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Tatort Syntax

Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik

0729
2024
978-3-3811-2102-1
978-3-3811-2101-4
Gunter Narr Verlag 
Isabelle Thormann
10.24053/9783381121021

Dieses Buch versteht sich einerseits als Lehrbuch für die forensische Linguistik. Zugleich ist es ein praxisorientierter Leitfaden zur Identifizierung anonymer Textverfasser:innen über ihre Sprachmuster. Anhand vieler Beispiele wird veranschaulicht, welch vielschichtige Informationen Texte und Sätze über ihre Verfasser:innen preisgeben. Im Vordergrund stehen qualitative Verfahren, in deren Rahmen auch eine sinnvolle Kodierung vorgestellt wird, die sich in der langjährigen Praxis der Autorin als öffentlich bestellte und vereidigte Gutachterin bewährt hat. Dieser verständliche und unverzichtbare Leitfaden enthält ein umfangreiches Glossar der Fachbegriffe, befasst sich auch mit der aktuellen Frage nach KI-generierten Texten und wendet sich nicht nur an Linguist:innen, sondern auch an Leser:innen aus den Rechtswissenschaften (insbesondere Richter:innen), der Informatik, Psychologie, Kriminologie und Kriminalistik.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-381-12101-4 Dieses Buch versteht sich einerseits als Lehrbuch für die forensische Linguistik. Zugleich ist es ein praxisorientierter Leitfaden zur Identifizierung anonymer Textverfasser: innen über ihre Sprachmuster. Anhand vieler Beispiele wird veranschaulicht, welch vielschichtige Informationen Texte und Sätze über ihre Verfasser: innen preisgeben. Im Vordergrund stehen qualitative Verfahren, in deren Rahmen auch eine sinnvolle Kodierung vorgestellt wird, die sich in der langjährigen Praxis der Autorin als öffentlich bestellte und vereidigte Gutachterin bewährt hat. Dieser verständliche und unverzichtbare Leitfaden enthält ein umfangreiches Glossar der Fachbegriffe, befasst sich auch mit der aktuellen Frage nach KI-generierten Texten und wendet sich nicht nur an Linguist: innen, sondern auch an Leser: innen aus den Rechtswissenschaften (insbesondere Richter: innen), der Informatik, Psychologie, Kriminologie und Kriminalistik. Thormann Tatort Syntax Tatort Syntax Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik Isabelle Thormann <?page no="1"?> Dr. Isabelle Thormann ist seit 2010 öffentlich bestellte und vereidigte (öbuv) Sachverständige für forensische Linguistik, lehrt an der TU Braunschweig forensische Linguistik und ist Verfasserin diverser Veröffentlichungen, u. a. zur forensischen Linguistik und Rechtssprache. BUCHTIPP Die Forensische Linguistik ist ein Teilgebiet der Angewandten Linguistik. Ihre Aufgabe ist es, sprachliche Daten zu analysieren, die Gegenstand einer juristischen Betrachtung sind. Forensische Linguistik befasst sich daher mit der Analyse von mündlichen (Sprechererkennung) und schriftlichen Texten (Autorenerkennung), die Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung oder eines gerichtlichen Verfahrens sind, mit Äußerungsdelikten (z.B. Beleidigung), mit Plagiatsvorwürfen und mit Bedeutungs- und Verständlichkeitsnachweisen von streitigen Begriffen oder Äußerungen z. B. im Zusammenhang mit Markenrecht, Produkthaftung oder Vertragsrecht. Das vorliegende Studienbuch führt anhand authentischer Texte und exemplarischer Analysen in das Arbeitsfeld und in die wichtigsten Analysemethoden ein. Alle Kapitel sind mit konkreten Fällen illustriert, Aufgaben in den einzelnen Kapiteln ermöglichen eine unmittelbare Anwendung. Eilika Fobbe Forensische Linguistik Eine Einführung narr STUDIENBÜCHER 2., überarbeitete und erweiterte Au age 2024, ca. 280 Seiten €[D] 27,90 ISBN 978-3-8233-8489-2 eISBN 978-3-8233-9489-1 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="2"?> narr studienbücher <?page no="4"?> Isabelle Thormann Tatort Syntax Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik <?page no="5"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783381121021 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-381-12101-4 (Print) ISBN 978-3-381-12102-1 (ePDF) ISBN 978-3-381-12103-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="6"?> 15 21 23 27 27 28 1 35 1.1 35 1.2 38 1.3 41 1.4 42 1.5 42 1.6 44 1.6.1 44 1.6.2 48 1.6.3 53 1.7 54 1.7.1 55 1.7.2 57 1.7.3 59 1.7.4 59 1.7.5 59 1.8 60 1.8.1 61 1.8.2 62 1.8.3 62 1.8.4 62 1.8.5 63 1.8.6 63 1.9 64 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worum es in diesem Buch geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worum es in diesem Buch NICHT geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreibweisen in diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nomenklatur, Farben, Zeichen, Kästen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basiswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Teildisziplinen der forensischen Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben in der forensischen Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Authentizitätsfeststellung, Urheberschaftsfragen, Autorenerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachprofiling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlannahmen über forensische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zauberwort „Idiolekt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist idiolektal? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stil, Register, Sprachvarietät, Genre, Slang, Jargon, Situation . . . . . Idiolekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen für vergleichende Textuntersuchung . . . . . . . . . . Textsortenkompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Authentizität der Vergleichstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minimum an Textmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitnähe der Entstehung der zu vergleichenden Texte . . . . . . . . . . Fehlervermeidung und Zusammenfassung der Axiome . . . . . . . . . . Die 5 linguistischen Gebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typografie, Textstruktur/ -sorte/ -funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orthografie und Interpunktion (ohne dass/ das und Komma) . . . . . Syntax (einschließlich dass/ das und Komma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphologie und Morphosyntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexik und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Und was ist mit Pragmatik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hundert Fragen zu einem Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 1.10 70 1.10.1 71 1.10.2 73 1.11 75 1.12 77 1.12.1 81 1.12.2 86 1.12.3 86 1.12.4 88 1.12.5 89 1.12.6 90 1.13 91 1.14 94 2 97 2.1 97 2.2 107 2.2.1 107 2.2.2 115 3 119 3.1 119 3.2 124 3.3 127 3.4 127 3.5 129 3.6 130 3.6.1 130 3.6.2 132 3.6.3 133 3.6.4 134 3.6.5 135 3.7 135 3.8 140 3.9 141 3.9.1 143 3.9.2 146 3.9.3 147 3.9.4 148 3.9.5 149 Fehler bzw. Normabweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzvs. Performanzfehler: Flüchtigkeitsfehler oder Wissensmangel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerwiegende Fehler vs. unwesentliche Normabweichungen . . Notwendiger Vergleich mit einem neutralen Korpus . . . . . . . . . . . . Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung Die quantitativen Methoden, Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilometrie, N-Gramme, Korpuslinguistik, Statistik . . . . . . . . . . . . . Likelihood-Ratio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Type-Token-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzung beider Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idiolektale Cluster, Kookkurrenzen, Kollokationen . . . . . . . . . . . . . ChatGPT und andere KI-Apps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Schritte und einfache Kodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konvertierung bzw. Transkription und Satz-Format . . . . . . . . . . . . Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markieren erster Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfache Kodierung für Kommata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . Die häufigsten Fehlannahmen über korrektes Deutsch . . . . . . . . . . Dezeptive Strategien, Verstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plagiierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interlinguale Interferenz bzw. Einfluss einer anderen Sprache . . . . Deutsch als Fremdsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Text wurde nicht von einem Menschen verfasst . . . . . . . . . . . . KI hat den Text erzeugt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Text ist eine Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Text wurde von mehreren Personen geschrieben oder bearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Text wurde diktiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Der) Text wurde übernommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elliptische Social-Media-Ausdrucksweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenderter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategie „gebildet wirken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgriff: Ersetzungen, „gebildete“ Wörter und Wendungen . . . . Kunstgriff: viele Fremdwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgriff: Funktionsverbgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgriff: Satzanfang nicht mit dem Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgriff: Nominalstil mit dem Verb „erfolgen“ . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="8"?> 3.9.6 151 3.9.7 153 3.10 154 3.11 157 3.12 157 3.13 158 3.14 160 3.15 163 3.16 165 3.17 166 3.18 166 3.19 168 3.20 170 3.20.1 170 3.20.2 176 3.20.3 176 3.20.3.1 180 3.20.3.2 181 3.20.3.3 182 3.20.4 186 3.20.5 187 3.20.5.1 188 3.20.5.2 188 3.20.5.3 188 3.20.5.4 189 3.20.5.5 194 3.20.5.6 196 3.20.6 197 3.20.7 197 3.20.8 198 3.20.9 198 3.20.10 199 3.20.11 200 3.20.12 201 3.20.12.1 202 3.20.12.2 203 3.21 205 3.21.1 205 3.21.1.1 205 3.21.1.2 206 3.21.2 207 3.21.3 207 Kunstgriff: uneingeleitete Konditionalsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgriff: Genitiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategie „sich ausdrücken wie ein/ e Jurist: in“ . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategie „der Aussage Nachdruck verleihen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deagentivierungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgriff: „Es“ zur Vermeidung von „dass“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Es“ ohne Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das beliebte „Dies“ ohne Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hohe „man“-Dichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hohe „ich“-Dichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Topikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungewöhnliche Satzteil-Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Er schreipt wia schpricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreib-Entwicklungs-Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „ss/ s-Problem“ einschließlich „dass/ das(/ daß)“ . . . . . . . . . . . . . das vs. dass (früher daß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Dass-Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Inhalts-Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dativ-/ Akkusativ-Vertauschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten mit den Kleinigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchstabendreher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i/ ie-Schreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „h“-Schreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Too much . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es fehlt eine Kleinigkeit bzw. es wird gespart . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es ist eine Kleinigkeit falsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage oder Satz mit etwas Fraglichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Falscher Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Position von „sich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Position kleiner Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partizipbildung, Transitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierige Adjektivendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die häufigsten Kommafehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlendes Komma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überflüssiges Komma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelnde Kongruenz, Konsistenz, Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelnde Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelnde Kongruenz von Genus, Numerus u. Kasus (KNG-Kongruenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelnde Kongruenz bei Hilfsverben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelnde Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzkonstruktionsbruch, Satz(bau)bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> 3.22 208 3.23 211 3.23.1 211 3.23.2 212 3.23.3 215 3.23.4 217 3.23.5 217 3.23.6 220 3.23.7 222 3.23.8 224 3.23.9 224 3.23.10 225 3.23.11 228 3.23.12 228 3.23.13 229 3.23.14 230 3.23.15 231 3.23.16 232 3.23.17 233 3.23.18 233 3.23.19 234 3.23.20 235 4 237 4.1 239 4.2 246 4.3 252 5 267 5.1 268 5.2 274 5.3 275 5.4 280 5.5 282 5.6 283 5.7 284 5.7.1 285 5.7.2 288 5.7.3 288 5.8 288 5.9 289 5.10 291 Unlogischer bzw. widersprüchlicher Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexikalisches und Semantisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprach-Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgefallene, falsche, fehlende, unklare Lexeme . . . . . . . . . . . . . . . Unklares oder falsches Pronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklares oder falsches Adverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachwandel, Archaismen und Neologismen . . . . . . . . . . . . . . . . . Distancing, Evasivität, Hedging, Vagheit, Nicht-Faktizität . . . . . . . Saliente Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onomatopoetika (lautmalerische Wörter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachsprachliche Ausdrücke und Fremdwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . Paronyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rekurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolektale Ausdrücke und Alters-Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hate Speech, Obszönität, Profanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale Varietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partikeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diminutiv (Verkleinerung, Verniedlichung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropomorphisierung, Personifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraktion, Schmelzwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexikalische Eindeutigkeit und Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gleiche ist nicht dasselbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genaue Kodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komma-Kodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypotaxe und die „Thormann’schen Treppenstufen“ . . . . . . . . . . . Satzteil-Kodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesbarkeit und Verständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertriebene Linksattribution (statt Relativsatz) . . . . . . . . . . . . . . . „Holzweg“-Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Falsche Wort-Sparsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implizite Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungewöhnlicher Satzbau, unüblicher Satzanfang . . . . . . . . . . . . . . . Ein Komma, das die Bedeutung verändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komma zwischen zwei Adjektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein fehlendes Komma, das anklagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Komma, das beleidigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenübung zur Lesbarkeit: Komma vor „und“ mit folgendem Hauptsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lange einzelne Satzteile oder Attribute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nominalstil vs. Verbalstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="10"?> 5.11 293 5.11.1 296 5.11.2 296 5.11.3 296 5.11.4 297 5.11.5 297 5.11.6 298 5.11.7 298 5.11.8 299 5.11.9 299 5.11.10 300 5.11.10.1 300 5.11.10.2 301 5.11.10.3 301 5.11.10.4 302 5.12 302 5.13 303 5.14 304 5.15 304 5.16 305 5.17 306 5.18 307 5.19 307 5.19.1 307 5.19.2 308 5.19.3 309 5.19.4 311 5.20 312 5.21 312 5.22 312 5.23 313 5.24 313 5.25 315 5.25.1 315 5.25.2 316 5.25.3 316 5.26 317 5.27 319 6 321 Satzklammer und Dependenzdistanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufige bzw. extreme Satzklammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Modalverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Tempus-Hilfsverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Konjunktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Passiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Verneinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen trennbaren Verbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbale Satzklammer wegen „müssen-Ersatzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrfachgründe für verbale Satzklammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer aus anderen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer im Nebensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Trennung von Artikel/ Präposition und Substantiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Verb-Objekt-Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzklammer wegen Verb-Prädikativ-Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Bezüge durch Aufzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viele Relativsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mischung von Aktiv und Passiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aneinanderreihung ungleicher Elemente, mangelnde Kongruenz . Frei herumschwebende Adverbiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleiche syntaktische Struktur, jedoch unterschiedliche Aussagen . Unklare Verneinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verneinungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verneinung zerdehnt, verdoppelt/ vervielfacht . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Platzierung des „nicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklares „nicht zu“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklar: Wer tut was? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltssätze ohne „dass“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschachtelung trotz Parataxe (Linksattribution usw.) . . . . . . . . . Uneingeleitete Präpositionalphrasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deppenleerzeichen und Striche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehler bei der Consecutio Temporum, speziell Plusquamperfekt . . Unterlassene Verwendung des Plusquamperfekts . . . . . . . . . . . . . . Unbegründete Verwendung des Plusquamperfekts . . . . . . . . . . . . . Doppel-Perfekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das oft bagatellisierte Honorifikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorausgesetzte Kenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verständlichkeits-Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> 7 333 7.1 338 7.1.1 338 7.1.1.1 340 7.1.1.2 343 7.1.1.3 345 7.1.2 348 7.1.3 350 7.1.4 351 7.1.5 352 7.1.5.1 352 7.1.5.2 359 7.1.5.3 361 7.1.6 361 7.1.6.1 361 7.1.6.2 361 7.1.6.3 367 7.1.7 368 7.1.8 368 7.1.9 371 7.1.9.1 371 7.1.9.2 372 7.2 374 7.2.1 374 7.2.2 375 7.2.3 375 7.2.4 376 7.2.5 376 7.2.6 377 7.2.7 377 7.2.8 378 7.3 378 7.3.1 378 7.3.2 382 7.3.2.1 382 7.3.2.2 383 7.3.3 385 7.3.4 387 7.3.4.1 387 Ambiguitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syntaktische Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Funktion einer Präpositionalphrase: Adverbial oder Attribut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die böse Präposition „von“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die böse Präposition „mit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere böse Präpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Attribut, aber zu was? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präpositionalphrase: Adverbial oder Präpositionalobjekt . . . . . . . . Zugehörigkeit oder freier Dativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Funktion eines Satzteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt oder Objekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Kasus, folglich unklare Funktion eines Satzteils . . . . . . . . Ambiguität wegen des Verbs „lassen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug und unklare Rolle eines Nebensatzes . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug eines Adverbialsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug eines Relativsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relativsätze mit einschränkender oder nicht-einschränkender Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Rolle eines Artikels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Rolle eines Personalpronomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambiguität durch Nominalstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nominalstil mit Adverbial in Form einer Präpositionalphrase mit wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nominalstil mit unklarem Genitiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexikalische Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homonyme/ Polyseme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Präposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklares Pronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Numerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklares Modalverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklare Konjunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklares Adverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklares Genus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität . . . . . . . . . . . . . Unklarer Skopus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klammerparadox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klammerparadox bei Adjektiv mit Kompositum . . . . . . . . . . . . . . . . Klammerparadox bei Satzelementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enger oder weiter Skopus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor- und Rückbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anaphorischer Skopus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="12"?> 7.3.4.2 388 7.3.4.3 390 7.3.5 390 7.3.6 391 7.3.7 392 7.3.8 392 7.3.9 394 7.3.10 394 7.3.11 395 7.3.12 395 7.3.13 396 7.3.14 398 7.3.14.1 398 7.3.14.2 399 8 401 8.1 401 8.2 406 8.3 407 8.4 408 8.5 408 8.6 411 8.7 412 8.8 412 8.9 413 8.10 414 8.11 414 8.11.1 416 8.11.2 416 8.11.3 420 8.11.3.1 423 8.11.3.2 423 8.11.3.3 424 8.11.3.4 424 8.11.3.5 425 8.11.3.6 426 8.11.3.7 426 8.11.3.8 427 8.11.3.9 429 8.12 429 Kataphorischer Skopus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anaphorischer und kataphorischer Skopus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug und/ oder Skopus eines Relativsatzes . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug und/ oder Skopus eines Personalpronomens . . . . . Unklarer Bezug und/ oder Skopus einer Präposition (u.-a. bei Aufzählung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug und/ oder Skopus von „nicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug und/ oder Skopus von „sich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Bezug, Skopus und/ oder Funktion von „und“ . . . . . . . . . . Unklarer Bezug von „auch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklares Tempus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarer Konjunktiv II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleiner Unterschied, große Auswirkung auf die Bedeutung . . . . . . Bedeutungsveränderung bei Getrenntbzw. Zusammenschreibung (GZS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Buchstabe anders oder mehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtergerechte Sprache, Gendern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Priming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Code-Switching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionswörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mentale AutoText-Bausteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdruck von Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdruck von Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdruck von Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdruck von Verpflichtung und Notwendigkeit, Aufforderung . . Textlinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textstruktur und weitere typografische Eigenschaften . . . . . . . . . . Textformatierung, Verwendung von EDV-Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . Gruß: Anrede und Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpunktionszeichen, Satzzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semikolon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anführungszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leerzeichen vor und nach Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formatierung, Hervorhebungen und Zusätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lang- und Kurzformen von Substantiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betrags- und Währungsangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datumsschreibweise und Zeitangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedankenpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komposita und Striche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 <?page no="13"?> 8.13 433 8.13.1 433 8.13.2 434 8.13.3 442 8.13.4 443 8.13.5 446 8.13.6 446 8.13.7 447 8.13.8 449 8.13.9 453 8.13.10 464 8.13.11 465 8.13.12 466 8.13.13 469 8.13.14 470 8.14 471 8.15 473 8.16 474 8.17 475 8.17.1 476 8.17.1.1 477 8.17.1.2 479 8.17.2 480 8.17.3 481 9 497 9.1 498 9.2 499 9.3 500 9.3.1 500 9.3.2 501 9.3.3 502 9.3.4 502 9.4 503 9.5 504 10 507 11 509 11.1 510 11.2 512 Der Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fragesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haupt, Matrix- und Nebensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzteile und Wortarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt-Position im Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sätze ohne Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dass-Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relativsatz und Relativpronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adverbiale und Attribute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prädikativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Präpositionalobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheit „erweiterter Infinitiv“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheit „freier Dativ“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das von den Deutschen so geliebte „Es“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Komma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präpositionaladverbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deklination (Kasus, Numerus, Genus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verb regiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tempus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präsens und Zukunftstempora und das explizite Futur . . . . . . . . . . Die Vergangenheitstempora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verben mit Präfix, die trennbar und untrennbar gebraucht werden können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ersatzinfinitiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thema „Gutachten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Null-Hypothese und Alternativ-Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gutachtenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Mängel und Fehler in Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelnde Nachvollziehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prahlen mit Fachwissen und Häufung von Fachausdrücken . . . . . . Abweichen von der Beantwortung der Gutachtenfrage . . . . . . . . . Voreilige Schlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angabe des Ergebnisses in Wahrscheinlichkeitsstufen . . . . . . . . . . Das kann man von KI machen lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mini-Ausbeute bzw. (modern-deutsch) Key Take-Aways . . . . . . . . . . . . . . . . . Die besonders „idiolekt-verdächtigen“ Phänomene . . . . . . . . . . . . . Mindest-Vokabular . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Inhalt <?page no="14"?> 12 513 515 519 537 539 541 542 Ausblick, Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 1: Satzteile und Wortarten in diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 2: Komma-Kodierung (Komma-Fehler-Arten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 13 <?page no="16"?> 1 Mittelalterlicher Philosoph der Spätscholastik (1288-1347), Hauptwerk „Summa logicae“ mit u. a. dem Prinzip „lex parsimoniae“ („Gesetz der Sparsamkeit“, auch „Ockhams Rasiermesser“ genannt), das - genau genommen - für Theorien und Hypothesen anzuwenden ist (nicht für Erklärungen). Vorwort Warum lautet der Titel dieses Buches „Tatort Syntax“ (und nicht „Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik mittels Satzbauuntersuchung“ o. Ä.)? Der „Ort“, an dem der gesuchte Idiolekt, das Corpus Delicti, am ehesten zu finden ist, ist die Syntax. Sie ist somit ein „Tatort“, der der Spurensicherung bedarf, damit der so entscheidende Idiolekt (kurz: die jedem Individuum eigenen Sprachgewohnheiten) gefunden wird. Warum der Fokus auf Syntax? Auch die anderen Bereiche wie die Lexik sind ergiebig, Befunde im Satzbau sind jedoch für die Authentizitätsfeststellung belastbarer, weil es hier - im Satzbau - für jmdn., der seine Identität nicht preisgeben will, wesentlich schwieriger ist, seinen Sprachstil zu verstellen, als bei der Wortwahl. In anderen Worten: In der Syntax zeigt sich der Idiolekt eher als in der Lexik. Ein weiterer Grund für die Wahl des Titels „Tatort Syntax“ ist, dass besonders in Zeiten des zunehmenden Einsatzes von KI betont werden muss, wie wichtig in der Authentizitäts‐ feststellung die Syntax eines Textes ist, für deren Analyse die selbstlernende KI sehr viel mehr lernen muss als in den anderen Gebieten wie Lexik, Typographie und Orthografie. Das muss Linguisten, die sich der KI bedienen (einschließlich Informatiker: innen, die digitale forensische Linguistik betreiben und computerlinguistische Analysen vornehmen), bewusst sein. Den meisten Menschen, die sich nicht mit Linguistik befassen, ist nicht bewusst, wie groß der Bereich der Syntax ist und wie viele Aspekte dazugehören. Genau das ist eines der Hauptanliegen dieses Buches: denen, die Texte untersuchen (wollen), zu helfen, dass sie nichts zu (unter-)suchen vergessen, und daher kann auch alles nur „angerissen“ werden. Es ist jedoch wichtig, viele Beispiele bzw. Beispielsätze zu bieten. Die jahrelange Erfahrung in der Didaktik der forensischen Linguistik hat gezeigt, dass Studierende die vielen Termini im Bereich „Stil“, die auch in diesem Buch vorkommen (siehe z. B. das Glossar) viel besser verstehen und behalten, wenn sie jeweils mindestens ein Beispiel dazu abspeichern können, und bei allen Grammatik-Erklärungen werden immer explizit Beispiele gewünscht. Die meisten Beispiele in diesem Buch (selbstverständlich ggf. anonymisiert bzw. mit geänderten Namen und/ oder Daten) stammen aus Texten im Zusammenhang mit meiner Sachverständigentätigkeit, also u. a. aus inkriminierten Texten und Vergleichstexten. Und sehr wichtig ist mir, - gemäß Wilhelm von Ockhams Theorie bzw. Forderung nach Sparsamkeit 1 (Bevorzugung einer einfachen Erklärung eines Phänomens gegenüber einer komplexen, ausführlichen Erläuterung) - vereinfachte Beschreibungen der für die forensische Linguistik wichtigen Phänomene zu bieten. Es tut mir leid, wenn dem/ der einen oder anderen Leser: in hier und dort etwas zu simpel dargestellt scheint und manche Details nicht mit aufgeführt werden. Dieses Buch strebt zwar Vollständigkeit an, aber nicht in <?page no="17"?> Bezug auf Details zu den einzelnen Syntax-Themen, sondern in Bezug darauf, was zu der Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik gehört. Forensische Linguistik - Wie geht das? Diese Frage wird oft gestellt. Oft wird auch gesagt, das sei eine falsche Formulierung, da das Verb „gehen“ nicht auf ein Fachgebiet bezogen werden könne. Ebenso wenig könne man sagen „So geht Technik.“ Aber alle Welt spricht und schreibt so „falsch“, speziell in Texten, die in der forensischen Linguistik vorkommen. Und schon sind wir mitten im Thema. Würden Sie das so sagen bzw. fragen? Oder würden Sie sich anders ausdrücken? Oder drücken Sie sich in bestimmten Situationen so aus, in anderen aber anders? Das alles gehört zum Thema „Idiolekt“. Wie geht man mit Texten um, wenn beispielsweise festgestellt werden soll, wer einen Text verfasst hat? Wurde ein Text evtl. von einer Sprachsoftware mit KI (wie ChatGPT, Bard/ Gemini, Google PaLM o. Ä.) erstellt? Wie vergleicht man Texte, um festzustellen, ob sie von derselben Person verfasst wurden? Woraufhin werden Texte in der forensischen Linguistik untersucht? Welche Eigenschaften eines Textes ermöglichen es dem Linguisten bzw. der Linguistin, den/ die Verfasser: in zu identifizieren? Wie stellt man die Befunde dar, damit ein vor Gericht verwertbares Gutachten entsteht? Das vorliegende Buch beantwortet diese Fragen und bietet sowohl für Linguisten und Linguistinnen als auch für andere Berufsgruppen wie Richter: innen, Psycholog: innen und Polizist: innen einen Einblick in die Theorie und Praxis der forensischen Linguistik, speziell der Authentizitätsfeststellung. Die Inhalte dieses Buches basieren vorwiegend auf meinen Kenntnissen aus a) meiner Tätigkeit als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger (seit 2010), b) meiner Lehrtätigkeit zur forensischen Linguistik an der TU Braunschweig (seit 2015), c) einschlä‐ gigen Veröffentlichungen und Vorträgen bei Tagungen (vorwiegend in anderen Ländern, in denen die Forschung zur forensischen Linguistik deutlich aktiver betrieben - und finanziert - wird). Dieses Buch ist ein Kompendium, Nachschlagewerk und Lehrbuch. Es enthält viele Grammatik-Erklärungen, die für die Zwecke des Verstehens und Darstellens sprachlicher Auffälligkeiten vereinfacht und angepasst wurden. Das Buch zeigt selbstverständlich auch die klassische Einordnung der sprachlichen Phänomene, beleuchtet sie jedoch in der entsprechenden Reihenfolge und Gewichtung gemäß den Zwecken der Arbeit in der forensischen Linguistik und speziell der Authentizitätsfeststellung. Wie dieses Buch aufgebaut ist Man kann dieses Buch als Nachschlagewerk verwenden. Es hat ein ausführliches Glossar und ein sehr komplexes, detailliertes Inhaltsverzeichnis. Man kann dieses Buch auch von vorne bis hinten durchlesen, wenn man seine Kenntnisse in forensischer Linguistik und speziell der Authentizitätsfeststellung erweitern möchte. Dann findet man folgenden Aufbau vor: Kapitel 1 bietet Basiswissen und beantwortet ganz grundsätzlich die Frage, wie man in der forensischen Linguistik vorgeht. Eine simple Kodierung wird in Kapitel 2 vorgestellt. 16 Vorwort <?page no="18"?> Kapitel 3 zeigt die häufigsten sprachlichen Phänomene, mit denen Verfasser: innen auffallen. Es folgt (in Kapitel 4) die Beschreibung einer genauen Kodierung, die für Textunter‐ suchungen notwendig ist (Kodierung von Komma-Arten, von Satzbau mit den sog. Thor‐ mann’schen Treppenstufen und von Satzteilen). Unter dem Titel „Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung“ folgen (in Ka‐ pitel 5) Ausführungen darüber, welche Bandbreite an - Verfasser: innen meist nicht bewussten - unklaren Ausdrucksweisen es gibt. Eine Art Intermezzo stellt die Beschreibung eines Verständlichkeits-Experiments (mit interessanten Ergebnissen nach Einbeziehung künstlicher Intelligenz) in Kapitel 6 dar, das auch für Lehrzwecke als Übung verwendet werden kann. Es folgt in Kapitel 7 die Darstellung der (primär syntaktischen und beachtlich vielen) Ambiguitäten, die die deutsche Sprache bereithält und die speziell bei Auslegungsfragen und Fragen nach dem „objektiven Empfängerhorizont“ wichtig sind. Kapitel 8 bietet genauere Erläuterungen zu den sprachlichen Phänomenen, die in anderen Kapiteln jeweils zum Zweck des Aufzeigens der für die Authentizitätsfeststellung wichtigen Besonderheiten nur knapp behandelt werden. Es folgen in Kapitel 9 kurze Ausführungen über das wichtigste Grundlagenwissen zum Thema „Gutachten“. In Kapitel 10 bietet das Buch - speziell für Lehrbzw. Übungszwecke - Textbeispiele, die im Online-Shop des Verlags (https: / / www.narr.de/ ) bei diesem Band unter „Zusatzmaterial“ zum Download zur Verfügung stehen. In Kapitel 11 für Eilige die komprimierte Darstellung dessen, was man als „Ausbeute“ aus diesem Buch bezeichnen kann, d. h. eine Auflistung der für das Identifizieren eines Idiolekts wichtigsten sprachlichen Phänomene und ein Mindestvokabular (auch zu Lehrzwecken). Am Ende des Buches befindet sich selbstverständlich ein ausführliches Glossar zum Nachschlagen von Fachbegriffen während der Lektüre. Geschlechtergerechte Sprache mit Ausnahmen für bessere Lesbarkeit In diesem Buch wird zwar „gegendert“ bzw. geschlechtergerechte Sprache verwendet, jedoch soll auch die Lesbarkeit nicht eingeschränkt sein. Daher werden vermieden (durch das Gendern bedingte) 1. lange umständliche Formulierungen 2. häufige Wiederholungen Ein Problem stellt die notwendige häufige Verwendung des Wortes Verfasser bzw. Verfas‐ ser: in dar, das mit einem Binnen-Doppelpunkt gelöst wird, also Verfasser: in, auch (mit Artikel) der/ die Verfasser: in und ein/ e Verfasser: in und im Plural (die) Verfasser: innen. Ein Problem ergibt sich, wenn ein Adjektiv hinzukommt, was z. B. ergäbe ein/ e jüngere/ r Verfasser: in oder wenn außerdem ein Adverb hinzukommt und eine längere Nominalphrase ergibt wie ein/ e vermutlich jüngere/ r Verfasser: in, die - hier im Nominativ - in anderen Kasus nicht möglich wäre. Wenn in jedem Fall konsistent gegendert würde, hätte das Vorwort 17 <?page no="19"?> 2 In der Psychologie ist der Kerngedanke hinter „authentisch“, dass jemand sich nicht verstellt (und sich „in seiner Haut“ - so, wie er ist - wohlfühlt); daher gibt es die Bezeichnungen „das authentische Ich“ und „das authentische Selbst“. Formulierungen zur Folge wie eines/ einer vermutlich jüngeren Verfassers bzw. Verfasserin (Genitiv), einem/ einer vermutlich jüngeren Verfasser: in (Dativ), eine/ einen vermutlich jüngere/ n Verfassers bzw. Verfasserin (Akkusativ), Das lässt auf eine/ n ältere/ n Verfasser: in schließen., […] weil er/ sie seine/ ihre sprachlichen Fähigkeiten überschätzt. Außerdem wären dann die „diversen“ Genera nicht berücksichtigt. In solchen Fällen wähle ich das generische Maskulinum, bitte die Leserinnen aller Ge‐ schlechter - auch der diversen bzw. anderen Genderidentitäten - um Verständnis und hoffe, dass sie bzw. Sie diese Entscheidung für bessere Lesbarkeit befürworten. Warum verwende ich Authentizitätsfeststellung (und nicht „Autor-, Autoren-, Autor‐ schafts-, Verfasser- oder Urheberschafts-Feststellung/ -Bestimmung/ -Erkennung“)? Dafür gibt es zwei Gründe: 1. Geschlechtergerechte Sprache. Bei „Autor-, Autoren-, Autorschafts-, Verfasser- oder Urheberschafts-Feststellung/ -Bestimmung/ -Erkennung“ werden die Autorinnen, Ver‐ fasserinnen und Urheberinnen nicht genannt. Bei dem Kompositum Authentizitätsbe‐ stimmung gibt es dieses Problem nicht. 2. Oft behauptet jemand (der/ die Verfasser: in selbst oder auch jemand, der eine andere Person verdächtigt), ein Text sei von einer bestimmten Person verfasst worden. Nun stellt sich die Frage, ob das stimmt oder ob der Text ● von einer anderen Person (oder Personengruppe) ● von KI verfasst wurde. Der Terminus „Authentizitätsfeststellung“ ist auch deshalb sinnvoll, weil das Wort „Au‐ thentizität“ bzw. das Adjektiv „authentisch“ etymologisch zurückgeht auf das altgriechische „αὐθεντικός“, authentikos (später lateinisch „authenticus“), und dieses Wort stammt von authentēs (αὐθεντής), das (wörtlich „jemand, der etwas selbst - mit seiner eigenen Hand - tut“ und) „Urheber“, „Verfasser“, „Täter“ bedeutet. 2 Für die Schreibweise in diesem Buch kombiniere ich zwei Methoden, und zwar den Schräg‐ strich und den Binnen-Doppelpunkt, weil diese Kombination oft geschlechtergerechte Sprache erlaubt und gleichzeitig die Lesbarkeit nicht allzu sehr einschränkt, z. B. Der/ die Verfasser: in hat hier […], Das wirkt auf den/ die Leser: in […]. Allerdings werden bei dieser Methode leider oft die diversen bzw. anderen Genderidentitäten nicht explizit mitgenannt. Das Gendern ist ein Thema, das - speziell in der Zukunft - in der forensischen Linguistik und speziell in der Authentizitätsfeststellung eine Rolle spielen wird. Daher wird es in diesem Buch besprochen a) in dem Kapitel, in dem es um (in einem Text feststellbare) potenziell auffällige sprachliche Phänomene geht bzw. wodurch Verfasser: innen auffallen und ggf. ihren Idiolekt zeigen, und b) mit Details in →-Kapitel-8.1.) 18 Vorwort <?page no="20"?> Dank Mein besonderer Dank für wertvolle Mitarbeit, Hilfe, Korrekturen, Hinweise, Tipps, Beiträge, Anregungen, Unterstützung und Hilfe verschiedenster Art gilt Christine Mielsch, Prof. Dr. Hannes Kniffka, Prof. Dr. Martin Neef, Prof. Dr. Claus Scheier, Dr. Claudia Frenzel, Florian Herrnleben, Karin Königs, Britta Richarz, Manfred Zieger, Dr. Matthias Müller und Antonia Przybilski. Braunschweig, im Mai 2024 Isabelle Thormann Vorwort 19 <?page no="22"?> 3 Von altgriechisch „ἴδιος“, „eigen“, „eigentümlich“, „den Einzelnen betreffend“. Worum es in diesem Buch geht Dieses Buch zeigt sowohl Leser: innen, die Linguistik studiert haben, als auch Angehörigen anderer Berufe (z. B. Richter: innen, Kriminalist: innen und Kriminolog: innen, Psycholog: in‐ nen und Informatikern und Informatikerinnen), ● wie man anonyme Textverfasser: innen entlarven kann, also wie man in der foren‐ sischen Linguistik vorgeht, speziell bei der Authentizitätsfeststellung, und wie ein Gutachten entsteht, sowie ● die typischen Fehler, die in der forensischen Linguistik gemacht werden. Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie Texte mit einem geschulten Blick betrachten, viel mehr entdecken als zuvor und die gefundenen sprachlichen Phänomene benennen können. Innerhalb der verschiedenen linguistischen Disziplinen (Lexik, Syntax, Morphologie, In‐ terpunktion, Orthografie) liegt in diesem Buch der Fokus auf dem Satzbau (Syntax). Ausführungen zu anderen Themen gehen daher nicht ins Detail; es gibt allerdings viele Hinweise und Tipps zum Weiterlesen und Weiterforschen. Dieses Buch ist außerdem ein Kompendium zur deutschen Grammatik - mit beson‐ derem Fokus auf Syntax. Der/ die Leser: in wird verstehen, wie man einen Text erschließt und zerlegt, um den Idiolekt 3 eines Textverfassers bzw. einer Textverfasserin festzustellen, also den individuellen Sprachgebrauch eines einzelnen Menschen mit allen intrinsischen Eigenschaften und Besonderheiten, die ihn von anderen Sprecher: innen/ Schreiber: innen unterscheiden. Viele der längeren Grammatik-Erläuterungen finden sich in Kapitel 8. Der jeweilige Untersuchungsgegenstand (z. B. die Reihenfolge der Satzteile) muss a) einen Namen haben und b) markiert, kodiert, beschrieben werden. Dieses Bezeichnungs- und Kodierungs-System darf nicht zu komplex sein, damit der primäre Zweck dieses Buchs erfüllt wird, nämlich das ● „Knacken“ eines Textes ● Herausarbeiten des in dem Text verborgenen Idiolekts ● Beschreiben und Darstellen der Befunde Um diesen Spagat zu schaffen, also einerseits zu zeigen, wie man in der forensischen Lin‐ guistik und speziell bei der Authentizitätsfeststellung vorgeht, und andererseits die Vielzahl der sprachlichen Parameter sinnvoll zu beschreiben, stellt dieses Buch ein unkompliziertes Beschreibungs- und Kodierungssystem vor. Dieses enthält (für die forensische Linguistik wichtige) Vereinfachungen wie z. B. das Herausgreifen der Nebensatz-Art „Dass-Sätze“, weiterhin Tricks, Kniffe und „Abkürzungen“ bzw. Vereinfachungen, um den Idiolekt eines Verfassers zu erkennen, indem solche sprachlichen Phänomene herausgegriffen und genauer betrachtet werden, die erfahrungsgemäß häufig auftreten, wie z. B. eine auffällig häufige Verwendung des Wortes es. <?page no="23"?> Dieses Buch soll primär zeigen, welche Methoden in der forensischen Linguistik zur Verfügung stehen - hier speziell in der Authentizitätsfeststellung und wiederum speziell in der qualitativen Analyse und wiederum speziell bzgl. der Syntax. Die Untersuchung von Texten wird - sinnvollerweise - nach Disziplinen bzw. Bereichen wie a) Textgestaltung/ Typografie, b) Orthografie und Interpunktion, c) Morphologie (Kon‐ jugation, Deklination), d) Syntax, e) Semantik/ Lexik unterteilt. Dabei ist jedoch unbedingt zu beachten, dass die Inhalte der Disziplinen sich gegenseitig bedingen. So ist ein Befund aus der Interpunktion bzgl. Komma-Setzung eng verknüpft mit den Befunden aus der Syntax, denn wenn jemand ein Komma an einer falschen Stelle setzt, vermutet er eine Satzgrenze, und wenn jemand kein Komma setzt, wo eines zu setzen wäre, hat er eine Satzgrenze nicht erkannt. Wenn ein/ e Textverfasser: in sehr häufig das Lexem es verwendet, und zwar in der Funktion eines Korrelats, das einen später im Satz folgenden semantischen Inhalt ankündigt, so ist das nicht nur ein Befund, der im Bereich der Lexik interessant ist, sondern besonders im Bereich der Syntax. Und wenn ein Text viele Fehler zum Thema dass/ das aufweist, so ist das nicht nur ein interessanter Befund im Bereich der Orthografie und/ oder Lexik bzw. Lexematik, sondern besonders im Bereich der Syntax. Die Frage danach, ob das Pronomen Sie/ sie korrekt großbzw. kleingeschrieben wird, betrifft die Bereiche der Wortwahl und Rechtschreibung, also der Lexik und der Orthografie, aber auch einen anderen Bereich, nämlich die Frage danach, wie ein/ e Textverfasser: in mit dem Honorifikum umgeht (großgeschriebenes Personalpronomen, wenn es sich um die höfliche Anrede handelt und bedeutungsunterscheidend sein kann). Dabei stellt sich auch die Frage, wie ein/ e Verfasser: in bei der höflichen Anrede mit der bedeutungsdifferenzieren‐ den Groß- und Kleinschreibung (GKS) der Personal- und Possessivpronomen wie „Ihr/ ihr“ umgeht, also ob er/ sie (unbewusst) verständlichkeitssichernde Maßnahmen unternimmt und wie er/ sie die nicht bedeutungsdifferenzierende GKS anderer Anrede-Pronomen handhabt („Du/ du“). Das wiederum kann einen Hinweis auf das Alter des Verfassers darstellen. Die Frage danach, ob indem vs. in dem (indem|in dem) als Beginn eines Nebensatzes korrekt differenziert wird, also korrekt getrennt oder auseinandergeschrieben wird, ist nicht nur eine orthografische Frage, sondern auch danach, ob - immer abgesehen von Performanz‐ fehlern - ein/ e Textverfasser: in versteht, ob er/ sie eine Präposition mit einem Artikel (in dem) oder eine Konjunktion (indem) verwendet. In dem einen Fall ist es die Einleitung eines Relativsatzes (z.-B. Ich suche einen You-Tube-Film, in dem das Petitionsrecht erklärt wird.), in dem anderen eines modalen bzw. instrumentalen Adverbialsatzes (z. B. Er hat seine Zustimmung gegeben, indem er den Arm hob.), und das bedeutet, dass es sich in dem einen Fall (bei dem Relativsatz in dem das Petitionsrecht erklärt wird) um ein Attribut, im anderen Fall (bei dem Adverbialsatz indem er genickt hat) um ein Adverbial handelt. Viele Leser: innen möchten sicherlich erfahren, wie man ein forensisches Gutachten schreibt, wie man vorgeht, wie man ansetzt. Antworten darauf wird dieses Buch auch bieten; allerdings gibt es einige wichtige Begleitumstände und Bedingungen, die für eine erfolgreiche Arbeit geklärt bzw. erfüllt sein müssen und die nun - bevor wir „in medias res“ gehen - zunächst beleuchtet werden. 22 Worum es in diesem Buch geht <?page no="24"?> Worum es in diesem Buch NICHT geht Es geht in diesem Buch nicht darum, anhand von Fehler-Beispielen aufzuzeigen, dass jemand Regeln nicht befolgt und in der Schule nicht aufgepasst hätte oder „ungebildet“ sei. Es wird nur deshalb auf die Regeln der deutschen Grammatik und der Rechtschreibung Bezug genommen, weil man eine Referenz bzw. einen Standard als Vergleichsgröße braucht, wenn jemand behauptet, er habe sich klar und verständlich ausgedrückt, obwohl bestimmte Leser seinen Text anders verstehen. Nehmen wir als Beispiel das Personal- (und Possessiv-)Pronomen sie/ Sie bzw. ihr/ Ihr. Es wird kleingeschrieben, wenn eine dritte weibliche Person oder mehrere dritte Personen gemeint sind. Es wird großgeschrieben, wenn die angesprochene Person gemeint ist, die gesiezt wird, und wenn diese Bedeutung nur anhand der Großbzw. Kleinschreibung deutlich wird, also wenn die Schreibung bedeutungsdifferenzierend ist. Bei dem Satz Bei dem Unfall wurde Ihr Wagen beschädigt. ist nur klar, wessen Wagen beschädigt wurde, weil das „Ihr“ großgeschrieben wird. Wäre es kleingeschrieben (Bei dem Unfall wurde ihr Wagen beschädigt.), würde es sich um den Wagen einer weiblichen Person oder mehrerer anderer Personen handeln. Es handelt sich auch nicht um ein Lehrbuch für korrekte Ausdrucksweisen. Ja, ein Lehrbuch ist dieses Buch schon, aber für forensische Linguistik. Die Absicht ist nicht, möglichst viele Deutsch-Sprecher: innen/ -Schreiber: innen dazu zu bewegen, bestimmte Ausdrucksweisen korrekt zu verwenden, z. B. dasselbe und das gleiche. Diese beiden Ausdrücke werden von so vielen Sprecher: innen und Schreiber: innen anders als ursprüng‐ lich vorgesehen verwendet, und es führt fast nie zu Missverständnissen. Wie jemand das handhabt, kann allerdings zur Identifizierung seines Idiolekts beitragen. Es geht nicht um die Frage, ob eine Ausdrucksweise oder eine Variante besser ist oder ob gar eine Variante schlecht und etwa abzulehnen wäre. Es geht nur darum, ob eine - in jeglicher Weise - auffällige Ausdrucksweise dabei helfen kann, den Idiolekt eines Textverfassers festzustellen und damit zur Bestimmung des/ der Verfasser: in eines inkriminierten Textes beizutragen oder ein Missverständnis aufzuklären. Das Adjektiv inkriminiert bedeutet in Frage stehend, unklar, Gegenstand von (kriminal‐ technischen) Ermittlungen/ Untersuchungen, eventuelles Beweismittel, beschuldigt, ver‐ dächtig(t), beanstandet; als Adjektiv zu „Text“ ist die Bedeutung dann etwa: Text, der im Zusammenhang mit einer Straftat steht oder gar selbst eine Straftat darstellt und von einem unbekannten Verfasser stammt, bzw. ein Text, der vorsätzlich anonym verschickt wurde, oder ein Text, bei dem die Autorschaft in Zweifel gezogen wird. Es geht auch nicht darum, ein Loblied auf bestimmte - allgemein als korrekt bezeichnete - Ausdrucksweisen zu singen, z. B. die End-Stellung des finiten Verbs im Adverbialsatz, speziell im Kausalsatz (Ich komme nicht mit, weil ich habe keine Zeit. vs. Ich komme nicht mit, weil ich keine Zeit habe.) und die Hauptsatz-Stellung nach der Konjunktion weil zu verteufeln. <?page no="25"?> Das ist ein Zeichen von Sprachwandel; die Verständlichkeit wird nicht beeinträchtigt. Weil-Sätze werden gebildet wie Sätze, die mit denn anfangen. Die Verständlichkeit wird dadurch nicht eingeschränkt. ■ Ich komme nicht mit, weil ich habe keine Zeit. Hier soll es heißen […], weil ich keine Zeit habe. ■ Ich komme nicht mit, denn ich habe keine Zeit. Mit denn hingegen ist es laut Duden korrekt. Dieses Buch enthält zwar sehr viele Empfehlungen und nützliche Details zur Untersuchung von Texten und auch für das Erstellen von Gutachten, allerdings bietet es kein Beispiel eines „Durch-Exerzierens“ mit vollständigem Vergleich zweier Beispieltexte oder gar eines ganzen Gutachtens mit einer Authentizitätsfeststellung, was sich viele Leser: innen, speziell Studierende, sicherlich wünschen. Der Grund ist: Ich habe in der Lehre immer wieder festgestellt, dass sich Studierende zu stark an einem bestimmten Beispiel orientieren und einen neuen zu untersuchenden Text dann nach Kriterien untersuchen, die für einen anderen als Beispiel betrachteten Text sinnvoll waren. Es kann auch beobachtet werden, dass Deutsche, die in einem englischsprachigen Land (meist England) Forensische Linguistik studiert haben, die für die englische Sprache sinnvollen Kriterien auf deutsche Texte anwenden und bestimmte Aspekte - speziell in der Syntax bei der Abfolge der Satzteile - unbeachtet lassen. Dieses Buch enthält eine Liste von 100 Fragen, die man an einen Text stellen kann und die hilft, bestimmte Inhalte „abzuarbeiten“. Jeder Text ist jedoch anders. Auf bestimmte Texte sind bestimmte Fragen der Liste anwendbar bzw. Aspekte genauer zu untersuchen. So kann es selbstverständlich vorkommen, dass die Frage danach, wie Zukünftiges sprachlich realisiert wird, nicht beantwortet werden kann bzw. mit „gar nicht“ zu beantworten ist, wenn der zu untersuchende Text keinen einzigen Vorkommensfall von Bericht über Zukünftiges enthält. Dieses Buch kann auch nicht im Detail auf das große Thema der Implikationen, der (konversationellen und konventionellen) Implikaturen und Konnotationen bzw. An‐ deutungen eingehen. Wenn z.-B. jemand sagt ■ Es freut mich, dass Tim sein Alkoholproblem nun endlich in den Griff bekommen zu haben scheint. kann es sich um einen arglistigen Versuch eines Schreibers handeln, die Information (die stimmen oder auch nicht stimmen kann) zu implizieren, dass Tim überhaupt einmal (oder evtl. immer noch) ein Alkoholproblem hatte bzw. hat. Dieses Buch geht nicht auf solche Phänomene wie Präsuppositionen, also implizite bzw. unterstellte Voraussetzungen für bestimmte Annahmen bzw. für das Gelten einer Aussage, also logische und psychologische Aspekte von Äußerungen ein. Das ist alles sehr interessant, jedoch viel zu komplex und zu weitreichend, als dass es in diesem Buch mit erörtert werden könnte. Außerdem sind diese Themen auch eher nicht Gegenstand der forensischen Linguistik, sondern der Text- und Psycholinguistik, Logik, Philosophie und Sprachpsychologie. 24 Worum es in diesem Buch NICHT geht <?page no="26"?> 1 Varianten-Wörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensied‐ lungen als kostengünstiges Taschenbuch, z.-B. ISBN 978-3-11-034092-1). 2 Britischer Linguist und Philosoph (1913-1988), auch bekannt wegen seiner „konversationellen Implikatur“. Dieses Buch kann leider auch keine detaillierten Ausführungen über bestimmte lexikalische Themen bieten wie Semasiologie (historische und kontrastive; die Lehre von den Wort‐ bedeutungen und ihren Veränderungen), regionale Varianten (Austriazismen, Helvetismen usw., wie hervorragend aufgeführt im Varianten-Wörterbuch 1 ), die Vorliebe bestimmter Verfasser: innen für bestimmte Lexeme wie z. B. die Beobachtung, dass ein/ e Verfasser: in das Lexem beschließen gegenüber dem Lexem entscheiden bevorzugt (z. B. in Der Vorsitzende und ich haben diese Maßnahmen beschlossen/ entschieden.) oder das interessante Thema der Interjektionen (z.-B. sakra, Gott sei’s gedankt, ach Gottchen, meine Herren, Alter). Leider kann ich in diesem Buch auch nicht auf so interessante Themen wie die linguisti‐ sche Textanalyse (Brinker, Dressler, de Beaugrande usw.) und sprachliche Handlungs‐ muster (Peirce, Bühler usw.) eingehen, denn dort geht es um ganze Texte - bzw. auch um Kommunikation mit zwei oder mehr Beteiligten - und weniger um die Betrachtung einzelner Sätze und einzelner Phänomene. Auch das Grice’sche Kooperationsprinzip 2 (frei übersetzt „Gestalte Deinen Gesprächsbeitrag so, wie es jeweils erforderlich ist, um den gemeinsamen Zweck der Konversation zu erreichen.“) und die Grice’schen Konver‐ sationsmaximen (Quantität, Qualität, Relevanz, Modalität) können nur knapp erwähnt werden, sind jedoch für die Authentizitätsfeststellung immer dann wichtig, wenn ein/ e Textverfasser: in gegen diese Maxime (beispielsweise durch Pleonasmen oder Ambiguität) verstößt. Leider ist auch kein Platz für viele interessante Themen der Psycholinguistik, der linguistischen Psychologie und der Kognitionspsychologie wie Einflüsse auf das Entstehen von Sprachkompetenz, -produktion, -störungen (einschließlich Aphasie), Zwei- und Mehrsprachigkeit, Neurolinguistik, kognitive Dissonanzen, das in letzter Zeit viel diskutierte (von dem Psychologen Derald Wing Sue ins Leben gerufene) Konzept der sprachlichen „Mikroaggression“ (mit Unterscheidung in „Microassaults“, „Microinsults“, „Microinvalidations“), Freud’sche Versprecher usw. Das Thema Metaphorik, das zur Lexik und Semantik und auch Psycholinguistik gehört, wird erwähnt, weil auffällig stark metaphorischer Sprachgebrauch idiolektal sein kann; er kann auch ein Versuch des Verfassers sein, bestimmte nicht-metaphorische, deutlich-be‐ zeichnende Ausdrucksweisen zu vermeiden, weil sie z. B. einen direkten Vorwurf oder etwas Peinliches darstellen würden. Die große interessante Welt der Metaphern kann jedoch nicht genauer betrachtet werden; so auch nicht Euphemismen (und Dysphemismen). Worum es in diesem Buch NICHT geht 25 <?page no="28"?> Schreibweisen in diesem Buch Abkürzungen In diesem Buch werden Wörter und Ausdrucksweisen, die häufig vorkommen, wie folgt abgekürzt. abgek. abgekürzt Abk. Abkürzung Akk. Akkusativ Achtg. Achtung altgr. altgriechisch bzgl., bez. bezüglich d.-h. das heißt dgl. dergleichen evtl. eventuell Gen. Genitiv Ggs. Gegensatz griech. griechisch inkl. inklusive/ einschließlich insb. insbesondere inkr. inkriminiert INKR inkriminierter Text KI künstliche Intelligenz kop. kopula/ Kopulaverb jmdn. jemanden jmdm. jemandem jmds. jemandes lat. lateinisch neg. negiert (verneint) Pk prädikativ Präp. Präposition sog. sogenannt (e/ er/ en usw.) <?page no="29"?> temp. temporal ugs. umgangssprachlich VGL Vergleichstext(e) Komma-Abkürzungen: Kf Komma fehlend Kv Komma vorhanden Kvk Komma vorhanden korrekt Kvü Komma vorhanden überflüssig Kvk Komma vorhanden korrekt KS Komma Sonderfall v vorne (z.-B. Kf2v) h hinten (z.-B. Kvüh) Nomenklatur, Farben, Zeichen, Kästen Die Nomenklatur, die für das Arbeiten in der forensischen Linguistik empfohlen und im Kapitel zum Markierungssystem bzw. zur Kodierung erklärt wird, wird für alle Arten von Untersuchungen und Gutachten empfohlen und auch in diesem Buch verwendet. Somit macht sich der/ die Leser: in beim Lesen dieses Buches gleich - gewissermaßen ohne bewusste Mühe - damit vertraut. Es wird oft um die sog. inkriminierten Texte gehen (die, die mit einer Straftat zu tun haben oder eine Straftat darstellen und/ oder von einer Person geschrieben wurden, die anonym bleiben möchte), außerdem um Vergleichstexte. Ich kürze sie ab mit INKR und VGL - ggf. VGL1, VGL2, VGL3 (ohne Leerzeichen zwischen dem „L“ und der Zahl). In diesem Buch gibt es viele Stellen, an denen sich der/ die Leser: in entscheiden kann, wie weit er/ sie linguistisch in die Tiefe gehen möchte, auch weil sich dieses Buch sowohl an studierte Linguist: innen als auch an andere Berufsgruppen wie Jurist: innen, Polizist: innen, Psycholog: innen, Softwareentwickler: innen usw. richtet. Daher gibt es bestimmte Textteile, welche zwei „Les-Arten“ ermöglichen, und zwar grün für schnelles Erfassen eines linguistischen Phänomens und blau für tieferen Einblick in die syntaktischen Eigenschaften einer Textsequenz 28 Schreibweisen in diesem Buch <?page no="30"?> 3 Genau genommen ist ein Lemma die Grundform eines Wortes, und die Lexeme, also die flektierten Formen (also beim Verb die konjugierte und beim Substantiv die deklinierte Form) lauten z. B. „läuft“ oder „Fahrern“. 4 Mit Ausnahme der Fälle, in denen vorher eine Liste mit falschen Beispielen angekündigt wird. Wenn bei einer Textuntersuchung spezielle sprachliche Phänomene festgestellt werden, heißen diese Funde Inzidenzen. Wenn es jedoch wichtig ist zu unterscheiden, ob ein sprachliches Phänomen, z. B. das Plusquamperfekt, in einem untersuchten Text a) über‐ haupt vorkommt und b) in welcher Weise es vorkommt, wird zusätzlich der Terminus Vorkommensfälle verwendet. Ein Vorkommensfall bedeutet, dass das Phänomen überhaupt vorkommt, und die Inzidenzen sind die einzelnen Fälle, die auch in einer Tabelle mit einer Zahl angegeben werden. Meist genügt jedoch die Angabe der Inzidenzen, und das Wort Vorkommensfall wird gar nicht verwendet. Es kann auch den Fall der Synonymität geben, wenn beispielsweise festgestellt wird: In diesem Text gibt es keinen Vorkommensfall bzw. keine Inzidenz eines freien Dativs oder eines modalen Adverbialsatzes. Wenn bei einer Textanalyse festgestellt wird, dass in einem Text das Plusquamperfekt vorkommt und es beispielsweise einen Fall des Normverstoßes der Art „Plusquamperfekt statt Perfekt“ gibt und einen der Art „Präteritum statt Plusquamperfekt“, wird gesagt, dass es „den Vorkommensfall“ des Plusquamperfekts gibt, und zwar zwei Inzidenzen. Wenn es um die Verwendung eines bestimmten Wortes geht, wird von dem Wort oft - eher linguistisch - als Lexem gesprochen. Wort, Lexem, Lemma Wort ist das umgangssprachliche Wort für das linguistische Wort Lexem. Außerdem gibt es das Wort Lemma (Plural Lemmata), das der wissenschaftliche Ausdruck für die Grundform, die Nennform, das Stichwort (etwa in einem Wörterbuch) ist. Die Unterscheidung zwischen Lemma und Lexem ist in der Lexikografie wichtig; in diesem Buch hingegen wird das Wort Lemma - auch aus Vereinfachungsgründen - selten verwendet 3 . Aber auch in der forensischen Linguistik, nämlich speziell bei den u. a. in der Authentizitätsfeststellung eingesetzten quantitativen Verfahren, ist die Unterscheidung wichtig (→ Kap. 1.12.1). Dort werden - hier etwas vereinfacht erklärt - die Lemmata als Token (in Beschreibungen von Texten und in diesem Buch auch als Inzidenzen) bezeichnet und die Lexeme als Types (in Beschreibungen von Texten und in diesem Buch auch als Vorkommensfälle) bezeichnet. Zur Unterscheidung des Plurals Worte und Wörter siehe Kapitel 3.20.5. Wenn ein Beispiel für eine Normabweichung gegeben wird, steht vor dem Satz ein Asterisk (Achtung: nicht „Asterix“! ) 4 , ein kleines hochgestelltes Sternchen, das in der Linguistik für die Anzeige von etwas Normabweichendem verwendet wird. Wenn innerhalb eines solchen Satzes - fehlerhaft oder auch nur ambig - ein bestimmtes Wort oder eine Wortfolge wichtig ist, ist es/ sie rot geschrieben, z.-B.: ■ *Das hier ist unser Haupkonzept. ■ *Du hast mir gesagt, dass du dir das wünscht. ■ Sie waren stundenlang draußen, wonach sie sich erst einmal aufwärmen mussten. Nomenklatur, Farben, Zeichen, Kästen 29 <?page no="31"?> 5 Achtung: Nicht verwechseln mit den Gedankenbzw. Fortsetzungspunkten! 6 Mit der simplen Unterscheidung: Hauptsätze sind grammatisch vollständige Sätze, die alleine stehen können. Sie bestehen mindestens aus einem Subjekt und einem Prädikat (Verb), z. B. Tim schläft. Das Prädikat (bzw. sein erstes Element) steht immer an der zweiten Stelle. Nebensätze können nicht alleine stehen. Sie sind entweder ein Element eines Hauptsatzes oder bieten Zusatzinformationen zu dem Hauptsatz oder zu einem Element des Hauptsatzes. Im Nebensatz steht das (konjugierte, finite) Verb am Ende. 7 Die Bezeichnung „Dass-Satz“ klingt für manche Linguisten unseriös und unwissenschaftlich. Sie ist jedoch in diesem Kontext sehr praktisch, speziell für die Zwecke der ersten Durchsicht zum Feststellen erster Auffälligkeiten im Rahmen der Authentizitätsfeststellung. ■ Das Grillen ist ausgefallen, weil es geregnet hat. Wenn innerhalb einer roten Wortfolge in einem Beispielsatz ein weiteres Wort oder eine Wortfolge wichtig ist (wie im folgenden Beispielsatz die Linksattribution innerhalb der [roten] Apposition), ist dies/ e dunkelrot, z.-B.: ■ Die Gelenkerkrankung Arthrose, ein das altersübliche Maß übersteigender Gelenkverschleiß, wird oft durch eine übermäßige Belastung wie zum Beispiel Übergewicht ausgelöst. Wenn ein Beispielsatz verkürzt wiedergegeben wird, wird - wie in der wissenschaftlichen Literatur allgemein üblich - das Ausgelassene mit einem in eckigen Klammern stehenden Dreipunkt (auch Auslassungspunkte genannt) wie folgt dargestellt: […]. 5 Was die Schreibweise von Zahlen betrifft, so gab es früher eine Buchdruckerregel, nach der die Zahlen von 1 bis einschließlich 12 als Wörter (also eins, zwei, drei, zwölf) und nicht als Ziffern geschrieben werden sollten, die heute nicht mehr gilt; allerdings halten sich viele ältere Schreiber noch daran. In diesem Buch werden alle Zahlen als Ziffern geschrieben (also 1, 2, 3, 12). Von den Leser: innen dieses Buches wird keine Kenntnis bestimmter Grammatik-Termini erwartet, schon gar nicht einer bestimmten Grammatiktheorie oder gar mehrerer (z. B. De‐ pendenz, Valenz, generative Transformations-, Phrasenstrukturbzw. Konstituentengram‐ matik, Chomsky, Glinz, Bondzio, Helbig/ Buscha, Flämig, Montague und/ oder Saussure, Kopenhagener, Genfer und Prager Schule oder Sprachdidaktik-Theorien). Dieses Buch wird oft anmuten, es wäre ein Grammatik-Lehrbuch - wie ein Grundkurs mit einem Überblick über alles, was in der Grammatik vorkommt. Da es aber ein Buch über die forensische Linguistik mit einem besonderen Fokus auf qualitativen Verfahren zum Zweck der Authentizitätsfeststellung und die wichtige Rolle der Syntax ist, werden nur die für diese Zwecke wichtigen Aspekte beleuchtet. Es wird eine vereinfachte Terminologie verwendet, und das Buch enthält eine verein‐ fachte Darstellung der Grammatik und speziell der Syntax. Beispielsweise werden die Bezeichnungen Hauptsatz und Nebensatz verwendet 6 . Innerhalb des Themas Nebensätze gibt es wiederum den großen, wichtigen Typ der Inhaltssätze, von denen eine Unterart die - für die Zwecke der Authentizitätsfeststellung - besonders wichtigen (selbsterklärend so genannten) Dass-Sätze 7 sind. Die für das Verste‐ hen der Ausführungen über syntaktische (und morphologische und morphosyntaktische) 30 Schreibweisen in diesem Buch <?page no="32"?> Phänomene notwendigen Darstellungen und Erläuterungen der Strukturen finden sich in den Kapiteln 3.18.3.2, 5.21 und 8.12.7. Für die Zwecke dieses Buches gibt es FÜNF Satzteile (Subjekt, Prädikat, Adverbial, Objekt und Prädikativ). Von der Bezeichnung Satzteil (maskulin, also der Satzteil) ist zu unterscheiden das Wort „Satzelement“ (welches in einem Satz wie z. B. „Bei der Verbklammer in diesem Satz stehen die Satzelemente weit auseinander.“ vorkommen kann, denn bei den hier genannten Satzelementen kann es sich z. B. um ein Adverbial und ein Verb in einem Nebensatz handeln [z. B. Bei dieser Tat sieht man, dass sie absichtlich, d.-h. mit Vorsatz, also trotz der Kenntnis darüber, dass sie verboten bzw. rechtswidrig ist und dass auch jemand verletzt werden könnte, begangen wurde.]). Die Wortarten sind - ebenfalls für die Zwecke dieses Buches etwas vereinfacht - in die folgenden ZEHN Arten unterteilt: Substantiv (auch „Nomen“; Jahr, Haus, Thema, Sand, …), Verb (sehen, lesen, …), Artikel (die, dem, ein, einem, …), Pronomen (ich, Sie, sein, jener, alle, sich, nichts, …), Adjektiv (gut, klein, …), Adverb (die auf Englisch auf -ly endenden; gern, schnell, leider, hier, …), Präposition (in, mit, gegen, wegen, …), Konjunktion (auch „Junktor“; weil, wenn, ob, dass, aber, …), Partikel (ja, doch, aber, hat, nicht, nur, ziemlich, so, sehr), Interjektion (tja, okay, ach, …). Da dieses Buch keine vollständige Grammatikabhandlung ist, sondern ein Kompendium zur Anwendung der Verfahren in der forensischen Linguistik zum Identifizieren eines Idiolekts (mit speziellem Fokus auf Syntax), gibt es keine detaillierte Abhandlung aller Wortarten, zumal es dazu die genaue Abhandlung im Duden gibt und außerdem eine sehr sinnvolle Neukonzeptionierung von Neef (2023). Um allen Leser: innen dieses Buches gerecht zu werden, halte ich es für sinnvoll, die „althergebrachten“ Grammatik-Bezeichnungen zu verwenden. In diesem Buch werden diejenigen sprachlichen Phänomene genauer beleuch‐ tet, deren Kenntnis für die Zwecke der forensischen Linguistik erforderlich ist. Die in diesem Buch verwendete Terminologie setzt auch nicht die Kenntnis des sog. „Feldermodells“ (auch „topologisches“ Modell genannt) voraus, welches den Satz in Vor-, Mittel- und Nachfeld unterteilt. Das Feldermodell ist hier nicht sinnvoll, weil es in diesem Buch oft um elliptische (unvollständige) Sätze und solche Sätze geht, bei denen sowohl das Mittelfeld als auch das Nachfeld unbesetzt sind, der Satz insgesamt jedoch relativ lang ist (z. B. Dass arbeitslose Eltern das Kindergeld für Alkohol statt für die Bedürfnisse ihrer Kinder ausgeben, kommt leider immer wieder vor.). Bezeichnungen aus dem Feldermodell werden also selten verwendet, und zwar dann, wenn ein Hinweis für Kenner des Modells hilfreich erscheint. Zum Thema Satzbau könnte man auch Ausführungen über Satzlänge, Anzahl von Wörtern und Buchstaben usw. erwarten. Dieses Thema wird in den Kapiteln zur Gestalt eines Textes, Textkonstitution Textstruktur usw. (→ Kap.-1.8.1 und 8.10 behandelt. Da dieses Buch kein grammatischer Grundkurs ist, sondern ein Buch, das grammatische Erklärungen für die Zwecke der Authentizitätsfeststellung enthält, kommen Erklärungen zu den verschiedenen Wortarten (z. B. Modalpartikeln) oft (erst oder bereits) dort vor, wo es um die Positionierung und Funktion in einem Satz bzw. Text geht. Nomenklatur, Farben, Zeichen, Kästen 31 <?page no="33"?> 8 Auch „transphrastisch“. Normalerweise gilt in der Linguistik die Maxime „keine Einzelsatzbetrachtung ohne Kontext“. Da es in diesem Buch jedoch primär um Satzbau geht, also um das Erkennen idiolektaler Präferenzen für bestimmte Ausdrucksweisen speziell bei der Konstruktion von Sätzen, werden Einzelsätze betrachtet. Es geht nicht um die interessante Disziplin der Textlinguistik, d. h. es werden selten Bezüge innerhalb von Texten (oder Dialogen) betrachtet. Allerdings würden die Betrachtungen wesentlich zu kurz greifen, und wichtige Aspekte würden außer Acht gelassen, wenn ausschließlich einzelne Sätze betrachtet und die semantischen Beziehungen zwischen Sätzen (die intersententialen 8 Bezüge [gegenüber den intrasententialen Bezügen]) vernachlässigt oder ganz ignoriert würden. Bei strenger Einzelsatzbetrachtung würde z.-B. dieser Satz einbezogen werden: ■ Es ist inakzeptabel, dass er immer auf dem neuen Praktikanten rumhackt. diese zwei Sätze jedoch nicht: ■ Er hackt immer auf dem neuen Praktikanten rum. Das ist inakzeptabel. Für die Authentizitätsfeststellung ist es jedoch sehr wichtig und interessant, wie ein/ e Verfasser: in kausale Zusammenhänge darstellt. Daher werden in begrenztem Rahmen auch Textsequenzen bzw. „Nachbarsätze“ von betrachteten Sätzen berücksichtigt. Es geht oft um die Kommasetzung, also um die Frage, ob und warum ein Komma gesetzt wurde oder fehlt (sonst in der linguistischen Fachliteratur auch „Kommatierung“ genannt, siehe auch Berg 2023, Kap. 8). Für die Stelle in den Beispielsätzen, bei der es um die Frage geht „Komma oder nicht? “ verwende ich dieses Zeichen: [[,]]. Es kommen relativ oft Beispielsätze mit einem fehlenden Komma vor. Dafür wird dieses Zeichen verwendet: [[KommaFehlt]] z. B. in: Dass er nicht mehr da arbeitet [[KommaFehlt]] habe ich nicht gewusst. oder in Er war davon ausgegangen, dass in dem Konferenzraum ein Beamer vorhanden ist [[KommaFehlt]] und hatte keinen mitgebracht. Für ein überflüssiges Komma, also ein fälschlicherweise gesetztes Komma, wird dieses Zeichen verwendet: [[KommaÜberfl]], z. B. in: Nach der langen Diskussion mit Tim und seinem Bruder [[KommaÜberfl]] informierte ich Herrn Mewes. oder in Er ist schon fast genauso gerissen [[KommaÜberfl]] wie sein älterer Bruder. Für Fälle, in denen an einer bestimmten Stelle im Satz ein Komma optional ist, wird dieses Zeichen verwendet [[KommaOpt]]. Wenn ich etwas genauer werden und anzeigen möchte, dass es sich um ein Komma vor einem Nebensatz bzw. einem untergeordneten Element (z. B. einer Apposition) handelt, verwende ich dieses Zeichen: [[[,], und für das Pendant, also das Komma am Ende eines Nebensatzes bzw. eines untergeordneten Elements, verwende ich dieses Zeichen: [,]]]. Am Rande bemerkt: Die „Komma-Stelle“ am Ende ist in der Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik besonders interessant, weil es idiolektal sein kann, wenn an diesen Stellen das Komma vergessen wird. 32 Schreibweisen in diesem Buch <?page no="34"?