der Frühzeit bis in das 1. Jahrhundert v. Chr. vollzogen haben müssen, greifbar zu machen. Versucht man sich ein Bild von der Lebenspraxis der Römerin durch die Jahrhunderte zu machen, so kommt hinzu, dass das Objekt der Untersuchung ein stummes ist - Aussagen von römischen Frauen über ihr Dasein sind praktisch nicht überliefert und man ist im Bereich der literarischen Zeugnisse auf die Darstellungen von männlichen Autoren angewiesen. Die Stimme der Frauen selbst können wir nicht hören. 903 Der Umstand, dass die römische Frau in der Republik größere Freiheiten genoss als die Athenerin der klassischen Zeit, lässt sich auf den Einfluss des Hel‐ lenismus zurückführen, der den Griechinnen größere Freiräume ermöglichte. Diese neuen Möglichkeiten gelangten auch nach Rom und vermischten sich mit dem dortigen Weiblichkeitsideal, das die patriarchalisch geprägte Tradition geschaffen hatte. Mit diesem Befund hat man versucht, die Diskrepanz zwischen dem konservativ-restriktiven Frauenideal der Römer und der bereits in republi‐ kanischer Zeit davon in mancherlei Hinsicht abweichenden Lebenspraxis zu erklären, die der Römerin eine Bewegungsfreiheit zugestand, welche von Seiten des gesellschaftlichen Ideals nicht vorgesehen war. 904 Juristisch stand die Römerin während ihres gesamten Lebens unter der Vormundschaft des pater familias, der durch ihren nächsten männlichen Ver‐ wandten, zunächst durch ihren Vater, nach der Heirat in der Regel durch 6.3 Bezüge zur lebensweltlichen Realität 245 <?page no="246"?> 905 S. Pomeroy (1985) 229; Fantham et al. (1994) 227; Gardner (1995) 10-35; Berrino (2006) 10-13. Der Vater musste seine Tochter bei der Eheschließung nicht notwendigerweise in die manus ihres Ehemannes entlassen, vgl. Fantham et al. (1994) 231 f. Zudem bestand für die Frau die Möglichkeit, den Übergang in die manus des Ehemannes durch die Praxis des trinoctium zu umgehen, wenn sie sich alljährlich in drei aufeinander folgenden Nächten außerhalb des Hauses des Ehemannes aufhielt. Vgl. dazu Pomeroy (1976) 216 mit weiterführender Literatur. 906 S. Pomeroy (1985) 240 f.; 250 und (1976) 220. 907 Pomeroy (1985) 232; Fantham et al. (1994) 227. 908 Beard (1980) 21; Fantham et al. (1994) 234-237. Die Antiquitates erzählen die Geschichte der Vestalin Opimia, die entsprechend der üblichen Strafe für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit lebendig begraben wird, s. ant. 8,89,4-5. 909 Fantham et al. (1994) 227. 910 Dazu grundlegend Pomeroy (1976) sowie (1985) 231 f.; Hallett (1984); Fantham et al. (1994) 227. 911 Pomeroy (1976) 219 und (1985) 243. 912 Pomeroy (1985) 241. ihren Ehemann, verkörpert wurde. 905 Das übliche Heiratsalter der Römerin war wie in der Antike üblich recht jung, Augustus setzte das Mindestalter auf zwölf Jahre fest. 906 Unterstand die Frau der Machtbefugnis ihres Ehemannes, so besaß sie die gleiche rechtliche Stellung wie ihre gemeinsamen Töchter. 907 Eine Sonderstellung, welche größere Unabhängigkeit mit sich brachte, hatten lediglich die Vestalinnen inne, die aufgrund ihres religiösen Status von der traditionellen Familienstruktur losgelöst waren. 908 In beiden Lucretia-Erzählungen, der des Dionysios und der des Livius, spielt der Vater Lucretius eine Rolle, doch haben wir gesehen, dass Dionysios ihn stärker in den Vordergrund rückt als Livius. Dem Vater gegenüber hat der Ehemann Collatinus in den Antiquitates Romanae praktisch keine Bedeutung; es wird mit keinem Wort erwähnt, dass Lucretia nach ihm geschickt hätte. Die Pflicht, ihre Entehrung nicht ungesühnt zu lassen, überträgt sie zur Gänze ihrem Vater, also ihrer Herkunftsfamilie, der gens, der sie ursprünglich durch ihre Geburt angehörte und von der sie nach römischem Herkommen in die gens ihres Mannes überwechselte. 909 Diese herausgehobene Rolle des Vaters und dessen Vorrang vor dem Ehemann spiegelt in der Tat die römische Rechtslage republikanischer Zeit wider, welche dem Vater größere Machtausübung gegen‐ über seiner verheirateten Tochter erlaubte als deren Ehemann, sofern sie sich noch in seiner manus befand und nicht in der des Ehemannes. 910 So war es dem Vater beispielsweise gestattet, seine Tochter im Falle des Ehebruchs zu töten; 911 erst unter Antoninus Pius wurde ferner das Recht des Vaters abgeschafft, die Ehe seiner Tochter aufzulösen. 912 Auch scheint in Krisensituationen der Appell an den versammelten (männlichen) Familienrat, wie Lucretia ihn vornimmt, 246 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="247"?> 913 Pomeroy (1976) 218. 914 Pomeroy (1976) passim. 915 Pomeroy (1976) 220f. 916 Vgl. Pomeroy (1976) 217-219 und (1985) 233; Fantham et al. (1994) 227. 917 S. Dettenhofer (1994b) mit Quellenangaben und weiterer Literatur. 918 S. Pomeroy (1985) 228; Barnard (1990); Burckhardt / Ungern-Sternberg (1994); He‐ melrijk (1999) passim; Roller (2018) 197-232. 919 S. Dettenhofer (1994b). Vgl. ferner Loraux (1985), die sich mit der griechischen Quellenlage befasst. 920 S. Dettenhofer (1994b) 136-138. im republikanischen Rom üblich gewesen zu sein, ob es sich nun um eine Verfehlung der Frau oder ihres Ehemannes handelte. 913 Die Zugehörigkeit der Römerin zu ihrer Herkunftsfamilie wurde als sehr stark empfunden. Dies lag u.a. darin begründet, dass die Vatersfamilie eine gewisse Schutzfunktion für die verheiratete Tochter innehatte und sie vor (persönlichem oder finanziellem) Missbrauch durch den Ehemann bewahren konnte. 914 Eine weitere Erklärung findet sich in dem Umstand, dass Frauen teilweise mehrere Ehen nacheinander eingingen und in diesem Fall die Bindung an die gens des Vaters wahrschein‐ lich enger war und blieb als an die jeweiligen gentes der Ehemänner. 915 Die Horatii-Legende, die bei Dionysios in der breit ausgemalten Szene der Tötung der um ihren Verlobten trauernden Horatia gipfelt, reflektiert ebenso wie die Erzählungen um Lucretia und Verginia die reale Machtposition des pater familias in der römischen Kultur. 916 Allerdings war es den Frauen in Rom anders als in Griechenland leichter möglich, eine politische Rolle zu spielen. Das Agieren von Frauen auf öffentli‐ cher Bühne und ihr Eingreifen in die Politik des Staates stellt in der römischen Geschichte ein wiederkehrendes Motiv dar. Nicht allein in der legendenhaften Frühzeit in Gestalten wie Tanaquil, Tullia und Lucretia verkörpert, sondern auch in historisch fassbarer Zeit spielten Römerinnen immer wieder eine Rolle bei politischen Entscheidungen, insbesondere wenn der Staat sich in einer Krisensituation befand. 917 Eine Römerin aus republikanischer Zeit, die nachfolgenden Generationen als Verkörperung der idealen matrona erschien und vor allem in der Kaiserzeit als vorbildliche Mutter gerühmt wurde, war Cornelia, die Mutter der Gracchen. Ihr wurde großer Einfluss auf die Innen‐ politik ihrer beiden Söhne zugeschrieben. 918 Dabei sah man die Intervention von Frauen tendenziell als Symptom einer Krise, in der sich der Staat befand. 919 Zumal während der Bürgerkriegszeit wirkten verstärkt Frauen der römischen Aristokratie wie Servilia, die Mutter des M. Brutus, 920 oder Fulvia, die Gattin 6.3 Bezüge zur lebensweltlichen Realität 247 <?page no="248"?> 921 S. Dettenhofer (1994b) 138-140. 922 Die spätere Gesetzgebung des Augustus, insbesondere das ius liberorum, mag als Reaktion auf diese Veränderung im Rollenverhalten der weiblichen Oberschicht interpretiert werden. Zwar stellte das ius liberorum für die Römerin eine Möglichkeit dar, sich von männlicher Vormundschaft zu befreien, doch war es sicherlich auch als Anreiz gedacht, sich entsprechend der augusteischen Restauration auf das weibliche Ideal der matrona und Mutter zu besinnen und dem Staat mehr Kinder zu schenken. Ebenso Dettenhofer (1994b) 154. Zum ius liberorum vgl. Pomeroy (1985) 230f. 923 Vgl. Saller (1984) 352f. 924 S. Dettenhofer (1994b) 152f. 925 Vgl. Kunst (2007) 251-253, insbesondere 253: „Die changierende Bewertung der Frauen zwischen monstrum und mulier virilis, [sic] läßt sich daraus erklären, daß der öffentliche Raum der Ort war, an dem Männer ihre gesellschaftliche Anerkennung zu verdienen hatten. Virtus war entsprechend männlich kodiert und affirmierte sich unter den Augen aller. Das Handeln von Frauen, das über den Raum der domus hinaus wahrgenommen wurde und ein bestimmtes Aktivitätspotential aufwies, war daher ebenfalls nur männ‐ lich zu nennen. Es wurde jedoch dann als akzeptabel eingestuft, wenn es defensiv eingesetzt wurde, etwa den eigenen Ruf schützte oder den der Familie.“ Vgl. auch Valette (2012) 2 und Berrino (2006) 29-41. 926 Vgl. Kunst (2007) 253. des Antonius, 921 in der Politik. 