> Kästen In diesem Buch gibt es zwei Arten von Kästen: Kästen für Definitionen, Merkhilfen und andere wichtige Hinweise: Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit, sed do eiusmod tempor incididunt ut labore et dolore magna aliqua. Kästen für (längere) Beispieltexte: Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit, sed do eiusmod tempor incididunt ut labore et dolore magna aliqua. Nomenklatur, Farben, Zeichen, Kästen 33 <?page no="36"?> 9 Die Bezeichnung „forensischer Linguist“ (bzw. „forensische Linguistin“) ist zwar üblich, unter den forensischen Linguist: innen jedoch nicht gern gesehen, denn es ist ja nicht der Mensch forensisch. 1 Basiswissen Die forensische Linguistik, auch kriminalistische Sprachwissenschaft, ist eine 1. Teildisziplin der Forensik und somit eine forensische Methode und 2. Teildisziplin der Angewandten Linguistik. Bei der forensischen Linguistik wird die Sprachwissenschaft zur Aufklärung krimineller Handlungen, zur Identifizierung von Straftätern und für die Rechtsprechung eingesetzt. 1.1 Die Teildisziplinen der forensischen Linguistik Unter den forensischen Linguist: innen 9 herrscht keine Einigkeit darüber, wie die Teildis‐ ziplinen zu strukturieren sind. Das ist tatsächlich ein sehr schwieriges Unterfangen. Bei der folgenden Auflistung handelt es sich um eine Fassung, die ich befürworte, allerdings nicht für endgültig ausgereift halte. Die größte Schwäche solcher Auflistungen ist die Ungleichheit der Kategoriebildung, bei der es sich teilweise um die Benennung von Hand‐ lungen von Linguist: innen (z. B. Authentizitätsfeststellung), teilweise um die Benennung von Handlungen von Kriminellen (z. B. kodierte Absprachen), teilweise um Textarten (z. B. Verfügungen) handelt. Das Fachgebiet „Rechtssprache“, also der Gebrauch der Fachsprache des Rechts einschließ‐ lich des entsprechenden Lehrens, wird in deutschsprachigen Ländern oft nicht als zur forensischen Linguistik gehörig angesehen. Teildisziplinen der forensischen Linguistik ● Sprache (speziell Texte) als Medium kriminellen Handelns und Sprache (speziell Texte) als Streit- und Untersuchungsgegenstand - Authentizitätsfeststellung (Autorschaftsermittlung, Autorenerkennung, -bestimmung, Urheberschaftsfragen, Identifizieren des Idiolekts, engl. „au‐ thorship attribution“) - Hasskriminalität bzw. „hate speech“ wie Bedrohung, Erpressung, Ehr‐ verletzungsdelikte (Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung), Beste‐ chung(-sversuch), Mobbing, Nötigung(-sversuch), Hetz-/ Schmutzkampag‐ nen, Volksverhetzung, Anstiftung, IT-Angriffe mittels Ransomware, Stalking, Mitteilungen aller Art unter Alibi-Namen (auch nach Übernahme von Internetpräsenzen und Missbrauch von E-Mail-Adressen) - Texte aller Art als Beweismittel vor Gericht und für die Gewalt- und Betrugs-Prävention, mutmaßlich gefälschte Verträge, Verfügungen von <?page no="37"?> Korrekt müsste man sagen „Linguist: in, der/ die sich mit forensischer Linguistik befasst“ (→ Kap. 7.3.2.1). 10 Prof. Dr. Udo Undeutsch (1917-2013), Forensische Psychologie, speziell Aussagepsychologie; Erleb‐ nisbasiertheit von Aussagen. Todes wegen/ Testamente, (kodierte) Absprachen und Handel (Drogen, kinderpornografisches Material usw.) im Darknet und Planung terroristi‐ scher Handlungen, Vortäuschen einer Straftat, Liebesbetrug bzw. Love-/ Romance-Scamming (engl. „scam“ heißt „Betrug“) - Texte auf Beurteilungs-Plattformen und Kundenbewertungs-Portalen - Texte als illokutive und perlokutive Sprechakte (über Sprache vollzogene Handlungen) - Fälschungs-Erkennung (u. a. Urkunden, Zeugnisse; Abschiedsbrief bei Suizid evtl. erzwungen, echtes Bekennerschreiben vs. Trittbrettfahrertexte, Selbstbezichtigungsschreiben, Bezichtigungen anderer Personen, Hinweis‐ geberschreiben) - Stilistische quantitative Analysen großer Textvolumen, Korpuslinguistik, Stilometrie, Erkennen von Themen, Verwendung und Frequenz bestimmter Phrasen, Wörter, sprachlicher Muster; Sprachgebrauch in sozialen Kontex‐ ten, Absprachen, Geheimsprachen, linguistische Diskursanalyse; speziell wenn große Textvolumen vorliegen und Eile geboten ist - Erkennung dezeptiver Strategien (Verstellung, z. B. Deutsch als Mutterspra‐ che vs. Deutsch als Fremdsprache; Tarnung von Verfasser: innen spez. bei Erpressung, Nötigung und anonymer Bedrohung) - Plagiat-Erkennung (Literatur, Wissenschaft, akademische Arbeiten) - Hand- und Maschinenschrift-Untersuchung (kriminaltechnische Untersu‐ chungen [Schreibsysteme, MIC/ [Machine Identification Code], „tracking dots“ bei Farbausdrucken), Forensische Handschriftenanalyse (ca. Grapho‐ logie) - Kurz-Mitteilungen aller Art (mit besonderer Berücksichtigung von Text‐ sorten und Medien/ Social Media wie Tweets, Facebook-, Instagram-, What‐ sApp-, Tiktok-Nachrichten, Chatroom-Inhalten, Memes) ● Feststellen von Ambiguitäten und Unklarheiten in Texten, Feststellen von Diskre‐ panz bzw. Differenz zwischen intendierter und realisierter Bedeutung, Erkennen von Missverständnissen in Kommunikation (spez. Korrespondenz), bei illokutiven (handlungsvollziehenden) Sprechakten Diskrepanz zwischen Sprechhandlungs‐ absicht und tatsächlicher Wirkung der Äußerung (Perlokution) ● Beurteilung von Text-Verständlichkeit (Behördenanschreiben, z. B. Bescheid, Belehrung, Gesetzestexte, Protokolle [Vernehmungsprotokolle: Beschuldigten-, Zeugenvernehmung], Beschilderung (evtl. irreführend, missverständlich) ● Glaubhaftigkeits-Beurteilung (spez. v. Zeugenaussagen [Undeutsch-Hypo‐ these 10 ]; merkmalsorientierte Inhaltsanalyse, international CBCA [criteria-based content analysis], Lügen-Erkennung, Erkennen von Befangenheit), Glaubwürdig‐ 36 1 Basiswissen <?page no="38"?> 11 Deepfakes: täuschend echt wirkende, jedoch künstlich erstellte oder veränderte Foto-, Video- oder Sprachaufzeichnungen. keits-Beurteilung (Kriminalpsychologie, Psycholinguistik, linguistische Psycho‐ logie) ● Erkennen von Social Bots ● Psycholinguistik (forensische Psychologie, kognitive Linguistik, Sprach-/ Text‐ psychologie, Psyketing [Psychologie u. Marketing]) für die Ursachen bestimmter Ausdrucksweisen; Diskriminierung durch sprachl. Ausdrucksweisen usw. ● Texte im Marken- und Patentrecht ● Phonologie und Phonetik (Stimm-Erkennung, -Vergleich, Sprecherprofile [„Pro‐ filing“]), speziell: Wurde KI für den „Enkeltrick“ o.-Ä. verwendet (Deepfake 11 )? ● Transkription (von Audio-Aufzeichnungen, von Handschriftlichem) Rechtslinguistik, Kompetenzen der Kommunikationsbeteiligten ● Vereinbarungen, Verträge, Definitionen, Versicherungskonditionen, Anweisun‐ gen, Verbraucherinformationen, Instruktionen aller Art, Gebrauchsanweisung, Beipackzettel [evtl. irreführend, missverständlich], Zeugnisformulierungen ● Beleidigende [u. a. Anspielungen enthaltende] veröffentlichte Texte [auch Raps‐ ong-Texte], Plakate ● Vernehmungsmethodik (Fragearten, spez. Vorhalte- und Suggestivfragen) Wirkung von sprachlichen Äußerungen (spez. Texte), sprachliches Verhalten bei der Polizei und im Gerichtssaal ● Sprechhandlungen durch die Exekutive (Polizei), Judikative (Gericht) und der Organe der Rechtspflege; von Sachverständigen (Darstellung, Schlüssigkeit, Be‐ weiskraft von Aussagen), Befehl, Anordnung, Beweisbeschluss, Umgang mit Verbrechensopfern, Zeugen (spez. Kindern) und Minderheiten vor Gericht ● Gefährderansprache (und -anschreiben), Geständnis, Rechtsbeugung, Einschüch‐ terung, „Sanktionsschere“ (Rechtswidrigkeit von Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren), innere Schlüssigkeit und möglicher Widerspruch zum Akteninhalt, Transparenz- und Mitteilungsgebote, das „letzte Wort“ des Angeklagten vor der Urteilsfindung ● Besonderheiten bestimmter Sprecher: innen/ Schreiber: innen (traumatisierte Per‐ sonen/ Opfer, Kinder, Menschen mit kognitiven Einschränkungen im weitesten Sinne (nach Schlaganfall usw.), Notwendigkeit „leichter (oder einfacher) Sprache“ ● Verdolmetschung, Übersetzung Sprache als Beschreibungs- und Schulungsgegenstand Schulung von Nicht-Jurist: innen (Sachverständigen, Dolmetscher: innen und Überset‐ zer: innen); „Rechtssprache“ (Umfang, Didaktik usw.) Eine Auflistung von Teildisziplinen ist in jedem Fach sehr schwierig, weil eine solche Liste unterschiedliche Dinge beinhaltet, also z. B. einerseits, womit sich bestimmte Unter-Teil‐ disziplinen befassen, andererseits Objekte und Gegenstände. Ein Abschiedsbrief ist ein 1.1 Die Teildisziplinen der forensischen Linguistik 37 <?page no="39"?> Gegenstand, Love-Scamming hingegen ist ein Verhalten, bei dem sprachliche Produkte er‐ stellt werden. Ein Social Bot ist ein Verursacher bestimmter Texte (wobei bot eine Kurzform des englischen Wortes robot ist), manche Menschen bezeichnen jedoch die sprachlichen Äußerungen eines Bots als Bot. Verdolmetschung ist rein mündlich, Übersetzungen sind schriftlich. Und selbstverständlich gibt es Überschneidungen, beispielsweise im Bereich der Kriminalpsychologie, Psycholinguistik und der linguistischen Psychologie, u. a. bei Fragen der Glaubhaftigkeit (von Aussagen) und Glaubwürdigkeit (von Sprecher: innen und Schreiber: innen), denn die Glaubwürdigkeit einer Person bedingt die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage(n). Und Mängel bei der Schulung von Dolmetscher: innen in „Rechtssprache“ können zu einer bestimmten (nachteiligen) Wirkung ihrer Aussagen vor Gericht führen (z. B. auf einen Angeklagten oder eine/ n Richter: in); somit gibt es hier eine Überschneidung von Sprache als Schulungsgegenstand und Sprache und ihre Wirkung bei der Polizei und im Gerichtssaal. Zu den forensischen Nachbargebieten und den Methoden gehören - sehr grob unterteilt und hier nur der Vollständigkeit halber aufgeführt: Rechtsmedizin (mit DNA-Analytik, Thanatologie [Sterbeforschung], Pathologie [Rückverfolgung von Krankheiten], Traum‐ atologie [Unfall- und Verletzungs-(Heil-)Kunde], Hämatologie [Blutkunde], Odontologie [Zahnkunde], Verkehrsmedizin [u. a. zu Fahrtüchtigkeitsfragen], Sexualmedizin), Ballistik (Wissenschaft von Geworfenem und Geschossenem einschließlich Schusswaffen und Munition), Pyrotechnik (Explosionserforschung), Anthropologie (Menschenkunde mit Gesichtsrekonstruktion und Leichenidentifizierung anhand von Knochen), Chemie (mit Toxikologie [Giftkunde und Betäubungsmittelkunde]), Daktyloskopie (Identitätsnachweis über Fingerabdrücke), Biologie (mit DNA-Analytik, Entomologie [Insektenkunde]), Mecha‐ nik, Optik, Spurenanalytik und -Sicherung (mit technischen Spuren wie Unfall, Schuh/ Fuß, Fahrzeug/ Reifen, Prägung, Eindruck, Abdruck, Gleit, Zieh, Schnitt, Bohr, Säge, Tropf, Bruch, Riss, Passspuren, Gegenstandsidentifizierung, Digitalelektronik, Rasterelektronen‐ mikroskopie, Röntgenanalytik [auch bei Fälschungen von Gemälden]), Daten-, Papier-, Druck- und Urkundenanalytik, Personenidentifikation/ Bildanalytik, Neurologie, Soziolo‐ gie und Soziolinguistik, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychologie (mit Tätertypologie, operativer Fallanalyse, Profiling, Glaubhaftigkeits- und Glaubwürdigkeits-Beurteilung), außerdem Cyberforensik (zu Problemen wie Hacking, Computersabotage, Bot-Netzen, Cyberterrorismus, Mobbing [engl. Bullying], Stalking, Grooming [vorgetäuschte Freund‐ schafts-Anbahnung über soziale Medien zum späteren Ausnutzen von Vertrauen u. a. von Pädophilen, also Erwachsenen mit sexueller Neigung zu Kindern], Sexting [sexuell motivierte Messages], Loverboy-Anbahnung, Sextortion [Erpressung mit der Androhung der Veröffentlichung von Nacktfotos usw.]). 1.2 Aufgaben in der forensischen Linguistik Die häufigsten Aufträge für Gutachten in der forensischen Linguistik sind dieser Art (wobei unter den im Folgenden aufgeführten die Authentizitätsfeststellung die deutlich häufigste Aufgabe ist): 38 1 Basiswissen <?page no="40"?> 12 Das englische „to scam“ heißt „betrügen“; Kontaktaufnahme eines meist jungen Afrikaners (vorwie‐ gend aus Nigeria) auf einer Dating-Platform mit einer meist älteren Dame unter Vortäuschung, er sei ein amerikanischer Geschäftsmann, britischer Marineoffizier o.Ä. und Vortäuschung des Verliebtseins, um das Opfer finanziell auszunehmen. 13 Flirtverhalten mit nicht tatsächlich ernst gemeinten anfänglich überschwänglichen Liebeserklärun‐ gen und anderen Liebesbekundungen wie Geschenken; später folgt meist für das Opfer sehr schmerzhaftes (teilweise auch finanziell schädliches) Ghosting (anfängliches Flirten, das jedoch nicht ernst gemeint ist; der Flirtpartner lässt von einem Tag auf den anderen nichts mehr von sich hören). 14 Unterart des „Ghosting“, wobei zu dem anfänglichen Flirten überschwängliche Liebeserklärungen und andere Liebesbekundungen hinzukommen. 15 verletzende Ausdrucksweisen einem/ einer Partner: in oder Arbeitskollegen/ -kollegin gegenüber, um dessen/ deren Selbstvertrauen zu schwächen. 16 die organisierte Nachstellung und Belästigung einer Person durch eine Gruppe 17 Ein Troll ist ursprünglich ein Fabelwesen aus der nordischen Mythologie. Mit Fake-Profilen („Trolling-Profilen“) und provokanten, empörenden Mitteilungen werden Personen (und/ oder Un‐ ternehmen) Image-Schäden zugefügt, oder sie sollen mit Shitstorms eingeschüchtert werden. 18 Zusammensetzung aus "SMS" und "Phishing". 19 Engl. für „Speer“ („Spieß“, „Lanze“), Aussprache „spier“ (nicht „spear“). 20 Das englische Verb „to groom“ heißt „pflegen“, „(heraus-)putzen“, „Fellpflege betreiben“, wie es typischerweise Affen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts tun. ● Authentizitätsfeststellung (aus vielen Gründen, die in diesem Buch erläutert werden; u.-a. Bedrohung, Behauptungen aller Art, Erpressung, Mobbing, Erbstreitigkeiten), Sonderfall: Identifizieren von Liebesbetrug bzw. Romance-Scamming 12 (auch „Catfishing“ und „Love-Scamming“ genannt - mit Love-Bombing 13 , Mosting 14 , Negging 15 ), Cybermob‐ bing, Gangstalking 16 , Trolling 17 ; außerdem verschiedene Formen des Phishing (also der Versuch, an sensible Daten des Empfängers zu gelangen oder Malware zu verbreiten oder den/ die Empfänger: in dazu zu bewegen, Geldüberweisungen zu tätigen), z. B. Smi‐ shing 18 (SMS-Abzocke bzw. Versuch, an Daten zu gelangen); Spear-Phishing 19 (gezielter E-Mail-Betrug bzw. Cyberangriff; sorgfältig recherchierte und ausgewählte Unternehmen erhalten E-Mails, die auf sie persönlich zugeschnitten sind und sehr glaubwürdig wirken); Whaling (wie beim Walfang, bei dem Wale für ihren Tran getötet werden, Kontakt von vermeintlich hochrangigen Personen an hochrangige Mitarbeiter („social engineering“) eines Unternehmens [„große Fische“] mit der Absicht, vertrauliche Daten bzw. Geld bzw. Zugriff auf Computersysteme zu erlangen) ● Feststellung, ob bzw. in welchem Umfang ein Text von einer anderen Person verfasst wurde als vorgegeben (z. B. ein wesentlich älterer Mann als ein junger beim [Cy‐ ber-]Grooming 20 , der sexuelle Kontakte mit meist Minderjährigen anbahnt, oder ein junger afrikanischer [oft nigerianischer] Mann statt eines älteren amerikanischen oder britischen Geschäftsmanns beim Love-Scamming) ● Sprachprofiling (auch „Autorenprofilerstellung“; ähnlich wie Authentizitätsfeststel‐ lung, aber ohne Textvergleich), Text-Mining (u. a. Sentimentanalyse [Feststellen, in welcher emotionalen Verfassung der/ die Textverfasser: in beim Schreiben eines Textes war]) 1.2 Aufgaben in der forensischen Linguistik 39 <?page no="41"?> 21 Auch „Exegese“ (von altgr. ἐξήγησις, exēgesis, „Auslegung“, „Interpretation“) in der Disziplin der „Hermeneutik“ (von altgr. ἑρμηνεύειν, hermēneúein, „deuten“, „erklären“, „übersetzen“; geht zurück auf den griechischen Gott Hermes, der als Bote und Übersetzer der Götter fungierte). 22 Im Zusammenhang mit juristischer Hermeneutik und speziell §-133 BGB („Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.“), auch 157 BGB („Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“) ● Auslegung 21 bestimmter Textpassagen einer Vereinbarung 22 , Absichtserklärung, Aus‐ sage oder eines anderen Textes (mit Einschätzung des sich aus § 333 und 157 BGB ergebenden sog. „objektiven Empfängerhorizonts“ [das „Gewollte“ einer Willenserklä‐ rung]) und/ oder Beurteilung, wie weitgehend Verständlichkeitssicherung unterlassen wurde. Ein Beispiel: Jemand, der zu einer Beratungsleistung verpflichtet ist, schreibt, er habe einige vereinbarte Beratungstermine zwischenzeitlich stornieren müssen. Wie meint er „zwischenzeitlich“? Wurde der Beratungstermin verschoben oder vollkom‐ men storniert? ● Durchsuchen eines Textes (bzw. vieler Texte, meist großer Textvolumina primär mit quantitativen Methoden) auf bestimmte Themen, z. B. „schädigende Sprache“ (Hass‐ rede, Einschüchterung), Terrorismus-Absprachen und andere Straftaten vorbereitende kodifizierte Mitteilungen, Erkennen von Bots ● Beurteilung der Verständlichkeit einer Anweisung oder Information (u. a. Belehrung, Rechte eines Angeklagten, US: Miranda-Formel), Behördenanschreiben, Beurteilung, ob bei einer Vernehmung die Informationsbzw. Manuduktionspflicht und andere Vorgaben eingehalten wurden (ob offene, geschlossene, rhetorische, Fang-, Vorhalteund/ oder Suggestivfragen gestellt wurden) und/ oder des sprachlichen Verhaltens von Mitarbeiter: innen der Exekutive (und Judikative) gegenüber abhängigen (evtl. benachteiligten) Personen (u. a. Kindern, traumatisierten Personen), Identifizieren von einschüchternden bzw. bedrohenden Ausdrucksweisen, Schlüssigkeit und Verständ‐ lichkeit von (schriftlichen und mündlichen) Aussagen von Sachverständigen ● Identifizieren etwaiger illegaler, mehr oder weniger stark kodifizierter Insiderinfor‐ mationen über börsennotierte Unternehmen und bevorstehende Veränderungen im Aktienmarkt und somit Tipps zum Aktien(ver)kauf ● Beurteilung von Ehrverletzung (Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung, Schmäh‐ kritik), Identifizieren von in veröffentlichten Texten enthaltenen diffamierenden An‐ spielungen bzw. Andeutungen [Innuendo], evtl. Volksverhetzung ● Beurteilung, ob es sich bei einem Text um eine versuchte (indirekte) Bestechung (nicht nur von Amtsträgern) handelt, also das Anbieten eines Vorteils (z. B. eines Geldbetrags), um eine pflichtwidrige Handlung zu erwirken und somit einen materiellen oder immateriellen Vorteil zu erlangen. Indirekte versuchte Bestechung nennt man auf Englisch „veiled bribe“ („mit einem Schleier verhüllte Bestechung“), offene Bestechung „naked bribe“. ● Feststellen von Missverständnissen (z. B. in E-Mail-Korrespondenz zwischen Auftrag‐ geber und Dienstleister) 40 1 Basiswissen <?page no="42"?> 23 Der Terminus „Authentizitätserklärung“, der ja für die Versicherung steht, dass jemand ein wissen‐ schaftliches Werk ohne fremde Hilfe verfasst hat, wird vielen Lesern und Leserinnen vertraut sein. Der Vollständigkeit halber sei allerdings angemerkt, dass „Authentitzität“ tatsächlich (nur) „Echtheit“ bedeutet (nicht etwa „tatsächliche/ r Verfasser: in“ oder Ähnliches. ● Patentrecht, z. B. Feststellung des Bedeutungsunterschieds zwischen Bezeichnungen bzw. Wörtern in der Beschreibung eines Patentobjekts im Kontext eines Streits um ein deutsches Patent ● Feststellung des Bedeutungsumfangs bestimmter Leistungsbezeichnungen, z. B. bei Abrechnungsfragen (z.-B. Krankenhaus u. Krankenkasse) ● Plagiats-Feststellung ● Beurteilung der Qualität von von Textern erstellten Texten (z. B. im Marketing, spez. in sozialen Medien) ● Beurteilung der Verständlichkeit und/ oder Bedeutung von Äußerungen bei einge‐ schränktem Sprachvermögen (z. B. nach einem Schlaganfall, Trauma, Menschen mit kognitiven Einschränkungen) ● Wenn die Rede von „Text“ ist, so ist damit gemeint: jede Art schriftlich produzierter Äußerungen, meist bestehend aus mehreren inhaltlich zusammenhängenden Sätzen bzw. - im Fall von (auch sehr kurzen) Ellipsen - satzwertigen sprachlichen Einheiten. In Ausnahmefällen zählen dazu auch einzelne, nicht zusammenhängende, sehr kurze und elliptische schriftliche Äußerungen, denen nach manchen Theorien der Textlinguistik keine „Textualität“ zuerkannt würde. 1.3 Authentizitätsfeststellung, Urheberschaftsfragen, Autorenerkennung Bei der Terminologie in diesem Fachgebiet hat sich die Notwendigkeit einer Veränderung gezeigt, und zwar wegen ● des Genderns und ● der bedeutenden Rolle der KI. Die häufig verwendeten Bezeichnungen Autor, Verfasser und Urheber und die entspre‐ chenden Pluralformen als Teil der Komposita Autor(en)erkennung bzw. -bestimmung bzw. Verfassererkennung bzw -bestimmung bzw. Urheber(schafts)erkennung bzw -bestimmung bzw -fragen enthalten alle als vorderes Element ein maskulines Substantiv, das impliziert, dass es immer Herren sind, die mittels Texten kriminell handeln. Auch die diversen Ge‐ schlechter werden ausgeschlossen. Eine geschlechtergerechte Ausdrucksweise mit diesen Lexemen wäre sehr umständlich (Autorenbzw. Autorinnen-Erkennung und -bestimmung, Urheber: innen-Fragen). Daher wähle ich den Terminus Authentizitätsfeststellung und bezeichne damit genau das, was auf Englisch mit authorship attribution gemeint ist. 23 1.3 Authentizitätsfeststellung, Urheberschaftsfragen, Autorenerkennung 41 <?page no="43"?> 24 Nicht zu verwechseln mit „Sozialisierung“; das steht für Verstaatlichung und/ oder Überführung von privatem in gesellschaftliches bzw. staatliches Eigentum). 1.4 Sprachprofiling Beim Sprachprofiling (auch „Autorenprofilerstellung“, auch „Autorenprofiling“) werden nicht verschiedene Texte miteinander verglichen (also ein inkriminierter Text mit einem oder mehreren Vergleichstexten), sondern es wird (werden) ein Text (oder mehrere Texte) von einem Verfasser, der anonym bleiben will, untersucht. Über die sprachlichen Merkmale, die bei dieser Untersuchung festgestellt werden, kann dann auf bestimmte Eigenschaften des Verfassers wie Herkunft und ggf. Muttersprache, Persönlichkeitsmerkmale, Sozialisa‐ tion 24 , Alter, Geschlecht, Ausbildung, Fachkenntnisse, Erfahrung in der Textproduktion, Bildungsstand usw. und so auch auf eine Gruppenzugehörigkeit geschlossen werden (ideologischer, politischer, religiöser, sozialer, regionaler Art usw.). Es wird also eine Textanalyse durchgeführt (und nicht ein Textvergleich wie bei der Authentizitätsfest‐ stellung). Weder der Terminus bzw. die Bezeichnung Sprachprofiling noch Autorenprofilerstellung ist als Synonym für Authentizitätsfeststellung geeignet, denn beim Sprachprofiling bzw. der Autorenprofilerstellung wird ein besonders breites Spektrum von Untersuchungen zum Identifizieren sprachlicher Auffälligkeiten eingesetzt, um die Eigenschaften einer Person, die beispielsweise einen anonymen Drohbrief verfasst haben könnte, zu erahnen, wenn kein konkreter Verdacht bzgl. einer Person oder Personengruppe vorliegt (bzw. wenn - auch bei Verdacht - keine Vergleichstexte beschafft werden können). Zu den Fragen gehören alle Fragen des Fragenkatalogs in Kapitel 1.9 „Hundert Fragen zu einem Text“. Besondere (bzw. weitere) Aufmerksamkeit gilt hier Hinweisen auf das Alter und auf eine etwaige Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, Parteien oder Verbänden, auf den Bildungsstand, auf Fachkenntnisse bzw. eine Ausbildung oder einen Beruf - und der Frage nach der Ernsthaftigkeit einer formulierten Drohung. Hier werden typischerweise zu den linguistischen auch kriminalpsychologische Kenntnisse (eines hinzuzuziehenden Experten) einbezogen. Authentizitätsfeststellung hingegen zielt darauf ab, eine/ n anonyme/ n Textverfasser: in zu identifizieren, indem dessen/ deren Sprachbzw. Schreibstil mit dem Stil eines Vergleichs‐ textes (oder von Vergleichstexten) verglichen wird, der (die) von dieser Person geschrieben wurde(n). 1.5 Fehlannahmen über forensische Linguistik Es gibt unterschiedliche Fehlannahmen über das, was die forensische Linguistik leisten kann. Die häufigsten davon finden Sie unten aufgelistet. Mit der Lektüre des Buches wird hoffentlich klarer, warum diese Annahmen falsch sind, was die forensische Linguistik wirklich leisten kann und wie sie dabei vorgeht.: 42 1 Basiswissen <?page no="44"?> 1. Forensische Linguist: innen können anhand der Ausdrucksweise in einem Text feststel‐ len, wer ihn geschrieben hat. 2. Wenn Kriminelle dieses Buch lesen, können sie danach einen Erpresserbrief so schrei‐ ben, dass sie nicht erwischt werden. 3. Wenn jemand sich geschickt verstellt, können Linguist: innen keinen Idiolekt feststel‐ len, speziell wenn Personen mit Deutsch als Muttersprache den Anschein erwecken wollen, ein Text sei von jemandem verfassst worden, für den Deutsch eine Fremdspra‐ che ist. 4. Wenn Linguist: innen in einem Text sprachliche Besonderheiten feststellen, kann ein Gericht eine/ n Angeklagte/ n „festnageln“, und es ist - wie beim Fingerabdruck - sicher, dass er/ sie es war. 5. Personen, deren Texte analysiert werden, haben alle einen niedrigen Bildungsstand. 6. Wenn jemand in Social Media nur sehr kurze Mitteilungen schickt, also keine vollstän‐ digen Sätze, sondern nur Ellipsen, kann kein Idiolekt festgestellt werden - zumindest nicht durch Syntax-Untersuchungen. 7. Wenn man feststellen will, wie gebildet Textverfasser: innen sind, kann man die Kommata in dem betroffenen Text zählen und weiß dann, wie gut die Person in Grammatik bzw. im Satzbau ist. Wenn jemand viele Kommata setzt, konstruiert er verschachtelte Sätze, und das ist ein Zeichen dafür, dass er/ sie Satzbau kann. 8. Wenn ein Text sehr viele und gravierende Fehler enthält, kann man nicht mehr unterscheiden, ob er von einem Nicht-Muttersprachler geschrieben wurde oder von jmdm. mit niedrigem Bildungsstand. 9. Es kommt vor, dass sich Textverfasser: innen selbst verraten. Eine Person will eigentlich nicht, dass jemand ahnt, wo sie aufgewachsen ist, schreibt aber z.-B. aus Versehen Ich würde auszucken. und gibt durch diesen nur in Österreich gebräuchlichen Ausdruck zu erkennen, dass sie von dort stammt oder dort lange gewohnt hat. 10. Die forensischen Linguist: innen sind in zwei Lager gespalten: diejenigen, die quanti‐ tative Verfahren für besser halten, und diejenigen, die qualitative Verfahren für besser halten. 11. Es gibt heutzutage schon sehr gute Software mit Nutzung von KI, die mittels Textana‐ lyse feststellen kann, wer einen Text verfasst hat oder ob zwei oder mehr Texte von derselben Person verfasst worden sind. 12. Man kann anhand der Ausdrucksweisen Schlüsse auf den Charakter der Person ziehen, die den Text verfasst hat. 13. Man kann anhand der Ausdrucksweisen feststellen, ob eine Person lügt. 14. Jemanden, der Linguistik betreibt, nennt man „Linguistiker“. 15. Forensische Linguistik wird gebraucht, wenn jemand von einem Kriminellen so schlimm zusammengeschlagen wurde, dass er danach nicht mehr sprechen kann; so ähnlich wie Logopädie. 1.5 Fehlannahmen über forensische Linguistik 43 <?page no="45"?> 1.6 Das Zauberwort „Idiolekt“ 1.6.1 Was ist idiolektal? Das Substantiv Idiolekt und das Adjektiv idiolektal gehören zu den wichtigsten Wörtern in der Authentizitätsfeststellung, und die wichtigste Frage ist hier: „Was ist idiolektal? “ bzw. - bezogen jeweils auf eine bestimmte Äußerung - „Ist das idiolektal? “. Idiolekt Der individuelle (mündliche und schriftliche) Sprachgebrauch eines bestimmten Menschen - mit allen Eigentümlichkeiten und Präferenzen im Satzbau und in der Wortwahl -, resultierend u. a. aus Einflüssen von Sozialisation, Schul- und Ausbil‐ dung, Freundeskreis, Beruf, Fachwissen usw.; Ausdrucksweisen, die der Mensch nicht bzw. kaum beeinflussen kann. Idiolektal Was zum Idiolekt eines Menschen gehört, also was einen Menschen sprachlich kennzeichnet, wie er sich ausdrückt, welchen Satzbau und welche Wortwahl er favorisiert, was für seinen Sprachgebrauch typisch ist. Die Frage Was ist idiolektal? kann man auf zwei verschiedene Weisen verstehen, und beide sind wichtig: 1. Was ist unter ‚idiolektal‘ zu verstehen? bzw. „Was bedeutet dieses Wort? “, „Was ist das (idiolektal)? “ wie vergleichsweise die Fragen „Was ist amorph? “ oder „Was ist teleologisch? “ 2. Welche sprachlichen Äußerungen kann man als ‚idiolektal‘ bezeichnen und welche nicht? wie vergleichsweise Fragen wie „Was ist gerecht? “ oder „Was ist inakzeptabel? “ oder „Was ist im Angebot? “, bei denen man als Antwort Beispiele erwartet. Um bei Authentizitätsfeststellungen bzw. Urheberschaftsfragen belastbare Ergebnisse zu erzielen, muss man also sowohl verstanden haben, a) was das Wort bedeutet, als auch b) was dazu gehört. Ein kleiner Exkurs: Wie kommt es zu der Situation, dass diese Frage, was idiolektal sei, gestellt wird? Stellen Sie sich vor, Ihr Arbeitgeber behauptet, Sie hätten bestimmte E-Mails mit Inhalten geschrieben, aufgrund derer er Ihnen fristlos kündigt. Sie haben aber keine E-Mails mit unzulässigem Inhalt geschrieben. Sie lassen sich die Texte zeigen und sehen darin sofort „fremde“ Ausdrucksweisen und auch Fehler, die Sie nie machen würden. Sie sind zwar nicht perfekt in Orthografie und Interpunktion, aber Sie kennen die meisten Rechtschreib- und Zeichensetzungsregeln und wenden sie auch an. Der Text enthält auch Wörter und Redewendungen, die Sie nicht verwenden. Man kann sagen: Das ist nicht Ihr Idiolekt, also das sind nicht die individuellen, für Sie spezifischen sprachlichen Eigentümlichkeiten, die u. a. von Sozialisation, Schul- und Ausbildung, Freundeskreis, Beruf, Fachwissen usw. beeinflusst werden. 44 1 Basiswissen <?page no="46"?> Zurück zu dem fiktiven Vorwurf: Sie verlangen, dass der inkriminierte Text (so nennt man Texte, die im Zusammenhang mit Straftaten stehen oder die selbst Straftaten darstellen) mit anderen, tatsächlich von Ihnen verfassten Texten verglichen wird. Diese anderen Texte werden angefordert, und zwar von Ihrem Arbeitgeber bzw. von anderen oder früheren Arbeitgebern bzw. anderen Personen, die mit Ihnen korrespondiert haben), oder Sie liefern Texte, die Sie unstrittig einmal geschrieben bzw. an irgendwelche Adressaten geschickt haben. Bevor die inkriminierten Texte mit den Vergleichstexten verglichen werden können, müssen einige Bedingungen erfüllt sein, die im folgenden Kapitel erläutert werden. Außerdem ist wichtig zu bedenken, dass jeder Mensch seine eigenen Strategien, Methoden, Taktiken, Kunstgriffe und Fähigkeiten dafür hat, seine Gedanken abzuspeichern und sie, wenn er sich mitteilen möchte, sprachlich so zu ‚verpacken‘, dass sie vom Leser so ‚entpackt‘ werden, wie er es intendiert hat, damit keine Missverständnisse entstehen (Das nennt man auch „Elocutio“). Dabei werden aber Fehler gemacht. Diese Phänomene werden in Kapitel 3erläutert. Man kann von Verfasser: innen verlangen, dass sie gewisse Maßnahmen der Verständlichkeitsbzw. zumindest der Lesbarkeits-Sicherung unternehmen, indem sie z. B. bestimmte Komposita mit einem disambiguierenden Bindestrich schreiben (z. B. Wach-Stube bzw. Wachs-Tube, Staub-Ecken bzw. Stau-Becken) und Sätze möglichst nicht im schwer verständlichen Nominalstil verfassen (sodass die Sätze nicht so lauten: Die Erklärung beinhaltet das Aufzeigen der Durchführung einer digitalen Elternbeiratswahl mit dem Anlegen der Namen in der Datenbank mit darauf folgender Anzeige der jeweiligen Stärken im Wahlergebnis.) und für das Verständnis notwendige und hilfreiche Kommata setzen, z. B. in dem Satz Der Rechtsanwalt versprach [[,]] dem Vorsitzenden [[,]] einen Brief zu schreiben. und ein kleines „nur“ bei restriktiven Relativsätzen einfügen (z. B. in einem Satz wie Ich habe das Gilurytmal nur den Patienten gespritzt, die einen schnellen Puls hatten.). Wer das nicht tut, macht sich „unterlassener Verständlichkeitssicherung“ schuldig (→ Kap. 5). Das ist für die Authentizitätsfeststellung sehr hilfreich, denn bestimm‐ ten Verfasser: innen ist die Notwendigkeit verständlichkeitssichernder Maßnahmen eher und anderen weniger bewusst, und das ist idiolektal. Die folgenden zwei Sätze unterscheiden sich nur in einem Wort. Das Gemeinte ist gleich. ■ Leider hatten wir bei dem wichtigen Gespräch kaum Blickkontakt. ■ Leider hatten wir bei dem wichtigen Gespräch kaum Augenkontakt. Ist die Wortwahl idiolektal? Würde eine Person den Satz nur mit „Blickkontakt“ und eine andere nur mit „Augenkontakt“ sagen? Auch die folgenden zwei Sätze unterscheiden sich im Satzbau am Ende geringfügig; die Aussage ist gleich. ■ Dank Freistellungsauftrag können Sie den Sparerpauschbetrag das ganze Jahr über nutzen und sparen Steuern. ■ Dank Freistellungsauftrag können Sie den Sparerpauschbetrag das ganze Jahr über nutzen und Steuern sparen. Beide Sätze enthalten eine Satzklammer (beginnend mit können). 1.6 Das Zauberwort „Idiolekt“ 45 <?page no="47"?> 25 Alle Modalverben: dürfen, haben zu, können, mögen, müssen, sollen, wollen. Der erste Satz hat zwei Prädikate (1. Sie können […] nutzen, 2. Sie sparen Steuern). Der zweite Satz hat nur ein Prädikat mit zwei Vollverben, für die das Modalverb 25 können gilt (Sie können […] nutzen und Steuern sparen); anders ausgedrückt: Beim ersten Satz gilt das Modalverb können nur für das Vollverb nutzen, beim zweiten auch für das Vollverb sparen. Die Aussagen der beiden Sätze sind fast gleich. Bei vielen Aussagen gibt es etwas unterschiedliche syntaktische Varianten, bei denen es sich um für das Verständnis unwichtige Unterschiede handelt, z.-B.: ■ Er sah sich nicht mehr um, sondern er lief schnell um die nächste Ecke. ■ Er sah sich nicht mehr um, sondern lief schnell um die nächste Ecke. Der erste Satz besteht aus zwei Hauptsätzen. Der Teil nach dem Komma hat ein Prädikat (lief) und ein eigenes Subjekt (er), bzw. das Subjekt aus dem Hauptsatz wird noch einmal genannt. Der zweite Satz besteht aus einem Hauptsatz und einem Nebensatz. Nach dem Komma gibt es kein weiteres Subjekt, bzw. das Subjekt aus dem Hauptsatz wird nicht noch einmal genannt. Vermutlich würde ein/ e Verfasser: in eine solche Aussage mal so und mal anders ausdrücken. Aus solchen Unterschieden kann man für die Zwecke der forensischen Linguistik und speziell für die Authentizitätsfeststellung keinen Nutzen ziehen. Ist die eine und die andere Ausdrucksweise idiolektal? Ist also die eine Konstruktion für Person A typisch und die andere für Person B? Würde sich Person A, die Satz a. geschrieben hat, nie in der Weise ausdrücken, wie Satz b. formuliert ist? Das kann man nicht beantworten, wenn nur ein Satz vorliegt. Wenn allerdings weitere ähnliche Phänomene in einem Text beobachtet werden, dann könnte man einem Idiolekt auf der Spur sein. Was sind „ähnliche Phänomene“? Wird ein bestimmtes Lexem gegenüber einem anderen, das als ähnliches Wort, als Fast-Syn‐ onym oder Synonym zur Verfügung steht, bevorzugt, kann dies für die Authentizitätsfest‐ stellung aufschlussreich sein. Das gilt auch für komplexe Ausdrucksweisen. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass die Wahl des Wortes oder der Ausdrucksweise möglicherweise von der Verständigungssituation beeinflusst wurde (Grad der Förmlichkeit, Register, angestrebte Funktion des Textes, Beziehung der Kommunizierenden, Bewusstsein des Verfassers über sich selbst und den/ die Leser: in, Art des Mitteilungsgegenstandes usw.). Sehen Sie bei den folgenden Beispielen selbst, in welchen Fällen Sie selbst immer nur die eine Variante verwenden würden oder ob für Sie - evtl. auch, um einen Text abwechs‐ lungsreich zu gestalten oder aus Register-Gründen - beide Varianten in Frage kommen: Wo geht die Reise hin? Wohin geht die Reise? Sie hat das angeblich gesagt. Sie soll das gesagt haben. Er spielt Violine. Er spielt Geige. Ich mag Früchte, besonders Orangen. Ich mag Obst, besonders Apfelsinen. 46 1 Basiswissen <?page no="48"?> Er hatte immer gute Noten. Er hatte immer gute Zensuren. Ich benutze diesen Begriff selten. Ich verwende diesen Begriff selten. Es verschlechtert sich zunehmend. Es verschlechtert sich immer mehr. Diese Methode ist effektiv. Diese Methode ist wirksam. Das war eh kaputt. Das war sowieso kaputt. Ich hatte heute kein Frühstück. Ich habe heute nicht gefrühstückt. Der Mob auf der Straße hat sich aufgeregt. Der Pöbel auf der Straße hat sich aufgeregt. Wir hatten die ganze Zeit Augenkontakt. Wir hatten die ganze Zeit Blickkontakt. Ich war geschockt. Ich war schockiert. Na, schau‘n wir mal. Na, seh‘n wir mal. Das geht mir auf den Sack. Das geht mir auf den Geist. Die Verwaltung der Trump-Hotels war Aufgabe von seiner ersten Ehefrau Ivana. Die Verwaltung der Trump-Hotels war Aufgabe seiner ersten Ehefrau Ivana. Erinnerst Du die Party bei Jan? Erinnerst Du Dich an die Party bei Jan? Die Broschüre ist fertig und auf dem postali‐ schen Weg zu Ihnen. Die Broschüre ist fertig und per Post auf dem Weg zu Ihnen. Wir hatten total Lust dazu. Wir hatten total Bock darauf. Bitte geben Sie an, welche der Aussagen Ihrer Meinung nach akzeptabel und welche inakzep‐ tabel sind. Bitte geben Sie an, welche der Aussagen Ihrer Meinung nach akzeptabel sind und welche inak‐ zeptabel. Ich hoffe nicht, dass er noch länger krank ist. Ich hoffe, dass er nicht noch länger krank ist. Er hätte sicherlich entkommen können, wenn er schneller laufen können hätte. Er hätte sicherlich entkommen können, wenn er schneller hätte laufen können. Er hatte in dem Formular sein Geburtsdatum vergessen anzugeben. Er hatte in dem Formular sein Geburtsdatum anzugeben vergessen. Mein Flieger geht um fünf. Mein Flug ist um fünf. Das war im gleichen Jahr. Das war in demselben Jahr. Ich hatte einen ziemlich schlimmen Kater nach der durchzechten Nacht. Ich hatte einen ziemlichen Kater nach der durch‐ zechten Nacht. Mein Name ist [Name]. Ich heiße [Name]. Für unser leibliches Wohl ist im Anschluss ge‐ sorgt. Für unser leibliches Wohl im Anschluss ist ge‐ sorgt. Jeder weiß, das ist schwierig. Jeder weiß, dass das schwierig ist. Die im RTL-Beitrag vorgebrachten Vorwürfe gegen Baerbock sind nicht zutreffend. Die im RTL-Beitrag vorgebrachten Vorwürfe gegen Baerbock treffen nicht zu. Das wurde im Januar diesen Jahres entschieden. Das wurde im Januar dieses Jahres entschieden. 1.6 Das Zauberwort „Idiolekt“ 47 <?page no="49"?> Ein Kind diesen Alters kann das noch nicht. Ein Kind dieses Alters kann das noch nicht. Der Eingang zur Hausbar des Theaters erfolgt für Sie über die Haupttreppe des Gebäudes. Die Hausbar des Theaters erreichen Sie über die Haupttreppe des Gebäudes. Das macht so keinen Sinn. Das ist so nicht sinnvoll. Tab. 1: Ausdrucksweisen-Varianten Wenn man in einem Text eine Ausdrucksweise vorfindet, ist es immer sinnvoll, die Frage nach Alternativen zu stellen bzw. festzustellen „So (alternativ) hat sich der/ die Verfasser: in NICHT ausgedrückt.“ Wenn man z.-B. vorfindet: ■ Es nervt mich, dass er immer an seinen Nägeln kaut. ist festzustellen, dass der/ die Verfasser: in auch hätte schreiben können ■ Dass er immer an seinen Nägeln kaut, nervt mich. Bei dem Satz ■ Dies ergäbe einen Gesamtbetrag von über tausend Euro. hat der/ die Verfasser: in sich für eine Ausdrucksweise mit einem Konjunktiv II (ergäbe) entschieden. Er hätte auch eine Formulierung mit „würde“ wählen können: ■ Dies würde einen Gesamtbetrag von über tausend Euro ergeben. Ist das als „idiolektal“ einzuschätzen, oder ist die Entscheidung register-bezogen (die Konjunktiv-II-Form des Verbs ist ein förmlicheres Register als die Variante mit „würde“)? Oder wollte der/ die Verfasser: in - unabhängig von Register-Fragen - gebildet wirken? Die Frage, ob das idiolektal ist, kann nur beantwortet werden, wenn der restliche Text sorgfältig auf andere idiolektale Eigenschaften untersucht wird und wenn Idiolekt-Cluster festgestellt werden. Bei dem Satz ■ Das hat sie bestimmt bis dato nicht gewusst. hat der/ die Verfasser: in sich für die Ausdrucksweise bis dato entschieden und nicht die mögliche Alternative bis jetzt gewählt. Der Idiolekt eines Menschen verändert sich im Laufe seines Lebens, wobei die Verände‐ rungen besonders stark von sozialen Kontakten und Bildung beeinflusst werden. Wegen solcher Veränderungen ist es wichtig, dass miteinander verglichene, evtl. von derselben Person stammende Texte mit nicht allzu großem zeitlichem Abstand entstanden sind (→-Kap.-1.7.4). 1.6.2 Stil, Register, Sprachvarietät, Genre, Slang, Jargon, Situation Bei allen Ausdrucksweisen, die ein/ e Linguist: in in einem im Rahmen der Authentizitäts‐ feststellung zu untersuchenden Text vorfindet, stellt sich die Frage: Ist das idiolektal oder eine register-angepasste Ausdrucksweise (oder das Ergebnis übermäßigen Alkoholgenus‐ 48 1 Basiswissen <?page no="50"?> ses oder angespannter emotionaler Verfassung oder …)? Ist der beobachtbare Sprach-Stil auf den Idiolekt des Verfassers zurückzuführen, oder ist es die jeweils unterschiedliche intentions-, situations- und zielgruppenabhängige Verwendung von Sprache eines Verfas‐ sers? Oder ist ein bestimmter beobachteter Stil abhängig von der Textsorte? Man kann (Literatur, Poesie, Belletristik ausgenommen) grob unterscheiden in: ● Alltagskommunikation unter Privatpersonen einschl. Social Media ● Gebrauchstexte ● Presse- und Publizistik-Sprache ● Sprache der Technik und Wissenschaften ● Sprache im öffentlichen Verkehr (u. a. Behörden-/ Verwaltungssprache, Rechtssprache) Eine weitere, genauere Textsorten-Unterscheidung nach Funktion findet sich in diesem Buch im Kapitel zur Textsortenkompatibilität (→-Kap.-1.7.1). Die Stilistik ist die Untersuchung und Beschreibung des in einem untersuchten Text vorgefundenen sprachlichen Stils, der von dem/ der jeweiligen Textverfasser: in (in einer bestimmten Situation) verwendet wurde (auch „Feststellung des Idiolekts“). Die Funktio‐ nalstilistik befasst sich mit den Spezifika der Funktionsstile (auch „Bereichsstile“), also damit, wie ein/ e Verfasser: in seinen/ ihren Text in Hinblick auf seine Verwendung und die angestrebte Wirkung (Funktion) gestaltet, wobei oft typische Ausdrucksweisen feststellbar sind (typisch für die angestrebte Wirkung, den Stil und die idiolektalen Realisierungen durch den/ die jeweilige/ n Verfasser: in). Stil (und Idiolekt) ist auch Selbstdarstellung eines Verfassers und zeigt das Image, das er/ sie aufbauen oder wahren möchte, und die angestrebte und/ oder aufrechtzuerhaltende Beziehung zu den Leser: innen. Krieg-Holz/ Bülow (2016) unterscheiden bei der Frage danach, was Stil ist, zwischen dem „Wie“ und dem „Was“, wobei die Frage nach dem „Wie“ immer dann relevant ist, wenn innerhalb der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel Alternativen bestehen, aus denen der/ die Textverfasser: in wählen konnte. Die Frage nach dem „Was“ betrifft die in einer vom Verfasser gewählten Ausdrucksweise zusätzlich zur Kernaussage enthaltenen Informationen. Das können Informationen sein, die sich auf die Beziehung zwischen dem Textproduzenten, den von ihm verwendeten Zeichen und dem Rezipienten der Zeichen beziehen (z. B. Sperren sie den Köter weg! < Hund). Stil ist auch ein Teil der Selbstdarstellung des Textproduzenten, denn dieser gibt dadurch, wie er spricht oder schreibt, - mehr oder weniger intendiert oder auch völlig ungewollt - Informationen über sich (z. B. regionale oder soziale Spezifika), über sein Selbstbild (z. B. In unserem Salon arbeiten fünf Stylisten. > Friseure), seine Rollenauffassung oder das Image, das er aufbauen oder wahren möchte (z. B. Aus Liebe zum Automobil. > Auto). Stil ist eine Information über die im Text zugrunde liegende Situation (z. B. Sehr geehrte Frau Höllinger, … / Liebe Elisabeth, …) und zugleich ein Mittel der Beziehungsgestaltung zwischen Produzent und Rezipient (z. B. Herzliche Grüße / Viele Grüße / Mit freundlichen Grüßen), denn durch die Art der Formulierung - z. B. autoritär oder gleichberechtigt, sachlich oder emotional, offiziell oder privat - wird deutlich gemacht, welche sozialen Beziehungen zum Empfänger bestehen oder hergestellt werden sollen. (Krieg-Holz/ Bülow 2016, S.-82) 1.6 Das Zauberwort „Idiolekt“ 49 <?page no="51"?> 26 Es geht hier um „Sprach-Register“; Verwandtschaft ist jedoch deutlich: Im Orgelbau ist ein Register eine Pfeifenreihe gleicher Klangfarbe oder Bauart. 27 US-amerikanischer Linguist, geb. 1928, erforscht primär Sprachwandel und Sprachvariation. 28 Romanist und allgemeiner Sprachwissenschaftler, 1921-2002, zuletzt an der Universität Tübingen, bekannt u.-a. für sein „Modell des Varietätenraumes“. Register 26 Beim Register (auch „Stilebene“, auch „Sprachebene“) geht es um die von einem/ einer Textverfasser: in eher bewusst gewählte Ausdrucksweise, die der Funktion und dem Adressatenkreis angepasst ist und sich durch einen bevorzugten Wortschatz und bestimmte bewusst gewählte syntaktische Konstruktionen auszeichnet; eine funkti‐ ons- und situationsspezifische Ausdrucksweise. Ein typisches Beispiel: Er wählte nochmal. vs. Er wählte erneut. Diese beiden Sätze können durchaus von derselben Person stammen, wenn sie in einem anderen „Setting“, einer anderen Situation, bei einem anderen Respektverhältnis zwischen den Kommunikationspartnern, einer anderen intendierten Absicht usw. geschrieben werden. Auch die Fähigkeit, seine Ausdrucksweise einem geforderten Register anzupassen, ist etwas Idiolektales. Im sprachlichen Register zeigen sich soziale Beziehungen, die es evtl. herzustellen bzw. zu festigen gilt. Wie gut diese sprachliche Anpassung gelingt, hängt stark von den sprachlichen Fähigkeiten des jeweiligen Textverfassers bzw. der Textverfasserin ab und gehört zum Idiolekt. Sprachvarietäten, darunter auch die Standardbzw. Hochsprache, sind Sprachformen bzw. -ausprägungen, die sich untereinander primär lexikalisch, aber auch syntaktisch, mor‐ phologisch und/ oder phonetisch unterscheiden, weil ihre Sprecher: innen unterschiedliche geografische oder soziale Herkunft haben und/ oder die Sprache in einer bestimmten Si‐ tuation mit einem bestimmten Kommunikationspartner zu einem bestimmten Zweck und mit einer bestimmten Intention verwenden. Bei Texten fällt das Phonetische, das hier sehr interessant ist, zwar prinzipiell weg, es zeigen sich jedoch oft dialektale Varietäten auch in der Orthografie und Ausdrucksweise. Die Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz) betreibt ein Langzeit-For‐ schungsprojekt des Marburger Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas mit dem Ziel der Erforschung der modernen Regionalsprachen des Deutschen mit dem Namen REDE (h ttps: / / regionalsprache.de) mit Sprachkarten und -atlanten sowie Tonaufnahmen. In diesem Zusammenhang seien die Termini restringierter und elaborierter Code erwähnt, die Basil Bernstein (1958) prägte, die jedoch von der modernen Soziolinguistik ab Ende der 1960-er Jahren abgelehnt wurden, nachdem William Labov 27 in seiner Differenzhypothese u. a. sagte, die Sprache der bildungsferneren Schicht sei nicht rückständig bzw. defizitär, sondern einfach nur anders und auch reich an Lexemen, was z. B. am Wortschatz der Straßensprache mit vielen Ausdrücken für Eigentums- und Drogendelikte zu beobachten sei (und damit ebnete Labov der modernen Soziolinguistik den Weg). Eugenio Coseriu 28 unterscheidet bei den Sprachvarietäten die drei Dimensionen diapha‐ sisch (in Bezug auf den kommunikativen Kontext, z. B. Intention, Stil), diastratisch (in Bezug auf die Gesellschaftsschicht bzw. Altersgruppe und Identität der Sprecher, z. B. 50 1 Basiswissen <?page no="52"?> Soziolekt, Jugendsprache, Fachsprache) und diatopisch (mit geografischem Bezug, z. B. Dialekt, Regiolekt). Der Idiolekt gehört nach Coseriu zur diastratischen Dimension. Das Wort Genre ist keine spezifisch linguistische Bezeichnung, sondern dient zur Katego‐ risierung von kulturellen Produkten und somit auch Texten, basierend auf gemeinsamen stilistischen thematischen und/ oder formalen Merkmalen. Beim Slang und Jargon (was im Französischen ursprünglich „wortmalend“ bedeutet) handelt es sich um nicht-standardisierte, milieugeprägte, eher für die Umgangssprache typische oder auch besonders saloppe Ausdrucksweisen (auch „Argot“ genannt, früher der Sprachstil der französischen Gauner). Die Begriffe bezeichnen einen Sprachstil, der in einer beruflich, gesellschaftlich, politisch oder kulturell abgegrenzten Menschengruppe, einem bestimmten sozialen Milieu oder einer Subkultur („Szene“) verwendet wird; es ist ein Sprachstil bestimmter sozialer Gruppen, die u. U. damit auch Gruppenidentität ausdrücken und eine gewisse Abgrenzung erzielen möchten. Der Slang ist auch eine von aktuellen Trends und Moden geprägte Sprache mit entsprechenden Slang-Ausdrücken. Beim Fachjargon geht es eher um beruflich bedingte Ausdrucksweisen, die sich auch oft durch bestimmte Abkürzungen (bzw. auffällig oft Akronyme) auszeichnen. Werden ungewöhnliche sprachliche Äußerungen festgestellt, stellt sich die Frage, ob es sich um eine bewusste Entscheidung des Verfassers bzgl. Stil, Register, Genre, Soziolekt, Jargon bzw. Slang oder Fachsprache handelt oder ob die Besonderheit der Verwendung einer Fachsprache geschuldet ist. Sofern es sich nicht um Kompetenz- oder Performanzfehler handelt, sind Besonderheiten am häufigstem mit dem Phänomen des „Registers“ begründet. Für die forensische Linguistik ist bei ungewöhnlichen sprachlichen Äußerungen, die Register vermuten lassen, nicht nur interessant, welches Register ein/ e Verfasser: in wählt, sondern auch die Frage, ob er/ sie zu wählen in der Lage ist. Manche Verfasser: innen, speziell diejenigen, die besonders bemüht sind, gebildet zu wirken, haben sich bestimmte Ausdrucksweisen angewöhnt, die sie in bestimmten Kommunikationssituationen habituell verwenden. So sagt jemand in einer bestimmten Kommunikationssituation Er ist dort tätig. statt Er arbeitet da. Stil Die sprachlichen Erscheinungsformen, bei denen es nicht um die Bedeutung selbst geht, sondern um die Art und Weise, wie die intendierte Bedeutung versprachlicht wird; stark an der vom Verfasser bzw. von der Verfasserin eines Textes vermuteten Erwartungshaltung der Leser: innen eines Textes orientiert. 1.6 Das Zauberwort „Idiolekt“ 51 <?page no="53"?> Register Von einem/ einer Textverfasser: in gewählte Ausdrucksweise, die der Funktion und dem Adressatenkreis angepasst ist und sich durch einen bevorzugten Wortschatz und bestimmte bewusst gewählte syntaktische Konstruktionen auszeichnet. Im Orgelbau ist ein Register eine Pfeifenreihe gleicher Klangfarbe oder Bauart. Im sprachlichen Register zeigen sich soziale Beziehungen. So verwenden Sprecher: innen und Text‐ verfasser: innen einem Vorgesetzten gegenüber ein anderes Register als privat mit Freunden. Genre: das französische Wort für „Gattung“; Ausdrucksweisen, die sich je nach Textsorte ändern (z.-B. Sachtext vs. Literatur). Soziolekt Ausdrucksweisen, die von einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. Schicht verwendet werden; wichtiger Aspekt der Soziolinguistik; bedingt durch soziale Faktoren wie Bildung, Beruf, Alter, Geschlecht, Ethnie (> Bildungs-, Berufs-, Alters-Soziolekt, ethnischer Soziolekt); zeigt, wie Sprache sich an die Bedürfnisse und Identitäten verschiedener sozialer Gruppen anpasst, markiert Gruppenzugehörigkeiten. Jargon Ausdrucksweisen, die sich durch einen besonderen gruppen- und fachspezifischen Wortschatz auszeichnen und für Außenstehende oft nicht verständlich sind. Als weitere Einflussgröße ist die korrekte Einschätzung der Situation, in der etwas gesagt wird, nicht zu unterschätzen. Wenn es darum geht, ob jemand, der den Satz ■ Was für ein Arsch! äußert, ehrverletzend ist, wäre zu bedenken, ● ob dieser Satz von einem Menschen zu einem anderen über einen Dritten als „pars pro toto“ in abwertender Absicht gesagt wird, oder ● ob hier zwei kommunizierende Menschen hinter einem Menschen (oder Tier) hergehen und einer mit diesem Satz - evtl. in würdigender Weise - auf die Größe oder Form bzw. Beschaffenheit des Körperteils aufmerksam machen möchte. Die große Kunst, in einem Text oder mehreren Texten einen Idiolekt festzustellen, ist, all die oben genannten Einflüsse, und zwar primär ● Register (speziell Beziehung zwischen TextproduzentIn und -rezipientIn), ● Textsorte (Genre), ● Soziolekt (Slang, Jargon), ● Regiolekt, Dialekt, ● Selbstdarstellung, Rolle, Imageaufbau, ● Alter, ● Geschlecht, 52 1 Basiswissen <?page no="54"?> ● Intention + Funktion (speziell Gestaltungsversuch der sozialen Beziehung zwischen TextproduzentIn und -rezipientIn) und ● Verfassung + Situation zu identifizieren und festzustellen, in welchem Maße sie sich jeweils auf eine Ausdrucks‐ weise einer Person, deren Idiolekt es zu erkennen gilt, auswirken. Dabei sollte ein solcher Einfluss nicht als etwas Negatives verstanden werden, das bewirken würde, dass ein Idiolekt nicht festgestellt werden kann. Im Gegenteil. Die Beachtung der möglichen Beeinflussung kann zu wertvollen Erkenntnissen führen wie „Diese Person kann sich register-konform ausdrücken und folglich ihre Ausdrucksweise je nach Register variieren.“ Oder: „Diese Person drückt sich Menschen gegenüber, die denselben Dialekt sprechen, anders aus als jemandem gegenüber, der Hochdeutsch spricht bzw. schreibt.“, „Diese Person beherrscht eine Fachsprache (z. B. Medizin, Jura), kann sich aber auch Nicht-Fachleuten gegenüber verständlich ausdrücken.“ Idiolekt ist nicht starr und bedeutet nicht, dass die jeweilige Person sich immer gleich ausdrückt, wobei die Variationen der Ausdrucksweisen bzw. des Sprach-Stils beschränkt sind von den Fähigkeiten. 1.6.3 Idiolekt Idiolekt ist also nach allen obigen Betrachtungen: ● der jeweilige individuelle - also einzigartige - Sprachstil jedes einzelnen Menschen mit allen Eigentümlichkeiten und Vorlieben im Satzbau und in der Wortwahl, ● resultierend primär aus Einflüssen von Sozialisation, Schul- und Ausbildung, Freun‐ deskreis, Beruf, Fachwissen, Fremdsprachenkenntnissen, Geschlecht, regionaler Her‐ kunft, Alter, Lebensführung, ggf. politischer Orientierung, beeinflusst von - der jeweiligen Verfassung der Person, - dem Kontext und - der Fähigkeit der Person, ● ihre Gedanken in verständliche Worte zu fassen („Elocutio“), ● Verständlichkeitssicherung/ Ambiguitätsvermeidung zu betreiben und ● ihre Ausdrucksweise Register-Erfordernissen anzupassen. Idiolekt ist nicht bzw. kaum beeinflussbar durch die Person mittels Anstrengung, sich zu verstellen (→-Kap. 3.2). Der Idiolekt ist selbstverständlich nicht ein Leben lang gleichbleibend. Er ist keine unver‐ änderliche, einzigartige Konstellation an sprachlichen Merkmalen, die die eine Person immer von anderen unterscheiden würde. Daher ist beim Textvergleich wichtig, dass die zu vergleichenden Texte nicht mit allzu großer zeitlicher Distanz entstanden sind (→-Kap.-1.7.4). Und es darf nicht vergessen werden, dass ein Text immer nur eine Momentaufnahme und einen Ausschnitt aus der Gesamtheit des Sprachverhaltens dieser Person zeigt. Aus dem Grund ist ein bestimmtes Minimum an Textmenge(n) wichtig (→ Kap. 1.7.3). Wenn also etwa ein weiterer von derselben Person verfasster Text zu einem Untersuchungskonvolut 1.6 Das Zauberwort „Idiolekt“ 53 <?page no="55"?> 29 Gesamtheit aller Merkmale der Situation, in der ein Text verfasst wird (Umstände, Umgebung, Grad der Förmlichkeit, Respekt dem/ der Leser: in gegenüber, Freiwilligkeit, Veranlassung, Funktion und Absicht des Textes, Verfasser: in allein/ nicht allein, in Eile, unter Druck, konzentriert, verängstigt, unter Drogeneinfluss usw.). 30 Speziell bei Stress werden Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, das Frontalhirn fährt zurück, und Verhaltensweisen werden auf Routine ‚umgeschaltet‘. 31 Text ist hier alles, was zu untersuchen beauftragt wird. Die von De Beaugrande/ Dressler (1981) und Vater (1992) beschriebenen Kriterien und die Frage danach, ob eine Ansammlung von Wörtern und hinzukommt, kann eine etwas andere und als „Erweiterung“ bisheriger Befunde zu sehende Befundkonstellation entstehen. Die Frage danach, ob eine Veränderung des Settings 29 , bzw. - sehr vereinfacht ausge‐ drückt - die „Schreib-Aufgabe“ der Person beim Verfassen eines Textes - gepaart mit einer etwaig großen sprachlichen Flexibilität bzw. Anpassungsfähigkeit der Person, eine stärkere Wirkung auf sprachliche Varianzen hat als der Idiolekt der Person, ob also eine Person aufgrund eines geänderten Settings so stark abweichende Ausdrucksweisen verwenden würde, dass der Idiolekt kaum oder nicht mehr zu erkennen ist, kann nur so beantwortet werden: Nur Verfasser: innen mit bemerkenswerten sprachlichen Fähigkeiten und einem großen Stilrepertoire zeigen bei unterschiedlichen Anforderungen eine solche Varianz, die den Idiolekt „verdunkeln“ würde. Die Tatsache, dass ein Mensch seine idiolektalen Ausdrucksweisen, die er auch - bzw. gerade - unter Stress und in Eile produziert, nicht verändern kann, ist damit vergleich‐ bar, dass ein Mensch auch nicht-sprachliche Verhaltensweisen, die man üblicherweise „Angewohnheiten“ nennt, nicht einfach ablegen kann, da sie unbewusst ablaufen 30 . Daher nennt man den Idiolekt auch habituellen Sprachgebrauch. Auch wenn jemand aus dem Tiefschlaf geholt und dazu veranlasst wird, sich sprachlich zu äußern, zeigt das, was er sagt (oder schreibt) seinen Idiolekt. Die Art der Sprache eines Menschen, die Idiolekt genannt wird, kann wie etwas Automatisiertes betrachtet werden, zu dessen Ausführung man nicht nachdenken bzw. keine Einzelabläufe planen und zusammensetzen muss - vergleichbar mit dem Fahrradfahren und Schwimmen, das man, wenn man es einmal gelernt hat, später automatisch ausführen kann. In diesem Buch wird es oft am Ende der Beschreibung eines sprachlichen Phänomens heißen (so oder so ähnlich): Dieses Phänomen kann als idiolektal gelten. Hier fällt die vorsichtige Ausdrucksweise mit kann auf. Diese Ausdrucksweise wähle ich (statt zu schreiben Dieses Phänomen ist idiolektal.), weil immer zu beachten ist, dass es sich bei einem Befund in einem untersuchten Text um einen Performanzfehler oder eine andere Art Fehler (z. B. Konvertierungsfehler) handeln könnte. Außerdem unterscheiden sich die interessanten Befunde insofern, als manche erst als idiolektal gelten können, wenn sie in einem Text hochfrequent sind, andere sind bereits idiolektaler Art, wenn sie nur mehrfach auftreten. 1.7 Voraussetzungen für vergleichende Textuntersuchung Dafür, dass die Ergebnisse einer vergleichenden Textuntersuchung 31 belastbar sind, müssen die im Folgenden aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sein: 54 1 Basiswissen <?page no="56"?> Sätzen erst dann Text genannt werden darf, wenn Kohäsion gegeben ist (bzw. außerdem Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität), spielen für die Entscheidung, ob ein Text als Text anerkannt wird, keine Rolle. ● Textsortenkompatibilität muss gegeben sein. ● Die Authentizität des Vergleichsschriftguts muss gesichert sein. ● Es muss ein Minimum an Textmenge vorliegen. ● Zeitnähe der Entstehung der zu vergleichenden Texte muss gegeben sein. 1.7.1 Textsortenkompatibilität Für die Vergleichstauglichkeit ist für Texte in der forensischen Linguistik wichtig, dass sie möglichst derselben Textsorte angehören, dass also nicht ein Drohschreiben mit einem Kochrezept verglichen wird. Es ist auch ungünstig für linguistischen Textvergleich, wenn die Speicher- und Übertragungsmedien unterschiedlich sind (digital, z. B. Whats- App, vs. Papier/ Post). Man unterscheidet zwischen textinternen und textexternen Merkmalen. Zu den textinter‐ nen Merkmalen gehören Satzbaumuster, Wortschatz, relativ konsistenter Themenverlauf, zu den textexternen gehören das Speicher- und Übertragungsmedium, die Textfunktion und das „Setting“ (die Kommunikationssituation). Die Textsorte determiniert die Auswahl an Stilmitteln, wenn also erhebliche Unterschiede zwischen dem Erpresserschreiben A und dem Brief B eines Verdächtigten bestehen, ist zu klären, zu welchem Anteil die Unterschiede textsortenbedingt sind, die Autoren von A und B aber dennoch identisch sein können. (Rathert 2006, S.-54) In der Textsortenforschung gibt es verschiedene Theorien, die jedoch alle gemein haben, dass nach Form und Gebrauch bzw. Absicht (Intention) des Textes klassifiziert wird. Ich finde folgende (von mir selbst seit 2010 verwendete) Klassifizierung sinnvoll. Textsorten Informativ-neutrale Texte ● Konstative - Reportative - Pradiktative - Deklarative ● Deskriptive ● Expositive - Introduktive - Text-strukturierende - Konklusive ● Referentielle ● Komparative 1.7 Voraussetzungen für vergleichende Textuntersuchung 55 <?page no="57"?> Interaktiv-kommunikative Texte ● Konventionell-konfirmative, affirmative und resentative ● Kommunikativ-reaktive ● Konventionell-behabitive ● Sentativ-kommentative ● Promissive ● Kontentative ● Judikative Texte Initiativ-appellative Texte ● Dukative - Laudative und improbative - Konsultative - Revokative - Assertative ● Suggestive - Suggestiv-konventionelle - Suggestiv-persuasive ● Direktive ● Mandative ● Demandative ● Exerzitive (Thormann 1994, Inhaltsverzeichnis) Eine für die forensische Linguistik und speziell für die Authentizitätsfeststellung sinnvolle Unterteilung der Textsorten ist die nach der Intention, der Absicht, bzw. auch nach der Intension, dem inneren Bestreben, einen Text herzustellen. Intention Absicht, Vorhaben, Plan; damit verwandt ist das Wort „Tendenz“ (etwas auf etwas hin Gerichtetes); der Fokus ist ein nach außen gerichtetes Ziel. Intension Eifer, innerer Antrieb, Bestreben, Anspannung, etwa sogar „Berufung“; Gegenteil von „Extension“. Das lateinische Wort intensio bedeutet „Anspannung“; das sieht man auch an dem englischen Wort „tension“ ([An]Spannung) und dem Adjektiv „intensiv“. Jemand schreibt anders, wenn er einen offiziellen Bericht für eine/ n Vorgesetzte/ n verfasst, als wenn er eine private Mitteilung an seine Nachbarin schreibt. Er formuliert auch anders, wenn er Vorwürfe macht, als wenn er einen Dankesbrief verfasst. Seine Texte unterscheiden sich auch je nachdem, ob er nervös oder in Eile oder ängstlich ist oder gelassen oder gar verliebt ist. 56 1 Basiswissen <?page no="58"?> Daher ist zunächst u. a. darauf zu achten, was miteinander verglichen wird, dass also die Textsorte, das Register bzw. der Grad der Förmlichkeit, der Stil und die Absicht bzw. Funktion des Textes übereinstimmen. Es kommt vor, dass mehrere Texte, die vorgeblich alle von einem/ einer Verfasser: in stam‐ men, und zwar mehrere inkriminierte Texte oder auch mehrere Vergleichstexte, zu jeweils einem Textkomplex zusammengeführt werden (sie werden „gepoolt“ bzw. „geclustert“). Sie sind dann allerdings zunächst auf Homogenität zu prüfen, um festzustellen, dass die Vermutung (beispielsweise eines Auftraggebers oder einer Partei in einem Rechtsstreit) desselben Verfassers plausibel ist. Literarische Textsorten (Epik, Lyrik, Dramatik) sind in der forensischen Linguistik lediglich bei Plagiats-Untersuchungen von Interesse; in diesem Buch geht es jedoch nicht um literarische Texte. 1.7.2 Authentizität der Vergleichstexte Die sprachlichen Besonderheiten von jeweils zwei Texten (typischerweise einem inkrimi‐ nierten Text und einem Vergleichstext) werden verglichen, um festzustellen, ob sie von derselben Person verfasst wurden. Es liegt auf der Hand, dass ganz sicher sein muss, dass der/ die Vergleichstext(e) von der Person stammt (bzw. stammen), die verdächtigt wird, den inkriminierten Text verfasst zu haben, also dass die Authentizität des Vergleichstextes gesichert ist. Außerdem muss klar sein, wie - je nach Konstellation und Textanzahl - die Aufgabe bzw. Frage lauten muss. Mögliche (und typische) Beispiele für Konstellationen: 1. Es liegen ein inkriminierter Text und ein Vergleichstext (oder mehrere Vergleichstexte) vor, wobei bei dem Vergleichstext (bzw. den Texten) gesichert ist, dass er (sie) von der Person verfasst wurde(n), die verdächtigt wird, den inkriminierten Text (die Texte) verfasst zu haben. Es ist festzustellen, ob beide (bzw. alle) Texte von derselben Person verfasst wurden. Das Ergebnis kann lauten: „Der inkriminierte Text wurde mit hoher Wahrscheinlich‐ keit von derselben Person verfasst, die den Vergleichstext (die Vergleichstexte) verfasst hat.“ 2. Es liegen ein inkriminierter Text und ein anderer Text (bzw. andere Texte) vor. Es ist festzustellen, ob beide (alle zu prüfenden) Texte von derselben Person verfasst wurden. Das Ergebnis kann dann lauten: „Der inkriminierte Text wurde mit hoher Wahrschein‐ lichkeit von der Person verfasst, die auch den anderen Text verfasst hat.“ Wenn jedoch nicht sicher bestimmt werden kann, wer den anderen Text (bzw. die anderen Texte) verfasst hat, betrifft diese Ungewissheit auch die Frage nach der Person, die den Vergleichstext (die Texte) verfasst hat. Selbstverständlich ist in beiden Fällen die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass die Texte von mehreren Personen (oder - ganz oder teilweise - von ChatGPT) verfasst worden sein können. 1.7 Voraussetzungen für vergleichende Textuntersuchung 57 <?page no="59"?> 1. Es liegen mehrere Texte vor, und zwar z. B. mehrere inkriminierte und/ oder mehrere Vergleichstexte. Es ist festzustellen, ob alle Texte von einer Person oder von mehreren verschiedenen Personen verfasst wurden. Das Ergebnis kann dann lauten: „Die Texte wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit von derselben Person verfasst.“ oder „Die Texte wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit von mehreren verschiedenen Personen verfasst.“. 2. Es liegt ein inkriminierter Text vor - und kein Vergleichstext. Es soll anhand des einen Textes möglichst viel über die Person ausgesagt werden, die den Text verfasst hat, z. B. ihr ungefähres Alter, der Bildungsstand, Ausbildung und Beruf, das Geschlecht, die regionale Herkunft oder ob die Person zeitweise in einer bestimmten geografischen Region gelebt hat, ob die Person einer bestimmten sozialen oder auch politisch orientierten Gruppe angehört, ob die Person Deutsch als Muttersprache gelernt hat oder nicht usw. Das Ergebnis kann dann lauten: „Die Person, die diesen inkriminierten Text verfasst hat, ist vermutlich über 50 Jahre alt und männlich, sie hat vermutlich zeitweise in dem Gebiet der früheren DDR gelebt oder ist in der DDR aufgewachsen, der Bildungsstand ist gut (es wurde vermutlich eine höhere Schule besucht und auch abgeschlossen) usw. Solche Untersuchungen sind sehr schwierig, und die Ergebnisse sind kaum belastbar. Es darf nicht unterschätzt werden, dass ein/ e Verfasser: in auch dezeptive Strategien anwenden könnte und falsche Interpretationen erzeugt. Wenn jemand schreibt Als Kind mochte ich immer gern Broiler. oder Mein Vater ist immer leicht ausgezuckt, wenn er besoffen war. lässt das nicht unbedingt auf eine Kindheit in der DDR bzw. in Österreich schließen. Es kann sich auch um eine Verstellungsstrategie des Verfassers handeln. Es kommt oft vor, dass linguistische Gutachten angefordert werden, sich die Parteien jedoch darum streiten, welche Texte als Vergleichstexte heranzuziehen sind. Ob gesichert ist, dass ein bestimmter Vergleichstext von einer bestimmten Person verfasst wurde, hängt von vielen Faktoren ab. Bei der Beschaffung solcher Texte kann auch „geschummelt“ worden sein, ein solcher Text kann von jmdm. verändert worden sein, der etwa ein Interesse daran hat, dass keine Übereinstimmung des Idiolekts des inkriminierten Textes mit dem des Vergleichstextes (bzw. mehreren Vergleichstexten) festgestellt wird und folglich dieselbe Person als Verfasser: in gemutmaßt wird. Als sicher sind solche Texte anzusehen, die tatsächlich verschickt wurden und beim Empfänger ankamen und bei denen der/ die Verfasser: in außerdem vor der Untersuchung seine Autorschaft bestätigt. Es ist ausgesprochen ärgerlich und stellt Zeit- und Geldverschwendung dar, wenn einem Linguisten gefälschte Texte zum Vergleich zur Verfügung gestellt wurden und die Fälschung später festgestellt wird. Falls eine solche Fälschung vorliegt und für ein linguistisches Gutachten herangezogen wurde und dies nie aufgedeckt wird, kann das gravierende Folgen haben. Ein Text ist also dann authentisch, wenn er von dem/ der tatsächlichen Verfasser: in stammt, nicht gefälscht oder verändert wurde und wenn das außerdem von dem/ der tatsächlichen Verfasser: in bestätigt wird. 58 1 Basiswissen <?page no="60"?> Es gibt auch schwierige Fälle, bei denen eine Person, die beispielsweise nicht schreiben kann (weil sie verletzt oder behindert ist), einer anderen Person den Text diktiert. In einem solchen Fall ist zu beachten, dass sich bei dem Text die Orthografie-Kompetenz der schreibenden und nicht der diktierenden Person zeigt. Kritisch sind auch Texte, die von einer anderen Person als dem/ der Verfasser: in „Korrektur gelesen“ oder in anderer Weise bearbeitet wurden. Es gibt auch Texte, die von Verfasser: innen-Gruppen erstellt werden. Solche Texte sind als Vergleichstexte meist unbrauchbar. 1.7.3 Minimum an Textmenge Es ist sehr wichtig, dass die zu untersuchenden Texte einen gewissen Minimalumfang haben, denn für (zu) kurze Texte gilt: ● Es finden sich keine bzw. nicht genügend sich wiederholende signifikante Merk‐ male, bzw. die Wahrscheinlichkeit ist gering. ● Die gefundenen Phänomene sind nicht vollständig charakterisierend für eine bestimmte Person, und solche Ergebnisse sind nicht belastbar. Wenn ein/ e Verfasser: in z. B. ein substantiviertes (und folglich großzuschreibendes) Verb zweimal klein schreibt und/ oder das statt dass und/ oder ein bestimmtes Adjektiv, das normalerweise nicht häufig vorkommt, verwendet, ist das interessant. Es dürfen aber nur solche Auffälligkeiten gewertet werden, die mehrmals bzw. - besser - oft bzw. hochfrequent bzw. systematisch (d.-h. sehr oft) bzw. rekurrent (wiederkehrend) vorkommen (Substantiv Rekurrenz). 1.7.4 Zeitnähe der Entstehung der zu vergleichenden Texte Der Mensch verändert sich im Laufe seines Lebens, und auch seine Ausdrucksweise verändert sich. Das wird besonders stark vom Bildungsweg und von den Menschen bestimmt, mit denen er kommuniziert. Daher ist es wichtig, dass die Texte eine zeitliche Nähe haben. Bei einem/ einer 50-Jährigen ist es nicht so schlimm, wenn ein großer Zeitraum von beispielsweise 10 Jahren zwischen der Entstehungszeit der zu vergleichenden Texte liegt, bei einem/ einer 30-Jährigen wäre das allerdings bedenklich. 1.7.5 Fehlervermeidung und Zusammenfassung der Axiome Weiterhin gilt es, Fehler zu vermeiden, welche sich bei der Authentizitätsfeststellung erfahrungsgemäß primär so ergeben können: 1. Es kommt zu Fehlinterpretationen, weil nicht genau genug zwischen Kompetenz- und Performanzfehlern unterschieden wird (→-Kap.-1.10.1). 2. Es werden Auffälligkeiten gewertet, die nicht häufig vorkommen. 3. Es werden Texte mit enthaltenen Konvertierungsfehlern ausgewertet. Um den wissenschaftlichen Grundprinzipien zu genügen, ist weiterhin wichtig, die Unter‐ suchungen und Ergebnisse einem Peer-Review zu unterziehen bzw. dem Vier-Augen-Prin‐ 1.7 Voraussetzungen für vergleichende Textuntersuchung 59 <?page no="61"?> 32 Der „Daubert Standard“ regelt bei der Beweisführung die Zulässigkeit von Sachverständigen-Aus‐ sagen in US-amerikanischen Gerichtsverfahren im United States Federal Court. Seit dem Fall Daubert v. Merrell Dow Pharmaceuticals Inc. (Nr. 509 U.S. 579 [1993]) sind Richter dafür verantwortlich, vorgebrachte wissenschaftliche Beweise nach 5 Kriterienfragen zu überprüfen: Has the technique been tested in actual field conditions (and not just in a laboratory)? Has the technique been subject to peer review and publication? What is the known or potential rate of error? Do standards exist for the control of the technique’s operation? Has the technique been generally accepted within the relevant scientific community? zip zu entsprechen, die Arbeit bzw. zumindest die Methode also von mindestens einer anderen Person überprüfen zu lassen. In den USA wurde der sog. Daubert-Standard 32 entwickelt, ein Kriterienkatalog, der in der US-amerikanischen Rechtsprechung u. a. für die Überprüfung, ob für ein Gutachten wissenschaftlich „sauber“ gearbeitet wurde, ange‐ wendet wird. Bei der Untersuchung von Texten für Gutachten bestehen selbstverständlich auch strenge Datenschutzregeln. Es ist meist schwierig, eine weitere Person zu finden, die a) entsprechend den Datenschutzrichtlinien verpflichtet werden kann und b) linguistisch so vorgebildet ist, dass sie ein Gutachten in forensischer Linguistik überprüfen kann. Da dies oft nicht gewährleistet werden kann, wird auf dieses Erfordernis oft verzichtet. Insgesamt ergeben sich die folgenden fünf Axiome für vergleichende Textuntersuchung, die in Kurzform so lauten: 1. Textsortenkompatibilität 2. Vergleichstext-Authentizität 3. Textmengen-Minimum 4. Zeitnähe 5. Fehlervermeidung (Unterscheidung Kompetenz- und Performanzfehler, Auffälligkei‐ ten-Häufigkeit, Konvertierungsfehler) 1.8 Die 5 linguistischen Gebiete So, wie die forensische Linguistik in Teildisziplinen unterteilt werden kann, kann auch die Betrachtung eines Textes in Disziplinen bzw. Bereiche unterteilt werden. Als theoretisches Grundgerüst für Authentizitätsfeststellung bietet sich diese Unterteilung der Gebiete an: 1. Typografie und Textstruktur, Textsorte/ -funktion, Register 2. Orthografie und Interpunktion (ohne Komma) 3. Syntax (und Komma) 4. Morphologie und Morphosyntax 5. Lexik und Semantik Die obige Liste enthält nicht den Begriff Stil, und zwar, weil es bei der Stilistik, also der Lehre vom sprachlichen Ausdruck, darum geht, wie Verfasser: innen ihre Sprache einsetzen, um bestimmte Wirkungen beim Leser (bzw. Zuhörer) zu erzielen. Die oben genannten Bereiche spielen dabei alle eine Rolle. Wenn beispielsweise in einem Text besonders viele Metaphern verwendet werden, ist das eine Auffälligkeit im Bereich der Lexik und Semantik; 60 1 Basiswissen <?page no="62"?