922 Dieses Wirken vollzog sich weitestgehend im privaten Raum, da politisch interessierte Frauen der Oberschicht über die Männer, zu denen sie in verwandtschaftlicher Beziehung standen, Einfluss nehmen konnten; im Gegensatz zur griechischen Polisstruktur wurden in der römischen Republik in den Privathäusern Machtverhältnisse verhandelt. 923 Die Entwicklung der zunehmenden Einflussnahme auf die Politik trug lang‐ fristig zu einem Wandel im Selbstverständnis der römischen Frau bei, 924 der sich sicherlich in der Lebenswirklichkeit während des Prinzipats, also zu Lebzeiten des Dionysios, ausdrückte. Die direkte oder indirekte Einfluss‐ nahme einer Frau auf Staatsangelegenheiten wird dem römischen Leser einer Geschichtsdarstellung des 1.-Jahrhunderts v.-Chr. somit ein vertrautes Motiv gewesen sein. Das Vordringen einer Frau in eine Männerdomäne wie etwa die Politik betrachtete der römische Geschlechterdiskurs dabei nicht zwingend als negativ. Unter bestimmten Umständen konnte es vielmehr der Frau Achtung und Bewunderung einbringen, wenn sie zum Schutze ihrer selbst, ihrer Familie oder des Staates handelte. 925 So kann das eigenständige Agieren der Lucretia, die ihre Entehrung nicht passiv erduldet, sondern ihr Schicksal aktiv in die eigene Hand nimmt und damit in eigentlich „männlicher“ Art und Weise vorgeht, positiv gewertet werden und ihren Ruf als exemplarische matrona begründen, anstatt diesen zu beschädigen und sie als unweiblich und transgressiv in Verruf zu bringen. 926 248 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="249"?> 927 Beard (1980) 14. Ebenso Fantham et al. (1994) 225. 928 Vgl. Kunst (2007) 254f. 929 Dies als signifikanter Unterschied zum eher privaten griechischen Ideal der weiblichen sexuellen Zurückhaltung, s. Strong (2016) 19 f. Mit der Verletzung von Lucretias pudicitia ist auch ihr Wert als (Ehe-)Frau gemindert, s. Kaster (2005) 36. 930 Vgl. e.g. Pomeroy (1985) 246 f.; Fantham et al. (1994) 232. 931 S. Joshel (2008) 165f. Das weibliche Ideal der Römer blieb im Gegensatz zur Lebenspraxis der Frau im Laufe der Jahrhunderte statisch. Während der Mann sich zuvörderst durch seine virtus auszuzeichnen hatte, galt als oberste Tugend einer Römerin die pudicitia. Das römische Denken verstand unter pudicitia keineswegs sexuelle Enthaltsamkeit, wie die deutsche Übersetzung „Keuschheit“ nahelegt, sondern in erster Linie „the chastity […] of a univirate Roman matron, a quality defined by her fidelity to a single husband and by soberness of conduct and dress“. 927 Dem griechischen wie dem römischen Patriarchat galt die Frau als ein überwiegend irrationales, von seinen Affekten geleitetes und potenziell bedrohliches Wesen, das der Beaufsichtigung und der Kontrolle durch die Männerwelt bedurfte, um nicht etwa Schaden innerhalb der Familie oder des Gemeinwesens zu verursa‐ chen. Eine besondere Bedrohung scheint dabei in der weiblichen Sexualität gesehen worden zu sein; jedenfalls deutet das römische Ideal der pudicitia darauf hin, ebenso wie der in der Literatur vielfach ausgeführte Topos von der sexuell aktiven bzw. allzu aktiven Frau als Feindbild. 928 Durch das Ideal der pudicitia wird die Sexualität der Frau einer vorgegebenen Ordnung unterworfen, sie wird gewissermaßen kanalisiert, indem die Frau ihrem Ehemann treu zu sein hat, und rationalisiert. Lucretia entspricht in ihrem Denken und Tun diesem Ideal, das die Frau in eine der Ratio zugängliche und damit kontrollierbare Größe transformiert und ihr das Gefahrvolle nimmt bzw. dieses in Schranken weist. Von ihrer Weiblichkeit geht keine Bedrohung der patriarchalischen Ordnung mehr aus, daher kann sie vom römischen Patriarchat als exemplum etabliert werden, das den Frauen der Gegenwart als Orientierung dienen soll. Die Bewahrung ihrer pudicitia stellt für die römische matrona keineswegs eine private Angelegenheit dar, denn ein wesentliches Element des pudicitia-Konzepts besteht in seiner sozialen Funktion, da hierdurch gewisser‐ maßen der Wert einer Frau bemessen werden kann. 929 Bekanntlich war das Ideal der uniuira das für eine römische Frau Erstrebenswerte. 930 Die Ehegesetzgebung des Augustus steht u.a. für das Bemühen, die Sexualität der Frau staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. 931 Der griechische Begriff der σωφροσύνη, den Dionysios zur Charakterisierung der matrona Lucretia verwendet und der ihm als Entsprechung der römischen 6.3 Bezüge zur lebensweltlichen Realität 249 <?page no="250"?> 932 Zum römischen Konzept der pudicitia umfassend Langlands (2006), darin zum Luc‐ retia-Stoff 80-96. Zu den Unterschieden zu den nicht gleichwertigen Begriffen uere‐ cundia und pudor s. Kaster (2005) 13-65. 933 Zum Geschlechterverhältnis bei Aristoteles s. Föllinger (1996) 118-227, die darauf verweist, dass Aristoteles ein den Normen seiner Zeit entsprechendes, eher konserva‐ tives Frauenbild zum Ausdruck bringt, dem fortschrittlich-utopistisches Denken hin in Richtung Gleichberechtigung fremd ist. Anders verhält es sich bei seinem Lehrer Platon, dem die Geschlechterdifferenzen als eine gesellschaftliche Konvention gelten und durch eine spezifische Erziehung von Männern und Frauen ausgeglichen werden sollen; s. dazu ebd. 56-117. Mallan fasst die σωφροσύνη der Lucretia als mit dem römischen pudicitia-Konzept kongruent auf und definiert sie folglich als spezifisch weibliche Eigenschaft, doch scheint dies auf einer einseitigen Auslegung der Quellen zu beruhen; s. Mallan (2014) 765-767. 934 Zum Thema inzwischen grundlegend Schnurr-Redford (1996). 935 Fantham et al. (1994) 12. 936 Dazu Schnurr-Redford (1996). Tugend der pudicitia 932 dient, begegnet bereits bei Aristoteles als wesentliche Eigenschaft, die sowohl Frauen als auch Männer im Rahmen ihrer Erziehung zu erlangen haben. Der Begriff bezeichnet also im griechischen Denken nicht eine spezifisch weibliche Tugend, sondern ist auf beide Geschlechter gleichermaßen anwendbar. 933 6.3.3 Die Stellung der griechischen Frau Die Beurteilung der Lebenspraxis der griechischen Frau gestaltet sich quellen‐ technisch ähnlich problematisch wie im Falle der Etruskerin und der Römerin; dementsprechend war die Forschungsdiskussion etwa über den Raum, in dem das weibliche Leben sich abspielte, von Kontroversität und Langlebigkeit ge‐ kennzeichnet. Die lange Zeit vorherrschende Auffassung, die Griechinnen hätten sich tagaus, tagein in einem abgesonderten Frauenbereich im Inneren des Hauses aufgehalten und diesen praktisch niemals verlassen dürfen, kann heute als widerlegt angesehen werden. 934 Am ausführlichsten präsentiert sich das Quellenmaterial zur Lebenssituation der Athenerin. In anderen Poleis wird diese sich differenziert dargestellt haben. 935 In der Praxis verfügte die Athenerin über eine gewisse Bewegungsfreiheit, sie konnte sich zum Zwecke von Besorgungen auf der Straße aufhalten und wahrscheinlich auch an öffentlichen Feierlichkeiten teilnehmen sowie soziale Kontakte pflegen. Von einem Eingesperrtsein kann nicht die Rede sein. 936 Von der politischen Teilhabe waren die Athenerinnen jedoch vollständig ausgeschlossen. Die Vorstellung von öffentlicher weiblicher Mitbestimmung war griechischem Denken ein Gräuel, insbesondere das Schreckensbild der 250 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="251"?> 937 Lefkowitz (1992) 22-25; Wagner-Hasel (2000), insbesondere 199f. 938 Lefkowitz (1992) 62. 939 Lefkowitz (1992) 97-102. 940 Vgl. etwa Lefkowitz (1992) 109. 941 Was Fromentin / Schnäbele (1990) 11 in Bezug auf das zweite Buch feststellen, gilt ebenso für die Antiquitates im Ganzen: „Le livre II se présente au premier coup d’œil comme une mosaïque d’épisodes bien connus pour la plupart, là encore indissociables de la tradition et associés depuis Fabius Pictor au moins à l’histoire légendaire des origines de Rome. Denys ne pouvait échapper aux contraintes de cette tradition si fermement établie, telle que nous la restituent Cicéron, Tite-Live ou, bien plus tard, Plutarque. […] L’historien disposait cependant, comme les autres auteurs, d’une certaine marge de liberté dès lors que les points fondamentaux de la tradition n’étaient pas remis en cause.“ Vgl. dazu ferner Cornell (1986). Gynaikokratie, das man des Öfteren in fremden Kulturen auszumachen glaubte und das im Mythos der Amazonen wirkungsmächtigen Ausdruck fand, ist ein Motiv, das die griechische Literatur durchzieht. 937 Der Fokus der Frau hatte sich auf die Sorge um die Bewahrung des οἶκος zu richten, auf das Innere des Hauses und die Familie. 938 Der Raum außerhalb des οἶκος, insbesondere der politische Raum, war den Männern vorbehalten. Ein transgressives Handeln, das die Grenzen des „angemessenen“ weiblichen Verhaltens überschritt und bei dem die Frau in Bereiche der Männlichkeit eintrat, konnte jedoch dadurch gerechtfertigt werden, dass es zum Wohle der Familie erfolgte. 939 In hellenistischer Zeit ergaben sich in der griechischen Welt größere Freiräume für die Frauen, was ihre Handlungsmöglichkeiten sowohl im Privaten als auch im Politischen betraf - letzteres traf zumindest auf die Frauen der Aristokratie zu. 940 6.4 Die Konstruktion von Weiblichkeit in den Antiquitates Romanae Die Frauendarstellungen der Antiquitates Romanae speisen sich aus mehreren Quellen. Die grundlegenden Züge waren durch die römische Tradition vorge‐ geben, die Gestaltungsfreiheit des Historikers war folglich insoweit beschränkt, als er sich diesem Konsens der Überlieferung anzuschließen hatte, wenn er sich nicht als unzuverlässig disqualifizieren wollte. Dionysios fand keine Quellen vor, in denen seine Figuren nicht bereits in eine Erzählung eingebettet gewesen wären; hinter diese Erzählungen konnte er nicht etwa durch ein Akten- und Urkundenstudium auf neutrale Fakten zurückblicken. Die einzelnen Kompo‐ nenten, aus denen die tradierten Erzählungen zusammengesetzt sind, sind aus dem Erzählganzen nicht herauslösbar, ohne ihren Sinn und ihre Folgerichtig‐ keit einzubüßen. Hinzu kommt die römische Prägung dieser Erzählungen. 941 6.4 Die Konstruktion von Weiblichkeit in den Antiquitates Romanae 251 <?page no="252"?> Wenngleich Dionysios nach eigener Aussage zuallererst für ein griechisches Le‐ sepublikum schrieb, so konnte er dennoch kein „griechisches“ Geschichtswerk schreiben, da sein Material von dem spezifisch Römischen, das es durchdrang und in vielerlei Hinsicht ausmachte, nicht zu trennen war. Die Erzählungen der römischen Frühzeit in eine Welt zu transponieren, die von den Idealen des griechischen Klassizismus gekennzeichnet war, stellte keinen gangbaren Weg dar. Möglich war jedoch eine behutsame Anpassung einzelner Aspekte an die Erwartungen einer griechischen Leserschaft. Damit eng verknüpft ist das Anliegen des Dionysios, die Römer als Träger griechischer kultureller Werte zu präsentieren, da sie ja seiner Auffassung zufolge ihrem ethnischen Ursprung nach Griechen sind. Daher lassen sich in seinem Text Strategien feststellen, die die kulturelle Kluft zwischen Griechen und Römern überbrücken helfen, indem versucht wird, auf dem schmalen Grat des Möglichen das römische Material griechischen Traditionsmustern anzunähern. Diese Strategien wenden die Antiquitates Romanae auch und gerade in der Präsentation von Frauenfiguren der Frühzeit an. In diesem Sinne lässt sich die festgestellte Ambivalenz der Figur der Tanaquil erklären, die bei Dionysios anders als bei Livius weniger von männlich konnotiertem Ehrgeiz getrieben ist und Züge einer römischen matrona trägt, welche sich durch Fürsorge für ihre Familie auszeichnet. Diese Akzentuierung des typisch Weiblichen wäre, wie aus dem Blick auf die Situation der römischen Frau in augusteischer Zeit hervorgeht, für ein römisches Lesepublikum wahrscheinlich nicht zwingend erforderlich gewesen, da man im Rom des 1. Jahrhunderts v. Chr. an selbstän‐ diges Handeln einer Frau (in gewissen Grenzen) gewöhnt war und die Römer mit dem Agieren von Frauen in ihrer geschichtlichen Überlieferung vertraut waren und dieses einzuordnen wussten. Die gegenüber Livius festzustellende „Verweiblichung“ der Tanaquil, die die Antiquitates Romanae vornehmen, wird vielmehr verständlich, wenn man den intendierten Adressatenkreis und die Erwartungen berücksichtigt, die ein an den Konventionen griechischer Geschichtsschreibung geschulter Rezipient an den Text richtete. Für diesen musste das Auftreten der Tanaquil, wie es die römische Überlieferung bot, als unschicklich und transgressiv gelten. Daher bot es sich an, die Rolle der Figur für die Ambitionen des Tarquinius abzuschwächen sowie sie mit einem Zug zu versehen, der in der griechischen Kultur mit positiver Weiblichkeit assoziiert wurde und der möglicherweise in einer alternativen Version der Sage angelegt war, nämlich der Sorge um das Wohlergehen und die Sicherheit der Familie. Im Rahmen der Vermittlungsarbeit zwischen Griechen und Römern, die die Antiquitates zu leisten suchen, stellt diese Motivierung eines für eine Frau eher fragwürdigen Verhaltens mit einer für die griechischen Rezipienten 252 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="253"?> 942 S. Rood / Atack / Phillips (2020) 146f. 943 Vgl. Bonfante (1994) 244. positiv besetzten Eigenschaft eine Strategie der kulturellen Angleichung dar. Der Text evoziert auf diese Weise eine Ähnlichkeit zwischen einer an sich sehr un-griechischen Frauenfigur mit dem Weiblichkeitsideal des klassischen Athen. Die Bezeichnung der Tanaquil in den Antiquitates als matrona, wie Noggler sie vornimmt, ist zwar treffend, greift aber gleichzeitig zu kurz, da sie von einem römischen Leserblick auf Tanaquil ausgeht und den griechischen Adressatenkreis des Dionysios außen vorlässt, auf den die „Verweiblichung“ der Figur in erster Linie abzielt. Auch in der Darstellung der Lucretia findet eine Assimilierung römischer Traditionen und griechischer Vorstellungen statt. So verlässt sie das Haus ihres Mannes und begibt sich ohne Begleitung auf einem Wagen zu ihrem Vater, wo sie vor versammeltem Publikum Selbstmord begeht. In ihrem Handeln verrät sie Zielstrebigkeit und Entschlossenheit und die Bereitschaft, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Mit ihrer Selbsttötung, vor der sie nicht zurückschreckt und mit der sie zwar ihr eigenes Ich auslöscht, jedoch das Ansehen und - damit identisch - das soziale Überleben der Familie sichert, entspricht sie dem römischen virtus-Ideal, wenngleich dieses selbstverständlich auf die männliche römische Bevölkerung ausgerichtet ist, aber unter Umständen ebenso auf Frauen bezogen werden konnte. 942 Solches Verhalten, das einem griechischen Leser als unweiblich erscheinen musste, wird allerdings durch seinen Zweck der Wiederherstellung der Ehre gerechtfertigt, zumal es durch das Motiv der Hikesie in einen Rahmen griechischer Kultur eingebettet ist. Durch die große Rolle, die der Vater bei Dionysios spielt, wird zudem die römische Realität der patria potestas dem griechischen Publikum nahegebracht; Livius hatte es gewissermaßen nicht nötig, Lucretia in das Haus ihres Vaters eilen zu lassen, um das Motiv der patria potestas einzubauen, das jedem Römer vertraute Lebenswirklichkeit war. Dionysios dagegen kann durch die Verlagerung des dramatischen Höhepunktes in das Haus des Lucretius auf effektvolle Weise einen wichtigen Aspekt der römischen Kultur hervorheben. Auch hier hat somit die Art und Weise der Darstellung eine vermittelnde Funktion. Die römische Überlieferung der Geschichten, in deren Zentrum Tanaquil und Tullia als Etruskerinnen auf der einen Seite und Lucretia als Römerin auf der anderen Seite stehen, ist bereits in dieser Weise angelegt; die Fokussierung auf die Rolle, welche diese drei Frauengestalten für den Niedergang des Königtums in Rom spielten, stellt keine originelle Leistung des Historikers Dionysios dar. 943 Die Interpretationen, die sich um die etruskischen Frauen 6.4 Die Konstruktion von Weiblichkeit in den Antiquitates Romanae 253 <?page no="254"?