> so auch, wenn besonders viele Attribute in Form von Adjektiven auffallen. Das kann ein Zeichen dafür sein, dass der/ die Verfasser: in ein lebendiges und/ oder anschauliches und/ oder blumiges und/ oder detailliertes Bild von dem vermitteln will, was er/ sie beschreibt. Bei solchen stilistischen Fragen ist jedoch nicht sicher, ob damit die Frage nach dem Idiolekt beantwortet werden kann oder ob ein/ e Verfasser: in mit hoher Schreibkompetenz ein Register bedient oder vorsätzlich bestimmte stilistische Mittel verwendet, die dann gerade nicht zum Idiolekt gehören. In der Nachbarschaft der obigen Disziplinen gibt es viele andere linguistische Diszipli‐ nen, u. a. Anthropologische Linguistik, Applied Linguistics, Computer-Linguistik, Dialekto‐ logie, Diskurslinguistik, Gesprächslinguistik, Kognitive Linguistik, Kontrastive Linguistik, Korpuslinguistik, Lexikologie/ Lexikografie, Lexikometrie/ Lexikostatistik, Neurolinguistik, Orthografie, Pädagogische Linguistik, Phonetik, Phonologie, Pragmatik, Psycholinguistik, Quantitative Linguistik/ Mathematische Linguistik/ Statistische Linguistik, Soziolinguistik, Spracherwerbsforschung, Sprachgeschichte, Sprachkontaktforschung, Sprachphilosophie, Sprachtypologie, Terminologie, Textlinguistik, von denen viele für die Zwecke der Authen‐ tizitätsfeststellung nicht relevant sind. Die obige Liste enthält auch nicht die Diskursanalyse, da es dort es um die Rolle und Bedeutung von Sätzen in ihrem größeren Kontext wie einem Text oder Gespräch geht. Die Pragmatik ist in der obigen Liste nicht enthalten; allerdings spielen die Erkenntnisse der Pragmatik eine Rolle, die in einem separaten Unterkapitel erörtert wird (→-Kap.-1.8.6). 1.8.1 Typografie, Textstruktur/ -sorte/ -funktion Textgenre, Inhalt (Information, Drohung usw.), Grundaussage, Gesamtmitteilung des Textes und Absicht des Verfassers, Textsorte (z. B. initiativ-appellativ [Drohbrief, Er‐ pressungsversuch, Koch-/ Arzt-Rezept], informativ-neutral [z.-B. Testament, Reise, Sport-/ Wetter-Bericht, Zeugnis], interaktiv-kommunikativ [z. B. Anfrage, Behörden-, Verwal‐ tungsschreiben]); inhaltliche Gliederung, Einzelaussagen der Absätze, Thema-Rhema-Gliederung (TRG); Nominalstil vs. Verbalstil; die Satzgrenze überschreitende (transphrastische), textlingu‐ istische, textkonstituierende Trennungsbzw. Zusammenhangs-Kennzeichnung semanti‐ scher und syntaktischer Beziehungen (Kohärenzen, Kohäsionen); Brüche im Text-Aufbau, unstimmige Textstruktur; Erscheinungsbild (auch „Phänotyp“): alle typografischen und orthografischen Merkmale; Textkonstitution (-struktur, -aufbau): Brief, E-Mail, SMS, Länge/ Zeichenanzahl (bzw. genauer: Anzahl der sichtbaren Zeichen und auch Tastatur-Anschläge, d. h. inklusive Leerzeichen) Absatz-, Satz- und Wortanzahl, Satzlängen (Wortu. Zeichenanzahl pro Satz); Typografisches: Besonderheiten wie Formatierung, Absätze, Ränder, Satz (Block-, Flatter‐ satz), Abstände, Einrückungen, Leerzeilen, Leerzeichen, Tabs, Font(s) und Schriftgröße(n), Silbentrennung, Hervorhebungen, Grußformeln, typografische Besonderheiten bei Da‐ tumsangaben und Abkürzungen (nicht lexikalisch), Aufzählungen, Satzzeichen (z. B. Verwendung von Gedankenstrichen oder Klammern zur Kennzeichnung von Einschüben („Parenthesen“); 1.8 Die 5 linguistischen Gebiete 61 <?page no="63"?> Hinweise auf den/ die Verfasser: in(nen): Einzelperson vs. Gruppe (evtl. inkonsistente Schreibung, Interpunktion, Normabweichungen aller Art), evtl. Hinweise auf Alter und/ oder soziale/ ethnische Zugehörigkeit (primär lexikalische Besonderheiten, evtl. Verstel‐ lung), auf Geschlecht (evtl. „Genderlekt“), Fachwissen (Fachausdrücke, Fachjargon, Angabe von Fakten), Bildungsstand, Sprachstand (Deutsch als Fremdsprache oder Zweitsprache gelernt, pidgin-sprachliche Ausdrucksweisen, z. B. Ich nix Arbeit. statt Ich bin arbeitslos.), Ghettoslang bzw. Kiezdeutsch bzw. „Kanak Sprak“ (lexikalisch und [morpho]syntaktisch, z. B. Musstu gucken.), soziale und regionale Einflüsse (z. B. Soziolekt, Ethnolekt, Dialekt, Regiolekt, Funktiolekt), interlinguale Einflüsse (oder Interferenzen); als Textbausteine verwendete Phrasen, Register (der Funktion des Textes angepasste Ausdrucksweisen). 1.8.2 Orthografie und Interpunktion (ohne dass/ das und Komma) GKS (Groß-/ Kleinschreibung [u. a. bedeutungsdifferenzierendes höfliches Anredeprono‐ men, sog. „Honorifikum“]), GZS (Getrennt-/ Zusammenschreibung, u. a. Komposita), alte vs. neue Rechtschreibung, Graphem-Phonem-Korrespondenz (Buchstaben-Laut-Überein‐ stimmung; u. a. Dehnungs-h [Strähne], ß/ ss/ s, Schreibung von Fremdwörtern und Affixen [prä/ pre]), Zeichensetzung bzw. Verwendung von Satzzeichen (zur Gliederung von Sinn‐ einheiten im Satz und Text): Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Anführungszeichen, Se‐ mikolon, Doppelpunkt, Leerzeichen; Wortzeichen (Apostroph bzw. „Auslassungszeichen“, Bindestrich/ Trennstrich [u. a. beim Zeilenumbruch], Gedankenpunkte), Kennzeichnung von Einschüben („Parenthesen“ [z. B. mit Gedankenstrichen oder Klammern]); evtl. man‐ gelnde Kohärenz mit der Aussage. 1.8.3 Syntax (einschließlich dass/ das und Komma) Satzteile, Satzbau (Hypo-/ Parataxe, Nebensatzarten), Satzanfänge (mit welchem Satzteil), Kommata, Besetzung der Satzgliedpositionen (Adverbial als Präpositionalphrase oder als Nebensatz), Realisierung von Satzteilen (z. B. Objekt als Nominalphrase oder als Nebensatz), Art und Anzahl der Unterordnungsbzw. Verschachtelungsebenen (Haupt und Nebensätze und Kommata oder Linksattributionen), Verb-/ Satzklammer (evtl. häufige Ausklammerung bzw. „Nachfeldbesetzung“ gemäß dem Feldermodell), Topikalisierung (auch „Fronting“, „Emphase“, „Fokussierung“, „Vorfeldbesetzung“), freier Dativ, Nominalvs. Verbalstil. 1.8.4 Morphologie und Morphosyntax Konjugation (Person, Numerus, Tempus, Modus, Genus Verbi); Deklination (Kasus, Nume‐ rus, Genus); Kongruenz (Subjekt-Prädikat- und Kasus-/ Numerus-/ Genus-Kongruenz) und Kohärenz in Sätzen (Pronomina, Attribute). 62 1 Basiswissen <?page no="64"?> 1.8.5 Lexik und Semantik Wortarten (evtl. auffällig oft verwendete Wortart, z. B. Adverbien), Attribute (Arten: eher Einzelwörter in Form von Adjektiven oder Partizipien oder komplexe Linksattributi‐ onen [siehe Syntax]), gendergerechte Sprache bzw. Darstellungsmethoden (Ist der Text „gegendert“? In welcher Weise ist der Text gegendert? ), Verwendung von Jargon-/ Vul‐ gär-Ausdrücken, polemisierenden Ausdrucksweisen? Enthält der Text sprechsprachlich typische Ausdrucksweisen mit Klitika (z. B. Ich habse hinterm Haus gesehen.), Verwendung von Idiomen (für ein Individuum typische Ausdrucksweise), Metaphern (bildliche Aus‐ drucksweise, z. B. der Zahn der Zeit), polemisierenden Ausdrucksweisen, Phraseologismen (zu fester Form verwachsene Folge von Lexemen, z. B. etwas auf dem Schirm haben), Floskeln (nichtssagende Redensarten, z. B. im Grunde genommen), Partikeln, Modewörter, Schimpfwörter, Funktionsverbgefüge (FVG [z. B. zur Anwendung kommen]), Abstrakta (z.-B. Hass), Tautologien (Doppel-Aussagen, z. B. nie und nimmer), Pleonasmen (mehrfach gleiche, überflüssige Aussagen ohne Informationsgewinn, z. B. Elemente in Komposita, z.-B. Fußpedal), Verb-Adverb-Gefüge (z.-B. beiseite schaffen). 1.8.6 Und was ist mit Pragmatik? Es fällt auf, dass die obige Liste die Pragmatik (bzw. „Pragmalinguistik“ bzw. „linguistische Pragmatik“) nicht enthält. Der Grund ist, dass es in der forensischen Linguistik in nur wenigen und speziellen Fällen - etwa der Auslegung unklarer Äußerungen und der Beur‐ teilung von sich (ggf. vorsätzlich) unklar ausdrückenden Sprecher: innen/ Schreiber: innen - um die Frage geht, wie eine Aussage unter Berücksichtigung des Kontextes (im weitesten Sinne) und der (u. a. durch die Sprech-/ Schreib-Situation bedingte) Intention zu verstehen ist. Bei den Fällen, um die es in diesem Buch geht, liegen zu untersuchende schriftliche Äußerungen vor, zu denen meist der weitere Kontext fehlt. Vor allem fehlen Informationen z. B. darüber, wie der/ die Verfasser: in seine/ ihre Intention hinter der Äußerung beschreiben würde, wie viel der/ die Verfasser: in über die Verstehensvoraussetzungen beim Leser wusste usw. Bei der (linguistischen) Pragmatik geht es u. a. um Parameter, die Einfluss darauf haben, dass ein/ e Verfasser: in sich so und nicht anders ausdrückt (bzw. ausgedrückt hat), und darauf, dass ein/ e Leser: in eine sprachliche Äußerung so und nicht anders versteht. In diesem Buch geht es nur dann und nur insofern um die Empfängerseite, wenn bei offensichtlich missglückter Verständigung (jemand fühlt sich beleidigt oder angegriffen, wohingegen der Kommunikationspartner behauptet, eine solche Intention nicht gehabt zu haben) einem/ einer Verfasser: in unterlassene Verständlichkeitssicherung und/ oder unterlassene Disambiguierung vorgeworfen wird. Das kann den Vorwurf enthalten, dass er/ sie nicht berücksichtigt hat, dass seine/ ihre sprachliche Äußerung falsch verstanden werden kann, dass er/ sie also ggf. die Voraussetzungen zum Verständnis auf der Empfängerseite (evtl. vorsätzlich) nicht genügend oder nicht berücksichtigt hat. In diesen Bereich gehören auch die Sprechakttheorie, konversationelle Implikaturen, Präsuppositionen, Präsumtionen, Inferenzen, das Grice’sche Kooperationsprinzip mit den vier Konversationsmaximen (Quantität, Qualität, Relevanz, Modalität), Theory of Mind, das kommunikative Relevanzprinzip, Deixis, Soziolinguistik usw. 1.8 Die 5 linguistischen Gebiete 63 <?page no="65"?> 33 Achtung: Die Großschreibung am Absatz-Anfang kann auch an einer Voreinstellung der Textverar‐ beitung liegen (und ist dann kein interlingualer Einfluss). Wenn es um Fragen geht wie die, ob eine Aussage tatsächlich als beleidigend intendiert war, ob jemand etwas vorsätzlich unklar bzw. irreführend ausgedrückt hat, ob jemand durch eine Äußerung eingeschüchtert werden sollte, ob eine Aussage tatsächlich ehrverletztend ist, ob eine bestimmte Ausdrucksweise auf eine Traumatisierung zurückgeführt werden kann, wird die Pragma- (und oft auch die Psycho-)Linguistik wichtig. Aber dieses Buch heißt „Tatort Syntax“. Es geht hier primär um syntaktische Strukturen. 1.9 Hundert Fragen zu einem Text Nachdem sichergestellt wurde, dass die oben erläuterten Bedingungen (Textsortenkompa‐ tibilität, Authentizität der Vergleichstexte, Textmenge und Zeitnähe) erfüllt sind, wird ein inkriminierter Text untersucht und mit einem Vergleichstext (oder mehreren Vergleichstex‐ ten) verglichen. Die Untersuchungen sollten alle oben aufgeführten linguistischen Bereiche betreffen. Um dies zu erleichtern, sind hier 100 Fragen über einen Text - bzw. über mehrere miteinander zu vergleichende Texte - aufgeführt. Die folgende Liste enthält viele Fachausdrücke und Formulierungen, die später in diesem Buch erläutert werden. Sie soll dem Leser und der Leserin primär einen Eindruck vermitteln, wie umfangreich die mögliche Untersuchung von Texten ist. Diese Liste Frage für Frage durchzugehen, ist sehr aufwändig. Wesentlich besser ist es, wenn dem erfahrenen Lingu‐ isten bzw. der erfahrenen Linguistin, der/ die mit Inhalten wie denen dieser Liste vertraut ist, beim ersten (und zweiten und dritten) Durchlesen Besonderheiten aufgefallen sind und er/ sie danach die Liste durchgeht, damit nichts unübersehen bleibt. 1. Um welche Art von Text handelt es sich rein äußerlich (Brief, E-Mail, Protokoll, Chatverlauf, Bericht, Anweisung[en] …)? 2. Um welche Textsorte handelt es sich inhaltlich (informativ-neutral, interaktiv-kom‐ munikativ oder initiativ-appellativ)? Welchen Inhalt/ welche Absicht hat der Text (Information, Drohung, Erpressung, Abschiedsbrief, Bekennerschreiben, Kündigung, Erklärung, Bestellung, Kochrezept, …)? 3. Ist der Text ein Brief oder eine E-Mail? Ist die Anrede/ Begrüßungs-/ Grußformel mit oder ohne Komma nach „Hallo“ oder „Guten Abend“? Gibt es evtl. keine Grußformel? Ist der Beginn des Textes (nach der Grußformel) klein oder groß (wenn großgeschrie‐ ben, evtl. Einfluss vom Englischen) 33 ? Steht ein Komma zwischen der Grußformel und dem Namen (z. B. Hallo, Thorsten)? Wie viel Abstand ist zwischen Grußformel und Namen (z.-B. größerer Zeilenabstand als zwischen anderen Zeilen)? 4. Gibt es typografische Auffälligkeiten (unterschiedliche Absätze, handschriftliche Zusätze)? Bei PDF (von jpg oder SnipShots): vergilbtes Papier? Flecken? Ist der Text vollständig mit einem PC oder Handy erstellt worden? Wie ist die Text-Ausrichtung (z. B. linksbündig, Blocksatz)? Wie ist der Zeilenabstand (z. B. einfach, 1,5)? Enthält der Text Nicht-Text-Elemente (Tabellen, Grafiken usw.)? 64 1 Basiswissen <?page no="66"?> 5. Gibt es manuell eingefügte Leerzeilen (oder sind sie mit Absatzformatierung einge‐ stellt)? Gibt es Hinweise auf die Versiertheit des Verfassers im Umgang mit Textverar‐ beitungsprogrammen (mit Wortkorrektur)? 6. Werden Silben getrennt? Wie ist die Silbentrennung (automatisch bzw. von der Textverarbeitung voreingestellt oder manuell; korrekt oder normabweichend)? 7. In welcher Schriftart (Font) ist der Text geschrieben (z. B. Times New Roman, Arial; kursiv [= schräg nach rechts geneigt]? ) Welche Schriftgröße (welchen Schriftgrad) hat der Text (10, 11, 12 pt.; fett, Spationierung: erweiterter Zeichenabstand)? 8. Gibt es Hervorhebungen (Ausrufezeichen, Fettdruck, Großbuchstaben, Unterstrei‐ chungen, Gedankenpunkte, Kursivschrift)? 9. Wie viele Sätze und Wörter und Zeichen hat der Text? 10. Wie viele Wörter (und Zeichen) haben die Sätze (einzeln und im Durchschnitt [durchschnittliche Wortanzahl])? Wie lang ist der kürzeste/ der längste Satz? 11. Wie lang sind die Wörter (absolut und durchschnittlich)? Wie lang ist das längste/ das kürzeste? Wie ist die durchschnittliche Wortlänge? 12. Enthält der Text Abkürzungen? Gibt es Auffälligkeiten (z. B. unterschiedlich geschrie‐ ben; „ok“, „o.k.“, „o.-k.“, Leerzeichen dazwischen? )? 13. Gibt es überflüssige Leerzeichen (z. B. vor einem Komma, nach öffnender Klammer, vor schließender Klammer, vor einem Frage-/ Ausrufezeichen)? Gibt es fehlende Leer‐ zeichen (z.-B. nach einem Komma)? 14. Enthält der Text Datumsangaben? Wie sind sie geschrieben (mit führender Null [01.02.2023], Monat als Wort oder Zahl? Jahreszahl zwei- oder vierstellig? Tages-Nen‐ nung [z.-B. Mo, 25. Febr. 2021]? Komma nach Datum als Apposition? )? Gibt es Dauer- und Zeitangaben, Geldbeträge mit Währungsangabe? Wie? Dauerangaben mit den Wörtern „von“ und „bis“ (oder Striche)? 15. Wie ist die Schreibung von Zahlen (Wort oder Zahl; evtl. bis einschl. „zwölf “ als Zahl)? 16. Gibt es fehlerhaft gesetzte Anführungszeichen (z. B. Er meinte die „sogenannten“ Penner.)? 17. Gibt es (viele) Apostrophe (siehe auch „Ausdruck der Zugehörigkeit")? 18. Gibt es Absätze? Wenn ja: wie viele? 19. Wie viele Fragen enthält der Text (gesamt und anteilig gemäß Satzanzahl)? Gibt es Fragen ohne Fragezeichen? Gibt es Sätze mit einem Fragezeichen am Ende, die keine Fragen sind (sondern nur eine Frage bzw. etwas Fragliches enthalten)? Gibt es Auffälliges bei der Satz-Abschluss-Interpunktion? 20. Ist der Text-Stil eher Nominalstil oder eher Verbalstil? Wie oft gibt es das Verb „erfolgen“ (in allen Flexionsvarianten)? Gibt es bei Substantivierungen/ Nominalisie‐ rungen favorisierte Formen? 21. Ist der Stil einheitlich, oder gibt es Stil-Brüche bzw. inkonsistenten Stil/ Mischung (z. B. behördliche Terminologie gemischt mit umgangssprachlichen Ausdrücken (evtl. Hinweis auf multiple Autorenschaft)? 22. Wurde der Text von einem/ einer Deutsch-Muttersprachler: in verfasst oder von ei‐ nem/ einer Verfasser: in, der/ die Deutsch als Fremdsprache (DaF) gelernt hat? 1.9 Hundert Fragen zu einem Text 65 <?page no="67"?> 23. Gibt es Hinweise darauf, dass der Text von mehreren Verfasser: innen geschrieben wurde, von einer Verfasser: innen-Gruppe; liegt sog. „multiple Autorenschaft“ vor? Ist die Struktur der Normabweichungen (Dichte und Art) inkonsistent? 24. Hat der/ die Verfasser: in sich verstellt? Sind dezeptive Strategien erkennbar? In welcher Weise (evtl. andere soziale Schicht/ Bildungsschicht? 25. Gibt es erkennbaren Dialekt oder Regiolekt (z. B. Broiler, Anstößer, Exekution, Klops, Semmel, Bube)? Wurde die Herkunft aus einer bestimmten Region evtl. vorgetäuscht? 26. Gibt es erkennbares Fachwissen (evtl. Hinweis auf Beruf)? 27. Wird eine Geschlechtszugehörigkeit verbalisiert? Enthält der Text Hinweise auf das Geschlecht des Verfassers bzw. der Verfasserin? 28. Enthält der Text Hinweise auf das Alter des Verfassers bzw. der Verfasserin (Neologis‐ men [Ich feiere das.], Archaismen [Bratkartoffelverhältnis])? 29. Wurde systematisch manipuliert (z. B. alte Rechtschreibung, Archaismen/ Neologis‐ men)? 30. Wurde abgeschrieben (z. B. Übernahme von Text aus öffentlich zugänglichen Texten, vorhandenen Texten)? Wurde diktiert? Wurde Spracherkennungssoftware eingesetzt? 31. Gibt es Auffälligkeiten bei der Interpunktion (z. B. Komma statt Punkt, fehlende/ über‐ flüssige Satzzeichen)? Handelt es sich bei den Auffälligkeiten um übliche (auch „usuelle", nicht fehlerhafte) Abweichungen oder um Normverstöße? 32. Gibt es Doppelpunkte? Was folgt (Aufzählung, Satz, Teilsatz)? Wie wird danach geschrieben (wenn ein vollständiger Satz folgt: Großschreibung)? 33. Gibt es (viele) Ausrufezeichen, Gedankenpunkte, Gedankenstriche, Semikola? Gibt es auffällige Normabweichungen bei der Verwendung von Strichen (Gedanken‐ striche statt Bindestriche)? 34. Gibt es auffällig viele Kommafehler? Welche Art überwiegt? Fehlen Kommata? Sind Kommata überflüssig? Gibt es auffällig häufige fehlende (überflüssige) Kommata einer bestimmten Art (siehe Kapitel 4.1)? 35. Gibt es Inzidenzen von „Komma vor ‚und‘ mit neuem Hauptsatz“ (siehe auch Syntax>Komma)? 36. Gibt es „schwerwiegend“ (auch „gravierend") falsch geschriebene Wörter? 37. Gibt es auffällig korrekt geschriebene (schwierige) Wörter? 38. Gibt es eine ungewöhnliche Mischung von falsch und korrekt geschriebenen (schwie‐ rigen) Wörtern (Hinweis auf Verfasser: innen-Gruppe)? 39. Gibt es Auffälligkeiten bzw. auffällige Normabweichungen bei der Groß-/ Klein-Schreibung („GKS“, z.-B. Substantivierung/ Gerundien, Komposita)? 40. Gibt es Auffälligkeiten bzw. auffällige Normabweichungen bei der Getrennt-/ Zusam‐ men-Schreibung („GZS“, z. B. Verben mit Adverb [frei sprechen vs. freisprechen] und bei Komposita? 41. Gibt es Normverstöße bei der ss/ s/ ß-Schreibung? 42. Gibt es Normverstöße bei der dass/ das/ daß-Schreibung? Wie oft macht der Normver‐ stoß den Satz schwer verständlich)? Wie oft steht Dass/ Das/ Daß am Satzanfang? Wie viele Inzidenzen gibt es (gesamt und anteilig) von a) das statt dass? , b) dass statt das? , c) daß statt dass? , d) daß statt das? 66 1 Basiswissen <?page no="68"?> 43. Gibt es Auffälligkeiten bei den Personalpronomen (auffällig viele „Kommunikan‐ ten-Pronomen“ > Verfasser: in [ich, wir], Leser: in [du, ihr]) oder „anaphorische Prono‐ men“ (Rückbezug durch er/ es)? Gibt es auffällige Normverstöße (z. B. Kasus, Numerus)? 44. Wie oft kommt das Pronomen „ich“ (mit Flexionsformen) vor (im Verhältnis zur Gesamtwortanzahl)? Wie oft als Subjekt? (Wie oft ist das Subjekt „ich“? Wie oft ist das Subjekt „man“? ) Siehe auch Frage 65. 45. Wie oft kommt das Pronomen Du oder Sie (mit Flexionsformen) vor (im Verhältnis zur Gesamtwortanzahl)? Kommt es häufig in Verbindung mit dem Imperativ vor? 46. Wird das bedeutungsdifferenzierende Honorifikum (höfliches Sie vs. sie und Ihr/ Ihre/ Ihrem/ Ihren/ Ihres/ Ihnen) korrekt großgeschrieben? Wie oft ist das Honorifikum ein Possessivpronomen (Ihr/ Ihre/ Ihrem/ Ihren/ Ihres)? 47. Wird das Personalpronomen der 2. Person Singular (Du/ Dir/ Dich) großgeschrie‐ ben (kein bedeutungsdifferenzierendes Honorifikum)? 48. Wie häufig kommen Präpositionaladverbien vor? Wie häufig stehen sie am Satzan‐ fang? 49. Enthält der Text auffällig viele Modalverben? Wenn ja, welche? 50. Wie wird „können“ primär verwendet? Mit dem Passiv? 51. Gibt es Fälle von Satz(bau)bruch (Anakoluth)? Wie oft wurde ein Satz anders fortgesetzt als begonnen? 52. Wie oft gibt es „es“? Wie oft ist es Teil von es gibt? Wie oft ist es Teil von es ist/ sind? 53. Wie oft gibt es den Fall von „es“ mit später folgendem „dass“ (oder alt daß oder falsch das)? 54. Wie oft ist „es“ ein Korrelat (Ankündigung von Inhalt), wie oft ein Expletivum (nur Platzhalter)? Wie oft ist „es“ das Subjekt? 55. Gibt es (außer es) andere Korrelate, z. B. Präpositionaladverbien, evtl. fehlerhaft (da(d)rüber)? Gibt es Sätze mit impliziten Korrelaten? 56. Gibt es auffällig viele bestimmte Satzteile (z.-B. viele Objekte, wenige Adverbiale)? 57. Gibt es Auffälligkeiten bei der Abfolge der Satzteile in den Sätzen? 58. Gibt es viele elliptische Sätze/ Ellipsen? Gibt es darunter (viele) „Heischesätze“ (Wunsch-Exklamation)? 59. Gibt es Auffälligkeiten bei der Realisierung der Satzteile (simpel vs. komplex vs. Nebensatz [z.-B. wegen vs. weil])? 60. Wie viele Sätze beginnen mit dem (bzw. einem) Subjekt, wie viele mit einem Objekt, wie viele mit einem Adverbial, wie viele mit einem Prädikativ? 61. Wie viele Sätze beginnen mit einem einfachen Satzteil, wie viele mit einem komple‐ xen, wie viele mit enem Nebensatz (wobei der Nebensatz ein Satzteil ist)? 62. Welche Nebensatz-Arten herrschen vor? Wie groß ist der Anteil der Dass-Sätze? 63. Bei wie vielen Subjekt-Satz-Anfängen ist das Subjekt simpel (und: kurz oder lang), bei wie vielen komplex, bei wie vielen ein Subjektsatz? 64. Bei wie vielen Subjekt-Satzanfängen ist das Subjekt eine Person (wie oft eine 3. Person)? Wie oft ist das Subjekt „ich“ (auch anteilig von allen „ich“-Inzidenzen)? Siehe auch Frage 45. 65. Bei wie vielen Subjekt-Satzanfängen ist das Subjekt keine Person? Ist es belebt oder unbelebt? 1.9 Hundert Fragen zu einem Text 67 <?page no="69"?> 66. Bei wie vielen Objekt-Satz-Anfängen ist es ein Akkusativ-/ Dativ-/ Genitiv-/ Präposi‐ tionalobjekt? Bei wie vielen Objekt-Satz-Anfängen ist das Objekt simpel (welcher Art? ), bei wie vielen komplex (welcher Art? ), bei wie vielen ein Objektsatz? 67. Wie viele Sätze beginnen mit einem Adverbial (Zahl aus Frage 60)? Bei wie vielen Adverbial-Satz-Anfängen ist das Adverbial simpel, bei wie vielen komplex, bei wie vielen ein Adverbialsatz? 68. Wie oft gibt es 2 (3, 4, 5) Adverbiale im Satz? Wie oft zweimal (dreimal) hintereinan‐ der? 69. Gibt es ungewöhnliche transitive Verwendung sonst intransitiv verwendeter Verben (z.-B. Ich erinnere die Reise., Er feiert diese Musik.)? 70. Gibt es Buchstaben-Dreher, fehlende/ überflüssige Buchstaben? 71. Sind Relativsätze korrekt durch Kommata vom Hauptsatz abgetrennt? Mit was für einem Relativpronomen (der/ die/ das oder welche/ r/ s)? 72. Welcher Art sind die Relativpronomen? Gibt es Auffälligkeiten (z. B. häufiges welch-)? 73. Gibt es falsch geschriebene Wörter (seid vs. seit, ward vs. wart), evtl. schwierige unregelmäßige Formen (wie Ihr nimmt statt Ihr nehmt)? 74. Enthält der Text Imperative? Sind sie korrekt (z. B. falsch: trete statt tritt, falsch les oder ließ statt lies)? Wendet sich der Imperativ an eine Person (Schalten Sie nicht die Polizei ein! , Mach Dich vom Acker! ) oder enthält der Imperativsatz keine Ansprechperson (Nicht die Polizei einschalten! , Keine Mätzchen! )? Enthält der Text Aufforderungen (evtl. auch adhortativer Art (Imperativ, der zu gemeinsamer Tat bzw. zu gemeinsamem Denken auffordert, z. B. Machen wir uns nichts vor! , Hoffen wir’s! )? 75. Gibt es auffällig häufig eine Art des Konjunktivs (I, II)? Normverstöße? Wird der Konjunktiv oft mit „würde“ realisiert? Warum (weil evtl. die Konjunktivform nicht beherrscht wird? )? 76. In welcher Weise wird Vermutung ausgedrückt (Adverb [vermutlich, wohl], Adjektiv [mutmaßlich, hypothetisch] Futur I oder II [Er wird das geplant haben.])? Gibt es (beim Ausdruck der Vermutung) Redundanzen? 77. Welche Tempora kommen primär vor? Kommt eine Tempusform gar nicht vor (z. B. Futur II)? 78. Gibt es auffällig häufigen Gebrauch bestimmter Vergangenheitstempora (Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt)? Wird das Präteritum statt des Perfekts beim Verb „sein“ und bei Vorhandensein eines Modalverbs verwendet (z.-B. Er wollte höflich sein.)? 79. Gibt es Normverstöße bei der Consecutio Temporum (u. a. unterlassene Verwendung des Plusquamperfekts)? Gibt es Normverstöße bei der Tempuswahl, die das Verständnis des Satzes erschweren? Gibt es Missbrauch des Plusquamperfekts (keine Vorvergan‐ genheit; Verwendung statt Präteritum speziell bei dem Verb „sein“)? 80. Enthält der Text falsch gebildete Partizipien beim Perfekt (gesonnen, gehängt/ gehan‐ gen)? 81. Enthält der Text Inzidenzen von Zustandspassiv (Partizip ohne worden), z. B. Das Geschäft ist (wegen Krankheit) geschlossen. Gibt es „Grenzfälle“ (bei denen das „worden“ besser vorhanden wäre, z. B. Die Party ist abgesagt.)? Enthält der Text Inzidenzen von Zustandspassiv, bei denen das Partizip eine „etablierte“ attributive 68 1 Basiswissen <?page no="70"?> Adjektiv-Bedeutung hat (Ich bin bedient. Die Sache ist gegessen.)? Enthält der Text Inzidenzen von Formulierungen mit Kopula und Adjektiven (als Prädikativ), die Partizipien sind, zu denen es mögliche Alternativ-Formulierungen im Aktiv gibt, die hier nicht gewählt wurden (Das Protokoll ist geändert (worden). vs. Das Protokoll wurde geändert. vs. Das Protokoll ist anders. vs. Jemand hat das Protokoll geändert.)? 82. Wird die Zukunft in Form von Futur I realisiert, obwohl im Satz ein temporales Adverb vorhanden ist (und Präsens genügen würde, explizites Futur [z. B. Morgen werde ich nach Berlin fahren. vs. Morgen fahre ich nach Berlin.])? Oder wird auch bei Futur-Bedeutung das Präsens verwendet (futurisches Präsens; z. B. Wir rufen Sie an.)? 83. Kommt das Passiv überzufällig häufig vor? Wenn ja: warum? Gibt es ([vom Verfasser] nicht genutzte) Aktiv-Alternativen? Warum wird Passiv statt Aktiv verwendet (z. B., um keinen Aktanten zu nennen, um [mit Aktiv-Verwendung] nicht vorwurfsvoll zu wirken [Sie sind nicht registriert.], um eine gerade abgeschlossene Handlung als unumstößliche Tatsache darzustellen [Die Sache ist beschlossen. statt „normales“ Passiv Perfekt mit „worden“: Die Sache ist beschlossen worden.]? )? 84. Gibt es falsche Kasus? Gibt es Dativ/ Akkusativ-, (Dativ/ Genitiv)-Verwechslungen? Ist der Normverstoß häufig „Akkusativ statt Dativ“? 85. Welche Satzformen gibt es (Aussagesatz, Fragesatz, Aufforderungssatz, Ausrufesatz)? Welche sind vorherrschend? 86. Wie viele Sätze (gesamt und anteilig) haben überhaupt keine Hypotaxe? Wie viele Sätze haben zwei/ drei/ vier/ fünf Subordinierungs-Elemente? 87. Wie ist die maximale Anzahl der horizontalen (Hypotaxe-)Elemente? 88. Wie ist die maximale Anzahl der vertikalen (Hypotaxe-)Elemente? 89. Gibt es ungewöhnliche Positionierungen bestimmter Wörter (z. B. sich, nicht, Dativobjekt), Ausklammerung (im Feldermodell „Nachfeldbesetzung“ genannt)? 90. Gibt es ungewöhnliche Abfolgen von Satzteilen bzw. Satzelementen (z. B. Dem haben wir es aber gezeigt., Einfach weggenommen hat er’s uns., Ich rate Ihnen nicht, die Polizei einzuschalten., Mir ist der Vertrag geschickt worden.)? Sind Gründe erkennbar (z.-B. Topikalisierung, intratextueller Anschluss)? 91. Enthält der Text viele Sätze mit Satzklammer und somit Dependenzdistanz? Gibt es auffällig oft eine Art (von insgesamt 7; Modalverb, Tempus, Konjunktiv, Passiv, Negation, trennbares Verb, „müssen-Ersatz“; siehe Kapitel 5.11)? 92. Welcher Art sind die Attribute (obligatorisch für die intendierte Aussage oder nicht)? Wie sind sie realisiert (Links- oder Rechtsattribution)? Links: Adjektiv oder komplexe Linksattribution mit Partizip, rechts: Relativsatz? 93. Gibt es unklare oder ungewöhnliche Anschlüsse zwischen Sätzen (z. B. neuer Satz statt Fortführung, Fortführung statt Satzzeichen [Komma, Semikolon, Punkt, …])? 94. Wie wird Zugehörigkeit ausgedrückt (vorwiegend mit von oder Genitiv oder Posses‐ sivpronomen)? Wie viele Inzidenzen gibt es von von (z. B. der Bruder von Susanne) oder Genitiv (Susannes Bruder, evtl. mit [engl.] Apostroph)? 95. Wie wird Verpflichtung und Notwendigkeit ausgedrückt (mit müssen oder mit haben zu oder sein zu [ist zu], […] ist nötig., […] braucht […], ist erforderlich/ notwendig)? 96. Gibt es Verneinung? Welche Art(en)? Wie oft mit nicht, kein, kaum, un-, nie, niemand usw.), Gibt es Mehrfach-Verneinung (z.-B. Das ist nicht unüblich.)? 1.9 Hundert Fragen zu einem Text 69 <?page no="71"?> 34 Die Entwicklung der Fehlerforschung, speziell bezogen auf Orthografie, ist hervorragend dargestellt in Hessler (2023: 74). 97. Gibt es unklare Konjunktionen/ Konnektoren, speziell „oder“? Welche Art von „oder“ (inklusives oder exklusives)? 98. Enthält der Text viele Komposita? Wie werden sie geschrieben (korrekt; mit Durch‐ koppelung)? Gibt es eine vorwiegende Komposita-Art? Gibt es besonders lange und/ oder komplexe Komposita? Gibt es ambige Komposita? Gibt es Komposita mit ent‐ haltenen Namen oder solche, die insgesamt einen Eigennamen darstellen? Gibt es Komposita mit enthaltenen nichtdeutschen Elementen? Gibt es Kofferwörter? 99. Enthält der Text Jargon-/ Vulgär-Ausdrücke, fäkalsprachliche Ausdrücke, polemisie‐ rende Ausdrucksweisen? Enthält der Text sprechsprachlich typische Ausdrucks‐ weisen mit Klitika (z.-B. Ich habse hinterm Haus gesehen.)? 100. Gibt es semantisch verstärkende Lexeme wie sehr, total, besonders? Gibt es Redundanzen? 1.10 Fehler bzw. Normabweichung Die meisten inkriminierten Texte enthalten zahlreiche Normabweichungen bzw. -verstöße. Bei diesen Normen, von denen abgewichen bzw. gegen die verstoßen wird, handelt es sich um die Regeln für das Verfassen deutscher Texte, die an den Schulen im Deutschunterricht vermittelt werden und die dazu dienen sollen, dass eine Person einer anderen etwas mitteilen kann, ohne dass es zu Missverständnissen kommt. Der derzeitige Stand dieser vom Rat für deutsche Rechtschreibung verfassten Regeln (und das Wörterverzeichnis) ist online hier zu finden: https: / / www.rechtschreibrat .com. Es geht dem Rat um: a. Beobachtung und Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung, b. Bewahrung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum, c. Klärung von Zweifelsfällen der deutschen Rechtschreibung. Es ist sinnvoll und praktisch, als Referenz bei Fragen den Duden zu verwenden (der ja bekanntermaßen auch kostenlos online zur Verfügung steht), speziell weil er ständig überarbeitet und auf dem neuesten Stand gehalten wird und das allgemein anerkannte Regelwerk ist. Vielen Texten merkt man an, dass ihre Verfasser: innen sehr wahrscheinlich nicht be‐ geisterte Schüler: innen des Faches Deutsch waren oder dass sie nicht in den Genuss effektiven Deutschunterrichts gekommen sind. Solche Verfasser: innen mit einer geringen Schreibkompetenz sind meist durchaus in der Lage, „ihre Message rüberzubringen“, wie man neudeutsch sagt. Für die Beschreibung von Fehlern gibt es innerhalb der Fehlerlinguistik, die speziell für die Forschungsbereiche des kindlichen Spracherwerbs, der Aphasie und der (Fremd-)Spra‐ chen-Didaktik wertvoll ist, Fehlertypologien mit Theorien zur Kategorisierung von Feh‐ lern. 34 70 1 Basiswissen <?page no="72"?> Eine Analyse sprachlicher Merkmale zum Herausarbeiten eines Idiolekts besteht immer aus der Kombination von Stilanalyse und Fehleranalyse. Mit dem Wort Fehleranalyse sollte man m. E. in der Didaktik der forensischen Linguistik sparsam umgehen, weil Studierende dazu neigen, eine Fehler-Suche zu übertreiben und dabei zu vergessen, dass diese Vorgehensweise beschreibenden (nicht korrigierenden oder belehrenden) Charakter hat. Darum bevorzuge ich den Terminus Normabweichung (gegenüber Fehler) und die Ausdrucksweisen Synopse der Normabweichungen (gegen‐ über Fehleranalyse). Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass es neben dem (für die Zwecke der Au‐ thentizitätsfeststellung nicht sinnvollen) Bewertungskriterium richtig/ falsch auch die anderen dichotomen Bewertungspaare möglich/ unmöglich oder üblich/ unüblich oder effizient/ ineffizient oder angemessen/ unangemessen oder zielführend/ nicht ziel‐ führend gibt. Dieses Buch enthält keine detaillierten Ausführungen zur Fehleranalyse, aber sehr viele Beispiele (und dazugehörige Erläuterungen) von Fehlern bzw. Normverstößen, fehlerhaf‐ ten und normabweichenden Ausdrucksweisen sowie regionalen Besonderheiten, also nicht-fehlerhaften Auffälligkeiten. 1.10.1 Kompetenzvs. Performanzfehler: Flüchtigkeitsfehler oder Wissensmangel? Beim Einsatz der Fehleranalyse in der Authentizitätsfeststellung ist wichtig, ● dass sich der/ die Linguist: in der Gefahr der Fehlinterpretation bewusst ist und ● dass in Texten auffällig viele Performanzfehler wertvolle Hinweise auf die emotionale Verfassung des Textverfassers und auf das Setting geben. Achtung: ● Mögliche Konvertierungsfehler (beim Konvertieren von PDF in Word wird z. B. aus einem „r“ mit folgendem „n“ im PDF ein „m“ im Word-oder TXT-Text) ● Performanzfehler, die für Kompetenzfehler gehalten werden, können ein Untersu‐ chungsergebnis verfälschen. Kompetenzvs. Performanzfehler Kompetenzfehler sind solche Fehler, bei denen die Norm nicht gelernt wurde bzw. nicht beherrscht wird. Sie ergeben sich systematisch aus dem zugrundeliegenden Wissen eines Textverfassers. Sie werden von ihm in vergleichbaren Situationen voraussagbar immer wieder produziert. Performanzfehler hingegen sind Fehler, die dem/ der Verfasser: in als Folge mangeln‐ der Konzentration unterlaufen, oft bedingt durch Eile, Stress, Nervosität, Übermüdung usw., also „zufällige“ Fehler, „Flüchtigkeitsfehler“, manche Linguist: innen nennen sie in Anlehnung an „Ver-Tipper“„Ver-Leistungen“ bzw. bezeichnen sie (in deutschen Texten) als „mistake“ (im Gegensatz zu „error“ für Kompetenzfehler). 1.10 Fehler bzw. Normabweichung 71 <?page no="73"?> Typische Beispiele für Performanzfehler sind in der Nachbar (statt in der Nachtbar), nicht fünf, sodern sechs Stunden (statt sondern), Die Kollefgen haben das gesagt. (zusätzliches „f“). Oft sind solche Tippfehler erkennbar, weil der falsche Buchstabe auf der Tastatur nahe bei dem richtigen liegt, oder es handelt sich um ausgelassene oder zusätzliche Buchstaben oder um Buchstaben-Dreher. Typische Kompetenzfehler sind eidesstaatliche Versicherung, Förderation, unfähr, Nakose, Dahrlehen, Schanier. Die folgenden zwei Sätze enthalten einen kleinen Fehler jeweils in der Reihenfolge zweier Wörter. Was meinen Sie? Würde Ihnen das auch passieren? Sind die Normverstöße dem/ der Verfasser: in passiert, weil er/ sie in Eile war, oder weiß bzw. kann er/ sie es nicht richtig schreiben? ■ Lass uns Köpfe mit Nägeln machen. ■ Es war schlimm, wie sie ihn gar nicht zu Wort haben lassen kommen. Solche Fehler passieren oft in Eile, wenn die Gedanken bereits weiter fortgeschritten sind und eine Reihenfolge von Wörtern aus Versehen verdreht „ausgespuckt“ wird. Es gibt viele Fälle, in denen nicht entschieden werden kann, ob es sich um einen Performanz- oder Kompetenzfehler handelt. Ein Beispiel: ■ Nach allgemeiner Diskriminierung von Minderheiten, speziell Rassismus, Sexismus, entwickelte sich auch der Klassizismus mit immer stärker verankerten Vorurteilen bei bestimmten politischen Gruppierungen. Es muss „Klassismus“ heißen. Den „Klassizismus“ gibt es natürlich auch (die kunstge‐ schichtliche Epoche um 1800). Es ist schwer festzustellen, ob der/ die Verfasser: in des obigen Satzes nicht weiß, dass das Wort „Klassismus“ heißt, oder ob er/ sie nur - etwa in Eile - zwei Buchstaben zu tippen vergessen hat (oder ob er/ sie eine Spracherkennungssoftware genutzt und beim Diktieren etwas genuschelt hat). Eine genaue Beantwortung der Frage, ob es sich bei einer Abweichung von der Norm jeweils um einen Performanz- oder Kompetenz-Fehler handelt, wäre auch eher eine von einem Psychologen bzw. einer Psychologin und nicht von einem Linguisten bzw. einer Linguistin zu beantworten. Außerdem werden nur grobe Abweichungen von der Norm betrachtet. Abweichungen wie beispielsweise ein kleingeschriebenes „im übrigen“, das (seit der Rechtschreibreform 1996) mit einem großen „Ü“ geschrieben wird, sind irrelevant; so auch die Frage, ob man bei „nichts anderes“ „anderes“ groß oder klein schreibt. Aus einem solchen Fall von Falsch-Schreibung kann nicht etwa geschlossen werden, ein/ e Verfasser: in beherrsche die Groß- und Kleinschreibung nicht. Im Zweifelsfall sollte ein Performanzfehler angenommen werden, und zwar speziell, wenn der Fehler nicht zum Anspruchsniveau des restlichen Satzes bzw. Textes passt und wenn der Fehler am Satzende auftritt wie bei diesem Beispiel: ■ Er stellt das meiner Meinung nach viel zu dramatisch da. Diese/ r Textverfasser: in weiß vermutlich, dass das Verb „darstellen“ (mit einem „r“) lautet. 72 1 Basiswissen <?page no="74"?> Hier ist die „Normabweichungs-Stimmigkeit“ in einem Text (oder Satz) zu beachten, deren Regel lautet: Wenn sich an anderen Text- (oder Satz-)Stellen a. ein hohes „Anforde‐ rungs-Niveau“ und b. keine oder wenige Normabweichungen finden, ist eine Normabwei‐ chung an anderer Stelle im Zweifelsfall als Performanz- (und nicht als Kompetenz-)Fehler zu werten und geht somit nicht in die Interpretation der Normabweichungen (bzw. „Fehler“) ein. Bei der Authentizitätsfeststellung ist es sehr wichtig zu unterscheiden, ob es sich bei einer Normabweichung wie beispielsweise in dem folgenden Satz um einen Tippfehler oder um mangelnde Kompetenz handelt. ■ Tim weiß ziemlich viel von Ute, denn er hat mal mit derem Bruder in einer WG in Berlin gewohnt. Wenn jemand einmal schreibt ■ Die Vorraussetzungen waren nicht erfüllt., dann ist unklar, ob der/ die Textverfasser: in nicht weiß, dass man Voraussetzung mit nur einem „r“ schreibt, und ob er diesen Fehler immer machen würde, oder ob der Fehler ein Versehen ist. Wenn in demselben Text oder in einem Vergleichstext vorkommt ■ Ich habe ihm gesagt das er schonmal vorrausfahren soll. oder Das war vorrauszusehen. oder Das wird vorrübergehen. kann man bei diesem/ dieser Textverfasser: in hier einen Kompetenzmangel vermuten und würde weiter nach ähnlichen Fehlern bzw. Normabweichungen suchen. Wenn jemand schreibt ■ Er kam bei einem Autounfall tödlich ums Leben. ist es gut möglich, dass dies aus Nervosität und/ oder Eile geschah und der/ die Verfasser: in sonst formuliert hätte ■ Er kam bei einem Autounfall ums Leben. oder Er hatte einen tödlichen Autounfall. 1.10.2 Schwerwiegende Fehler vs. unwesentliche Normabweichungen Laien in der forensischen Linguistik sprechen oft und gern - sehr vereinfacht - von „Fehlern“ in zu untersuchenden Texten, deren Häufigkeit es festzustellen gelte. So simpel ist es jedoch nicht. Außerdem geht es nicht um „Fehler“, sondern um Varianten von Ausdrucksweisen, welche mehr oder weniger der allgemein als zweckdienlich anerkannten Norm entsprechen, damit Kommunikation funktioniert, Informationen weitergegeben werden können und damit ein Text seine beabsichtigte Wirkung hat. Jemand kann sehr viele dieser Fehler machen, wird jedoch trotzdem gut verstanden. 1.10 Fehler bzw. Normabweichung 73 <?page no="75"?> Wenn in diesem Buch das Wort Fehler verwendet wird, dann primär, weil es kürzer und somit platzsparender ist als das Wort Normabweichung, das jedoch das bessere Wort ist. Fehler wird hier nicht mit der Absicht verwendet, zum Ausdruck zu bringen, der/ die Verfasser: in eines Textes hätte die deutschen Orthografie-, Interpunktions-, Morphologie- oder Syntaxregeln befolgen sollen. Die für die deutsche Sprache bzw. Schrift geltende Norm, also die Gesamtheit der Wörter, der Rechtschreib-, Grammatik- und Bedeutungsregeln, die Schüler: innen im Deutschunterricht beigebracht werden und welche dann von einem hohen Prozentsatz aller deutschsprachigen Sprecher: innen und Schreiber: innen angewen‐ det wird, um sich - möglichst ohne Missverständnisse - miteinander zu verständigen, wird in der forensischen Linguistik lediglich als Tertium Comparationis genutzt. In Textuntersuchungen - etwa für ein Gutachten - ist interessant: ● signifikante systematische Abweichungen von dieser Norm ● eine etwaige auffällige durchgängige Einhaltung dieser Norm Wenn in diesem Buch das Wort Fehler verwendet wird, ist also eine Abweichung von dieser Norm gemeint, und das Wort „normalerweise“ bedeutet, dass eine Formulierung dieser Norm entspricht. Besonders aufschlussreich bei Fehlern bzw. Normabweichungen ist die „Fehlerdichte“ und die Kombination der Fehler bzw. Normabweichungen und Auffälligkeiten (man sagt auch „signifikante Merkmalskombinationen“ und „Auffälligkeits-/ Merkmals-/ Fehler-Cluster“ [eine Art des „Idiolekt-Clusters“]). Dabei ist wichtig, zunächst primär zu unterscheiden … ● Normabweichungen im Bereich des Satzbaus, der Orthografie, der Interpunktion, der Morphosyntax (z.-B. falsche Kasus, falsche Endungen finiter Verben) ● Lexikalisches, z.-B. normabweichende Wortwahl usw. Besonders wertvolle Hinweise auf einen Idiolekt, der zur Erkennung eines Textverfassers dient, liefert eine ausgefallene Kombination bestimmter Normabweichungen. Besonders interessant an Fehlern bzw. Normabweichungen ist für die Zwecke der forensi‐ schen Linguistik, wie schwerwiegend sie sind. Ich unterscheide drei Stufen: 1. schwerwiegende (gravierende) Fehler 2. unproblematische Normabweichungen 3. unerhebliche (unwesentliche) Normabweichungen 4. Dabei ist die Unterscheidung zwischen „unerheblich“ und „unproblematisch“ zu beachten. Eine „unerhebliche“ Normabweichung ist insofern bemerkenswert, weil sie Vermutungen über die Schreib-Situation und/ oder die Verfassung der Person zulässt, die einen Text geschrieben hat. Eine „unproblematische“ Normabweichung hingegen ist bemerkenswert, weil sie Vermutungen über den Bildungsstand der Person zulässt. 74 1 Basiswissen <?page no="76"?> Schwerwiegende (gravierende) Fehler Ein schwerwiegender bzw. gravierender Fehler ● kann leicht zu einem Missverständnis (oder zu Verstehens-Schwierigkeiten) führen und ● lässt auf eine stark mangelhafte Bildung des Verfassers schließen (sofern es sich um einen Kompetenz- und nicht um einen Performanz-Fehler handelt! ). Ein Beispiel: Man kann beobachten das die Skrupeln anderen Menschen zu beleidigen und sie zu schaden allgemein zunemen. Unproblematische Normabweichungen Eine unproblematische Normabweichung ● führt eher nicht zu einem Missverständnis, ● schränkt die Lesbarkeit ein, jedoch nicht die Verständlichkeit; ggf. kann die Bedeutung trotz der Normabweichung erraten werden, ● lässt auf eine mangelhafte Bildung des Verfassers schließen (sofern es sich um einen Kompetenz- und nicht um einen Performanz-Fehler handelt! ). Beispiele: *Du musst aufpassen das der dir nichts wegnimmt., *Sie hat den Kuchen selbst gebacken gehabt. Unerhebliche (unwesentliche) Normabweichungen Eine unerhebliche Normabweichung ● führt nicht zu einem Missverständnis, ● schränkt weder die Lesbarkeit noch die Verständlichkeit ein, ● wird von vielen Textverfasser: innen begangen, ● ist dem/ der Textverfasser: in sehr wahrscheinlich in Eile oder aufgrund von Nervosität unterlaufen (Performanzfehler). Ein Beispiel: Der Imperativ von „treten“ lautet gemäß dem Duden für die 2. Person Singular „tritt! “ und nicht „tretet“); für die 2. Person Plural lautet er jedoch „tretet! “. Wenn jemand schreibt Trete zurück! , handelt es sich um einen sehr häufigen Normverstoß, der auch von gebildeten Textverfasser: innen begangen wird und der weder die Lesbarkeit noch die Verständlichkeit einschränkt. 1.11 Notwendiger Vergleich mit einem neutralen Korpus Bei der vergleichenden Textuntersuchung werden Gemeinsamkeiten (bzw. Ähnlichkeiten) und auch Unterschiede festgestellt. Nun könnte man annehmen, dass man nur eine Liste zu erstellen bräuchte, in der auf einer Seite die Gemeinsamkeiten und auf den anderen die Unterschiede aufgeführt sind, und dann sähe man, auf welcher Seite mehr Eintragungen 1.11 Notwendiger Vergleich mit einem neutralen Korpus 75 <?page no="77"?> sind. Wenn es mehr Gemeinsamkeiten gibt, wurde der „inkriminierte“ Text von derselben Person geschrieben, von der auch die Vergleichstexte stammen; wenn die Unterschiede überwiegen, dann nicht. Es ist jedoch nicht so einfach. Es sind noch einige weitere Voraussetzungen zu erfüllen bzw. zu beachten und Fragen zu beantworten. Wenn man behauptet, ein Text enthalte auffällig viele Relativsätze oder auffällig wenige Attribute oder auffällig viele uneingeleitete Konditionalsätze oder viele - normabweichend - kleingeschriebene substantivierte Verben, stellt sich die Frage: Was bedeutet „auffällig“? Wie viele XY kommen denn in einem „normalen“ Text vor? Und was ist ein normaler Text? Um das zu beantworten, gibt es verschiedene, auch öffentlich zugängliche Korpora der deutschen Sprache, welche aus Sätzen bestehen, die im „normalen“ Sprachgebrauch der Deutschen vorkommen bzw. dafür typisch sind. Im folgenden Kapitel werden verschiedene online zugängige Korpora angegeben. Hinweis Es heißt das Korpus (nicht der). Das Substantiv mit dieser Bedeutung, also der Sammlung sprachlicher Daten, ist neutral. „Der“ Korpus - also maskulin - ist ein menschlicher Körper, außerdem der Resonanzkörper bei Musikinstrumenten und Teil eines Möbelstücks. „Die“ Korpus - feminin - ist ein Schriftgrad. Zu diesem Zweck habe ich ein aus „normalen“ Texten bestehendes Korpus erstellt, das zeigt, welche sprachlichen Phänomene in der „normalen Sprache“ wie oft vorkommen. Über die vielen Jahre meiner linguistischen Tätigkeit habe ich solche Texte gesammelt und dieses - mein eigenes - Korpus erstellt, das primär aus inkriminierten Texten und Vergleichstexten besteht, welche ich anonymisiert habe. Außerdem befinden sich darin weitere Texte und Schreiben aus dem alltäglichen Leben von Textverfasser: innen, die vorwiegend Deutsch als Muttersprache gelernt haben. Es handelt sich vorwiegend um Texte, die von einer Person an eine andere geschrieben wurden - und nicht um journalistische Texte oder Texte aus Büchern. Dieses Korpus ziehe ich für forensische Textuntersuchungen zum Vergleich heran. Mein Vergleichskorpus hat inzwischen einen Umfang von knapp 1.000.000 Zeichen und weit über 150.000 Wörtern und wächst ständig. Ich habe es speziell für Vergleiche bei Urheberschaftsfragen bzw. für die Authentizitätsfeststellung erstellt. Es enthält primär nicht veröffentlichte Mitteilungen jeweils einer Person an einen Adressaten bzw. an eine Adressatengruppe. Somit erfüllt das Korpus die Bedingung der Textsortenkompatibilität, die für das Identifizieren eines Idiolekts so entscheidend ist. Das Korpus enthält keine Zeitungsberichte und literarischen Texte. 76 1 Basiswissen <?page no="78"?> 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung Die Untersuchungen, die man an einem Text durchführen kann, können grob in zwei Arten unterteilt werden, und zwar 1. qualitative und 2. quantitative. Es sei betont, dass keine der beiden Methoden ohne die andere auskommt. Textunter‐ suchungs- Methode Beschreibung Vorteile Nachteile quantitativ • hypothesebildend • mit Software durch‐ führbar • untersucht primär Le‐ xik • geeignet für große Datenmen‐ gen • Objektivität ge‐ währleistet • grafisch anspre‐ chend aufberei‐ tete Darstellung möglich • untersucht nur we‐ nige Aspekte eines Textes • stark einge‐ schränkte Analyse syntaktischer Text‐ eigenschaften • ungeeignet für die Analyse syntakti‐ scher und morpho‐ logischer Auffällig‐ keiten • ungeeignet für das Identifizieren eines Idiolekts qualitativ • hypotheseprüfend • von Menschen durch‐ geführt • betrifft primär Syntax • geeignet für die Analyse von Syn‐ tax und morpho‐ logischen Aspek‐ ten • subjektive, idio‐ lektale Aus‐ drucksweisen ei‐ nes Verfassers werden erkannt • geeignet zum Identifizieren de‐ zeptiver Strate‐ gien • großer Aufwand • Expertise notwen‐ dig • ungeeignet für große Datenmen‐ gen • eingeschränkte Analyse lexikali‐ scher Texteigen‐ schaften • Objektivität nicht immer gewährleis‐ tet • grafisch anspre‐ chend aufbereitete Darstellung einge‐ schränkt So sollten auch bei der Authentizitätsfeststellung möglichst beide Methoden genutzt werden. Für die qualitativen Methoden (auch „theorie-“ bzw. „hypothesebildend“), bei denen es u. a. um die Relevanz von zu Untersuchendem und um die Auswertung der von den quantitativen Verfahren (auch „hypotheseprüfend“ genannt) gefundenen Auffälligkeiten, Phänomene, Häufigkeiten usw. geht, und für die Aufbereitung und Darstellung der 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung 77 <?page no="79"?> 35 Methodik, mit der mittels Statistik Sprachstil-Untersuchungen durchführt. 36 Konkordanz bedeutet „Übereinstimmung“. 37 Kollokation bedeutet „gemeinsame Platzierung an demselben Ort“; das in einer Sprache typischer‐ weise gemeinsame Auftreten bestimmter Wörter, z.-B. heikles Thema. 38 Kookkurrenz bedeutet „gemeinsames Vorkommen“ (siehe das engl. Verb „to occur“) in einem Satz/ Text, das auch für die Sprache untypisch sein kann. Ergebnisse wird die Empirie und die Stilometrie 35 der quantitativen Methoden und der Statistik gebraucht. Bei der quantitativen Analyse geht es, wie der Name schon sagt, um Mengen, und zwar Mengen von Wörtern (auch Zeichen und Buchstaben bzw. graphembasierten Merkmalen) und Ausdrucksweisen und um statistische Analysen, wie sie auch in der Korpuslinguistik verwendet werden. Es geht z. B. um die Frage, wie oft ein bestimmtes Wort (oder ein typo‐ grafisches bzw. Satz-Zeichen) oder eine Wortkombination in einem Text vorkommt; auch darum, wie oft die Inzidenz („Token“) eines Wortes in Kombination mit einem Satzzeichen auftritt, ob bestimmte Satzzeichen, z. B. das Semikolon, auffällig häufig vorkommen, welche Wörter und Kombinationen in einem Text auffällig oft bzw. auffällig selten oder gar nicht vorkommen. Um solche Untersuchungen durchzuführen, stehen verschiedene Software-Tools zur Ver‐ fügung. Korpusanalyse, Konkordanzsoftware Mit Korpusanalyse-Software wie AntConc (auch WordSmith, Simple Concordance, AntWordProfiler, AntGram, AntPConc, FireAnt) können Berechnungen durchgeführt und entsprechende Listen erstellt werden wie: ● Wortlisten zur Wortfrequenz (Listen aller Wörter, die im Korpus vorkommen, geordnet nach Frequenz) ● Konkordanz 36 -Listen, d. h. alphabetisch geordnete Wort-Liste der in einem Text verwendeten Wörter mit Extraktion bestimmter Wörter, wobei die jeweiligen Textstellen mit dem Wort im Zentrum der Zeile angeordnet sind und aus der hervorgeht, wo und wie oft und mit welchen Kollokationen 37 / Kookkurrenzen sie in dem Text verwendet werden, auch Auflistung häufig zusammen auftretender Wörter bzw. hochfrequenter Wortgruppen (sog. „Cluster“) ● Kookkurrenz 38 -Listen ● Schlüsselwörter (sog. „keywords“ per „KWIC“ [„keyword in context“] und Be‐ rechnung von „keyness“), von Konkordanz-Software aus Texten extrahiert ● Berechnung diachroner Verläufe des Wortgebrauchs ● Statistiken zum Verhältnis von „token“ und „types“ zur Untersuchung des Wort‐ schatzreichtums von Texten Außerdem gibt es online verfügbare und zur Online-Abfrage nutzbare Korpora wie DeReKo (das Deutsche Referenzkorpus) mit über 50 Milliarden Wörtern; außerdem die DWDS-Korpusanalyse (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache), DTA (Deutsches Textarchiv mit Texten aus der Zeit zwischen 1600 und 1900), COSMAS II und KorAP, 78 1 Basiswissen <?page no="80"?> EXMARaLDA (Transkriptions- und Annotations-/ Partitur-Editor mit Corpus-Manager und dem Such-, Filter- und Analysewerkzeug EXAKT), Transkribus (Plattform für die auto‐ matische Erkennung von Handschriften, Druckschriften, Bildern und Layoutstrukturen), ELAN (Eudico-Linguistik-Annotator, Transkriptions- und Annotationstool insbesondere für Videodateien), CATMA [webbasiertes Tool zur Annotation schriftlicher Daten], PRAAT (Schallanalysesoftware zum Segmentieren, Annotieren, Speichern und Verarbeiten von Aufnahmen gesprochener Sprache mit Visualisierungs- und Darstellungs- und Bearbei‐ tungsfunktionen), LDA Toolkit (Metasoftware für quantitative Korpuslinguistik zur ver‐ gleichenden und kontrastiven Analyse zweier Korpora und statistischen Ergebnissen). Bei der qualitativen Analyse geht es um das Auffinden von Besonderheiten in einem Text ohne Einsatz bzw. nach dem Einsatz von Software. Hier braucht der/ die Linguist: in gute Kenntnisse in Grammatik, speziell in Syntax (Satzbau). Das Zusammenspiel von quantitativer und qualitativer Analyse ist ausgesprochen sinnvoll, denn die quantitative Analyse kann Auflistungen erzeugen, in denen beispielsweise Kommata mit bestimmten Folge-Wörtern, z. B. „das“ und „dass“, gezeigt werden. Das kann so aussehen: Aufschlussreich sind auch - sinnvollerweise mit quantitativer Analyse feststellbare - Auffälligkeiten wie z. B. die Häufung bestimmter Lexeme wie das Verb „erfolgen“ (mit allen Flexionsvarianten), da es ein Hinweis auf „billigen“ Nominalstil ist, auch die Häufigkeit von Verstärkungsadverbien wie „sicher“ bzw. „sicherlich“, die Bevorzugung bestimmter Lexeme gegenüber anderen wie z. B. „bereits“ gegenüber „schon“ oder „häufig“ gegenüber „oft“. Interessant sind auch Auffälligkeiten wie hochfrequentes „denn“ oder „da“ bei wenigen oder gar keinen Inzidenzen von „weil“ bei den kausalen Adverbialen und z. B. hochfrequentes „sofern“ oder „falls“ bei gleichzeitig wenigen oder gar keinen Inzidenzen von „wenn“ bei den konditionalen Adverbialen. Im Idealfall ist der Ablauf des Einsatzes der qualitativen und quantitativen Methoden so: Nach den Standard-Untersuchungen mit quantitativen Methoden entscheidet der/ die Linguist: in, welche weiteren Untersuchungen mit quantitativen Methoden bei zu unter‐ suchenden Texten sinnvoll sind (wobei die Entscheidung eine qualitative Methode ist) und welche Untersuchungen nur mit qualitativen Methoden möglich sind wie z. B. 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung 79 <?page no="81"?> Hypotaxe mit „Treppenstufen-Darstellung“ (→ Kap. 4.2 mit Details zu dieser anschaulichen Darstellungsweise der Hypotaxe in Texten). Schließlich werden die Ergebnisse beider Methoden zusammengeführt, ausgewertet und möglichst anschaulich dargestellt, und zwar meist sinnvoll in einer Tabelle - für die Gegenüberstellung dessen, was für die z. B. in einem Beweisbeschluss formulierte Frage bzw. für die untersuchte Hypothese und was dagegen spricht, also beispielsweise so: - INKR VGL 1, 2, 3, 4 VGL 5 Syntax: Satzbau, Satzbeginn, Hypotaxe Satzbau extrem kom‐ plex Satzbeginn mit S (über 70-%) Hypotaxe extrem komplex Satzbau extrem kom‐ plex Satzbeginn mit S (über 60 % in VGL 2-4) Hypotaxe extrem komplex Satzbau normal kom‐ plex Verteilung von a) Satzbeginn mit S, b)-mit anderem Satzteil, c)-elliptische Konstruktion Hypotaxe eher simpel Hypotaxe extrem komplex extrem komplex nicht komplex Fehlerdichte (und Typ Kompetenz- oder Perfor‐ manzfehler) signifikant viele Fehler (überwiegend Kom‐ petenzfehler) signifikant viele Fehler (überwiegend Kom‐ petenzfehler) „normale“ Fehler‐ dichte (überwiegend Perfor‐ manzfehler) Fehlerarten und Feh‐ ler-Kookkurrenzen versuchte anspruchs‐ volle und komplexe Formulierungen, die nicht gelingen, ex‐ treme Fehlerdichte + schwerwiegende Fehler versuchte anspruchs‐ volle und komplexe Formulierungen, die nicht gelingen, ex‐ treme Fehlerdichte + schwerwiegende Fehler Die Arten der Fehler in diesem Text sind völlig anderer Art als die Fehler in INKR und VGL1-4. - Orthografie-Fehler (ein‐ schl. Getr./ Zus. [GZS] und Groß-/ Klein-Schreibg. [GKS]) viele GZS*-Fehler; signifikant viele gra‐ vierende Fehler viele GZS*-Fehler; signifikant viele gra‐ vierende Fehler ein GZS-Fehler; „tec“ statt „etc“; 2 GKS*-Fehler; Tippfehler wie z.-B. „Ohne“ Satzlängen extrem lange Sätze extrem lange Sätze kurz bis normal lang Gedanken-Punkte (inkl. Art! ) häufig; immer 3, mitten im Satz, weder davor noch danach ein Leerzeichen häufig; immer 3, mitten im Satz, weder davor noch danach ein Leerzeichen kommt vor; immer 5, immer am Ende ei‐ nes Satzes, ein Leer‐ zeichen davor andere Interpunktionszei‐ chen: Fragezeichen, Aus‐ rufezeichen mehrere Ausrufezei‐ chen in Reihe (meist drei) kein Leerzeichen da‐ vor mehrere Ausrufezei‐ chen in Reihe (meist drei) kein Leerzeichen da‐ vor jeweils nur ein Aus‐ rufezeichen meist ein Leerzeichen davor „da“ vs. „weil“ signifikante Bevorzu‐ gung von „da“ gegen‐ über „weil“ signifikante Bevorzu‐ gung von „da“ gegen‐ über „weil“ kein Vorkommen „bis dato“ signifikant häufig signifikant häufig kein Vorkommen 80 1 Basiswissen <?page no="82"?> INKR VGL 1, 2, 3, 4 VGL 5 „so“ und „so sehr“ signifikant häufig signifikant häufig kein Vorkommen „sicher“ und „sicherlich“ signifikant häufig signifikant häufig kein Vorkommen Wurde Diktier-Software verwendet (ersichtlich an der Art der Fehler)? wahrscheinlich nicht wahrscheinlich nicht wahrscheinlich ja „dass/ das“ gravierender Fehler in IT (Art wie in VGL1 bis 4) gravierende Fehler (Art wie in IT) kein Fehler „Sie/ sie“ extrem fehlerhaft extrem fehlerhaft kein Fehler „es“ signifikant häufig, immer Expletiva (häufig als Subjekt und gleichzeitig Kor‐ relat) signifikant häufig, immer Expletiva (häufig als Subjekt und gleichzeitig Kor‐ relat) kein Vorkommen Redundanzen, Tautologien häufig signifikant häufig kein Vorkommen 1.12.1 Die quantitativen Methoden, Software Beim Identifizieren eines Idiolekts ist es u. a. sinnvoll, die Verwendung bestimmter Wortformen zu untersuchen, beispielsweise des Kopula-Verbs „werden“, z. B. in der dritten Person Singular. Lässt sich ein Linguist von einer Konkordanzsoftware alle Inzidenzen von „wird“ - typischerweise mit jeweils mindestens drei oder vier Wörtern rechts und links davon - auflisten, ist noch nicht klar, ob es sich um ein Kopulaverb (etwa in dem Satz Sein Sohn wird Busfahrer.) oder um das Hilfsverb für ein Futur-Verb (etwa in dem Satz Sein Sohn wird im März in die Türkei fliegen.) oder um das Hilfsverb für eine Passiv-Konstruktion (etwa in dem Satz Sein Sohn wird nächste Woche operiert.) handelt. Wenn man einfach nur sagt: In dem Text XY kommt das Wort „wird“ x-mal vor, wenn man also nur zählt und nicht nach der Funktion des Wortes unterscheidet, ist das für das Identifizieren eines Idiolekts nicht viel wert. Es ist auch wichtig, dass beim Einsatz quantitativer Methoden das Richtige gezählt wird und folglich der zu untersuchende Text vor einer solchen Analyse erst „aufbereitet“ wird. Ich habe in einigen linguistischen Gutachten gesehen, dass z. B. einfach die Anzahl der Kommata und/ oder der vorkommenden Lexeme dass und das gezählt wurden, und zwar unabhängig von der Frage, ob das Komma oder das Lexem in dem jeweiligen Inzidenz-Fall korrekt war oder nicht, und schon gar nicht, um welche Art von Normverstoß es sich handelte. Wenn man z.-B. im folgenden Satz ■ Das sie als Ehefrau und Mutter mal ein paar Fakten über ihren Mann erfahren, ist höchste Zeit, nähmlich das ihr Mann fremd geht und wir meinen das ist für sie sicher nicht dass was man will. einfach die Kommata zählt, kommt man auf das Ergebnis 2 Kommata und 1 x dass und vermutet „Der Satz enthält einen ‚Dass-Satz‘ und noch einen anderen Nebensatz (weil er 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung 81 <?page no="83"?> zwei Kommata enthält)“ → Kap. 8.13.12). Man kann weiterhin (falsch) feststellen, dieser Satz begönne mit einem Hauptsatz (tatsächlich beginnt er mit einem Nebensatz, und zwar einem Dass-Satz, bei dem das dass jedoch falsch geschrieben ist). Der Gesamtsatz endet mit einem Relativsatz, vor dem jedoch das Komma fehlt, und wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass das dass vor dem Relativsatz falsch geschrieben ist (dass statt das). Wenn man noch genauer hinsieht, stellt man fest, dass es sich nach dem und wir meinen um einen weiteren Inhaltssatz handelt (alternativ zu einem Dass-Satz, der lauten würde Wir meinen, dass das für Sie sicher nicht das ist, was Sie wollen.), dass allerdings wahrscheinlich die Abfolge von dass und das vermieden werden sollte, weil der/ die Verfasser: in vermutet, eine Abfolge von dass das wäre falsch. Da stellen sich bzgl. der Zählung der Kommata und Nebensätze die Fragen: Wie zählt man am besten? Wie zählt man z. B. die Kommata? Zählt man am besten die vorhandenen Kommata? Ist das sinnvoll? Ist das ein Erkenntnisgewinn bzgl. des Idiolekts des Verfassers? Was ist mit überflüssigen und fehlenden Kommata? Oder korrigiert man und zählt dann die Kommata, wie sie korrekt wären? Wenn man bei jedem Satz so genau hinsehen und dann korrigieren muss, bedeutet das einen sehr großen Aufwand. Der Erkenntnisgewinn ist jedoch beträchtlich; die Mühe lohnt sich also. Es ist nicht sinnvoll, die vorhandenen, evtl. falsch gesetzten Kommata zu zählen. Es ist sinnvoll, das Vorhandensein, die Abfolge und die Funktionen der vom Verfasser gewählten Satzteile anzusehen und auch, wie Kommata (normverstoßend und normgerecht) gesetzt wurden. Ich beobachte bei linguistischen Gutachten, die primär auf quantitativen Methoden beru‐ hen, dass Phänomene festgestellt werden wie z. B., in einem Text sei „potentiell“ und in einem anderen Text „potenziell“ geschrieben worden, und dabei handele sich um einen Hinweis darauf, dass die Texte von verschiedenen Verfasser: innen geschrieben wurden. Es gibt aber durchaus Personen, die beim Verfassen von Texten einmal „potentiell“ und einmal „potenziell“ schreiben. Die wichtige Frage ist immer: Ist das idiolektal? Die Schreibung von potentiell bzw. potenziell ist nicht idiolektal. In ähnlicher Weise wäre ein deshalb in einem Text und ein deswegen in einem anderen Text auch kein Zeichen für verschiedene Verfasser: innen. Es gibt durchaus Personen, die beide Lexeme verwenden (ich selbst zum Beispiel). Die Entscheidung für die Verwendung von zwei Schreibweisen oder von Synonymen in einem Text kann verschiedene Gründe haben: Vielleicht kennt der/ die Verfasser: in die korrekte Form nicht und schreibt sie im Rahmen einer Strategie zur Fehlerreduzierung bewusst einmal so und einmal anders, oder er/ sie möchte den Text abwechslungsreich gestalten. Ein Beispiel, das zeigt, was mangelnde linguistische Kenntnisse zur Folge haben können: In einem Gutachten wurde, nachdem zwei Texte primär mit quantitativen Methoden untersucht worden waren, behauptet, die Texte seien mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von derselben Person verfasst worden, weil der eine Text eine sehr auffällige Häufigkeit des Personalpronomens sie bzw. Sie enthielt und der andere kein einziges. Das lag ganz einfach daran: Bei dem einen Text (dem inkriminierten Text) mit den häufigen sie bzw. Sie-Inzidenzen handelte es sich um einen an eine Bürgermeisterin gerichteten Drohbrief, der viele Sätze 82 1 Basiswissen <?page no="84"?> enthielt wie Sie haben unsere Steuergelder veruntreut., Sie alte Schlampe sind völlig falsch auf dem Posten., Dann haben Sie das ganze Geld, mit dem das Problem mit den multiresistenten Keimen im Krankenhaus bekämpft werden sollte, lieber dem Theater gegeben. Bei dem anderen Text (dem Vergleichstext) handelte es sich um einen Bericht über die Betreuung von Jugendlichen bei einem Zeltlager, der Sätze enthielt wie Ich habe im August ein Zeltlager betreut., Nach der Wanderung saßen die Jugendlichen um das Lagerfeuer herum und erzählten von ihren Erlebnissen., Wir haben auch paar Sachen geübt wie verschiedene Knoten., Am Ende von der ganzen Maßnahme bekamen die Jugendlichen ihre Abzeichen. Dieser Text enthält kein einziges Sie oder sie. Zurück zur Software: Viele der in diesem Buch aufgeführten Eigenschaften von Texten können mittels Textanalyse- und auch Stilometrie-Software, u. a. Verfahren des Natural Language Processing (NLP), z. B. Text-To-Text Transfer Transformer („T5“), festgestellt werden, was speziell bei großen Datenmengen ausgesprochen sinnvoll ist. Hier ein Überblick über die derzeit gängigen Produkte (wobei ich selbstverständlich keine Vollständigkeit garantiere): Software Beschreibung Textometrix Textanalyse-Tool mit verschiedenen Funktionen zur quantitativen Ana‐ lyse von Texten, Wort-Frequenz-Analyse u.-a. zur Berechnung von Lesbarkeitsindizes Textalyser Online-Textanalysedienst für simple Informationen über einen Text wie die Anzahl der Wörter, Zeichen, Absätze und Sätze; auch durchschnittli‐ che Wortlänge und Angaben zur Lesbarkeit; einfaches, benutzerfreund‐ liches Tool StyleScope einfaches Stilometrie-Tool für stilistische Textmerkmale, Klassifikation von Texten und Untersuchung von Textstilen (u.-a. Satzstrukturen) AntConc kostenlos/ Open-Source-Software, Bedienung leicht zu erlernen, für das Auffinden von Wortverwendungen und Häufigkeit von Wörtern in einem Textkorpus, aber kaum stilometrische Funktionen WordSmith Tools Konkordanzanalyse, zur Untersuchung von Wortverwendungen und Häufigkeit von Wörtern, Textstatistik XTRACT Textanalyse-Werkzeug mit weiteren Funktionen wie die Analyse von Wortfrequenzen und -verteilungen Leximancer Textanalyse-Software, basierend auf automatisierter Themenmodellie‐ rung und Konzeptextraktion; dazu geeignet, Schlüsselthemen in großen Textkorpora zu identifizieren. Tropes Textklassifikation und Stilometrie-Funktionen; geeignet zur Untersu‐ chung von Stilmerkmalen und zur Klassifikation von Texten (basierend auf ihren stilistischen Eigenschaften) Voyant Tools webbasierte Textanalyse-Plattform mit Textanalysefunktionen ein‐ schließlich Wortschatzvisualisierung, Konkordanz und Themenanalyse TextSTAT Open-Source-Software für die Textanalyse, Wortverwendungen, Häu‐ figkeiten und Konkordanzen 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung 83 <?page no="85"?> 39 R ist eine Open-Source-Programmiersprache speziell für statistische Berechnungen, Datenanalyse und Datenvisualisierung. Software Beschreibung GATE (General Archi‐ tecture for Text Engi‐ neering) umfangreiche Open-Source-Plattform für die Verarbeitung natürlicher Sprache (NLP/ Natural Language Processing); viele Textanalysefunktio‐ nen einschließlich Informationsextraktion und Textklassifikation Content Analysis Soft‐ ware (CAQDAS) CAQDAS-Software wie MAXQDA, NVivo und ATLAS.ti für Kodierung und Analyse von Textdaten Provalis Research Text Analytics Suite für Textmining, Sentiment-Analyse und statistische Textanalyse Coh-Metrix für Textschwierigkeits- und Kohärenzanalysen, auch für pädagogische Zwecke geeignet und um Verständlichkeit zu messen, Analyseparameter können angepasst werden Stylo (R 39 -Paket) umfassendes R-Paket für Stilometrie-Analysen, geeignet für erfahrene R-Nutzer JGAAP ( Java) spezialisiert auf Authentizitätsfeststellung, benutzerfreundliche Java-Oberfläche IRaMuTeQ für allgemeine Textanalyse mit einigen Stilometrie-Funktionen, einfach zu bedienende Benutzeroberfläche Python Libraries NLTK, spaCy, scikit-learn für Textanalyse und Stilometrie, flexibel und anpassungsfähig RapidMiner datenwissenschaftliche Plattform mit Textanalyse-Funktionen, für um‐ fassendere Analysen geeignet Weka vielseitig für Datenmining und maschinelles Lernen mit Textklassifika‐ tion FLiRT (Forensic Linguis‐ tics Tool Kit) von GitHub Textanalyse mit Stilometrie auch zum Lokalisieren von Textquellen und Identifizieren von Plagiaten, Analyseparameter anpassbar Jurafy spezialisiert auf die Analyse von Rechtstexten einschl. Dokumenten und für die rechtslinguistische Forschung; stilometrische Analysen, bietet diverse Funktionen, die in kostenlosen Softwareprodukten nicht verfügbar sind (Wortwahlanalyse, Satzlänge, Syntax-Untersuchung, Wortfrequenzen und -verteilung) Tab. 2: Textanalyse-Software Außerdem seien noch zwei Methoden erwähnt, die in der forensischen Linguistik eingesetzt werden: die Cusum-Methode und der Ellegård-Test: Die CUSUM-Methode (Cumulative-Sum Charts, in den 1950er Jahren von E.S. Page vorgestellt) ist eine statistische Methode, die primär für die Qualitätssicherung mittels Überwachung industrieller Produktionsprozesse entwickelt worden war und dann ab den 1970-er Jahren auch verwendet wurde, um Muster in Texten und Veränderungen im Schreibstil bzw. Textmanipulationen durch Textvergleich zu identifizieren. In einem 84 1 Basiswissen <?page no="86"?> 40 https: / / news.rub.de/ wissenschaft/ 2022-04-25-linguistik-die-zerstoererische-kraft-der-sprache und h ttps: / / news.rub.de/ sites/ default/ files/ rubin-1-2022-schaedigende-sprache.pdf; vgl. auch Scheffler et al. 2021. Diagramm wird die Veränderung eines bestimmten Werts, z. B. die Anzahl der Wörter, die mit einem Vokal beginnen oder zwei bis drei Buchstaben haben, dargestellt. Für die stilometrische Analyse wird der gewählte Wert mit der Satzlänge verglichen, indem pro Satz die Abweichung von der durchschnittlichen Satzlänge ermittelt wird. Für den Textvergleich werden die jeweiligen Graphen so skaliert, dass sie vergleichbar sind (eine ähnliche Größe haben). Wenn die beiden Graphen dieselbe Form haben, wird davon ausgegangen, dass der Text nur von einem Autor stammt. Wenn die beiden Graphen stark voneinander abweichen, werden verschiedene Autoren angenommen. Problematisch an dieser Methode ist, dass nicht klar definiert ist, was eine starke Abweichung ausmacht und dass zwei Cusum-Diagramme statistisch kaum miteinander verglichen werden können, speziell wenn die Textlänge der zu vergleichenden Texte unterschiedlich ist. Der Ellegård-Test (benannt nach dem schwedischen Linguisten Gösta Ellegård) ist eine Methode, die er 1962 in seinem Buch „A Statistical Method for Determining Authorship“ beschrieb, die eine statistische Abschätzung der Urheberwahrscheinlichkeit unter Hinzu‐ ziehung von Datenbanken ermöglicht. Es geht um die Frage, ob bestimmte ausgewählte Merkmale in einer speziellen Textsorte häufiger vorkommen als in Vergleichstexten. Die Methode wird jedoch primär in der Phonetik eingesetzt, wenn es - auch bei Sprachstö‐ rungen - um die durchschnittliche Artikulationsrate von Wörtern geht. Die gesamte Artikulationszeit, die in Sekunden oder Millisekunden gemessen werden kann, wird durch die Anzahl der Wörter eines Textes geteilt. Der Test kann z. B. sinnvoll verwendet werden, um Unterschiede in der Sprechgeschwindigkeit zwischen verschiedenen Sprechern zu identifizieren. Er kann auch bei linguistischen Studien zur Untersuchung von Aussprache‐ variationen nützlich sein, hat jedoch in der forensischen Linguistik keine große Beachtung erfahren. Die Ruhr-Universität Bochum führt unter Leitung von Frau Prof. Tatjana Scheffler ein Forschungsprojekt durch zu der Frage, wie gut Algorithmen in großen Textvolumina schädigende Sprache identifizieren können 40 , und stellte u. a. fest, dass künstliche Intelli‐ genz zwar Schimpfwörter identifizieren kann, verstecktere Formen sprachlicher Gewalt hingegen nicht bzw. nicht gut. Die Forscher: innen analysierten Nachrichten in einem Kanal des Messenger-Dienstes Telegram im Kontext des Sturms auf das Kapitol 2021 und unterscheiden fünf Arten schädigender Sprache: 1. aufwiegelnde Sprache 2. abwertende Ausrücke 3. abfällig gemeinte Ausdrücke, die in anderen Kontexten nicht abwertend sind 4. Othering (Hervorhebung einer Klassenzugehörigkeit und Abgrenzung von „anderen“ mit anderem Geschlecht, sozialer Stellung, anderer sexueller Orientierung, Religions‐ zugehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität) 5. Insider-Formulierungen (soziolektale Ausdrücke) 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung 85 <?page no="87"?> 41 Natural Language Processing. 1.12.2 Quantoren Die sog. Quantoren (auch „Quantifikator“, engl. „quantifier“) sind solche Wörter bzw. Ausdrucksweisen (wie z. B. alle, manche, einige, viele, jeder, mindestens, mehr als drei, höchstens zehn, fast alle, annähernd alle), die Mengenangaben machen oder Auskunft über den Bereich von Objekten geben, auf die eine Aussage (eines Satzes) zutrifft. Man unterscheidet ● Allquantoren (z.-B. alle in für alle gilt; jeder in für jeden gilt), ● Existenzquantoren (z.-B. einige in für einige gilt), ● Definite Quantoren (z.-B. beide in für beide gilt), ● numerischer Quantoren (z.-B. drei in für drei gilt). Für die Authentizitätsfeststellung kann die Feststellung der Häufigkeit von Quantoren interessant sein, da bestimmte Textverfasser: innen bzgl. der Verwendung bestimmter Quantoren in ihrer Ausdrucksweise Präferenzen haben. 1.12.3 Stilometrie, N-Gramme, Korpuslinguistik, Statistik Wie bereits im Kapitel 1.5 gesagt wurde, wird oft die Frage gestellt, ob man nicht heutzutage Authentizitätsfeststellung von Software erledigen lassen kann. Dann könnte man sich auch ein zeitaufwändiges Linguistik-Studium ersparen. Aber effizient sind die quantitativen Verfahren erst, wenn sie - mit qualitativen Verfahren kombiniert - sinnvoll eingesetzt werden. Stilometrie. (engl. stylometry, auch stylometrics) Disziplin, die den Sprachstil in einem Text (bzw. in Texten) mit Mitteln der Statistik analysiert, indem Merkmale quantifiziert und analysiert werden (oder auch Verände‐ rungen im Schreibstil einer Person über Jahre oder Jahrzehnte festgestellt werden). Quantitative Verfahren mit Stilometrie sind besonders nützlich, wenn große Text‐ mengen analysiert werden müssen, da sie eine effiziente Verarbeitung ermöglichen. Beispielsweise werden die statistischen Verteilungen der häufigsten Wörter (most frequent words) in den Texten miteinander verglichen. Solche Verteilungsmuster sind oft idiolektal. Einer der zentralen Anwendungsfälle der Stilometrie ist daher die Authentizitätsfeststellung; ebenso kommt sie aber bei stilistischen Gattungs-, Genre- oder Epochenklassifizierungen zum Einsatz. Hier sind bei den NLP 41 -Anwendungen die althergebrachten Methoden, z. B. die sog. N-Gramm-Analyse, von den neuen, KI-gestützten Methoden, z. B. Transformer-Architektur mit „Attention“-Mechanismen, zu unterscheiden. Beide Modelle sagen voraus bzw. berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Wort in einem Satz oder Text vorkommt. 86 1 Basiswissen <?page no="88"?> 42 Rekurrente neuronale Netze. 43 Long Short-Term Memory, „langes Kurzzeitgedächtnis“. N-Gramm-Modell: ● statistisches Modell, das Texte in Fragmente zerlegt, wobei jeweils bestimmte (N) aufeinanderfolgende Fragmente (Buchstaben, Phoneme, Wörter, Zahlen, …) als N-Gramm zusammengefasst werden (mit den Arten Monogramm [aus einem Fragment bestehend], Bigramm [mit dem lateinischen Präfix „bi“ für „zwei“], manchmal auch als „Digramm“ bezeichnet [mit dem griechischen Präfix „di“ für „zwei“], Trigramm und Multigramm), wobei ein N-Gramm eine kontinuierliche Sequenz von n Elementen in einer gegebenen Textsequenz ist. ● sagt auf Basis der vorangegangenen n-1 Wörter im Satz bzw. Text voraus, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Wort vorkommt, basierend auf der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit eines Wortes in einem Satz von einer begrenzten Anzahl vorheriger Wörter abhängt ● hat folglich Schwierigkeiten, große Dependenzdistanzen in Sätzen bzw. Texten zu erkennen, was, da die Anzahl der n-Gramme mit der Länge der Sequenz exponentiell wächst, bei großen n Datenverdünnung erfordert. Transformer-Architektur: ● neuronales Modell, das auf rekurrente Strukturen (wie in RNNs 42 und LSTMs 43 ), verzichtet und nicht auf einer festen Fenstergröße für die Kontextaufnahme basiert, sondern einen „Attention“-Mechanismus verwendet, um dynamisch und skalierbar mit verschiedenen Teilen der jeweiligen Eingabesequenzen umgehen zu können ● kann große Dependenzdistanzen in Sätzen bzw. Texten erkennen und ist damit geeignet für die Modellierung komplexer sprachlicher Strukturen und das Gene‐ rieren sehr natürlich wirkender Texte Das N-Gramm-Modell ist also ein traditionelles statistisches Modell, das auf begrenzten lokalen Kontext angewiesen ist, wohingegen die Transformer-Architektur ein flexibleres neuronales Netzwerkmodell ist, das auf „Attention“-Mechanismen basiert und in der Lage ist, große Dependenzdistanzen in Sätzen zu erfassen. Besonders hilfreich sind diese quantitativen Verfahren, wenn große Datenmengen, bei‐ spielsweise E-Mails, Social-Media-Chats oder Transkripte von überwachten Telefongesprä‐ chen von Verdächtigen auf ein bestimmtes Themengebiet hin untersucht werden sollen. Wenn Ähnlichkeiten mit einem Referenzdokument (z. B. einem technischen Bericht über die Konstruktion von Bomben), untersucht werden sollen, lassen sich Cluster feststellen: Je näher die Worthäufigkeiten in einem inkriminierten Text an denen im Referenzdokument liegen, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich bei dem Inhalt des Texts um das Thema handelt und dieser evtl. terrorismus-relevant sein könnte (selbst wenn der Text keine Schlüsselwörter enthält, die eindeutig auf das Thema „Bombe“ oder „Terrorismus“ hinweisen). 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung 87 <?page no="89"?> Besonders interessant sind die KI-basierten Verfahren auch für die Frage, ob der/ die Ver‐ fasser: in eines inkriminierten oder zum Vergleich herangezogenen Textes ein KI-Programm genutzt hat, mit denen es möglich ist, sehr natürlich wirkende Texte zu generieren. Die Korpuslinguistik ist ein Bereich der Linguistik, der sich mit der systematischen Unter‐ suchung und Analyse von primär großen Textsammlungen, sog. Korpora (Singular Korpus), befasst. Ein Korpus ist eine umfangreiche und systematisch zusammengestellte Sammlung von Texten aus verschiedenen Quellen, die dazu dient, linguistische komparative Forschung (also mit einem Vergleich) durchzuführen. Die Korpuslinguistik ermöglicht - neben der Untersuchung unterschiedlicher linguistischer Fragen - auch den Vergleich zwischen einem zu untersuchenden Text mit einem Korpus, das möglichst groß und repräsentativ ist, also typisch für die Ausdrucksweisen der Bevölkerung unter Berücksichtigung unter‐ schiedlicher sozialer, geografischer und anderer Kontexte und Einflussgrößen. Oft spricht man jedoch auch von Text-Korpora, wenn einfach große Mengen Text gemeint sind, und das oben genannte Korpus sollte dann „Vergleichskorpus“ oder „Referenzkorpus“ genannt werden. Die hauptsächlichen Methoden der Korpusanalyse sind: ● Konkordanz-Erstellung ● Erstellung von Wortlisten mit Häufigkeitsangaben ● Clusteranalyse ● Aufzeigen von Kookkurrenzen ● Auflistung von Schlüsselwörtern (Keyness) 1.12.4 Likelihood-Ratio Mithilfe der Statistik werden die mittels der Textuntersuchungen gefundenen Phänomene zahlenmäßig erfasst, untersucht und ausgewertet und können (als „Ergebniswerte“, engl. „scores“) in Form von Tabellen und/ oder Grafiken dargestellt werden. Eine zentrale Rolle spielt die Log-Likelihood-Ratio (kurz LLR), die gebraucht wird, wenn man die Evidenz für eine Hypothese im Vergleich zu einer anderen bewerten möchte. „Likelihood“ (auch „Plausibilitätsfunktion“, auch „Mutmaßlichkeitsfunktion“) ist ähnlich wie „Wahrschein‐ lichkeit“, aber nicht gleich. Mit der Größe „Likelihood“ wird beurteilt, welche von zwei Hypothesen die beobachteten Phänomene besser erklärt. Likelihood betrachtet die Übereinstimmung von Daten mit verschiedenen Hypothesen und ist eine Einschätzung, wie wahrscheinlich es ist, dass beobachtete Daten unter verschiedenen Bedingungen auftreten, also wie wahrscheinlich es ist, dass eine bestimmte Hypothese zutreffend ist. Der Unterschied zwischen Wahrscheinlichkeit und Likelihood kann mit dem Münz-Beispiel gut verdeutlicht werden: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Münze bei einem Wurf Kopf zeigt, beträgt 0,5. Der Likelihood-Wert würde sich jedoch auf diejenige Wahrscheinlichkeit (dass die Münze Kopf zeigt) beziehen, die auf allen tatsächlich durch‐ geführten (! ) Münz-Würfen basiert. Es handelt sich um eine sog. „reellwertige Funktion“. 88 1 Basiswissen <?page no="90"?> 44 Initiative „Strengthening the Evaluation of Forensic Results across Europe“ (STEOFRAE). Das European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI) hat den Leitfaden „Guideline for Evaluative Reporting in Forensic Science“ 44 erarbeitet (https: / / enfsi.eu/ wp-content/ uploads/ 2016/ 09/ m1_guideline.pdf), der ständig weiterentwickelt wird und u. a. eine Darstellung mit dem sog. „Likelihood-Ratio-Ansatz“ empfiehlt. Obwohl das von der Forschungsgruppe bisher nicht getan wurde, können Erkenntnisse aus diesem Leitfaden auch auf evaluative Ergebnisdarstellungen in der forensischen Linguistik angewendet werden. Der Leitfaden enthält allerdings ein Beispiel aus der Sprechererkennung, einem Nachbargebiet der Authentizitätsfeststellung. 1.12.5 Type-Token-Analyse Das Wort-Paar type/ token für die Type-Token-Analyse wurde 1906 von dem US-amerikani‐ schen Mathematiker, Philosophen, Logiker und Semiotiker Charles S. Peirce, 1839 bis 1914) eingeführt. Zur Erläuterung gehen wir gleich in medias res und nehmen uns folgenden Beispielsatz vor: ■ Sein Passwort ist XyS112233@# Wir untersuchen diesen Satz mit einer Type-Token-Analyse (und stellen uns vor, dass die Software dies mit großen Textvolumina tut). Man kann sagen: ■ Type ist wie Lemma und Vorkommensfall ■ Token ist wie Lexem und Inzidenz Zu Vorkommensfall und Inzidenz siehe auch die Erläuterungen im Vorwort auf S. 29) Hier ein Beispiel, wie „Sein Passwort ist XyS112233@#“ - zur Erklärung von Type und Token - in seine Bestandteile zerlegt werden kann: Sein Passwort ist XyS112233@# Types (Vorkommensfälle/ Lemmata) Tokens (Inzidenzen/ Lexeme) Wörter 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 3 (4, wenn man das Passwort als „Wort“ zählt; und zwar ein Possessivpronomen, ein Substantiv, ein Verb und ein Passwort) Zahlen 3 (und zwar 1, 2 und 3) 6 (und zwar 1, 1, 2, 2, 3, 3) die Zahl 1 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 2 die Zahl 2 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 2 die Zahl 3 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 2 Sonderzeichen 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 2 (und zwar # und @) Buchstaben 12 (und zwar S, e, i, n, P, a, w, o, r, t, X, y) 19 (und zwar S, e, i, n, P, a, s, s, w, o, r, t, i, s, t, X, y, S, also 1.12 Quantitative und qualitative Methoden für die Textuntersuchung 89 <?page no="91"?> Sein Passwort ist XyS112233@# Types (Vorkommensfälle/ Lemmata) Tokens (Inzidenzen/ Lexeme) 1xa, 1xe, 2xi, 1xn, 1xo, 1xp, 1xr, 5xs, 2xt, 1xw, 1xX, 1xy) Großbuchstaben 3 (und zwar S, P, X) 4 (und zwar S, P, X, S) Kleinbuchstaben 10 (und zwar a, e, i, m, n, o, r, s, t, w, y) 14 (und zwar 1xa, 1xe, 2xi, 1xn, 1xo, 1xr, 3xs, 2xt, 1xw, 1xy) der Buchstabe S/ s 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 5 (zwei davon als Großbuch‐ staben, 3 davon Kleinbuch‐ staben) der Großbuchstabe S 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 2 (in „Sein“ und im Passwort) der Kleinbuchstabe s 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 3 (und zwar 2 x in „Passwort“ und 1 x in „ist“) Zeichen 22 (einschließlich der Art „Leerzei‐ chen“) 29 (einschl. Leerzeichen) Leerzeichen 1 (=-ja, kommt/ kommen vor) 3 Subjekt 1 (=-ja, kommt vor) 1 (Sein Passwort) Prädikat 1 (=-ja, kommt vor) 1 (ist) Prädikativ 1 (=-ja, kommt vor) 1 (XyS112233@#) Substantive 1 (=-ja, kommt vor) 1 (Passwort) Pronomen 1 (=-ja, kommt vor) 1 (ein Possessivpronomen) Possessivpronomen 1 (=-ja, kommt vor) 1 (Sein) Verben 1 (=-ja, kommt vor) 1 (ist) Adjektive 0 (=-nein, kommt nicht vor) 0 Tab. 3: Beispielanalyse zu Types und Tokens 1.12.6 Nutzung beider Methoden Die sinnvolle Nutzung beider Methoden in der richtigen Reihenfolge ist wichtig. Beim Identifizieren eines Idiolekts ist es u. a. sinnvoll, zunächst mit qualitativen Methoden den Satzbau in einem Text zu untersuchen und zu fragen, wie der/ die Verfasser: in seine/ ihre Sätze konstruiert, wie er/ sie die Sinnabschnitte aneinanderreiht, wie er/ sie semantische Abhängigkeiten in Form von Hypotaxe konstruiert und ob er/ sie eher schreibt ■ Ich kann den nicht leiden. Deshalb habe ich ihm eins in die Fresse gehauen. oder Weil ich den nicht leiden kann, habe ich ihm eins in die Fresse gehauen. 90 1 Basiswissen <?page no="92"?> Es ist interessant, ob jemand eher schreibt ■ Es hat geregnet. Deshalb sind wir drinnen geblieben. oder Wir sind wegen des Regens drinnen geblieben. oder Wir sind drinnen geblieben, weil es geregnet hat. oder Weil es geregnet hat, sind wir drinnen geblieben. Solche etwaigen Vorlieben eines Verfassers bzw. einer Verfasserin für syntaktische Struk‐ turen festzustellen (also z. B. einen kausalen Zusammenhang in Form eines Hauptsatzes und eines Nebensatzes auszudrücken oder in einem Satz mit einem Adverbial in Form einer Präpositionalphrase oder mit einem Nebensatz, der am Anfang des Gesamtsatzes steht oder auf den Hauptsatz folgt), kann einen wertvollen Beitrag zum Identifizieren eines Idiolekts leisten. Um die den Abfolgen von Sinnabschnitten und die den Wortfolgen zugrundeliegende Struktur zu erkennen und (z. B. in einem Gutachten) darzustellen, ist (speziell bei hinzukommender stark fehlerhafter Interpunktion im zu untersuchenden Text) oft fundiertes Fachwissen im Fachgebiet der Textlinguistik und Syntax erforderlich. Wenn solche Untersuchungen mit qualitativen Methoden vorgenommen wurden, ist es nützlich, mit quantitativen Methoden - beispielsweise mit Konkordanzsoftware - Auflis‐ tungen der Wörter „deshalb“, „weil“ und „wegen“ erstellen zu lassen und so alle Inzidenzen leichter zu identifizieren. Bzw. andersherum: Wenn solche Phänomene mit quantitativen Methoden festgestellt wur‐ den, ist es nützlich, beispielsweise Auflistungen der Wörter „deshalb“, „weil“ und „wegen“ mit qualitativen Methoden so zu untersuchen, dass das Ergebnis für das Identifizieren eines Idiolekts verwendet werden kann. 1.13 Idiolektale Cluster, Kookkurrenzen, Kollokationen Hier geht es um den Fall, dass bestimmte sprachliche Phänomene (z. B. ein Wort, eine Phrase, eine bestimmte Nebensatzart) in einem Satz oder Text auffällig oft gemeinsam auftreten. Das ist bei der Authentizitätsfeststellung sehr wertvoll, da dies mit hoher Wahrscheinlichkeit als idiolektal gelten kann. Das Wort Cluster bedeutet Ansammlung, Gruppierung, eine einen Komplex bildende Menge. Kookkurrenz, Kollokation Bei der Kookkurrenz und der Kollokation handelt es sich - vereinfacht - um das gemeinsame Auftreten von Wörtern (in Sätzen). Kollokationen sind feste Wortver‐ bindungen, also solche Wort-Kombinationen, die in der deutschen Sprache häufig auftreten (oder sogar um Wörter, die niemals ohne das andere Wort vorkommen) und auf Regelhaftigkeit gegenseitiger Erwartbarkeit beruhen (z. B. unwiederbringlich zer‐ rüttet, heikles Thema, starker Kaffee, in Betracht ziehen, bestehend aus, sonst eigent‐ lich, zu vorgerückter Stunde). Dieses sprachliche Phänomen wird dann Kookkurrenz genannt, wenn es in untersuchten Texten vorkommt, aber nicht üblicherweise in der 1.13 Idiolektale Cluster, Kookkurrenzen, Kollokationen 91 <?page no="93"?> deutschen Sprache. Ein spezieller Fall sind die sog. Nachbarschaftskookkurrenzen, bei denen die sprachlichen Einheiten (meist Einzelwörter) direkt nebeneinander stehen. Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim bietet ein Online-Tool zur Recherche von Kookkurrenzprofilen innerhalb einer erstellten Datenbank zu Stichwörtern an, für das ein extrem großes Korpus geschriebener Gegenwartssprache erstellt wurde und weiterhin ergänzt wird. Um in einem inkriminierten Text und in Vergleichstexten zu belastbaren Befunden zu kommen, dürfen nur solche Auffälligkeiten gewertet werden, die tatsächlich auf einen Idiolekt schließen lassen und dazu dienen, eine/ n anonyme/ n Textverfasser: in festzustellen, also solche Auffälligkeiten, die mehrmals bzw. oft bzw. im besten Fall „systematisch“ (d. h. auffällig bzw. signifikant oft, „rekurrent“) vorkommen. Einzelne Auffälligkeiten werden festgehalten bzw. „notiert“; wenn sie nicht häufig auftreten, gehen sie jedoch nicht in die Auswertung ein. Sie können allerdings evtl. zu Erkenntnissen bei auffälligen Merkmalskombinationen dienen. Im sog. „Text-Mining“ (im Deutschen allgemein auch „Textdatenanalyse“ genannt, engl. auch „Text Data Mining“ und „Textual Data Mining“), einem Gebiet, das bei den quantitativen Verfahren für den Einsatz künstlicher Intelligenz sehr geeignet ist, werden relevante Informationen aus den über einen Text verfügbaren Daten herausgearbeitet. Wertvolle Erkenntnisse erhält man aus dem Identifizieren von Kookkurrenzen. Es gibt: ● gemeinsames Vorkommen lexikalischer Einheiten in einem Satz („Satzkookkurrenz“) ● unmittelbar nebeneinanderstehende lexikalische Einheiten („Nachbarschaftskookkur‐ renz“) Die Relevanz des gemeinsamen Auftretens wird über ein Signifikanzmaß bestimmt, und Kookkurrenzen werden entsprechend ihrer Signifikanzstärke geordnet. Auch der britische Linguist Geoffrey Leech, der Korpuslinguistik mithilfe des großen Textkorpus „British National Corpus“ betrieb, betonte, dass Kollokationen wichtig sind, weil sich die Bedeutung eines Wortes aus den Beziehungen ergibt, die es mit anderen Wörtern eingeht, die in seiner Umgebung, also davor und/ oder danach, häufig vorkommen (Leech 1974, S.-20). Bei auffällig zwischen zwei „Nachbarwörtern“ auftretenden Einzelwörtern spricht man von Embedding; das Gegenteil, also das Umgeben eines Wortes oder einer Ausdrucksweise, nennt man auch Framing. Auf Wort-Ebene gibt es „Buchstaben-Cluster“, z. B. die aufeinanderfolgenden Buchstaben „spr“ und „cht“ aus dem Wort „spricht“ (beispielsweise aus einem Satz wie Er spricht gerade.), die ein sog. „Konsonanten-Cluster“ ergeben. Buchstaben-Cluster sind jedoch bei Urheberschaftsfragen nur interessant bei typisch häufig auftretenden orthografischen Normverstößen und bei einer evtl. idiolektal bevorzugten Bildung von Komposita. Das ist jedoch eher selten. Solche Auffälligkeiten des gemeinsamen Auftretens sprachlicher Phänomene können - im Rahmen der quantitativen Methoden - mit Hilfe von Konkordanzsoftware festgestellt, 92 1 Basiswissen <?page no="94"?> dann (mithilfe qualitativer Methoden) interpretiert und - ggf. in einem Gutachten - dokumentiert werden. Da diese Terminologie in der Literatur zur forensischen Linguistik nicht ganz einheitlich und etwas verwirrend ist, verwende ich die Bezeichnung Merkmalskombination. Besonders wertvolle Hinweise auf einen Idiolekt, der zur Erkennung eines Textverfassers dient, liefert eine ausgefallene Kombination bzw. oft gleichzeitiges Auftreten bestimmter Normabweichungen und/ oder Auffälligkeiten, also auffällige Merkmalskombinationen. Was bei den von mir seit 2010 untersuchten Fällen häufig als Merkmalskombination vorkam, waren z.-B. ● auffällig häufige Satzanfänge mit „es“ als Expletivum UND falsch geschriebene Bil‐ dungswörter ● vorwiegend kausale Adverbialsätze UND sehr lange Sätze ● auffällig häufige dass/ das-Fehler UND überflüssige „h“ in Wörtern, die kein Deh‐ nungs-H enthalten (z.-B. ziehlen, Krohne) ● kein Satzanfang mit Nebensatz UND viele nicht großgeschriebene Substantivierungen ● bei der Hypotaxe nur Sätze mit maximal einer Subordinationsebene UND viele überflüssige Kommata ● auffällig viele uneingeleitete konditionale Adverbialsätze UND Linksattributionen ● viele überflüssige Leerzeichen nach öffnender Klammer UND Einrückungen am Ab‐ satzbeginn Hier wurden Beispiele von zwei kombinierten Merkmalen aufgeführt. Selbstverständlich gibt es auch Fälle von drei oder vier gemeinsam auftretenden Merkmalen. Um Merkmals‐ kombinationen dieser Art zu erkennen, braucht der/ die Linguist: in gute Kenntnisse in Grammatik, speziell in Syntax (Satzbau). Ein Anwendungsbeispiel. Was haben die folgenden Sätze gemeinsam? ■ Ehefrau von so einem notorischen Fremdgeher zu sein, ist sicherlich nicht dass was man will. ■ Ich habe gesagt das Du mich anrufen sollst sofern umgehend Handlungsbedarf besteht. ■ Das ist alles nur geschehen, weil ihr euch bedauerlicher Weise nicht einig ward. ■ Es erschliesst sich mir nicht, warum ich nicht mit den Porsche fahren darf. ■ Ich habe die Angaben nach meinen besten Wissen und Gewissen gemacht. ■ Als wir die lange Watezeit monierten war die Antwort von den Kellner das wir warten müssen. ■ Dieser Kürzung wiedersprechen wir vehement und unser Anwalt wird sich diesbezüglich zeitnah mit ihnen in Verbindung setzen. ■ Der Schmidt, der Koleriker kann hier keine Ruhe Gewehr leisten. ■ Sie sagten doch letzte Woche noch das Sie mit unser Arbeit überaus zufrieden sein. ■ Ich würde es begrüßen wenn ihr deswegen was unternimmt. Sie enthalten alle sowohl bildungssprachliche Ausdrucksweisen (notorisch, umgehend, es besteht Handlungsbedarf, etwas ist geschehen statt passiert, etwas erschließt sich jmdm. nicht, nach bestem Wissen und Gewissen, monieren, vehement, zeitnah, gewährleisten [falsch geschrieben], überaus, Konjunktiv I für wiedergegebene Rede, etwas begrüßen) als auch gravierende Normverstöße, also eine Kombination aus verschiedenen sprachlichen Merkmalen. 1.13 Idiolektale Cluster, Kookkurrenzen, Kollokationen 93 <?page no="95"?> Noch ein Satzbeispiel zur Darstellung eines Idiolekt-Clusters: ■ Es hat sich bis dato meiner Kenntnis entzogen, dass er umgezogen ist. Der/ die Verfasser: in hat ● „elaborierte“ Ausdrucksweisen bzw. Bildungswörter verwendet: bis dato (nicht bis jetzt) und […] hat sich meiner Kenntnis entzogen (nicht […] weiß ich nicht) ● den Satz mit dem Korrelat Es angefangen, auf das ein „Dass-Satz“ mit korrektem Komma und „dass“ folgt 1.14 ChatGPT und andere KI-Apps ChatGPT - und verschiedene andere Verwendungsweisen von KI bzw. KI-Chatbots (Google Gemini, Bing Chat, Zendesk Zopim, LaMDA, Socrates, You.com, Drift, SimSimi, Mitsuku, StableLM, Hubspot Chatbot, Quora Poe, die Kunstsprache Glorb usw.) können verwendet werden von 1. Verfasser: innen von Texten, die für die forensische Linguistik relevant sind bzw. werden (z. B., weil sie Hetze oder Beleidigungen oder üble Nachrede oder Verleumdung enthalten, weil es sich um Erpresser- oder Drohbriefe handelt) oder 2. Linguist: innen, die eine Authentizitätsfeststellung für einen inkriminierten Text durch‐ führen 3. Zu dem Zeitpunkt, als dieses Buch fertiggestellt wurde, war es beliebt und interessant, über www.poe.com eigene Chatbots zu erstellen. Fast täglich tauchen neue Anbieter, Chatbots und KI-Apps auf. Die Entwicklung ist so dynamisch und atemberaubend schnell, dass jeder Versuch einer Auflistung immer nur eine Momentaufnahme ist. Zu 1 (ChatGPTbzw. KI-Nutzung durch Textverfasser: innen) Ist alles hinfällig und kann es keine belastbaren Ergebnisse geben, wenn ein inkriminierter Text (und/ oder Vergleichstext) von ChatGPT (Generative Pretrained Transformer von OpenAI) geschrieben wurde? Das ist eine sehr wichtige, gute und häufig gestellte Frage. Zunächst muss man im Kontext der forensischen Linguistik zwei Arten der Leistung von ChatGPT unterscheiden: ● das Produzieren und Korrigieren von Texten ● das Beantworten von Fragen ChatGPT liefert nur solche Texte, mit denen es ‚gefüttert‘ wurde; alles beruht auf Wahr‐ scheinlichkeiten, auf prädikativen Algorithmen, die anhand statistischer Wahrscheinlich‐ keiten errechnen, welches Wort einem vorausgegangenen am ehesten folgt. Wenn also dem Verb „zollen“ ein (direktes, also ein Akkusativ-)Objekt zuzuweisen ist (wie in Er zollt ihm XY.), sind die häufigsten „Tribut“ und „Respekt“ (das weiß man auch ohne ChatGPT). Wenn also in einem Text eine häufige Kookkurrenz des Verbs „zollen“ und des Substantivs „Respekt“ oder des Adjektivs „ausgekocht“ und des Substantivs „Schlitzohr“ auffällt, dann ist das nicht idiolektal, sondern „normal“, wobei - zur Erinnerung - „normal“ bedeutet 94 1 Basiswissen <?page no="96"?> 45 Kritisch ist allerdings, was für ChatGPT „erkennbar“ ist. ChatGPT erstellt keine Texte, bei denen es offensichtlich um Erpressung oder. Bedrohung oder Ähnliches geht, aber Kriminelle können ihre Texte mithilfe von ChatGPT manipulieren, z.-B. den Sprachstil bestimmter Personen nachahmen. „der Norm entsprechend“ und „nicht normverstoßend“. ChatGPT und Konsorten können also auch a) eingesetzt worden sein, um solche Kookkurrenzen enthaltenden Text zu produzieren oder b) eingesetzt werden, um zu sehen und zu zeigen, wie „normale“ Texte aussehen. ChatGPT und ähnliche KI-Apps können auch Texte korrigieren oder kürzen oder in einem anderen Stil schreiben. Sie können auch komplett neue Texte verfassen, bei denen sie sich jedoch um eine Zusammenstückelung aus Gefundenem handelt und bei denen ein Element immer um Wörter und Phrasen ergänzt wird, die im jeweiligen Kontext die wahrscheinlichsten sind. Allerdings sind die von Menschen produzierten Texte ähnlich; auch sie bestehen vorrangig aus formelhaften, oft vorhersehbaren Mustern. Wenn man ChatGPT Fragen stellt, übersetzt es sich (vorläufig noch) die Frage zunächst ins Englische, findet die Antwort und übersetzt dann die Antwort ins Deutsche (wobei jedoch durchaus Inhalte geliefert werden, die direkt aus deutsch-sprachigen Quellen stammen und nicht übersetzt wurden). Erfahrene Linguist: innen bemerken das sehr leicht. Die Gefahr, die gesehen wird, ist die: In von ChatGPT oder einer ähnlichen KI-App produzierten Texten findet sich Idiolektales, aber das ist natürlich nicht der Idiolekt des Menschen, der diesen Text von ChatGPT erstellen ließ und dann verwendet. Wir bereits erwähnt wurde, setzt ChatGPT angefangene Sätze so fort, wie es die häufigste Art und Weise der Fortsetzung in einem Satz ist. Die Möglichkeit, seinen Idiolekt „zu verstecken“, bestand aber schon lange vor ChatGPT, beispielsweise, indem man den selbst geschriebenen Text von einer Übersetzungssoftware in eine andere Sprache und dann zurück ins Deutsche übersetzen ließ. Die Gefahr, dass jemand einen Droh- oder Erpresserbrief mit ChatGPT erstellen lässt, ist jedoch aus folgenden Gründen gering: ● ChatGPT erstellt keine Texte mit erkennbar kriminellen Inhalten 45 ● Einem/ Einer Verfasser: in ist es wichtig, dass sein Brief bestimmte Inhalte enthält; folglich wird er ihn eher selbst verfassen. Dass man ChatGPT dafür nutzen kann, um seinen Idiolekt zu verbergen, indem man ChatGPT inhaltliche Vorgaben macht und einen Text erstellen lässt, ist den meisten Verfasser: innen inkriminierter Texte nicht bekannt. Wenn Texte aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt werden, etwa, weil sich eine kriminelle Vorgehensweise bereits in der englischsprachigen Welt bewährt hat und nun auch auf deutschsprachige Opfer, die Englisch nicht oder zu schlecht können, angewendet wird, kann ein/ e erfahrener Linguist: in meist leicht feststellen, dass es sich um einen übersetzten Text handelt. In der anderen Richtung (vom Deutschen ins Englische) gibt es noch größere Probleme für die Maschinenübersetzung mit KI-Einsatz, bzw. es ist für Linguist: innen noch leichter zu erkennen, dass es sich um eine Übersetzung handelt (vgl. Thormann 2023, https: / / zieltexter.de). 1.14 ChatGPT und andere KI-Apps 95 <?page no="97"?> Zu 2 (ChatGPTbzw. KI-Nutzung durch Linguist: innen) Was den Einsatz der KI in der forensischen Linguistik betrifft, so kann sie für das Erkennen bestimmter Wörter und Sprachmuster - statistische Muster - sehr nützlich sein. Oft kann man schon von bestimmten enthaltenen Wörtern darauf schließen, ob ein Text von radikalen linken oder rechten Personen oder Gruppen verfasst wurde. Es muss Linguist: innen klar sein, dass ein/ e Verfasser: in, der/ die sich dessen bewusst ist, dass er/ sie große Schwächen in Orthografie und Interpunktion hat, einen Text evtl. von ChatGPT oder einer ähnlichen Software hat korrigieren lassen. Ein Beispiel: In der folgenden Tabelle steht links ein von einem Menschen (mit Schwächen in Orthografie und Interpunktion) produzierter Text und rechts die Korrektur von ChatGPT. tatsächlicher Text Korrektur von ChatGPT gans kurts nur lieplink ich nendich so weil ich ein ser schtakes gefül für dich enfinde ich erzele nich merchen kanste glauben ich hap achtunk vor dir und eine ser hoe meinunk und du bis eine dame das is ja nich jede frau. Kanste mich ruich vatraun nemich dir nichs wek. Ja und das verschteich nich ich hap montach von drausen indein zima gekukt du has an tisch geseßn und wast nich krank es isnich so widu es gesakt hattest. Ganz kurz nur, Liebling, ich möchte dir sagen, dass ich ein sehr starkes Gefühl für dich empfinde. Ich erzähle keine Märchen, kannst du mir glauben. Ich habe großen Respekt vor dir und eine sehr hohe Meinung von dir. Du bist eine Dame, das ist ja nicht bei jeder Frau so. Du kannst mir ruhig vertrauen, nimm Dir nichts weg. Ja, und das verstehe ich nicht. Ich habe am Montag von draußen in dein Zimmer geschaut, du hast an einem Tisch gesessen und warst nicht krank, es ist nicht so, wie du gesagt hattest. Sehen Sie selbst. Wenn ein Mensch sich den Text laut vorzulesen versucht, wird er alles oder fast alles verstehen. ChatGPT hat einige Inhalte nicht erkannt, z. B. „ich nendich so“ und „nemich dir nichs wek“. Außerdem wurden mutmaßliche bzw. vermeintliche Synonyme, Hinzufügungen und Paraphrasierungen eingefügt (z. B. wurde aus „Ich nenn Dich so weil“ „Ich möchte Dir sagen, dass“, und „Achtung“ wurde durch „Respekt“ ersetzt). 96 1 Basiswissen <?page no="98"?> 2 Erste Schritte und einfache Kodierung Wie geht man eine Textuntersuchung an? Wie fängt man an? Wie erstellt man eine Synopse, also eine erste kurze vergleichende Gegenüberstellung? 2.1 Konvertierung bzw. Transkription und Satz-Format Bei Aufgaben in der forensischen Linguistik liegen Texte fast nie in einem für Textverarbei‐ tungsprogramme leicht zugänglichen Format vor. Folglich müssen sie zunächst konvertiert - bzw. auch transkribiert - werden. Beim Konvertieren kann es, speziell wenn die Vorlage unscharf ist, zu kleinen Fehlern kommen, z. B. kann die Konvertierungssoftware aus einem auf ein „n“ folgendes „r“ insgesamt ein „m“ machen, oder aus mit Freunden wird mit Fremden. Daher muss ein konvertierter Text zunächst editiert und von solchen Fehlern befreit werden. Man könnte auch sagen, dass ein Konvertieren mit darauffolgendem Editieren eine Art des „Transkribierens“ ist (wobei die eigentliche ursprüngliche Bedeutung von „transkribieren“ das „Aufschreiben“ bzw. das „Verschriftlichen“ gesprochener Sprache ist). Konvertierungs-/ Transkriptions-Beispiele Abb. 1: Textbeispiel: Vergleichstext Transkription des Textes „Hochzeitsausladung“ im Fließtext-Format: <?page no="99"?> Sehr geehrte Eltern, ich möchte Euch hiermit mitteilen, dass ich die an Euch übergebene Hochzeitsein‐ ladung teilweise zurücknehme. Ich wünsche, dass nur mein Vater als Gast auf meiner Hochzeit anwesend sein wird. Um unerfreuliche Begegnungen an den Hochzeitsfeiertagen zu vermeiden, bitte ich um Kenntnisnahme, dass das Personal vor Ort von der geänderten Einladungsliste in Kenntnis gesetzt worden ist. Ein Einlass ist für unerwünschte Gäste unter keinen Umständen möglich. Ein Auftreten von Maria ist von mir ausdrücklich nicht erwünscht. Von Teilnahmeversuchen bitte ich daher abzusehen. Transkription des Textes „Hochzeitsausladung“ in Fließtext mit Einhaltung der Zeilenum‐ brüche des Originals: Sehr geehrte Eltern, ich möchte Euch hiermit mitteilen, dass ich die an Euch übergebene Hochzeitseinla‐ dung teilweise zurücknehme. Ich wünsche, dass nur mein Vater als Gast auf meiner Hochzeit anwesend sein wird. Um unerfreuliche Begegnungen an den Hochzeitsfeiertagen zu vermeiden, bitte ich um Kenntnisnahme, dass das Personal vor Ort von der geänder‐ ten Einladungsliste in Kenntnis gesetzt worden ist. Ein Einlass ist für unerwünschte Gäste unter keinen Umständen möglich. Ein Auftreten von Maria ist von mir ausdrücklich nicht erwünscht. Von Teilnahmeversuchen bitte ich daher abzusehen. Mit freundlichen Grüßen, 162. Transkription mit Unterteilung in Sätze: 1. Ich möchte Euch hiermit mitteilen, dass ich die an Euch übergebene Hochzeitseinladung teilweise zurücknehme. 2. Ich wünsche, dass nur mein Vater als Gast auf meiner Hochzeit anwesend sein wird. 3. Um unerfreuliche Begegnungen an den Hochzeitsfeiertagen zu vermeiden, bitte ich um Kenntnisnahme, dass das Personal vor Ort von der geänderten Einladungsliste in Kenntnis gesetzt worden ist. 4. Ein Einlass ist für unerwünschte Gäste unter keinen Umständen möglich. 5. Ein Auftreten von Maria ist von mir ausdrücklich nicht erwünscht. 6. Von Teilnahmeversuchen bitte ich daher abzusehen. Tab. 4: Transkription des Textes „Hochzeitsausladung“ in Satzform 98 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="100"?> Ein handschriftliches Testament: Abb. 2: Textbeispiel: handschriftliches Testament 2.1 Konvertierung bzw. Transkription und Satz-Format 99 <?page no="101"?> Transkription als Fließtext: Mein Testament Nachdem ich am XXXX die Ehe mit XXX XXX geb. XXX geschlossen habe, hebe ich mein Testament vom XXXX auf. Es ist in vollem Umfang ungültig. Weitere letztwillige Verfügungen von mir existieren nicht. Ich verfüge letztwillig nunmehr wie folgt: Alleinerbin meines gesamten Vermögens (Geld, Konten, Depot Finanzanlagen, Mo‐ biliar, sowie Grundstück mit Haus in XXX) ist meine Ehefrau XXX XXX. In ihr Ermessen ist es gestellt, der XXXX Stiftung nach dem Verkauf des Anwesens XXXX Mittel zukommen zu lassen. Die Stiftung ist verpflichtet, die Gräber von XXX und XXXX in Delling anständig zu betreuen. die Sorge um das Grab in Nürnberg, wo ich begraben sein will, obliegt meiner Ehefrau XXX. Dieses Testament ist mein freier unbeeinflusst gefasster Wille, das ich bei vollem Bewusstsein niedergeschrieben habe. Transkription mit Unterteilung in Sätze: 1. Mein Testament 2. Nachdem ich am XXXX die Ehe mit XXX XXX geb XXX geschlossen habe, hebe ich mein Testament vom XXXX auf. 3. Es ist in vollem Umfang ungültig. 4. Weitere letztwillige Verfügungen von mir existieren nicht. 5. Ich verfüge letztwillig nunmehr wie folgt: 6. Alleinerbin meines gesamten Vermögens (Geld, Konten, Depot Finanzanlagen, Mobiliar sowie Grundstück mit Haus in XXX) ist meine Ehefrau XXXX. 7. In ihr Ermessen ist es gestellt, der XXXX Stiftung nach dem Verkauf des Anwesens XXXX Mittel zukommen zu lassen. 8. Die Stiftung ist verpflichtet, die Gräber von XXXX und XXXX in Delling anständig zu betreuen. 9. die Sorge um das Grab in Nürnberg wo ich begraben sein will, obliegt meiner Ehefrau XXX. 10. Dieses Testament ist mein freier unbeeinflusst gefasster Wille, das ich bei vollem Bewusst‐ sein niedergeschrieben habe. Tab. 5: Transkription des Textes „Testament“ in Satzform Die Textsorte „Testament“ ist höchst problematisch für die Authentizitätsfeststellung. Es kann kaum ein Idiolekt festgestellt werden, denn es gibt Textbausteine, die die tatsächlichen und auch die vermeintlichen Testaments-Verfasser: innen sowohl im Internet als auch bei Beratungsstellen und in anderen älteren Testamenten (derselben Person oder anderer 100 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="102"?> 46 Man sagt in der Rechtssprache „ein Testament errichten“, siehe auch Thormann/ Hausbrandt 2016. Personen) finden. Folglich ist in solchen Textteilen kaum ein Idiolekt des Verfassers zu finden. Speziell bei Testamenten, die (u. a.) zum Inhalt haben, ein früheres Testament abzuändern oder aufzuheben, ist es wichtig festzustellen, ob es evtl. unter Einfluss beson‐ derer emotionaler Umstände, einer Krankheit oder äußerem Zwang errichtet 46 bzw. erstellt wurde; auch ob Textbausteine aus dem älteren Testament lediglich etwas geändert wurden usw. Es kommt vor, dass Auftraggeber: innen durch ein handschriftliches Testament einer verstorbenen Person „enterbt“ werden und dieses Testament anfechten wollen. In solchen Fällen ist zu empfehlen, ein Gutachten eines/ einer Sachverständigen für Handschriftenun‐ tersuchungen einzuholen, was jedoch von den Auftraggeber: innen oft abgelehnt wird, die lediglich eine Untersuchung der Ausdrucksweise und der Vergleich mit anderen tatsächlich von der verstorbenen Person verfassten Texten wünschen. Ein solches Unterfangen ist fast immer aussichtslos, weil die Bedingung der Textsortenkompatibilität nicht gegeben ist (→ 1.7.1. Zumindest ist das Ergebnis des Vergleichs eines Testamentstextes mit anderen Texten, die einer anderen Textsorte angehören, nicht belastbar und vor Gericht nicht viel wert. Hier ein Beispiel für einen aus Zeitschriftenbzw. Zeitungs-Schnipseln zusammengesetzten Erpresserbrief: Abb. 3: Textbeispiel: aus Zeitschriftenbzw. Zeitungs-Schnipseln zusammengesetzter Erpresserbrief 2.1 Konvertierung bzw. Transkription und Satz-Format 101 <?page no="103"?> Und so sieht dieser Text - mit Berücksichtigung der Zeilenumbrüche des Originals - transkribiert aus: wir haben ihre Tochter entführt wenn Sie Ihre Töchter jemals lebend wiedersehen wollen Zahlen Sie Zwei Millionen Mark Lösegeld. Wir wollen das geld in Gebrauchte hundert DM scheinen wo und wie das geld übergeben werden sollte wurde in einen spätere zeit in einer brief oder telefonisch Mitgeteilt wir werden Ihnen am Donnerstag anrufen Am diese Telefonnum mer II wir werden uns mit pfeif ton melden Sage Sie nur so viel Sie zahlen oder Sie zahlen nicht Wenn Sie Die Polizei in das Fall Einschalten oder Wenn Sie nicht zahlen wir werden den Entführter töten Wenn Sie zahlen 6 Stunde nach Denn geldübergabe kommt Ihre Töchter Frei In Sätze unterteilt sieht der Text „Entführung“ so aus: 1. wir haben ihre Tochter entführt 2. wenn Sie Ihre Töchter jemals lebend Wiedersehen wollen Zahlen Sie Zwei Millionen Mark Lösegeld. 3 Wir wollen das geld in Gebrauchte hundert DM scheinen 4. wo und wie das geld übergeben werden sollte wurde in einen spätere zeit in einer brief oder telefonisch Mitgeteilt 5 wir werden Ihnen am Donnerstag anrufen Am diese Telefonnummer 6. wir werden uns mit pfeif ton melden 7. Sagen Sie nur so viel Sie zahlen oder Sie zahlen nicht 8. Wenn Sie Die Polizei in das Fall Einschalten oder Wenn Sie nicht zahlen wir werden den Entführter töten 9. Wenn Sie zahlen 6 Stunde nach Denn geldübergabe kommt Ihre Töchter Frei Tab. 6: Transkription des Textes „Entführung“ in Satzform 102 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="104"?> Abb. 4: Textbeispiel: handschriftliche Bestätigung Erotikgruppe Und so sieht dieser Text - mit Berücksichtigung der Zeilenumbrüche des Originals - transkribiert aus: Hallo und guten Tag Ich war mit Frauke und Maik in einer Whats app erotikgruppe. Es war eine sehr zeigefreudige Gruppe jeder konnte jeden nackt sehen. Bilder und Videos wurden ausget? ? sat ausgetauscht Maik und Frauke haben alles gezeigt In Sätze unterteilt sieht der Text „handschriftliche Bestätigung Erotikgruppe“ so aus: 1. Hallo und guten Tag 2. Ich war mit Frauke und Maik in einer Whats app erotikgruppe. 3 Es war eine sehr zeigefreudige Gruppe jeder konnte jeden nackt sehen. 4. Bilder und Videos wurden ausget? ? sat ausgetauscht 5 Maik und Frauke haben alles gezeigt. Tab. 7: Transkription des Textes „handschriftliche Bestätigung Erotikgruppe“ 2.1 Konvertierung bzw. Transkription und Satz-Format 103 <?page no="105"?> Satz-Format Um die Syntax zu untersuchen (dieses Buch heißt „Tatort Syntax“! ), ist es selbstverständlich in fast allen Fällen sinnvoll, die Texte nicht nur zu transkribieren und ggf. der Zeilenum‐ bruchweise des Originals entsprechend aufzuführen, sondern sie auch in Sätze aufzuteilen und Satz für Satz untereinander aufzuführen. Bei der Gelegenheit wird die Anzahl der Sätze (und Anzahl der Wörter pro Satz) festgestellt. Hier stellt sich die Frage „Was ist ein Satz? “. Diese Frage, zu der es viel Literatur in der linguistischen Forschung gibt, wird für die Zwecke dieses Buches ganz simpel beantwortet (so auch die Empfehlung für die Arbeit in der Authentizitätsfeststellung): Ein Satz ist eine schriftlich realisierte Sinneinheit, die mindestens ein finites Verb enthält, wobei es sein kann, dass das finite Verb vom Verfasser bzw. von der Verfasserin weggelassen wird, weil es sich aus dem (vorherigen) Kontext ergibt (elliptische Äußerung), z.-B. ■ Wegen Tim. Der Satz davor lautete vielleicht Dann isser beleidigt abgezogen. Oder: ■ Nemich mipm Akuschrauber. Der Satz davor lautete vielleicht Nur ich weiß, wie er das gemacht hat. (oder so ähnlich). In solchen Fällen ist jeweils zu entscheiden, ob die elliptische Äußerung in der in Sätze aufgeteilten Textgliederung wie ein „nachgeschobener“ Satzteil oder als eigenständiger Satz behandelt wird. Wenn es also heißt ■ Nur ich weis wie der das gemacht hat. Nemich mipm Akuschrauber. kann die Satzaufteilung so vorgenommen werden, und zwar als zwei Sätze: 1. Nur ich weis wie der das gemacht hat. 2. Nemich mipm Akuschrauber. Tab. 8: Beispiel Satzform zwei Sätze oder als ein Satz, zu dem kommentiert wird, dass sich in der Mitte ein Punkt befindet, dass der/ die Verfasser: in die Äußerung jedoch so intendiert hat, dass zwischen den beiden Sinneinheiten normalerweise ein Komma statt eines Punktes stehen würde: 1. Nur ich weiß, wie er das gemacht hat. Nemlich mipm Akuschrauber. Punkt statt Komma Tab. 9: Beispiel Satzform ein Satz Hier zu behaupten, ein/ e Verfasser: in habe etwas anders intendiert, also z. B., es sei ein Satz (statt zwei) intendiert gewesen, also z. B. ein Hauptsatz und ein Nebensatz, ist allerdings 104 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="106"?> nur in seltenen Fällen zulässig. Im Zweifelsfall ist ein Text so in Sätze zu unterteilen, wie der/ die Verfasser: in ihn geschrieben hat. Als Fortsetzung zu der Frage, was ein Satz ist, stellt sich nun also die Frage „Was ist ein Satz bei dem/ der Verfasser: in? “ Zum Zwecke und im Sinne der Authentizitätsfeststellung ist ein Satz im Zweifelsfall das, was zwischen zwei Punkten steht, auch wenn es formell „ungrammatisch“ ist und nach den konventionellen Grammatikregeln ein Nebensatz oder eine Ellipse wäre (wobei eine Ellipse auch ein Satz sein kann). Solche Abweichungen von und Verstöße gegen die konventionellen Grammatikregeln können für das Herausarbeiten eines Idiolekts sehr wertvoll sein, so auch evtl. häufig verwendete Semikola. Vor dem Hintergrund ist es im Sinne der Good Practice ein schwer‐ wiegender Fehler, wenn ein zu untersuchender Text in interpretierender Weise abgeändert wird. Es geht beispielsweise (wie in einem Gutachten gesehen) nicht, dass bei dem Satz Dr. Bahl ist ein guter Notarzt; der weiß, wann was zu tun ist. aus dem Semikolon ein Komma gemacht wird (also Dr. Bahl ist ein guter Notarzt, der weiß, wann was zu tun ist.). Die Entscheidung, an der entsprechenden Stelle im Beispielsatz ein Semikolon zu setzen, zeigt, dass der/ die Verfasser: in dem Satz danach mehr Gewicht geben wollte, als er hätte, wenn er durch ein Komma zum Nebensatz „degradiert“ würde. Hinweis: Was der/ die Verfasser: in geschrieben hat, hat absoluten Vorrang! Transkriptions-Arten und -Regeln Wenn etwas Mündliches (etwas Mitgeschnittenes, ein aufgezeichnetes Gespräch, Befra‐ gung, Vernehmung usw.) transkribiert wird und wenn etwas Handschriftliches abgetippt wird, sind drei Arten der Transkription möglich: 1. Verbatim-Transkription (auch lautsprachliche Transkription, auch „erweiterte, komplexe, wissenschaftliche Transkription“): Jedes Wort und jede Äußerung des Gesprochenen wird so genau wie möglich aufgeschrieben - mit Beibehaltung von Dialektalem, Wiederholungen, elliptischen Sätzen und anderen sprachlichen Beson‐ derheiten und auch Ausdrücken wie äh und hm; 2. Vereinfachte Transkription: Es wird wörtlich transkribiert, nicht lautsprachlich. Vorhandene Dialekte werden möglichst wortgenau ins Hochdeutsche übersetzt. Satz‐ abbrüche, Stottern und Wortdoppelungen werden ausgelassen. Die Interpunktion wird zugunsten der Lesbarkeit nachträglich gesetzt; 3. Zusammenfassende Transkription: eher selten in wissenschaftlichen Arbeiten; eher nach Diskussionen oder Meetings. Es wird nicht Wort für Wort abgetippt, sondern zusammengefasst; ist für das wissenschaftliche Arbeiten eher weniger geeignet. Für die Zwecke der Authentizitätsfeststellung in der forensischen Linguistik ist immer die Verbatim-Transkription zu verwenden, und ich empfehle (in Anlehnung an die Regeln der Transkriptionssysteme GAT und HIAT, zu denen es online viele Informationen gibt) die folgenden, etwas vereinfachten Regeln: 2.1 Konvertierung bzw. Transkription und Satz-Format 105 <?page no="107"?> ● Sprechpausen: mit eckigen Klammern und drei Punkten […] darstellen. Bei langen und häufigen Sprechpausen oder Unterbrechungen (Herumlaufen, Trinken) ggf. in (eckigen) Klammern Erklärung dazuschreiben. Pausen ab 4 Sek. in Klammern mit Sekundenangabe, z. B. [… ca. 6 Sek.]. Falls es viele Sprechpausen gibt und die Unterscheidung wichtig sein könnte: genauere Angaben, und zwar (.) für eine Sekunde, (..) für zwei Sekunden, (…) für drei Sekunden; ● Dialektale Ausdrücke: beibehalten, also nicht Ma gehn heuer auf die Wiesn. „überset‐ zen“ in Wir gehen heute auf das Oktoberfest.; ● Wortverschleifungen: beibehalten, also nicht hamma in haben wir übersetzen, ggf. „Übersetzung ins Hochdeutsche“ in Klammern hinzufügen; ● Fehler: beibehalten; nicht korrigieren; also ein in etwas Handschriftlichem enthaltenes Dusiburg nicht in Duisburg ändern, ein Geburtsdatum: 02.03.2030 nicht korrigieren (etwa in 02.03.2003), sondern in eckigen Klammern hinzuschreiben [vermutlich Zah‐ lendreher bei der Jahreszahl; korrekt vermutlich 2003]! ; ● Wortdoppelungen (bzw. Stottern): beibehalten; evtl. in (runden) Klammern eine Erklärung hinzufügen, Steigerungs-/ Grad-/ Intensitäts-/ Fokus-/ Modalitäts-/ Abtö‐ nungs-/ Gesprächspartikeln nicht löschen (nicht Das ist mir sehr, sehr wichtig. in Das ist mir sehr wichtig abändern), unvollendete Sätze (Halbsätze) nicht ergänzen, Wort- und Satzabbrüche mit dem Abbruchzeichen / kennzeichnen, z. B. Wir ham das ge/ mitgekriegt.; ● Interpunktion: einsetzen, durch Punkte und Kommata möglichst Sinneinheiten zeigen. Wichtig bei Transkription von Handschriftlichem: anzeigen, ob und wie viele Leerzei‐ chen (bzw. ggf. großer oder kleiner Abstand) vor und nach Interpunktionszeichen vorhanden sind (auch [in eckigen Klammern] angeben, wenn das unklar ist); ● Transkription von Handschriftlichem und aus Zeitungs-/ Zeitschriften-Schnipseln her‐ gestellten Texten: Bei der Transkription die Länge der Zeilen angeben bzw. Zeilenum‐ brüche entsprechend der Vorlage wiedergeben; ● Nonverbale (oft emotionale) Äußerungen (wie Lachen, Seufzen, Schluchzen) und Verständnissignale/ Hörerbestätigungen des gerade nicht Sprechenden wie aha, mmh, so: in eckigen Klammern angeben/ nennen/ ggf. beschreiben; ● Verständnissignale als Reaktion auf eine mit ja oder nein zu beantwortende Frage: z. B. als mhm (bejahend) oder mhm (verneinend) aufschreiben; ● Unverständliches und bei Transkriptionen von Handgeschriebenem Unleserliches: nicht raten, sondern ggf. in eckigen Klammern schreiben [unleserlich] bzw. wenn die transkribierende Person eine Vermutung hat, gibt sie das in eckigen Klammern mit Fragezeichen an. Ansonsten in eckigen Klammern unverst. bzw. unleserl. bzw. unklar und ggf. den Grund angeben (Störgeräusche, Rauschen, schwache Stimme), bei Transkriptionen von einem Band alle unverständlichen Stellen mit einer Zeitmarke versehen, wenn innerhalb einer Minute keine Zeitmarke gesetzt ist; ● Betonungen durch GROßSCHREIBUNG kennzeichnen; ● Einzel-Beiträge der jeweiligen Sprecher: innen bei Gesprächen: Jeder Beitrag einer Person erhält einen eigenen Absatz (auch kurze Einwürfe); dazwischen eine Leerzeile; ● Bezeichnung der Personen bei Gesprächen: Bei Befragungen bzw. Vernehmungen wird die fragende Person durch ein I (wie Interviewer), die befragte Person durch ein B: 106 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="108"?> (wie Befragte/ r) gekennzeichnet; bei mehreren Interviewpartnern wird dem Kürzel eine entsprechende Kennnummer (oder ein Name) zugeordnet (z.-B. I1, I2, B1, B2); ● Zeitstempel: bei offiziellen Transkriptionen von Vernehmungen bei der erweiterten Transkription standardmäßig enthalten; als Option für +0,15 €/ Audiominute netto (= 0,18 € inkl. MwSt.) möglich; ist leider oft nicht vorhanden; ● Dateiname des Transkripts: im Format RTF oder Word (docx) speichern, Benennung der Datei mit Datum und ggf. Projektnummer und entsprechend dem Audiodateinamen. 2.2 Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten Am Anfang steht selbstverständlich ein erstes bzw. mehrmaliges aufmerksames Durchle‐ sen, bei dem man das Inhaltliche zur Kenntnis nimmt, sich Notizen macht und erste Auffälligkeiten markiert. Wenn man bei diesem ersten Durchlesen eines inkriminierten Textes feststellt, dass ein/ e Verfasser: in auffällig oft bestimmte Wörter verwendet (z. B. „bis dato“ oder „quasi“), wenn beispielsweise sehr viele Sätze mit „Es“ beginnen und dann relativ bald ein „Dass-Satz“ folgt, wenn man feststellt, dass die „Kommafehler“ primär der Art sind, dass Kommata fehlen, und zwar auffällig oft als Abschluss längerer Nebensätze, die nicht den Satzanfang darstellen; wenn nach öffnender Klammer immer ein Leerzeichen steht, hat man erste Ansatzpunkte und stellt Untersuchungen - u.-a. quantitativer Art - speziell zu diesen Phänomenen an. 2.2.1 Markieren erster Auffälligkeiten Es ist sinnvoll, für das Festhalten der Ergebnisse ein zunächst einfaches Markierungssystem zu verwenden, das später bei detaillierten Befunden in den Bereichen der Textgestaltung (Typografie), Wortwahl (Lexik), Rechtschreibung (Orthografie), Zeichensetzung (Inter‐ punktion), bei den Wortformen (Morphologie), im Satzbau (Syntax) und bei den Rollen der Wörter im Satzbau (Morphosyntax) und für die entsprechende Darstellung in einem Gutachten wesentlich komplexer sein wird. Für dieses erste Markieren von Auffälligkeiten werden die Texte, die meist ursprünglich im PDF-Format vorliegen (bzw. das Ergebnis des eigenen Einscannens von Papier sind), ausgedruckt, und die Auffälligkeiten werden mit einem Textmarker markiert. Tipp: Verwenden Sie sog. „Bibelmarker-Stifte“ (auf Englisch „bible highlighter pens“). Die wurden für besonders dünnes Papier entwickelt, ermöglichen eine präzise Markierung und scheinen nicht durch. Es gibt im Handel Sets mit Stiften, die jeweils eine dicke, breite Markier- und eine dünnere, schmalere Unterstreich-Dicke bieten. Achten Sie auch darauf, dass Sie eher Pastell-Töne kaufen, denn bei manchen Textmarkern mit kräftigen Farben kann man nach dem Markieren die Schrift kaum noch lesen und dann den mit solchen Markierungen versehenen und dann eingescannten Text kaum weiterverwenden. 2.2 Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten 107 <?page no="109"?> Das Ergebnis wird entweder als interner Arbeits-Zwischenschritt verwendet oder auch - eingescannt - für die spätere Dokumentation verwendet, wenn das aufgrund der gefun‐ denen Auffälligkeiten sinnvoll erscheint. Alle späteren Arbeiten mit Farbmarkierungen werden am Computer vorgenommen. Zunächst sind die simplen typografischen Eigenschaften von Texten festzuhalten. So kann eine Tabelle mit solchen Ergebnissen aussehen: - INKR VGL1 VGL2 Anzahl Zeichen 2257 3821 3215 Anzahl Wörter 355 498 423 durchschnittl. Wortlänge (Anzahl Zeichen) 6,36 7,67 7,60 Anzahl Sätze (bzw. Äußerungseinheiten) 22 17 37 durchschnittl. Satzlänge (Anzahl Wörter) 16,14 29,29 11,43 Anzahl elliptischer Sätze 3 2 2 kürzester Satz (Anzahl-Wörter) 6 7 7 längster Satz (Anzahl Wörter) 27 31 44 Tab. 10: Beispiel typografische Eigenschaften von drei Texten In Tabelle 10 fällt z. B. auf, dass die durchschnittliche Satzlänge des Vergleichstextes Nr. 1 (VGL1) deutlich größer ist als die des inkriminierten Textes (INKR) und des anderen Vergleichstextes. Aus der Anzahl der Zeichen und Wörter wird die durchschnittliche Wortlänge errechnet. Ein (deutsches) Wort hat (in meinem eigenen Vergleichskorpus) durchschnittlich ca. 6,7 Zeichen. Aus der Anzahl der Wörter wird die durchschnittliche Satzlänge errechnet. Ein (deutscher) Satz hat durchschnittlich 10 bis 40 Wörter. Und es ist sinnvoll festzustellen, wie lang der kürzeste und wie lang der längste Satz in dem jeweiligen Text ist. Außerdem ist es - speziell bei aus Social Media stammenden und folglich der mündlichen Ausdrucksweise ähnlichen Texten (auch „netspeak“ genannt) - sinnvoll, grob festzustellen, bei wie vielen Sätzen bzw. schriftlichen Äußerungen es sich um elliptische Sätze handelt (also Sätze mit fehlenden Satzteilen). Wenn alle zu vergleichenden Texte mit aufgeklebten Buchstaben erstellt wurden (sehr selten) und/ oder mit einer Schreibmaschine (mit festen Zeilenumbrüchen) geschrieben wurden (selten) oder mit einem Computer, jedoch offensichtlich mit vorsätzlich festen Zeilenumbrüchen erstellt wurden, ist es sinnvoll, auch diese Phänomene, also die jeweiligen Entscheidungen des Verfassers darüber, wo die Zeile enden soll, zu beachten und zu vergleichen. Nun zur Farbmarkierung für Auffälligkeiten: Zunächst ist eine simple Unterscheidung in 5 Arten von Auffälligkeiten sinnvoll - mit Zuweisung der folgenden Farbmarkierungen: 108 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="110"?> gelb allgemein Auffälliges, Inhaltliches, evtl. Idiolektales rot schlimm Falsches (gravierende Fehler, die evtl. zum Nicht-Verstehen der Textsequenz bzw. zu Missverständnissen führen können), stark Normab‐ weichendes bzw. besonders Auffälliges grün auffällig Korrektes, sprachlich anspruchsvolle Konstruktionen blau Lexikalisches, Typografisches, Orthografisches, Auffälligkeiten bei der Interpunktion (außer Komma) pink Syntaktisches, Morphologisches (und Morphosyntaktisches) und Kommasetzung Tab. 11: Einfache Farbkodierung Ich verwende in diesem Buch das Wort „Kodierung“ für das System für die Markierung von Auffälligkeiten in Texten. Ich meine damit nicht eine Art von Geheim-Darstellung bzw. Chiffrierung oder das Gegenteil von „Dekodierung“. Kodierung (bzw. Codierung) Bezeichnet die Darstellung von Informationen in einer bestimmten Form für be‐ stimmte Zwecke. Chiffrierung Ist hingegen der Prozess der Verschlüsselung von Informationen, um sie vor unbefug‐ tem Zugriff zu schützen und unlesbar zu machen, wobei ein Chiffrieralgorithmus einen Schlüssel verwendet, der ggf. auch für die Entschlüsselung erforderlich ist. Die hier beschriebene Empfehlung für Kodierung und Nomenklatur mit Benennungen, Farben, Zeichen, Abkürzungen, Schreibweisen und Tabellen gilt: ● für dieses Buch ● für die Untersuchungen von Texten, zum Sichten, Beschreiben und Festhalten sprach‐ licher Phänomene bei den Vorarbeiten für ein linguistisches Gutachten ● für das Darstellen der Ergebnisse in einem Gutachten So kann die Farbkodierung für die Inzidenzdichte von Normabweichungen in einem Text aussehen: INKR Sehr geehrte Frau Zeipel, sehr geehrte Damen und Herren in der Personalabteilung, gemäß dem Schreiben von der Personal Abteilung, hätte ich den Kollegen Koch behindert, aber das stimmt nicht. Aber ich musste bei Frau Jäger die Belehrung unterschreiben. Frau Jäger hat das Protokoll über die Belehrung zu der Akte genommen. Ich möchte hiermit noch einmal sagen, dass ich mit allem , was zzt im Umlauf ist,nichts zu tun habe und auch nichts damit zu tun haben möchte. Man 2.2 Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten 109 <?page no="111"?> würde ein Überprüfungsverfahren einleiten; das teilte man mir mit und es gab eine Gesprächsnotiz für die Akte. Am Dienstag am späten Vormittag,erschien ich am Werkstor ( Tor Ost) bei Frau Steinke mit der Bitte um Hilfe, weil ich das Gefühl habe, dass der Kollege Koch meine User ID sowie das Passwort „geknackt“ hat , um mir Schaden zuzuführen. Ich hab ihn im Vorbereitungsgespräch in der Personal Abteilung erst kennen gelernt und ich versuchte nicht, ihn bei der Arbeit zu stören. Ich teilte ihr alles mit. Herr Möller teilte mir mit,dass ich mein Passwort umgehend ändern müsste, was ich dann im Nachgang machte. Aber jetzt ist es vielleicht zu spät. Ich habe seitdem Schlafstörungen und kann nachts nicht schlafen und ich kann auch schlecht einschlafen. Meinem Vertrauensmann ( Herrn Lehmann) hab ich mitgeteilt,dass ich Sie mit der Bitte um Hilfe kontaktiert habe ,und er hat es auch unserem Betriebsrat so kommuniziert. Dies ist meine Bitte um Hilfe an Sie. Danke im Voraus. Mit freundlichen Grüßen, Sven Schröder Nach dem Feststellen der Auffälligkeiten im inkriminierten Text wird der Vergleichstext (bzw. werden die Vergleichstexte) darauf untersucht, ob sich die im inkriminierten Text gefundenen Auffälligkeiten auch dort finden: VGL Sehr geehrte Frau Zeipel, sehr geehrte Damen und Herren in der Personalabteilung, bezugnehmend auf unser Telefongespräch, möchte ich Ihnen mit der Bitte um Hilfe ein paar Daten zukommen lassen und Informationen mitteilen ,damit Sie verstehen, wie die Situation war. Mein Name ist Sven Schröder und ich bin in der Abteilung PWV/ K als Technischer Sachbearbeiter mit dem Schwerpunkt Moderation von KVP Kaskaden Workshops tätig. Der Sachverhalt trug sich so zu: Ich war an dem besagten Datum in der Lackiererei der Halle 9 tätig, um dort einen KVP Workshop durch zu führen. Bei der Durchführung des Workshops kam ich die ersten 2 Wochen ( 07. bis 18.11.2011) in den Vorzug der Unterstützung von Herrn Koch. Bei meiner Tätigkeit als Moderator,hat sich Herr Koch jeden Tag Notizen gemacht. Bei entsprechender Nachfrage meinerseits, bekam ich die Antwort,dass er sich nur ein paar Notizen machte. Daraufhin hab ich meinen Vertrauensmann ( Herrn Lehmann) angerufen und gefragt,ob sowas zulässig ist? ! Er beantwortete mir ,dass er das darf. Am Montag den 21.November ( um 09: 13)hat mich meine Chefin Frau Jäger angerufen und mich gebeten, in ihr Büro zu kommen. Sie teilte mir mit, dass sich die Qualität von meinen KVP Workshops verbessern muss und dass ich nicht die Monitoring Arbeit von Herrn Koch in Frage stellen soll. 110 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="112"?> 47 Von altgr. συνοπτικός synoptikós ‚‚das Ganze zusammensehend‘ (aus συν, syn. ‚zusammen‘, und ὄψις, ópsis, ‚Sicht‘). Mit freundlichen Grüßen, Sven Schröder Ein Problem, das man von Text zu Text lösen muss, ist selbstverständlich die Frage, ob man schwerwiegende Kommafehlern mit rot (schlimm Falsches) oder mit pink (Syntaktisches und Komma) markiert. Ebenso stellt sich die Frage, ob man syntaktisch auffällig schwierige und korrekte Konstruktionen mit pink (Syntaktisches und Komma) markiert oder mit grün (auffällig Korrektes). Ich handhabe es bei nicht allzu langen Texten oft so, dass ich bei einem ersten sehr groben Durchlesen unterscheide, ob ich (durchgehend) das Kriterium ● schlimm Falsches (rot) vs. auffällig Korrektes (grün) betrachte oder ● Lexikalisches/ Typografisches/ Orthografisches/ Interpunktion außer Komma (blau) vs. Syntaktisches/ Morphologisches/ Komma (pink). Einen Vergleich zweier Texte bzw. eine vergleichende Gegenüberstellung - typischerweise mit Darstellung der Ergebnisse in einem Spaltenformat - nennt man „Synopse“ (auch „Synopsis“ 47 ) bzw. ‚einen „synoptischen Vergleich“. So kann eine Tabelle mit den Ergebnissen der Normabweichungsdichte aussehen (hier nicht bezogen auf die obigen Texte): Normabweichungs-Dichte in beiden Texten INKR - VGL - Sätze gesamt 5 % 5 % Sätze ohne Fehler bzw. Auffälligkeiten 0 0 1 20 fehlerhafte Sätze 5 100 4 80 Sätze mit mehr als einem Fehler 2 40 2 40 - - - - - Anzahl Normabweichungen gesamt 12 - 10 - Anzahl (Versch., allg. Auffälliges, Inhaltliches, evtl. Idiolek‐ tales) 3 25 4 40 Anzahl (schlimm Falsches bzw. Auffälliges) 3 25 2 20 Anzahl (auffällig Korrektes, sprachlich anspruchsvolle Konstruktionen) 2 16,67 1 10 Anzahl (Lexikalisches, Typografisches, Orthografisches, In‐ terpunktion [außer Komma]) 5 41,67 8 80 2.2 Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten 111 <?page no="113"?> Normabweichungs-Dichte in beiden Texten INKR VGL Anzahl (Syntaktisches, Morphologisches, Morphosyntakti‐ sches, Kommasetzung) 4 33,33 2 20 Tab. 12: Beispiel Normabweichungsdichte So kann eine erste Markierung von Auffälligkeiten in einem Text aussehen: Hier ein Beispiel eines Textes (der oben auch als Beispiel für die Transkription diente), bei dem auffällt, dass das erste Wort eines vollständigen Satzes nach einem Aufzählungsstrich 112 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="114"?> - normverstoßend - in allen Vorkommensfällen kleingeschrieben wird. Hier ist (zunächst) nur dieses Phänomen markiert: Abb. 5: Textbeispiel: Vergleichstext (an Lahmann, handschriftlich, mit Markierungen) 2.2 Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten 113 <?page no="115"?> Nach der ersten Durchsicht und dem Markieren der ersten auffälligen Besonderheiten mit einem einfachen Kodierungssystem kann es auch sinnvoll sein, erste Auffälligkeiten im Satzbau bzw. bei der Positionierung bestimmter Satzteile zu markieren, z.-B. des Subjekts. Das folgende Beispiel, hier zwei zu vergleichende Texte zu der Frage, ob sie von derselben Person verfasst wurden, dient ebenfalls lediglich Demonstrationszwecken. Für eine ernst‐ hafte Untersuchung zwecks einer Authentizitätsfeststellung wären die Texte viel zu kurz. Hier wird zunächst in der Satzdarstellung markiert, ob die Sätze mit dem Subjekt oder mit einem anderen Satzteil beginnen: Text „INKR“ 1.- wir meinen es ist an der Zeit dass Sie mal ein paar Dinge über ihren Mann erfahren die Sie bis dato sicher nicht wussten. 1.- Ihr Mann ist ein Betrüger der in kriminelle Machenschaften verwickelt ist die wir aufdecken werden. 1.- Es gibt viele Handwerker die Ihr Mann vor Gericht zerrt wenn sie nicht so gearbeitet haben wir er es sich vorgestellt hat. 1.- Sie sollten außerdem erfahren dass er nicht der treue Ehemann ist der er vorgibt zu sein denn er hat seit Jahren diverse Geliebte. 1.- Wir gehen davon aus dass Sie von der Kündigung von Frau Lisa Steinmetz gehört haben die bis zum letzten Herbst nicht nur seine Assistentin war sondern auch seine Geliebte. Tab. 13: Beispiel Satzanfang Subjekt (5 Sätze) Text „VGL“: 1.- Da du bestimmt über das Vorfinden dieses Schreibens in Deinem Briefkasten überrascht bist erkläre ich es dir. 1.- Wenn die Bürger betrogen und belogen werden muss man etwas unternehmen. 1.- Als dein Freund und Parteigenosse Bauland für seine private Villa brauchte bekam er es sofort. 1.- Als aber unsere Sozialdezernentin ein Gebäude für das Frauenhaus brauchte gab es angeblich keins. 1.- Wenn du glaubst dass wir das nicht merken hast du dich geschnitten. Tab. 14: Beispiel Satzanfang Nicht-Subjekt (5 Sätze) Es fällt auf, dass beim inkriminierten Text (INKR) alle Sätze mit dem Subjekt beginnen und beim Vergleichstext (VGL) kein einziger. 114 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="116"?> 2.2.2 Einfache Kodierung für Kommata Wenn die Syntax betrachtet bzw. untersucht wird, ist selbstverständlich auch die Komma‐ setzung wichtig. Ich werde nicht müde zu betonen, dass man die Syntax selbstverständlich nicht erschließen kann, indem man die im Text vorhandenen Kommata zählt (→ Kap. 1.5 zu den häufigsten Fehlannahmen über die forensische Linguistik und die Authentizitätsfest‐ stellung im Besonderen), denn was man in Texten vorfindet, sind: ● fehlende Kommata ● vorhandene, aber falsche, also überflüssige Kommata ● korrekt gesetzte Kommata Für das Kennzeichnen der korrekt gesetzten Kommata steht die in Kapitel 2.2zur Markie‐ rung der ersten Auffälligkeiten vorgestellte Farbe Grün (für Korrektes) zur Verfügung bzw. wird empfohlen. Es ist möglich, dass bei einem Text nach der ersten Durchsicht und Markierung der Auffälligkeiten deutlich wird, dass die Kommasetzung auffällig korrekt oder auffällig fehlerhaft ist (und in einem solchen Fall kann man selbstverständlich auch die Grün-Markierung und eine Markierung für „Komma“ kombinieren). Wenn sich zwei zu vergleichende Texte in dieser Hinsicht stark unterscheiden, wäre das ein erster Anhaltspunkt, dass sie evtl. nicht von derselben Person verfasst wurden. Was die möglichen Komma-Fälle betrifft, gibt es außerdem die nicht häufig vorkommenden Fälle, bei denen das Komma optional ist, und hier könnte es interessant sein, ob ein/ e Verfasser: in an diesen Stellen konsistent Kommata setzt oder nicht. In meiner langjährigen Erfahrung ist jedoch noch nie ein Text mit mehreren (oder gar vielen) solcher optionalen „Kommastellen“ vorgekommen, und folglich habe ich auch keine Texte gesehen, in denen ein/ e Verfasser: in durch auffällig konsistente oder inkonsistente Kommasetzung in diesen speziellen Fällen aufgefallen wäre. Wenn es bei den Erklärungen in diesem Buch zunächst vorrangig um die Normverstöße bei der Kommasetzung geht, wenn also nur die Stelle angezeigt werden soll, an der es um ein fehlendes, überflüssiges oder optionales Komma geht, verwende ich dieses Zeichen: [[,]]. Für eine etwas genauere - jedoch noch recht simple - Angabe der Stellen, an denen ein Komma fehlt oder überflüssig ist, verwende und empfehle ich folgende Zeichen: - Kodierung Beispielsatz fehlendes Komma [[KommaFehlt]] Er war davon ausgegangen, dass in dem Konferenz‐ raum ein Beamer vorhanden ist [[KommaFehlt]] und hatte keinen mitgebracht. Er ist schon fast genauso gerissen [[KommaFehlt]] wie sein älterer Bruder. überflüssiges Komma [[KommaÜberfl]] Nach der langen und unerfreulichen Diskussion mit den verantwortlichen Teamleitern [[KommaÜberfl]] informierte ich die Geschäftsführung. Komma optional [[KommaOpt]] Er aß nur das Brot [[KommaOpt]] und den Kuchen ließ er stehen. Tab. 15: Einfache Kommakodierung 2.2 Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten 115 <?page no="117"?> Wenn außerdem angegeben werden soll, ob es sich um eine Stelle vor oder nach etwas mit Komma Abzutrennendem handelt, empfehle ich zusätzlich diese Kodierung: Kodierung Beispielsatz [[[KommaÜberfl] Stelle im Satz, an der überflüssigerweise ein Komma steht, weil der/ die Verfasser: in danach etwas mit einem Komma Abzutrennendes vermutet. [KommaÜberfl]]] Stelle im Satz, an der überflüssigerweise ein Komma steht, weil der/ die Verfasser: in davor etwas mit einem Komma Abzutrennendes vermutet. [[[KommaFehlt]: Stelle im Satz, an der ein Komma fehlt, und zwar vor einem Nebensatz (bzw. etwas mit einem Komma Abzutrennendem) [KommaFehlt]]]: Stelle im Satz, an der ein Komma fehlt, und zwar am Ende eines Nebensatzes (bzw. etwas mit einem Komma Abzutrennendem) Tab. 16: Einfache Kommakodierung vor und nach Nebensatz Der Sinn von Kommata Ein Komma ist für den/ die Leser: in ein Zeichen dafür, dass eine neue Sinneinheit folgt. Diese neue Sinneinheit kann sein: ● etwas von ähnlicher Wichtigkeit, also etwas Nebengeordnetes, z.-B. ■ Julius bekam Bewährung, (aber) Torben musste für drei Jahre in den Knast. ● ein längerer Satzteil, z.-B. ■ Wer durch die Leistung eines anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm zur Herausgabe verpflichtet. ● eine untergeordnete Zusatzinformation, z.-B. ■ Neulich, als wir an dem See waren, hatte er mal richtig gute Laune. ● eine Bedingung, z.-B. ■ Ich nehme das nur, wenn Sie mir 10-% Rabatt geben. ● oder etwas Übergeordnetes (etwa nach der Nennung einer Bedingung), z.-B. ■ Wenn Sie mir 10-% Rabatt gewähren, nehme ich es. Die Kommasetzung lenkt die Verarbeitung der im Satz enthaltenen Informationen beim Lesen. Wenn man sieht Der Rechtsanwalt versprach, […], weiß man, dass danach der Inhalt des Versprechens genannt wird. Man ahnt bzw. weiß auch, dass nicht mitgeteilt wird, wem das versprochen wird. Wenn man sieht Der Rechtsanwalt versprach dem Vorsitzenden, […], weiß man, dass dem Vorsitzenden etwas versprochen wurde und dass nach dem Komma der Inhalt des Versprechens genannt wird. 116 2 Erste Schritte und einfache Kodierung <?page no="118"?> Darum ist es wichtig, an welcher Stelle das Komma steht: Der Rechtsanwalt versprach [[,]] dem Vorsitzenden [[,]] einen Brief zu schreiben. Wie so oft in diesem Buch betone ich hier wieder: Es geht nicht darum, Textverfasser: innen zu beschuldigen, sie würden sich falsch ausdrücken, an falschen Stellen Kommata setzen oder es unterlassen, Kommata zu setzen. In den meisten Fällen falscher Komma-Setzung kann der/ die Leser: in sich denken, was gemeint ist. Interessant ist das aber für die Beurtei‐ lung dessen, wie verständlich sich jemand ausdrücken kann, und für das Identifizieren des Idiolekts zum Zwecke der Authentizitätsfeststellung. Wird die Komma-Betrachtung etwas genauer und sollen fehlende, überflüssige und optio‐ nale Kommata unterschieden werden, bietet sich die oben gezeigte Kodierung an: Wenn es wichtig ist anzuzeigen, welche Art von Komma fehlt oder überflüssig ist, ist eine wesentlich genauere, detailliertere, komplexere Kodierung nötig, die in Kapitel 4.1 vorgestellt wird. 2.2 Erstes Sichten, erste Auffälligkeiten 117 <?page no="120"?> 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten So unterschiedlich Menschen in allen möglichen Hinsichten sind, so unterschiedlich sind sie auch beim Aufnehmen und Speichern von Eindrücken, Theorien, Fakten, Schlussfolge‐ rungen, Wissen und Vorstellungen, wobei hier die Frage zunächst unberücksichtigt bleiben muss, wie weit Sprache das Denken bedingt und inwiefern (bzw. dass) Sprache notwendig ist, um Gedanken festzuhalten, zu formulieren und Informationen zu speichern. Jeder Mensch entwickelt seine eigenen Fähigkeiten und Strategien, um Gedanken zu strukturie‐ ren und als Sinneinheiten abzuspeichern. Wenn dieser Mensch sich einem (oder mehreren oder vielen) anderen mitteilen will, vertraut er darauf, dass andere Menschen ähnliche Methoden haben, mit Gedanken sprachlich umzugehen, damit man sich „austauschen“ kann. Man kann hilfsweise mit dem Bild des „Verpackens“ arbeiten und sich vorstellen, dass wir, wenn wir uns mitteilen wollen, unsere Gedanken sprachlich verpacken. Wir hoffen bzw. nehmen an, dass unsere Hörer: innen oder Leser: innen die Gedanken entpacken und verstehen (vgl. Berg 2023, S. 126). Sprache dient also (neben anderen Funktionen) als Informationsspeicher und als Gedanken-Verpackung. Dabei hat jeder Mensch seine eigenen Methoden, Strategien, Kunstgriffe, wenn er sich mit‐ teilt. Jeder handhabt es etwas anders und ist beeinflusst von seiner Sozialisation, Intelligenz, Bildung, Ausbildung, regionalen/ geografischen Herkunft, Gesinnung, Lebensführung, Al‐ ter, Geschlecht usw. Wie in der Psychologie die verschiedenen Verhaltensweisen der Menschen im Fokus stehen, geht es in der forensischen Linguistik um die sprachlichen (hier schriftlichen) Verhaltensweisen. Anhand der Normabweichungen, die ich in knapp fünfzehn Jahren in den vielen Texten gesehen habe, kann ich eine Liste erstellen, die zeigt, auf welchen Fehlannahmen - primär bzgl. Interpunktions-, Orthografie- und Wortwahl-Regeln - die häufigsten Normabwei‐ chungen basieren. 3.1 Die häufigsten Fehlannahmen über korrektes Deutsch Wenn ein Satz mit einer Präposition (wie bei, wegen, mit) beginnt, muss nach einigen Wörtern ein Komma stehen, und zwar dort, wo man beim Aussprechen des Satzes eine Atempause machen würde. Dann kommt es zu falschen Kommata wie in den folgenden Beispielen: ■ Bei allen Fragen rund um die Nutzung der Software oder bei Problemen [KommaÜberfl]]] hilft Ihnen unser Service-Team gerne weiter. ■ Wegen des aktuell erhöhten Paketvolumens [KommaÜberfl]]] sind unsere Servicekapazitäten eingeschränkt. ■ Mit einer Schere und viel Klebstoff [KommaÜberfl]]] haben die Kinder diese Kunstwerke aus Papier hergestellt. <?page no="121"?> Verben schreibt man immer klein. Alle im Folgenden aufgelisteten Sätze sind jedoch korrekt: ■ Das ist eine Aktion zum Mitmachen. ■ Tim sieht seinem Bruder zum Verwechseln ähnlich. ■ Hier gibt es Kuchen zum Mitnehmen. ■ Er hat sich beim Betreuen der Kinder große Mühe gegeben. ■ Sein lautes Schnarchen stört mich sehr. Ein Satz darf nicht mit „Dass“ anfangen. Diese Falsch-Annahme hat zur Folge, dass dieses erste Wort dann oft - falsch - mit einem „s“, also als das geschrieben wird. Alle im Folgenden aufgeführten Sätze sind jedoch korrekt: ■ Dass ich das nicht durfte, war mir klar. ■ Dass er gefeuert worden ist, stimmt. ■ Dass die Katze weg ist, tut mir leid. ■ Dass Sie als Ehefrau und Mutter mal ein paar Dinge über ihren Mann erfahren, ist höchste Zeit. Vor „dass“ muss immer ein Komma stehen. Es kann - wie in den folgenden Beispielen - durchaus vorkommen, dass vor dass kein Komma steht: ■ Trotz aller Beteuerungen glaubte er uns nicht, dass wir damit nichts zu tun hatten und [[[KommaÜberfl] dass wir an dem Tag auch ganz woanders waren. ■ Er sagte, dass er an dem Freitag krank war und [[[KommaÜberfl] dass er deshalb den ganzen Tag zu Hause war und nirgends hingegangen ist. ■ Er äußerte so etwas wie, dass wir Polizisten keine Ahnung hätten und uns deswegen so aufspielen müssten oder [[[KommaÜberfl] dass wir aus lauter Frust Macht ausüben. Das zweite dass setzt den Nebensatz fort. Es ist nicht so, dass mit dass immer ein neuer Nebensatz beginnt. In einem Satz darf nicht hintereinander „dass“ und „das“ vorkommen. Demnach wäre falsch: ■ Wir hoffen, dass das so bleibt. ■ Es ist nicht zu fassen, dass das Kind so lange nichts zu essen bekam. ■ Dass das passiert ist und dass das Fahrrad nun kaputt ist, tut mir leid. ■ Es ist wichtig, dass das genau so weitergegeben wird. ■ Es wurde vom Vorstand beschlossen, dass das Angebot so angenommen wird. Alle obigen Sätze sind aber korrekt. 120 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="122"?