> der Frühzeit ranken, sind aus dem römischen Bedürfnis heraus entstanden, die als fremdartig und wesensmäßig so verschieden empfundene Kultur des Nachbarvolkes in Beziehung zum eigenen Wertesystem zu setzen und einen (be-)greifbaren Umgang mit ihr zu ermöglichen. Die Stereotype, mit denen man die Etrusker allgemein zu definieren suchte, sind Ausdruck der Abgrenzung und des Bewusstmachens der Normen, die das römische Selbst konstituieren. Der Topos einer als unangemessen empfundenen Freiheit weiblichen Verhaltens taucht nicht nur in Darstellungen der etruskischen Frau auf, sondern durchzieht als solcher die griechische wie die römische Literatur. Darstellungen von Tanaquil und Tullia sind im selben Kontext zu sehen wie beispielsweise die Figur der Kolcherin Medea, die Lemnierinnen um Hypsipyle oder die Amazonen. Auch Dionysios schließt sich dieser Lesart an, indem er sowohl Tanaquil als auch Tullia als Frauen schildert, die die Grenze hin zu männlich konnotiertem Denken und Handeln überschreiten und da‐ durch bewirken, dass das römische Königtum den Weg seines Niedergangs einschlägt, der in letzter Instanz zur Etablierung einer neuen innenpolitischen Ordnung führt. Entscheidend ist, dass - anders als bei Livius - dieser Nieder‐ gang in erster Linie mit einer einzigen Frau, nämlich Tullia, assoziiert wird und weniger mit Tanaquil. Sie stellt eine Kombination dar aus männlichen und weiblichen Eigenschaften, die in ihrem Handeln zusammenwirken und einerseits positive Konsequenzen für den Erhalt ihrer Familie und kurzfristig auch für die innenpolitische Stabilität zeitigen, zugleich jedoch ein latent destruktives Potenzial beinhalten, das langfristig negative Auswirkungen auf die Stabilität sowohl der Dynastie als auch des Königtums hat, somit im Privaten wie im Öffentlichen verderblich wirkt. Die Charakterisierung der Tullia in den Antiquitates Romanae ist eindeutig negativ und wenig differenziert. Auch findet bei ihr nicht wie bei Tanaquil und Lucretia eine Kombination griechischer und römischer Konnotationen statt. Dies liegt darin begründet, dass sie in ihrer von der Tradition bereits ange‐ legten drastischen Unmoral und Transgressivität auf beide Kulturen gleicher‐ maßen abschreckend wirkt. Tullia wird dargestellt als die extreme Steigerung des moralischen Verfalls des römischen Königtums unter den Tarquiniern und dient als Vorbereitung dessen, was mit dem Tod der Lucretia vollends offenbar wird: dass der Wechsel der Staatsform, den der Sturz des Tarquinius Superbus mit sich bringt, vom Königtum zur Republik, vom regnum zur res publica, als heroische Befreiungstat zu werten ist. Allerdings tritt neben die Funktion der Tullia als moralisches Negativ-exemplum in politischer Hinsicht ihre nicht minder negative Charakterisierung als unweiblichste aller Frauen, gewissermaßen als Un-Frau. Sie entbehrt aller Charaktereigenschaften, die 254 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="255"?> der römische mos maiorum als weibliche Tugenden seit Generationen in der öffentlichen Wahrnehmung festgeschrieben hatte, in erster Linie pudicitia und pietas, und die im Wesentlichen auch das Ideal der griechischen Frau prägen. Doch nicht nur das: Die Eigenschaften, mit denen ihr Wesen und ihr Handeln charakterisiert werden, stellen sogar eine Pervertierung der als männlich festgelegten Tugenden wie Ehrgeiz und Machtstreben dar. In der Darstellung des Dionysios übertrifft Tullia ihren zweiten Ehemann an ambitio und Skrupellosigkeit: Zwar wird auch Tarquinius als ehrgeizig charakterisiert, doch ist es Tullia, auf deren Initiative der Ehebruch, die Ermordung der beiden bisherigen Ehepartner sowie die dadurch ermöglichte „gottlose“ Heirat der beiden und sämtliche Schritte auf dem Weg zum Sturz des Vaters zurückgehen. Als der erste Versuch einer gewaltfreien Machtübernahme scheitert, zieht Tarquinius sich resigniert und entmutigt zurück; doch wiederum ist es Tullia, die ihn dazu anstachelt, nicht von ihrem Vorhaben abzulassen und nun mit Gewalt ihrer beider Ziel von der höchsten Macht im Staat in die Tat umzu‐ setzen. Das griechisch-römische Weiblichkeitsideal, das die pietas gegenüber der Familie und den Göttern fordert, wird in Tullia gänzlich verdrängt von dem männlichen Machttrieb, der in ihr jede Rücksicht und Scham vor Verbrechen auslöscht und sie zu ihren Handlungen motiviert. Mit diesem Frauenporträt gelingt es den Antiquitates, die These vom sittlichen Verfall des Königtums anschaulich zu untermauern. 6.5 Ergebnisse Dionysios konstruiert in seiner Darstellung der römischen Frühzeit verschie‐ dene Formen von Weiblichkeit, die über den Bezug zu bestimmten (griechischen und römischen) Werten und Traditionen Einfluss auf die Rezeption durch den Leser nehmen und dessen Blick auf die römische Geschichte steuern. Dies ist eng verbunden mit dem übergreifenden Anliegen der Antiquitates, einem griechischen Publikum die römische Vergangenheit nahezubringen und eine Brücke zwischen den Kulturen zu schlagen. In diesem Zusammenhang verdient ein zentraler Aspekt Beachtung, der in den vorangegangenen Abschnitten bereits mehrfach angeklungen ist. So weisen die Antiquitates Romanae mehreren Frauengestalten der römischen Frühzeit eine aitiologische Funktion zu, indem sie sie dem Leser als Ursache für innenpolitische Veränderungen präsentieren. Tanaquil und Tullia verkörpern Stationen auf dem absteigenden Weg des römischen Königtums hin zu seiner Abschaffung, die ebenfalls durch eine Frau katalysiert wird. Lucretia dient der Wiederherstellung der innerstaatlichen Ordnung auf zwei Ebenen, indem sie zum einen die Freiheit des Gemeinwesens 6.5 Ergebnisse 255 <?page no="256"?> 944 Es lässt sich auf die Frauenfiguren in den Antiquitates insgesamt beziehen, was Fögen (²2002) 26 f. über die Lucretia-Episode als Movens politischer Veränderung darlegt: „Variation ist gefragt als Grundvoraussetzung aller Evolution. Variation erkennt man daran, daß Aufmerksamkeit erregt wird und daraus verdichtete, ungewöhnliche und unerwartete Kommunikationen entstehen. Eben diesen Vorgang beschreibt Dionysios. Der rätselhafte Grund von Variation wird in einem unerwarteten, skandalösen Ereignis enträtselt, das Aufmerksamkeit, dieses rare und selten zu mobilisierende Gut, erzwingt. Sensationsgeschichten, in Form von Mythen und Legenden erzählt, haben offenbar eben diese Aufgabe: plausibel zu machen, was das schwierigste Kapitel der Evolution darstellt, warum überhaupt Variation eintrat. Dabei handelt es sich um eine Strategie, die bis heute nicht nur in der Boulevard-Presse, sondern auch in der alltäglichen Geschichtsschreibung der „Tagesthemen“ und Tageszeitungen wiederzufinden ist. Die unerklärliche Veränderung wird durch ein bestimmtes Ereignis oder, bevorzugt, durch eine exzeptionelle Person erklärt, als seien diese letzteren die - ihrerseits der Erklärung nicht bedürftigen! - Auslöser von Variation und von folgenden Kausalketten.“ 945 Hdt. 1,1-3. 946 Vgl. zum Thema Matthes (2000); im weiteren Sinne auch Bronfen (2004), die jedoch auf die Lucretia-Erzählung (erstaunlicherweise) nicht eingeht. 947 Vgl. ant. 4,4,3; 4,79,4. Dazu Fögen (²2002) 36. von der Tyrannenherrschaft und zum anderen den Konsens zwischen Patriziern und Plebeiern bedingt. 944 Hiermit schließen die Antiquitates an ein Motiv der griechischen Literatur an: das Motiv der Frau als αἰτία für politische Ereignisse. Man denke an Helena als Auslöser des trojanischen Krieges und im Bereich der Geschichtsschreibung an den Beginn der herodoteischen Historien, der die Kriegshandlungen von Griechen und Persern mit gegenseitigem Frauenraub zu begründen sucht. 945 Im Unterschied zu Helena und den Frauen, die bei Herodot als αἰτίαι für die Perserkriege angeführt werden, spielen die Frauen der römischen Königszeit in den Antiquitates jedoch eine aktive Rolle, sie sind nicht nur passive Auslöser politischer Ereignisse; dies gilt nicht einmal vollends für Lucretia, die noch am ehesten als passives Opfer angesehen werden kann, da sie bzw. ihr von Sextus Tarquinius entehrter Körper als Symbol für die Vergewaltigung des Staates durch die Herrschaft der Tarquinier gelesen werden kann 946 und da sie mit ihrem Agieren keine politische Intention verfolgt. Es ist bezeichnend, dass allein die erste und die letzte der drei etruskischen Königinnen Roms im Text als Akteurinnen auftreten. Die mittlere, die Ehefrau des Servius Tullius und Tochter des Lucius Tarquinius und der Tanaquil, spielt für die Erzählung keine Rolle. Zwar wird sie einige wenige Male erwähnt, doch bleibt sie stets im Hintergrund und stellt eher einen Schatten, eine Statistin dar; 947 eine ausgearbeitete Figur mit eigenem Handlungsspielraum ist sie nicht. Zwischen ihrer berühmten Mutter und Vorgängerin und ihrer berühmt-berüch‐ tigten Tochter und Nachfolgerin verschwindet sie in der Passivität, im Dunkel 256 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="257"?> des Textes und der Überlieferung. Der Fokus der Erzählung liegt auf den beiden sie chronologisch einrahmenden Frauengestalten, die eine aktive Rolle im Lauf der Geschichte spielten und zu deren Veränderung beitrugen. Mit Tanaquil vollzieht sich eine wesentliche, weil, wie im historischen Rück‐ blick erkennbar, folgenschwere Umwälzung, gewissermaßen eine Um-Codie‐ rung des Programms „römische Innenpolitik“. Der Niedergang des Königtums in Rom deutet sich an, als sie ihrem Schwiegersohn Servius Tullius mit ihrem klug ausgeheckten Geheimplan zum Thron verhilft, denn damit sind die bis dahin üblichen politischen Mechanismen der Königswahl außer Kraft gesetzt. Das Agieren der Frau schafft somit einen politischen Präzedenzfall, der die Grundfesten der Staatsordnung in zweierlei Hinsicht gefährdet. Zum einen stellt er das Prinzip der freien Königswahl in Frage, indem die Macht nun entgegen dem bisherigen Usus innerhalb ein und derselben Familie weitergegeben wird und die Dynastie der Tarquinier begründet wird. Zum anderen wird der römischen Bevölkerung die Möglichkeit zur Mitbestimmung genommen, da die Machtübergabe sich vom öffentlichen in den privaten Raum verlegt und das Recht der Römer auf Information und Transparenz verletzt. Beides sind topische Vorboten der späteren Tyrannenherrschaft des Tarquinius Superbus. Die Inszenierung bestimmter Frauenfiguren als Ursache für politische Um‐ wälzungen ist von der römischen Tradition vorgegeben und konnte in einem für ein griechisches Publikum intendierten Geschichtswerk kaum ignoriert werden. Indem Dionysios diese Frauen auf seiner Bühne der römischen Geschichte auf‐ treten lässt, bewegt er sich folglich im Rahmen der gängigen Überlieferung. Al‐ lerdings weist er ihnen breiten Raum zu - breiteren Raum, als inhaltlich für seine Erzählung erforderlich gewesen wäre, wie der Vergleich mit Livius gezeigt hat. Tanaquil, Tullia und Lucretia treten in großangelegten Szenen auf, die mit einer Fülle an erzählerischen Mitteln eindrucksvoll ausgestaltet sind, und sind sogar durch das Halten von längeren Reden als aktiv charakterisiert; durch ihr Reden zeigen sie, dass sie keine stummen Opfer des Patriarchats darstellen. Diese Frauenszenen werfen gewissermaßen Schlaglichter auf bestimmte Stationen der römischen Geschichte. Zu diesem Eindruck trägt auch ihr Verschwinden aus der Erzählung bei, das der Schilderung ihrer Handlungen unweigerlich folgt. Wie dargelegt, musste diese Prominenz von Frauen, die aktiv in die Geschichte eingreifen, einem griechischen Publikum zumindest ungewöhnlich erscheinen. Mittels der starken Hervorhebung des aitiologischen Motivs der Frau als Auslöser knüpft der Text an eine bereits bei Homer und Herodot verwendete Methode der Geschichtsschreibung an und verortet sich in einem griechischen Traditionszusammenhang. Zugleich verwendet er Strategien der Angleichung, indem er wie im Falle der Tanaquil die Frauenfigur „entschärft“ und griechischen 6.5 Ergebnisse 257 <?page no="258"?> Erwartungen von Weiblichkeit annähert, oder indem er sie nutzt, um spezifische Eigenheiten der römischen Kultur zu veranschaulichen, wie dies im Zuge der Hervorhebung der Rolle des Vaters in der Lucretia-Erzählung oder bei Horatia geschieht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Integrierung weiblicher Figuren der römischen Frühgeschichte in die Darstellung des Dionysios auf eine Art und Weise erfolgt, die der Gesamtintention des Werkes entspricht: Sie haben abgesehen von ihrer jeweiligen Rolle für den Verlauf der Geschichte, die von der römischen Überlieferung bereits vorgegeben war, auch eine wich‐ tige Funktion im Hinblick auf den Rezipienten. Sie sind Teil des kulturellen Vermittlungsprogramms, das sich der Text auf die Fahnen geschrieben hat. Ihre Darstellung dient dazu, dem griechischen Leser spezifische Eigenarten der römischen Geschichte und Kultur nahe zu bringen. Somit reflektieren die Frauenfiguren der frühen Bücher der Antiquitates das Bemühen des Dionysios, einen Kulturtransfer zwischen Griechenland und Rom zu leisten. 258 6 Die Gestaltung weiblicher Charaktere als Mittel der Geschichtsdarstellung <?page no="259"?> 7 Fazit Der Erzählung der römischen Frühzeit kommt in den Antiquitates Romanae eine Schlüsselrolle zu, da sich die zentrale Aussage des gesamten Werkes vorrangig auf eben diese Darstellung stützt. Mit der Beschreibung der Anfänge Roms sucht der Text eine überbrückende Funktion zu erfüllen, die mehrere Ebenen umfasst und sowohl über eine synchrone als auch über eine diachrone Ausrichtung verfügt. An die Stelle bisheriger Unkenntnis und daraus resultierender negativer Meinungen über die Römer auf Seiten der Griechen soll ein Wissen um die - nach Auffassung des Historikers - wahre Geschichte und den wahren, nämlich primär vorbildlichen, Charakter der Römer treten. Hierfür wird die ethnische Identität von Griechen und Römern behauptet: eine These, die sich sowohl an griechische wie an römische Adressaten richtet und eine wechselseitige Assimilierungsleistung erbringt, denn zum einen zeigt sie den Griechen, wie nahe verwandt die Römer ihnen doch seien, und zum anderen trägt sie zur positiven Selbstwahrnehmung der Römer bei, denen sie das Gefühl vermittelt, nicht erst spät auf der historischen Bühne erschienene Eroberer, sondern Teil eines alten Kulturvolkes zu sein. Dass Dionysios nicht als Urheber dieser bereits vor seiner Zeit aufgestellten These gelten kann, ist insofern kaum von Belang, als sie die Basis seines Geschichtswerkes bildet und dieses in einer so durchdrin‐ genden Weise prägt, dass daraus ein Alleinstellungsmerkmal des Textes vor allen anderen erhaltenen Texten zur römischen Frühzeit erwächst. Freilich: Die Praxis, die Ursprünge der eigenen Vorfahren mittels der Konstruktion einer bestimmten Genealogie oder einer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit zu überhöhen und gewissermaßen zu adeln, war in der Antike und auch bei den Römern nichts Außergewöhnliches. Dennoch kommt den Antiquitates Romanae des Dionysios auch in dieser Hinsicht ein besonderer Stellenwert zu, denn hier schreibt nicht ein Römer, der die römische Frühgeschichte durch Angleichung an Griechisches zu nobilitieren sucht, sondern ein Grieche aus Kleinasien, der bemüht ist, das Volk, das seine Heimat unterworfen hat, in den Augen der griechischen Welt vom Odium des barbarischen Eroberers zu befreien. Mit der ethnischen geht eine ebenfalls in ihrer Intensität beispiellose kultu‐ relle Angleichung einher, die der Text vornimmt, indem er einzelne Elemente beider Kulturen in der Darstellung der römischen Frühzeit miteinander ver‐ bindet und auf diese Weise einen gemeinsamen kulturellen Raum konstruiert. Dieser ermöglicht den Griechen unter Augustus die anerkennende Begegnung mit den Römern, deren mos maiorum zwar mitunter fremdartig erscheinen mag, die ihnen jedoch aufgrund der Kultivierung griechischer Werte ebenbürtig sind. <?page no="260"?> Zusätzlich zu diesem synchronen Transfervorgang streben die Antiquitates eine diachrone Überbrückung an, die sich auf die Römer der augusteischen Zeit und die Römer der Frühzeit bezieht: Durch das in der praefatio genannte Ziel, den Nachkommen der damaligen Menschen historische exempla als Richtlinien für ihr eigenes Verhalten zu geben, wird die zeitliche Kluft zwischen ferner Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben - ein Mechanismus, der im Kern der Funktionsweise von exempla liegt. Die Frühzeit wird eben gerade nicht als Vergangenes, als Abgeschlossenes angesehen, sondern im Gegenteil als ein Kontinuum, das sich bis in die Gegenwart des Historikers fortsetzt und in dem grundlegende Veränderungen der Art und Weise, wie Menschen denken, fühlen und handeln, ausgeschlossen sind. Die Römer der bona exempla sind dem Rezipienten in augusteischer Zeit ähnlich genug, dass er ihnen nachzueifern und ihr Verhalten erfolgreich zu imitieren vermag, zu seinem eigenen Wohl und zu dem des Staates, dem er angehört. Hierin ähneln die Antiquitates ihrem lateinischen Pendant, dem Geschichtswerk des Livius. Die Wirkung dieses vielgestaltigen Vermittlungsprozesses, den Dionysios mit seinem Geschichtswerk vollzieht, ergibt sich wesentlich aus der Art und Weise der Textgestaltung in den Büchern zur Königszeit, wie ich im Folgenden noch einmal abschließend zusammenfassen möchte. Nach Ansicht des Dionysios ist eine ansprechende Darstellungsweise unab‐ dingbar für literarisches Schaffen. Diese theoretische Forderung setzen die Antiquitates Romanae durch die Verwendung verschiedener erzählerischer Mittel in die Praxis um. Der gezielte Einsatz dieser Gestaltungsmittel steht in engem Bezug zu den theoretischen Äußerungen, welche in den Scripta rhetorica enthalten sind. Zudem positioniert Dionysios sich in einem zeitlich wie inhaltlich weitreichenden literaturtheoretischen Diskurs, indem er über Themen wie enargeia oder das πρέπον reflektiert. Die vorangegangenen Abschnitte dieser Studie haben mit der Schaffung von enargeia, der Verwendung von Reden und der Gestaltung prominenter weiblicher Figuren drei dieser Mittel herausgegriffen, die die Erzählweise der Königszeitbücher in hohem Maße charakterisieren und doch bislang in der Dio‐ nysios-Forschung kaum Beachtung gefunden haben. Dabei war ein wesentliches Anliegen, die in den Antiquitates zum Einsatz kommenden narrativen Strategien in Bezug zu den theoretischen Reflexionen in den Scripta rhetorica zu setzen, da hierdurch die wechselseitige Durchdringung von historiographischem und literaturkritischem Schaffen des Autors aufgezeigt werden konnte. Die von der älteren Forschung häufig vorgenommene separate Betrachtung beider Werk‐ teile lässt die Vielzahl an Verbindungspunkten außer acht, die Dionysios gesetzt hat und die sein Schaffen zu einer unauflöslichen Einheit zusammenschließen. 