> In einem Satz darf nicht zweimal das gleiche Wort hintereinander vorkommen, und wenn zweimal „dass“ oder „das“ hintereinander vorkommt, dann schreibt man das erste mit zwei „s“. Alle im Folgenden aufgelisteten Sätze sind jedoch korrekt: ■ Sie kennt die Regel nicht, und folglich befolgt sie sie nicht. ■ Die, die die Fenster eingebaut haben, arbeiten da nicht mehr. ■ Bitte geben Sie zu dem Gruppenfoto an, wer wer ist. ■ Sie dürfen die Fotos nicht veröffentlichen, bevor Sie sie bezahlt haben. ■ Es kam dann die Polizei, die die Personalien aufnahm. ■ Ich bin gekommen, um um Entschuldigung zu bitten. ■ Das ist das Schild, das das Ende der Baustelle anzeigt. ■ Der neue Kassenwart ist einer, der der blöden Kuh mal so richtig die Meinung gegeigt hat. ■ Es gibt ein Gesetz, das das genau regelt. ■ Es handelt sich um eine eine DIN A4 Seite lange Mitteilung. ■ Was ganz schlimm ist, ist, dass er schon wieder verhaftet wurde. ■ Ich gehöre einer Generation an, die die längste Friedensphase in Jahrhunderten erleben durfte. ■ Dieser kleine Junge ist ein intelligentes Kind, das das Entscheidende bei diesem Spiel schnell verstanden hat. ■ Der Missbrauchsskandal von Wermelskirchen soll laut den Ermittlern ein Maß an Brutalität aufweisen, das das vergleichbarer Fälle noch übersteigt. ■ Der Zugangslink für das heutige Webinar ist der, der auf 893 endet. ■ Wir suchen ein System, das das Bewässern zu bestimmten Uhrzeiten automatisch regelt. ■ Er kommt aus einer Gegend, in der der Ausdruck „Geldsack“ üblich ist. ■ Merken Sie sich die Wörter, für die die drei Buchstaben stehen! ■ Seit dem Preis ist ihr ihr Erfolg zu Kopf gestiegen. ■ Vor vor dem Insolvenz oder Vergleichsverfahren stattfindenden Rettungsmaßnahmen der ge‐ nannten Unternehmensberatung wird dringend gewarnt. ■ Vor vor dem Rathaus unbefugt abgestellten Behältnissen war gewarnt worden. ■ Von von mehreren Vorstandsmitgliedern befürworteten Fernabsatzgeschäftsstrategien wurde bei der Beschlussfassung abgesehen. ■ Für die von dem dem neuen Anwalt nicht bekannten Subunternehmer in Auftrag gegebenen Prüfgeräte ist die Messgenauigkeit nachzuweisen. ■ Lassen Sie mich mich zunächst einmal vorstellen. ■ Laut der der Gesellschaft für nachhaltiges Bauen vorliegenden Bauvorschrift ist das verboten. ■ Der, der der das gesagt hat, hat die, die die Lottozahlen getippt hatte, verraten, und dann hat er dem, dem das noch einmal gelungen ist, die falschen Lottozahlen gesagt. Auch die Abfolge Sie sie (erst Honorifikum, dann normales Personalpronomen) kommt durchaus oft vor und ist völlig korrekt: ■ Wir würden uns die defekten Teile einmal ansehen, wenn Sie sie uns zuschicken. ■ Bewahren Sie diese Bescheinigung an einem sicheren Ort auf, da Sie sie später werden vorlegen müssen. 3.1 Die häufigsten Fehlannahmen über korrektes Deutsch 121 <?page no="123"?> ■ Wenn Sie die Option der Anmeldung über einen Sicherheitsschlüssel nutzen möchten, müssen Sie sie vorher für Ihr Konto eingerichtet haben. ■ Wir schicken die Rechnung anbei als PDF und gehen davon aus, dass Sie sie sich selbst ausdrucken. Ein einzelnes Wort kann nicht von Kommata umgeben sein. Eine solche Konstruktion sollte zwar vermieden werden, weil sie schwer verständlich ist, ist sie aber nach den Interpunktionsregeln korrekt: ■ Die Typen, die immer in der Domklause abhängen, versuchen, den Eindruck zu erwecken, sie würden nur Alkohol trinken und hätten mit Drogen nichts am Hut. ■ Ich fand die Vorstellung, mit ihm in die Berge zu fahren, besser, als die freien Tage im Garten herumzusitzen. ■ Wer zu unserer Tafel kommt, kommt, weil es ihm schlecht geht. ■ Es handelt sich hier um das Gras, das, obwohl es verboten war, an jeder Straßenecke verkauft wurde. ■ Was besonders auffällig war, war, dass das Kind zwei große Narben auf dem Bauch hatte. ■ Was besonders schlimm ist, ist, glaube ich, dass er immer alleine ist. ■ Das Tragen einer Maske, das, wie jeder weiß, sinnvoll ist, ist nicht mehr Vorschrift. ■ Der Betrag für die Zusatzmaterialien, die, wie ich schrieb, nächste Woche geliefert werden, ist bereits jetzt zu zahlen. ■ Wer mit Flammenfiltern zu tun hat, versteht, dass viele Unfälle auf mangelnde Instandhaltung zurückzuführen sind. ■ Der Trust zugunsten Frau Charlotte Funke, der Begünstigten, wird, sofern sie das Alter von dreißig (30) Jahren zu dem Zeitpunkt noch nicht erreicht hat, für sie vom Verwlater gemanagt. ■ Wer regelmäßig in der Kantine ißt, weiß, was ich meine. ■ Ihre Entscheidung, schon am nächsten Tag abzureisen, zeigt, dass sie nicht mehr auf eine Versöhnung hoffte. Ein Substantiv (Nomen, Hauptwort) darf - außer wenn es der zweite Teil eines Kompositums ist (wie z.-B. Inhaberaktie, Staubsaugervertreter) - nie klein oder mit einem anderen Wort zusammengeschrieben werden. Alle im Folgenden aufgelisteten Sätze sind jedoch korrekt: ■ Unsere App bietet eine benutzerfreundliche Suchfunktion. ■ Wir sind ist ein inhabergeführtes Unternehmen. ■ Diese schadstoffreduzierten Fahrzeuge verkaufen sich gut. ■ Unter einer unionsgeführten Bundesregierung hätte es so etwas nicht gegeben. ■ Unsere Keilriemen sind verschleißarm und wartungsfrei. ■ Die Erdgastanks sind platzsparend an der Unterseite montiert. ■ Dieser Kitschfilm ist tränentreibend sentimental. 122 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="124"?> Es darf nicht sein, dass in einem Satz mehrmals nach sehr wenigen Wörtern ein Komma steht. Doch, das kann sein. In den folgenden zwei Sätzen müssen an allen angezeigten Stellen Kommata stehen: ■ Wenn Sie nicht widersprechen [[,]] nehme ich an [[,]] dass Sie einverstanden sind [[,]] und hoffe [[,]] dass dieser Vorschlag [[,]] der von Tim kam [[,]] so angenommen wird. ■ Es passiert leicht [[,]] dass man vergisst [[,]] das Gerät abzustellen [[,]] weil jemand [[,]] der meint [[,]] einen mal besuchen zu müssen [[,]] einfach klingelt [[,]] und man lässt ihn rein [[,]] um kurz was zu trinken [[,]] aber dann bleibt er doch länger. Nach „dass“ steht niemals ein Komma, und folglich kann es auch nicht sein, dass sowohl vor als auch nach „dass“ ein Komma steht. Das ist zwar selten, und es ist auch kein schönes und leicht verständliches Deutsch, es kann aber vorkommen: ■ Bitte berücksichtigen Sie [[,]] dass [[,]] wenn sich die Angaben auf den beiden Websites unterscheiden, die von der Behörde die verbindlichen sind. ■ Dass [[,]] wenn Sie den Termin aus Krankheitsgründen nicht wahrnehmen können, Sie sich sofort bei uns melden sollen, hatten wir Ihnen letzte Woche schriftlich mitgeteilt. ■ Die Zeitung berichtete [[,]] dass [[,]] obwohl das Gericht der zuständigen Behörde ihre Verpflich‐ tung ausdrücklich genannt hatte, nichts unternommen wurde. Vor „und“ darf niemals ein Komma stehen. Alle im Folgenden aufgelisteten Fälle bzw. Sätze mit einem Komma vor und sind jedoch korrekt. Das Komma vor und steht in den folgenden Beispielen am Ende eines Nebensatzes, bevor der vorher begonnene Hauptsatz fortgesetzt wird oder ein neuer Hauptsatz beginnt: ■ Der Kunde war hier, als Sie gerade zu Tisch waren [[,]] und wollte fachliche Beratung zu den Elektrogeräten. ■ Ich habe genau angegeben, wie lange ich mich in dem Kiosk aufgehalten habe [[,]] und bestätigt, dass ich den Zeugen vorher nicht kannte. ■ Ihre Rechnung und Mahnung weisen wir zurück, da Ihr Anspruch unbegründet ist [[,]] und verweisen auf die umfangreiche Korrespondenz des ersten Halbjahres. ■ Ich habe neulich beobachtet, wie sowas hergestellt wird [[,]] und war beeindruckt. ■ Ich beobachte seit Jahren, was er tut [[,]] und wollte ihm schon immer mal meine Meinung dazu sagen. ■ Er war davon ausgegangen, dass in dem Konferenzraum ein Beamer vorhanden ist [[,]] und hatte keinen mitgebracht. ■ Sie beschlossen, den Abstieg zu wagen [[,]] und machten sich auf einen gefährlichen Weg durch die menschenleere Wildnis. ■ Ich bin dauernd damit beschäftigt, Fragen zu beantworten [[,]] und komme nicht zu meiner eigentlichen Arbeit. 3.1 Die häufigsten Fehlannahmen über korrektes Deutsch 123 <?page no="125"?> ■ Der Film „Das Versprechen“ handelt von Jens Söring, dem Sohn eines deutschen Diplomaten [[,]] und Elizabeth Roxanne Haysom, einer Studentin aus Virginia, die am 30. März 1985 ihre Eltern brutal ermordet haben soll. ■ Selbstverständlich drucken wir Ihre Rede, die Sie am Dienstag gehalten haben [[,]] und zwar in der gesamten Länge, aber nicht mehr diese Woche. In den folgenden Sätzen trennt das „und“ zwei Hauptsätze voneinander; laut Duden muss man das Komma nicht setzen; man soll es setzen, wenn es die Lesbarkeit des Satzes erleichtert: ■ In den vorliegenden Mietverträgen bin ich Mieter [[,]] und Vermieter ist das Studentenwerk Oberfranken als Anstalt des öffentlichen Rechts. ■ Wir warten auf euch [[,]] und die Kinder können schon vorausgehen. ■ Er aß nur das Brot [[,]] und den Kuchen ließ er stehen. ■ Die Polizei verhaftete Herrn Meyer [[,]] und Herrn Müller wurde nur ein Verweis erteilt. ■ Ich fotografierte die Insekten [[,]] und meine Frau las ein Buch. ■ Ich definiere einen Maßnahmenplan und berechne die Kosten [[,]] und die Ausarbeitung übernimmt später mein Kollege. ■ So ermöglicht das Internet eine weltweite Vernetzung [[,]] und die Integration von Computern und mobilen Telefonen trägt auch entscheidend dazu bei. ■ Dabei definiert die Scorecard die Strategien [[,]] und das Managementsystem verbindet einzelne Teile der Organisation damit. ■ Die längs auf Zug belasteten Fasern bewirken eine leichte Erhöhung der Dehnbarkeit des Asbestzements [[,]] und die aufnehmenden Kräfte steigen aufgrund der nahezu linearen Kraft-Weg-Beziehung entsprechend. ■ Dachplatten ohne Beschichtung sind in der Regel stärker bewachsen als Fassadenplatten [[,]] und unbeschichtete Platten mit weniger rauer Oberfläche weisen stärkeren Bewuchs auf. ■ Der neue Auszubildende sollte alle Ausgaben in eine Liste schreiben und daneben zwei Spalten leer lassen [[,]] und die Ausgaben sollten nach Kostenstellen sortiert werden. ■ Er schimpfte auf die Regierung [[,]] und sein Publikum applaudierte. 3.2 Dezeptive Strategien, Verstellung Eingangs wurde bereits festgestellt: Wenn die forensische Linguistik gebraucht wird, handelt es sich meist um Texte, deren Verfasser: innen daran gelegen ist, dass 1. sie nicht erkannt werden, 2. die im Text vermittelten Informationen verstanden werden. Daher wird ein/ e solcher Verfasser: in 1. sich zwar zu verstellen versuchen, 2. den Text jedoch nicht allzu stark verfremden. Bei der Authentizitätsfeststellung hat der/ die Linguist: in selbstverständlich eine wesentli‐ che Erschwernis, wenn der/ die Verfasser: in Verstellungsstrategien anwendet, um nicht erkannt zu werden. Vergleichstexte, also andere Texte der verdächtig(t)en Person, die 124 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="126"?> 48 Zur Verstellung enthalten die Dissertationen von Stefanie Bredthauer (2013) und Steffen Hessler (2023) detaillierte Ausführungen. der/ die Auftraggeber: in eines Gutachtens beschafft, etwa vorhandene E-Mail-Texte aus deren Privat- oder Berufsleben, wurden hingegen nicht mit dieser Absicht verfasst. Daher finden sich in inkriminierten Texten, und zwar primär solchen, die eine Straftat darstellen (wie Erpressung, Bedrohung, üble Nachrede, Verleumdung, Aufruf zur Gewalt), oft ausgefallene Auffälligkeiten wie (alternativ): ● völlig fehlende Interpunktion bzw. zumindest fehlende Kommata ● extrem viele überflüssige Kommata ● willkürlich eingestreute Buchstaben (z.-B. „h“) ● durchgehende Schreibung in Klein- oder Großbuchstaben ● durchgehende Schreibung aller Wörter mit großem Anfangsbuchstaben ● extrem kurze Sätze Allerdings gibt es auch das genaue Gegenteil, dass nämlich ein/ e Verfasser: in eines solchen Textes, der/ die nicht durch mangelhafte Orthografie und Interpunktion auffallen will, seinen/ ihren Text von einer (kostenlos im Internet verfügbaren) Textkorrektur-Software bearbeiten lässt. Bei den Arten der Verstellung 48 unterscheidet man folgende drei Arten: ● Dissimulatorisch: Der/ die Verfasser: in ändert den eigenen Stil, um von sich abzulen‐ ken, bzw. verfremdet ihn (z. B. durch Kleinschreiben aller Wörter, Hinzufügen oder Auslassen von Interpunktionszeichen u.-Ä.). ● Simulatorisch: Versuch, den Verdacht auf eine bestimmte andere Person (oder Gruppe) zu lenken und deren Stil (hinsichtlich Regiolekt, Bildungsstand, Alter, Mutter‐ sprache usw.) zu imitieren, wobei die Person oder Gruppe, auf die der Verdacht gelenkt werden soll, typischerweise andere Eigenschaften hat (hat Deutsch als Fremdsprache gelernt, ist wesentlich älter oder jünger, stammt aus einer anderen Region u. Ä.). Das Vortäuschen der Autorschaft einer bestimmten anderen Person wird auch „behauptete Identität“ bzw. „Imitation des sprachlichen Verhaltens einer bestimmten Person“ genannt. ● Assimilatorisch: Der/ die Verfasser: in übernimmt einen von einer anderen Person (oder Gruppe) verfassten Text (z. B. ein Protokoll, Schriftsatz, Zeugnis, einen Patent‐ antrag, eine Produktbeschreibung, Mitteilung jeglicher Art) und ändert ihn ab in dem Bemühen, den Sprachstil an den eigenen Stil zu adaptieren bzw. ihn zu assimilieren; es handelt sich eigentlich um ein „Abschreiben“, das jedoch vertuscht werden soll (das Gegenteil der dissimulatorischen Verstellung). Oft handelt es sich um Fachtexte oder Bescheinigungen aller Art, wenn ein/ e Verfas‐ ser: in vorgefundene fertige Textpassagen übernimmt („abschreibt“) und diesen Text als ihren von ihr selbst verfassten Text ausgibt (assimilatorische Verstellung, s. o., siehe auch Plagiat). Wenn dabei Fehler gemacht werden, finden sie sich typischerweise in Fachausdrücken (Orthografie) und in der Morphosyntax. Ein Beispiel: 3.2 Dezeptive Strategien, Verstellung 125 <?page no="127"?> 49 Perseveranz bedeutet „Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit, Ausdauer“. In der Kriminologie und Kriminalistik wird diese Bezeichnung für das Wiederholen bestimmter Vorgehensweisen bei der Tatbegehung und gleicher Delikte verwendet. 50 Ein Kofferwort ist ein aus zwei anderen Wörtern zusammengesetztes Wort, wobei von dem einen Wort das Ende und von dem anderen der Anfang weggelassen wird, z. B. Information + Mathematik > Informatik. 51 Hieß bis Ende des Zweiten Weltkriegs „der Große Krieg“. ■ Der Patient leidet unter einer Intolleranz gegenüber Medikamenten sowohl syntetischer als auch natürlicher Herkunft und regiert darauf mit akuter allergischer Reaktion. Unter Berücksichtigung der hier vorliegenden immunologische Defiziete ist eine parentale Applikation von Fremdstoffen, wie zum Beispiel, bei einer Impfung, oder beim Injezieren von Kontrastmitteln absolut konterindiziet. Der Unterschied zwischen den drei Strategien - speziell der „simulatorischen“ und der „dissimulatorischen“ Verstellung - ist allerdings meist sehr schwer zu erkennen. Und beim Vergleich eines inkriminierten Textes, auf den eine Verstellungsstrategie ange‐ wendet wurde, mit einem Vergleichstext ist zu beachten, dass beim Verfassen typischer Vergleichstexte, welche beispielsweise beruflichen Zwecken dienten, der/ die Verfasser: in keine Veranlassung dazu hatte, den Text abzuändern oder sich zu verstellen. Daher gilt es, genau die sprachlichen Muster herauszuarbeiten, die der/ die Verfasser: in nicht durch vorsätzliches Verstellen ändern kann (den Idiolekt). Immer, wenn jemand einen Text verfasst, zeigt sich sein Idiolekt. Er lässt sich auch durch mühsame Verstellungsversuche nicht (ganz) verstecken. Dass individuelle sprachliche Merkmale und Muster eines Textverfassers tendenziell konstant bleiben, auch wenn er versucht, seinen Schreibstil zu verändern, nennt man auch „Perseveranzhypothese“ 49 . Besonderheit: zweifelhafter Entstehungszeitpunkt eines Textes Zu den dezeptiven Strategien gehört auch eine (versuchte) Täuschung über den Entste‐ hungszeitpunkt des Textes. Der Versuch, den Eindruck zu erwecken, dass ein Text zu einem anderen Zeitpunkt als dem an- oder vorgegebenen entstanden ist, kommt beispielsweise vor bei Erbschaftsangelegenheiten oder der Frage, wann bei Korrespondenz, die als „Vertragsverhandlungen“ eingestuft werden, bestimmte Zusicherungen gemacht wurden. Dass der tatsächliche Zeitpunkt sehr weit entfernt von dem angegebenen liegt, ist jedoch eher selten. Hier kann es hilfreich sein, wenn Wörter enthalten sind, die erst zu einem bestimmten Zeitpunkt auftraten wie z. B. das Kofferwort 50 Brexit. Besonders interessant sind Retronyme, Wörter, die zu einer bestimmten Zeit eingeführt wurden, um das Bezeichnete von etwas Späteren zu unterscheiden (typische Beispiele: Erster Weltkrieg 51 , terrestrisch, Bargeld). 126 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="128"?> 3.3 Plagiierung Das Plagiat bzw. „das Plagiieren“ ist die unrechtmäßige Übernahme und/ oder widerrechtli‐ che Verwendung und/ oder Verwertung fremden geistigen Eigentums (Texte und Produkte) ohne die Angabe (bei Texten das Zitieren) der ursprünglichen Quelle, wobei es sich um eine Verletzung des Urheberrechts (oder Patentrechts oder Geschmacksmusterrechts) handelt. Gemäß Creifelds ist ein Plagiat ein fremdes Werk, das ganz oder teilweise in ein neues Werk übernommen wird, dessen Urheber sich als Urheber des gesamten neuen Werkes bezeichnet. Die Plagiats-Erkennung bzw. -Feststellung ist eine Disziplin der forensischen Linguistik. Meist geht es um Fälle der Übernahme fremder geistiger Leistungen in eine wissenschaft‐ liche Arbeit (des sog. „Plagiators“ bzw. der „Plagiatorin“). Man unterscheidet die folgenden Arten der Plagiierung: ● Totalplagiat (auch „Vollplagiat“, auch „Copy & Paste-Plagiat“): wortwörtliche Über‐ nahme ganzer Textpassagen ● Mosaikplagiat: Ganze Teile werden übernommen, jedoch in anderer Reihenfolge wiedergegeben ● Teilplagiat: Textteile werden wortwörtlich übernommen ● Strukturplagiat: Übernahme der Gliederung bzw. des Aufbaus eines Textes ● Übersetzungsplagiat: entweder Übernahme eines fremdsprachigen Textes in der übersetzten Form oder Übernahme eines Textes, der in eine andere Sprache übersetzt und dann ins Deutsche zurück übersetzt wird, sodass der Text nicht mehr wortwörtlich gleich ist. Bei dieser Vorgehensweise unterlaufen den Plagiatisten oft Fehler; bzw. Fehler beim Übersetzen (z.-B. durch Übersetzungssoftware) werden nicht erkannt. ● Verbalplagiat: Übernahme bestimmter Formulierungen ● Ideenplagiat (auch „Paraphrasen-Plagiat“): Lediglich Ideen bzw. Gedanken werden übernommen, die Wortwahl und Satzstruktur des Originaltextes wird verändert (der Ursprungstext wird „paraphrasiert“), der/ die Urheber: in wird nicht zitiert. ● Autoplagiat (auch „Selbstplagiat“): Der/ die Urheber: in verwendet eigene Arbeiten mehrfach. 3.4 Interlinguale Interferenz bzw. Einfluss einer anderen Sprache Bei diesem Phänomen überträgt eine Person unbewusst lexikalische und/ oder syntaktische Elemente aus einer anderen Sprache auf das Deutsche bzw. verwendet syntaktische Regeln der anderen Sprache mit deutschen Wörtern, und zwar 1. weil die Person Deutsch als Fremd- oder als Zweitsprache gelernt hat (und nicht als Muttersprache) oder 2. weil die Person einem Einfluss durch die andere(n) Sprache(n) ausgesetzt ist. Dass das Ergebnis eine normabweichende Äußerung im Deutschen ist, ist der Person oft nicht bewusst. 3.3 Plagiierung 127 <?page no="129"?> ■ Ich verlange meine Anzahlung in der Höhe von 100,00 € zurück. Ein typischer Fehler, den Menschen machen, die Deutsch als Fremdsprache sprechen, ist der überflüssige Artikel, weil die Regeln für die Verwendung von Artikeln in vielen anderen Sprachen völlig anders sind als im Deutschen. ■ Er hat mit ihr geheiratet. Das Verb heiraten verlangt im Deutschen ein direktes Objekt (also ein Akkusativobjekt) oder kann auch ohne Objekt verwendet werden (Er hat geheiratet.). In anderen Sprachen, z. B. im Türkischen, wird dies anders als im Deutschen (hier als Präpositionalobjekt bzw. als adverbiale Präpositionalphrase) realisiert. Etwas Lexikalisches: Ein/ e Verfasser: in mit Muttersprache Englisch meint Besides Law, I also studied Greek and Latin (one semester) und sagt auf Deutsch ■ Ich habe neben Jura auch Griechisch und Latein studiert. Er/ Sie meint damit, dass er/ sie im Rahmen seines/ ihres Studiums in einem englischspra‐ chigen Land eine Lehrveranstaltung belegt hat, bei der es um Wörter mit griechischem und lateinischem Ursprung ging. Das englische to study bedeutet nicht studieren. ■ Diese Landschaft ist der schönste Platz, an dem ich je gewesen bin. Gemeint ist sicherlich Ort, und die Wortwahl ist darauf zurückzuführen, dass im Englischen ja sowohl Platz als auch Ort place heißen. ■ Er hat das Gesetz gebrochen. Von He has broken the law. Auf Deutsch eigentlich Er hat gegen das Gesetz verstoßen. bzw. Er hat sich gesetzeswidrig verhalten. bzw. Sein Verhalten war strafbar. Auf Englisch heißt ein lustiger und kluger Spruch When life gives you lemons, ask for salt and tequila. (als Abwandlung des Spruchs When life gives you lemons, make lemonade.), wobei to ask for primär bitten um bzw. bestellen bedeutet. Daraus wird vielerorts auf Deutsch gemacht ■ Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, frag nach Tequila und Salz. Wen soll man fragen? Das Leben? Gott? Was für eine Antwort ist zu erwarten? Auf Deutsch bedeutet „nach etwas fragen“ nicht unbedingt „bestellen“ (bzw. die Frage könnte lauten Haben Sie […]? ). ■ Das macht einen großen Unterschied. Das englische to make a (big) difference ist eigentlich zu übersetzen mit etwas (viel) ausmachen, aber einen Unterschied machen ist inzwischen in die deutsche Sprache eingezogen und wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bleiben. Die Ausdrucksweise Das macht Sinn., eine Übersetzung aus dem Englischen und das Pendant zum ursprünglich deutschen Das ist sinnvoll., ist ebenfalls ins Deutsche einge‐ zogen und wird sicherlich bleiben. Wenn solche „eingebürgerten“ Ausdrucksweisen in einem Text gehäuft auftreten, lässt das nicht unbedingt den Schluss zu, dass der/ die Verfasser: in viel Kontakt mit der englischen Sprache hat, aber es kann idiolektal sein 128 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="130"?> und/ oder bedeuten, dass der/ die Verfasser: in das „schick“ bzw. „modern“ fndet und/ oder Umgang mit Menschen hat, die sich ebenfalls so ausdrücken. So manche/ r Leser: in wird sich gefragt haben, warum die Bezeichnung „Anglizismus“ bisher nicht verwendet wurde. Anglizismen, also vom Englischen ins Deutsche „einge‐ wanderte“ Ausdrucksweisen, gehören zu den sprachlichen Phänomenen, bei denen die folgenden drei Arten unterschieden werden: ergänzend (füllen eine Lücke in der deutschen Sprache, z. B. Vergiß es! ), verdrängend (ersetzen deutsche Ausdrucksweisen, z. B. Es macht Sinn., Bist du o.k.? ) und differenzierend (Zusatz zu deutschen Ausdrucksweisen, z. B. Das macht einen Unterschied.). Es geht bei der Authentizitätsfeststellung und dem Sprachprofiling (bzw. der Autorenprofilerstellung) aber um alle möglichen und auch um nicht übliche in einem deutschen Text auftretende Ausdrucksweisen, deren Ursprung im Englischen vermutet werden kann. Die meisten obigen Ausführungen und Beispiele betrafen Einflüsse aus dem Englischen und nicht aus anderen Sprachen. Bei auffälligen sprachlichen Phänomenen, die nicht dem Deutschen entsprechen, ist die Suche nach einem Einfluss aus einer anderen Sprache ein sehr großes und interessantes Gebiet, in dem die komparative Linguistik, die Sprachtypo‐ logie und die Bilingualismusforschung hilfreich sind und auf das hier (leider) nicht weiter eingegangen werden kann. Sprachliche Interferenzen spielen in der angewandten Linguistik insofern auch eine zunehmend größere Rolle, wenn Linguist: innen (und Übersetzer: innen) die von Asylant‐ ragstellern behauptete Herkunft anhand ihrer sprachlichen Äußerungen überprüfen. 3.5 Deutsch als Fremdsprache Wurde ein Text von einem/ einer Verfasser: in geschrieben, der Deutsch nicht als Mutter‐ sprache gelernt hat? Oder war bei einer Verfasser: innen-Gruppe (sog. „multiple Autoren‐ schaft“) jemand dabei, der Deutsch (mehr oder weniger gut) als Fremdsprache gelernt hat (und die Normverstöße nicht oder nur unzureichend korrigiert)? Typische Anzeichen dafür finden sich - neben der Orthografie (und Interpunktion) - in der Syntax, und zwar sind vorwiegend folgende Arten der Normverstöße typisch: ● Verstoß gegen die Satzbau-Regel „Das Prädikat bzw. das erste Prädikatselement steht an Stelle 2“, wenn der Satz nicht mit dem Subjekt beginnt (stattdessen „Prädikat folgt Subjekt“; z.-B. Morgen ich besuche Ali.) ● Satzklammerfehler bzw. unübliche Ausklammerung (→-Kap. 5.11) ● fehlerhafte Abfolge der Satzteile in Nebensätzen, speziell bei der Verbendstellung (der finite Teil des Prädikats steht - normverstoßend - nicht am Satzende) ● Deklinationsfehler bzw. Kasusfehler (falscher Kasus bzw. falscher Artikel und/ oder falsche Substantivund/ oder Adjektivendung) ● Konjugationsfehler (speziell bei unregelmäßigen Verben) ● Verwendung von transitiven Verben in intransitiver Weise (oder umgekehrt) ● Weglassung von Artikeln oder überflüssige Artikel ● Falsche Präposition 3.5 Deutsch als Fremdsprache 129 <?page no="131"?> ● Explizite Futurform (mit „werden“), wo im Deutschen - speziell bei vorhandenem lexikalischem Hinweis auf zukünftige Zeit - Präsens verwendet wird Wenn in einem Text auffällt, dass er von jemandem verfasst wurde, der Deutsch als Fremdsprache gelernt hat (etwa weil sich Normabweichungen der obigen Liste zeigen), stellen sich (für die Authentizitätsfeststellung) weitere Fragen; u. a. ob es sich um einen gelenkten oder ungelenkten Spracherwerb (mit oder ohne Unterricht) handelt bzw. ge‐ handelt hat, denn das hat einen großen Einfluss auf die Arten der Normverstöße und die entsprechende Befundkonstellation, und in welchem Stadium bzw. auf welcher Stufe des Spracherwerbs sich der/ die Verfasser: in befindet (hier bietet sich die Struktur des „gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ [kurz GER] an). Besonderheit: Kiezdeutsch, Transgression Bei bestimmten Ausdrucksweisen, die vom Standarddeutsch abweichen und evtl. auf den ersten Blick als fehlerhaftes Deutsch anmuten, kann es sich um Kiezdeutsch, eine informelle, alltagssprachliche Form des Deutschen, bzw. Ghettoslang bzw. „Kanak Sprak“ handeln. Es hat sich in Wohngebieten mit hohem Migrantenanteil unter Einwanderern und auch deren in Deutschland geborenen Kindern, die also zur zweiten (oder dritten) Generation gehören, ein Soziolekt bzw. ein „urbaner Dialekt“ entwickelt, der nicht nur von Gruppen mit einer bestimmten Herkunftssprache, z. B. Arabisch oder Türkisch, gesprochen wird, sondern von Sprechern unterschiedlicher Ethnien und Sprachen, und daher auch „Multiethnolekt“ genannt wird. Wenn jemand, der keinen Migrationshintergrund hat, seine Zugehörigkeit zu solchen Gruppen zeigen bzw. „dazugehören“ möchte, oder wenn eine solche Person in einem inkriminierten Text eine Verstellung bzw. dezeptive Strategie dieser Art anwendet, um den Verdacht auf eine solche Gruppen zu lenken, handelt es sich um sog. „Transgression“ (engl. „crossing“), den situationsbedingten Gebrauch einer dem/ der Verfasser: in fremden, identitätsstiftenden Sprachvarietät. Das gelingt jedoch häufig nicht, da „stümperhaft“ nur einige Wörter im Text untergebracht werden, die Verstellung also nur auf lexikalischer Ebene versucht wird, oder Kanak Sprak und Kiezdeutsch miteinander vermischt werden. Für solche Fälle gibt es auf Multiethnolekte spezialisierte Linguisten, die eine dezeptive Strategie dieser Art meist leicht identifizieren. Ebenso wird die dezeptive Strategie von Personen, die Deutsch als Muttersprache gelernt haben, sich wie jemand auszudrücken, der Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache gelernt hat, meist leicht erkannt (→-Kap. 8.3). 3.6 Der Text wurde nicht von einem Menschen verfasst 3.6.1 KI hat den Text erzeugt Wenn die Frage so gestellt wird „Wurde der Text von künstlicher Intelligenz verfasst? “, wird leicht angenommen, KI (bzw. als „ausführendes Organ“ Software wie ChatGPT) sei eine Art Alternative zu einem menschlichen Verfasser und es könne Fälle geben, bei denen ein mutmaßlich von KI verfasster inkriminierter Text mit einem von einem Menschen verfassten Text zu vergleichen wäre. Solche Aufgabenstellungen gibt es tatsächlich, aber 130 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="132"?> man muss bedenken, dass KI Texte generiert, indem sie Textbausteine verwendet, die in von Menschen verfassten Texten gefunden und dann zu einem Text zusammengesetzt werden. KI bestimmt auf Basis der (von Menschen verfassten) Texte, mit denen sie trainiert wurde, statistisch, wie ein Wort, eine Phrase, ein Satz oder Absatz am wahrscheinlichsten fortgesetzt wird und nutzt sog. Reverse-Engineering-Sprachmuster. Es finden sich also auch in von KI erzeugten Texten idiolektale Charakteristika von Menschen. Darum haben von KI erzeugte Texte typischerweise folgende Eigenschaften: ● Sie enthalten Wort- und Phrasen-Wiederholungen. ● Der Satzbau ist wenig abwechslungsreich und eher kurz. ● Die enthalten wenige Nebensätze und folglich kaum Verschachtelung. ● Sie sind orthografisch (fast) fehlerfrei. Die für Menschen typischen Kommafehler finden sich hauptsächlich deshalb nicht, weil KI keine langen Sätze mit kompliziertem Satzbau formuliert. ● Viele KI-Texte wirken „langweilig“ und oberflächlich; sie enthalten wenige originelle und abwechslungsreiche Formulierungen, kaum Metaphern; Analogien. ● Sie enthalten wenige Berichte über persönliche Einschätzungen, Erfahrungen, Emo‐ tionen, Meinungen oder Ansichten. ● Sie sind teilweise fehlerhaft oder unpassend und enthalten auch widerlegbare Behaup‐ tungen. Wenn KI-generierte Texte falsche Behauptungen enthalten, nennt man das „die KI hat halluziniert. Das geschieht immer dann, wenn die KI auf eine Teilaufgabe stößt, für die sie keine passenden Muster in ihren Daten hat. Auf die Frage, ob man ein KI-Sprachmodell (LLM; „Large Language Model“ wie z. B. ChatGPT) mit von einer bestimmten Person verfassten Texten trainieren und dann von der KI einen Text generieren lassen kann, der dieselben Eigenschaften hat wie die Texte der Person (Präferenzen in der Lexik und Syntax, fehlerhafte Syntax, Orthografie und Interpunktion), lautet die Antwort: Es wären extrem große Textvolumina zum Trainieren nötig, also solche Texte, die bei der Authentizitätsfeststellung die Vergleichstexte sind, um aus einem Text, der keine oder wenige Normverstöße enthält, einen Text zu erstellen, der (ganz bestimmte) Normverstöße enthält. Das ist (vorläufig noch) nicht möglich, wobei die Ergebnisse bei diesen Versuchen bzgl. englischer Texte bereits besser sind als bzgl. deutscher Texte. Diese Art der Leistung sollte nicht damit verwechselt werden, dass ein KI-Sprachmodell die Aufgabe recht gut bewältigt, einen „neutralen“ Text so umzuwandeln, dass er den Eigenschaften der Texte berühmter Schriftsteller (wie Goethe, Schiller, Kafka) entspricht. Kann man also feststellen, ob ein Text von KI geschrieben wurde oder nicht? Derzeit, also zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Buches, gibt es „Originality.ai“ und „GPTZero“, die die KI sich selbst fragen lassen: „Wie wahrscheinlich ist es, dass ich selbst diesen Text generiert haben könnte? “. 3.6 Der Text wurde nicht von einem Menschen verfasst 131 <?page no="133"?> 52 „Überraschtsein“: die Qualität der Vorhersage bestimmter Folgen von Wörtern je nachdem, wie sicher und wenig überrascht das System bei der Voraussage folgender Wörter ist, wobei folglich hohe Perplexität größere Unsicherheit anzeigt. 53 Eigenschaft der Texterstellung in „Salven“ (engl. „bursts“ wie die in der Nachrichtentechnik bekannten Impulsfolgen) bezogen auf Phrasen innerhalb von Sätzen. Bei der Untersuchung eines Textes daraufhin, ob er von KI generiert wurde, wird bzgl. einzelner Wörter die „perplexity“ 52 und bzgl. Phrasen und Sätzen die „burstiness“ 53 von KI-generierten Texten gemessen, um sie von menschen-generierten Texten zu unterschei‐ den. In der einschlägigen Literatur ist die Rede von „menschenähnlichen Texten“ (auf engl. „human-like texts“), was sowohl im Deutschen als auch im Englischen eine etwas schräge Bezeichnung ist, die suggeriert, der Text wäre wie ein Mensch, wobei doch gemeint ist: „ein Text, der so ist, als wäre er von einem Menschen verfasst worden“. 3.6.2 Der Text ist eine Übersetzung Mit vielen in der forensischen Linguistik vorkommenden (üblicherweise per E-Mail ver‐ schickten) Texten wird versucht, die Adressaten dazu zu bewegen, Geld zu überweisen bzw. Bitcoin zu kaufen. Es wird behauptet, es gäbe Beweise dafür, der/ die Adressat: in (meist jedoch männlich) habe Pornofilme angesehen (und sei beim Onanieren gefilmt worden); oder es wird behauptet, der/ die Adressat: in werde einen sehr großen Betrag erben bzw. gespendet bekommen, er/ sie müsse nur vorab eine Gebühr bezahlen usw. Bei diesen Texten ist meist offensichtlich, dass sie aus einer anderen Sprache (oft aus dem Englischen) übersetzt wurden. Sie zeigen die typischen bekannten Fehler, die beim Übersetzen ins Deutsche vorkommen, wenn ein Text mittels Maschinenübersetzung (z. B. DeepL oder Systran) übersetzt wurde. Details zu typischen Satzbaufehlern finden sich in Thormann (2023). Sehr simple Auffälligkeiten sind Sätze wie Ich habe Zutritt auf deinen Bildschirm und deine Kamera. Hier wurde sicherlich das englische access übersetzt, das ja in anderen Kontexten tatsächlich auch mit Zutritt zu übersetzen ist statt - wie hier - mit Zugriff. ■ Wenn ich du wäre, würde ich nicht wollen, dass meine Verwandten und Bekannte mich auf so unangenehme Weise sehen. Die Bekannten soll sicherlich eigentlich auch zu meine gehören, es fehlt die -n-Endung, und die Präpositionalphrase auf so unangenehme Weise bezieht sich auf das Prädikat sehen. Das ist jedoch nicht gemeint. Gemeint ist, dass die Tatsache, dass Verwandte und Bekannte das sehen, unangenehm ist. ■ Klarerweise habe ich entschieden, das als Video aufzunehmen. Das Adverb klarerweise ist sicherlich die Übersetzung von obviously. ■ Es gibt nun ein Doppelbildschirm Video mit dir und den Pornofilmen, die du ansiehst. Das Doppelbildschirm Video ist sicherlich auf Englisch ein dual-screen video gewesen. 132 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="134"?> ■ Ich habe keinen Erben und die gesamten Mittel gehen an wohltätige Organisationen insbesondere in Afrika, aber auch an Sie in Deutschland. Die gesamten Mittel sind sicher englische (financial) means. Die Qualität der Maschinenübersetzung ist in rasender Geschwindigkeit besser geworden, und sie wird immer besser. Oft sieht man bei Texten mit Sätzen wie den obigen, dass die (Maschinen-)Übersetzung vor relativ langer Zeit gemacht worden sein muss, denn die Texte enthalten Fehler, die die KI beim Übersetzen heutzutage nicht mehr macht. 3.6.3 Der Text wurde von mehreren Personen geschrieben oder bearbeitet Wenn ein Text von mehr als einer Person verfasst wird, spricht man von multipler Au‐ torschaft. Solche Texte zeigen üblicherweise Inkonsistenzen aller Art, oft auch Code-Swit‐ ching und Stilbrüche. In diesen Fällen ist es allerdings auch möglich, dass zwar nur eine Person den Text geschrieben hat, dass jedoch eine andere Person (beratenden oder korrigierenden) Einfluss hatte oder dass ein dem Schreiben vorangegangenes Gespräch oder Chats oder die Lektüre bestimmter Texte (z. B. Schriftsätze) Eingang in den Text finden. Ein/ e Verfasser: in könnte den Text auch (einer anderen Person oder Spracherkennungs‐ software) diktieren, etwa weil ihre Handschrift bei einem Testament nicht rückverfolgbar sein soll oder weil die Person verletzt ist oder sie ihre orthografischen Fähigkeiten als sehr schlecht einschätzt (→-Kap.-1.7.2 und 3.6.4). Dern (2009) unterscheidet zu diesem Zweck zwischen Verfasser und Schreiber, wobei die Spuren des Schreibers auf den oberflächenstrukturellen Ebenen der Orthografie, Inter‐ punktion […] und u. U. äußeren Textgestaltung zu finden sind, die des diktierenden Verfassers auf den sprachstrukturell tieferen Ebenen der Grammatik, der Wortwahl sowie der Textstruktur. (Dern 2009, S.-61) Es kommt auch vor, dass Verfasser: innen Phrasen wie Versatzstücke oder Textbausteine aus anderen Quellen (z. B. aus Schriftsätzen oder aus im Internet gefundenen Texten) einbauen, die dann in dem charakteristischen Stil eines Verfassers wie Fremdkörper wirken. Speziell die folgenden Auffälligkeiten können Hinweise auf auf multiple Autorschaft geben: ● Mangelnde Konsistenz bzw. auffällige, unterschiedliche Konsistenzen in größeren Textteilen; wenn verschiedene Textteile jeweils einen bemerkenswert konsistenten Schreibstil aufweisen ● Verschiedene Perspektiven, z.-B. aus der Ich-Sicht oder Außen-Sicht ● Wechselnder Stil, speziell Nominal- und Verbalstil, Aktiv und Passiv ● Unterschiedliche Fachkenntnisse; wenn der Text Fachterminologie und Fachjargon aus verschiedenen Bereichen aufweist bzw. Fachkenntnisse in diesen Bereichen zeigt ● Unterschiedliche Regiolekte innerhalb eines Textes (Mitwirkende aus verschiedenen geografischen Gegenden) ● Unterschiedliche Normverstöße (z. B. ß-Schreibung bei einem Wort wie Untersu‐ chungsausschuß [gemäß den Regeln vor der Rechtschreibreform] und ss-Schreibung bei der Konjunktion dass [gemäß den Regeln nach der Rechtschreibreform]). 3.6 Der Text wurde nicht von einem Menschen verfasst 133 <?page no="135"?> 54 Nicht zu verwechseln mit Stimmerkennung, dem biometrischen Verfahren zum Identifizieren von Sprecher: innen anhand ihrer Stimme. ● Stark unterschiedliche Hypotaxe (siehe Thormann’sche Treppenstufen (→-Kap. 4.2) ● Evtl. wurde ein Text von einer Gruppe - also von mehreren Verfasser: innen - geschrieben, von denen einer oder mehrere Deutsch als Muttersprache und andere Deutsch als Fremdsprache gelernt und sehr unterschiedliche Kompetenzen haben. Allerdings ist es bei solchen Gruppenkonstellationen oft so, dass die Person mit der höchsten Kompetenz Normverstöße derjenigen mit geringerer Kompetenz korrigiert. ● Evtl. wurde ein Text, der zunächst von einer Person verfasst wurde, später von einer anderen Person oder von mehreren Personen bearbeitet, weil jemand der Meinung war, es fehlten bestimmte Inhalte oder der Stil wäre zu verändern (freundlicher, strenger, bescheidener u. ä). ● In solchen Fällen, also der (gleichzeitigen oder sukzessiven) Bearbeitung eines Textes durch mehrere Personen, kann evtl. festgestellt werden, dass es sog. „Ausreißer“ (engl. „outliers“) gibt, einzelne auffällige Abweichungen („Variabilitäten“) vom grund‐ sätzlich vorherrschenden Stil. Als Vergleichstexte sind solche Texte ungeeignet. Wenn solche Eigenschaften bei einem inkriminierten Text vorzuliegen scheinen, wird ein Textvergleich, der dann mit von mehreren verdächtigen Verfasser: innen stammenden Vergleichstexten durchzuführen wäre, sehr schwierig. 3.6.4 Der Text wurde diktiert Viele Texte entstehen nicht, weil der/ die Verfasser: in sie tippt, sondern sie werden gespro‐ chen bzw. diktiert und mittels Spracherkennungssoftware 54 zu Text gemacht. Wenn dies bei einem inkriminierten oder auch zu Vergleichszwecken herangezogenen Text zu vermuten ist, ist der Grund sehr wahrscheinlich, dass der/ die Verfasser: in sich in Orthografie und Zeichensetzung unsicher fühlt. Der zweithäufigste Grund ist, dass die Person auch sonst in ihrem Leben Texte meist in ihr Handy spricht und nicht selbst tippt, und zwar, weil es angenehmer und schneller ist. Oft ist solchen diktierenden Textverfasser: innen nicht bewusst, welche Fehlerquellen es gibt. Beruflich genutzte Software kann bzgl. Fachaus‐ drücken und Aussprachevarianten trainiert werden, und durch KI-Einsatz wird auch die allgemein verfügbare Diktiersoftware trainiert, um Fehler wie diese zu vermeiden: ■ Nach dem Landgericht gab es ein Zitronensorbet. Nach dem Lammgericht gab es ein Zitronensorbet. war diktiert worden. ■ Der neutrale Entzündungsprozess im Rückenmark ist weit fortgeschritten. Es war diktiert worden Der neurale Entzündungsprozess im Rückenmark ist weit fortgeschritten. ■ Omi erkennt ihn. Es war diktiert worden Ömer kennt ihn. ■ Er sollte montags ein Treffen mit dem neuen Bewährungshelfer haben. Es war diktiert worden Er sollte Montag sein Treffen mit dem neuen Bewährungshelfer haben. ■ Das muss man unbedingt auf Decken und auf Insta posten. Es war diktiert worden Das muss man unbedingt aufdecken und auf Insta posten. 134 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="136"?> ■ Die Vorerkrankung des Patienten abgeschlossene Versicherung war uns nicht bekannt. Es war diktiert worden Die vor Erkrankung des Patienten abgeschlossene Versicherung war uns nicht bekannt. ■ Die Buchteilsgemeinschaften werden unter anderem in § 14a der am angegebenen Ort erwähnt. Diktiert worden war Die Bruchteilsgemeinschaften werden unter anderem in Paragraph 14a der AO erwähnt. Offensichtlich kannte die Spracherkennungssoftware a. a. O. (für am angegebenen Ort) und hat statt AO aaO verstanden. Da das KI-Training für Diktiersoftware auch stark Kollokationen beinhaltet, also die Wahr‐ scheinlichkeit des gemeinsamen Auftretens bestimmter Lexeme berücksichtigt, werden Fehler wie die obigen sicherlich bald der Vergangenheit angehören. Dies bedeutet jedoch auch, dass unübliche Ausdrucksweisen oft von der Software korrigiert werden und der entstehende Text um einige Diktierfehler bzw. idiolektale Besonderheiten bereinigt wird. 3.6.5 (Der) Text wurde übernommen Bestimmte Texte sind als Vergleichstexte sehr ungeeignet, weil sie nach Vorlagen bzw. Mustertexten erstellt werden, z.-B. typischerweise Testamente, Bewerbungsschreiben und Profiltexte. Es finden sich im Internet zahlreiche Vorlagen, Beispiele und Empfehlungen. Speziell Profiltexte von Dating-Plattformen entstehen oft so, dass die Person sich an ihrer Meinung nach ansprechenden Profiltexten anderer Nutzer: innen orientiert bzw. bereits vorhandene Profile anderer Nutzer: innen fast vollständig übernimmt. Um möglichst schnell und mühelos einen aussagekräftigen Profiltext zu erstellen, bietet sich auch das „Copy-Und-Paste“-Verfahren und Zusammensetzen bestimmter Textpassagen aus anderen Profilen an. Oft zeigen sich dann unterschiedliche Stile in einem Text, bzw. viele Profile folgen einem gleichbleibenden starreren Muster. 3.7 Elliptische Social-Media-Ausdrucksweise Speziell in Social-Media-Mitteilungen und in Chatbeiträgen in Internetforen wählen Ver‐ fasser: innen aus Gründen der Sprachökonomie eine knappe Ausdrucksweise, denn ● es eilt (bei der Informationsvermittlung); ● es kommt nicht auf eine schöne Ausdrucksweise an; ● die Verständlichkeit ist aufgrund der Verwendung eines gemeinsamen Soziolekts gewährleistet. Elliptische Ausdrucksweisen ● Ellipsen: Auslassung von Wörtern, auch Satzteilen (u. a. „Gapping“, z. B. Tim mag gern Margherita, ich Quatro stagioni.; nicht 2 x mag), primär aus sprachökono‐ mischen Gründen, z.-B. Nie wieder mit dem! ● Elisionen: Tilgungen, das Weglassen eines Sprachlauts, z.-B. Ich glaub nich. ● Zusammenziehungen (bzw. Zusammenschreibung von zwei [eigentlich separa‐ ten] Wörtern), z.-B. Das findich auch. 3.7 Elliptische Social-Media-Ausdrucksweise 135 <?page no="137"?> ● Kontraktionen (Zusammenziehung mit Verkürzung) bzw. Schmelzwörter, z. B. Das war am Dienstag., Komm mit ins Kino. ● Klitika (Zusammenziehungen und Verschleifungen) wie Er ist hinterm Haus. ● Satz(bau)brüche (Anakoluthe) (→-Kap. 3.21.3) ● Weglassungen von Wörtern (z. B. ein in Ich habe paarmal Probleme mit ihm gehabt.) ● Verkürzungen (Dann kam er raus. statt heraus) Man könnte nun sagen, dass ja bei elliptischen Ausdrucksweisen kaum Syntax vorhanden ist, die untersucht werden kann, und das könnte bedeuten, dass eine Authentizitätsfeststel‐ lung unmöglich wäre. Erstens ist es aber nicht so, dass keine Syntax vorhanden ist, und zweitens gibt es bei manchen Verfasser: innen erkennbare Muster bzgl. der Frage, was sie weglassen. Elliptischer Aussagesatz Es fehlt Es ist vorhanden Beispiel(e) Prädikat Subjekt Ich [sehe das] auch [so]. Du [bist/ heißt] Jane, ich [bin/ heiße] Tarzan. Prädikat Subjekt + ein Objekt Ich [liebe] dich auch. [Geben/ Bringen Sie mir] Ein Bier, bitte. Erst [kommt/ macht man] die Arbeit, dann [kommt/ folgt] das Vergnügen. Du [beobachtest/ übernimmst] das Eingangstor, ich [be‐ obachte/ übernehme] die Pförtner-Tür. Sie [kümmert sich um/ kümmerte sich um/ über‐ nimmt/ übernahm] die Kinder, ich [übernehme/ über‐ nahm/ kümmere/ kümmerte mich um] die Küche. Paul [fährt gern] in die Berge, ich [fahre gern/ lieber] an die See. Subjekt Prädikat + Prädikativ [Das] Is[t] klar. (Possessiv-)Prono‐ men + Prädi‐ kats-Teil (hier: Hilfsverb) Subjekt + Vollverb [Mein/ Unser] Kater [ist] entlaufen. Subjekt + Prädikat Objekt [Ich habe/ Ich gebe Ihnen] Keine Informationen! *1 [Ich wünsche [[Dir/ Euch/ Ihnen/ allen]] einen] Guten Morgen! [Ich wünsche [[Ihnen]] einen] Schönen Abend. [[Bei uns]] gibt es/ [[Bei uns]] bekommen Sie] Jede Menge gutes Wetter und leckere Cocktails. Subjekt + Prädikat Prädikativ [Das ist] Ganz schlecht! [Das ist] Zu teuer. [Das ist eine] Frechheit. [Das finde ich/ Das ist] Toll. [Das ist/ Es ist] Super! [Es ist] Scheiße, dass der das gesehen hat. 136 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="138"?> 55 Eine grammatikalische Verknappung, ursprünglich, um in Telegrammen Platz zu sparen. Elliptischer Aussagesatz Es fehlt Es ist vorhanden Beispiel(e) Subjekt + Prädikat Adverbial + Prädikativ Für den [ist das] kein Problem. Subjekt + Prädikat Adverb [Hier ist der Zutritt] Nur für Geimpfte [erlaubt]. Objekt Subjekt + Prädikat [Das] Kann der nicht. Artikel (hier: zum Subjekt) Subjekt + Prädi‐ kat + Prädikativ [Der] Patient ist einverstanden. Sonderfall elliptischer Imperativ bzw. Aufforderung Es fehlt Es ist vorhanden Beispiel(e) Prädikat ein Adverb [Mach] Schneller! . Prädikat Teil eines idioma‐ tischen Aus‐ drucks [Machen Sie sich/ Mach Dich/ Macht Euch] Ans Werk! Prädikat Adverbial + Ob‐ jekt Für mich [bringen Sie bitte] die Napoli. Prädikat Objekt [Bitte] keine kostenlosen Zeitungen und Werbung [ein‐ werfen]. Sonderfall elliptische Frage Es fehlt Es ist vorhanden Beispiel(e) Prädikat Subjekt + Adver‐ bial [Ist] Jemand da? Wer [ist] da? Prädikat Prädikativ [Ist hier] Noch jemand ohne Fahrschein? Subjekt + Prädikat Fragewort Was [hast/ willst Du] denn? Sprachökonomie mit elliptischen Ausdrucksweisen nicht nur in Social Media Um - nicht nur in Social Media - Zeit, Platz und Energie zu sparen, wird z. B. (teilweise konventionell) verkürzt bzw. staccato-artig bzw. dem Telegrammstil 55 ähnlich geschrieben: ■ Stand gestern Lieferung K2b nicht eingetragen. Stand gestern statt Gestern war es so, dass […] oder (Bis) gestern ist die Lieferung K2b nicht eingetragen gewesen oder […] worden. 3.7 Elliptische Social-Media-Ausdrucksweise 137 <?page no="139"?> ■ Kriegen wir bis kommendes Frühjahr in den Griff. Gemeint ist bis zum kommenden Frühjahr (am Rande bemerkt: mit dem kommenden Frühjahr im Dativ, weil die Präposition bis den Dativ verlangt). ■ Ich konnte mich null konzentrieren. Hier handelt es sich um die Ersetzung einer längeren Ausdrucksweise (wie z. B. gar nicht) durch eine kürzere. Dieses Phänomen ist allerdings deutlich öfter im Mündlichen als im Schriftlichen zu beobachten. In SMS kommen bestimmte Kürzel vor, z. B. sz (für schreib zurück), 8ung (für Achtung), GUK (für Gruß und Kuss), bb (für bis bald) usw. Es kann auch gespart werden, wenn die Situation bzw. der Kontext klar ist, z.-B. Bitte voll statt Bitte volltanken oder Bitte tanken Sie den Wagen voll. Auch in Geschäftskorrespondenz kommen häufig solche elliptischen Nebensätze vor, denen das Verb fehlt. Einen unvollständigen bzw. elliptischen Satz nennt man auch „Auslassungssatz”. ■ Weil Usus bei uns, bekam sie für ihren Vortrag eine Schachtel Pralinen. Vollständig würde das lauten: Weil das bei uns so Usus ist, bekam sie […] ■ Wie bereits telefonisch besprochen, schicke ich Ihnen anbei die Pläne. Vollständig wäre die Formulierung so: Wie wir es bereits telefonisch besprochen haben, schicke ich […]. ■ Wie zuvor bereits erwähnt, sehe ich hier noch großes Potenzial. Vollständig wäre die Formulierung so: Wie es zuvor bereits erwähnt wurde, sehe ich […] Weitere elliptische Ausdrucksweisen: ■ Sonst noch was? ■ Selbst Schuld. ■ Gute Nacht! ■ Schönen Tag noch. ■ Gerne. ■ Was nun? ■ Kannste mal das Salz? ■ Mit der nie wieder! ■ Bitte keine Beleidigungen! Es geht nicht darum, Komma-Regeln aufzulisten, denn hier ist nur interessant, ob ein/ e Verfasser: in in solchen Fällen eher ein Komma setzt oder nicht, aber bei solch elliptischen Ausdrucksweisen ist die Komma-Regel interessant: 138 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="140"?> Komma-Regel für elliptische Ausdrucksweisen am Satzanfang Bei elliptischen Wendungen wie wie telefonisch besprochen, wie bereits erwähnt gilt: ● Wenn die Wendung bzw. Phrase als „formelhaft” bzw. wie eine feststehende und oft genutzte feste Ausdrucksweise angesehen wird → kein Komma. ● Wenn die Wendung bzw. Phrase nur als praktische, zeitsparende Verkürzung der vollständigen Ausdrucksweise gesehen wird → Komma. Es steht dem/ der Verfasser: in also frei. Er/ sie kann die Wendung bzw. Phrase als „formel‐ haft“ sehen oder nicht. Wichtig ist, zu unterscheiden ● echte Ellipsen (jeweils produzierte Ellipsen, z.-B. mit Jan nie) ● Floskel-Ellipsen (z.-B. Alles Gute! ) Beides kann idiolektal sein, aber es kann interessant sein, welche Art der Ellipse evtl. häufiger produziert wird. Für die Authentizitätsfeststellung ist wichtig, wenn auffällt, dass ein/ e Textverfasser: in Ellipsen nicht register-konform verwendet. In Social Media oder in anderen kurzen Mitteilungen - auch auf Notizzetteln - ist elliptische Ausdrucksweise register-konform, nicht hingegen in offiziellen Anschreiben. Wenn ein Text viele nicht register-konforme elliptische Ausdrucksweisen enthält, ist wahrscheinlich, dass es sich um ein/ e jüngere/ n Verfasser: in handelt, typischerweise um eine/ n „digital native“, der/ die selten längere nicht-private Schreiben verfasst, sondern dessen/ deren schriftliche Kommunikation primär über Social-Media-Kanäle stattfindet. Elliptische Ausdrucksweisen aus anderen Gründen Es gibt auch andere als sprachökonomische Gründe, warum Verfasser: innen elliptische Ausdrucksweisen verwenden, und zwar primär, weil der/ die Verfasser: in ● sich bzgl. der korrekten Funktionswörter nicht sicher ist, ● meint, diese Ausdrucksweise sei in der gegebenen Kommunikationssituation ange‐ bracht, etwa weil der Sprachstil Zeitungsüberschriften (bzw. „Schlagzeile“ bzw. „Head‐ lines“) ähnelt, ● seine/ ihre Zugehörigkeit (oder Abgrenzung von) zu einer Peer-Group bzw. sozialen Gruppe zeigen möchte, wenn dort z.-B. immer „Öffis“ und „Info“ gesagt wird, ● meint, mittels elliptischer Ausdrucksweise eher inakzeptable semantische Inhalte vermitteln zu können und durch eine gewisse (etwaige vermeintliche) Subtilität weniger verantwortlich für einschüchternde Bedrohungen, Beleidigungen, Diffamie‐ rungen, Beschimpfungen (wissenschaftlich sog. „Maledicta“), Flüche, missbilligende, demütigende, erniedrigende, „indignierende“), „deprekatorische“ Ausdrucksweisen, Schmähungen usw. zu sein. Eine spezielle Art ist das sog. „Innuendo“ eine subtile oder indirekte Andeutung mit oft zweideutiger Bedeutung, bei der es sich auch um Insider-Hinweise in Texten handeln kann (z. B. illegale Insiderinformationen über 3.7 Elliptische Social-Media-Ausdrucksweise 139 <?page no="141"?> bevorstehende Veränderungen im Aktienmarkt und somit Tipps zum Aktien[ver]kauf), was für die forensische Linguistik von Interesse ist. Hintereinander gereihte, unverbundene und durch Komma getrennte Satzelemente, die zunächst wie eine Aufzählung anmuten, nennt man asyndetisch. Das dazugehörige Substantiv für dieses sprachliche Phänomen ist Asyndeton, das normalerweise eine Bezeichnung für ein rhetorisches Stilmittel ist, und zwar die Reihung unverbundener (meist gleichwertiger) Elemente (wie eine Aufzählung) wie in Wasser, Feuer, Erde, Luft - ewig werden sie bestehen. Für die Zwecke dieses Buches erweitere ich die Bedeutung von Asyn‐ deton etwas und verwende diese Bezeichnung für alle Arten von aneinandergereihten, unverbundenen Satzelementen bzw. Phrasen und auch Einzelwörtern wie in ■ Wir fuhren keine Ahnung hinterher und Ahmet mit aber Plan war verkaufen so wollten die das es ist ihr Leben. ■ Die Red Devils kamen, schrien rum, die Treppe rauf, Messer in der Hand. 3.8 Gegenderter Text Einleitend wurde bereits darauf hingewiesen, dass in diesem Buch geschlechtergerechte Sprache verwendet wird („gegendert“ wird), allerdings nicht in Fällen, in denen der Lesefluss allzu sehr behindert würde. Unter allen Varianten habe ich für dieses Buch die Kombination aus Schrägstrich und Binnen-Doppelpunkt gewählt (den Binnen-Doppel‐ punkt, denn er wird von der gängigen Vorlesesoftware für sehbehinderte Menschen als kurze Pause (Gender-Gap) gelesen und ist für diese Rezipient: innen als Gender-Marker hörbar. Bei der Authentizitätsfeststellung ist es interessant, ob ein/ e Verfasser: in seinen/ ihren Text gendert, welche Methode er/ sie wählt oder ob er/ sie sich nicht auf eine Methode beschränkt, sondern (in bestimmten Fällen auf eine bestimmte Weise) wechselt bzw. auswählt unter den Varianten, zu denen vorrangig gehören: Schrägstrich beim Artikel wie der Lehrer/ die Lehrerin, ohne Artikel wie Lehrer/ -in; Klammer wie Fahrer(in); Binnenmajuskel bzw. „Binnen-I“ wie BewerberIn; Gendergap wie Maler_in, Gendersternchen wie Direktor*in; Hinweis in Klammer wie [m/ w/ d]; Ersatzformen wie substantivierte Partizipien, z. B. die Studierenden; Abkürzung des Artikels wie d. Kranke, d. Erziehungsberechtigte; x-Endung wie Schülerx, y-Endung wie Schülery, (Doppel-)Punkt wie Fahrer.in, Mediopunkt wie Fahrer·in. Manche Methoden sind bei bestimmten Satzkonstruktionen „ungünstig“ für den Lesefluss, den niemand stark behindert wissen möchte: ■ Es ist ratsam, den Blumenhändler bzw. die Blumenhändlerin zu bitten, bei dem/ der, dem/ der der Verband einen Geburtstags-Blumenstrauß schicken soll, anzurufen und nicht „auf gut Glück“ liefern zu lassen, denn der-/ diejenige ist eventuell nicht zu Hause. Erfahrungsgemäß gendern Verfasser: innen von inkriminierten Texten nicht, zumindest haben sie das in den Texten, die ich in den Jahren 2010 bis 2023 zu sehen bekam, nicht getan. Die Vergleichstexte waren auch nicht gegendert, was nicht überrascht. Die Verfasser: innen verwenden, auch wenn das Geschlecht einer angesprochenen oder erwähnten Person 140 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="142"?> unklar ist, meist die maskuline Form bzw. die Form, wie sie üblicherweise verwendet wird, z.-B. ■ Ihr Politiker seid alle egoistische, ignorante Arschlöcher. nicht Ihr Politiker und Politikerinnen seid alle egoistische, ignorante Arschlöcher. ■ Wenn ich mich richtig erinnere, hielt er in der Wohnung eine Katze. nicht Wenn ich mich richtig erinnere, hielt er in der Wohnung eine Katze bzw. einen Kater. ■ Es wurde gefragt, ob ein Arzt an Bord war. nicht Es wurde gefragt, ob ein Arzt oder eine Ärztin an Bord war. Ein interessantes Phänomen, weil es idiolektal sein kann, ist das Gendern nicht nur bei Artikeln für Personen (oft Berufsbezeichnungen), sondern in Nebensätzen, speziell in Relativsätzen nach Pronomen wie jemand oder jeder, also Ausdrucksweisen wie Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der/ die so gut Klavier spielen kann. oder Jeder, der/ die mithelfen will, ist willkommen. Dieses Buch enthält im Zusatzwissen-Kapitel (→ Kap. 8) eine Abhandlung über die Varianten des „Genderns“ (→ Kap. 8.1), also über die verschiedenen Optionen der ge‐ schlechtergerechten Sprache bzw. Schrift (Beid-Nennung, Binnen-I, Gender-Sternchen, Schrägstrich, Klammer-Zusatz usw.). 3.9 Strategie „gebildet wirken“ Der folgende Satz ist ein konstruiertes Beispiel, das diverse typische Kunstgriffe enthält, mit denen Verfasser: innen versuchen, gebildet zu wirken. ■ Nachdem ich mein Mantel in den Schrank gehangen habe betrieb ich mit dem eremitierten Professor fast eine halbe Stunde Konservation und es erfolgte seine Überzeugung durch mich das die Ausländer nicht noch besser intrigiert werden brauchen. Die Bemühung zeigt sich nicht lediglich an der Verwendung bestimmter Lexeme, sondern auch an der Formulierung komplexer Ausdrucksweisen. Statt Das weiß ich nicht. wird Das entzieht sich meiner Kenntnis. formuliert. Wenn der/ die Verfasser: in, der/ die sehr darum bemüht ist, sich gebildet auszudrücken, die Wahl zwischen Nominalstil und Verbalstil hat, wählt er/ sie den Nominalstil. Von diesen beiden Sätzen ■ Die Gäste wurden im gelben Saal begrüßt. ■ Die Begrüßung der Gäste erfolgte im gelben Saal. bevorzugt er/ sie folglich den zweiten. Ausdrucksweisen mit simplen Verben (oder Adjektiven) werden vermieden; bevorzugt werden umständliche Formulierungen. Von diesen beiden Sätzen ■ Meine Mitarbeiterin Frau Seidel wird Sie anrufen. ■ Meine Mitarbeiterin Frau Seidel wird mit Ihnen telefonischen Kontakt aufnehmen. wird die letztere Variante bevorzugt; so auch bei den folgenden zwei Satzpaaren: 3.9 Strategie „gebildet wirken“ 141 <?page no="143"?> ■ a. Es ist besser, eine Pause zu machen, wenn man müde wird. ■ b. Es ist besser, eine Pause zu machen, wenn man ermüdet. ■ a. Das glaube ich nicht. ■ b. Das halte ich für ein Gerücht. Das mit dem Bemühen, gebildet zu wirken, meist einhergehende starke Bemühen um Korrektheit führt oft zu Fehlern. Beim folgenden Beispiel kommt es zu einem falschen Rückbezug (anaphorischer Verweis) des Possessivpronomens dessen und somit zu Inkongruenz: ■ Es geht hier um Diebstahl von Materialien und dessen Veräußerung an Dritte. Es müsste deren statt dessen heißen, denn sicherlich werden die Materialien veräußert und nicht der Diebstahl. Im lexikalischen Bereich, also bei dem Bemühen um gebildet wirkende Lexeme, werden Wörter in Sätze „eingestreut“, z.-B. mitunter. Außerdem werden längere Ausdrucksweisen und der Nominalstil gewählt wie Es besteht dringender Handlungsbedarf Ihrerseits. statt Sie sollten jetzt besser sofort etwas tun. - immer vorausgesetzt, dass es sich bei der Ausdrucksweise nicht um eine Registerentspre‐ chung handelt. Besonders auf ihre Wirkung als „gebildet“ bedachte Verfasser: innen bemühen sich sogar, Bezüge zur Weltliteratur in das, was sie sagen bzw. schreiben, einfließen zu lassen, machen jedoch dann oft kleine Fehler, z.-B.: ■ Dieses Flittchen benimmt sich wie die bekannte Karmeliendame. Das ist eine Anspielung auf den Roman von A. Dumas, aber die Blume, nach der die Dame benannt ist, heißt Kamelie (ohne das „r“). Auch Verfasser: innen, die selbst oft Smileys verwenden, passiert es, dass sie schreiben ■ Er benutzt immer einen Smily am Ende von jedem Post. Das englische Wort schreibt man korrekt „Smiley“. ■ Meine Wahl viel nach vielen Erwägungen zu guter Letzt auf eine grüne Weste. Der Fehler viel statt fiel wäre sicherlich nicht passiert, wenn der/ die Verfasser: in nicht so sehr um „gebildete“ Ausdrucksweise bemüht wäre (denn dann hätte er/ sie z. B. geschrieben Ich habe […] eine grüne Weste gewählt/ gekauft.) Auch bei der Interpunktion passieren Fehler wie z.-B. ■ Die Prüfung kannst Du nicht schaffen ohne, dass du dich anstrengst. Korrekt wäre das Komma vor dem ohne, denn ohne ist Teil des modalen Adverbialsatzes (einer Art „Dass-Satz“, der wegen des „ohne“ nicht als „Dass-Satz“ erkannt wird). Zu Fehlern von Verfasser: innen, die ihre sprachlichen Fähigkeiten überschätzen, gehört auch, dass sie ein falsches Wort in Anführungszeichen setzen und beispielsweise schreiben: 142 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="144"?> ■ Ich kriege ein „sogenanntes“ P-Konto. Auch die starken Bemühungen um eine einem bestimmten Register (z. B. Verwaltungsspra‐ che) entsprechende Ausdrucksweise führt leicht und häufig zu Fehlern, die im folgenden Kapitel erläutert werden. 3.9.1 Kunstgriff: Ersetzungen, „gebildete“ Wörter und Wendungen Zu den Strategien bzw. Kunstgriffen der Verfasser: innen, die sehr bemüht sind, sich gebildet auszudrücken, gehört auch, bestimmte Wörter durch solche zu ersetzen, mit deren Verwendung man ihrer Meinung nach auf den/ die Leser: in „gebildet“ wirkt. Sie haben sie von anderen Sprecher: innen bzw. Verfasser: innen, die sie als „gebildet“ einstufen, gehört bzw. gelesen, z. B. Er hat sich missverständlich ausgedrückt. und bemühen sich, diese Ausdrucksweisen zu übernehmen, machen jedoch mitunter kleine Fehler wie z. B. Er hat sich missverständig ausgedrückt. Die häufigsten Ersetzungen sind (in der folgenden Liste nicht nach Häufigkeit, sondern alphabetisch geordnet): ■ aufgrund statt wegen ■ bedauerlicherweise statt leider ■ benötigen statt brauchen ■ bereits statt schon ■ bereits statt schon ■ bisweilen statt manchmal ■ dennoch statt trotzdem ■ derzeit statt jetzt ■ ein wenig statt ein bisschen ■ ebenfalls statt auch ■ erhalten statt bekommen bzw. kriegen ■ eventuell statt vielleicht ■ ferner statt außerdem ■ gemeinsam statt zusammen ■ genügen statt reichen ■ häufig statt oft ■ im Nachgang statt danach ■ jedoch statt aber ■ korrekt statt richtig ■ missverständlich statt unklar ■ mittlerweile statt inzwischen ■ niemand statt keiner ■ noch immer statt immer noch ■ obgleich statt obwohl ■ sämtliche statt alle ■ Schreiben bzw. Brief 3.9 Strategie „gebildet wirken“ 143 <?page no="145"?> 56 Fehler wie Wir lassen ihn nicht mitmachen, denn er es nicht kann. kommen fast nie vor. ■ sofern bzw. falls statt wenn ■ ständig statt dauernd bzw. immerzu ■ stets statt immer ■ tatsächlich statt wirklich ■ vorrangig bzw. primär statt hauptsächlich ■ wohlhabend statt reich ■ zügig statt schnell ■ zugegen statt da bzw. hier Viele solcher Verfasser: innen ersetzen die Konjunktion weil durch die Konjunktion da oder denn (z.-B. Wir lassen ihn nicht mitmachen, weil er es nicht kann. wird zu Wir lassen ihn nicht mitmachen, da er es nicht kann. oder Wir lassen ihn nicht mitmachen, denn er kann es nicht.) Das hat aber oft zur Folge, dass der/ die Verfasser: in kein Komma davor setzt, weil er/ sie einen mit da oder denn eingeleiteten kausalen Adverbialsatz nicht als Nebensatz erkennt. Das liegt daran, dass es das Lexem weil nur mit der Funktion der Konjunktion gibt, und man hat in der Schule gelernt, dass vor weil (und auch nach einem Nebensatz, der mit weil beginnt) ein Komma stehen muss. Die Lexeme da oder denn gibt es aber auch noch mit anderen Funktionen, bei denen kein Komma zu setzen ist (z. B. Er ist da schon ein paarmal gewesen. oder Hast Du denn Deinen Kontrollgang heute schon gemacht? ). Folglich muss der/ die Verfasser: in sich, wenn er/ sie sie verwendet, immer darüber klar sein, in welcher Funktion er/ sie sie im jeweiligen Fall verwendet und ob ein Komma zu setzen ist oder nicht. Wenn ein Text kaum oder keine Inzidenzen von „weil“ hat, hingegen viele von „da“, kann es sich um eine solche (idiolektale) Ersetzungsstrategie handeln. Wenn hingegen auffällig viele Inzidenzen von „denn“ (statt „weil“) mit darauf folgender korrekter syntaktischer Struktur, also Hauptsatz-Struktur mit dem Prädikat bzw. seinem ersten Element an Stelle 2 auffallen (also Wir lassen ihn nicht mitmachen, denn er kann es nicht. 56 ) kann es auch sein, dass der/ die Verfasser: in die Hauptsatzkonstruktion im kausalen Adverbialsatz bevorzugt, die ja durch die Verwendung von denn (statt weil oder denn) ermöglicht wird, und das ist in Bezug auf den Idiolekt besonders interessant. Manche solcher Verfasser: innen kaufen sich Bücher oder sehen sich im Internet Texte mit Titeln wie „Wie wirke ich gebildet? “ an oder „Bildungswörter für Sie“, „Die wichtigsten 20 Wörter, mit denen Du gebildeter wirkst“ oder „Mit diesen Sprachtricks schreibst Du wie ein Intellektueller“. Hier weitere typische Ersetzungen in Satzbeispielen: Satz in „normaler“ Umgangssprache mit umgangssprachlichen Ausdrücken Satz mit Bildungswörtern bzw. -ausdrü‐ cken Fast alle Menschen haben Angst vor Spinnen. Nahezu alle Menschen haben Angst vor Spin‐ nen. Nur eine Person hat sich für die Stelle beworben. Lediglich eine Person hat sich für die Position beworben. 144 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="146"?> Satz in „normaler“ Umgangssprache mit umgangssprachlichen Ausdrücken Satz mit Bildungswörtern bzw. -ausdrü‐ cken Jetzt gerade befasse ich mich mit anderen Sa‐ chen. Derzeit befasse ich mich mit anderen Dingen. Alle Daten wurden sorgfältig analysiert. Sämtliche Daten wurden sorgfältig analysiert. Das weiß ich nicht. Das entzieht sich meiner Kenntnis. Er hat es trotzdem getan. Er hat es dennoch getan. Sie ist leider krank geworden. Sie ist bedauerlicherweise krank geworden. Tim war da. Tim war zugegen. Die Vernehmung wurde wegen seiner Verspä‐ tung verschoben. Die Vernehmung wurde aufgrund seiner Verspä‐ tung verschoben. Lassen Sie uns bitte darüber sprechen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir uns hierzu austauschen könnten. Ich habe es keinem erzählt. Ich habe es niemandem erzählt. Das ist nun vorbei. Das gehört nun der Vergangenheit an. Sie hat einen gefunden, der ihr Geld geliehen hat. Sie hat jemanden gefunden, der ihr Geld gelie‐ hen hat. Dieses Hotel bietet einen sehr guten Service. Dieses Hotel bietet einen Service par excellence. Das verstehe ich nicht. Das erschließt sich mir nicht. Die geänderten Öffnungszeiten liegen an dem Personalmangel. Die geänderten Öffnungszeiten sind dem Perso‐ nalmangel geschuldet. Würden Sie mich bitte darüber informieren? Würden Sie mich bitte darüber in Kenntnis set‐ zen? Das verstehe ich nicht. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Tab. 17: Beispiele für Ausdrucksweisen, die gebildet wirken sollen Es gibt Verfasser: innen, die Wörter aufschnappen, die sie „schick“ finden oder von Personen hören, die sie „schick“ finden. Sie wollen diese Wörter dann später selbst verwenden, aber es unterlaufen ihnen Normabweichungen, weil sie entweder nicht richtig hingehört oder es falsch abgespeichert haben. ■ Die warn auf Malle inner Finka mit einen Finity-Pool. Gemeint ist sicherlich ein Infinity-Pool. ■ Er konnte ihr gute Paroli bieten. Das Wort Paroli klingt zwar, als wäre es die Mehrzahl von etwas, und ursprünglich war es auch so (die Wiederholung von einem gleichen Einsatz bei einem Spiel), aber der eingebürgerte Ausdruck lautet jmdm. Paroli bieten, wobei das Substantiv Paroli keinen Artikel hat. Wahrscheinlich ist der obige Satz so gemeint: Er konnte ihr gut Paroli bieten., 3.9 Strategie „gebildet wirken“ 145 <?page no="147"?> und evtl. steht das „e“ dort aus Versehen, d.-h., es handelt sich um einen Performanzfehler (und nicht um einen Kompetenzfehler). Ein weiteres Beispiel: „Nazist“ und „Narzisst“: ■ Der ist ein richtiger Nazist und glaubt, er ist der schönste und klügste. Vermutlich ist gemeint „Narzisst“; eine im Rahmen der deutschen Wortbildung sehr ungewöhnliche Schreibweise für einen Menschen, der unter „Narzissmus“ leidet. ■ Der hat richtige narzisstische Züge; seine Eltern haben auch jedes Jahr Hitlers Geburstag gefeiert. Vermutlich ist so etwas wie „Nazi-Eigenschaften“ gemeint, also Anzeichen für eine natio‐ nalsozialistische bzw. Hitler-faschistische Gesinnung. Wenn die Eltern Hitlers Geburtstag gefeiert haben, ist sicherlich eher gemeint, dass sie bzw. auch deren Sohn Nazis waren und nicht Narzissten, also Menschen mit einer starken Selbstverliebtheit. Viele dieser so sehr um „gebildete Ausdrucksweise“ bemühten Verfasser: innen gewöhnen es sich auch an, bestimmte Einzellexeme und/ oder auch Phrasen in ihre Sätze „einzustreuen“, z.-B. mitunter, schlechthin u. Ä. Noch ein Beispiel: Traum und Trauma bzw. die einschlägigen Adjektive: ■ An dem Urlaub war besonders schön, dass wir in der letzten Woche noch ein paar ruhige, traumatische Tage an der Küste hatten. Hier meint der/ die Verfasser: in offensichtlich das Wort traumhaft. Er/ sie weiß vermutlich nicht, dass das ursprünglich griechische Wort Trauma Verletzung bedeutet - und dass folglich das Adjektiv traumatisch verletzend bzw. Verletzungen erzeugend bedeutet. Auch Fehler wie das Verwechseln ähnlich klingender und aussehender Wörter wie z. B. tätlich und tätig unterlaufen besonders bemühten Verfasser: innen leicht: ■ Er hat ihn tätig angegriffen. ■ Sie ist im Bereich der biologischen Forschung tätlich. 3.9.2 Kunstgriff: viele Fremdwörter Eine typische Strategie der Verfasser: innen, die möglichst gebildet wirken möchten, ist die Verwendung von Fremdwörtern, speziell aus dem Französischen, Lateinischen und Griechischen. Sie schreiben und/ oder verwenden sie dann jedoch häufig falsch bzw. verwechseln sie miteinander. In den folgenden Beispielen sind die Fehler offensichtlich (und nicht farbig hervorgehoben): ■ Wers glaubt wird sehlich. ■ Er hatte Corona, aber gar keine Syntome. ■ Zum Prosecco werden wir den Gästen Odövers reichen. ■ Er ist an einer Säpsis gestorben und nicht an Pnäumonie. ■ Er trinkt morgens immer Cappuchino. ■ Er ist ein echter Gentlemen. ■ Mostar war mal eine sehr piktoreske Stadt. ■ Herr Berger hat profane Kenntnisse in Homöopartie. 146 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="148"?> ■ Er verwendet ästetische Öle zum Einreiben, die schon im Mittelalter von Hildegard von Bingen verwendet wurden. ■ Das ist histologisch belegt. Wenn ein/ e Textverfasser: in die Ausnahmen beim Singular und Plural von Lexemen nicht kennt, die aus dem Lateinischen oder Italienischen stammen, passieren solche Fehler: ■ Die Ärzte haben ihm Antibiotikas gegeben. ■ Er macht seit zwei Jahren immer nur Praktikas. ■ Er war Banker und hat dauernd Bonis ausgezahlt bekommen. Oder sie verwenden einen Plural als Singular: ■ Du bist ja wie ein Mafiosi. ■ Er hat hinter dem Auto gehockt und fotografiert und hat sich benommen wie ein Paparazzi. ■ Braucht man für Thailand eigentlich ein Visa? oder der/ die Verfasser: in zeigt mit dem Gebrauch eines Fremdwortes, dass er/ sie die Bedeutung nicht kennt: ■ Sein Geschäft wird oft frequentiert. Diese Fehler schränken die Verständlichkeit nicht ein, aber sie erlauben Rückschlüsse auf den Bildungsstand, die Sozialisation und teilweise auch auf die Lebensführung. Jemand, der beruflich oder privat mit Journalismus zu tun hat, weiß, dass Paparazzi immer mehrere sind. Bei jmdm., der in seinem Leben einmal oder mehrmals in Italien gewesen ist, könnte man vermuten, dass er weiß, dass die Endung „i“ an italienischen Wörtern den Plural anzeigt. 3.9.3 Kunstgriff: Funktionsverbgefüge Das Verwenden von Funktionsverbgefügen (in der Linguistik abgekürzt als FVG) ist besonders bei solchen Verfasser: innen zu beobachten, die viele Schriftsätze gelesen haben, weil Funktionsverbgefüge besonders oft von Jurist: innen verwendet werden. Funktionsverbgefüge (auch „Streckverben“ genannt) sind Konstruktionen, bei de‐ nen sich Verben, die allein nicht viel Bedeutung haben, mit einem Substantiv zu einer Phrase zusammentun; dann ersetzt z. B. das Funktionsverbgefüge in Augenschein nehmen das aktive Verb ansehen und in Erwägung ziehen das aktive Verb erwägen. Bei Verb-Adverb-Gefügen tut sich - in ähnlicher Weise - ein Verb mit einem Adverb zusammen (unterschriftlich vollziehen statt unterschreiben). 3.9 Strategie „gebildet wirken“ 147 <?page no="149"?> Satz mit Funktionsverbgefüge Satz mit aktivem Verb Er zog eine Messung der Temperatur in Erwä‐ gung. Er erwog, die Temperatur zu messen. Er hat die Tat zur Anzeige gebracht. Er hat dieTat angezeigt. Die in Absatz 3 vorgesehene Aufforderung zur Duldung der Zwangsvollstreckung ist in jedem Fall unterschriftlich zu vollziehen. Die […] muss […] unterschrieben werden. oder Die […] müssen Sie […] unterschreiben. Der Vertrag wurde unterschriftlich vollzogen. Der Vertrag wurde unterschrieben. Tab. 18: Beispiele für Funktionsverbgefüge Es gibt auch einige Funktionsverbgefüge, die nicht durch ein aktives Verb ersetzt werden können (in Kraft treten) bzw. die sich eines Kopula-Verbs bedienen müssten (gültig werden). Außerdem sind nicht alle Verb-Adverb-Gefüge eine unnötige Streckung. Beispielsweise hat der Ausdruck „missbräuchlich verwenden“ (z. B. Investitionszuschüsse) seine Daseins‐ berechtigung, denn er hat eine ganz andere Bedeutung als das Verb „missbrauchen“ (z. B. Kinder); beide werden für zwei verschiedene Objekte verwendet. Eine andere Spielart ist die Substantivierung (Nominalisierung) von Funktionsverbgefügen. ■ Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes dauerte es über ein Jahr. statt Es dauerte über ein Jahr, bis das Gesetz in Kraft trat. ■ Die Inaugenscheinnahme des Betriebes war angeordnet worden. statt Es war angeordnet worden, den Betrieb anzusehen (bzw. in Augenschein zu nehmen). 3.9.4 Kunstgriff: Satzanfang nicht mit dem Subjekt Viele Verfasser: innen glauben, sie würden besonders gebildet wirken, wenn sie ihre Sätze nicht mit dem Subjekt beginnen lassen. Selbstverständlich gibt es andere Gründe, z. B. das Bestreben, einen Text nicht „langweilig“ wirken zu lassen und daher beim Satzanfang zu variieren. Das ist beim Herausarbeiten des Idiolekts in der Authentizitätsfeststellung zu berücksichtigen, indem die Satzanfänge der Sätze davor und danach und die Anzahl der Sätze im Text beachtet werden. Satzbeispiel Satzanfang Durch eine fristgerechte Zahlung vermeiden Sie die Beitreibung des geschuldeten Betrages im Wege einer Zwangsvollstreckung. Adverbial (modal, Präpositionalphrase) Diesen Mann kenne ich nicht. Objekt Wer das war, weiß ich nicht. Objekt in Form eines Nebensatzes (Objektsatz) Leider hatte er die Akte nicht dabei. Adverbial (modal, Adverb) 148 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="150"?