260 7 Fazit <?page no="261"?> Durch die kombinierte Analyse von theoretischen Schriften und Geschichts‐ werk konnte gezeigt werden, dass Dionysios die von ihm selbst postulierten An‐ forderungen an einen historiographischen Text auch in der eigenen praktischen Betätigung auf diesem Gebiet zu erfüllen suchte. So setzt er entsprechend seiner bekannten Thukydides-Kritik an bedeutsamen Punkten im Werk direkte Reden ein, um den krisenhaften Charakter geschichtlicher Situationen herauszuheben. Darüber hinaus klingt die in der Abhandlung über die Redekunst des Lysias enthaltene Definition von enargeia in der Erzählung der Königszeit immer wieder an, da dort die Kriterien der Glaubwürdigkeit bei der Figurenzeichnung - in Form von psychologischem Realismus -, der Ausführlichkeit der Darstellung und der emotionalen Teilhabe des Lesers am Geschehen eine wichtige Rolle spielen. Eine Erscheinung, die bei der Lektüre der Antiquitates außerdem in den Blick gerät, ist die Verwendung von Fokalisatoren. Hierbei handelt es sich freilich um ein in der antiken Theorie nicht als solches definiertes Konzept. Gleichwohl fügt es sich in diese ein, denn es fällt in die Kategorie der Strategien, die beim Leser die Illusion erzeugen sollen, dem erzählten Geschehen unmittelbar beizuwohnen. Da Dionysios Einzelfiguren ebenso wie Figurengruppen einsetzt, die als Fokalisatoren fungieren, ist deren Einbeziehung in die Analyse von heuristischem Wert und kann Aufschluss geben über die Möglichkeiten, die einem antiken Geschichtstext zu Gebote standen, um das intendierte Publikum zur Interaktion mit der Erzählung anzuregen. Durch eine systematische Untersuchung der für die Königszeitbücher cha‐ rakteristischen Erzählstrategien, wie die vorliegende Studie sie unternommen hat, lassen sich diese nicht nur per se begreifen, sondern zugleich in einen größeren Zusammenhang stellen. Denn es wurde offenkundig, dass es sich um Methoden handelt, die nicht nur den ästhetischen Genuss bei der Lektüre erhöhen sollen, sondern darüber hinaus ganz wesentlich zur Vermittlung einer bestimmten Sichtweise auf die römische Geschichte beitragen. Es hat sich gezeigt, dass der Autor sie gezielt verwendet, um entscheidende Wendepunkte zu konstruieren, an denen die römische Geschichte sich nach seiner Auffassung in einer krisenhaften Situation befand und eine Richtung einschlug, die für ihren weiteren Verlauf folgenschwer sein sollte. Der Historiker Dionysios verlässt sich dabei nicht nur auf eine oder zwei narrative Techniken wie eine Rede oder eine einfühlsame Schilderung der Gedanken oder Gefühle einer Figur, sondern er setzt häufig auf die Verbindung mehrerer erzählerischer Mittel. Die Lucretia-Erzählung etwa vereint eine psychologisch genaue und realistische Figurenzeichnung mit direkten Reden und dem Einsatz von enargeia in unterschiedlicher Form, sei es durch Fokalisatoren, durch Ausführlichkeit der 7 Fazit 261 <?page no="262"?> Darstellung oder durch das Ansprechen der Sinne des Lesers. Oftmals handelt es sich um Situationen, die in der römischen Überlieferung kanonische Geltung erlangt haben, wie die Begegnung von Aeneas und Latinus, der Kampf der Horatii und Curiatii oder die Vertreibung der Tarquinier. Doch setzt Dionysios durchaus eigene Akzente. So konstruiert er über das mit Herrschaft und Machtübernahme konnotierte Motiv der im Wagen fahrenden Dame die Reihe der drei „starken“ Frauenfiguren Tanaquil, Tullia und Lucretia; dieses Motiv ist in Zusammenhang mit Lucretia von der Tradition nicht vorgegeben, doch fügt Dionysios es hinzu und erreicht dadurch, dass der griechische Rezipient den Niedergang des römischen König‐ tums mit dem historisch bedeutsamen Handeln dreier weiblicher Akteure in Verbindung bringt und darüber hinaus das Agieren einer Frau als konstitutives aitiologisches Moment der römischen Geschichte auffasst. Ähnlich verhält es sich mit der Verwendung von Reden. Die frühen Bücher der Antiquitates Romanae nutzen diese als effizientes Gestaltungsmittel, das ver‐ schiedene funktionelle Möglichkeiten bietet, die häufig miteinander kombiniert auftreten. So werden Reden dazu eingesetzt, bestimmte typische Charakterzüge der sprechenden Figuren aufzuzeigen, die für den Fortgang der Ereignisse von Bedeutung sind, wie im Falle von Tanaquil und Tullia, Horatia und ihrem Bruder. Reden haben für Dionysios eine wichtige aitiologische Funktion, da sie ebenso kausative Wirkung entfalten können wie Handlungen, weshalb er ihre Integrierung in eine Geschichtsdarstellung für unabdingbar erachtet. Darüber hinaus bieten sie ein geeignetes Medium, um den Lesern die Motivationen der historischen Akteure aufzuzeigen, die seiner Ansicht nach entscheidend für die historische Entwicklung Roms waren. Und nicht zuletzt spielen sie eine wichtige Rolle für den Prozess der kulturellen Assimilierung, den die Antiquitates anstreben. Die Antilogien des Mettius Fufetius und des Tullus Hostilius kreisen um das problematische Verhältnis einer Kolonie (Rom) zu ihrer Mutterstadt (Alba) und transponieren damit ein genuin griechisches Konzept in die römische Frühgeschichte. Dieser Mechanismus funktioniert auch in entgegengesetzter Richtung, wie die Rede der Tullia an Tarquinius Superbus zeigt, die ein römisches exemplum der Zeitgeschichte (Catilina) in einen Text integriert, der sich in erster Linie (wenngleich nicht nur) an ein griechisches Publikum wendet. Ebenso trägt die gezielte Verwendung von Strategien der enargeia zum Vollzug dieses Kulturtransfers bei; durch den geschickten Einsatz einer gedop‐ pelten Fokalisation in der Szene der Hinrichtung der Brutus-Söhne zwingt Dionysios seine griechischsprachigen Rezipienten zu einer geradezu schmerz‐ vollen Einsicht in die Eigenheiten des römischen mos maiorum. 262 7 Fazit <?page no="263"?> Auf der textuellen Ebene finden somit erzählerische Techniken Anwendung, die der Transportierung abstrakter Deutungsmuster zu Wesen und Werden der Römer dienen. Hierdurch schreibt der Text sich ein in einen Prozess der be‐ wussten Assimilierung von Griechen und Römern, dessen anderer bedeutender Vertreter Polybios ist. Doch gehen die Antiquitates über dessen Historien hinaus, da sie stärker auf die gezielte Aktivierung des Lesers setzen, um ihr Anliegen zu verwirklichen. Durch die virtuose Nutzung der narrativen Möglichkeiten, die der antiken Historiographie zur Verfügung stehen, bewirken sie eine hoch‐ komplexe kulturelle und zeitliche Interaktion der Pole griechische Welt und römische Welt, Einst und Jetzt. 7 Fazit 263 <?page no="265"?> Literaturverzeichnis Ausgaben und Übersetzungen Dionysii Halicarnasei Antiquitatum Romanorum quae supersunt, edidit Carolus Jacoby, Stuttgart 1885-1905 (ND 1995-1997). Dionysii Halicarnasei Opusculorum quae exstant, ediderunt Hermannus Usener et Ludovicus Radermacher, Stuttgart 1899-1929 (ND 1965 und 1997). Dionysius of Halicarnassus, The Roman Antiquities, with an English translation by Earnest Cary, on the basis of the version of Edward Spelman, Cambridge/ MA, 1937- 1950. Dionysius of Halicarnassus, The Critical Essays, with an English translation by Stephen Usher, Cambidge (Mass.) / London 1974-1985. Dionysius of Halicarnassus: On Thucydides. English translation with commentary by W. 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II 2,2 72 - ant. 1,1,1-8,4 12 - ant. 1,1,2 131 - ant. 1,2,1-3,6 42 - ant. 1,3,4 165 - ant. 1,4-5 159, 223 - ant. 1,4,1-5,4 49 - ant. 1,4,1-2 42f. - ant. 1,5,1-4 131 - ant. 1,5,2 12, 164 - ant. 1,6,3 51 - ant. 1,6,3-4 40f. - ant. 1,6,5 44, 223 - ant. 1,7,1-2 31 - ant. 1,7,2 21, 34 - ant. 1,8,2 49, 195 - ant. 1,8,3 46f. - ant. 1,8,4 31 - ant. 1,16,1-3 166 - ant. 1,25,3 69 - ant. 1,57,4 161 - ant. 1,58-59 141 - ant. 1,58,2-4 159-161 - ant. 1,58,5 161f. - ant. 1,58,8 210 - ant. 1,59,5 210 - ant. 1,61,1-62,2 161 - ant. 1,64,2 154 - ant. 1,66,2 162 - ant. 1,72,1-6 48 <?page no="286"?