> Satzbeispiel Satzanfang Wenn Sie bis zum 1. Mai buchen, sparen Sie 20 %. Adverbial (konditional, Nebensatz) Trotz der erschlagenden Beweislage leugnete er die Tat weiterhin. Adverbial (konzessiv, Präpositionalphrase) Aufgrund der Verspätung der Lieferung kam es zu Verzögerungen beim Bau. Adverbial (kausal, Präpositionalphrase) Am frühen Abend hatte er es endlich geschafft. Adverbial (temporal, Präpositionalphrase) Der Tat war eine genaue Beobachtung der Bank vorausgegangen. Objekt Über unser Gespräch werden wir dann ein Pro‐ tokoll anfertigen. Präpositionalobjekt Wie viele Opfer es gab, weiß ich nicht. Subjektsatz Ihm dort zu begegnen, hat ihm Angst gemacht. Subjektsatz Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Subjektsatz Tab. 19: Beispiele für Satzanfänge Hier ein Beispiel für einen ganzen Text, bei dem kein Satz mit dem Subjekt beginnt: Als Projektleiter erwirtschafteten wir bei fast allen Projekten mehr als kalkuliert war. Durch günstigeres Einkaufen, rentable Nachtragsstellung und clevere Abwicklung war das möglich. Im Mai setzten wir uns dann noch einmal zusammen und arbeiteten die Rahmenbedingungen aus. Nach einem Zwischenfall mit einem unzufriedenen Kunden und weiteren Unstimmigkeiten gerieten wir immer mehr in Verdacht. Gewisse Mindermengen konnten nicht erklärt werden. Als Herr Fuchs im Juli bei drei laufenden Projekten genauer nachrechnete, zog ich die Reißleine und kündig-te, aber ich schob scheinheilige andere Gründe vor. Doch sollte sich bald herausstellen, dass er gelogen hatte. Nur durch ein Offenlegen des Betrugs war es möglich, Gerechtigkeit herzustellen. Wenn in einem Text alle oder die meisten Sätze nicht mit dem Subjekt anfangen, ist das interessant für die Authentizitätsfeststellung, denn das ist meist idiolektal. 3.9.5 Kunstgriff: Nominalstil mit dem Verb „erfolgen“ Ein häufiges Vorkommen des Verbs „erfolgen” in einem Text kann ein Hinweis auf das sein, was ich „billigen Nominalstil” nenne. Es geht um einen Nominalstil, der nicht notwendig ist, um das Gemeinte auszudrücken, sondern der formuliert wird, weil der/ die Verfasser: in meint, er/ sie wirke mit solchen Formulierungen gebildet. 3.9 Strategie „gebildet wirken“ 149 <?page no="151"?> Bei vielen Vorkommensfällen von erfolgen ist es so, dass das Verb eines Passiv-Satzes (z. B. Die Besucher wurden im angemieteten großen Festzelt beköstigt.) zum Substantiv gemacht wurde (Substantivierung bzw. Nominalisierung), der Satz dann jedoch kein Prädikat mehr hat, und es wird das Verb erfolgen eingesetzt (Die Beköstigung der Besucher erfolgte im angemieteten großen Festzelt.). Oft war der Passiv-Satz bereits eine Konversion eines ursprünglichen Aktiv-Satzes (z. B. Wir beköstigten die Besucher im angemieteten großen Festzelt.). Hier einige Beispiele von Sätzen, die ohne das Verb erfolgen auskommen, die jedoch von bestimmten Verfasser: innen bevorzugt und auffällig häufig mit erfolgen konstruiert werden. Satz ohne erfolgen Satz mit erfolgen Die Teilnehmer haben sich online angemeldet. Die Anmeldung der Teilnehmer erfolgte online. Die Gäste wurden im gelben Saal begrüßt. Die Begrüßung der Gäste erfolgte im gelben Saal. Wir haben Ihnen letzte Woche eine förmliche Entschuldigung geschickt. Die Zusendung einer förmlichen Entschuldigung an Sie erfolgte letzte Woche. Zukünftig werden unsere Führungskrafte nach den erwirtschafteten Ergebnissen und nach ih‐ rem Führungsverhalten bewertet. Zukünftig wird die Bewertung unserer Füh‐ rungskräfte sowohl nach den erwirtschafteten Ergebnissen wie auch nach ihrem Führungsver‐ halten erfolgen. Tab. 20: Sätze mit und ohne „erfolgen“ Die Untersuchung eines Textes oder mehrerer Texte auf die Häufigkeit der erfolgen-Inzi‐ denzen - für einen ersten Eindruck! - mithilfe einer Konkordanz-Software (z. B. AntConc) kann so aussehen: Wichtig ist, nach „erfolg“ zu suchen, damit die Software sämtliche Flexionsformen des Verbs auflistet. 150 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="152"?> 57 Die Arten der adverbialen Nebensätzen (es sind 9 bzw. 11 - je nachdem, ob man gruppiert oder nicht) sind: adversativ + konzessiv, final, instrumental, kausal, konditional, konsekutiv, lokal, modal + komparativ, temporal. Danach wäre festzustellen, ob es sich um Konstruktionen handelt, die - wie im Fall der obigen Beispielsätze - auch ohne das Verb erfolgen auskämen. Dies ist ein gutes Beispiel für das sinnvolle Zusammenwirken von quantitativen und qualitativen Methoden. 3.9.6 Kunstgriff: uneingeleitete Konditionalsätze Ein uneingeleiteter Nebensatz (zur Bezeichnung „Nebensatz“ → Kap. 8.13.2) hat keine Konjunktion am Anfang; er wird also nicht eingeleitet durch wenn, falls, sofern, dass, nachdem, weil usw. Uneingeleitete Nebensätze sind typisch für Fachsprachen. Unter allen uneingeleiteten adverbialen Nebensätzen 57 ist der uneingeleitete Konditionalsatz der häufigste (der zweithäufigste ist der uneingeleitete Dass-Satz). Es fällt auf, dass Verfasser: innen, die sehr wahrscheinlich viele von Jurist: innen geschrie‐ bene Texte gelesen haben (also Schriftsätze, Urteile usw., etwa weil sie selbst mehrmals An‐ geschuldigte bzw. Angeklagte gewesen sind), in ihren eigenen Texten oft Konditionalsätze ohne Konjunktion (also ohne wenn, falls und sofern), also uneingeleitete Konditionalsätze, formulieren. Beispiele: uneingeleiteter Konditionalsatz mit der Konjunktion wenn eingeleite‐ ter Konditionalsatz Wollen Sie Ihre Tochter wiedersehen, schalten Sie nicht die Polizei ein. Wenn Sie Ihre Tochter wiedersehen wollen, schalten Sie nicht die Polizei ein. Hättest Du etwas eher angerufen, wäre das nicht passiert. Wenn Du etwas eher angerufen hättest, wäre das nicht passiert. Wären das meine Blagen, würde ich das nicht erlauben. Wenn das meine Blagen wären, würde ich das nicht erlauben. Stellen Sie während der Eingabe Fehler fest, notieren Sie sie bitte, damit wir sie später korri‐ gieren können. Wenn Sie während der Eingabe Fehler feststel‐ len, notieren Sie sie bitte, damit wir sie später korrigieren können. Ist sich der Sitzungsvorstand über eine Mehrheit uneins, so wird der „Hammelsprung“ angeord‐ net. Wenn sich der Sitzungsvorstand über eine Mehr‐ heit uneins ist, wird der „Hammelsprung“ ange‐ ordnet. Mischt man Blau mit Gelb, ergibt das Grün. Wenn man Blau mit Gelb mischt, ergibt das Grün. Kommt der Vertragspartner mit den Zahlungen in Verzug, werden Verzugszinsen fällig. Wenn der Vertragspartner mit den Zahlungen in Verzug gerät, werden Verzugszinsen fällig. Hätte ich ihn nicht gewarnt, wäre er auf den Lügner reingefallen. Wenn ich ihn nicht gewarnt hätte, wäre er auf den Lügner reingefallen. Haben zwei Spieler die gleiche niedrigste Karte, müssen beide zahlen. Wenn zwei Spieler die gleiche niedrigste Karte haben, müssen beide zahlen. 3.9 Strategie „gebildet wirken“ 151 <?page no="153"?> uneingeleiteter Konditionalsatz mit der Konjunktion wenn eingeleite‐ ter Konditionalsatz Amüsiert sich das Volk, kümmert es sich nicht um Politik. Wenn sich das Volk amüsiert, kümmert es sich nicht um Politik. Wäre nicht gerade Wahlkampf, hätte er nicht so geredet. Wenn nicht gerade Wahlkampf wäre, hätte er nicht so geredet. Sind der Begriff der „Vergabe“ in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 92/ 50/ EWG und der Begriff „ver‐ geben“ in Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/ 50/ EWG dahin auszulegen, dass sie auch Sachverhalte umfassen, bei denen ein öffentlicher Auftragge‐ ber mit den Dienstleistungserbringern während der Geltungsdauer eines auf unbestimmte Zeit mit diesen zur gemeinsamen Dienstleistungser‐ bringung abgeschlossenen Vertrags im Wege einer Vertragsänderung einerseits einen zum Zeitpunkt der Neuvereinbarung nicht mehr gel‐ tenden Kündigungsverzicht erneut für drei Jahre vereinbart, so gilt bei einer Vertragsänderung eine höhere Rabattierung für gewisse mengen‐ abhängige Entgelte für einen bestimmten Leis‐ tungsbereich. Wenn der Begriff der „Vergabe“ in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 92/ 50/ EWG und der Begriff „vergeben“ in Art. 8 und 9 der Richtlinie 92/ 50/ EWG dahin auszulegen sind, dass sie auch Sachverhalte umfassen, bei denen ein öffent‐ licher Auftraggeber mit den Dienstleistungs‐ erbringern während der Geltungsdauer eines auf unbestimmte Zeit mit diesen zur gemein‐ samen Dienstleistungserbringung abgeschlosse‐ nen Vertrags im Wege einer Vertragsänderung einerseits einen zum Zeitpunkt der Neuverein‐ barung nicht mehr geltenden Kündigungsver‐ zicht erneut für drei Jahre vereinbart, so gilt bei einer Vertragsänderung eine höhere Rabat‐ tierung für gewisse mengenabhängige Entgelte für einen bestimmten Leistungsbereich. Tab. 21: Beispiele für uneingeleitete Konditionalsätze Die Verbindung von sprachlichen Ausdrücken (Wörtern oder Phrasen) durch eine Kon‐ junktion nennt man auch Syndese; und einen Satz, der eine solche Verbindung durch eine Konjunktion nicht enthält, asyndetisch, was nicht nur für Konditionalsätze gilt. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der uneingeleitete Nebensatz nicht vorne stehen muss; diese Konstellation - wie in den folgenden Beispielen - kommt jedoch nicht häufig vor: eingeleiteter Nebensatz uneingeleiteter Nebensatz Es ist besser, wenn Du mit dem Fahrrad fährst. Es ist besser, Du fährst mit dem Fahrrad. Er hat zuerst gedacht, dass das nicht ginge. Er hat zuerst gedacht, es ginge nicht. Er behauptet, dass seine Ampel grün gewesen sei. Er behauptet, seine Ampel sei grün gewesen. (statt Er behauptet, dass seine Ampel grün ge‐ wesen sei.) Ich habe Sie auf die Warteliste gesetzt und würde Sie benachrichtigen, falls ein Teilnehmer absa‐ gen und ein Platz für Sie frei werden sollte. Ich habe Sie auf die Warteliste gesetzt und würde Sie benachrichtigen, sollte ein Teilnehmer absa‐ gen und ein Platz für Sie frei werden. Tab. 22: Beispiele für nicht am Anfang stehende uneingeleitete Nebensätze 152 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="154"?> 3.9.7 Kunstgriff: Genitiv Die besonders um „gebildete Ausdrucksweise“ Bemühten haben oft zusätzlich folgende Strategien: Sie verwenden sehr oft den Genitiv, und zwar u. a. mit der Präposition „wegen“ (nicht Dativ), auch gern in Präpositionalphrasen als Postposition (z. B. der Korrektheit wegen): sie verwenden dann auch Ausdrucksweisen mit falschem Kasus in Fällen, in denen der Dativ stehen müsste, z. B. *des Artikels zufolge, *des Leitfadens gemäß. Wenn es sich um ein feminines Substantiv handelt, lauten Genitiv und Dativ gleich, und man kann nicht sehen, welchen Kasus der/ die Verfasser: in wählen wollte, z. B. bei der Einfachheit (Einfachkeit) halber. Das Verb akquirieren und das Substantiv Akquise (auch oft falsch geschrieben) werden mit der Bedeutung neue Kunden gewinnen verwendet, aber nicht mit der Bedeutung, dass etwas wie z. B. Subventionen, Sponsoren, Personal, Wähler erworben bzw. gewonnen wird. Viele Verfasser: innen, die sich sehr um gebildete Ausdrucksweise bemühen, bevorzugen bestimmte englische Wörter und Fremdwörter gegenüber deutschen. Sie sagen bzw. schreiben eher To-Do-List als Aufgabenliste, (Customer) Support als Kundendienst, Chal‐ lenge als Herausforderung, Deadline als Abgabetermin, ambitioniert als ehrgeizig, User als Nutzer, Authentizität als Glaubwürdigkeit oder Glaubhaftigkeit (und dann geht die Unterscheidung verloren, ob es um eine Person oder eine Aussage geht), Echtheit, Services als Dienstleistungen, Consumer oder Konsument als Verbraucher, Feature als Eigenschaft, Freebie oder Give-Away als Werbegeschenk (→ Kap. 3.4 über interlinguale Interferenz bzw. Einfluss einer anderen Sprache, auch Anglizismen). Es passiert leicht, dass dieser Verfasser: in-Typ Fehler macht, weil er seine sprachlichen Fähigkeiten überschätzt. Ein Beispiel: Er findet die Ausdrucksweise etwas ist etwas geschuldet gut und bemüht sich, sie zu verwenden. Das ist jedoch nicht ganz einfach. Das Ergebnis sind fehlerhafte und/ oder „gestelzte“ Sätze wie diese: fehlerhafte Ausdrucks‐ weise mit „geschuldet“ korrekte Ausdrucksweise mit „geschuldet“ Alternative Aus‐ drucksweise Die längeren Öffnungszeiten sind der großen Nachfrage und des Kundenandrangs geschuldet. Die längeren Öffnungszeiten sind der großen Nachfrage und dem Kundenandrang geschul‐ det. Wegen der großen Nach‐ frage und des Kundenand‐ rangs wurden die Öffnungs‐ zeiten verlängert. Diese Fehler sind der mangelhaf‐ ten Recherchen des Herrn Schön‐ ing geschuldet. Diese Fehler sind den mangel‐ haften Recherchen durch (bzw. des) Herrn Schöning geschuldet. Diese Fehler sind gemacht worden, weil Herr Schön‐ ing mangelhaft recherchiert hat. Tab. 23: Beispiele für fehlerhafte und „gestelzte“ Sätze mit „geschuldet“ Viele Verfasser: innen meinen, eine Formulierung mit einem Nebensatz sei „schicker“, auch wenn man den semantischen Inhalt in einem simplen Hauptsatz ausdrücken könnte. Sie sagen bzw. schreiben z. B. lieber Ich habe es gern, zum Frühstück frisch gepressten Saft zu trinken. als Ich trinke zum Frühstück gern frisch gepressten Orangensaft. 3.9 Strategie „gebildet wirken“ 153 <?page no="155"?> Manche Verfasser: innen übertreiben ihre Bemühungen um gebildete Ausdrucksweise und den Gebrauch des Genitivs und schreiben Sätze wie ■ Er hat diese Falschbehauptungen wider besseren Wissens über eine lange Zeitdauer aufrecht erhalten. Die Präposition „wider“ verwendet man - wie auch die Präposition gegen - mit dem Akkusativ (und nicht mit dem Genitiv oder Dativ): Es heißt also richtig wider besseres Wissen (auch wider unseren Erwartungen, wider seinen ausdrücklichen Wunsch). Auch Genitivketten, die durch den Nominalstil begünstigt werden, kommen dann häufig vor: ■ Die Entkräftung der Argumente des Mitarbeiters des Lieferanten gelang erst nach der Entde‐ ckung der Tatwaffe des Komplizen. Was konnte erst entkräftet werden, nachdem was entdeckt wurde? ■ Innerhalb des vorgegebenen Zeitraums nach Einreichen des Antrags und Zahlung der Gebühr ist die Korrektur etwaiger Fehler möglich. Wer muss bzw. kann einen Antrag einreichen und eine Gebühr zahlen und Fehler korrigie‐ ren? 3.10 Strategie „sich ausdrücken wie ein/ e Jurist: in“ In ihrem Bemühen darum, gebildet zu wirken, vermeiden viele Verfasser: innen es bewusst, Wörter zu verwenden, die sie für zu umgangssprachlich bzw. zu „simpel“ halten. Sie sagen/ schreiben lieber (falsch) vermeintlich als fälschlicherweise oder vermutlich. Manche Verfasser: innen meinen, die Wörter könnten synonym verwendet werden. Dann werden so fehlerhafte und zu Missverständnissen führende Sätze produziert wie: ■ *Die Polizei sucht den vermeintlichen Dieb. Das würde bedeuten, dass die Polizei jemanden sucht, von dem sich (in der Vergangenheit) bereits herausgestellt hatte, dass er kein Dieb war. Gemeint ist mutmaßlich, gedacht wurde evtl. „der vermutete Dieb“. ■ *Man vermutete zunächst vermeintlich eine Vergiftung, es war jedoch keine Vergiftung. Gemeint ist fälschlicherweise. Außerdem wird hier vermeintlich als Adverb (zum Verb vermuten) verwendet, es ist aber ein Adjektiv. Dieser Satz würde bedeuten, dass die Art des Vermutens vermeintlich war (was Unsinn wäre). Gemeint ist sicherlich, dass die Vermutung falsch war. 154 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="156"?> ■ *Er dachte, in der Flasche sei vermeintlich guter Cognac. Hier wird vermeintlich wieder als Adverb verwendet, und zwar bezogen auf das darauf folgende Adjektiv gut (mit der Bedeutung Es war angenommen worden, der Cognac wäre gut; es stellte sich aber heraus, dass er nicht gut war). Gemeint ist sicherlich tatsächlich vermutlich bzw. Er vermutete in der Flasche guten Cognac. bzw. Er hatte in der Flasche guten Cognac vermutet (aber dann stellte sich heraus, dass der Cognac nicht gut war.). ■ Es herrschte die vermeintliche Annahme, dass der Rabatt bis zum Monatsende gewährt würde. Gemeint ist sicherlich „die falsche Annahme“. Es geht um einen vermeintlichen Rabatt, und der semantische Aspekt des Falschen wurde als Adjektiv-Attribut zur Annahme gesetzt, was doppelt falsch ist, denn die Gesamtaussage ist bei dem obigen Satz, die Annahme habe tatsächlich nicht geherrscht. ■ Bei meiner Klage handelt es sich um mutmaßlichen Verdacht meinerseits auf Machtmissbrauch seitens Richter Maserak. Bei diesem Satz scheint der/ die Verfasser: in zu meinen, die Tatsache, dass es sich um einen Verdacht handelt, müsse duch das Adjektiv mutmaßlich verstärkt werden. Auch dies ist - wie das vorangegangene Beispiel - doppelt falsch. Wenn ein Verdacht nur mutmaßlich vorliegt, könnte sich herausstellen, dass es gar keinen Verdacht gab, und das ist nicht gemeint. Dies sind typische Beispiele für eine falsche und hier übertriebene Bemühung, sich wie ein/ e Jurist: in auszudrücken, indem Fachbegriffe und -ausdrücke aus der Rechtssprache (falsch) verwendet werden. mutmaßlich vs. vermeintlich mutmaßlich: vermutet aufgrund bestimmter Anzeichen, möglich (wahrscheinlich) vermeintlich: irrtümlich, vormals fälschlich vermutet/ angenommen Merkhilfe: Wenn Sie so MUTig sind, eine VerMUTung zu äußern, dann ist etwas MUTmaßlich so (oder auch anders), wie Sie es sagen, oder jemand ist beispielsweise ein MUTmaßlicher Täter. Wenn Sie hingegen später feststellen, dass Sie das falsch vermutet haben (wie es auch vorkommt, dass Sie sich VERfahren, VERplappert, VERschluckt, VERlaufen oder VERirrt haben), dann war das eine VERmeintliche Annahme, z. B. über einen VERmeintlichen (angeblichen) Täter, und wenn Sie so MUTig sind, jemanden für eine/ n Täter: in zu halten, dann mutmaßen Sie, dass die Person der/ die Täter: in ist. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass auch scheinbar und anscheinend gern falsch verwendet werden. Häufig wird scheinbar gesagt, wenn anscheinend gemeint ist. scheinbar vs. anscheinend Anscheinend bedeutet wahrscheinlich, vermutlich. Etwas ist so, wie es aussieht. Das Wort anscheinend drückt die Vermutung aus, dass etwas so ist; z.-B. Anscheinend ist 3.10 Strategie „sich ausdrücken wie ein/ e Jurist: in“ 155 <?page no="157"?> jemand zuhause (das Licht brennt). Die Leute haben anscheinend kein Interesse mehr (Es kommen keine Anrufe mehr.). Außerdem gibt es die etwa gleichbedeutenden Ausdrücke augenscheinlich, offenbar, offenkundig, offensichtlich, die alle erkennbar bedeuten. scheinbar bedeutet: Etwas ist nicht tatsächlich so; es sieht nur so aus; es ist nur dem Anschein nach so, es scheint so zu sein, es ist trügerisch, vorgetäuscht, z. B. Der Ozean ist scheinbar unendlich. Merkhilfen: Man sagt nur scheinbar (nicht nur anscheinend). Wenn etwas „SCHEIN‐ bar so ist, dann sollte man den Schein nicht für „BARe Münze“ nehmen. Der Schein trügt - wie z.-B. bei der „SCHEINehe“. Der SchEIN legt Dich rEIN. Verfasser: innen, die darum bemüht sind, zu schreiben wie ein/ e Jurist: in, verwenden auch gern Fremdwörter bzw. Lehnwörter bzw. Ausdrücke, die aus dem Lateinischen oder Griechischen stammen. Sie schreiben lieber gemeinsam agieren als zusammenarbeiten. Solche Verfasser: innen, die sich gern mit fremden Federn schmücken, lesen oft von Jurist: innen geschriebene Texte, u. a. Schriftsätze. Oft lesen sie die Schriftsätze, Urteilsbe‐ gründungen usw. auch deshalb, weil sie selbst eine Partei in Rechtsstreitigkeiten sind. Juristen vermeiden üblicherweise - bis auf ganz bestimmte lateinische Ausdrücke (wie corpus delicti, prima facie) - aus dem Lateinischen stammenden Wörter (und verwenden unerheblich statt irrelevant, Zusammenarbeit statt Kooperation, richtig statt korrekt, vollkommen oder vollständig statt komplett), was jedoch Verfasser: innen anonymer Texte a) nicht bewusst ist und b) nicht gefällt. Sie verwenden oft Elemente aus von Jurist: innen verfassten Texten, kombinieren sie jedoch mit aus dem Lateinischen stammenden Wörtern und vermeiden ihnen banal erscheinende Wörter. Sie sagen/ schreiben lieber zeitnah als bald und lieber zeitgleich als gleichzeitig. Exkurs für Fortgeschrittene: Das Relativpronomen welcher/ welche/ welches Es ist oft zu beobachten, dass Verfasser: innen mit der oben beschriebenen Strategie - wie Jurist: innen - das Relativpronomen welcher/ welche/ welches usw. im Vergleich zum simplen Relativpronomen der/ die/ das usw. sehr oft verwenden, was in vielen Fällen darauf zurückzuführen ist, dass sie viele im Rechtssprache-Stil verfasste Texte und speziell Schriftsätze gelesen haben. Dann bevorzugen sie eine Ausdrucksweise wie: ■ Das war sein Bruder, welchen er gestern angerufen hatte und welchem er nicht geglaubt hatte. gegenüber ■ Das war sein Bruder, den er gestern angerufen hatte und dem er nicht geglaubt hatte. Tatsächlich ersetzen Jurist: innen jedoch nicht einfach nach Lust und Laune das der/ die/ das/ den/ dem usw. durch welche/ welcher/ welches/ welchen/ welchem usw., sondern es gibt 3 Gründe, wann diese Ersetzung angezeigt ist: 156 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="158"?> 1. Der/ die Leser: in soll nicht beim Lesen in der Mitte des Satzes kurz falsch vermuten („Holzwegkonstruktion“), es handele sich um eine Aufzählung (im folgenden Satz das Regelwerk, das Nachschlagewerk, das Verfahren, das …) ■ Wenn im Text einer Grundbucheintragung auf Urkunden Bezug genommen wird, ge‐ hört zum Grundbuchinhalt auch die jeweilige Grundbuchakte, welche Ausfertigungen oder beglaubigte Abschriften der im Grundbuch genannten Urkunden, der sogenannten Grundakten - wie z.-B. eine Grundschuldbestellungsurkunde - enthält. 2. Eine Wortwiederholung soll vermieden werden (z. B. Das Regelwerk, welches das Verfahren beschreibt. statt Das Regelwerk, das das Verfahren beschreibt.) ■ Im übrigen verweise ich auf das Regelwerk, das Nachschlagewerk für Wahlabläufe wie das in der Handakte geregelte Verfahren, welches für solche Fälle vorschreibt, die Unterschriftskarten ausschließlich über den Bundesvorstand bei der Bank einzureichen. 3. Bei einer Häufung von Relativsätzen soll variiert werden (z. B. Der Fahrer des blauen Wagens, der von dem Polizisten, welcher in dem Bezirk eingesetzt war, als Ford Focus identifiziert wurde, beging Fahrerflucht.) Wenn in einem Text auffällt, dass das Relativpronomen welchoft ohne Vorliegen einer der drei oben genannten Gründe verwendet wird, ist dies für die Authentizitätsfeststellung ein wertvoller Befund. Für die Authentizitätsfeststellung ist sehr interessant, ob, wie und wie häufig die oben genannten Lexeme (mutmaßlich, vermeintlich, scheinbar, anscheinend, agieren, irrelevant, Kooperation, korrekt, komplett, zeitgleich, welch-) und der Nominalstil mit der 3. Person verwendet werden. 3.11 Strategie „der Aussage Nachdruck verleihen“ Manche Verfasser: innen meinen, ihren (mündlichen und schriftlichen) Aussagen Nach‐ druck verleihen zu müssen, und fügen verstärkende Adverbien oder Adverbiale ein: ■ Das ist definitiv krass gut geworden. ■ Das ist auf jeden Fall krass gut geworden. ■ Das ist ich schwör krass gut geworden. ■ Das ist hundert Pro krass gut geworden. 3.12 Deagentivierungsstrategie Bei dieser Strategie wird das Agens bzw. der Aktant (die Person, die eine im Satz genannte Handlung vollbringt) nicht genannt. Für die Zwecke dieses Buches führe ich zusätzlich zum Agens (dem Träger des durch das Verb ausgedrückten aktiven Verhaltens) die Rolle 3.11 Strategie „der Aussage Nachdruck verleihen“ 157 <?page no="159"?> 58 Dieses Substantiv, das maskulin bzw. männlich anmutet, ist ein grammatischer Begriff und wird nicht gegendert (wie z.-B. „die *Aktantin“). 59 Das Subjekt ist ein grammatisches Konzept, das den Satz strukturiert; das Agens ein semantisches Konzept ist, das beschreibt, wer eine Handlung ausführt. In vielen Sätzen - aber nicht immer - sind Subjekt und Agens identisch. Aktant 58 ein. Das ist wie ein Agens, allerdings unbedingt eine Person (oder eine Institution oder ein Tier), der/ die das tut (eine Aktivität), was ein im Satz vorkommendes Verb (nicht unbedingt das Prädikat) ausdrückt (transitive Verben wie sehen, essen, reparieren, lieben, öffnen, verkaufen). Ein Satz wie Ihr Vortrag hat mich sehr beeindruckt. enthält keinen Aktanten (wohl aber selbstverständlich ein Subjekt [Ihr Vortrag] und auch ein Agens [Ihr Vortrag]; der Vortrag ist aber kein Mensch). Der Aktant ist dem Agens sehr ähnlich. Er gibt - wie das Agens - die Rolle des Handelnden im Satz an. Es ist - wie das Agens - das Pendant zum Patiens des Passivsatzes, wo es typischerweise mittels Agensphrase (mit von oder durch) angegeben wird (z. B. Der Entwurf wurde von Herrn Bergmann eingereicht.) Es ist das Subjekt 59 des Satzes, wenn das Prädikat eine Agensrolle vergibt (wenn das Prädikat ein transitives Verb ist). Dann gilt Agens = Subjekt (und Patiens = Objekt). In Aktivsätzen steht das Agens an der Spitze der Hierarchie „subjektwürdiger“ Rollen. Das Agens ist - wie auch der Aktant - im Passivsatz weglassbar (z.-B. Der Entwurf wurde eingereicht.). Besonders interessant für die Zwecke der Authentizitätsfeststellung sind Sätze, die keinen Aktanten enthalten. Wenn jemand viele Sätze ohne Aktanten formuliert (sog. „Deagenti‐ vierungsstrategie“), handelt es sich oft um unterlassene Verständlichkeitssicherung, was meist etwas Idiolektales ist. Das sind typischerweise solche Sätze, die im Nominalstil konstruiert sind (wie Geplant ist die Vermeidung von Engpässen durch rechtzeitige Mate‐ rialbeschaffung., Es wurde ständig rumgemeckert., Heute gibt es schon wieder Nudeln., Dort gibt es viele neue Tricks zu lernen., Die Entscheidung fiel nach stundenlangen Diskussionen.). Die Bezeichnung Aktant ist auch deshalb sinnvoll, weil sie selbsterklärend ist. Leser: innen können sich auch ohne Erklärung leicht vorstellen, was gemeint ist. Eine in einem Text beobachtete Deagentivierungsstrategie kann viele Gründe haben, um die es jedoch hier nicht geht. Wird diese Strategie in einem Text beobachtet, in einem Vergleichstext jedoch nicht, kann das für die Authentizitätsfeststellung sehr wertvoll sein. 3.13 Kunstgriff: „Es“ zur Vermeidung von „dass“ Die Verwendung des Lexems es mit anderen bestimmten Satzbau-Konstellationen findet man auffällig oft, wenn der/ die Verfasser: in eine Formulierung mit dass vermeiden möchte. Das Lexem es kann ein Personalpronomen sein (z. B. Er holte sich ein Bier und trank es genüsslich., Fünf Jahre hat er mit dem Rennpferd viel Geld verdient, aber nun hat er es verkauft.). Das ist bei Authentizitätsfragen - ähnlich wie andere Personalpronomen wie er, ihn, ihr usw. - von sekundärem Interesse. 158 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="160"?> Es kann ein Prädikativ sein (z. B. Ich bin es.) oder ein Expletivum, und in dem Fall kann es auch ein Satzteil sein (z. B. Es hat aufgehört zu regnen., Ich will es.) oder ein Korrelat (Unterart des Expletivums Es ist mir bewusst, dass ich das nicht durfte.). Expletivum Ein Expletivum (von lateinisch explere, was ‚ausfüllen‘ bedeutet) ist ein Platzhalter bzw. ein Vervollständigungswort ohne eigenen semantischen Inhalt, das verwendet wird, damit die Stelle des Satzteils nicht leer bleibt. Es bezieht sich nicht (wie das Pronomen es) auf eine im Satz (oder in einem vorherigen Satz) genannte Sache, einen Sachverhalt oder eine Person. Korrelat Diese Unterart des Expletivums ist ein Wort, das ankündigt, dass später noch (meist in Form eines Nebensatzes) semantischer Inhalt folgt. Zur Verwendung des von den Deutschen so geliebten Es nach Funktion: ● Personalpronomen oder Prädikativ ● Expletivum: Vervollständigungswort ohne eigenen semantischen Inhalt ● Satzteil: Subjekt oder Objekt, ohne semantischen Inhalt ● Korrelat: Ankündigung von später folgendem semantischem Inhalt, u. a. zur Vermei‐ dung eines Satzanfangs mit „Dass“ Viele Verfasser: innen, die die Strategie verfolgen, gebildet zu wirken, vermeiden beim Formulieren, dass Sätze mit der Konjunktion dass beginnen, und sie konstruieren ihre Sätze so, dass sie mit (dem Expletivum und Korrelat) Es beginnen, formulieren also lieber so: ■ Es wird nicht beachtet, dass die Pflegekräfte nach den vielen Corona-Monaten völlig überarbeitet sind. als so: ■ Dass die Pflegekräfte nach den vielen Corona-Monaten völlig überarbeitet sind, wird nicht beachtet. Diese Konstruktion wählen sie häufig deshalb, weil sie sich nicht sicher sind, ob man das „dass“ mit einem oder zwei „s“ schreibt, also ob man das erste Wort im Satz als Das oder Dass schreibt. Wenn es hingegen in der Mitte eines Satzes nach einem Komma vorkommt, wenn also der „Dass-Nebensatz“ nicht am Anfang steht, schreiben sie das „dass“ sehr oft oder sogar fast immer richtig, Viele unsichere Textverfasser: innen nehmen auch - fälschlicherweise - an, ein Satz dürfte nicht mit Dass beginnen (→ Kap. 3.1 mit der Liste der häufigsten Fehlannahmen). Deshalb entwickeln sie eine Strategie, um Sätze zu vermeiden, die mit „dass“ beginnen, und formulieren auffällig häufig Sätze mit „Es“. Der „Dass-Satz kann die Funktion des Satzteils „Subjekt“ oder auch des „Objekts“ haben: 3.13 Kunstgriff: „Es“ zur Vermeidung von „dass“ 159 <?page no="161"?> „Es“-Formulierung als Alternative für Satzanfang mit „Dass“ (Funktion: Subjekt) Satzanfang mit „Es“ Alternative mit „Dass“ (ohne „es“) Es hat mich genervt, dass der Mieter unten rechts immer so laut war. Dass der Mieter unten rechts immer so laut war, hat mich genervt. Es tut mir leid, dass das passiert ist. Dass das passiert ist, tut mir leid. Es tut mir leid, dass deine Katze gestorben ist. Dass deine Katze gestorben ist, tut mir leid. Es freut mich, dass Ihr gewonnen habt. Dass Ihr gewonnen habt, freut mich. Es ist unbedingt notwendig, dass Sie die Kun‐ dennummer angeben. Dass Sie die Kundennummer angeben, ist unbe‐ dingt notwendig. Es ist nicht möglich, dass jemand ohne Ausweis da reinkommt. Dass jemand ohne Ausweis da reinkommt, ist nicht möglich. Tab. 24: Beispiele für Satzanfänge mit „Es“ und „Dass“ „Es“-Formulierung als Alternative für Satzanfang mit „Dass“, Funktion: Objekt Satz mit „es“ (nicht am Anfang) Alternative mit „Dass“ (ohne „es“) Ich fand es gut, dass er mitgekommen ist. Dass er mitgekommen ist, fand ich gut. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie bezüglich der Verschiebung meines Urlaubs so großzügig waren, als im letzten Herbst meine Tochter krank war. Dass Sie bezüglich der Verschiebung meines Ur‐ laubs so großzügig waren, als im letzten Herbst meine Tochter krank war, weiß ich sehr zu schätzen. Tim bereute es nicht, dass er dem Chef die Meinung gesagt hatte. Dass er dem Chef die Meinung gesagt hatte, bereute Tim nicht. Tab. 25: Beispiele für „Es“ (nicht am Satzanfang) und „Dass“ 3.14 „Es“ ohne Not Es gibt Verfasser: innen, die sich so stark an ihre Strategie halten (Sätze, wo immer es möglich ist, mit „Es“ beginnen zu lassen), dass sie dafür häufig stark vom gewöhnlichen Satzmuster abweichen. Eine Formulierung mit „es“ beruht oft auch auf dem Bedürfnis des Verfassers, sich von seiner Aussage zu distanzieren (→-Distancing) und keine Verantwor‐ tung für den Inhalt zu übernehmen (→ Hedging), und das wiederum entweder, weil der/ die Verfasser: in selbst nicht von dem Wahrheitsgehalt der Aussage überzeugt ist oder weil er/ sie ein unsicherer Mensch ist, der sich ungern verbindlich äußert bzw. festlegt. Das „Es“ kann bzw. soll in manchen Sätzen wie eine „Pufferzone“ fungieren. 160 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="162"?> Sätze mit und ohne „Es“-Expletivum: Mit „Es“ beginnender Satz Satz ohne „es“ Es hat jeder den gleichen Anteil bekommen. Jeder hat den gleichen Anteil bekommen. Es sind viele Leute angekommen. Viele Leute sind angekommen. Es bekommt jeder etwas. Jeder bekommt etwas. Es wäre mir jetzt sehr an einem Grog gelegen. Mir wäre jetzt sehr an einem Grog gelegen. Es wurde nichts aus seinem Plan mit der Abzo‐ cke der Touristen. Aus seinem Plan mit der Abzocke der Touristen wurde nichts. Es standen die modernsten Messgeräte zur Ver‐ fügung. Die modernsten Messgeräte standen zur Verfü‐ gung. Es wurden zwei Limousinen mit Chauffeur für die VIPs eingesetzt. Zwei Limousinen mit Chauffeur wurden für die VIPs eingesetzt. Tab. 26: Sätze mit und ohne „es“ Das Bestreben, mit „Es“ beginnende Sätze zu formulieren, passt auch zu der bei solchen Verfasser: innen ebenfalls oft zu beobachtenden Strategie, Sätze im Nominalstil zu formu‐ lieren. Dabei entstehen Sätze wie (linke Spalte): Mit „Es“ beginnender Satz im Nominalstil Verbalstil: Satz ohne „es“ Es kam zur Forderung einer Lohnerhöhung der Mitarbeiter. Die Mitarbeiter forderten eine Lohnerhöhung. Es gab nie eine Verpflichtung der Kinder zum Ausführen solcher Arbeiten. Die Kinder wurden nie dazu gezwungen, solche Arbeiten zu machen/ verrichten. Es wird auch eine Überprüfung der ordnungsge‐ mäßen Aktenführung angeordnet. Es wird auch angeordnet zu überprüfen, ob die Akten ordnungsgemäß geführt werden/ wurden. Es ist bei zwei Mitarbeitern in der Buchführung zu einer Überführung wegen Veruntreuung von Geldern gekommen. Zwei Mitarbeiter in der Buchführung wurden überführt, Gelder veruntreut zu haben. Tab. 27: Sätze mit „es“ (Nominalstil) und ohne „es“ (Verbalstil) Das ist idiolektal. Manche der Verfasser: innen, die in dieser Strategie (Sätze, wo immer es möglich ist, mit „Es“ beginnen zu lassen) sehr geübt sind, übergeneralisieren und beginnen ihre Sätze auch in Fällen mit „Es“, in denen es die Alternative gibt, das „es“ mitten im Satz zu platzieren: 3.14 „Es“ ohne Not 161 <?page no="163"?> Satz mit „Es“ am Anfang Satz mit „es“ mitten im Satz Es geht hier um knallhart kalkulierte Investitio‐ nen! Hier geht es um knallhart kalkulierte Investitio‐ nen! Es wird im nächsten Kapitel um Mikroorganis‐ men gehen. Im nächsten Kapitel wird es um Mikroorganis‐ men gehen. Es gibt heute Gulasch. Heute gibt es Gulasch. Es regnet heute bestimmt noch. Heute regnet es bestimmt noch. Es gilt jetzt, mutig zu sein. Jetzt gilt es, mutig zu sein. Es geht ihr sehr schlecht. Ihr geht es sehr schlecht. Es gelingt ihr leider nur selten, pünktlich zu sein. Leider gelingt es ihr nur selten, pünktlich zu sein Es waren die Engländer, die die ersten Eisenbah‐ nen gebaut haben. Die Engländer waren es, die die ersten Eisenbah‐ nen gebaut haben Tab. 28: Sätze mit „es“ am Anfang und in der Satzmitte Am Rande bemerkt: Wenn in einem Satz - wie im obigen letzten Beispielsatz - Position 1 mit einem Es besetzt ist, eine finite Verbform folgt (hier waren), dann ein Substantiv oder Pronomen (hier ein Substantiv, Engländer) und dann ein Relativsatz, nennt man das Spaltsatz (auch Cleft-Satz). Durch sog. Satzspaltung werden die Satzteile so unüblich platziert, dass das rhematische (also das semantisch neue bzw. betonte, dem/ der Verfasser: in wichtige) Element zuerst genannt wird, wobei der Inhalt des Relativsatzes (hier die die ersten Eisenbahnen gebaut haben) thematisch ist (→-Kap. 3.18 zur Topikalisierung). Wenn ein Satz mit einem intransitiven Verb (z. B. Sie arbeiteten eifrig.) ins Passiv gesetzt wird, gibt es nach der Tilgung des zugrundeliegenden Agens (hier Sie) kein Subjekt, und als Ersatz wird „Es“ verwendet. ■ Es wurde eifrig gearbeitet. ■ Es wird nicht gepfuscht. Bei diesem „es“ handelt es sich um ein Expletivpronomen bzw. „Expletivum“, das nur dazu dient, die Wortstellung des Satzes aufrechtzuerhalten und keine Lücken entstehen zu lassen. Wenn ein anderer Satzteil an die Stelle gesetzt wird (z. B. ein Adverbial), verschwindet es ganz aus dem Satz, z.-B. ■ Dann wurde eifrig gearbeitet. ■ Hier wird nicht gepfuscht! Wenn ein Satz mit Es am Anfang vorkommt, lohnt es sich bei der Authentizitätsfeststellung meist, (im selben Text und in Vergleichstexten) nach weiteren Sätzen Ausschau zu halten, die mit Es beginnen. Interessant für die Authentizitätsfeststellung ist auch, wenn ein inkriminierter Text und ein Vergleichstext nur Sätze enthalten, die nicht mit Es beginnen, obwohl sie eine Formulierung mit Es zulassen würden. Das festzustellen ist allerdings schwierig, denn das erfordert a) Zeit 162 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="164"?> und b) linguistische Fähigkeiten, wenn bei allen möglichen Sätzen im Geiste ausprobiert werden muss, ob man sie auch mit Es beginnen könnte. Für solche Aufgaben gibt es (noch) keine quantitativen Verfahren. Ich bin mir allerdings sicher, dass die KI in der absehbaren Zukunft auch diese Aufgabe wird meistern können. Für die Authentizitätsfeststellung ist es interessant, ob jemand oft Formulierungen wie Es geht hier um knallhart kalkulierte Investitionen! Formulierungen wie Hier geht es um knallhart kalkulierte Investitionen. vorzieht, wenn also der/ die Verfasser: in die Position 1 mit dem Es besetzt, im Alternativsatz die Position 3. So kann ein/ e Linguist: in evtl. eine Präferenz eines Verfassers feststellen, lieber die Position 3 mit dem es zu besetzen (als die Position 1) oder umgekehrt. Ein solcher Befund wäre für die Authentizitätsfeststellung wertvoll. 3.15 Das beliebte „Dies“ ohne Not Es lässt sich eine regelrechte inflationär häufige Verwendung des Lexems dies (bzw. diese, dieser, dieses) beobachten. Die meisten Verfasser: innen entscheiden sich bei den beiden folgenden Sätzen für Variante b. ■ a. Bitte schicken Sie mir die korrigierte Version, sobald sie fertig ist. ■ b. Bitte schicken Sie mir die korrigierte Version, sobald diese fertig ist. Dabei ist Satz a. nicht schwer zu verstehen, nicht wahr? Es ist nicht unklar, dass sich das Pronomen sie im Nebensatz auf das Substantiv Version im Hauptsatz bezieht, oder? Weitere Beispiele: Satz ohne „dieser/ diese/ dieses“ Satz mit „dieser/ diese/ dieses“ Wir haben dem Verletzten mehrmals unsere Hilfe angeboten, jedoch hat er sie immer abge‐ lehnt. Wir haben dem Verletzten mehrmals unsere Hilfe angeboten, jedoch hat er diese immer ab‐ gelehnt. PK Kammer belehrte Herrn Vornkamp und durchsuchte ihn Auffinden des Personalauswei‐ ses und fand ihn in dessen Brieftasche. PK Kammer belehrte Herrn Vornkamp und durchsuchte diesen zum Auffinden des Perso‐ nalausweises und fand diesen in dessen Briefta‐ sche. Der Bundeskanzler hat gefordert, dass alle, die Kindergrundsicherung beantragen, sie auch er‐ halten. Der Bundeskanzler hat gefordert, dass alle, die Kindergrundsicherung beantragen, diese auch erhalten. Soweit zusätzliche produktbezogene Vereinba‐ rungen erforderlich sind, werden sie in geeigne‐ ter Form dokumentiert. Soweit zusätzliche produktbezogene Vereinba‐ rungen erforderlich sind, werden diese in geeig‐ neter Form dokumentiert. Auf dem Platz erkannten wir einige Mitglieder unseres Clubs, obwohl wir sie dort nicht erwar‐ tet hätten. Auf dem Platz erkannten wir einige Mitglieder unseres Clubs, obwohl wir diese dort nicht er‐ wartet hätten. Es gibt viele Wege, ans Ziel zu gelangen, und sie können sehr unterschiedlich sein. Es gibt viele Wege, ans Ziel zu gelangen, und diese können sehr unterschiedlich sein. 3.15 Das beliebte „Dies“ ohne Not 163 <?page no="165"?> Satz ohne „dieser/ diese/ dieses“ Satz mit „dieser/ diese/ dieses“ Was ist ein Unternehmer, und was zeichnet ihn aus? Was ist ein Unternehmer, und was zeichnet diesen aus? Der KUNDE stellt dem Dienstleister die ent‐ sprechenden Kommunikationsadressen für sein Streckennetz zur Verfügung und aktualisiert sie regelmäßig. Der KUNDE stellt dem Dienstleister die ent‐ sprechenden Kommunikationsadressen für sein Streckennetz zur Verfügung und aktualisiert diese regelmäßig. Eine Schattenfuge ist eine Lücke zwischen zwei Bauelementen bzw. Schallabsorbern, also sie trennt die Elemente voneinander. Eine Schattenfuge ist eine Lücke zwischen zwei Bauelementen bzw. Schallabsorbern, also diese trennt die Elemente voneinander. Er vertraute Susannes Freundin das Geheimnis an, obwohl er sie erst fünf Minuten kannte. Er vertraute Susannes Freundin das Geheimnis an, obwohl er diese erst fünf Minuten kannte. Tab. 29: Beispiele für Sätze mit und ohne „dieser/ diese/ dieses“ Der Zweck des Pronomens „dies“ (und diese, dieser, diesen, diesem) ist eigentlich, einen Bezug auf etwas vorher Genanntes zu zeigen, wenn es mehrere mögliche Bezüge gibt, z. B. Die Angeklagte kam mit ihrer Rechtsanwältin mit fünf Minuten Verspätung, woran diese jedoch nicht schuld war. Oft wird das Argument bemüht, die Verwendung von „dieser/ diese/ dieses“ helfe beim Feststellen des Bezugs, was jedoch oft nicht zutrifft. Ein Beispiel: ■ Wenn Ihnen der Datenschutz bzgl. der Daten in Ihren einzureichenden Unterlagen besonders wichtig ist und Sie sich Sorgen bezüglich der Einhaltung der Vertraulichkeit machen, haben Sie die Möglichkeit, diese in einem versiegelten Umschlag bei der Botschaft bzw. dem Konsulat abzugeben. Die Wahl des Pronomens diese statt des Pronomens sie verringert für die Leser: innen nicht die Mühe, festzustellen, dass das Bezugswort Unterlagen ist (und nicht Möglichkeit, auch nicht Vertraulichkeit, auch nicht Einhaltung). Die Mühe hätten die Leser: innen auch, wenn dort sie stünde. Im Gegenteil: Bei „diese“ sucht der/ die Leser: in rückwärts nach einem Wort, das in Kasus, Genus und Numerus passt und findet Möglichkeit, das jedoch nicht das Bezugswort ist. Man muss weitersuchen. Besonders erschwert wird die Lesbarkeit und Verständlichkeit, wenn noch ein weiteres Pronomen mit einer Flexionsform von „dies“ vorkommt: ■ Teamwerte leiten uns in schwierigen Zeiten, helfen bei Entscheidungen und geben uns die Richtung vor, sodass wir diese in Krisenzeiten wie diesen besonders brauchen. Die Wahl von diese statt sie verringert auch hier nicht der Mühe, festzustellen, dass das Bezugswort Teamwerte (und nicht Richtung, auch nicht Entscheidungen, auch nicht Zeiten) ist. Die Mühe hätte man genau so, wenn dort sie stünde. Im Gegenteil: Bei diese vermutet man, dass das Bezugswort beim Rückwärts-Suchen sehr bald zu finden wäre. Obendrein ist die Formulierung mit diese und diesen so kurz hintereinander verwirrend. Das ist Beispiele für unterlassene Verständlichkeitssicherung, wobei es sich um etwas Idiolektales handelt. 164 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="166"?> 3.16 Hohe „man“-Dichte Das Pronomen „man“ ist generalisierend und wird für einen unspezifischen und ge‐ schlechtsneutralen Bezug auf Personen verwendet. Es wird oft für Ratschläge und Aussagen über Allgemeingültiges genutzt (z. B. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist.) und auch für Berichte über Vergangenes (z. B. Man konnte sich das damals nicht vorstellen), bei denen die Akteure „alle“ sind. Es ist unflektierbar und kann nur Subjekt sein (nicht Objekt) und zwar selbstverständlich auch Subjekt eines Nebensatzes (z. B. Er hat gesagt, dass man sowas in einer Kirche nicht tut.) Beispiel für eine „man“-Untersuchung mit einer Konkordanz-Software: So kann die Darstellung der Ergebnisse der „man“-Untersuchung von zwei Texten ausse‐ hen: man INKR VGL Gesamt-Wortanzahl 766 662 „man“-Anzahl insgesamt der Gesamtwortanzahl 4 6 in-% von Gesamtwortanzahl 0,52-% 0,91-% …-davon am Satzanfang 0 6 in-% von Gesamtanzahl „man“ 0-% 100-% …-davon als Subjekt 2 4 in-% von Gesamtanzahl „man“ 50,00 66,67 Tab. 30: Beispiel Ergebnis eines Textvergleich bzgl. „man“ 3.16 Hohe „man“-Dichte 165 <?page no="167"?> 3.17 Hohe „ich“-Dichte So kann die Darstellung der Ergebnisse der „ich”-Untersuchung eines Textes oder mehrerer Texte aussehen: ich INKR VGL Gesamt-Wortanzahl 766 662 „ich“-Anzahl insgesamt der Gesamtwortanzahl 8 2 in-% von Gesamtwortanzahl 1,04-% 0,30-% …-davon am Satzanfang 4 0 in-% von Gesamtanzahl „ich“ 50,00-% 0-% …-davon als Subjekt 4 0 in-% von Gesamtanzahl „ich“ 50,00-% 0-% Tab. 31: Beispiel Ergebnis eines Textvergleich bzgl. „ich“ 3.18 Topikalisierung Wenn ein/ e Verfasser: in einen Satz mit einem Satzteil beginnt, der in der normalen Satz‐ teilabfolge später vorkommt, handelt es sich um Topikalisierung (auch „Fronting“, „Em‐ phase“, „außergewöhnliche Vorfeldbesetzung“, „Kontraststellung“, „Ausdrucksstellung“, „Fokussierung“, engl. „topicalization“, auch „dislocation“, „scrambling“). Den Terminus „Vorfeldbesetzung“ verwende ich hier nicht, weil ich das gesamte Feldermodell (auch „topologisches Modell“ genannt), in dessen Rahmen der Terminus gehört, (primär aus den bereits genannten didaktischen Gründen) in diesem Buch nicht behandele und weil ein solcher Terminus verwirren würde. Die Bezeichnung „Fronting“ verwende ich nicht, weil dies außerdem ein Fachbegriff in einem anderen Fachgebiet ist, und zwar in der Bank- und Versicherungsbranche (wenn eine sog. „Fronting-Bank“ bzw. ein [Rück-]Versicherer für jemand anderen ein Risiko zeichnet). Es gibt weiterhin die Bezeichnungen „Emphase“, „Kontraststellung“, „Ausdrucksstellung“, „Fokussierung“. Für die Zwecke dieses Buches ist der Terminus Topikalisierung der geeignetste. Nun könnte man meinen, es sei ein typisches Charakteristikum des Idiolekts gefunden. Topikalisierung kann idiolektal sein, es gibt aber weitere verschiedene - nicht unbedingt idiolektale - Gründe, warum Verfasser: innen einen anderen Satzteil als das Subjekt an den Anfang des Satzes setzen: 1. Sie möchten diesen Satzteil betonen (Topikalisierung, Thema-Rhema-Gliederung, funktionale Satzperspektive), z.-B. ■ Dem haben wir es aber gezeigt. ■ Probleme gab es keine. ■ Einfach weggenommen hat er’s uns. 166 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="168"?> 60 Wichtige Unterscheidung: Satzteile (syntaktisch notwendig) vs. Satzelemente (syntaktisch nicht notwendig, allerdings semantisch oft sehr wichtig). 2. Sie möchten ihre Satzkonstruktionen abwechslungsreich gestalten, nachdem die vor‐ angegangenen Sätze z.-B. mit dem Subjekt begannen, 3. Sie befinden sich in einer angespannten emotionalen Verfassung (müde, betrunken, in Eile, nervös, ängstlich u.-Ä.) und positionieren die Satzteile deshalb eigenartig 4. Sie möchten an vorher genannte Informationen anknüpfen (Thema-Rhema-Gliede‐ rung, anaphorischer Bezug), z.-B. ■ (Unser Nachbar hat einen neuen Rasenmäher.) Dieses laute Mist-Ding nutzt er besonders gern samstags nachmittags. Die Topikalisierung bzw. generell die Positionierung der Satzteile (Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbial, Prädikativ) und der weiteren Elemente (Attribute) im Satz 60 sind vorwiegend idiolektal, wenn keiner der obigen Gründe zutrifft und wenn zu vermuten ist, dass der/ die Verfasser: in mit einer solchen Satzkonstruktion auf den/ die Leser: in intellektuell wirken möchte und wenn auffällt, dass ein/ e Verfasser: in diesbezügliche Präferenzen hat oder wenn hingegen bestimmte Konstellationen bei bestimmten Verfasser: innen fast nie oder nie vorkommen (z. B. konditionaler Adverbialsatz nach dem Hauptsatz, eingebetteter temporaler Adverbialsatz, Dativobjekt am Satzanfang). Bei der Textuntersuchung mit Blick auf die Topikalisierung und Positionierung der Satzteile sind zwei unterschiedliche Fragen zu stellen: 1. Wie sind die Sätze „gebaut“? Welche Reihenfolge haben die Satzteile (sofern alle vorkommen und der Satz nicht elliptisch ist)? 2. Stehen die Satzteile (Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbial, Prädikativ, die selbstver‐ ständlich nicht alle in einem Satz enthalten sein müssen) in den Sätzen eines Textes auffällig immer wieder an einer bestimmten (evtl. ungewöhnlichen) Position im Satz? Bereits beim ersten (oder zweiten oder dritten) aufmerksamen Durchlesen eines zu unter‐ suchenden Textes fallen geübten Linguist: innen häufige „Verdrehungen“ von Satzteilen bzw. Topikalisierung auf. Eine auffällige Präferenz bestimmter Platzierungen und Abfolgen wäre idiolektal. ■ a. Tim geht mit seinen Angestellten wie ein Diktator um. ■ b. Tim geht wie ein Diktator mit seinen Angestellten um. ■ c. Tim geht mit seinen Angestellten um wie ein Diktator. Das Satzbaumuster von Satz a. ist S-P 1 -O P -A-P 2 , von Satz b. S-P 1 -A-O P- P 2 und von Satz c. S-P 1 -O P -P 2- A. Viele Verfasser: innen versuchen, eine im Gesprochenen hörbare Betonung eines Satzteils im Schriftlichen durch die Satzstellung anzuzeigen. 3.18 Topikalisierung 167 <?page no="169"?> 61 Diese Regel steht für die Abfolge temporal - kausal - modal - lokal als Merkhilfe für die Grundpositionen der Adverbiale im Satz, sofern keine Topikalisierung vorliegt. ■ a. Ich wollte mit Tim am Sonntag reden. ■ b. Am Sonntag wollte ich mit Tim reden. Sofern keine besondere Betonung beim Sprechen vorliegt (was nicht bekannt ist, wenn der Satz nur schriftlich vorliegt), impliziert Satz b., dass die Ich-Person für verschiedene Tage verschiedene Pläne hatte; für Sonntag war der Plan, mit Tim zu reden. ■ c. Mit Tim wollte ich am Sonntag reden. Satz c. impliziert, dass die Ich-Person auch mit anderen Personen zu reden beabsichtigte; mit Tim am Sonntag. Bestimmten Verfasser: innen ist nicht klar, dass ihre gedachte bzw. intendierte Betonung bei rein schriftlicher Kommunikation nicht oder evtl. sogar falsch verstanden wird. Auch bei den nächsten vier Sätzen kann es sich um eine Bemühung handeln, eine Betonung, die beim Sprechen (eines Satzes mit normaler Satzteilabfolge) sicherlich deutlich wäre, durch Topikalisierung zu realisieren: ■ a. Ich spiele mit Sven besonders gern Schach. ■ b. Mit Sven spiele ich besonders gern Schach. ■ c. Ich spiele Schach besonders gern mit Sven. ■ d. Schach spiele ich besonders gern mit Sven. Die Sätze - und Satz d. im Besonderen - implizieren, dass die Ich-Person auch andere Spiele spielt, die aber gern mit einer anderen Person (also z. B. Ich spiele Backgammon besonders gern mit Luisa. oder Backgammon spiele ich besonders gern mit Luisa.). 3.19 Ungewöhnliche Satzteil-Positionierung Die Bemühung um eine Betonung durch nicht-standardmäßige Positionierung der Satzteile treibt mitunter seltsame Blüten. Verdrehungen/ Vertauschungen von Satzteilen (z. B. die Nennung eines Adverbials vor einem Objekt) machen einen Satz auch schwer lesbar bzw. gar schwer verständlich,: ■ Der Ober brachte nach 30 Minuten dem Gast die Suppe. Die übliche Reihenfolge ist die Nennung eines temporalen Adverbials (hier in Form der Präpositionalphrase nach 30 Minuten) nach den Objekten, also Der Ober brachte dem Gast die Suppe nach 30 Minuten. ■ Er hat auf diese Weise ihm die Augen geöffnet. Normgerecht wäre die Abfolge Er hat ihm auf diese Weise die Augen geöffnet. (oder auch Auf diese Weise hat er ihm die Augen geöffnet.). Ein Beispiel für die ungewöhnliche Abfolge adverbialer Bestimmungen (Verstoß gegen die Abverbial-Abfolge-Regel te-ka-mo-lo 61 ): 168 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="170"?> ■ Das merkst Du, wenn Du mit ihm länger als 15 Minuten sprichst. vs. Das merkst Du, wenn Du länger als 15 Minuten mit ihm sprichst. Im ersten Satz steht das modale Adverbial (mit ihm) vor dem temporalen Adverbial (länger als 15 Minuten), was von der Norm abweicht. Eine solche Abweichung kann ein Hinweis auf eine einem Idiolekt zuordnenbare Präferenz sein oder darauf hindeuten, dass der/ die Verfasser: in etwas betonen wollte. ■ a. Gestern hat der Berliner Anwalt mir 15 Dateien geschickt. ■ b. Gestern hat mir der Berliner Anwalt 15 Dateien geschickt. Die Abfolge der Satzteile ist bei Satz a: A t -P 1 -S-O D -O A -P 2 Bei Satz b: A t -P 1 -O D -S-O A -P 2 ■ Ich habe ihre Fragen versucht, zu beantworten. Hier wird das Objekt (Ihre Fragen) in den Hauptsatz geholt, obwohl das dazugehörige Verb (beantworten) im Nebensatz steht. Gemeint ist Ich habe versucht, ihre Fragen zu beantworten. oder Ich habe Ihre Fragen zu beantworten versucht. Im nächsten Satz wurde das finite Vollverb nach vorne gezogen (wieder ein Beispiel von Topikalisierung): ■ Beleidigt habe ich ihn nicht. Wahrscheinlich soll ausgedrückt werden, dass die Ich-Person die genannte Handlung (beleidigen) zwar nicht getan hat, dass sie der genannten Er-Person (dem Akkusativobjekt ihn) allerdings etwas anderes angetan hat (z. B. angebrüllt). Das wäre eine typische Funktion der Topikalisierung, die eher nicht idiolektal ist; bzw. das Idiolektale wäre, dass der/ die Verfasser: in solche semantischen Hervorhebungen - normgerecht - realisiert. Auch besonders häufige anaphorische Bezüge (also auf etwas vorher Erwähntes) sind idiolektal. Hier ein Beispiel eines Textes, der sehr viele anaphorische Bezüge enthält, und zwar mit Präpositionaladverbien (wie hieran, hierdurch), mit dem Demonstrativpronomen dies und vielen weiterführenden (nicht-attributiven) Relativsätzen. Die anaphorischen Elemente sind dunkel gekennzeichnet: Sehr geehrte Frau Hübner, Vielen Dank dafür, dass Sie mir Gelegenheit dazu geben, meine Bewertung in Kununu zu kommentieren, was ich hiermit gern tue. Bestimmte Mitarbeitende müssen Frau Neumann über Fehler von anderen berichten. Hierdurch spielt sie die Mitarbeitenden gegeneinander aus. Dienstplanänderungen durfte ich nicht durchführen. Dieses Recht hatte ausschließ‐ lich Frau Neumann. Ihre Laune wechselt oft zwischen normalem und aggressivem Verhalten, was sich auf die Mitarbeitenden und die Angehörigen auswirkt. 3.19 Ungewöhnliche Satzteil-Positionierung 169 <?page no="171"?> Es kam zu einem völligen Kompetenzverlust durch die Launen von Frau Neumann. So war keine Übernahme von Verantwortung mehr möglich. Sie äußerte immer wieder, dass sie die Chefin sei (was mir nicht unbekannt war). Beim letzten Audit wurde Geld im BTM-Fach gefunden, das einem Bewohner gehörte. Dies wurde bemängelt. Ich muss nun wegen dem ganzen Ärger blutdrucksenkende Medikamente nehmen; das alles wegen Frau Neumann. Als ich gekündigt hatte, wurde mein Zugang zur EDV sofort gesperrt. Dies vermut‐ lich nur, um mich weiter zu ärgern. Die Chefin nahm dann auch mein Schlüsselbund in ihr Büro mit. Dies bewirkte, dass ich meinen Schrank nicht mehr öffnen konnte. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 3.20.1 Er schreipt wia schpricht Die deutsche Orthografie ist deshalb ziemlich schwierig, weil viele Wörter nicht so geschrieben werden, wie sie klingen (sog. „mangelnde Lauttreue“; d. h. die korrekte Schrei‐ bung ist im Deutschen nicht „lautgetreu“); also es ist nicht alles einheitlich. Das Deutsche hat eine mangelnde Graphem-Phonem-Korrespondenz (GPK). Für die Schreibung der vielen unterschiedlichen Laute des Deutschen stehen (nur) 26 Buchstaben,die Umlaute (ä, ö, ü), „ß“ und die Buchstabenfolge „sch“ zur Verfügung. Graphem-Phonem-Korrespondenz (GPK), „Buchstaben-Laut-Übereinstimmung“ Die Lehre vom Verhältnis von geschriebenen zu lautlichen Formen heißt Graphema‐ tik, auch Graphemik Ein Graphem ist die kleinste sichtbare (grafische/ geschriebene) Sprach-Einheit; sie ist bedeutungsdifferenzierend, aber nicht selbst bedeutungstragend. Ein Phonem ist die kleinste hörbare (akustische/ artikulatorische) Sprach-Einheit; sie ist bedeutungsdifferenzierend, aber nicht selbst bedeutungstragend. Beispiele für uneinheitliche Schreibung: ● Das o in Kohle und Rose wird in beiden Fällen gedehnt gesprochen, aber nur Kohle hat ein Dehnungs-h. ● Die beiden Wörter Kante und kannte werden gleich ausgesprochen, aber nur eins der beiden wird mit einem Doppelkonsonanten geschrieben. ● Und es gibt gleich klingende Laute, die unterschiedlich geschrieben werden, z. B. Fuchs, Luxus und Klecks. ● Es gibt Buchstaben, die in verschiedenen Wörtern unterschiedlich ausgesprochen werden, z.-B. Beispiel das V in Vater und in Vase. 170 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="172"?> 62 Im deutschen Sprachraum ist etwa jeder siebte Erwachsene ein/ e funktionale/ r AnalphabetIn. ● Ein weiteres Problemfeld stellen die homographen Wörter dar, die gleich geschrieben werden. Ihre jeweilige Aussprache wird erst mit Hilfe des Kontextes ersichtlich wie beim Wort Montage. Je nach Kontext ist hier der Plural des Wochentages Montag oder der Vorgang der Montage auf einer Baustelle gemeint. Wenn man nicht in der Schule gelernt hat, wie man Fuchs schreibt, könnte man dieses Wort auch so schreiben: Fux, Fuks oder Fucks. Sex könnte man auch so schreiben: Secks oder Seks, heis oder heiß, Sand oder Sant, Qual oder Kwal oder Kwahl, und wann ist es Wal und wann Wahl? Und jemand, der nicht Englisch kann, schreibt Du Luser (statt Du Looser). Wenn ein Text mehrere oder viele solche orthografischen Auffälligkeiten enthält, könnte es sich bei dem/ der Verfasser: in um eine/ n „funktionalen Analphabeten“ handeln, der/ die zwar einzelne Sätze, jedoch keine zusammenhängenden Texte lesen und schreiben kann. 62 Werden Elemente konzeptioneller Mündlichkeit („Sprechschrift“) in Textsorten festgestellt, die nicht zu den typischen Social-Media-Texten gehören, ist für die Zwecke der forensischen Linguistik wichtig zu unterscheiden: ● Der/ die Verfasser: in verfügt über eine geringe Schreibkompetenz und folglich geringe Fähigkeit, sich je nach Register unterschiedlich auszudrücken ● Der/ die Verfasser: in möchte kommunikative Nähe signalisieren bzw. vorgeben, obwohl die Kommunikationssituation nicht persönlicher Art ist (etwaiges Sich-Ein‐ schmeicheln, Sich-Anbiedern, Ranwanzen). ● Der/ die Verfasser: in möchte kommunikative Nähe signalisieren, und die Kommunika‐ tionssituation ist persönlicher Art. Ich werde nicht müde zu betonen, dass es in diesem Buch nicht darum geht, „wie MAN schreibt“, auch nicht darum, eine Art Beschwerde über unzählige Normverstöße von Verfasser: innen zu formulieren; sondern es geht darum, aufzuzeigen, dass es sehr viele verschiedene Arten der Schreibung und der Ausdrucksweisen gibt, dass es in der Authentizitätsfeststellung in einem Text jeweils auffällig häufig auftretende (auch „saliente“ „systematische“, „frequente“, „pervasive“, „eminente“, „rekurrente“) Schreib-Strategien bzw. Muster festzustellen gilt, um auf diese Weise den Idiolekt des Verfassers festzustellen. In den meisten Fällen von Normverstößen - selbstverständlich mit Ausnahme der Verstel‐ lung - ist den Verfasser: innen der Verstoß nicht bewusst. Sie wollen verstanden werden und glauben auch, dass sie verstanden werden. Viele Verfasser: innen verwenden Wörter, die sie gehört haben. Diese Wörter dann korrekt zu verwenden und richtig zu schreiben, ist im Deutschen allerdings nicht so einfach. Und es kann Störungen geben: Jemand, der später etwas schreibt, was er gehört zu haben meint, hatte evtl. akustisch verzerrten Input (undeutliche oder falsche Aussprache des Sprechers) und/ oder eine mangelhafte akustische Wahrnehmung (weil es vielleicht Störgeräusche gab), und/ oder es gab eine andere Art der Ablenkung und/ oder er/ sie hat nicht richtig hingehört und/ oder sich nicht richtig gemerkt, was er/ sie gehört hat. Dazu kommt die oben erwähnte Schwierigkeit der mangelnden Graphem-Phonem-Korrespondenz (GPK) im Deutschen. Oft werden Buchstaben, die man beim Sprechen nicht hört, weggelassen: 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 171 <?page no="173"?> ■ Das hier ist unser Haupkonzept. ■ Er hat mich sehr entäuscht. ■ Ich finde das alamierend. ■ Er hat es in den Sand gesezt. ■ Dann sahen wir den Leuchturm von Staberhuk. ■ Diese Sache ist doch längs erledigt. Bei der Endung „st“ an Verbformen der 2. Person Singular wird gern das „s“ vergessen, wenn die Endung auf ein „sch“ folgt, weil sie beim Sprechen nicht gehört wird: ■ Ich weiß, dass du dir das schon sehr lange wünscht. ■ Du hälst Dich für oberschlau, oder? ■ Du duscht immer so lange. ■ Du enttäuscht mich. ■ Ich bin dir auf die Schliche gekommen: Du vertauscht die Etiketten. ■ Ich glaube, Du fischt im Trüben. ■ Du vermischt die Zutaten falsch. Bei allen obigen Sätzen fehlt das „s“ der Endung (-st) für die zweite Person Singular. ■ Sie hat die erotischte Ausstrahlung, die ich je erlebt habe. Hier wurde das „s“ der Superlativ-Endung (-ste) vergessen, die man im gesprochenen Wort kaum bzw. nicht hört. Andersherum wird ein „t“ nicht geschrieben, wenn man es vor einem „st“ nicht hört. ■ Du erhälst noch das was du verdienst. ■ Das hälst du nicht aus. Verfasser: innen, die andere Interessen haben als Genauigkeit bei der Sprache, hören oft nicht genau hin und begehen orthografische Normverstöße wie *tsychisch (statt psychisch), denn die meisten Menschen sprechen dieses Wort - speziell beim schnellen Sprechen - so aus, dass man das „p“ am Anfang kaum wahrnimmt. Wenn der/ die Verfasser: in wenig liest bzw. die Schreibung des Wortes psychisch bzw. Psyche nicht bewusst wahrnimmt, ist ihm/ ihr nicht klar, dass es mit einem „P“ beginnt. Wer nicht genau hinhört, versteht auch nicht, warum man das Wort Pfütze mit „Pf“, Fotze hingegen nur mit „F“ schreibt. Vielen ist dann nicht klar, dass es Pfütze und nicht Fütze heißt, und auch nicht, dass man verpfuscht schreibt und nicht verfuscht. Weitere typische ortografische Normverstöße: ■ Das war brutal und sardistisch von ihm. ■ Ihm schoss das Adrelanin in die Adern. ■ Jeder Arzt hat mal einen hypokratischen Eid geleistet. ■ Die haben behauptet, dass ich meine Kinder nicht atequat versorge. ■ Ich bin nicht so ein Autoposer, der seinen Motor gern angeberisch aufhäulen lässt. ■ Ich habe das gegugelt. Gemäß Duden und auch üblicherweie schreibt man googeln bzw. gegoogelt. Die meisten Menschen sehen den Eigennamen Google und auch das Verb googeln häufig; bzw. sie 172 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="174"?> 63 Dieses Phänomen (das Verstellen in dieser Richtung, also auf einen niedrigeren Bildungsstand) ist extrem selten. leiten von dem Eigennamen Google ab, dass das Verb dann wohl googeln (oder googlen) geschrieben wird, zumindest mit zwei „o“ und nicht mit einem „u“. Bei einem/ einer Textverfasser: in, der/ die gugeln schreibt, ist die Vermutung zulässig, dass er extrem selten liest und auch selten bzw. nie einen Computer verwendet. ■ Er nennt die Dinger immer Feisertabletten und nicht Wiagrer. Wer diesen Satz geschrieben hat, hat vermutlich nie - zumindest nicht bewusst - Pfizer und Viagra geschrieben gesehen. ■ Ich glaube, er hat das wohlwissent getan. Die Endung schreibt sich end; es handelt sich um ein Partizip Präsens. Bei der Aussprache klingt es - wegen der typisch deutschen „Auslautverhärtung“ allerdings, als würde man es mit einem „t“ am Ende schreiben. Ein solcher Fehler kann auch ein Tippfehler sein. Interessant wird es für die Authentizitätsfeststellung, wenn sich in demselben Text oder einem Vergleichstext mehr Fehler dieser Art finden. Es gibt Regeln, die man auswendig lernen und anwenden kann, es gibt jedoch auch solche schwierigen Fälle, die mit Auswendiglernen nicht gemeistert werden können - wie z. B. die Großschreibung eines Verbs, wenn es als Substantiv verwendet wird („Gerundium“), denn dazu muss man verstehen, wann ein Verb wie ein Verb und wann wie ein Substantiv verwendet wird, z.-B. ■ *Kochen konnte sie ganz gut, aber beim backen hatte sie Probleme. ■ *Wie der sich benimmt, das geht schon ins kriminelle. Viele Verfasser: innen haben bestimmte Ausdrucksweisen und bestimmte Wörter gelernt, aber wenn sie schwierig zu buchstabieren sind (wie z. B. Souterrain, Portemonnaie, peu à peu), meiden sie sie. Wenn ein Text auffällig viele falsch geschriebene schwierige Wörter enthält, kann das diese Gründe haben: 1. Der/ die Verfasser: in denkt, er/ sie hätte die Wörter richtig geschrieben. 2. Der/ die Verfasser: in achtet kaum auf Rechtschreibung und misst ihr wenig Wert zu. 3. Es handelt sich um eine Verstellung, und der/ die Verfasser: in möchte den/ die Leser: in denken lassen, er/ sie hätte einen niedrigeren Bildungsstand, als es tatsächlich der Fall ist. 63 Zu den am häufigsten falsch geschriebenen Wörtern (verkürzte „Liste der rechtschreiblich schwierigen Wörter“ des Online-Duden mit Adaptionen gemäß meinen Beobachtungen) gehören: Addresse (Adresse), agressiv (aggressiv), Aparat (Apparat), Aquise und aquirieren (Akquise, akquirieren), Aschloch (Arschloch), authorisieren (autorisieren), detalliert (detailliert), ei‐ gendlich (eigentlich), Endscheidung (Entscheidung), entgültig (endgültig), Extase (Ekstase), fabig (farbig), Förderation (Föderation), Gallerie (Galerie), Gruss (Gruß), hälst (hältst), 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 173 <?page no="175"?> in rauhen Mengen (in rauen Mengen), Interresse (Interesse), Intriege (Intrige), Kommi‐ tee (Komitee), korigieren (korrigieren), lies (ließ), lizensieren (lizenzieren), Maschiene (Maschine), Orginal (Original), paralell (parallel), projezieren (projizieren), Resource (Res‐ source), Rythmus oder Rhytmus (Rhythmus), seelig (selig), seperat (separat), Standart (Standard), sympatisch (sympathisch), subsummieren (subsumieren), Terasse (Terrasse), Terrabyte (Terabyte), Tip (Tipp), Tolleranz (Toleranz), unentlich (unendlich), verpöhnt (verpönt), wiedersprechen (widersprechen), wohlmöglich (womöglich) Bei dem Wort Rhetorik stellt die Position und Anzahl der „h“s ein Problem dar. Das „h“ wird leicht an eine andere Stelle im Wort gesetzt, oder es wird - falsch - mit zwei „h“s, also *Rhethorik, geschrieben. Bei den meisten Verfasser: innen unterscheidet sich der Schreib-Stil von ihrem Sprech-Stil. Es gibt viele Ausdrucksweisen, die sie sagen, jedoch nicht schreiben, z. B. Ich finde den Sven ’n ganz schlechten Mittelstürmer. (statt Ich finde, dass der Sven ein ganz schlechter Mittelstürmer ist.) Wenn in einem zu untersuchenden Text jedoch solche Ausdrucksweisen, die eher der konzeptionellen Mündlichkeit entsprechen, gehäuft auftreten, kann das einen niedrigen Bildungsstand vermuten lassen und/ oder idiolektal sein, sofern es nicht einem Register (sehr vertraulich, Brief an einen Freund) entspricht. Bei den folgenden zwei Sätzen fehlt ein s (das s des st für die 2. Person Singular), das man beim Sprechen nicht hört. ■ Du duscht immer so lange. ■ Du beherrscht die deutsche Sprache nicht. Jemand, der in der Schule im Deutschunterricht bei der Konjugation nicht aufgepasst hat bzw. es nicht verstanden hat, der auch keine Fremdsprache gelernt hat und auch nicht viel liest, hat keine Chance, zu wissen, dass die korrekte Schreibweise duschst und beherrschst ist. Weitere Normabweichungen: ■ Er ist als Mehrtürer gestorben. ■ Heute gibt es gefüllte Oberschienen. ■ Der is son Interlektueller. ■ Ich finde das ‘n fähres Angebot. ■ Ich weiß nicht was das dastellen soll. ■ Wir waren alle total geweipt. ■ Ich findes gut das wir in Deutschland Förderalismus ham. Weiß der/ die Verfasser: in nicht, dass das Schimpfwort in den beiden folgenden Sätzen mit einem „r“ geschrieben wird, oder hat er/ sie das r in Eile zu tippen vergessen? ■ Ich hab wieder die Aschkate. ■ Ich gucke den nich mitn Asch an. ■ Er hat ein Glück nichs gemerkt. 174 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="176"?> Das ist ein typisches Beispiel für Sprechsprache (statt Er hat zum Glück nichts gemerkt. oder Er hat - welch ein Glück! - nichts gemerkt.). Weitere typische Beispiele für geschriebene Sprechsprache: ■ Sons ficken wir sein Leben. ■ Das ist ein Fenomehn das ich nicht verstehe. ■ Tim war einer von den Sagtregern. ■ Was der beruflich macht? Aquise. ■ Das is doch eintlich nich nomal. ■ Sie sollten ein Prezedenzfall schaffen! ■ Er hat den Hund maltrittiert. ■ Sie war sperrlich bekleidet. ■ Das der immer sein Semf zu allem geben muss! ■ Ich bin schickaniert worden. Bei den Wörtern“schikanieren“ und „Schikane“ (die man mit nur einem „k“ und nicht mit „ck“ schreibt), könnte man meinen, dass man sie so wie das Wort „schick“ schreibt. ■ Ich glaube, er ziehlte mit seinen dauernden Fragen darauf ab, die Prüfer maximal zu verwirren. Dabei würde der/ die Verfasser: in das Substantiv „Ziel“ sicherlich korrekt ohne „h“ schrei‐ ben. Er/ Sie macht sich keine Gedanken darüber, dass das Substantiv Ziel und das Verb auf etwas abzielen miteinander verwandt sind. Interessant für die Authentizitätsfeststellung ist auch, wenn der/ die Verfasser: in ganz offen‐ sichtlich nicht bedenkt, dass das Multimodale des Sprechens beim aufgeschriebenen Text entfällt (Prosodie, Betonung, Gestik, Mimik usw.). Dieses Phänomen ist oft bei in sozialen Medien vermittelten Texten zu beobachten. Die Schreiber: innen fühlen sich beim Verfassen einer Social-Media-Nachricht fast wie in einer Sprech-Situation und verwenden u. a. mehr elliptische Konstruktionen bzw. Satzfragmente, Satzbaubrüche (begonnene Konstruktionen werden abgebrochen und in anderer syntaktischer Weise fortgeführt), bei der Wortwahl dominieren die Verben „sein“ und „haben“; vor allem werden oft für die gesprochene Sprache typische deiktische Ausdrücke verwendet, obwohl im Schriftlichen Zusatzinformationen zum Dekodieren der Deixis benötigt werden (z. B. Wo ist hier in einem Satz wie Die langfristige Therapie von Männern mit viel Testosteron ist hier nicht sinnvoll.? ). Typisch sind auch Elisionen (Tilgungen, also das Weglassen eines unbetonten Vokals, z. B. ew’ge, glaub [statt glaube]), Ellipsen (wie Nie wieder! ), Klitika (Zusammenziehungen und Verschleifungen wie hinterm), Satz(bau)brüche (Anakoluthe). Ich nenne diese konzeptionelle Mündlichkeit im Schriftlichen - speziell mit den ortho‐ grafischen Besonderheiten, die man auf nicht ausgesprochene Buchstaben und Silben zurückführen kann, kurz Sprechschrift. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 175 <?page no="177"?> 64 Kasus, Numerus, Genus 3.20.2 Schreib-Entwicklungs-Störungen Wenn ein Text durch extrem viele Normverstöße auffällt, hat der/ die Verfasser: in mög‐ licherweise keine oder wenig Schulbildung genossen, es kann sich um eine kognitive Behinderung, mentale bzw. intellektuelle Retardierung oder eine Demenz handeln, es kann Legasthenie (Lese-/ Rechtschreib-Störung) oder Dysgrammatismus (kindliche Sprach‐ erwerbsstörung bzgl. des Bildens morphologisch und syntaktisch korrekter Sätze), Agram‐ matismus (nach der Kindheit erworbene Störung bzgl. des Bildens morphologisch und syntaktisch korrekter Sätze) oder eine andere Störung des Verfassers vorliegen. Solche Störungen sind jedoch Gegenstand der Spracherwerbsforschung, also psycholinguistischer Forschung. Anzeichen solcher Störungen sind interessant, ihre genauere Betrachtung würde jedoch den Rahmen dieses Buches sprengen. Das Erkennen einer solchen Störung erfordert eine entsprechende Ausbildung und fun‐ dierte Kenntnisse und Fähigkeiten, die in einem Studium der Linguistik nicht erworben werden. Interessant für die Authentizitätsfeststellung ist, wenn (ohne die genannten Kenntnisse von Dysfunktionen) folgende Kombination auffällt: a) hochfrequente Normverstöße, b) Verständlichkeit, was in den meisten Fällen den Schluss auf einen niedrigen Bildungsstand, jedoch (relativ) hohe Intelligenz zulässt. Hier ein Beispieltext, der aus einem Stalkingfall stammt: gans kurts nur lieplink ich nendich so weil ich ein ser schtakes gefül für dich enfinde ich erzele nich merchen kanste glauben ich hap achtunk vor dir und eine ser hoe meinunk und du bis eine dame das is ja nich jede frau. Kanste mich ruich vatraun nemich dir nichs wek. Warum sakstu immer du hetest keine zeit ich weis gans genau das du zeit hetest wen du es wolltest ja und das verschteich nich ich hap montach von drausen indein zima gekukt du has an tisch geseßn und wast nich krank es isnich so widu es gesakt hattest. Typisch für Texte, die dieses Merkmals-Cluster aufweisen (viele Fehler, jedoch Verständ‐ lichkeit, ein typisches „Idiolekt-Cluster“), ist die im vorangegangenen Kapitel erläuterte Sprechsprache mit häufigen Klitika und mangelnder KNG 64 -Kongruenz. Das Gegenteil von Schreib-Entwicklungs-Störungen, also außergewöhnlich gute Leistun‐ gen beim Lesen- und Schreiben-Lernen im frühen Kindesalter, nennt man „Hyperlexie“, die ein Anzeichen für Hochbegabung oder auch Autismus sein kann. 3.20.3 Das „ss/ s-Problem“ einschließlich „dass/ das(/ daß)“ Speziell in Fällen, in denen ein/ e Textverfasser: in Abschluß, Kuß, Nachlaß oder Er wußte es. schreibt (statt Abschluss, Kuss, Nachlass bzw. wusste), also die alte Regel für ss/ ß anwendet, die vor der Rechtschreibreform galt, könnte es sich, sofern nicht ein vorsätzlicher 176 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="178"?> 65 Die meisten deutschen Gesetzestexte sind so verfasst, wie sie ursprünglich veröffentlicht wurden, es sei denn, sie wurden inhaltlich geändert oder novelliert. Auch die „alten“ Gesetzestexte werden jedoch nach und nach konsolidiert und aktualisiert, und Gesetzestexte, die oft zitiert bzw. verwendet werden, werden „vorgezogen“, d. h., sie werden ohne inhaltliche Änderung an die aktuelle Recht‐ schreibung angepasst. Täuschungsversuch vorliegt, um eine ältere Person handeln, deren Schulzeit vor der Rechtschreibreform lag und die die neuen Regeln der Rechtschreibreform - unbewusst oder auch bewusst bzw. vorsätzlich - nicht (oder nur teilweise) anwendet. Achtung: Juristen bzw. Leser, die oft - z. B. im Internet - Gesetzestexte lesen, sehen (lesen) auch nach der Rechtschreibreform noch Gesetzestexte mit der alten Schreibung, denn viele der inhaltlich nicht reformierten bzw. novellierten Gesetzestexte sind (noch) nicht gemäß der Rechtschreibreform verändert worden. 65 Regel: Wenn der Vokal davor lang ausgesprochen wird: ß, wenn kurz, dann ss. Merksatz: Gruß und Kuss, Dein Julius! Das Gleiche gilt für die Schreibung der Konjunktion dass. Der Vokal davor wird kurz ausgesprochen, also gibt es nur noch dass und nicht mehr daß (dann würde das a lang ausgesprochen). ■ Er wollte die Masse wissen, aber ich konnte ihm nur die Länge sagen und nicht die Breite. Gemeint sind sicherlich die Maße und nicht die Masse (wie in Insolvenz-, Konkurs-, Erb-, Bio-, Schneemasse). Möglich ist natürlich immer, dass eine dezeptive Absicht vorliegt; der/ die Leser: in soll denken, der/ die Verfasser: in wäre vor der Rechtschreibreform zur Schule gegangen, und soll auf ein höheres Alter schließen. Da für die forensische Linguistik und speziell die Authentizitätsfeststellung die Nebensätze, die ich in diesem Buch zur Vereinfachung „Dass-Sätze“ nenne, besonders interessant sind, werden sie in den Kapiteln zum Satzbau (siehe speziell die Ausführungen zur Vermeidung der Konjunktion „dass“ am Anfang des Satzes → Kap. 3.13) und auch hier - zum Thema Kommasetzung - gesondert betrachtet. Der Terminus bzw. die Bezeichnung „Dass-Satz“ ist speziell für die Zwecke dieses Buches geeignet, weil es oft sinnvoll ist, beim ersten, groben Durchsehen eines Textes in Bezug auf die Kommasetzung darauf zu achten, wie der/ die Verfasser: in dies handhabt bzw. ob hier viele Normverstöße auffallen. Dazu gehört auch, darauf zu achten, ob alle Fälle von „dass“ als „dass“ mit zwei „s“ und nicht als „das“ mit einem „s“ geschrieben werden (in Sätzen wie Ich habe immer gesagt, dass das Essen, das meine Oma kocht, das beste ist.). Damit einhergehend ist festzustellen, ob vor dem „dass“ immer ein Komma steht, jedoch vor allem, ob auch das Ende des „Dass-Satzes“ vom Rest des Satzes mit einem Komma abgetrennt wird (sofern das Ende des „Dass-Satzes“ nicht zufällig auch das Ende des Gesamtsatzes ist). An dieser Stelle wird es für die Authentizitätsfeststellung interessant, weil sehr viele Verfasser: innen mit mangelhafter Komma-Kompetenz zwar „das“ und „dass“ korrekt unterscheiden und auch vor „dass“ ein Komma setzen, das Komma am Ende des „Dass-Sat‐ zes“ jedoch nicht setzen. Das ist etwas Idiolektales. Man kann im gegebenen Fall, also 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 177 <?page no="179"?