> ant. 1,76,1-79,3 99 - ant. 1,77,1-3 74, 99 - ant. 1,77,2 101 - ant. 1,79,4-8 98f. - ant. 1,79,4 103 - ant. 1,79,6-7 100-103 - ant. 1,79,6-11 99 - ant. 1,79,8 100 - ant. 1,79,9 102f. - ant. 1,79,10 101 - ant. 1,79,12-83,3 103f. - ant. 1,80,3-4 108f. - ant. 1,81,5 141 - ant. 1,82,1 141 - ant. 1,83,1 141 - ant. 1,84,1-8 74 - ant. 1,84,1 103 - ant. 1,84,4 103 - ant. 1,86,4 142 - ant. 1,87,4 142 - ant. 1,90,1 12 - ant. 2,3,1-29,2 180 - 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ant. 4,45,3-4 233 - ant. 4,46,1-48,3 110 - ant. 4,46,3 180 - ant. 4,59,1-1,4 110 - ant. 4,63,1-3 229 - ant. 4,64,1 223 - ant. 4,64,4-67,2 105 - ant. 4,64,4 112, 226, 234 - ant. 4,64,5-65,1 105f. - ant. 4,65,1 112, 145f. - ant. 4,65,2-3 145, 227 - ant. 4,65,4 146, 227, 234 - ant. 4,66,1 91, 226 - ant. 4,66,1-2 106f., 228 - ant. 4,66,2-3 224, 228, 234, 236f. - ant. 4,67,1-2 82-85, 113, 173, 224 f., 233 f., 236f. - ant. 4,68,1-69,4 173f. - ant. 4,68,2 180f. - ant. 4,70,1-2 238 - ant. 4,70,2-3 84, 236, 238 - ant. 4,70,4 155, 173-175, 180f. - ant. 4,70,5 86, 173, 238 - ant. 4,71,1-76,2 173-175 - ant. 4,71,1-6 178, 180 - ant. 4,71,2 238 - ant. 4,72,2 180 - ant. 4,73,1-75,4 178-180 - ant. 4,76,1 178 - ant. 4,76,3-4 113f., 173, 238 - ant. 4,77,1-83,5 172-181 - ant. 4,78,1 179 Stellenindex 287 <?page no="288"?> ant. 4,79,4 256 - ant. 4,80,1-4 179f. - ant. 4,81,3-82,5 179 - ant. 4,82,1-3 238 - ant. 4,82,3-4 236 - ant. 4,84,1-2 177 - ant. 5,1,2 175 - ant. 5,2,2 175, 179 - ant. 5,7,1-8,6 85, 168, 172 - ant. 5,7,2 154f. - ant. 5,8,1-6 115 - ant. 5,8,1 86f., 117 - ant. 5,8,2-3 115f. - ant. 5,8,4 87 - ant. 5,8,5 116f. - ant. 5,8,6 87-89, 116 - ant. 5,9,1-12,3 86 - ant. 5,10,7 169 - ant. 5,12,2 180 - ant. 5,12,3 13 - ant. 5,13,1 175 - ant. 5,15,2-3 82 - ant. 5,17,2 131 - ant. 5,20 179 - ant. 5,56,1 110 - ant. 5,72,2-3 115 - ant. 5,77,1-6 41 - ant. 6,3 159 - ant. 7,1,1 175 - ant. 7,18,1 175 - ant. 7,18,3 165f. - ant. 7,20-67 182 - ant. 7,20,1 175 - ant. 7,20,2 182 - ant. 7,24,3 158 - ant. 7,29,4 175 - ant. 7,32,3 175 - ant. 7,34,3-5 148 ant. 7,44,4 82 - ant. 7,54,1 175 - ant. 7,66 120, 140 - ant. 7,66,3-4 140 - ant. 7,66,5 140f. - ant. 7,70,1-5 12 - ant. 7,70,1 143 - ant. 7,70,2 31 - ant. 8,22,2 84 - ant. 8,39-54 118 - ant. 8,89,2 93 - ant. 8,89,4-5 246 - ant. 9,21,4 93 - ant. 9,24,2 84 - ant. 9,27,3 41 - ant. 9,44,5-45,2 148 - ant. 9,48,5 175 - ant. 10,17,4-5 81 - ant. 10,17,6 41 - ant. 11,1,1-6 105, 108 - ant. 11,1,1 46 - ant. 11,1,3-6 140 - ant. 11,1,3 105, 110, 141 - ant. 20,6,1 161f. - comp. 4,15 51 - comp. 20,1-7 138 - comp. 20,8-22 70 - Dein. 6,4 138 - Dein. 8,6 138 - Dem. 13,2 138 - Dem. 15,2-7 138 - Dem. 18,7-8 138 - Dem. 48,5 138 - Dem. 58,2 69 - imit. 3,3 121 - Is. 3,1 69 - Isokr. 2,2 69 - Isokr. 11,3 69 288 Stellenindex <?page no="289"?> Lys. 2-14 72 - Lys. 7,1-3 69-71, 104, 133 - Lys. 7,1 69, 73, 117 - Lys. 9,1-5 137f. - Lys. 13,3 138 - Lys. 15,1-3 72f. - orat. vet. praef. 1 36 - orat. vet. praef. 2 36 - orat. vet. praef. 3 36f. - Pomp. 1,3 131 - Pomp. 3-6 138 - Pomp. 3,17 69,74 - Pomp. 3,20 33, 121, 134 - Pomp. 4,3 69 - Pomp. 6 72 - Thuc. 1,2 128 - Thuc. 8,1 131 - Thuc. 14,3 130 - Thuc. 16,2 121f. - Thuc. 18,1-2 131-133 - Thuc. 18,3-4 132 - Thuc. 18,6-7 132 - Thuc. 25,1 121 - Thuc. 26,2-27,4 94 - Thuc. 34 138 - Thuc. 36-45 138 - Thuc. 36,1 133 - Thuc. 41,4 134 - Thuc. 42,5 128 - Thuc. 44-45 138, 183 - Thuc. 49f. 130 - Thuc. 50 34 - Thuc. 55,3 121 - - - Euripides - Hec. 560f. 59 - - - Hellanikos von Lesbos - FGrHist 4 F 84 48 - - - Herodot - 1,1-3 256 - 1,8-12 190 - 1,184 190 - 1,205-214 190 - 2,100 190 - 3,80-82 181 - 4,180,2 170 - 7,51 166 - 8,22 166 - 8,69 190 - - - Homer - Il. 3,121-244 90 - Il. 18,478-608 101 - Il. 22,460 193 - - - Kallisthenes - FGrHist 124 F 44 135 - - - Kratippos - FGrHist 64 F 1 122 - - - Livius - 1,4,6f. 100-103 - 1,23,5-10 166 - 1,25,1-6 97f. - 1,26,1-4 171 - 1,29 167 - 1,34,1 206 - 1,34,4 206 - 1,34,5-12 207 - 1,35,1-2 210 - 1,39,1-4 208 - 1,39,4 210 Stellenindex 289 <?page no="290"?> 1,40,1-7 208 - 1,41,3 210 - 1,41,4-9 209 - 1,46,1-4 217f. - 1,46,6-9 217-219 - 1,46,7-8 221 - 1,47,1-12 219 - 1,47,2-5 222 - 1,47,6 221 - 1,48,1-7 219f. - 1,48,5 221 - 1,57,6-11 230f. - 1,57,9 243 - 1,58 105 - 1,58,1-2 146, 231 - 1,58,4 231 - 1,58,6-59,2 68 - 1,58,7-11 231f. - 1,58,7 236 - 1,58,8 235 - 1,58,10 235 - 1,59,1-2 232 - 1,59,1 238 - 1,59,2-7 178 - 1,59,3 238 - 1,59,8 238 - 1,59,11 220 - 1,59,13 220 - 5,41,4-10 68 - 9,1 126 - - - Longin - sublim. 15 60 - sublim. 15,9 57 - sublim. 26,2 66 - - - Lukian - hist. conscr. 51 58 hist. conscr. 58 136 - - - Markellinos - vita Thuc. 38 122 - - - Ovid - fast. 2,723-852 222 - fast. 6,587-624 211 - fast. 6,626-636 196 - met. 1,637f. 62, 65 - - - Plutarch - Art. 8,1 67 - Cam. 22,2 29 - Publ. 1,3-4 178 - Sol. 8 180f. - Sulla 24,4 50 - - - - de glor. Ath. 3,4,7a 58f. - - - Polybios - 1,1,2 47 - 1,1,5 47f. - 2,16,13-15 68 - 2,56 68 - 3,48,8 68 - 6,3-9 181 - 12,25b1-2 120 - 12,25e1 47 - 12,25g-h 51 - - - Pompeius Trogus - Just. epit. 38,3,11 121f. - Just. epit. 38,4-7 121 - - - Quintilian - inst. 6,1,26 95 - inst. 6,2,26-36 60 290 Stellenindex <?page no="291"?> inst. 6,2,30 58 - inst. 8,3,61-69 60 - inst. 8,3,67-69 66 - inst. 8,3,67 57 - inst. 9,2,40 60 - inst. 10,1,101 121 - - - Sallust - Cat. 20,2-17 156 - Iug. 93,2-5 63f. - - - Silius Italicus - 13,831-838 211 - - - Solon - fr. 4 W. (3 G.-Pr.) 181 - - - Tacitus - Agr. 30-32 126 - ann. 12,37 126 ann. 14,55f. 126 - - - Thukydides - 1,22 124 - 1,22,1f. 121, 125, 134f. - 1,24-55 166 - 2,35-46 131 - 2,59,1-2 130 - 2,71-75 133 - 4,9-23 132 - 4,26-40 132 - 7,69,4-72,1 94 - - - Valerius Maximus - 6,1,1 222 - 9,11 157, 211 - - - Vergil - Aen. 12,176-215 143 Stellenindex 291 <?page no="292"?> Register Accius-221 Achilleus Tatios-61 Aemilia-142 Aeneas-28, 141, 143, 159-163, 181 f., 262 Alexander d. Gr.-36 f. Ambiorix-126 Amita-154 Amphitryon-201 Amulius-28, 98-101, 108, 143 Ancus Marcius-149, 152 f., 198 f., 204-208 Andromache-193 Antiochus-32 Antoninus Pius-246 Apollodoros von Pergamon-32 Apollonios von Rhodos-55, 59 Appius Claudius-148 Archias-32 Archidamos-133 Aristoteles-57, 59, 62, 65 f., 69 f., 78, 250 Arruns-154, 199, 203, 212, 218 f. Artemisia-190 Ascanius-162 f. Augustus 9, 12, 23, 32 f., 37, 43, 45, 50, 121, 178, 180, 202, 218, 246, 248 f., 259 Brutus-82, 85-89, 91, 94, 115 f., 131, 142, 144, 168 f., 172-183, 210, 221, 232, 235 f., 238, 262 Caecilius von Kaleakte-33 Caesar-32, 173, 180 Calgacus-126 Calpurnius Piso-98 Cassius Dio-55, 233 f. Catilina-156 f., 262 Cato d. Ä.-98, 125 Cicero-32, 34, 37 f., 54, 137, 156 f., 234, 240, 251 Cincinnatus-81 Cincius-98 Collatinus 84, 86, 173, 223-226, 228, 230 f., 236 f., 246 Coriolan 82, 84, 118, 140, 148, 158, 182, 187 Cornelia-247 Curiatii-76, 92, 95-98, 103, 111, 142, 162, 166 f., 169 f., 194, 262 Dareios-191 Decius-82 Demetrios von Phaleron-60, 63, 70 Demosthenes-26, 38, 139 Diodor-32, 223, 227 Diodotos-32 Egeria-197 Empylos von Rhodos-32 Epikur-57 Fabius Pictor-98, 203, 213, 251 Faustulus-98 f., 101-104, 108 f., 141, 143 Fulvia-247 Gorgias-129, 137 Gyges-192, 227 Helena-90, 256 Herakles-155, 201 Herodot-11, 14, 17, 39, 44, 46 f., 67, 74, 119, 122, 131, 166, 186, 189-192, 227, 256 f. Hersilia-183, 187 Hesiod-165 Hippias-175 Homer-55, 67, 70, 90, 101, 125, 257 Horatia 95, 109, 111 f., 167-172, 182, 193 ff., 233, 247, 258, 262 Horatii 76, 89, 92, 94-97, 101, 103, 111, 142, 162, 166, 169 f., 172, 182, 193 f., 247, 262 Horatius-109-112, 167-172, 182, 193 f., 196, 262 <?page no="293"?> Horaz-33 f., 69 Hypsipyle-254 Icilius-233 Isokrates-24, 39, 44, 129, 137, 144 Iustinus-121 Kallimachos-55 Kallisthenes-135 Kandaules-190, 192, 227 Kratippos-121 f. Larentia-101 ff. Latinus-28, 141, 143, 159, 161 f., 181 f., 262 Laurentia-187 Livia-202 Livius-7, 10 f., 13 ff., 27 ff., 34 f., 38, 40, 55, 67 f., 74, 82, 90, 97, 100-105, 113, 121, 146, 148, 166 f., 171, 178 f., 185 f., 193, 196 f., 202, 204, 206-211, 213 f., 216-223, 225 ff., 230-240, 242 f., 246, 251-254, 257, 265 Lucretia-14, 68, 76 f., 82 ff., 89, 91, 101, 105 ff., 112 f., 142, 145 f., 173, 176 f., 179, 186 f., 196, 210, 215, 219, 222-241, 243 f., 246-250, 253-258, 261 f. Lucretius 84, 88, 106 f., 113, 144, 155, 224 f., 228, 231, 236 ff., 244, 246, 253, 258 Lucullus-32, 45 Lucumo-→ Tarquinius Priscus Lukian-58 f., 69, 136 Lysias-26, 67, 69 ff., 73, 75, 104, 133, 137 f., 261 Marcius-78 Marius-63 Markellinos-122 Mars-201 Medea-254 Mettius Fufetius-162 ff., 166, 181, 262 Mithridates-32, 50, 121 Molon-32 Nero-126 Nikolaos von Damaskus-33 Nitokris-190 Numa Pompilius-197, 225 Numitor-98, 103, 108, 141, 143, 147 Ocrisia-79, 150, 187, 200 ff., 210, 216, 234 Odysseus-48 Opimia-246 Ovid-33 f., 62, 240 Perikles-131 ff. Phidias-58 Philoxenos-32 Platon-57, 250 Plutarch-28, 58 f., 67, 178, 251 Polybios 12, 15, 19, 32 f., 47-51, 68, 78, 120, 122, 128, 136, 165, 263 Pompeius-32 Pompeius Trogus-121 Poseidonios-19, 32 Praxiphanes-69 Praxiteles-59 Priamos-90 Ps.