> bei auffälliger Häufigkeit bzw. bei auffälligen Unterschieden in zwei zu vergleichenden Texten bei diesem Phänomen, die Bezeichnung „häufig korrektes Komma vor korrektem ‚Dass-Satz‘-Beginn“ als Kriterium verwenden. Die Untersuchung eines Textes oder mehrerer Texte auf „dass/ das/ daß“-Inzidenzen mithilfe einer Konkordanz-Software (z.-B. AntConc) kann so aussehen (hier ein kurzer Text): So können die Ergebnisse des Vergleichs des Vorkommens von „dass/ das/ daß” in zwei Texten aussehen, und zwar einmal die Gesamt-Anzahl der Inzidenzen (also Normverstöße) auf die Wortzahl bezogen (obere Tabelle) und einmal die einzelnen Inzidenzen (also Normverstöße) auf die Gesamt-Anzahl der Inzidenzen/ Normverstöße bezogen (untere Tabelle): „dass/ das/ daß“ INKR % VGL % Wörter gesamt 282 - 253 - Inzidenzen/ Normverstöße „dass/ das/ daß” ge‐ samt 11 3,90 8 3,16 Tab. 32: Beispiel-Tabelle für die Ergebnisse eines dass/ das/ daß-Vergleichs von zwei Texten Das Ergebnis zeigt eine ähnliche prozentuelle Anzahl an „dass/ das/ daß“-Normverstößen im inkriminierten Text und im Vergleichstext. Wichtig ist allerdings auch die Unterscheidung, ob vor dem dass/ das/ daß ein Komma steht: „dass/ das/ daß“ INKR % VGL % Inzidenzen/ Normverstöße „dass/ das/ daß” ge‐ samt 14 100-% 17 100-% „das“ statt „dass“ ohne Komma davor 2 14,29 3 17,65 „dass“ statt „das“ ohne Komma davor 0 0,00 4 23,53 178 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="180"?> „dass/ das/ daß“ INKR % VGL % „daß“ statt „dass“ ohne Komma davor (alte Schreibg.) 2 14,29 0 0,00 „daß“ statt „das“ ohne Komma davor 1 7,14 0 0,00 „das“ statt „dass“ mit Komma davor 1 7,14 3 17,65 „dass“ statt „das“ mit Komma davor 0 0,00 4 23,53 „daß“ statt „dass“ mit Komma davor (alte Schreibg.) 5 35,71 0 0,00 „daß“ statt „das“ mit Komma davor 1 7,14 0 0,00 „Das“ (statt „Dass“) am Satzanfang 2 14,29 3 17,65 „Dass“ (statt „Das“) am Satzanfang 0 0,00 0 0,00 „Daß“ (statt „Dass“) am Satzanfang (alte Schreibg.) 0 0,00 0 0,00 „Daß“ (statt „Das“) am Satzanfang 0 0,00 0 0,00 Tab. 33: Beispiel-Tabelle für die detaillierten Ergebnisse eines dass/ das/ daß-Vergleichs von zwei Texten Das Ergebnis zeigt ganz deutlich, dass im inkriminierten Text das „daß“ vorkommt, allerdings nur mitten im Satz und nicht am Satzanfang und fast immer lediglich in der alternativen alten Schreibweise; nur einmal steht „daß“ statt „das“ (und nicht anstelle der neuen Schreibweise „dass“). Im Vergleichstext hingegen kommt kein einziges „daß“ vor. Es kommt häufig „das“ statt „dass“ vor, aber auch „dass“ statt „das“. Es geht also nicht nur um die Anzahl der Verstöße des Typs „dass/ das/ daß“. Wenn „daß“ statt „dass“ geschrieben wird, ist das lediglich die alte Schreibweise (vor der Rechtschreibreform), die darauf hindeutet, dass jemand den Text verfasst hat, der vor der Rechtschreibreform zur Schule gegangen ist. Wenn „daß“ statt „das“ geschrieben wird, kommt ein „echter“ Normverstoß hinzu. Weiterhin wurde in der obigen Aufstellung - sinnvollerweise - aufgeführt, ob der/ die Verfasser: in vor den Lexemen „dass/ das/ daß“ ein Komma gesetzt hat. Wenn vor dem „das“ - korrekterweise - ein Komma steht, kann es sich auch um einen Relativsatz handeln, und dann ist das „das“ ein Relativpronomen und nicht eine falsch geschriebene Konjunktion (ein „dass“ mit nur einem „s“). Dies ist ein weiteres Beispiel, das zeigt, dass qualitative Verfahren unverzichtbar sind. Es wird sicherlich mindestens ein Jahrzehnt vergehen, bis KI solche Untersuchungen verläss‐ lich leisten kann, was jedoch primär daran liegt, dass es wesentlich mehr KI-Entwicklung in Bezug auf die englische Sprache als auf die deutsche gibt (es gibt ja auch wesentlich mehr Sprecher: innen des Englischen). 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 179 <?page no="181"?> 3.20.3.1 das vs. dass (früher daß) Das Lexem „das“ kommt vor als: 1. Artikel (direkt vor dem dazugehörigen Substantiv oder auch vor einem Adjektiv, das zwischen dem Artikel und dem dazugehörigen Substantiv steht), z. B. Ich habe das Kind getröstet., Ich habe das weinende Kind getröstet. 2. Demonstrativpronomen, z.-B. Ich habe das nicht gewusst., Das will ich haben. 3. Relativpronomen: z. B. Mit dem Auto, das er gemietet hat, sind wir jeden Tag gefahren. Das Lexem „dass“ ist immer eine Konjunktion, z.-B.: Ich glaube, dass er es war. Dieses Buch enthält viele Beispiele (Dass-Sätze). Es gibt natürlich auch Sätze, in denen (mehrere Formen von) das und dass vorkommen. was manche Verfasser: innen verwirrt. ■ Ich habe immer gesagt, dass das Essen, das meine Oma kocht, das Beste ist. ■ Ich glaube, dass er das getan hat. ■ Das ist ein Zitat, das zeigt, dass er ganz anders gedacht hat. ■ Mit dem Gerät, das er sich geliehen hat, geht das nicht. ■ Mit dem Auto, das sie gekauft hat, ist es nun möglich, dass wir mehr Waren transportieren. Unsicherheit bei der „dass/ das“-Schreibung Sie besteht primär in den folgenden zwei Fällen: Wenn ein Satz mit „dass/ das“ beginnt Wenn mitten im Satz ein Komma steht und darauf ein „dass/ das“ folgt Was Schwierigkeiten bereitet, ist, dass beide Fälle (dass und das) vorne und auch in der Mitte des Satzes und auch nach einem Komma vorkommen (auch dass ohne Komma davor): ■ Das hat er nicht ernst gemeint. ■ Dass das so viel kostet, wusste ich nicht. ■ Ich möchte nicht, dass er das erfährt. ■ Ich finde, das solltest du deinem Sohn verbieten. ■ Ich finde, dass du das gut gemacht hast. ■ Ich erwarte, dass er zugibt, dass er das Fahrrad genommen hat und dass er es nicht richtig zurückgestellt hat und dass er nicht so tut, als würde ihn das alles nichts angehen. Die große Frage ist für viele Verfasser: innen: Ist das ein „Dass-Satz“ oder nicht? In anderen Worten: Schreibt man das Wort mit zwei oder mit einem „s“? Bei Dass-Sätzen mit zwei dass wird oft das zweite dass nicht als Konjunktion erkannt bzw. betrachtet, weil viele Verfasser: innen meinen, dass stünde immer nur direkt nach dem Komma (→-Kap. 3.1 mit den häufigsten Fehlannahmen über korrektes Deutsch). Ihnen ist nicht bewusst, dass ein Dass-Satz nach einem mit dass beginnenden Element ein weiteres mit einem dass beginnendes Element enthalten kann, wie der obige letzte Beispielsatz zeigt. Ein weiteres Problem: Wenn ein Satz mit einem Hauptsatz beginnt und der folgende Nebensatz mit einem dass/ das beginnt, wird leicht falsch angenommen, das dass/ das sei 180 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="182"?> die als dass zu schreibende Konjunktion (eines Dass-Satzes), und es passieren Fehler wie diese: ■ *Damit will ich aber nicht sagen, dass sollte man in diesem Fall so machen. Es handelt sich hier um einen Objektsatz, für den es die Varianten der Realisierung mit der Konjunktion dass und ohne Konjunktion (uneingeleitet) gibt. Neben der (korrekten) Schreibung (Damit will ich aber nicht sagen, das sollte man in diesem Fall so machen.) steht alternativ zur Auswahl: ■ Damit will ich aber nicht sagen, dass man das in diesem Fall so machen sollte. 3.20.3.2 Exkurs: Dass-Sätze Hier eine Übersicht über die Dass-Satz-Arten mit Beispielen: Dass-Sätze Satzteil (mit syntaktischer Funktion) Adverbialsatz (Konsekutivsatz [nach „so“], Modal‐ satz [mit „ohne dass“]) Der Winter war so kalt, dass viele Pflanzen eingingen. Das Lied wurde vorgetragen, ohne dass sich ein einziger Sänger ein einziges Mal geräuspert hätte. Subjekt-Satz Dass Tim gestern mit dem Lieferwagen unterwegs war, weiß ich genau. Objekt-Satz -- • Akkusativ-Objekt Ich bereue es nicht, dass ich ihm die Meinung gesagt habe. Dass ich ihm die Meinung gesagt habe, bereue ich nicht. • Dativ-Objekt (selten) Dass das zurückgegeben werden muss, (dem) widerspreche ich. • Genitiv-Objekt (selten) Ich bin mir (dessen) nicht sicher, dass er das nicht schafft. • Präpositionalobjekt Wir konnten nicht darauf verzichten, dass auch Tim einge‐ weiht wurde. Prädikativ-Satz Mein Eindruck ist, dass er Dich über den Tisch ziehen will. Nebensatz als Attribut (ohne syntaktische Funktion): Inhaltssatz • nach Korrelat „es“ im Matrixbzw. (wie hier) Hauptsatz Es beeindruckt ihn sehr, dass sie so gut tanzen kann. • abhängig von einem Substan‐ tiv im Matrixbzw. (wie hier) Hauptsatz Sie kamen zu dem Schluss, dass sie nach einem anderen Schuldigen suchen mussten. Tab. 34: Dass-Sätze Die häufigsten und folglich typischen Fehler bzgl. das/ dass finden sich nach einem Komma, und zwar: 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 181 <?page no="183"?> 66 Ja, das ist kein Tippfehler. Es gibt „Dass-Sätze“ ohne „Dass“. 1. das statt dass ■ *Bei der Heizungs-/ Wasserinstallation dürfen Sie nicht vergessen, das abgedrückt und dicht ist. 2. dass statt das ■ *Wir halten es für sinnvoll, dass alles - also die Erlöse aus der Tombola - an die Belegschaft zu verteilen. 3.20.3.3 Exkurs: Inhalts-Sätze Wir werden etwas genauer: „Dass-Sätze“ als eine Unterart der Inhaltssätze. Inhaltssätze kommen vor als: 1. „Dass-Sätze“ (mit „dass“) 2. „Dass-Sätze“ ohne „dass“ 66 3. erweiterter Infinitiv (wenn der Hauptsatz kein neues/ eigenes Subjekt hat) (→-Kap.-8.13.12) Zu 1.: Zu dem ersten Typ gibt es in diesem Buch in verschiedenen Kapiteln Beispiele. Zu 2.: Beispiele zum zweiten Typ („Dass-Sätze“ ohne „dass“): Dass-Satz ohne dass zum Vergleich: Dass-Satz mit dass Er behauptet, er hat (habe) damit nichts zu tun. Er behauptet, dass er damit nichts zu tun hat. Sie schrieben, der Anwalt habe dem Mandanten davon abgeraten, in Berufung zu gehen. Sie schrieben, dass der Anwalt dem Mandanten davon abgeraten hat (habe), in Berufung zu gehen. Hans-Georg Maaßen findet, Deutschland bräuchte eine Chemotherapie. Hans-Georg Maaßen findet, dass Deutschland eine Chemotherapie bräuchte. Er behauptet, er hätte das Buch gelesen. Er behauptet, dass er das Buch gelesen hätte. Der Irrglaube, höhere Preise führten zu geringe‐ ren Verkaufszahlen, ist weit verbreitet. Der Irrglaube, dass höhere Preise zu geringeren Verkaufszahlen führen, ist weit verbreitet. Der Angeklagte behauptet, er sei nicht am Tatort gewesen. Der Angeklagte behauptet, dass er nicht am Tatort gewesen sei. Er dachte, wir hätten ihn vergessen. Er dachte, dass wir ihn vergessen hätten. Ich hoffe, ich habe Dir damit geholfen. Ich hoffe, dass ich Dir damit geholfen habe. Ich wünschte, ich wäre ihm nie begegnet. Ich wünschte, dass ich ihm nie begegnet wäre. Er hatte den Eindruck, alles wäre in Ordnung. Er hatte den Eindruck, dass alles in Ordnung wäre. 182 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="184"?> Dass-Satz ohne dass zum Vergleich: Dass-Satz mit dass Wegen seiner Angst, Luisa würde die Fotos pos‐ ten, ist er zum Vertrauenslehrer gegangen. Wegen seiner Angst, dass Luisa die Fotos posten würde, ist er zum Vertrauenslehrer gegangen. Tab. 35: Dass-Sätze ohne „dass“ Bei diesem Satz-Typ („Dass-Satz ohne dass“) wird das Komma besonders häufig vergessen. Zu 3.: Beispiele zum dritten Typ (erweiterter Infinitiv): erweiterter Infinitiv zum Vergleich: mit Dass-Satz Er wartet schon mehrere Monate darauf, endlich seinen Sohn wiedersehen zu können. (Objektsatz/ Präpositionalobjekt) Er wartet schon mehrere Monate darauf, dass er endlich seinen Sohn wiedersehen kann. Sie hat vorgeschlagen, ihre Oma für ein paar Tage zu besuchen. (Objektsatz/ Akkusativobjekt) Sie hat vorgeschlagen, dass sie ihre Oma für ein paar Tage besucht. Zum Essen zu bleiben, hatte er mir vorgeschla‐ gen. (Objektsatz/ Akkusativobjekt) Er hatte mir vorgeschlagen, dass ich zum Essen bleibe. Tab. 36: Erweiterter Infinitiv im Vergleich mit „Dass-Satz“ Bei dem obigen letzten Beispiesatz steht der Nebensatz in Form eines erweiterten Infinitivs, ein Objektsatz, am Satzanfang. Diese Satzbau-Variante kommt im Schriftlichen selten vor, und zwar speziell dann, wenn ein Aspekt topikalisiert werden soll, den ein/ e Sprecher: in im mündlich realisierten Satz mit einer besonderen Betonung realisieren würde. Beim obigen Beispielsatz möchte der/ die Verfasser: in wahrscheinlich zum Essen topikalisieren (bzw. rhematisieren), also betonen, dass der Vorschlag der „er“-Person darauf beschränkt war, dass der Gast zum Essen bleibe und nicht noch länger bzw. nicht noch zu anderen Aktivitäten oder gar zum Übernachten o.-Ä (→-Kap. 3.18 zur Topikalisierung). Beispiele für Sätze mit Nebensätzen des Typs „Dass-Satz“. Die (von mir) empfohlene Kodierung für das Komma vor/ nach dem Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ sieht so aus: [[[,] / [,]]]: Dass-Satz Beispielsatz Subjekt-Satz am Anfang Dass dieser Einwand kommen würde [,]]] war uns allen klar. Subjekt-Satz am Ende (mit implizitem Korre‐ lat im vorangehenden Hauptsatz) Ihn beeindruckt (es) sehr [[[,] dass sie so gut tanzen kann. Subjekt-Satz am Ende (mit explizitem Korre‐ lat im vorangehenden Hauptsatz) Es beeindruckt ihn sehr [[[,] dass sie so gut tanzen kann. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 183 <?page no="185"?> Dass-Satz Beispielsatz Adverbial-Satz am Ende Ich bin mir (dessen) sicher [[[,] dass er das nicht schafft. Objekt-Satz (Akkusativ-Objekt) am Ende Ich weiß [[[,] dass du dich mit Lena getroffen hast. Objekt-Satz (Akkusativ-Objekt) am Anfang Dass er verhaftet wurde [,]]] weiß ich. Objekt-Satz (Akkusativ-Objekt) eingebettet Ich weiß [[[,] dass er es nicht war [,]]] und das werde ich auch so aussagen. Objekt-Satz (Präpositional-Objekt) am Ende (mit implizitem Korrelat [darauf] im voran‐ gehenden Hauptsatz) Er wartet schon mehrere Wochen (darauf) [[[,] dass seine Anfrage bearbeitet wird. Objekt-Satz eingebettet (mit explizitem Kor‐ relat [darin] im vorangegangenen Hauptsatz) Ich sehe die Gefahr gerade darin [[[,] dass der Fahrer übermüdet ist und nicht aufpasst [,]]] und dann haben wir einen Unfall. Tab. 37: Dass-Satz-Arten Das Komma am Ende eines „Dass-Satzes“ - wie in den obigen Sätzen - ist für die Lesbarkeit sehr wichtig. Es geht darum, dass der/ die Leser: in die Struktur des Satzes und die Grenzen zwischen Sinneinheiten sehen kann. Dass/ das nach einem Komma: Die dass/ das-Entscheidung nach einem Komma bereitet Verfasser: innen mit einem eher niedrigen Bildungsstand Probleme. Die folgenden zwei Sätze beginnen jeweils mit einem Hauptsatz, und es folgt ein Inhaltssatz, hier ein Objektsatz (Wen oder was versprach er? ). Bei Satz a. ist der Nebensatz ein Dass-Satz, bei Satz b. ist das Wort nach dem Komma keine Konjunktion, sondern ein Demonstrativpronomen, welches semantisch ein Handeln (oder eine Tat, ein Verhalten) bezeichnet (und das er - im folgenden Beispielsatz - nie wieder zu tun versprach). ■ a. Er versprach, dass er das nie wieder tun würde. ■ b. Er versprach, das nie wieder zu tun. Tipp: Mit der „Ersatzprobe“ kann man herausfinden, ob es das oder dass ist: Wenn man das Wort (das bzw. dass) durch dies(es), jenes oder welches ersetzen kann und der Satz immer noch sinnvoll ist, dann ist es das (mit „s“); wenn nicht, ist es dass (mit „ss“). Die zwei auffällig häufig auftretenden Fehler beim Thema „dass/ das“ sind folglich: 1. Das statt dass 2. Dass statt das 184 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="186"?> Das statt dass Ein Dass-Satz, also ein Nebensatz, der mit dass beginnt, wird vom Verfasser dann häufig nicht als solcher erkannt (und folglich nicht mit dass sondern mit das geschrieben), wenn er am Satzanfang steht. Viele dieser Verfasser: innen haben kein Problem (und setzen folglich immer das Komma korrekt und schreiben dass korrekt), wenn der Dass-Satz nicht am Anfang, sondern später im Satz steht. Dass-Satz vorne Dass-Satz hinten Dass Tim gestern mit dem Lieferwagen unter‐ wegs war, weiß ich genau. Ich weiß genau, dass Tim gestern mit dem Lie‐ ferwagen unterwegs war. Dass der Köter ihn gebissen hat, hat er bestätigt. Er hat bestätigt, dass der Köter ihn gebissen hat. Dass Du so früh gehen musstest, war schade. Es war schade, dass Du so früh gehen musstest. Dass sie gut aussieht, finde ich auch. Ich finde auch, dass sie gut aussieht. Dass Dr. Horche das Rezept unterschrieben hat, stimmt nicht. Es stimmt nicht, dass Dr. Horche das Rezept unterschrieben hat. Dass er an meine Geburtstag gedacht hat, hat mich sehr gefreut. Es hat mich sehr gefreut, dass er an meine Geburtstag gedacht hat. Dass jeden Tag sein Blutdruck gemessen wird, ist wichtig. Es ist wichtig, dass jeden Tag sein Blutdruck gemessen wird. Dass wir Ihnen die Betriebsanleitung gesondert schicken, wenn Sie das möchten, ist möglich. Es ist möglich, dass wir Ihnen die Betriebsanlei‐ tung gesondert schicken, wenn Sie das möchten. Tab. 38: Dass-Sätze vorn und hinten im Satz Diese Sätze werden sehr oft - falsch - mit das statt dass geschrieben. Siehe auch die Ausführungen über den Kunstgriff „Es“ zur Vermeidung von dass“ (→-Kap. 3.13), bei dem es darum geht, dass Verfasser: innen den Dass-Satz nach hinten „schieben“, in dem sie den Satz mit „Es“ beginnen. Aber auch bei nicht am Anfang stehenden Dass-Sätzen gibt es Probleme. ■ *Du musst beim Speichern darauf achten das du nicht im alten Format speicherst. Wenn ein/ e Verfasser: in einen Dass-Satz auch dann nicht richtig einleitet (also mit Komma und dass), wenn dieser Nebensatz nicht der erste Satzteil ist, wenn der/ die Textverfasser: in ihn also bei seinen/ ihren Vorüberlegungen vor dem Schreiben nicht als Dass-Satz identifi‐ ziert (folglich kein Komma setzt und das statt dass schreibt), hat er/ sie, sofern es sich nicht um einen Performanzfehler handet, vermutlich wenig Kenntnisse über Satzbau. Dass statt das Verfasser: innen glauben oft, es läge ein Dass-Satz vor bzw. das Wort nach dem Komma sei als dass zu schreiben, wenn sie ein Komma setzen und das Wort „dass/ das“ folgt. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 185 <?page no="187"?> ■ *Dies ist ein derart durch den harten Winter geschwächtes Tier, dass jetzt Futter braucht, dass reich an Mineralien und Vitaminen ist. ■ *Ich kann ihnen nichts bestätigten, dass nicht der Wahrheit entspricht. ■ *Er versprach, dass nie wieder zu tun. Bei dieser Art von Sätzen wird sehr häufig falsch „dass“ (statt „das“) geschrieben. Beide Arten von Normverstoß - das statt dass und auch dass statt das - lassen gleichermaßen auf einen eher niedrigen Bildungsstand schließen. 3.20.4 Dativ-/ Akkusativ-Vertauschung Wenn bei der Verwendung des Dativs und Akkusativs Fehler gemacht werden, dann fast immer so, dass Akkusativ statt Dativ steht. Der Fehler tritt fast nie andersherum auf (Dativ statt Akkusativ). ■ Das passt nicht zu seinen Plan. ■ Es wurde den Antrag stattgegeben. ■ Ich hab ihn viele gute Tipps gegeben. ■ Viele teuren Seminare bringen einen gar nichts. ■ Er war gerade auf den Weg nach Hause. ■ Ich habe vor jeden Einsatz immer großen Bammel. ■ Ich hatte ihn gesagt, dass ich nicht mitmache. ■ Der neue Rasenmäher ist in den kleinen Schuppen hinten im Garten. ■ Ich habe das noch nie einen erzählt. ■ Der ist umgezogen und liegt jetzt auf den Friedhof. ■ Aber an nächsten Tag wollte er nicht mehr. ■ Sie können sich gerne an unseren reichhaltigen Buffet bedienen. ■ So einen kleinen Süßen möchte man ganz viel Liebe geben. Wenn - seltenerweise - ein Dativ statt eines Akkusativs (z. B. sichtbar an einer Adjektiv‐ endung) steht, dann meist, weil das Wort davor (z. B. wie im folgenden Beispielsatz ein bestimmter Artikel) auf ein „m“ endete und der/ die Textverfasser: in sich daran orientiert (was richtig wäre bei einem vorangegangenen Adjektiv im Dativ, z. B. Er hat die Aufgabe mit großem, bemerkenswertem Interesse erledigt.) ■ Mein guter Wille wurde in einem unglaublichem Ausmaß ausgenutzt. ■ Gleich am nächstem Tag hat er dann angerufen. Dieser Normverstoß lässt - sofern es sich nicht um Performanzfehler handelt - auf einen niedrigen Bildungsstand schließen. 186 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="188"?> 3.20.5 Schwierigkeiten mit den Kleinigkeiten ■ Er hat gesagt, stillose Weingläser seien stiellos. Vermutlich hat er gesagt Stiellose Weingläser sind stillos. Wörter, die sich geringfügig (durch einen oder wenige Buchstaben) unterscheiden (Paro‐ nyme), werden leicht verwechselt. ■ Der Gottesdienst findet vorübergehend nur 14-tägig statt. Gemeint ist sicherlich alle 14 Tage bzw. im Zwei-Wochen-Rhythmus bzw. alle zwei Wochen bzw. 14-täglich; tägig bedeutet 14 Tage lang jeden Tag. Tägig gibt die Dauer an, täglich ein Intervall. Unter den Verfasser: innen, die durch häufige Verstöße gegen die Orthografie-Regeln auffallen, gibt es viele mit herausragenden Fähigkeiten und Begabungen in anderen Bereichen, und zwar besonders häufig im Zusammenhang mit Computern und Informati‐ onstechnologie. Solche Verfasser: innen machen oft Fehler bzw. begehen Normverstöße bei „Kleinigkeiten“ wie einzelnen Buchstaben, speziell solchen, die man beim lauten Aussprechen nicht hört, oder bei sehr ähnlich klingenden und/ oder aussehenden Wörtern. ■ Dieser Arbeitgeber beutet seine Angestellten charmelos aus. ■ Da konnte er andoggen. ■ Er hat ne angeschrien. Oft wird ein Buchstabe zu viel geschrieben: ■ Es ist egal, ob man das längst oder quer legt. ■ Die ersten Jahre haben wir uns gesietzt. ■ Ich glaube, er hatte zwei Kompliezen. ■ Er wohnt im Hundsrück. Es ist übrigens nicht egal, ob man „Worte“ oder „Wörter“ sagt. Folgende Sätze enthalten den falschen Plural: ■ Ich verstehe Deine Wörter nicht. ■ Seine Abschiedswörter waren rührend. ■ Bitte schicken Sie mir die Lösungsworte. ■ Ich habe drei verschiedene Passworte. Es muss Passwörter heißen. Wann ist der Plural von Wort Worte und wann Wörter? Der Plural Worte wird dann verwendet, wenn es um die Bedeutung der Worte geht. Man sagt also Das sind oft zitierte Worte. (nicht Wörter) oder Du solltest Deine Worte in dieser Situation sorgsam wählen (nicht Deine Wörter). Das gilt auch für solche Komposita wie Widerworte und Grußworte. Wörter hingegen sagt man, wenn es um das äußerliche Erscheinungsbild geht, wenn man diese Elemente der Sprache meint, die man groß oder klein schreibt, die man zählen und unterstreichen kann. Man sagt also Dieser Satz hat zwölf Wörter. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 187 <?page no="189"?> Das gilt auch für solche Komposita wie Fremdwörter, Modewörter, Stichwörter, Passwörter. 3.20.5.1 Buchstabendreher Bei den meisten Schreibfehlern der Art „Buchstabendreher“ sollte zunächst ein Performanz‐ fehler (und nicht ein Kompetenzfehler) vermutet werden (→-Kap.-1.10). ■ Die angebegene Hausnummer war falsch. ■ Die Borschüre sieht gut aus. ■ Ich bin in Dusiburg zur Schule gegangen. Das Wort Anlage wird oft falsch - und zwar Analge - geschrieben (obwohl das „a“ und das „l“ auf der Tastatur weit auseinander liegen). So auch flasch statt falsch. Dies sind typische Performanzfehler, die beim schnellen Tippen passieren und in einem Text enthalten sind, bei dem keine Autorkorrektur der Textverarbeitungssoftware verwendet wurde und der, bevor er abgeschickt wurde, vom Verfasser nicht Korrektur gelesen wurde. Es kann (speziell beim Sprachprofiling bzgl. der Kommunikationssituation bzw des „Set‐ tings“) sinnvoll sein, zu fragen, ob es außer Eile evtl. einen anderen Grund für den Performanzfehler gab (Angst, Drogeneinfluss o.-Ä.). 3.20.5.2 i/ ie-Schreibung Bei Normabweichungen in der i/ ie-Schreibung kann es sein, dass ein/ e Leser: in etwas mehr Zeit benötigt, bis er/ sie die Bedeutung des Worts oder Satzes versteht; im schlimmsten Fall kann es zu Missverständnissen kommen. ■ Wenn man als Verbraucher unzufrieden ist, hat man ein Wiederrufsrecht. ■ Er hat das von seinem Vater gelernt, was der widerum in der Armee gelernt hatte. ■ Der Abend ist dann wieder Erwarten doch ganz nett gewesen. ■ Diese Ausdrucksweise spiegelt wieder, wie zerstritten die sind. ■ Er verzog keine Mine. ■ Diese Pandemie ist eine schlimme Kriese. ■ Er arbeitet mit großen Maschienen. ■ Seine Geschichten sind immer so langstilig. ■ Das war eine Intriege. 3.20.5.3 „h“-Schreibung In Unkenntnis der Regeln, wann ein Wort ein „h“ enthält, passieren Normabweichungen wie ■ Dieser Hühne von einem Mann macht mir Angst. ■ „Per Nachname“ bedeutet, dass der das Paket kriegt, dessen Nachname draufsteht. ■ Die haben mir Vorname sexueller Handlungen vor einem Kind vorgeworfen. 188 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="190"?> 3.20.5.4 Too much Wenn ein Text eines anonymen Verfassers auffällig viele Redundanzen, Tautologien, Pleonasmen, Doppel-Superlative und/ oder Übertreibungen - oder simpel eine Kleinigkeit zu viel - enthält, kann das idiolektal sein. ■ Er hat von uns viel abverlangt. Es heißt etwas von jmdm. verlangen oder jmdm. etwas abverlangen, das Verb abverlangen verlangt ein Dativobjekt; dann ist die Präposition von überflüssig. Das Bemühen des Verfassers, gebildet bzw. intellektuell zu wirken, zeigt sich oft daran, dass eine etwas komplexere Ausdrucksweise als die korrekte simple gewählt wird, hier die (falsche) Ausdrucksweise etwas von jmdm. abverlangen. ■ Ich bevorzuge lieber Hunde als Katzen. Die gemeinsame Verwendung des Verbs bevorzugen und des Adverbs lieber ist doppelt gemoppelt. Entweder Ich mag Hunde lieber als Katzen. (wenn das semantisch die intendiert ist) oder Ich bevorzuge Hunde (gegenüber Katzen). ■ Das ist meines Wissens nach geändert worden. Entweder Das ist meines Wissens geändert worden. oder Das ist nach meinem Wissen geändert worden. ■ Ich wiederhole nochmal: Das geht so nicht. Wie oft wird gesagt, dass es so nicht geht? Wird einmal wiederholt? Oder wird noch einmal wiederholt? Also wird die Wiederholung wiederholt? Dieser Satz wird häufig so geäußert, auch wenn es sich nur um eine erste Wiederholung handelt, wenn es also genügen würde zu sagen Ich wiederhole. ■ Bitte überprüfen Sie Ihren Beitrag vor dem Absenden auf korrekte Orthografie, Quellenbelegung und einheitliche bibliografische Angaben. Orthografie bedeutet „Richtig-Schreibung“. Das Wort korrekt davor ist überflüssig. ■ Nach Rücksprache mit meinem Arbeitgeber ist es mir bedauerlicherweise leider momentan aus zeitkritischen Gründen nicht möglich, an dem Kurs teilzunehmen. Nur bedauerlicherweise oder nur leider würde genügen. Und was sind zeitkritische Gründe? Zeitliche Gründe? Vielleicht wäre klarer Nach Rücksprache mit meinem Arbeitgeber habe ich bedauerlicherweise momentan keine Zeit, an dem Kurs teilzunehmen. ■ Da kann er nichts dafür. Das da ist in dem Satz doppelt vorhanden. ■ Man weiß gar nicht, woran man bei dem dran ist. Das an ist in dem Satz doppelt vorhanden. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 189 <?page no="191"?> ■ Unser Club ist vergleichbar mit einer Förderation, in der jeder jedem hilft. Hier gibt es einen überflüssigen Buchstaben; das Wort heißt Föderation. Wer dieses Wort falsch schreibt, denkt wahrscheinlich an das Verb fördern und zeigt damit, dass er ein Fremdwort verwendet, dessen Bedeutung er nicht kennt. ■ Das Paket kam um kurz vor elf morgends. Das „d“ ist überflüssig. Die Endung „-end“ kommt im Deutschen häufig vor, und zwar beim Partizip Präsens (ätzend, wohlhabend, wütend). Und es heißt „abends“. ■ Ich selbst glaube nicht, dass das stimmt. Das Pronomen selbst ist überflüssig. Der Satz Ich glaube nicht, dass das stimmt. ist vollständig, auch wenn die Situation evtl. so ist, dass zuvor verschiedene Meinungen genannt wurden. ■ Frau Kussnick hat ihren mutmaßlichen Verdacht nicht nur mündlich geäußert. Bei einem Verdacht geht es um etwas Mutmaßliches, aber der Verdacht selbst ist nicht mutmaßlich. Das würde bedeuten, dass es ungewiss ist, ob es sich um einen Verdacht handelt. ■ Der mutmaßlich Beschuldigte wurde von der Polizei vernommen. Das würde bedeuten, dass nur vermutet wird, dass diese Person beschuldigt wird. Sicherlich ist gemeint Der Beschuldigte wurde […] vernommen. Bei einem Beschuldigten handelt es sich ja um eine Person, die eine Tat mutmaßlich begangen hat. Man könnte auch sagen Der mutmaßliche Täter wurde […] vernommen. ■ Die Bestätigung soll angeblich von einem Mediziner ausgestellt worden sein. Dies ist ein sehr angestrengter Versuch, auszudrücken, dass etwas angezweifelt wird, dass etwas nur angeblich so war (tatsächlich sei die Bestätigung aber nicht von einem Mediziner ausgestellt worden). Das Adverb angeblich würde genügen (Die Bestätigung ist angeblich von einem Mediziner ausgestellt worden. oder aktiv: Die Bestätigung hat angeblich ein Mediziner ausgestellt.). Das Modalverb (sollen) würde auch genügen (Die Bestätigung soll von einem Mediziner ausgestellt worden sein., oder aktiv Die Bestätigung soll ein Mediziner ausgestellt haben.) ■ Wir schicken Ihnen die Fotos zu dem Zweck, damit Sie sehen können, wie die fertige Garage aussehen wird Man sagt/ schreibt zu dem Zweck, dass […]. Mit der Mitteilung a) zu dem Zweck und b) damit wird zweimal ausgedrückt, dass es einen Zweck gibt bzw. dass ein Ziel verfolgt wird. Es würde genügen, entweder zu schreiben Wir schicken Ihnen die Fotos zu dem Zweck, dass Sie sehen können, wie die fertige Garage aussehen wird. oder Wir schicken Ihnen die Fotos, damit Sie sehen können, […]. 190 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="192"?> ■ Er sah ständig auf sein Handy, währenddessen Claudia ihren Vortrag hielt. ■ Ich glaube, jetze ist es soweit. Normalerweise ist jetze (statt jetzt) nur mündlich gebräuchlich. Wenn jemand das auch verschriftlicht, kann das für das Herausarbeiten eines Idiolekts interessant sein, sofern noch andere Merkmale der konzeptionellen Mündlichkeit (der „Sprechschrift“) im Schriftlichen auftauchen. ■ Anschließend folgt meine Auflistung der beschädigten Waren. Folgen ist immer anschließend. Es folgt […] oder Anschließend liste ich die beschädigten Waren auf. wäre nicht doppelt gemoppelt. ■ Ich würde mir gerne gutes Wetter für unser Picknick wünschen. Wenn man sich etwas wünscht, ist das immer gerne. Und der Konjunktiv ist ebenfalls überflüssig. Ich wünsche mir gutes Wetter für unser Picknick. wäre ausreichend. ■ Er hat Lust, diese neue Software testen zu wollen. Lust haben, etwas zu wollen, ist redundant. Er hat Lust, diese neue Software zu testen. würde genügen. ■ Er hatte die Absicht, sich für immer von der Bühne verabschieden zu wollen. Auch Die Absicht haben, etwas zu wollen, ist redundant. Er hatte die Absicht, sich für immer von der Bühne zu verabschieden. würde genügen. ■ Er war gezwungen, das tun zu müssen. Er war gezwungen, das zu tun. ■ Ich würde gern das Angebot von Herrn Selger gegenüber dem von Herrn Abel priorisierern wollen. Es würde genügen: Ich ziehe das Angebot von Herrn Selgert dem von Herrn Abel vor. ■ Er hat die Prüfung erfolgreich bestanden. ■ Wir befürchten, dass er das mitgenommen haben kann. Es würde genügen, zu sagen/ schreiben Wir befürchten, dass er das mitgenommen hat. (oder Er kann das mitgenommen haben; das befürchten wir.) ■ Ich gönne ihm das gern. Das Verb gönnen impliziert gern. ■ Er fuhr mindestens 170 km/ h pro Stunde. Das / h bedeutet schon pro Stunde. ■ Die gemachten Erfahrungen wurden ausgetauscht und die neue Strategie festgelegt. Erfahrungen werden immer gemacht. Das Attribut ist überflüssig. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 191 <?page no="193"?> ■ Er hat das als erster erfunden. Das impliziert, man könne etwas auch als zweiter erfinden, was nicht zutrifft. ■ Das Angebot wurde an Sie letzte Woche zugeschickt. Entweder an Sie geschickt oder Ihnen zugeschickt. ■ Das war eine teure und unnütze Service-Dienstleistung, die du da gebucht hast. Service bedeutet Dienst(-leistung). ■ Es wird viel Arbeit auf mich zukommen. Es genügt, zu sagen Es kommt viel Arbeit auf mich zu., denn das Verb zukommen impliziert bereits das Zukünftige. Es ist völlig in Ordnung, wenn eine/ e Verfasser: in einen solchen Satz schreibt. Wenn solche redundanten Ausdrucksweisen in einem Text gehäuft auftreten, ist das interessant für die Authentizitätsfeststellung, ■ Man braucht mindestens zwei Stunden oder mehr. Mindestens enthält bereits, dass es mehr sein kann. ■ Das ist ein Gedanke, über den ich noch nie nachgedacht habe. Gedanken hat man; es ist ungewöhnlich, über einen Gedanken nachzudenken. Wahrschein‐ lich ist gemeint Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Oder Das ist etwas, worüber ich noch nie nachgedacht habe. ■ Ich bin sehr verlässlich. verlässlich genügt. Die obige Ausdrucksweise impliziert, „etwas verlässlich“ wäre auch möglich (vergleichbar mit „etwas schwanger“). ■ Lasst diese unsinnigen operativen Maßnahmen zur Umsatzsteigerung sein! Maßnahmen sind immer operativ. ■ Tim hat nicht klein beigegeben, sondern er hat ganz geschickt gegen die Argumente von dem zweiten Vorsitzenden gekontert. kontern enthält semantisch entgegen. ■ Wir müssen vorbeugende Präventivmaßnahmen vornehmen. Präventivmaßnahmen sind immer vorbeugend. ■ Gib mir mal Deine PIN-Nummer. PIN steht für personal identification number. Die Nummer ist also doppelt. ■ Er hat es im PDF-Format geschickt. PDF steht für portable document format. Das Format ist also doppelt. 192 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="194"?> ■ Das war der absolute Super-GAU. GAU steht für größter anzunehmender Unfall (oder Unglücksfall). Super ist eigentlich überflüssig; allerdings wird Super-GAU sehr oft gesagt und geschrieben. Das Adjektiv absolut ist allerdings absolut überflüssig. ■ Das war ein sehr emotionales Gefühl. Emotion bedeutet Gefühl. ■ Das war eine lange therapeutische Behandlung. Das Wort Therapie bedeutet Behandlung. ■ Du musst das nicht nochmal wiederholen. Es genügt Du musst das nicht wiederholen., denn wiederholen enthält semantisch das nochmal. ■ Er hat das orthografisch richtig geschrieben. orthografisch bedeutet bereits „richtig geschrieben“ (richtig [bzw. „aufrecht“, ὀρθός/ orthós] + schreiben [γράφειν/ grafein]) ■ Wir versetzen Sie in die Lage, die Fremdsprache fließend sprechen zu können. Wir versetzen Sie in die Lage, die Fremdsprache fließend zu sprechen. ■ Wir möchten ihn ermächtigen, dass er uns offiziell vertreten darf. Es genügt zu schreiben Wir möchten ihn ermächtigen, uns offiziell zu vertreten. Wenn jemand in der Lage ist, etwas zu tun, dann kann er es. Zu sagen, jemand sei in der Lage, etwas zu können, ist eine semantische Redundanz wie auch Einzelausdrücke wie Fußpedal, heiße Flamme, Das kann möglich sein., schlussendlich, Vorerwartung, Zukunftsprognose, Gratis-Geschenk, zusammenaddieren, IT-Technik. Eine semantische Redundanz kann auch ein Pleonasmus sein, der wiederum ein vom Verfasser vorsätzlich eingesetztes rhetorisches Stilmittel sein kann (typische Beispiele: nie und nimmer, ganz und gar nicht, immer und ewig, still und leise, voll und ganz), oder eine Tautologie, bei der dem/ der Leser: in/ Hörer: in Wörter geboten werden, die keine zusätzliche Information bieten (typische Beispiele: alter Greis, schwarzer Rabe, weißer Schimmel, neu renovieren). Das Gegenteil, also das Nennen zweier Wörter mit widerstreitender Bedeutung wie Eile mit Weile, stummer Schrei, alter Knabe nennt man Oxymoron. Werden zwei semantisch ähnliche Wörter aneinandergereiht, weil die Gesamtaussage gestärkt werden soll, ist das ein Hendiadyoin. ■ Sein ewiges Bitten und Flehen hat nichts genützt. ■ Er hat die Autoschlüssel mit Fug und Recht an sich genommen. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 193 <?page no="195"?> Besondere Betonung, Hervorhebung, Nachdruck, Übertreibung Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen ein/ e Verfasser: in etwas besonders betonen möchte, z. B. schreibt er/ sie dann Tim hat vollkommen Recht. statt Tim hat Recht. Evtl. meint er/ sie, die Gefahr, dass Tim nicht geglaubt wird oder dass das, was er sagt, nicht ernst genommen wird, sei besonders groß, und deshalb wird dem ansonsten semantisch vollständigen Satz das Lexem vollkommen hinzugefügt. Eine starke Übertreibung - oft mit Einsatz von Metaphern wie todmüde, blitzschnell, fuchsteufelswild, Schneckentempo - wird, wenn es ein rhetorisches Stilmittel ist, Hyperbel genannt. ■ Mir bringt die Mitgliedschaft in dem Verband wirklich sehr viel. Wie würde der Satz ohne das Adverb wirklich wirken? Die Verstärkung ist auffällig, denn sie ist semantisch nicht nötig (semantische Redundanz). ■ Vermutlich könnte das so sein. ■ Ich habe das in keinster Weise so gewollt. ■ Das ist das Maximalste. ■ Wir haben ausschließlich nur Leute mit Einladung reingelassen. ■ Ich habe etwas viel besser Schmeckenderes. Etwas besser Schmeckendes würde genügen. Der Komparativ wird im besser ausgedrückt; das Partizip Präsens (schmeckend) muss nicht außerdem eine Komparativ-Endung erhalten; außerdem gibt es nicht die Steigerung schmeckend - schmeckender - am schmeckendsten. Manchen Verfasser: innen ist etwas derart wichtig, dass ihnen ein Adjektiv, das per se den Superlativ ausdrückt und daher nicht gesteigert zu werden braucht (sog. „Absolutadjek‐ tiv“), nicht genügt. Oder sie fügen die Superlativ-Endung (-st) an das falsche Element eines Kompositums (weit+gehend). ■ Er hat gesagt, ich wäre die einzigste, die er je geliebt hat. ■ Er hat enormst zugenommen. ■ In seiner Aussage hat er Ortsangaben weitgehendst ausgelassen. Das Adjektiv weit muss die Superlativ-Endung tragen, nicht das Partizip gehend (also weitestgehend); so auch in Das ist unser meistbestelltester Burger., Diana war die meistfo‐ tografierteste Frau der Welt., Er gehört zu den bestbezahltesten Fotografen. Merkhilfe: Es heißt auch höchstwahrscheinlich und nicht *hochwahrscheinlichst. 3.20.5.5 Es fehlt eine Kleinigkeit bzw. es wird gespart ■ Ich singe Kirchen und Volkslieder. Singt er evtl. Kirchenlieder und Volkslieder? Dann muss hinter Kirchen ein sog. Ergän‐ zungsbindestrich stehen, der für das Wort Lieder steht (Ich singe Kirchen- und Volkslie‐ der). 194 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="196"?> Hier fehlt ein einziger Buchstabe: Er ist jetzt zwei Wochen syntomfrei., Hälst Du das noch eine Weile aus? und Ich glaube, er hat Intresse an dir. ■ Da kriekich son Hals. Die Zusammenziehung son (aus so einen) ist keine reguläre Kontraktion (kriekich statt kriege ich auch nicht), sondern ist vermutlich auf einen niedrigen Bildungsstand und/ oder Sprechsprache (typisch in Social-Media-Mitteilungen) zurückzuführen. ■ Ich kriege ein Pfändungskonto; man nennt das auch „P-Konto“. Gemeint ist sicherlich ein „Pfändungsschutzkonto“, das - z. B. Menschen, die Privatinsol‐ venz angemeldet haben - einen automatischen Pfändungsschutz für Abbuchungen wie Miete, Strom usw. bietet. Genau wegen dieser Sicherheit ist die Komponente „Schutz“ in dem Konto wichtig. In den obigen Fällen ist meist ein Kompetenzfehler (eher nicht ein Performanzfehler) zu vermuten. ■ Wir müssen das jemand zeigen, der sich mit Linux auskennt. Dieser Satz enthält einen kleinen Fehler, der sehr oft gemacht wird. Dem Lexem jemand fehlt die Dativendung (jemand-em). Dieses Phänomen (auch fehlende Akkusativendung -en) kann als idiolektal gelten (denn bestimmte Verfasser: innen machen diesen Fehler nicht). Das Weglassen einer -(e)n-Endung wie in ■ Dies ergibt ein Gesamtbetrag von 35-Euro. ■ Wir haben kein Hammer benutzt. ■ Gib mir ein Teil ab! ■ Er hat sein Rucksack vergessen. ist im Vergleich zu anderen weggelassenen Endungen ein sehr häufiger Fall. Man hört das -en beim gesprochenen Satz nicht, und es gibt ähnliche Sätze, bei denen ein Gesamtbetrag bzw. kein Hammer bzw. ein Teil korrekt wäre (z. B. Es wurde ein Gesamtbetrag von 35 Euro errechnet., Es wurde kein Hammer benutzt., Ein Teil ist ihm sicher., Sein Rucksack ist blau.). Dieser Normverstoß ist - selbstverständlich nur, wenn es sich nicht um einen Perfor‐ manzfehler handelt und wenn er häufig auftritt (wobei sich das gegenseitig bedingt) - für die Authentizitätsfeststellung interessant, denn er lässt auf einen relativ niedrigen Bildungsstand schließen. Weiterhin gibt es konventionalisierte (bzw. konventionelle) Ausdrucksweisen (bzw. sog. Konventionalisierungen), bei denen an Wörtern gespart wird, z. B. Das war paar Tage vorher. (statt ein paar Tage), Er kommt Dienstag. (statt am Dienstag)., Im Nachhinein ist das falsch gewesen. (statt Im Nachhinein betrachtet ist das falsch gewesen.). Konventionalisierung Ausdrucksweisen werden konventionalisiert (und sind dann „konventionell“), wenn sie sich über einen längeren Zeitraum hinweg in der Sprachgemeinschaft etabliert und 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 195 <?page no="197"?> verfestigt haben. Konventionalisierung kann auch bewusst durch sprachliche Normen und Regeln gefördert werden. Es ähnelt dem Entrenchment, das die allgemeine Verfestigung von sprachlichen Elementen im Gedächtnis der Sprecher beschreibt, wohingegen sich Konventionalisierung auf den Prozess der Bildung von gemeinsamen sprachlichen Konventionen in einer Sprachgemeinschaft bezieht. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.7 über konventionelle Verkürzungen in für die sozialen Medien typischen elliptischen Ausdrucksweisen. Diese Art von Normverstoß ist - selbstverständlich nur, wenn es sich nicht um einen Performanzfehler handelt und wenn er häufig auftritt (wobei sich das gegenseitig bedingt) - für die Authentizitätsfeststellung interessant, denn er lässt auf einen relativ niedrigen Bildungsstand schließen. 3.20.5.6 Es ist eine Kleinigkeit falsch ■ Ich gratuliere Dir von ganzen Herzen. Ein Mensch gratuliert von ganzem Herzen (nur von einem Herzen); das ist die gekürzte Form von von meinem ganzen Herzen. ■ Je mehr der sich anstrengt, umso mehr macht er sich lächerlich. Es heißt nicht je … umso, sondern je … desto. ■ Das weiß ich, weil das letzte Woche in dem Block stand. Die Person hat einen „Blog“ gelesen. ■ Er hat gewonnen, trotzdem er kaum trainiert hatte. Die korrekte Konjunktion ist hier obwohl. ■ Das Wort „Homophobie“ heißt ursprünglich „Angst vor Gleichem“. Besser: Es bedeutet (nicht heißt) „Angst vor Gleichem“. Weitere Satzbeispiele mit kleinen Fehlern: ■ Er hatte eine Vollnakkose. ■ Ich befand mich finanziell und auch anders in einer großen Bedrouille. ■ Ehrlich, wir haben ganz häre Absichten! ■ Der ist ein totaler Armatör. ■ Die Vornahme religiöser Handlungen ist hier nicht erwünscht. ■ Abends gab es Essen vom Büfee. ■ Das hat mich iritiert. ■ Ich bin für ihn in die Bräsche gesprungen. ■ Ich wollte Schampoo kaufen. ■ Kappta-Gohn ist ein Anfütamiehn. ■ Man wirft ihm eine Betrunkenheitsfahrt vor. 196 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="198"?> Auch solche Normverstöße sind - selbstverständlich nur, wenn es sich nicht um Perfor‐ manzfehler handelt und wenn sie häufig auftreten (wobei sich das gegenseitig bedingt) - für die Authentizitätsfeststellung interessant, denn sie lassen auf einen relativ niedrigen Bildungsstand schließen. 3.20.6 Frage oder Satz mit etwas Fraglichem Erstaunlich oft finden sich in inkriminierten Texten Sätze mit einem Fragezeichen am Ende, die jedoch keine Frage darstellen, sondern nur etwas Fragliches oder einen Bericht darüber enthalten, dass jemand eine Frage gestellt hat, z.-B. ■ Es ist unklar, ob er jemals wieder laufen kann? In dem Satz geht es um etwas „Fragliches“. Der Satz ist aber ein Satz und keine Frage; er sollte nicht einem Fragezeichen abschließen. ■ Sie wollte wissen, wann ich wiederkomme? Auch dies ist ein (Aussage-)Satz, kein Fragesatz, also keine Frage, die am Ende ein Fragezeichen verlangt. ■ Wenn ich sie noch so lieb bitte und was ich auch vorschlage, sie will es nicht? Hier meint der/ die Verfasser: in evtl., dass es fraglich ist, ob er/ sie noch Chancen hat, dass die erwähnte Person einmal die Bitte bzw. den Vorschlag annimmt, und beendet die Aussage deshalb mit einem Fragezeichen. Diese besondere Art des Nebensatzes, der mit der Konjunktion wenn beginnt und aussieht wie ein Konditionalsatz, nennt man Irrelevanzkonditional. Der Nebensatz drückt keine Bedingung aus, sondern etwas für das Eintreten des im Hauptsatz Genannten Irrelevantes. Irrelevanzkonditionalgefüge beginnen meist mit dem Irrelevanz ausdrückenden Nebensatz, der auch mit was auch (immer) und wie auch (immer) eingeleitet werden kann. Auch hier gilt, dass diese Art des Normverstoßes - sofern es sich nicht um Performanzfehler oder eine dezeptive Strategie handelt - auf einen niedrigen Bildungsstand schließen lässt; er ist für die Authentizitätsfeststellung sehr interessant. 3.20.7 Falscher Bezug ■ Nachfolgend habe ich mir mal die Mühe gemacht, aus verschiedenen Lehrbüchern und Gesetzen eine Übersicht zusammenzustellen, was alles in die Klageschrift gehört. Gemeint ist: Ich habe mir die Mühe gemacht, das zusammenzustellen, und führe es nachfolgend auf. (oder Sie finden es im nachfolgenden Text.). Im Beispielsatz bezieht sich nachfolgend auf das Sich-Mühe-Machen. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 197 <?page no="199"?> ■ Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 05.02.2024 sehe ich keine Veranlassung, meinem Nachbarn zu genehmigen, direkt neben der Trennmauer einen Wintergarten zu errichten. Nicht das Sehen ist bezugnehmend. Die Adverbialphrase Bezugnehmend auf Ihr Schreiben […] kann keine Beschreibung bzw. Erklärung für das Verb sehen sein. Vermutlich enthielt ein offizielles Schreiben die Information, dass der Nachbar einen Antrag auf Baugenehmi‐ gung für einen Wintergarten gestellt hat, und die Zustimmung des Nachbarn ist ebenfalls notwendig. Eine typische korrekte Antwort wäre Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 05.02.2024 teile ich Ihnen mit, dass ich […]. 3.20.8 Position von „sich“ ■ Auf so etwas wollte sich die junge Frau, die eigentlich kein Kind von Traurigkeit ist, auf keinen Fall einlassen. vs. Auf so etwas wollte die junge Frau, die eigentlich kein Kind von Traurigkeit ist, sich auf keinen Fall einlassen. ■ Ich habe ihm gesagt, was sich die Mieter wünschen. vs. Ich habe ihm gesagt, was die Mieter sich wünschen. ■ Es wird langsam kompliziert, weil sich nun auch Tims Mutter einmischt. vs. Es wird langsam kompliziert, weil nun auch Tims Mutter sich einmischt. ■ Es ist gefährlich, wenn sich Mitglieder der Spezialtruppe in diese Auseinandersetzungen einmi‐ schen. vs. Es ist gefährlich, wenn Mitglieder der Spezialtruppe sich in diese Auseinandersetzungen einmischen. ■ Ich weiß nicht, worauf sich das „dies“ in diesem Satz bezieht. vs. Ich weiß nicht, worauf das „dies“ sich in diesem Satz bezieht. ■ Dass der Bericht so lang ist, liegt daran, dass sich sämtliche Belege innerhalb des Berichts und nicht in Form eines Anhangs befinden. ■ vs. Dass der Bericht so lang ist, liegt daran, dass sämtliche Belege sich innerhalb des Berichts und nicht in Form eines Anhangs befinden. ■ Von Vollrausch spricht man, wenn sich jemand vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt. vs. Von Vollrausch spricht man, wenn jemand sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt. vs. Von Vollrausch spricht man, wenn jemand vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel sich in einen Rausch versetzt. 3.20.9 Position kleiner Wörter ■ Dieser Anzug ist zeitlos; den können Sie auch noch in 20 Jahren anziehen. vs. Dieser Anzug ist zeitlos; den können Sie auch in 20 Jahren noch anziehen. ■ Das gibt es noch heute. vs. Das gibt es heute noch. 198 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="200"?> Die Position des Adverbs noch kann an verschiedenen Stellen im Satz stehen und die Bedeutung bzw. den Fokus verändern. ■ Ich hätte nicht gedacht, dass das so eine anstrengende Arbeit ist. vs. Ich hätte nicht gedacht, dass das eine so anstrengende Arbeit ist. Die Partikel so kann an verschiedenen Stellen im Satz stehen. Das verändert die Betonung; bzw. betont das Wort, vor dem sie steht. ■ Die Super-Reaktion der Kunden auf die Werbekampagne haben Sie ja nun gesehen. vs. Die Super-Reaktion der Kunden auf die Werbekampagne haben Sie nun ja gesehen. Im ersten Satz steht die Modalpartikel vor dem Temporaladjektiv, im zweiten danach. Oft ist die Positionierung eines Adverbs oder Partikels wie in den obigen Beispielen eine Frage des Registers oder idiolektal, wobei es zum Idiolekt gehören kann, mehrere Register zu beherrschen. 3.20.10 Partizipbildung, Transitivität Ein für die Authentizitätsfeststellung sehr wertvolles Phänomen ist die normwidrige unregelmäßige Partizipbildung (gehangen statt gehängt) und Präteritumformen (hing statt hängte) bei intransitivem Gebrauch. Fast alle Verben sind entweder schwach oder stark; sehr wenige können beides sein. Vereinfachte Regel: Ein regelmäßiges Verb ist ein schwaches Verb, ein unregelmä‐ ßiges ein starkes. Man sieht den Unterschied gut an den wenigen Verben, die - je nach Bedeutung bzw. Verwendung - stark und schwach sind, z.-B. hängen und erschrecken. Das Verb hängen ist schwach (regelmäßig), wenn es transitiv (mit Objekt) verwendet wird: ■ Er hat den Mantel in den Schrank gehängt. (Präteritum: Er hängte den Mantel in den Schrank.) Es ist stark (unregelmäßig), wenn es intransitiv (ohne Objekt) verwendet wird: ■ Der Mantel hat den ganzen Sommer im Schrank gehangen. (Präteritum: Der Mantel hing den ganzen Sommer im Schrank.) Wenn das Verb hängen transitiv verwendet wird, lautet das Partizip gehängt. Bei dem Verb erschrecken verhält es sich ähnlich: schwach (regelmäßig, transitiv): Du hast mich erschreckt. (Präteritum: Du erschrecktest mich.), stark (unregelmäßig, reflexiv): Ich habe mich erschrocken. (Präteritum: Ich erschrak.) bzw. Ich bin erschrocken. (Präteritum: Ich war erschrocken.) nach der (von kaum jemandem bzw. regional unterschiedlich stark befolgten) Regel, die reflexive Verwendung sei mit dem Verb sein zu bilden. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 199 <?page no="201"?> Wenn Textverfasser: innen, die offensichtlich sehr bemüht sind, gebildet zu wirken, nicht wissen, welche Art des Partizips richtig ist, wählen sie meist eher die unregelmäßige Variante, und dann entstehen Fehler wie diese: ■ *Ich habe meine Ausbildung an den Nagel gehangen und bin Uber-Fahrer geworden. ■ *Wir fühlen uns von der Gesellschaft total abgehangen. ■ *Die jüngeren Läufer haben ihn abgehangen. So verhält es sich auch bei wiegen (Partizip gewogen [das Gewicht festgestellt]), verwandt (Er ist mit dem Angeklagten verwandt.) vs. verwendet (Er hat für diesen Auflauf viel Rosmarin verwendet.), gewandt (Er hat sich mit der Bitte um einen Kredit an mich gewandt.) vs. gewendet (Er hat am Ende der Sackgasse gewendet.). Die Unterscheidung zwischen transitiv und intransitiv ist in vielen Fällen nicht leicht; z. B. ähneln sich die Beispiele ein Kunstwerk schaffen und die Arbeit schaffen zunächst. Es handelt sich aber um zwei verschiedene Arten des Schaffens. Zum Erkennen hilft oft ein Austauschen des Objekts und Partizips; dann wird der Normverstoß deutlich, z. B. bei der Verschiebung *Der Künstler hat ein großes Kunstwerk geschafft. und *Endlich haben wir die ganze Arbeit geschaffen. Regel: Wenn das Verb transitiv verwendet wird, also mit Objekt, bildet man das Partizip regelmäßig; wenn man es ohne Objekt bzw. reflexiv verwendet, dann wird das Partizip unregelmäßig verwendet. Dieser Fehler, also dass die unregelmäßige statt der regelmäßigen Form gewählt wird, ist für die Authentizitätsfeststellung interessant, denn Normabweichungen bei der Partizip‐ bildung sind idiolektal, sofern es sich nicht um dezeptive Strategien handelt oder um eine/ n Verfasser: in, der/ die Deutsch als Fremdsprache gelernt hat. 3.20.11 Schwierige Adjektivendungen Nach sämtliche, beide und manche ist es dem/ der Verfasser: in freigestellt, ob er/ sie - wie bei der sog. „schwachen“ Deklination - die Endung n an das Adjektiv setzt. ■ Auf sämtliche mittelständischen Unternehmen kommen neue Compliance-Pflichten zu. ■ Auf sämtliche mittelständische Unternehmen kommen neue Compliance-Pflichten zu. Beide Varianten sind korrekt. Regel zum „n“ am Adjektiv Nach sämtliche, beide und manche kann man das n an das Adjektiv anhängen (wie bei der schwachen Deklination) oder auch nicht (wie bei der starken Deklination). Nach viele, manch, solch, welch, wenig, mehr, diese, alle, solche, welche, djenigen, dselben, keine, irgendwelche (z.-B. alle/ manche/ solche lieben Freunde), nach Posses‐ sivpronomen (mein, dein, sein, ihr, unser, euer, meinem, meinen usw.) und nach Personalpronomen erhält das Adjektiv ein „n“ (z. B. Ihr lieben Freunde; wie bei der schwachen Deklination). 200 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="202"?> Man unterscheidet zwischen „schwacher“, „gemischter“ und „starker“ Deklination: Schwache Deklination Mit bestimmtem Artikel (der erfreulich gute Umsatz, die erfreulich guten Umsätze) Gemischte Deklination Mit unbestimmtem Artikel oder Possessivpronomen (ein erfreulich guter Umsatz, dein erfreulich guter Umsatz, unsere erfreulich guten Umsätze) Starke Deklination Ohne Artikel (erfreulich guter Umsatz, erfreulich gute Umsätze) Es hat sich gezeigt, dass die (unbewusste) Entscheidung, in diesen Fällen das n zu setzen oder nicht, ein idiolektaler Parameter ist, wenn es konsistent, also durchgängig gehandhabt wird. Bestimmte Verfasser: innen bevorzugen es, das n an das Adjektiv anzuhängen, andere nicht. ■ a. Ich möchte beide neuen Alternativen kennenlernen. ■ b. Ich möchte beide neue Alternativen kennenlernen. ■ a. Manche teuren Seminare bringen einem nichts. ■ b. Manche teure Seminare bringen einem nichts. 3.20.12 Die häufigsten Kommafehler In diesem Kapitel geht es um auffällig häufige Normverstöße bei der Kommasetzung. Ausführliche Erörterungen zu den verschiedenen Arten des Kommas finden sich in Kapitel 4.1 zur genauen Komma-Kodierung und in Kapitel 8.5mit zusätzlichen Erläuterungen zu primär syntaktischen Themen. Mit in Kapitel 2.2.2 beschriebenen einfachen Komma-Kodierung werden typische Komma‐ fehler vorgestellt. Kurz zur Erinnerung: Kodierung Anwendung [[,]] Stelle im Satz, bei der es um die Frage geht, ob ein Komma stehen sollte oder nicht [[KommaÜberfl]] *Er ist schon fast genauso gerissen, wie sein älterer Bruder. Satz mit Kodierung der Stelle, an der das Komma überflüssig ist: Er ist schon fast genauso gerissen [[KommaÜberfl]] wie sein älterer Bruder. [[KommaFehlt]] *Das ist seit Jahren Fakt aber es scheint keiner zu merken. Satz mit Kodierung der Stelle, an der das Komma fehlt: Das ist seit Jahren Fakt [[KommaFehlt]] aber es scheint keiner zu merken. [[KommaOpt]]: Er aß nur das Brot [[KommaOpt]] und den Kuchen ließ er stehen. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 201 <?page no="203"?> 67 Teilsatz, der einem anderen Teilsatz (einem Neben- oder einem anderen Matrixsatz) syntaktisch übergeordnet ist; kann auch Hauptsatz sein; kann auch Nebensatz sein. 68 Teilsatz, der einem anderen Teilsatz (einem Haupt-, Matrix- oder einem anderen Nebensatz) syntaktisch untergeordnet ist; kann auch selbst Matrixsatz (nicht Hauptsatz) sein. Kodierung Anwendung Mit Angabe, ob das Komma vor oder nach einer Sinneinheit (Matrix- 67 oder Nebensatz 68 ) steht: davor eine (rote eckige) Klammer, danach drei bzw. andersherum: [[[KommaÜberfl] *Sie macht sich immer unbeliebter, mit ihrem rechthaberischen Verhal‐ ten. Satz mit Kodierung der Stelle, an der das Komma überflüssig ist: Sie macht sich immer unbeliebter [[[KommaÜberfl] mit ihrem rechtha‐ berischen Verhalten. [KommaÜberfl]]] *Nach dem ganzen Hin und Her, solltet ihr euch nun mal entscheiden. Satz mit Angabe der Stelle, an der das Komma überflüssig ist: Nach dem ganzen Hin und Her [KommaÜberfl]]] solltet ihr euch nun mal entscheiden. [[[KommaFehlt] *Ich werde rauskriegen wer das war. Satz mit Angabe der Stelle, an der ein Komma fehlt (vor dem Matrixsatz): Ich werde rauskriegen [[[KommaFehlt] wer das war. [KommaFehlt]]] *Er war davon ausgegangen, dass in dem Konferenzraum ein Beamer vorhanden ist und hatte keinen mitgebracht. Satz mit Angabe der Stelle, an der ein Komma fehlt: Er war davon ausgegangen, dass in dem Konferenzraum ein Beamer vor‐ handen ist [KommaFehlt]]] und hatte keinen mitgebracht. Das Komma fehlt nach dem Nebensatz. Tab. 39: Komma-Kodierung für die häufigsten Kommafehler 3.20.12.1 Fehlendes Komma Ein ganz typischer und häufiger Fehler ist das fehlende Komma, das das Ende eines Nebensatzes anzeigt. Typischerweise steht danach ein und (oder oder): ■ Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel [KommaFehlt]]] und danke Ihnen für Ihre großzügige Nachsicht. ■ Ich sehe die Gefahr gerade darin, dass der Fahrer nicht aufpasst [KommaFehlt]]] und dann haben wir einen Unfall. ■ Ich habe es so in Erinnerung, dass er mehrmals gefragt hat, ob sich noch mehr Personen im Gebäude aufgehalten haben [KommaFehlt]]] und keine Antwort bekam. ■ Wir wissen, dass das nicht selbstverständlich ist [KommaFehlt]]] und schätzen die Teamarbeit mit Ihnen sehr. ■ Er dachte, er wäre für das Seminar am Wochenende 8. bis 10. März angemeldet [KommaFehlt]]] und hatte deshalb eine andere Fortbildung abgesagt. ■ Wer Tipps sucht, seinen Pflanzen ihre Vitalität zurückzugeben [KommaFehlt]]] oder Anregungen benötigt, wie man sie für den Winter vorbereitet, ist hier richtig. 202 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="204"?> ■ Sie müssen versuchen, die Getränke für die Feier früh genug zu kühlen [KommaFehlt]]] oder Sie können Sie auch in einen Eisbottich stellen. Wenn an solchen Stellen ein Komma fehlt, führt das meist zumindest zu erschwerter Lesbarkeit, in manchen Fällen auch zu verminderter Verständlichkeit des Satzes. Wenn man beim Textvergleich in den Texten die fehlenden Kommata in der oben beschrie‐ benen Weise anzeigt (also [[[KommaFehlt] und [KommaFehlt]]], springen schon rein optisch die vielen roten, eckigen 3-fach-Klammern ins Auge (also [KommaFehlt]]], nicht das „Davor-Kennzeichen (also [[[KommaFehlt]). Zu fehlenden Kommata und möglichen rechtlichen Konsequenzen siehe Kapitel 5.7 Andere fehlende Kommata, etwa vor und nach Appositionen oder innerhalb von Aufzäh‐ lungen, sind vergleichsweise selten. 3.20.12.2 Überflüssiges Komma Die zwei häufigsten Fälle des überflüssigen Kommas (bzw. die typischen Stellen in einem Satz, an denen ein überflüssiges Komma gesetzt wird) sind: 1. nach einem Adverbial am Satzanfang, das eine Präpositionalphrase ist, jedoch für einen Nebensatz gehalten wird, z. B. Wegen den dauernden Missverständnissen und falschen Verdächtigungen [KommaÜberfl]]] muss er nun endlich die Wahrheit sagen. 2. vor und nach einer Präpositionalphrase, die meist ein Adverbial ist und die für eine Apposition gehalten wird, z. B. Eingegebener Freitext kann die Bearbeitung [[[KommaÜberfl] durch zusätzlichen Arbeitsaufwand [KommaÜberfl]]] verlängern. Ein typischer Fall ist das Komma vor wie z. B. (wie in In seiner Garage wurden verschie‐ dene Kurzwaffen [[[KommaÜberfl] wie z. B. Pistolen und Revolver [KommaÜberfl]]] gefunden.), da die darauf folgende Phrase für eine mit Kommata abzutrennende Apposition gehalten wird. Die im obigen Absatz gezeigten Fälle überflüssiger Kommata werden von so vielen Verfasser: innen gesetzt, dass sie auch in vielen KI-generierten Texten vorkommen. Noch ein Beispiel dieser Art: ■ *Es ist möglich, dass wir, zum Schutz aller, die Abstandsregelungen verschärfen müssen ■ Es ist möglich, dass wir [[[KommaÜberfl] zum Schutz aller [KommaÜberfl]]] die Abstandsrege‐ lungen verschärfen müssen. Das überflüssige Komma steht mitten in einem Dass-Satz bzw. Inhaltssatz (der hier den Inhalt zu dem Korrelat „es“ im Hauptsatz „nachliefert“). Es gibt keinen Grund für ein Komma. Vermutlich meint der/ die Verfasser: in, die Präpositionalphrase zum Schutz aller sei eine Art Appostition, die mit Kommata abzutrennen wäre. Die meisten überflüssigen Kommata führen lediglich zu erschwerter Lesbarkeit, nicht aber zu verminderter Verständlichkeit. Bei langen, komplexen Sätzen können überflüssige Kommata die Verständlichkeit einschränken: ■ Es muss bewertet werden, ob er sich lediglich wegen des Schusses auf seine Schwägerin schuldig gemacht hat [KommaÜberfl]]] oder ob er mit Tötungsvorsatz in die Wohnung eindrang. 3.20 Verfasser: innen und ihre Schwierigkeiten 203 <?page no="205"?> Das Komma signalisiert, der Nebensatz wäre dort zu Ende, was aber nicht stimmt. So auch beim folgenden Satz: ■ Sie brauchen, wie Sie wissen, gemäß der neuen Prüfungsordnung, in der ersten Hälfte mindestens 150 Punkte. ■ Sie brauchen, wie Sie wissen, gemäß der neuen Prüfungsordnung [KommaÜberfl]]] in der ersten Hälfte mindestens 150 Punkte. Zunächst ist die Kommasetzung korrekt (Sie brauchen, wie Sie wissen, gemäß der neuen Prüfungsordnung […]); dann jedoch scheint der/ die Verfasser: in zu glauben, dass die Präpo‐ sitionalphrase gemäß der neuen Prüfungsordnung auch ein mit Kommata abzutrennender Satzteil, vielleicht eine Art Apposition, wäre, und setzt danach überflüssigerweise ein Komma. Die Verständlichkeit bzw. Lesbarkeit ist eingeschränkt, weil das auf das überflüssige Komma folgende Lexem (in) auch eine einen Relativsatz einleitende Präposition sein könnte (wie Prüfungsordnung, in der in einem Satz wie Sie brauchen, wie Sie wissen, gemäß Prüfungsordnung, in der die Verwendung eines Wörterbuchs verboten ist, in allen drei Teilen mindestens 150 Punkte.). Mit einem solchen falsch gesetzten Komma schickt der/ die Verfasser: in den/ die Leser: in in eine falsche Denkrichtung. Das ist eine unterlassene Verständlichkeitssicherung, die allerdings sehr wahrscheinlich nicht vorsätzlich begangen wurde, sondern in Unkenntnis der Kommaregeln. ■ Wir werden am nächsten Donnerstag wie geplant mit unserem neuen Wohnwagen nach Nord-Dänemark fahren. Dieser Satz enthält kein Komma und ist so korrekt. Es gibt keinen Grund für ein Komma. Der Satz ist so konstruiert bzw. wäre so zu kodieren (→ Kap. 4.3 mit genaueren Ausführungen): S-P-A-A-A-A-O; er enthält also vier Adverbiale (alle in Form von Präpositionalphrasen) hintereinander. Viele Verfasser: innen meinen, eine so lange Abfolge mehrerer Adverbiale erforderte mindestens ein Komma. Derselbe Satz mit (falschen) Kommata, z.-B. so ■ *Wir werden am nächsten Donnerstag, wie geplant, mit unserem neuen Wohnwagen, nach Nord-Dänemark fahren. ■ *Wir werden am nächsten Donnerstag [[KommaÜberfl]] wie geplant [[KommaÜberfl]] mit unserem neuen Wohnwagen [[KommaÜberfl]] nach Nord-Dänemark fahren. enthält zwar überflüssige Kommata, ist jedoch trotzdem leicht verständlich. Diese Art der normabweichenden Kommasetzung (auch „Kommatierung“) ist für die forensische Linguistik und insbesondere für die Authentizitätsfeststellung interessant. Andere Arten überflüssiger Kommata sind im Vergleich zu den hier genannten Arten selten. 204 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="206"?> 3.21 Mangelnde Kongruenz, Konsistenz, Kohärenz Alle drei Termini bedeuten (u. a.) „Zusammenhang“. Der geringfügige Unterschied kann - vereinfacht - so beschrieben werden: Kongruenz Übereinstimmung, „Passigkeit“, primär KNG-Kongruenz (siehe unten) Konsistenz Durchgehende Gleichartigkeit (z.-B. Schreibweise eines Wortes) Kohärenz Inhaltlicher Zusammenhang, Koordiniertheit Die obigen Termini beziehen sich auf Sätze. Bei Texten spricht man auch von Kohäsion: syntaktisch-semantische Verflechtung der Oberfläche eines Textes, Zusammenhalt der Elemente eines Textes. Beim Anakoluth, dem Satz(bau)bruch handelt es sich auch um mangelnden Zusammen‐ hang; er entsteht jedoch auf andere Weise und wird daher separat in einem eigenen Unterkapitel behandelt (→Kap. 3.21.3). Auch bei Verstößen gegen die Regeln der Zeitenfolge, der Consecutio Temporum, handelt es sich um mangelnden Zusammenhang. Bei solchen Normverstößen kann es zu eingeschränkter Verständlichkeit kommen. Sie werden daher in Kapitel 5.25behandelt. Das Erkennen der Zusammenhänge von Elementen in einem Satz erleichtern sog. struk‐ turelle Phraseologismen, z.-B. […] nicht nur […] sondern auch […], z.-B. in Sätzen wie ■ Entweder Du hälst die Schnauze oder Du kriegst dieselbe poliert. ■ Für sein Geschäft ist Deutschland als Location für sein STart-Up-Unternehmen nicht nur deshalb günstig, weil die Regierung Gründer unterstützt, sondern auch, weil Deutschland mitten in Europa liegt. 3.21.1 Mangelnde Kongruenz 3.21.1.1 Mangelnde Kongruenz von Genus, Numerus u. Kasus (KNG-Kongruenz) ■ Er rief das Opfer später immer wieder an und sagte ihr, er wäre unschuldig. Das Opfer ist ein neutrales Substantiv, und das Personalpronomen im Dativ lautet ihm. Die mangelnde Kongruenz könnte in diesem Fall bedeuten, dass der/ die Verfasser: in weiß, dass es sich um ein weibliches Opfer handelt und das tatsächliche Geschlecht der Person - evtl. unbewusst - in Form des Genus dieses Personalpronomens (ihr) ausdrückt. ■ Ich verstehe die Argumentation als solches schon, ich stimme nur nicht zu. Die Argumentation ist feminin; korrekt wäre die Argumentation als solche. Das „als-Attri‐ but“ ist inkongruent. 3.21 Mangelnde Kongruenz, Konsistenz, Kohärenz 205 <?page no="207"?> ■ Diese Einschränkung gilt auch für Sie, Frau Meyer, als bevollmächtigter Vertreter Ihres Ehegat‐ ten. Die Fortsetzung des Satzes nach der Apposition (Frau Meyer) passt im Genus nicht. Frau Meyer ist doch eine bevollmächtigte Vertreterin (und kein Vertreter). ■ Das ist einer der Gefahren. Die Gefahr ist feminin (also eine der Gefahren). ■ Ein Wertminderungsverlust wird in der Höhe des den erzielbaren Betrag übersteigenden Buchwert erfasst. Es muss Buchwertes heißen, denn der mit dem Genitiv-Artikel des muss nach der Links‐ attribution (den erzielbaren Betrag übersteigenden) fortgeführt werden. ■ Das ist eines der schönsten Lieder, das je komponiert worden ist. Die Lieder wurden komponiert. Das Relativpronomen muss die lauten (Lieder, die je komponiert wurden). ■ Mach kein Murks! Das Verb machen verlangt den Akkusativ, und das Substantiv Murks ist maskulin (keinen Murks). Hier könnte es sich auch um das häufige Phänomen der weggelassenen -en-Endung handeln (→-Kap.-3.20.5.5) ■ Das Finanzamt forderte mich erneut auf, Ihnen mein Steuerbescheid für das Jahr 2023 zu schicken, aber ich hatte ihn bereits im Mai geschickt. Dieser Satz enthält zwei Unstimmigkeiten: Ihnen statt ihnen und mein statt meinen und ist daher schwer verständlich. Bei solchen Verstößen handelt es sich zwar um unterlassene Verständlichkeitssiche‐ rung, allerdings meist zurückzuführen auf Kompetenzmangel bzw. niedrigen Bildungs‐ standes des Verfassers. 3.21.1.2 Mangelnde Kongruenz bei Hilfsverben ■ Viele Häuser sind zu dem Zeitpunkt schon durchspült und Messtationen der Pegel weggerissen worden. Das obige Beispiel ist schwer zu verstehen (und formell „unzulässig“ bzw. „ungramma‐ tisch“), weil das Hilfsverb im zweiten Teil nicht wieder sind lautet, sondern ist. Alle Hilfsverben müssen genannt werden; man kann nicht „abkürzen“ oder Wörter sparen (→ Kap. 3.20.5.5). Viele Häuser sind […]durchspült (worden) und Messtationen ist der Pegel weggerissen worden. Das zweite Element des Verbkomplexes, das worden, das das Genus Verbi Passiv anzeigt - wie bei einem Zustandspassiv - kann tatsächlich (also 206 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="208"?> korrekterweise) beim ersten Vorkommen (nach durchspült) weggelassen werden, weil der/ die Leser: in sich das ohne Mühe ergänzen kann. Am Rande bemerkt wäre für bessere Verständlichkeit ein Komma vor dem und sinnvoll, also Viele Häuser sind zu dem Zeitpunkt schon durchspült (worden), und Messtationen ist der Pegel weggerissen worden., denn es folgt ein neuer Hauptsatz (→-Kap. 5.8). 3.21.2 Mangelnde Konsistenz Uneinheitliche Schreibweisen in einem Text sind nicht schädlich für die Verständlichkeit, aber interessant für die Authentizitätsfeststellung. Wenn ein/ e Verfasser: in bestimmte Angaben in einem Text nicht konsistent (gleichartig) macht und z. B. einmal Akku-Um‐ mantelung und ein andernmal Akkuummantelung schreibt, einmal E-Mail-Adresse, später E-Mailadresse, einmal aufwändig und an anderer Stelle aufwendig., kann das auf Ignoranz und/ oder auf Eile beim Verfassen des Textes zurückzuführen sein, es kann aber auch daran liegen, dass der/ die Verfasser: in nicht weiß, wie es korrekt geschrieben wird, und, um es zumindest nicht zweimal falsch zu machen, es einmal auf die eine und einmal auf die andere Weise schreibt. 3.21.3 Satzkonstruktionsbruch, Satz(bau)bruch Speziell wenn ein/ e Verfasser: in seinen/ ihren Text in Eile schreibt, nervös oder betrunken ist, kommt es vor, dass er/ sie die begonnene Struktur oder Ausdrucksweise nicht wie ursprünglich geplant fortsetzt. Man nennt eine solche fehlerhafte Fortsetzung einer begon‐ nenen Struktur bzw. folgewidrige Satzfügung auch Anakoluth. Beispielsweise war eine Wortfolge geplant wie mit jemandem über etwas sprechen (mit der Präpositionalphrase mit jemandem als Adverbial und dem Präpositionalobjekt sprechen über etwas) und nicht etwas mit jemandem besprechen (mit dem Akkusativobjekt etwas und der Präpositionalphrase mit jemandem als Adverbial), dann wurde jedoch eine Mischung aus beidem realisiert, und es entsteht Ich habe nun mit ihm über die Folgen des Verbots besprochen. ■ Hast Du Lust, mit mir am Freitag zu dem Konzert gehen? Der Inhaltssatz erfordert eine Infinitivkonstruktion mit zu; vermutlich wurde hier umfor‐ muliert von Möchtest Du […]? oder Wollen wir […]? ■ Ich habe heute leider gar keine Zeit, mich mit diesem Projekt zu kümmern. Entweder mich mit […] zu befassen oder mich um […] zu kümmern. ■ Sie nehmen an der Sitzung nicht teilnehmen. Vermutlich war geplant Sie werden an der Sitzung nicht teilnehmen. ■ Die Veranstaltung endet mit der Verabschiedung zu Ende. Hier wurde umformuliert. Es handelt sich um einen Zwitter aus Die Veranstaltung endet mit der Verabschiedung. und Die Veranstaltung ging mit der Verabschiedung zu Ende. 3.21 Mangelnde Kongruenz, Konsistenz, Kohärenz 207 <?page no="209"?> ■ Ich soll Dich von ihr grüßen lassen. Vermutlich ist gemeint Ich soll Dich von ihr grüßen. Es wurde „mit“gedacht Sie lässt Dich grüßen. 3.22 Unlogischer bzw. widersprüchlicher Inhalt Sätze bzw. Sinneinheiten mit sich widersprechenden oder gar ausschließenden Inhaltsele‐ menten gehören sowohl in die Lexik als auch in die Semantik (und Pragmatik), denn es geht um die vom Verfasser intendierte Aussage. Sie gehören auch zum Thema Syntax, also zum Satzbau, denn beim Versuch, einen Idiolekt zu erkennen, geht es immer auch darum, wie ein/ e Verfasser: in seine/ ihre Gedanken - also die intendierte Mitteilung - in Worte fasst und diese Worte zu Sätzen konstruiert. Solche Widersprüche in Texten nennt man auch mangelnde Stringenz. Werden widersprüchliche Inhalte vorsätzlich in einer Sinneinheit bzw. in einem Satz kombiniert, nennt man das Alogismus, kommt bei in der forensischen Linguistik relevanten Texten allerdings selten vor. Wenn jemand beispielsweise in einem Satz einerseits äußert, dass er etwas vermutet, dann aber mitteilt, es sei ganz sicher, ist das ein auffälliger Widerspruch: ■ Ich vermute ganz stark, dass der Opel-Fahrer das auf keinen Fall gesehen hat. Ist es „nur“ eine starke Vermutung, oder hat der Opel-Fahrer das ganz sicher („auf keinen Fall“) nicht gesehen? Oder vermutet der/ die Verfasser: in, dass das ganz sicher so ist? ■ Ich habe gerade die Info bekommen, dass der Termin voraussichtlich auf später verlegt wurde. Wurde der Termin verschoben oder nicht? Einerseits die Angabe, es handele sich um eine Information über die Vergangenheit (die Entscheidung über das Verlegen des Termins) und andererseits die Angabe (mit dem Adverb voraussichtlich), dass das nicht sicher so sei, ist ein Widerspruch. ■ Sie haben versucht, eine Neuwahl zu bezwecken. Wenn man etwas bezweckt, impliziert das bereits einen Versuch. Es würde genügen Sie haben eine Neuwahl bezweckt. bzw. Sie bezweckten eine Neuwahl. oder Sie wollten eine Neuwahl. oder Sie haben versucht, eine Neuwahl zu erreichen. ■ Ein Teil des Volkes wurde ausgerottet. Das Verb ausrotten bedeutet, dass alles vernichtet wird bzw. dass alle Angehörigen eines Volkes getötet werden. ■ Ich wurde als abwertig eingeschätzt. Gemeint ist „minderwertig“ bzw. Ich wurde abwertend beurteilt. ■ Ich glaube, dass der definitiv einen an der Waffel hat. Etwas zu glauben, ist etwas anderes, als sich sicher zu sein, was das Adverb definitiv ausdrückt. 208 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="210"?