-Longin-60, 64, 69 Pyrrhus-49, 162 Quintilian-58, 60, 64, 137 Remus-76, 89, 98, 101, 103, 108, 142, 201 Rhea Silvia-99, 187, 233 Romulus-28 f., 76, 98, 101, 103, 107 ff., 142, 146 f., 164, 180, 182 f., 201 Rutilius Rufus-45 Sallust-55, 121, 156 f., 165 Scipio Aemilianus-47 Semiramis-190 Seneca-126 Servilia-247 Servius Tullius-29, 76, 78-82, 114 f., 142, 149-154, 158 f., 175, 181, 196, 199-202, 204 f., 207-211, 213, 215 ff., 219, 221 f., 229, 234, 256 f. Sextus Tarquinius-91, 105 f., 112, 142, Register 293 <?page no="294"?> 145 f., 215 f., 223-231, 233-236, 240, 256 Solon-180 f. Tacitus-15, 55, 126, 186 Tanaquil-78 ff., 87, 94, 110, 115, 142, 149- 154, 159, 172, 181 f., 187, 196-211, 214- 222, 224, 230, 235, 237 ff., 241 f., 247, 252-257, 262, 270 Tarpeia-187, 233 Tarquinius Priscus-78 f., 115, 149-155, 196-212, 217 f., 252, 256 Tarquinius Superbus 80 ff., 85, 92, 115, 142, 152-155, 158 f., 174-180, 183, 197, 199, 203, 211-214, 216-220, 222 f., 229, 233, 239 f., 254 f., 257, 262 Theodoros von Gadara-32 Theokrit-55 Theophrast-69, 137 Thukydides-11, 13, 15, 17-20, 38 f., 55, 59, 67, 72, 74, 90, 94, 107, 119, 121-126, 128-137, 139 f., 149, 166, 183, 189, 261, 266 Tiberius-121 Timagenes von Alexandrien-33 Tomyris-190 Tubero, Q. Aelius-34 Tullia-14, 76, 81 f., 89, 115, 142, 149, 154- 159, 172, 175, 181 ff., 187, 196 f., 199, 210-222, 224, 235, 237 ff., 241, 247, 253 ff., 257, 262 Tullus Hostilius-92, 162-167, 181 f., 262 Turnus-154 Turnus Herdonius-110 Tyrannion-32 Valeria-118 Valerius Maximus-157 Vergil-33 f., 45 f., 240 Verginia-233, 247 Veturia-118, 187, 240 Volumnia-187 Xenophon-67, 139, 188 Xerxes-190 f. 294 Register <?page no="295"?> Classica Monacensia Münchener Studien zur Klassischen Philologie herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Die Classica Monacensia verstehen sich als Präsentationsforum für aktuelle Ergebnisse von Forschungsprojekten zur antiken Literatur, die an der LMU München entstanden sind. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen in der Reihe Monographien, kommentierte Textausgaben und Sammelbände aus Themenbereichen der Griechischen und Römischen Antike. Der Schwerpunkt liegt dabei auf literaturwissenschaftlicher Forschung in Verbindung mit historischen und philosophischen Fragestellungen. Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ literaturwissenschaft/ reihen/ classica-monacensia/ Band 34 Helmut Löffler Fehlentscheidungen bei Herodot 2008, X, 242 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6381-1 Band 35 Gregor von Nazianz Über Vorsehung Περὶ Προνοίας Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Andreas Schwab 2009, 142 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6418-4 Band 36 Peter Grossardt Achilleus, Coriolan und ihre Weggefährten Ein Plädoyer für eine Behandlung des Achilleus-Zorns aus Sicht der vergleichenden Epenforschung 2009, XII, 159 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6483-2 Band 37 Regina Höschele Die blütenlesende Muse Poetik und Textualität antiker Epigrammsammlungen 2010, X, 375 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6552-5 Band 38 Alexander Müller Die Carmina Anacreontea und Anakreon Ein literarisches Generationenverhältnis 2010, VIII, 300 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6575-4 Band 39 Andreas Patzer STUDIA SOCRATICA Zwölf Abhandlungen über den historischen Sokrates 2012, X, 370 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6579-2 <?page no="296"?> Band 40 Maria Gerolemou Bad Women, Mad Women Gender und Wahnsinn in der griechischen Tragödie 2011, X, 442 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-6580-8 Band 41 Karin Mayet Chrysipps Logik in Ciceros philosophischen Schriften 2010, 340 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6581-5 Band 42 Nikolaos Vakonakis Das griechische Drama auf dem Weg nach Byzanz Der euripideische Cento Christos Paschon 2011, 184 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6582-2 Band 43 Evanthia Tsigkana Studien zu Euripides’ Elektra Das Motiv der Erwartung im griechischen Drama 2012, 320 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6724-6 Band 44 Margot Neger Martials Dichtergedichte Das Epigramm als Medium der poetischen Selbstreflexion 2012, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6759-8 Band 45 Isabella Wiegand Neque libere neque vere Die Literatur unter Tiberius und der Diskurs der res publica continua 2013, XIV, 362 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6811-3 Band 46 Sophia Bönisch-Meyer/ Lisa Cordes/ Verena Schulz/ Anne Wolsfeld/ Martin Ziegert (Hrsg.) Nero und Domitian Mediale Diskurse der Herrscherrepräsentation im Vergleich 2014, VIII, 485 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6813-7 Band 47 Fabian Horn Held und Heldentum bei Homer Das homerische Heldenkonzept und seine poetische Verwendung 2014, IV, 388 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6837-3 Band 48 Jan-Markus Pinjuh Platons Hippias Minor Übersetzung und Kommentar 2014, 264 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6849-6 Band 49 Olga Chernyakhovskaya Sokrates bei Xenophon Moral - Politik - Religion 2014, XII, 279 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6863-2 Band 50 Lukians Apologie Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Markus Hafner 2017, 159 Seiten €[D] 38,00 ISBN 978-3-8233-8071-9 Band 51 Manuel Caballero González Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur 2017, 628 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6991-2 <?page no="297"?> Band 52 Philipp Weiß Homer und Vergil im Vergleich Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik 2017, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8110-5 Band 53 Andreas Patzer Von Hesiod bis Thomas Mann Dreizehn Abhandlungen zur Literatur- und Philosophiegeschichte 2018, 245 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8190-7 Band 54 Vicente Flores Militello tali dignus amico Die Darstellung des patronus-cliens- Verhältnisses bei Horaz, Martial und Juvenal 2019, 366 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8296-6 Band 55 Alexander Schütze, Andreas Schwab (eds.) Herodotean Soundings The Cambyses Logos 2023, 429 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8329-1 Band 56 Margot Neger Epistolare Narrationen Studien zur Erzähltechnik des jüngeren Plinius 2021, 448 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8345-1 Band 57 Alexander Sigl Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur 2023, 511 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8503-5 Band 58 Maria Anna Oberlinner Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris 2023, 285 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8526-4 Band 59 Cagla Umsu-Seifert Olympiodors Kommentar zu Platons Alkibiades Untersuchung, Text, Übersetzung und Erläuterungen 2023, 690 Seiten €[D] 118,00 ISBN 978-3-8233-8590-5 Band 60 Manuela Wunderl Das Symposion bei Herodot 2023, 530 Seiten €[D] 108,00 ISBN 978-3-381-10111-5 Band 61 Björn Victor Sigurjónsson Sic notus Achilles? Episches Narrativ und Intertextualität in Statius’ Achilleis 2023, 314 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-381-10721-6 Band 62 Christoph Mayr Schwäche, Scheitern, Fehlverhalten Die Darstellung von Fallibilität als Inszenierungsstrategie der Autorpersona bei Horaz, Ovid und Seneca 2024, 217 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-381-12981-2 Band 63 Caroline Hähnel Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass 2024, 294 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-381-12091-8 <?page no="298"?> ISBN 978-3-381-12091-8 www.narr.de www.narr.de www.narr.de Die Studie bietet eine umfassende Analyse der lange Zeit unterschätzten und nur wenig untersuchten Darstellungsweise in den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnass. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf den Büchern zur Königszeit, in denen drei wesentliche erzählerische Merkmale besonders hervortreten: die Schaffung von enargeia, das heißt von Anschaulichkeit, die Verwendung von Reden und die Gestaltung von Frauenfiguren, welchen für die römische Frühgeschichte eine wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Diese drei Charakteristika stehen in enger Wechselwirkung mit dem Ziel der kulturellen Vermittlung zwischen Griechen und Römern, das Dionysios sich mit seinem Geschichtswerk gesetzt hat. Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass Hähnel Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass von Caroline Hähnel