> ■ Der ganze Text ist größtenteils durchzogen von sehr vielen beleidigenden Ausdrücken. Wenn der Text mit solchen Ausdrücken durchzogen ist, ist er ganz durchzogen; und den Ausdruck, etwas wäre größtenteils durchzogen gibt es nicht. ■ Dass mein Date-Partner Tatoos hat, das ist für mich ein kleines No-Go. Ein No-Go ist etwas, das gar nicht akzeptabel ist; das kann nicht klein sein. ■ Der Text strotzt nur so von vielen Fehlern. Das ist redundant. Wenn etwas „vor etwas strotzt“, bedeutet das schon, dass es viel davon gibt. ■ Beim Ausdrucken unserer Pläne ist uns leider ein Fehler in den Brücken aufgefallen. Gemeint ist: Uns ist leider ein Fehler in den Brücken unterlaufen, der uns beim Ausdrucken unserer Pläne aufgefallen ist. Mit dem Adverb leider soll nicht die Tatsache bezeichnet werden, dass es auffiel, sondern dass es überhaupt passiert ist. Die Tatsache, dass der Fehler beim Ausdrucken auffiel, ist eher ein Glücksfall. ■ Unsere Team-Werte, wie auch in den vorigen Jahren, bleiben bestehen und finden heute sogar noch mehr Geltung. Gemeint ist Unsere Team-Werte bleiben - wie auch in den vorigen Jahren - bestehen und […]. Die Adverbialphrase (wie auch in den vorigen Jahren) soll sich auf das Verb bleiben beziehen und nicht auf ein Substantiv (Team-Werte); sie steht an der falschen Stelle. Das macht den Satz schwer verständlich. Vor allem jedoch ist eine solche Konstruktion für eine Authentizitätsfeststellung interessant, denn solche Fehler beim Platzieren von Satzteilen sind idiolektal. Dieses Beispiel ■ Mein Sohn hat nachweislich noch nie eine Straftat begangen. stellt eine ungewöhnliche Ausdrucksweise dar, denn es wird ein Adverb, das normalerweise auf eine Positiv-Behauptung angewendet wird (z. B. Er war zur Zeit der Tat nachweislich an einem anderen Ort.), hier auf eine Negativ-Behauptung angewendet. Man kann durch Anforderung eines Führungszeugnisses nachweisen, dass jemand niemals einer Straftat überführt worden ist, aber nicht, dass jemand niemals eine Straftat begangen hat. Entweder hat der Urheber dieser Äußerung, z. B. ein Elternteil, in der Annahme, nachweislich könne man als Verstärkung einer Behauptung (wie ganz bestimmt) verwenden, ein falsches Lexem verwendet, oder es ist gemeint Man kann ihm keine Straftat nachweisen. ■ Es stand mir Unterkante Oberlippe. Die Redewendung lautet etwas anders: Es steht mir bis Oberkante Unterlippe. mit der Bedeutung und dem suggerierten Bild, dass ein Fass kurz vor dem Überlaufen ist. Dieses Beispiel könnte auch im Kapitel zur Lexik zur Verwendung von Metaphern aufge‐ führt werden. Das Interessante ist hier jedoch nicht die Tatsache, dass eine Metapher verwendet wurde, sondern dass das Bild, das der/ die Verfasser: in offensichtlich hat, was ja bei Metaphern typisch ist, ein falsches ist. Er/ sie verwendet eine Metapher, die er/ sie 3.22 Unlogischer bzw. widersprüchlicher Inhalt 209 <?page no="211"?> vermutlich irgendwo gehört oder gelesen und sich dann falsch gemerkt hat, in einer falschen Weise und zeigt damit, dass er/ sie sprachliche Äußerungen anderer Sprecher: innen oder Schreiber: innen verwendet. Ähnlich ist es bei dem nächsten Beispiel: ■ Sie und ich, wir müssen doch an einem Strick ziehen. Gemeint ist sicherlich die Redewendung an einem Strang ziehen. Es ist ein Strang, nicht ein Strick, an dem man in der Redewendung gemeinsam zieht. ■ Die sofortige Schließung der Filiale ist hier nicht sinnvoll und folglich nicht impliziert. Gemeint ist sicherlich indiziert. ■ Sie sieht auch gut aus, wenn sie sich einen Sack Kartoffeln überzieht. Gemeint ist Kartoffelsack; es geht um den Sack (ohne Kartoffeln darin). ■ Wir haben für die Diskussion den 8. Mai vorgesehen. Also Save the day! Save the date! Save the day lässt an carpe diem denken (wörtlich Pflücke den Tag, übertragen Genieße den Tag). ■ Er ist ein ausgekochtes Schlitzauge. Die Redewendung heißt Er ist ein ausgekochtes Schlitzohr. Hier kann man wild mutmaßen, z.-B., der/ die Verfasser: in verbinde mit Hinterlist etwas Asiatisches. Das folgende Beispiel könnte man in der Syntax unter „Relativsätze“ anführen, denn der Anschluss ist unlogisch. Der Relativsatz hat ein falsches Relativpronomen (die), und es folgt ein falscher Artikel (den), aber es ist sicherlich insgesamt ein typischer Performanzfehler (und nicht ein Kompetenzfehler): ■ Oft spielen bei der Entscheidung für einen Drogenkonsum Peer Groups, die den einzelnen Jugendlichen schutzlos ausgeliefert sind, eine große Rolle. Sicherlich ist gemeint denen die einzelnen Jugendlichen oft schutzlos ausgeliefert sind. Der Fehler befindet sich in einem Nebensatz. Vermutlich war der/ die Verfasser: in in Gedanken bereits weiter. ■ Da Laras kleine Schneiderei in den ersten sechs Monaten noch nicht viel Umsatz gebracht hatte, hat sie ihrem neuen Freund ihre gesamte Geldrücklage geliehen. Gemeint ist Da Laras kleine Schneiderei in den ersten sechs Monaten noch nicht viel Umsatz gebracht hatte, hatte sie kaum Geldreserven, aber diese ganze Geldrücklage hat sie ihrem neuen Freund geliehen., denn die Tatsache, dass sie nicht viel Umsatz erwirtschaftet hatte, ist ja nicht die kausale Basis für das Verleihen. ■ Ich freue mich über eine Einladung von Ihnen zu einem persönlichen Gespräch. Da freut sich jemand über etwas, das (noch) nicht existiert, nämlich die Einladung. Sinnvoll wäre ■ Ich würde mich über eine Einladung von Ihnen zu einem persönlichen Gespräch freuen. 210 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="212"?> ■ Die Zahl der anerkannten Asylbewerber ist im Jahr 2018 deutlich zurückgegangen. So würde der Satz bedeuten, dass viele bereits anerkannte Asylbewerber das Land verlassen haben. Es ist sicherlich gemeint ■ Die Zahl der neu anerkannten Asylbewerber ist im Jahr 2018 deutlich zurückgegangen. oder auch ■ Die Zahl der Anerkennungen von Asylbewerbern ist im Jahr 2018 deutlich zurückgegangen. 3.23 Lexikalisches und Semantisches Für die Authentizitätsfeststellung sind lexikalische und semantische Aspekte - wie auch syntaktische, also satzbaubezogene - sehr wichtig. Dieses Buch heißt aber „Tatort Syntax“ und befasst sich folglich primär mit Auffälligkeiten im Satzbau. Daher werden lexikalische Aspekte hier etwas weniger detailliert betrachtet. Zu den simplen Standarduntersuchungen gehört immer die Feststellung der Worthäufigkeit eines Textes, die z. B. so aussehen kann (Ergebnis von Konkordanzsoftware, hier AntConc): Abb. 6: Wort-Häufigkeit in einem Text 3.23.1 Sprach-Doping Das Vorkommen und/ oder gar die unübliche, unangemessene, unpassende und/ oder falsche Verwendung von Floskeln, Füllwörtern („Füllseln“), Phraseologismen, Redewendungen, Redensarten und metaphorischen Ausdrücken ist für die Authentizitätsfeststellung wert‐ 3.23 Lexikalisches und Semantisches 211 <?page no="213"?> 69 Sie gehören (gemeinsam mit für das Mündliche typische „ähm“ u. Ä.) zu den „Häsitationsphäno‐ menen“; nicht zu verwechseln mit Fokus-, Gradbzw. Steigerungs-, Intensitäts-, Modalitätsbzw. Abtönungs- und Gesprächspartikeln, welche Bedeutung tragen. voll, denn sie sind oft Hinweise auf die Sozialisation eines anonymen Textverfassers und dessen Bemühung darum, besonders wortgewandt zu wirken. Bestimmte Verfasser: innen verwenden Ausdrücke wie quasi, sozusagen, im Prinzip bzw. vom Prinzip her, als solches, diesbezüglich, gleichsam, dementsprechend, im Grunde (genommen), indes, absolut, letztendlich, letzten Endes, gewissermaßen, ein Stück weit, in diesem Zusammenhang, wenn Sie so wollen, hier, halt (eben), konkret, ich denke, irgendwie, praktisch, ohne Scheiß, zweifelsohne als Füllsel (auch Null-, Flick-, Bläh-, Leer-, Füll-Wort, Floskel 69 ), ein Wort bzw. eine Phrase mit geringem oder fehlendem Informationswert, also (fast) ohne Bedeutung. Für die Authentizitätsfeststellung sind sie interessant als etwas für das Schriftliche aus dem Mündlichen Importiertes, das dort oft eingesetzt wird, um das Silbenmaß für den Sprachrhythmus aufzufüllen oder eine Redebeit‐ ragsstörung zu vermeiden (auch von Stotterern, die damit Sprechblockaden überbrücken), die Kontrolle über die Konversation zu behalten und keine Pause entstehen zu lassen (sog. „Turn-Management“), damit der/ die Sprecher: in nicht unterbrochen wird. Eine auffällige Modeerscheinung ist die Verwendung von tatsächlich als Adverbial ohne Bedeutung. Bei manchen Verfasser: innen kann man eine Vorliebe für Metaphern bzw. metaphorische Ausdrucksweisen feststellen wie z.-B. Die Mauer des Schweigens muss endlich gebrochen werden., Wir werden dem Typen auf den Zahn fühlen., Er hat gesagt, wir wären Rabenel‐ tern., Der ist mit allen Wassern gewaschen., Da war ein Meer von Menschen auf dem Platz., Und dann steht man für die Impfung Stunden in der Warteschlange., Ich hab gleich gesagt, der geht in U-Haft., Mit dieser Flüchtlingswelle hatte niemand gerechnet. Auch die Verwendung selten gebrauchter Lexeme ist für die Authentizitätsfeststellung interessant. ■ Der hat sich gebauchpinselt gefühlt. Das Verb bauchpinseln ist ein eher selten gebrauchtes Verb. Und im obigen Satz wird es im Perfekt gebraucht, und der/ die Verfasser: in hat entschieden, nicht die Partizip-Form *bauchgepinselt zu wählen. ■ Unser Geschäftsführer ist letzten Montag ganz unverhofft gestorben. Das klingt danach, als hätte man gehofft, dass er verstirbt, und dann wurde die Hoffnung wahr. Ursprünglich war das Adjektiv so gedacht; heutzutage wird es häufig mit der Bedeutung überraschend verwendet. 3.23.2 Ausgefallene, falsche, fehlende, unklare Lexeme Es kann für die Authentizitätsfeststellung hilfreich sein, wenn ein/ e Verfasser: in ausgefal‐ lene, also normalerweise selten verwendete Lexeme verwendet wie verdrießen, schnurz‐ 212 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="214"?> 70 Von altgr. σολοικισμός, soloikismós, vermutlich nach der griechischen Stadt Soloi (heute Mersin an der türkischen Südküste nördlich von Zypern), wo angeblich ein schwer verständliches Griechisch gesprochen wurde. 71 Von altgr. „μεταπλασμός, „Umformung“; der Verstoß gegen morphosyntaktische Regeln als rhetori‐ sches Mittel. piepegal, aberwitzig, piesacken, Wendehals, Verballhornung, feilhalten, etepetete, amourös, Pfennigfuchser, Plaudertasche, frohgemut, berückend, schnöde, ungemein, Halligalli, Drei‐ käsehoch, Sperenzchen, Zuckerschnute (→ Kap. 3.23.5 mit Ausführungen zu Neologismen und Archaismen). Unter den inkriminierten Texten sind Drohbriefe eine häufige Art. Dort fällt auf, dass Verfasser: innen oft, und zwar vermutlich meist „unbewusst vorsätzlich“, das Verb drohen durch warnen und das Substantiv Drohung durch Warnung ersetzen und z. B. schreiben Dies ist eine ernstzunehmende Warnung! Drohung Dabei nennt der/ die Sprechende bzw. Schreibende eine (für den/ die Leser: in beste‐ hende) Gefahr, die von dem/ der Sprechenden bzw. Schreibenden ausgeht. Warnung Hier weist der/ die Sprechende bzw. Schreibende auf eine Gefahr hin, die nicht von ihm/ ihr ausgeht. Jemandem zu drohen, ist ethisch-moralisch inakzeptabel, jemanden zu warnen hingegen ist ein wünschenswertes soziales Verhalten. Abb. 7: Textbeispiel: Warnung Die Verwendung eines Wortes im falschen Zusammenhang und die falsche Zusammenstel‐ lung von Wörtern nennt man auch Solözismus 70 , eine Art des Metaplasmus 71 . 3.23 Lexikalisches und Semantisches 213 <?page no="215"?> ■ So eine Gemeinheit hätte ich ihm nicht zugemutet. Gemeint ist […] hätte ich ihm nicht zugetraut. ■ Mit dem Mantel kann man sich zeigen lassen. Gemeint ist Mit dem Mantel kann man sich sehen lassen. ■ Er hat sich so unverschämt benommen, als dächte er, er wäre vogelfrei. Gemeint ist sicherlich […], als hätte er Narrenfreiheit. Den Zustand der Vogelfreiheit gibt es heutzutage nicht mehr; er bedeutete, geächtet und rechtlos zu sein. ■ Sie können Herrn Hedinger gern direkt ansprechen, falls er für Sie eine Ausnahme macht. Gemeint ist sicherlich: Sie können Herrn Hedinger gern direkt ansprechen [und fragen], ob er eine Ausnahme macht. und nicht, dass die Ausnahme bedeutet, dass man ihn ansprechen darf. Mit der Konjunktion falls wird ein Konditionalsatz eingeleitet, der sich mit seiner adverbialen Funktion auf das Prädikat (das Verb ansprechen) beziehen würde. Dann hätte der ganze Satz eine andere Bedeutung, und zwar Falls er eine Ausnahme macht, können Sie ihn ansprechen. ■ Der Arbeitnehmer erhält bei Vorliegen der jeweiligen Fördervoraussetzungen altersvorsorge‐ wirksame vermögenswirksame Leistungen in Höhe von EUR-26,59 monatlich. Der Arbeitnehmer erhält die Leistungen, wenn die Voraussetzungen vorliegen? Gemeint ist sicherlich wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. ■ Der Typ ist doch psychologisch gestört. ■ In seiner Kindheit hat er viel psychologische Gewalt erlebt. Diese Sätze werden problemlos verstanden; viele sagen bzw. schreiben das so (psycholo‐ gisch statt psychisch). Psychologisch bedeutet die Lehre von der Psyche betreffend (Psyche + Logos = die Lehre von der Psyche; die Psyche ist die Seele [auch der Geist]). Eine typische korrekte Verwendung von psychologisch wäre Er wurde psychologisch betreut. ■ Schlachthöfe sind typische Superspreading Events. Das englische Lexem event (das ja Veranstaltung bedeutet) scheint von diesem Verfasser für einen Ort gehalten zu werden. Ein Schlachthof kann nicht als Event bezeichnet werden. Vermutlich hat der/ die Verfasser: in das Wort-Cluster Superspreading Events gehört und/ oder gelesen und als etwas memoriert, bei dem sich viele Menschen besonders leicht mit einem Virus infizieren. ■ Alle Fotos hier auf unserer Seite sind von Scammern gestohlen und für betrügerische Zwecke missbraucht. Entweder Alle Fotos […] sind gestohlen […] und […] missbraucht worden. (Perfekt mit Satzklammer und worden am Ende) oder Alle Fotos […] wurden gestohlen […] und […] missbraucht. (Präteritum mit einem Prädikat, das nur ein Wort ist). Der Beispielsatz zeigt 214 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="216"?> 72 Von lat. verbum, das Wort. ein normabweichendes Zustandspassiv. Wenn dieses Phänomen in einem Text mehrfach auftritt, ist das wertvoll für das Herausarbeiten eines Idiolekts. ■ Warum haben Sie nur diese Nachbarn eingeladen? Bedeutet das: a) Ich möchte wissen, wie Sie auf die (blöde) Idee gekommen sind, diese Nachbarn einzuladen? oder b) Warum haben Sie nur diese Nachbarn eingeladen und nicht noch andere? Also: Warum haben Sie Ihre Einladung auf diese Nachbarn beschränkt? Ist das hier das Adverb nur oder die Partikel nur? ■ Er bekam als Erstes etwas zu essen. Bedeutet das, dass er zuerst etwas zu essen bekam und danach etwas anderes, z. B. etwas zu trinken, vielleicht einen Schlafplatz, eine warme Decke o. Ä. (also eher Er bekam zunächst etwas zu essen.)? Oder ist gemeint als erster (mit r), also er war der Erste, der etwas zu essen bekam, danach andere Personen (also Er bekam als Erster etwas zu essen. bzw. Er war der erste, der etwas zu essen bekam.)? ■ Dank des Nachbarn, der am Fenster gestanden hat und die Bullen gerufen hat, ist mein Freund jetzt im Knast. Vermutlich ist er dem Nachbar nicht dankbar. Gemeint ist Wegen des Nachbarn, der […]. Oder ist das ironisch gemeint? ■ Meine Existenz wird durch die Corona-Maßnahmen stark tangiert. Gemeint ist sicherlich gefährdet. ■ Es genügt nicht, wenn Du das verbal äußerst; die brauchen das auch schriftlich. Ein allgemeiner Irrglaube ist, verbal bedeute mündlich. Verbal 72 bedeutet mit Worten. 3.23.3 Unklares oder falsches Pronomen ■ Sie hatten die Absicht, sich bzw. einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Ist Sie jemand, der (die) mit dem Satz angesprochen wird (2. Person Singular gesiezt), dem/ denen ein Vorwurf gemacht wird? Oder ist das eine Aussage über mehrere Personen (3. Person Plural)? Ist das Personalpronomen Sie zweite Person Singular - gesiezt? Oder ist es dritte Person Plural? ■ Er hat das Ehepaar in seinem eigenen Haus ermordet. In wessen Haus? In dem Haus des Ehepaars oder in dem Haus des Mörders? Bezieht sich das Possessivpronomen (seinem) auf das Subjekt oder das Objekt? 3.23 Lexikalisches und Semantisches 215 <?page no="217"?> ■ Alexander erwartete die Ankunft seines Bruders und dessen Anwalt in dessen neuem Wagen. Wessen Wagen? Des Bruders oder des Anwalts? Wir wissen nur, dass es nicht Alexanders Wagen ist, denn dann müsste es heißen in seinem neuen Wagen. Um wessen Anwalt es sich handelt, ist hingegen klar: den des Bruders, denn wenn es Alexanders Anwalt wäre, würde es heißen und seinen Anwalt. ■ Die junge Frau pflegte ihre Eltern bis zu ihrem Tod. Wer starb? Vermutlich die Eltern. Dann müsste es deren heißen. Nur wenn es die junge Frau war, die starb, wäre ihrem korrekt. ■ Unser Journalist interviewte den berühmten Künstler, den er in seinem Atelier aufsuchte. Dieser Satz sagt aus, dass der Journalist ein Atelier hat. Vermutlich ist es der Künstler, der ein Atelier hat, in dem der Journalist ihn aufsuchte, und es muss heißen in dessen Atelier. ■ Frau Meyer wollte Frau Schmidt vor ihrer Abreise nach Italien noch sprechen, weil sie ihr ihren Florenz-Reiseführer leihen wollte. Wer ist abgereist? Frau Meyer oder Frau Schmidt? Wem gehört der Florenz-Reiseführer (…, der vermutlich der anderen Dame geliehen werden sollte)? Frau Meyer oder Frau Schmidt? Vermutlich ist gemeint Frau Meyer wollte Frau Schmidt vor deren Abreise noch sprechen, weil sie ihr ihren Florenz-Reiseführer leihen wollte. Also Frau Schmidt wollte abreisen, Frau Meyer hat einen Reiseführer, den sie Frau Schmidt für die Reise mitgeben wollte. Wenn sich ein später auftauchendes Possessivpronomen nicht auf das Subjekt (im obigen Beispielsatz Frau Meyer) beziehen soll, verwendet man nicht die „normalen“ Possessivpronomen (z.-B. ihren), sondern deren. Was im obigen Beispielsatz die Eigentümerin bzw. Besitzerin des Reiseführers betrifft, so ist das - nach derselben Regel - auch Frau Meyer. ■ Die Beinmuskulatur des britischen Fußballspielers Grealish sucht seinesgleichen. Das, zu dem man nichts Vergleichbares findet, ist DIE Muskulatur, und darum muss es ihresgleichen heißen. Dieser Fehler passiert leicht, weil der/ die Verfasser: in einen Mann vor dem geistigen Auge hat; etwas Maskulines. Für Fortgeschrittene und Hartgesottene ■ Er, seine Frau und ihre Kinder sind seit zwei Wochen nicht gesehen worden, und der Vater der Kinder auch nicht. Wessen Kinder das sind (also was ihre bedeutet), erfährt man am Ende. Wenn es sich also um die Kinder der genannten Frau handelt und die „Er“-Person nicht der Vater ist, wenn sich also das Possessivpronomen (ihre) nur auf Frau bezieht (und nicht auf Er und seine 216 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="218"?> Frau), müsste es (vorne im Satz) deren Kinder (und nicht ihre Kinder) heißen, also Er, seine Frau und deren Kinder […]. ■ Außerdem war bei dem Empfang Juan Carlos Onkel und auch der Bruder von dessen Vater. Das ist kompliziert. Der Bruder von wessen Vater war dort (zusätzlich zu dem Onkel von Juan Carlos)? Von dem Onkel oder von dem Bruder? Da es nicht heißt der Bruder von seinem Vater (oder der Bruder seines Vaters), was bedeuten würde, dass es sich um den Vater des Onkels handelt. Ist gemeint, es war der Bruder von dem Onkel? 3.23.4 Unklares oder falsches Adverb ■ Er wohnt in Stuttgart und arbeitet dort auch noch. Bedeutet noch außerdem oder nicht mehr lange? ■ Ich sah ihn von oben hinab kommen. Vermutlich ist herab gemeint, denn vermutlich steht der/ die Sprecher: in/ Beobachter: in/ Be‐ richtende unten. ■ Wir haben immer gleich gearbeitet. Wurde immer sofort gearbeitet (z. B. nach einer Art von Pause oder etwas anderem, z. B. nach einem Meeting oder nach einer Anweisung)? Oder wurde immer auf die gleiche Weise gearbeitet? ■ Bitte teilen Sie uns die etwaigen Kosten mit und wann wir mit der Erledigung des Auftrags rechnen können. Das würde bedeuten, dass die Arbeit nur evtl. etwas kostet. Vermutlich ist gemeint, dass die ungefähren Kosten mitgeteilt werden sollen. 3.23.5 Sprachwandel, Archaismen und Neologismen Sprache verändert sich, und es gibt Modeerscheinungen, und zwar lexikalischer und auch syntaktischer Art. Ein neues Wort (sog. „Trendwort“) oder eine neue Ausdrucksweise entsteht primär, weil bzw. wenn es: ● für einen bestimmten Sachverhalt gefehlt hat ● bestimmten Sprecher: innen und Schreiber: innen als schicker erscheint ● ökonomischer ist, also Mühe und Zeit spart; dann handelt es sich meist um Kürzungen und Vereinfachungen 3.23 Lexikalisches und Semantisches 217 <?page no="219"?> Abb. 8: Textbeispiel: „Ich feier das“ Wenn ein Text dadurch auffällt, dass er Archaismen und/ oder Neologismen, also an bestimmte Zeiten gebundene Wörter und Ausdrucksweisen enthält, kann das - sofern es sich nicht um eine dezeptive Manipulation handelt - auf das Alter des Verfassers schließen lassen. Es ist auch sehr interessant in der forensischen Linguistik, u. a. für die Authentizitätsfest‐ stellung, wenn ein Text zeitwidrig (anachronistisch) gebrauchte Wörter bzw. Ausdrucks‐ weisen enthält, wenn also ein an eine bestimmte historische Epoche bzw. Zeit gebundenes Wort oder eine (mehr oder weniger komplexe) Ausdrucksweise in Bezug auf eine andere Zeit verwendet wird (Anachronismus), was vorsätzlich - etwa um witzig zu sein - oder versehentlich geschehen kann. Wenn beispielsweise berichtet wird, jemand hätte eine Mail geschrieben, also etwas per E-Mail mitgeteilt, wenn es jedoch zu dessen Lebzeiten noch keine PCs (und folglich keine E-Mail) gab, kann das ein Hinweis auf eine inhaltliche Fälschung sein, also auf die Vermittlung unwahrer Infomationen in einem Text bzw. dezeptive Strategien. Hier einige Beispiele für Neologismen und Archaismen: Neologismus hieß früher (Archaismus) Blockbuster Kassenschlager Couch-Potato Stubenhocker Podcast Hörbeitrag Clickbaiting Sensationshascherei chillen relaxen, sich ausruhen echt wahrhaftig Tab. 40: Neologismen und Archaismen 218 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="220"?> 73 Im Jahr 1972 gab es einen vom Bundesinnenministerium (unter dem damaligen Innenminister Genscher) herausgegebenen Rund-Erlass, der vorschrieb, dass im behördlichen Sprachgebrauch nicht mehr „Fräulein“, sondern für alle weiblichen Erwachsenen „Frau“ zu verwenden war. 74 Adjektiv, auf das Smartphone-Spiel „Smash or Pass“ zurückgeht, Bedeutung „mit jemandem etwas anfangen“ bzw. „jemanden sympathisch finden“. Archaismen Archaismen sind altmodische Ausdrücke, die, wenn sie in einem Text vorkommen, deshalb interessant sind, weil sie - sofern es sich nicht um eine dezeptive Strategie (ei‐ nen Verstellungsversuch) handelt - auf ein relativ hohes Alter des Verfassers schließen lassen (typische Beispiele sind: Käse-Igel, Halbstarker, Dreikäsehoch, Wählscheibe, Miesepeter, Bandsalat, Schnulze, Oheim, Bordsteinschwalbe, für lau, Verweser, Pille‐ palle, Kinkerlitzchen, drollig, tüchtig, knorke, „das fetzt“, Fräulein (und „Fräulein vom Amt“ 73 ). Neologismen Neologismen (auch Neuprägungen, Neosememe und Neosemantismen und moderne Ausdrucksweisen) sind Ausdrucksweisen, die in die Sprache kommen und oft nicht lange bleiben, sondern nur Modeerscheinungen und Trendwörter (auch Okkasio‐ nalismen) sind. Jedes Jahr wird das „Wort des Jahres“ (der Gesellschaft für deutsche Sprache) und das „Jugendwort des Jahres“ (des Langenscheidt-Verlags) ausgewählt. Wenn solche Wörter in einem Text vorkommen, sind sie deshalb interessant, weil sie - sofern es sich nicht um eine dezeptive Strategie, also einen Verstellungsversuch, handelt - darauf schließen lassen können, dass der/ die Verfasser: in eher jung ist. Typische Beispiele sind chillen, smash 74 , goofy, Ampelzoff, cringe, Krisenmodus, Insta‐ grammability, Milliardenloch, lost, Brexit, Mansplaining, Teuro, Digga(h), Rizz, slay, Yolo, sus, sheesh, woke, bodenlos, OK-Boomer, fly sein, hartzen, Gammelfleischparty, Maus, Computervirus, twittern, X-en, Blog, Vlog (= VideoBlog), etwas feiern (im Sinne von gut finden), spoilern (jmdm. ein Ergebnis verraten und die Spannung verderben), bingen (etwas exzessiv betreiben, z. B. Serien ansehen), Fun-Facts usw. Es gibt auch Modeerscheinungen bei Füllsel-Wörtern, z.-B. tatsächlich. In der Authentizitätsfeststellung lassen solche Ausdrucksweisen Schlüsse auf das Alter zu, auch auf höheres Alter, z.-B. ■ Er gab mir ein 5-Euro-Stück. Bis zum Jahr 2002 gab es 5-DM-Stücke; 5-Euro-Stücke hingegen nie. Eine jüngere Person, die die DM-Zeit nicht erlebt hat, würde so etwas sicherlich nicht versehentlich schreiben, es sei denn, sie kennt solche Münzen von einer anderen Währung. Das interessante Thema des Sprachwandels, der Archaismen, Neologismen, Trend- und Modewörter kann hier aus Platzgründen leider nicht nicht weiter erörtert werden. Viele Kapitel dieses Buches enthalten jedoch Einzelbeispiele mit dem Hinweis auf Sprachwandel (z. B. zu der allmählichen Ersetzung von inzwischen durch zwischenzeitlich und zeitnah 3.23 Lexikalisches und Semantisches 219 <?page no="221"?> 75 Absicherung, dass ein Aktienkurs oder ein Wechselkurs unter die erwartete Grenze absinkt. durch bald → Kap. 3.23.10 und zu der inflationären Verwendung des Plusquamperfekts →-Kap. 5.25.2). 3.23.6 Distancing, Evasivität, Hedging, Vagheit, Nicht-Faktizität Manche Verfasser: innen fallen dadurch auf, dass sie eine Ausdrucksweise wählen, mit der sie Distanz zwischen sich und den semantischen Gehalt ihrer Aussage schaffen (engl. „distancing“) bzw. die es ihnen erlaubt, sich nicht festzulegen, bzw. sie wollen sich davor schützen, dass man ihnen das Äußern von unangemessenen, unverschämten, anstößigen Inhalten vorwirft. Dieses Phänomen nennt man „Hedging“, wobei das englische „to hedge“ „mit einer Hecke umzäunen“, „absichern“ bedeutet (und ansonsten im Finanzwesen für [Kurs-]Sicherungsgeschäfte, verwendet wird 75 ). Dieses Buch enthält an mehreren Stellen bei der Beschreibung sprachlicher Phänomene den Hinweis, dass der Grund, warum der/ die Verfasser: in sich auf eine bestimmte Weise ausdrückt, das „Hedging“ sein kann. Evasivität ist bzw. evasive Ausdrucksweisen sind ein ähnliches Phänomen. Der/ die Textverfasser: in wählt solche Ausdrucksweisen, mit denen er/ sie die Verantwortung für das, was er/ sie schreibt, zu vermeiden versucht. Ganz typisch sind Sätze ohne Aktanten, also Sätze, bei denen kein/ e „Täter: in“ (der/ die Ausführende eines im Satz genannten Verbs) genannt wird (Deagentivierung). Entsprechende Beispielsätze kommen in diesem Buch an verschiedenen Stellen vor (meist mit dem Genus Verbi Passiv): ■ Nach dem Versprecher wird er jetzt wohl mit dem Schlimmsten rechnen müssen. ■ Fehler wurden gemacht. ■ Beabsichtigt wird die Vermeidung künftiger Abwicklungsverluste durch Prämienanpassungen. ■ Wir wurden, glaube ich, belogen, damit wir in der Verhandlung bestimmte Dinge nicht sagen. Wenn eine evasive Ausdrucksweise mit dem Versuch, viele Informationen mit möglichst wenigen Wörtern auszudrücken, zusammentrifft und wenn der/ die Verfasser: in bei den Leser: innen bestimmtes Wissen voraussetzt (z. B. im folgenden Satz, dass die JA, die AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“, ein Verein ist und keine Partei), entsteht leicht ein insgesamt unklares Ganzes. ■ Es wurde ein Antrag auf Vereinsverbot der JA gestellt. Es ist (ohne dieses Wissen und wegen der syntaktisch unklaren Rolle des Genitivattributs der JA) nicht ganz klar, wer den Antrag gestellt hat (die JA? ) und wer oder was verboten werden soll (die JA? ). Unabsichtliche evasive, elliptische und folglich missverständliche Ausdrucksweisen kom‐ men oft in Titelzeilen bzw. Schlagzeilen vor (z. B. Antrag auf Vereinsverbot der JA gestellt oder nur Vereinsverbot der JA). Es gibt bestimmte Lexeme, die in Sätze „eingestreut“ werden, um die Aussage zu relati‐ vieren und die Gültigkeit von Inhalten einzuschränken: sog. „Hedging-Ausdrücke“ (auch „Hecken-/ Hedge-/ Vagheits-Ausdrücke“ genannt) wie irgendwie, eine Art von, eigentlich, 220 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="222"?> strenggenommen, wahrscheinlich, vermutlich, möglicherweise, Ich meine/ glaube/ vermute, dass […] oder der Konjunktiv wie in Das dürfte schiefgehen. Weitere typische Beispiele sind die Modalverben können, müssen und sollen z. B. in Es kann sein, dass er krank ist., Er könnte das gewusst haben., Das muss später gewesen sein., Er muss aufgehalten worden sein., Er soll dement sein. Falls in einem Text auffällt, dass ein/ e Verfasser: in eine bestimmte Art bevorzugt, Nicht-Fak‐ tizität auszudrücken (z. B. mit einem Dass-Satz, mit einem Adverb wie vermutlich, mit dem modalen Hilfsverb sollen) wie z.-B. ■ Dass er Parkinson hat, wird vermutet. ■ Es wird vermutet, dass er Parkinson hat. ■ Vermutlich hat er Parkinson. ■ Er soll Parkinson haben. ist das für die Authentizitätsfeststellung interessant. Es ist jedoch selten, dass es in einem Text viele solcher Inzidenzen gibt, anhand derer eine Präferenz feststellbar wäre (→-Kap. 3.12 und 8.6) Eine weitere Art der Vagheit ist die Metonymie, die den wenigsten Sprecher: innen und Schreiber: innen bewusst ist. Ein Ausdruck wird - meist aus sprachökonomischen Gründen - durch einen anderen ersetzt, der in einem übertragenen Sinn gebraucht wird, wobei der ersetzende Ausdruck zum ersetzten eine Beziehung der Kontiguität (Nachbarschaft) aufweist. Meist handelt es sich um Phraseologismen, oft idiomatische Phrasen und/ oder Syntagmen Arten der Metonymie: 1. Die Ursache steht für die Wirkung bzw. umgekehrt, z. B. Ich lese gern Fitzek., Sie haben dauernd Krach. 2. Ein Material bzw. Rohstoff steht für das daraus Erzeugte bzw. das wiederum für den Inhalt, z.-B. Wir haben höchstens zwei Gläser getrunken. 3. Der Ort steht für das dort Befindliche, z. B. Afrika hungert., Brüssel hat entschie‐ den., Der Saal tobte. 4. Eine Epoche steht für die in ihr lebenden Menschen, z. B. Das Mittelalter glaubte an die Hölle. Eine weitere Art der Vagheit ist das Formulieren mit indirekten (oder fehlenden) Verweisen und kausalen Verbindungen (Bridging) und das Verwenden von Andeutungen. Siehe hierzu auch das Kapitel zur Phorik und zum unklaren Skopus (→-Kap. 7.3). Wenn jemand sagt oder schreibt Da würde ich mich drüber ärgern. (mit einer enthaltenen Redundanz, also Da und außerdem drüber [mit dem enthaltenen da in dem verkürzten darüber] statt Darüber würde ich mich ärgern.), muss es nicht der Fall sein, dass er die korrekte Formulierung mit einem Präpositionaladverb (darüber) nicht beherrscht, sondern es kann sein, dass er mit dem Satzanfang Da eine Distanz zwischen sich und dem semantischen Inhalt schaffen möchte (distancing). 3.23 Lexikalisches und Semantisches 221 <?page no="223"?> 76 Das griechische Verb „metaphérein“ bedeutet „andernorts hintragen“. Verfasser: innen können auf viele Weisen Distanz zwischen sich und den semantischen Inhalt ihrer Äußerungen bringen, z. B. auch durch Deagentivierung, also die Nicht-Nen‐ nung eines Aktanten in Sätzen mit einer Formulierung mit „es“ wie Es wurde ständig rumgemeckert. (keine Nennung des Beschuldigten), Es ist wichtig, das Informationsblatt genau zu lesen. (keine Nennung der Person, die das Informationsblatt genau lesen soll, bzw. eines Vorwurfs [und eines/ einer Beschuldigten], das Informationsblatt sei nicht genau gelesen worden), Fehler wurden gemacht. (keine Nennung des/ der Schuldigen, der/ die evtl. der/ die Schreiber: in bzw. Textverfasser: in selbst ist). Oft will der/ die Verfasser: in keine Verantwortung für den Inhalt übernehmen, weil er/ sie selbst nicht von dem Wahrheitsgehalt der Aussage überzeugt ist (oder weil er/ sie ein unsicherer Mensch ist, der sich ungern verbindlich äußert bzw. festlegt). Das „Es“ fungiert dann wie eine „Pufferzone“, auch bei Vorwürfen wie z. B. Es nervt mich, dass Du beim Essen so schmatzt. (statt Dass Du beim Essen so schmatzt, nervt mich., was als eine Art Mit-der-Tür-ins-Haus-Fallen empfunden werden könnte und was der/ die Verfasser: in zu vermeiden sucht). Distanz ist auch bei Bitten oft vom Verfasser gewünscht, wenn er Sorge hat, dass seiner Bitte nicht entsprochen wird, z. B. Besteht die Möglichkeit, dass Sie mir das nach Hause liefern? statt Liefern Sie mir das nach Hause? Distanz wird auch durch unpersönliche Formulierungen ohne Aktanten realisiert (z. B. Besteht bei Ihnen ein Kinderwunsch? statt Möchten Sie Kinder? ) und durch ein „Um-den-heißen-Brei-Herumreden (bzw. -schreiben), z.-B. ■ Was in dem Heim los ist, hat keine Worte. Vermutlich sollte formuliert werden Für das, was in dem Heim los ist, dafür habe ich keine Worte., oder […] dafür gibt es keine Worte., aber damit ist nichts Negatives gesagt. Tatsächlich ist sicherlich gemeint (bzw. in dem tatsächlichen Fall, aus dem der Satz stammt, war es so): ■ In dem Heim herrschen inakzeptable Zustände. Auch ein Satz wie der folgende ist keine klare Anklage: ■ Was in dem Heim los ist, hat mit Professionalität oder diakonischem Verständnis nichts zu tun. Die oft gelesene (und gehörte) Formulierung XY sieht anders aus. wie z. B. in Gute Führungsqualitäten und Hinwendung zu den Mitarbeitern sehen anders aus. ist ebenfalls ein typisches Beispiel für eine nicht klar ausgesprochene Anklage (Distancing, Evasivität, Nicht-Faktizität und Hedging). 3.23.7 Saliente Metaphern Eine Metapher ist ein „sprachliches Bild“, die Bezeichnung für etwas, das sich der/ die Leser: in leicht und gut vorstellen kann. Es wird ein Bild genutzt, das aus seinem eigentlichen Bedeutungszusammenhang genommen und in einen anderen (einen Satz, einen Text) übertragen wird. 76 , z. B. wenn das Bild des Hüpfens und Springens (salire) als Attribut für 222 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="224"?> 77 Nicht die Metaphern sind „salient“, sondern eine etwaige auffällig häufige (ins Auge springende) Verwendung (lateinisch „saliens“=„springend“). ein Substantiv (in der Überschrift dieses Unterkapitels „Metaphern“) genutzt wird, wobei hier ein „Ins-Auge-Springen“ (bei einer Textuntersuchung) gemeint ist. Wenn ein Text auffällig viele Metaphern enthält bzw. wenn der Gebrauch metaphorischer Ausdrucksweisen salient 77 ist, kann das idiolektal sein und somit wertvoll für die Authen‐ tizitätsfeststellung, denn es kann sich um einen Versuch des Verfassers handeln, bestimmte nicht-metaphorische, deutlich-bezeichnende Ausdrucksweisen zu vermeiden, weil sie z. B. einen direkten Vorwurf oder etwas Peinliches darstellen würden und er eine Distanz zwischen sich und dem Geschriebenen schaffen möchte; so auch bei schmerzlich Erlebtem oder/ und bei intimen Themen, z. B. Missbrauch (z. B. Die Lokomotive fuhr in den Tunnel.), bei denen es dem/ der Verfasser: in hilft, mittels Metaphern Distanz zum Inhalt herzustellen, was bedeuten kann, dass es etwas weniger schwerfällt, darüber zu berichten. Metaphorische Ausdrucksweisen werden auch oft verwendet, um das explizite Nennen eines Vorwurfs, einer Beschwerde oder einer diffamierenden Beschreibung zu ver‐ meiden (z. B. Das ist gründlich in die Hose gegangen., Er stand auf dem Schlauch., Das kannst du halten wie ein Dachdecker., Das kommt mir nicht in die Tüte., Er ist der Prügelknabe der Nation, Er nagt am Hungertuch., Er wurde an den Pranger gestellt., Das war ein Schuss in den Ofen.). Bei sehr auffällig metaphorischem Sprachgebrauch kann es sinnvoll sein, außerdem nach den Metapher-Arten zu unterscheiden: Arten von Metaphern: 1. Es gibt kein anderes Wort für das zu Bezeichnende (eine Art der „Katachrese“; Stuhlbein, Flussbett). 2. Es gibt zwar ein anderes Wort für das zu Bezeichnende, aber der/ die Verfasser: in kennt es nicht, bzw. es fällt ihm/ ihr nicht ein. 3. Ein bestehendes Wort oder die bezeichnete Sache gilt als anstößig oder wird nega‐ tiv bewertet und soll deshalb durch einen unverfänglichen Ausdruck umschrieben bzw. ersetzt werden (Euphemismus; von uns gegangen für gestorben). 4. Ein abstrakter Begriff soll durch einen anschaulicheren Sachverhalt versinnbild‐ licht werden (Zahn der Zeit). 5. Eine Eigenschaft soll besonders hervorgehoben werden (Diese Mutter ist eine Löwin.). Es könnte auch auffallen, dass jemand häufig Ausdrücke, die sich eigentlich auf etwas Örtliches beziehen (vor der Tür), für etwas Zeitliches verwendet (z. B. Weihnachten steht vor der Tür.) oder oft Ausdrücke für etwas Zeitliches wie etwas verwendet, das man - wie einen Merkzettel oder Schlüssel - hat oder verlieren kann (z. B. Wir dürfen keine Zeit verlieren.). Vielen Menschen ist nicht bewusst, wie stark die Sprache allgemein mit metaphorischen Ausdrucksweisen durchsetzt ist. Bei dem seltenen Fall eines Textes, der auffällig viele 3.23 Lexikalisches und Semantisches 223 <?page no="225"?> 78 auch Onomatopöetika (mit „ö“), von altgriechisch ὀνοματοποίησις (onomatopoíesis) bzw. ὀνοματοποιΐα (onomatopoiḯa), „Namenerschaffung“; enthält ὄνομα (onoma, der Name) bzw. ὀνοματοποιεῖν (onomatopoieín „einen Namen [ver-]geben“]); die Wiedergabe nicht-sprachlicher Laute durch sprachliche Mittel. 79 eine durch deverbale Reduktion (Weglassen der Infinitivendung -n oder -en) entstandene infinite und unflektierte Verbform. metaphorische Ausdrucksweisen enthält, ist für die Authentizitätsfeststellung besonders interessant, warum der/ die Verfasser: in die metaphorische Ausdrucksweise verwendet: ● weil ihm die alternative, nicht metaphorische Ausdrucksweise nicht einfällt ● weil er meint, dass die metaphorische Ausdrucksweise der nicht metaphorischen Ausdrucksweise vorzuziehen ist (z. B. weil dann der/ die Leser: in die Mitteilung besser versteht) Dies ist allerdings sehr schwer zu erkennen und bleibt meist im (unwissenschaftlichen) Bereich des Vermutens 3.23.8 Onomatopoetika 78 (lautmalerische Wörter) Das lexikalische Phänomen, dass ein/ e Verfasser: in auffällig häufig lautmalerische bzw. klangnachahmende Wörter (z. B. Naturbzw. Tierlaute nachahmende Wörter wie Kuckuck, Kikeriki, klipp-klapp, huhu, au, rumpeln, schnattern, tschilpen und Ausdrücke [sog. „Inflektive“ 79 ] wie seufz, keuch) verwendet, die neben „Onomatopoetika“ speziell in Bezug auf Comic-Sprache auch „Soundwords“, „Geräuschwörter“ oder „Klangwörter“ genannt werden, erscheint oft gleichzeitig mit der häufigen Verwendung von Metaphern. Wenn weiterhin zu vermuten ist, dass häufig ein onomatopoetisches (auch onomatopöetisches, mit „ö“) Wort statt eines ebenfalls zur Verfügung stehenden „normalen“ gewählt wurde oder dass durch die Verwendung eines onomatopoetischen Wortes die Formulierung eines ganzen Satzes oder einer Phrase umgangen wird, sind die zwei naheliegenden Vermutungen: ● niedriger Bildungsstand oder ● häufiger Konsum von Comics und/ oder ● die (auch vom jeweiligen Kommunikationspartner abhängige) Annahme des/ der Ver‐ fasser: in, dass solche Ausdrucksweise „cool“ wirkt (register-ähnlich, auch wenn ältere Verfasser jünger zu wirken versuchen, u.-a. beim Cyber-Grooming) 3.23.9 Fachsprachliche Ausdrücke und Fremdwörter Es ist für die Authentizitätsfeststellung interessant, wie Verfasser: innen mit Lexemen um‐ gehen, die nicht zum normalen deutschen Wort-Inventar gehören, sondern Fachausdrücke, Lehnwörter, Fremdwörter, Anglizismen usw. sind, z.-B. ■ a. Anders Breivik war ein typischer „Lone Wolf “. ■ b. Anders Breivik war ein typischer Lone Wolf. ■ c. Anders Breivik war ein typischer „lone wolf “. 224 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="226"?> ■ d. Anders Breivik war ein typischer „Lone Wolve“. ■ e. Anders Breivik war ein typischer „lone wolve“. Die Schreibweisen in den Sätzen d und e sind falsch; dieser Fehler kann jedoch bei Verfassern, die wenig Kompetenzen im Englischen haben, leicht passieren, denn es ist der Plural, der mit v geschrieben wird (nicht der Singular), und vielleicht hat der/ die Verfasser: in einmal einen Satz gelesen wie Anders Brevik gehörte zu den sogenannten Lone Wolves. ■ Das ist doch unerheblich. Das Lexem unerheblich, das primär in der Rechtssprache verwendet wird, ist das Pendant zu dem umgangssprachlichen egal oder dem aus dem Lateinischen stammenden (und deshalb von Jurist: innen eher nicht verwendeten) irrelevant. Finden sich in einem inkriminierten Text Wörter wie unerheblich bzw. ähnliche Wörter aus der Rechtssprache, kann das bedeuten, dass der/ die Verfasser: in entweder Jurist: in ist oder jemand, der viele Schriftsätze bzw. andere von Jurist: innen verfasste Texte gelesen hat. 3.23.10 Paronyme Ein großes Problem stellen für viele Verfasser: innen die sog. Paronyme dar; Wörter, die leicht miteinander verwechselt werden, weil sie ähnlich aussehen (und klingen). Die Kenntnis solcher Wörter und ihre korrekte Verwendung lässt einen höheren Bildungsstand vermuten. Paronym Ein Wort, das ähnlich aussieht wie ein anderes und leicht mit ihm verwechselt wird. Typische Beispiele: ethisch/ ethnisch, empathisch/ emphatisch, Onkologie/ Ontologie, Verleugnung/ Verleumdung, intrigieren/ integrieren. Wenn ein/ e Verfasser: in mehrfach Paronyme falsch verwendet, kann daraus geschlossen werden, a. dass ihm/ ihr der Fehler nicht bewusst ist und er/ sie meint, das richtige Wort zu verwenden b. dass es ihn/ sie nicht stört, wenn man von ihm/ ihr einen niedrigen Bildungsstand vermutet (selten) Viele Verfasser: innen vermeiden die Verwendung eines solchen Wortes, wenn sie sich bzgl. der Bedeutung bzw. der richtigen Wortwahl nicht sicher sind. Ein/ e solche/ r Verfasser: in würde also eher schreiben Er ist auf der Krebs-Station. (statt Onkologie-Station), wenn er/ sie sich z. B. nicht sicher ist, ob das richtige Wort Onkologie oder Ontologie lautet. Und ein/ e solche/ r Verfasser: in würde eher das Wort ethisch bzw. ethnisch weglassen, wenn er/ sie sich nicht sicher ist, welches das richtige Wort ist, beispielsweise in einem Satz wie Die Rechte der [ethnischen] Minderheiten müssen besser geschützt werden. oder Das finde ich [ethisch] sehr bedenklich. 3.23 Lexikalisches und Semantisches 225 <?page no="227"?> Interessant in der forenischen Linguistik, wenn der Ersatz nicht vorsätzlich, sondern versehentlich erfolgt, z. B. Konifere statt Koryphäe, Ovulationen statt Ovationen., Hier muss ein Exemplar stationiert werden. statt Hier muss ein Exempel statuiert werden. ■ Bei uns können Sie bei einer guten Tasse Café mit Ihren Geschäftspartnern Konservation betreiben. Verwechslung von „Konversation“ mit „Konservation“ (und außerdem heißt es, wenn man sehr genau ist, eine Tasse Kaffee, die man - im Café - trinkt). ■ Das waren Tage der Begegnung, die ich nicht vermissen möchte. Verwechslung von missen mit vermissen. Vermissen wird verwendet, wenn man ausdrü‐ cken möchte, dass man einen Verlust oder eine Entbehrung bedauert oder das Entbehrte gern zurückhätte. Mit missen drückt ein/ e Verfasser: in aus, dass er ungern ohne etwas sein möchte, was er hat. Das kann auch eine Erinnerung sein (z. B. Die Erinnerung an die Tage mit Dir möchte ich nicht missen.). Das Verb missen wird heutzutage vorwiegend mit dem modalen Hilfsverb wollen oder möchten (aber auch - seltener - können, dürfen, müssen, sollen, brauchen) und meist verneint verwendet, typischerweise in Wendungen wie einen Gegenstand (typischerweise ein nützliches Gerät) einen lieb gewonnenen Menschen, ein Tier, eine Zeit, Erfahrung, Begegnung, Erinnerung nicht missen wollen. Es wird - anders als das Verb vermissen - nicht mit einem Objekt verwendet. Man sagt nicht Ich misse meine Oma., sondern Ich vermisse meine Oma. ■ Das ist üble Nachrede und Verleugnung. Hier wurden Verleumdung und Verleugnung miteinander verwechselt. ■ Als ich jünger war, habe ich mit meinen Freunden oft Klingelyachten gemacht. Gemeint sind natürlich Klingeljagden. ■ Der Mehmet hat sich gar nicht bemüht, sich zu intrigieren. Hier wurden integrieren und intrigieren verwechselt. ■ Entweder seit ihr für oder gegen uns. ■ Sie wohnen seid drei Jahren in der Schillerstraße. Verwechslung von seid und seit: Der Fehler des ersten Satzes - also seit statt seid - kommt wesentlich häufiger vor als anders herum. ■ Ihr ward unfair. ■ Er wart nie wieder gesehen. Diese Verwechslung (ward/ wart) gibt es nicht oft, weil auch die beiden Lexeme wesentlich weniger häufig vorkommen als seid und seit. seid vs. seit: Ihr seid doof., aber Ich habe seit vier Stunden nichts gegessen. wart vs. ward (selten): 226 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="228"?> Ihr wart unfair., aber Und es ward Licht. Merkhilfe: Seit Ihr hier wart, ist alles besser. ■ Das nutzt nichts. Korrekt ist hier nützt. ■ All seine Bemühungen haben nichts genutzt. Korrekt ist hier genützt. ■ Diese Weide wird von zwei Bauern genützt. Korrekt wäre hier genutzt. Das Problem zwischenzeitlich vs. inzwischen: ■ Über das für die IHK unangenehme Urteil des BVG wurde ja nun zwischenzeitlich auch in der Zeitung berichtet. ■ Die Entsorgungsbetriebe hatten den Müll zwischenzeitlich entsorgt. Das korrekte Wort für die beiden letzteren obigen Beispielsätze ist inzwischen. Die Vorstel‐ lung, dass die Entsorgungsbetriebe den Müll wieder an die Stelle kippen, ist unangenehm, aber als Merkhilfe geeignet. Hier ein erfreuliches Beispiel für die korrekte Verwendung von zwischenzeitlich. ■ Da Frau Meyer im Mutterschutz ist, haben wir zwischenzeitlich Frau Schmidt im Sekretariat eingesetzt. Wenn Frau Meyer aus dem Mutterschutz zurückkommt, bekommt sie ihre Stelle wieder. Das Zwischenzeitliche gilt nur für eine bestimmte Zeit, eine Zwischenzeit. Es ist auffällig, dass immer mehr Sprecher: innen (und Schreiber: innen) zwischenzeitlich statt inzwischen verwenden. Sehr wahrscheinlich wird zwischenzeitlich auf lange Sicht inzwischen fast ganz ersetzen, und es wird nur noch sehr weniger Sprecher: innen (und Schreiber: innen) geben, die den Unterschied beachten. Ähnlich verhält es sich mit der Ersetzung von bald durch zeitnah. Hier gibt es allerdings keinen Bedeutungsunterschied, sondern es handelt sich um eine simple Ersetzung (zu diesem Thema siehe auch das Kapitel „Sprachwandel“ (→ Kap. 3.23.5). Eine korrekte Verwendung bzw. Nicht-Ersetzung ist für die Authentizitätsfeststellung sehr wertvoll. ■ Wir haben das laut der Energieverbrauchskennzeichnungsverordnung etikettiert. Gemeint ist sicherlich gemäß. ■ Der Verkündigungstermin wurde gemäß § 310 ZPO aus wichtigem Grund um mehr als drei Wochen verschoben. Dieser Beispielsatz enthält auch die fehlende Angabe des Gesetzes, hier geht es jedoch darum, dass jemand meint, bei einem solchen Termin werde ein Urteil verkündigt statt verkündet. 3.23 Lexikalisches und Semantisches 227 <?page no="229"?> ■ Er musste eine eidesstaatliche Versicherung abgeben. In diesem speziellen Fall hat der Schreiber sehr wahrscheinlich die Bedeutung des Worts eidesstattlich (an Eides statt; es geht um eine Versicherung STATT eines Eides) nicht verstanden, sondern er denkt, es handele sich um etwas STAATliches. Beispiele dieser Art (mit orthografischen Kompetenz-Mängeln oder auch Fehlern in der Wortwahl) lassen Rückschlüsse auf einen niedrigen Bildungsstand eines Verfassers zu. Außerdem gibt es das Phänomen des Malapropismus, bei dem ein Wort (oder ein Wort‐ bestandteil) durch ein (phonetisch) ähnliches, semantisch jedoch stark unterschiedliches Wort ersetzt wird wie z.-B. Knopfloch statt Knoblauch, zum Bleistift statt zum Beispiel. 3.23.11 Rekurrenzen Das wiederholte Vorkommen gleicher Wörter und/ oder Phrasen innerhalb eines Textes nennt man Rekurrenz. Besonders interessant ist die sog. „partielle Rekurrenz“, innerhalb derer es die morphologische Rekurrenz gibt, bei der in einem Text statt gleicher Wörter oder ganzer gleicher Phrasen nur ein Wortteil (meist der Wortstamm) wiederholt wird wie in tagtäglich und wortwörtlich. Dieses sprachliche Phänomen wird - bezogen auf die Art der Wortbildung - auch Reduplikation genannt. Außerdem gibt es das - für die Authentizitätsfeststellung - interessante Phänomen der Wiederholung eines Wortes in einer anderen Wortklasse, z.-B. in der Phrase eine Schlacht schlagen (hier Substantiv und Verb), oder die Verwendung des Substantivs Glück zusammen mit dem davon abgeleiteten Adjektiv glücklich und/ oder dem abgeleiteten Verb glücken. Dieses Phänomen ist in den Texten, die in der forensischen Linguistik typisch vorkommen, selten. 3.23.12 Soziolektale Ausdrücke und Alters-Hinweise Ausdrucksweisen, die auf einen Soziolekt schließen lassen, sind für die Authentizitätsfest‐ stellung und das Sprachprofiling wertvoll, da sie eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe und ggf. Informationen über die Sozialisation einer Person anzeigen können. Zu den Soziolekten gehören auch Berufs- und Standessprachen, außerdem Wissenschafts- und Hobbysprachen. Auch Hinweise auf das Alter einer Person finden sich; z. B. in der Lexik beim Gebrauch von ■ Es waren auch Musiker da. (vs. Es waren auch Musikanten da.) Die Wahl von Musikant kann ein Hinweis auf ein höheres Alter des Verfassers sein; das Wort wird von jüngeren Textverfasser: innen kaum gebraucht. Außerdem kann es ein Hinweis auf süddeutsche oder ländliche Herkunft sein, da Musikanten typischerweise bei Tanzveranstaltungen und Umzügen vorkommen. 228 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="230"?> 80 von dem altgriechischen ἔθνος, éthnos, „Volk“ bzw.“Volksstamm“ und φαῦλος, phaúlos, „,gering“, „wertlos“. 81 Steven Pinker, The Language of Swearing (https: / / www.youtube.com/ watch? v=1BcdY_wSklo und h ttps: / / www.youtube.com/ watch? v=yyNmGHpL11Q, Zugriff: 19.04.2024) ■ Er gehört zu einer Gang. (vs. Er gehört zu einer Bande.) Der/ die Verwender: in von Gang ist vermutlich jünger als der/ die Verwender: in von Bande, denn das Wort Bande ist unmodern (ein Archaismus). In der Orthografie kann sich höheres Alter - sofern es sich nicht um eine dezeptive Strategie handelt - auch in der Schreibweise von dass/ daß und anderen Wörtern zeigen, die im Zuge der Rechtschreibreform geändert wurden (→ Kap. 3.20.3 zu dass/ daß und 3.23.5 zu Neologismen/ Archaismen). 3.23.13 Hate Speech, Obszönität, Profanität Aggressive Ausdrucksweisen können Aufschluss über die Sozialisation und/ oder die Gemütsverfassung des/ der Verfasser: in zum Zeitpunkt des Verfassens des Textes geben, z. B. wenn die Verwendung beleidigender und/ oder bedrohender, zorniger Ausdrucksweisen - abgesehen von etwaig tatsächlicher Bedrohung der angesprochenen Person - für den/ die Verfasser: in eine Art von „Dampf-Ablassen“ darstellen (sog. kathartisches Fluchen, engl. „cathartic swearing“). Die kathartische Wirkung entfaltet sich oft schon durch das Brechen von Tabus, indem ungebührliche, unzivilisierte, brüske, derbe Schimpftiraden (häufig mit Fäkalausdrücken) geäußert werden. Eine besondere und in der forensischen Linguistik leider häufig vorkommende Art der Bedrohung ist der Ethnophaulismus 80 eine abwertende Fremdbezeichnung für eine ethnisch oder rassistisch definierte Gruppe, z.-B. ■ Wir hatten viele Polacken, Kanacken und Makkaroni hier im Kohlenpott. Obszönität und Profanität Gemäß dem Kognitionsforscher Steven Pinker gibt es 5 Arten der Profanität 81 (auch „Obszönität“, „Beschimpfung“): ● beleidigend (engl. „abusive“): zielt ab auf Ehrverletzung wie Beleidigung, auch Einschüchterung, oder darauf, anderweitig emotional oder psychisch zu verletzen, z. B. Du bist so ein Idiot! ● kathartisch (engl. „cathartic“): Fluchen als Reaktion auf Schmerz oder Unglück, z. B. Das ist so eine verdammte Scheiße, dass das schiefgegangen ist. ● dysphemistisch (engl. „dysphemistic“): soll zeigen, dass der/ die Textverfasser: in negativ über etwas denkt bzw. urteilt und den/ die Leser: in dazu bringen will, ebenso zu denken bzw. urteilen, z.-B. Dieser Scheiß-Computer macht nie, was ich will. 3.23 Lexikalisches und Semantisches 229 <?page no="231"?> ● emphatisch (engl. „emphatic“): soll besondere Aufmerksamkeit auf das lenken, was der/ die Verfasser: in für beachtenswert hält (erleidet), z. B. Ich habe die Schnauze voll von den Arschlöchern von Vermietern. ● idiomatisch (engl. „idiomatic“): verfolgt keinen besonderen Zweck, sondern ist ein Zeichen für privates, informelles Miteinander, z. B. Es war arschkalt in dem Keller., Räum Deinen Scheiß hier weg. In den Bereich der Obszönität gehören auch Texte, die Menschenhass (Misanthrophie), speziell Frauenhass (Misogynie) ausdrücken (Männerfeindlichkeit heißt „Misandrie“). ■ Alle die Schlammpen müssen ma anstendig durchgefikkt werden bis sie nich mehr sitzen können. 3.23.14 Regionale Varietäten Oft verraten bestimmte Wörter, ob ein/ e Verfasser: in aus einem bestimmten Gebiet kommt oder sich dort lange aufgehalten hat (sofern es sich nicht um eine dezeptive Strategie handelt). Oft sind es Kleinigkeiten wie lediglich ein Artikel, z. B. ob jemand sagt das Bonbon oder der Bonbon (Norddeutschland und Franken). ■ Die Ossis hatten nach der Wende einen großen Nachholebedarf beim Reisen. ■ Das ist, weil Amberg eine Gemeinde mit Marktrecht ist. Orte mit Marktrecht gibt es nur in Bayern, Österreich und Südtirol. ■ Ich war oft in Köpenick und habe da sehr gute Broiler gegessen. Das Wort Broiler für Brathähnchen war speziell im Gebiet der ehemaligen DDR gebräuch‐ lich. ■ Zunächst wurden die Zuschauer begrüßt. vs. Zunächst wurden die Zuseher begrüßt. Die Verwendung des Lexems Zuseher kann ein Hinweis auf eine Herkunft aus Österreich oder Süddeutschland sein. ■ Es gab um sieben Abendbrot. vs. Es gab um sieben Abendessen. oder Es gab um sieben Nachtessen. Abendbrot ist eher in Norddeutschland gebräuchlich, Abendessen in Mitteldeutschland, Nachtessen eher in Südwestdeutschland und der Schweiz. ■ Seit Anfang Monat verkehrt wieder ein Bus zwischen Vaduz und Schaan. Diese Verwendung von Anfang Monat statt Anfang des Monats kommt - gemäß der Variantengrammatik des Standarddeutschen (Ammon et al. 2018) - primär in Liechtenstein und der deutschsprachigen Schweiz vor. 230 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="232"?> 82 Achtung: Das Genus von Partikel ist feminin (DIE Partikel), der Plural lautet (auch im Nominativ) Partikeln (mit einem n am Ende). 3.23.15 Partikeln Speziell Modalpartikeln 82 (auch Abtönungspartikeln) wie aber, doch, eigentlich, ja, Fokuspartikeln (allein, besonders, bloß, doch, nur, selbst, sogar, wenigstens), Gradpartikeln (erst, schon, früh, frühestens, ziemlich, äußerst) sind interessant für die forensische Linguistik. Für die Authentizitätsfeststellung ist die Verwendung der Modalpartikel ja von besonderem Interesse, denn sie wird von bestimmten Verfasser: innen häufig beliebig eingestreut und nicht mit ihrer eigentlich gedachten Funktion verwendet, und dabei handelt es sich um ein idiolektales Phänomen. Modalpartikel ja Ihre eigentliche Funktion ist, dem Hörer/ Leser die Kenntnis des Sprechers/ Verfassers darüber mitzuteilen, dass dem Hörer/ Leser etwas bekannt ist (z. B., weil es zuvor erwähnt wurde oder weil es als zum Allgemeinwissen gehörig angesehen werden kann oder weil der Sprecher: in/ Schreiber: in dem/ der Hörer: in/ Leser: in mitteilen möchte, dass er es bei ihm als bekannt voraussetzt) und dass er in der geplanten Fortsetzung seiner Äußerung auf diesem Wissen aufbauen möchte (z. B. Ich bin ja auf dem Land aufgewachsen, und daher bin ich daran gewöhnt, dass morgens früh ein Hahn kräht. oder [in einem linguistischen Fachgespräch] New York liegt ja an der Ostküste, und die New Yorker zeigen auch die für die Ostküste so typische Nicht-Aussprache des „r“, die ja in den wissenschaftlichen Ausführungen von Labov über die Rhotizität beschrieben wurde.). Sprecher: innen/ Verfasser: innen verwenden die Modalpartikel ja häufig auch mit einem Teil ihrer eigentlichen Funktion, allerdings etwas abgeändert, und zwar, um dem/ der Hörer: in/ Leser: in eine Art Begründung für einen anderen Inhalt des Rede-/ Schreibbeitrags zu liefern. ■ Ich weiß das; ich habe ja mal eine Ausbildung zum Gas- und Wasser-Installateur gemacht. In dem obigen Satz wird das Wissen mit der Ausbildung begründet. Eigentlich soll die Modalpartikel ja aber - normgerecht - dafür verwendet werden, mitzuteilen „Wie Sie wissen“. Normgerecht für eine Begründung wäre eine Formulierung wie Ich weiß das, denn ich habe mal eine Ausbildung zum Gas- und Wasser-Installateur gemacht. Häufig wird die Modalpartikel ja von bestimmten Verfasser: innen einfach „eingestreut“, ohne dass die semantische Bedingung der Bedeutung „Wie Sie wissen“ bzw. „Wie Du weißt“ erfüllt ist, und das ist idiolektal. Es ist ein typisches Beispiel für einen Fall, in dem qualitative Verfahren nötig sind, denn wenn einfach eine Konkordanzsuche nach Vorkommen des Lexems ja durchgeführt wird, wird die Liste auch andere Fälle von ja enthalten (wie Er hat ja gesagt., Doch, ja sicher., Aber ja doch! , Es schneit ja! , Er hat ja gar nichts an.). 3.23 Lexikalisches und Semantisches 231 <?page no="233"?> 3.23.16 Diminutiv (Verkleinerung, Verniedlichung) Interessant ist eine auffällig häufige Verwendung von Diminutiv-Formen durch eine/ n Verfasser: in und/ oder eine besondere Präferenz für diminutive Formen. Dialektale Beson‐ derheiten in diesem Bereich können die geografische Herkunft eines Verfassers verraten bzw. darauf schließen lassen, dass er sich über längere Zeit in einer bestimmten dialektal geprägten Region aufgehalten hat oder dass mit ihm als Kind so gesprochen wurde (z. B. Du kleines Bürschchen). Diminutiv (Gegenteil Augmentativ) Dabei handelt es sich um ein morphologisches Mittel, um die Bedeutung eines Substantivs zu verändern, und zwar - vereinfacht ausgedrückt - um anzuzeigen, dass etwas klein ist, oder um eine Bezeichnung auf den/ die Leser: in „niedlich“ wirken zu lassen. Der Diminutiv wird verwendet: ● als Untertreibung, zur Verharmlosung, zum Herunterspielen (z. B. Dieses Problemchen räumen wir gleich aus der Welt.) ● für kleine Objekte oder kleine, junge Menschen oder Tiere oder Pflanzen (z. B. Tischchen, Tässchen, Gläschen, Rippchen, Hänschen, Hündchen, Blümchen, Röhrchen, Beutelchen, Schräubchen, Wäldchen) ● als Kosewort (sog. „Hypokoristika“, z.-B. mein Bärchen, Schätzchen) ● als Verniedlichungsform, besonders wenn die Zielgruppe Kinder sind (z. B. Hündchen, Püppchen, Kleidchen) ● als Abwertung (Pejorativum bzw. Dysphemismus, z. B. Das ist kein Haus, das ist ein Häuschen.) Die oben aufgeführten Motivationen, einen Diminutiv-Ausdruck zu verwenden, können auch gemischt sein. ■ Wir wollten noch ein Bierchen trinken gehen. ■ Das war ein hübsches Sümmchen, das er geerbt hat. ■ Lass uns ein Gläschen Wein trinken. ■ Er ist ein kleines Würstchen. ■ Da waren so braune Tierchen. ■ Ich habe mir doch nur ein Späßchen erlaubt. In der deutschen Standardsprache sind Diminutive immer sächlich; deshalb ändert sich bei der Verkleinerungsform maskuliner und femininer Substantive - bei Lebewesen ungeachtet ihres natürlichen Geschlechts - das Genus. Deshalb sind das Knäblein und das Mädchen (früher Mägdchen, Verkleinerungsform von Magd) grammatikalisch neutral. Es gibt auch Diminutiv-Formen, die nicht mehr als „Verkleinerungs- oder Verniedlich‐ ungs-Form“ empfunden werden, weil sie eigenständige Begriffe bzw. Bezeichnungen geworden sind, z. B. Brötchen, Fischstäbchen, Kaninchen, Eichhörnchen, Rotkehlchen, 232 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="234"?> 83 vom griechischen συναίρεσις synaíresis, „Zusammenziehung“ Meerschweinchen, Stiefmütterchen, Maiglöckchen, Plätzchen, Sternchen (als typografi‐ sches Zeichen), Ohrläppchen. In Dialekten sind Verkleinerungen von männlichen Personennamen oft männlich, z. B. der Hansli (der kleine Hans; es gibt aber auch „das Hansli“), während weibliche Personennamen überwiegend sächlich sind wie das Anneli (die kleine Anne bzw. Anna). Im österreichischen Dialekt bleiben Verkleinerungsformen für weibliche Personennamen allerdings meist feminin, z. B. die Annerl - im Ggs. zu z. B. das Hunderl, das Sackerl). Im Mittelbairischen und in Teilen Österreichs wird die Verkleinerung mit -erl gebildet (z. B. Sackerl, Hunderl, Stüberl). Im Südbairischen wird die Endung -ele oder -ale gebraucht (z. B. Sackele/ Sackale, Hun‐ dele/ Hundale). Im Alemannischen ist die Endung oft -li (z.-B. Platz - Plätzli). Im Schwäbischen werden die Diminutiv-Endungen -le (Singular) bzw. -la (Plural) gebraucht (z.-B. Haus - Heisle und Heisla). 3.23.17 Anthropomorphisierung, Personifizierung Es kann für das Herausarbeiten eines Idiolekts in einem Text eines anonymen Verfassers interessant sein, wenn auffällt, dass in einer Weise über Dinge berichtet wird, als wären sie Personen. Dieses Phänomen, also die sprachliche Vermenschlichung von Dingen, nennt man „Personifizierung“ bzw. Anthropomorphisierung. ■ Der Computer hat mir gesagt, dass ich die Kamera ausschalten soll. ■ Wenn das Glück winkt, muss man zugreifen. ■ Der Bericht untersucht die Folgen des Kolonialismus. ■ Der Vergleich hinkt. 3.23.18 Kontraktion, Schmelzwörter Es kann für die Authentizitätsfeststellung aufschlussreich sein, ob ein/ e Verfasser: in stark zu Kontraktionen (sog. „Synärese“ 83 ) und Schmelzwörtern neigt - oder gerade nicht, wenn er/ sie also zwei Wörter trotz der Möglichkeit des Zusammenziehens getrennt nennt bzw. schreibt, z. B. bzw. Ich mein’s nicht so! (bzw. fehlerhaft Ich meins nicht so! ) oder Ich meine es nicht so! , Das war am Dienstag. oder Das war an dem Dienstag, wobei zu beachten ist, dass die Entscheidung für und gegen Kontraktion, speziell bei Präpositionen und Artikeln, mit gewollter Betonung begründet sein kann (z. B. bei dem letzten Beispiel, wenn im Vergleich zu möglichen anderen Dienstagen betont werden soll, dass genau dieser Dienstag gemeint ist). Schmelzwörter in der geschriebenen Sprache sind z.B.: zum, zur, im, ins. Interessant für die Authentizitätsfeststellung ist eine in einem Text auffällige Verwendung von Schmelzwörtern, die normalerweise eher im Mündlichen und/ oder in Dialekten 3.23 Lexikalisches und Semantisches 233 <?page no="235"?> vorkommen wie ausm, inm, durchn, durchs, fürs, unterm, son (für so ein), hammer (für haben wir), willzte (für willst du), gemma (für gehen wir) usw. Besonders interessant ist dieses Phänomen für die Zwecke der Authentizitätsfeststellung und des Sprachprofilings, wenn bei Verfasser: innen mit zu vermutendem niedrigem Bildungsstand gravierende Normverstöße auffallen, weil eine für das Mündliche typische Kontraktion offensichtlich nicht verstanden wurde, wenn z. B. aus mit dem mit’m und dann *mippm oder mim wird (z.-B. in Er hat das mippm Hammer gemacht.). Weiterhin spielt das Register eine große Rolle. Verfasser: innen neigen in informellen Schreib-Situationen eher zu Zusammenziehungen von Wörtern und schreiben dann eher Das findich auch. Daher ist für die Authentizitätsfeststellung besonders interessant, wenn trotz eines for‐ mellen Schreibanlasses ein für dieses Register unübliches Zusammenziehen von Wörtern festzustellen ist. Wenn es viele Inzidenzen des Aufeinanderfolgens von Präposition und Artikel gibt, ist es interessant, ob der/ die Verfasser: in einen Apostroph setzt, z. B. vor’s oder vors. Dabei ist die Regel nicht wichtig (Sie lautet: Bei den „allgemein üblichen“ Verschmelzungen von Präposition und Artikel wird kein Apostroph gesetzt: ans, aufs, durchs, fürs, hinters, ins, übers, unters, vors, am, beim, hinterm, überm, unterm, vorm, hintern, übern, untern, vorn, zur). Es gibt viele Verfasser: innen (mich eingeschlossen), die zwar hinters (in einem Satz wie z. B. Sie hätten den Trecker lieber hinters Haus stellen sollen.) als ein Wort ohne Apostroph schreiben, hinter’n (in einem Satz wie z. B. Der Trecker wurde hinter’n Schuppen gefahren.) jedoch mit Apostroph. Solche Zusammenziehungen kommen - wie wir wissen - besonders im Mündlichen und in Social-Media-Beiträgen vor, die bekanntermaßen häufig mündlicher Sprache ähneln. Genauer betrachtet ist es oft so, dass sich ein Wort an ein anderes „anlehnt“. Man nennt eine solche Anlehnung auch Klise und unterscheidet zwischen Proklise (Anlehnung an das folgende Wort) und Enklise (Anlehnung an das vorangehende Wort). Die Morpheme heißen entsprechend Klitikon, Proklitikon und Enklitikon. Achtung: Bei den obigen Erläuterungen geht es um reguläre Kontraktionen und Schmelz‐ wörter; nicht um Verkürzungen oder gar Ellipsen (→ Kap. 3.7 und 3.20.5.5 „Es fehlt eine Kleinigkeit" als Teil von „Schwierigkeiten mit den Kleinigkeiten“). 3.23.19 Lexikalische Eindeutigkeit und Konsistenz Wenn ein/ e Verfasser: in ein bestimmtes Wort nicht wiederholt, sondern ein Synonym bzw. ein anderes Wort mit derselben (oder fast derselben) Bedeutung in dem gegebenen Kontext verwendet, z.-B. 234 3 Verfasser: innen und ihre Irrtümer, Strategien, Schwierigkeiten <?page no="236"?> ■ Erst kaufte er das Fahrzeug für viel Geld, und dann ließ er den Pkw einfach so unabgeschlossen herumstehen. ist zunächst wichtig, um was für eine Textsorte es sich handelt. Es kann sich - bei einem eher nicht streng sachlichen Text - um die Bemühung um abwechslungsreiche Ausdrucksweise handeln. Wenn dieses Phänomen zu einer eingeschränkten Verständlichkeit führt (z. B. wenn nicht ganz sicher ist, ob es sich um denselben Gegenstand handelt), ist das für die Au‐ thentizitätsfeststellung wegen unterlassener Verständlichkeitssicherung interessant. 3.23.20 Das Gleiche ist nicht dasselbe Ob jemand sagt ■ a. Wir treffen uns morgen Nachmittag wieder in demselben Café. oder ■ b. Wir treffen uns morgen Nachmittag wieder in dem gleichen Café. ist für die Verständlichkeit unerheblich. Die Personen werden sich in beiden Fällen nicht verpassen (Variante a. ist die korrekte). Für die Authentizitätsfeststellung hingegen ist es interessant, ob ein/ e Verfasser: in die Lexeme unterscheidet. ■ Das war in dem gleichen Jahr. Das war sicherlich in demselben Jahr. Sonst wäre die Rede von einem ähnlichen Jahr. ■ Wir möchten wieder denselben Wein, den wir letzte Woche hatten. Gemeint ist der gleiche Wein. Derselbe wäre bereits einmal getrunken worden und ist hoffentlich für immer weg. Dasselbe oder das gleiche dasselbe ist immer dann richtig, wenn man auch sagen könnte ein und dasselbe. Geschwister haben dieselben Eltern, aber evtl. das gleiche Handy (wenn jede/ r eins hat). Es kann rechtlich relevant sein, ob jemand, der mehrere Nächte in einem Hotel zu übernachten beabsichtigt, dasselbe oder das gleiche Zimmer bekommt. Wahrscheinlich möchte er nicht innerhalb des Hotels umziehen müssen und wünscht die Bestätigung, dass er für alle Nächte dasselbe Zimmer hat. Sehr wichtig ist die Unterscheidung und korrekte Wortwahl, wenn es in der Authentizi‐ tätsfeststellung um die häufig gestellte Frage geht, ob zwei (oder mehr) Texte von derselben Person verfasst wurden. Wenn hier jemand versehentlich (falsch) fragt, ob die Texte von der gleichen Person verfasst wurden, führt das sicher nicht zu einem Missverständnis, aber es zeigt, dass der-/ diejenige den (in diesem Gebiet wichtigen) Unterschied nicht kennt. 3.23 Lexikalisches und Semantisches 235 <?page no="238"?> 4 Genaue Kodierung Nach der am Anfang dieses Buches unter „erste Schritte“ vorgestellten Feststellung diverser Eigenschaften von zu untersuchenden Texten und einer einfachen Kodierung für die sprachlichen Phänomene, die bei einer ersten Durchsicht eines Textes auffallen, folgt hier das angekündigte genauere Kodierungssystem mit Zeichen und Farben für die ● Kommasetzung ● Syntax (Satzstruktur) - zweigeteilt: - Hypo-/ Parataxe (Über-/ Unter-/ Nebenordnung bei Haupt- und Nebensätzen) - die Satzteile und ihre Positionierung im Satz Diese Gebiete sind erfahrungsgemäß die in der forensischen Linguistik und speziell in der Authentizitätsfeststellung wichtigsten, weil sie die für das Herausarbeiten und Feststellen des Idiolekts eines Verfassers bzw. einer Verfasserin ergiebigsten sind. Die beiden Bereiche (Kommasetzung und Hypo-/ Parataxe) bedingen sich gegenseitig. Wer Kommata korrekt setzt, zeigt damit, dass er/ sie den Satzbau mit seinen hypo- und parataktischen Strukturen versteht, und wer die Über-/ Unterordnungs-Strukturen im Satz versteht, wird auch die Kommata korrekt setzen. Komma Das Komma (auch „Beistrich“ genannt) ist das (für die Verständlichkeit und die Authentizitätsfeststellung) wichtigste und schwierigste Satzzeichen. Es 1. trennt Sinneinheiten (über-, unter- und nebengeordnete; Haupt- und Nebensätze), 2. trennt eingeschobene, vorangestellte oder nachgestellte Wörter oder Wortgrup‐ pen (Appositionen) vom restlichen Satz, 3. gliedert die Teile einer Aufzählung, wo diese nicht durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, 4. trennt Dezimalzahlen (z. B. bei Preisen, z. B. 13,90 €; in dem Fall heißt es aber nicht „Satzzeichen“). Wie hilfreich Satzzeichen und speziell Kommata sein können, zeigt dieses Beispiel zur Kommaverwendung des obigen Typs b.: ■ Tim verhalf die Waffe noch in der Hand seiner Frau zur Flucht. Dieser Satz ist (ohne Kommata) sehr schwer verständlich. Setzen Sie ein Komma vor die und nach Hand, und Sie erkennen, dass Tim die Waffe selbst (in seiner eigenen Hand) hatte, und dann ist der restliche Satz verständlich. Die Behandlung des Themas Kommasetzung erwartet manche/ r Leser: in evtl. eher in einem Kapitel über Interpunktion. In diesem Buch wird es jedoch hier erörtert, denn wer die Unterteilung eines Satzes in seine Teile versteht, kann auch Kommata (oder Kommas) richtig setzen - und umgekehrt. Folglich geht es bei Beobachtungen zur Kommasetzung <?page no="239"?> automatisch auch um Fragen danach, ob ein/ e Textverfasser: in die Satzteile bzw. die Elemente der Sätze versteht, die er/ sie produziert. Zum Thema „Satzbau“ gehören auch Ausführungen über Satzlänge, Anzahl von Wörtern und Buchstaben usw. Dieses Thema wird jedoch nicht hier, sondern in den Erörterungen zur Typografie (Textstruktur, -gestalt(ung), -konstitution usw. behandelt (→ Kap. 1.8.1 und 8.2). Der Vorteil der Bezeichnung „Nebensatz“ liegt im Thema der Komma-Regeln, da die Regel lautet: Ein Nebensatz muss mit Kommata abgetrennt werden. Der Nachteil ist, wie es oben bereits in anderer Weise ausgeführt wurde, dass man leicht denkt, alle Nebensätze wären gleicher (unwichtiger) Art, was nicht stimmt. Manche Nebensatz-Arten sind wichtige Satzteile, andere weniger wichtig bzw. unwichtig. Bei der Einteilung der „Nebensätze“ gibt es die Schwierigkeit, dass man zwei Arten von Unterteilung vornehmen kann: 1. nach Funktion (z.-B. Adverbialsatz, Objektsatz) und 2. nach Erscheinungsbild (z.-B. „Dass“-Satz, Infinitiv-Satz). Für die Zwecke dieses Buches und vor allem zur Erleichterung des Verständnisses für die Nicht-Linguisten ist wichtig, dass 1. die Liste (der Nebensatzarten) überschaubar bleibt, also nicht zu lang wird, 2. einfach erkennbare Signalwörter vorkommen, die viele bereits im (evtl. sehr lange zurückliegenden) Deutschunterricht kennengelernt haben (z.-B. „dass“). Daher wähle ich zwar grundsätzlich die Unterteilung nach Funktion, da dies für die Zwecke der Authentizitätsfeststellung sinnvoll ist; ich benenne jedoch zwei Arten von Nebensätzen („Dass“-Satz und Infinitiv-Satz) außerdem nach ihrer Erscheinung. Vielen Menschen, speziell denjenigen, die sich nicht intensiv mit Grammatik befassen, ist der Unterschied zwischen „Satzteilen“ und „Wortarten“ nicht ganz klar, und sie können ähnliche Bezeichnungen nicht leicht auseinanderhalten (z. B. Subjekt und Substantiv, Adverbial und Adverb; die „Wortpaare“, die sich sehr ähneln und folglich leicht verwechselt werden können). Der Zweck und Sinn dieses Buches ist ja, eine Hilfe zu sein für die Anwendung der qualitativen Verfahren der forensischen Linguistik zum Identifizieren eines Idiolekts (in einem Text eines anonymen Verfassers oder einer anonymen Verfasserin). Dafür wird ein ausgereiftes Kodierungssystem gebraucht, welches die Grammatik der deutschen Sprache in einer für die Zwecke der forensischen Linguistik sinnvollen Weise vereinfacht. Die oben erläuterten Bereiche für die genaue Kodierung (Komma, Hypotaxe und Satzteile) sind die drei großen wichtigen Bereiche. Selbstverständlich gibt es außerdem andere Text‐ eigenschaften, die zu beachten sind, z. B. ob die Verben eines Textes vorwiegend im Genus Verbi Aktiv oder Passiv stehen, ob bestimmte Modalverben auffällig häufig vorkommen usw. Auch für diese und andere Auffälligkeiten enthält dieses Buch Kodierungs-Vorschläge. 238 4 Genaue Kodierung <?page no="240"?> 4.1 Komma-Kodierung Es gibt Gutachten, die Angaben enthalten wie Der inkriminierte Text weist mehr Komma‐ fehler auf als der Vergleichstext. Fälle, in denen eine solch allgemeine Aussage genügt, sind selten. Es drängen sich Fragen auf wie „Welcher Art sind die Kommafehler? “, „Ist es so, dass Kommata fehlen oder überflüssig sind? “ und „Welcher Art sind die überflüssigen/ fehlenden Kommata? “, „Welcher Art sind die ‚Kommafehler-Unterschiede‘ bei den beiden vergliche‐ nen Texten? “, „Handelt es sich evtl. bei den Kommafehlern in dem einen Text vorrangig um fehlende und bei dem anderen Text vorrangig um überflüssige Kommata? “ (→ Kap. 8.5 zu Kommata und Kap. 2.2.2 zur Komma-Kodierung). Wenn die Untersuchung der Kommasetzung ernsthaft betrieben werden soll, ist zumindest eine - wie in Kapitel 2.2.2dargestellte - einfache Kodierung der fehlenden und überflüssigen Kommata notwendig (dafür wurden - zur Erinnerung - die Kodierungszeichen [[,]], [[KommaFehlt]], [[KommaÜberfl]] empfohlen). Außerdem ist folgende Kodierung mit diesen Komma-Abkürzungen sinnvoll Kf Komma fehlend Kv Komma vorhanden Kvü Komma vorhanden überflüssig Kvk Komma vorhanden korrekt KS Komma Sonderfall v vorne (z.-B. Kf2v) h hinten (z.-B. Kvüh) Wichtig ist für die genaue Kodierung in vielen Fällen auch, dass für normverstoßende (fehlende oder überflüssige) Kommata außerdem Zeichen verwendet werden, denen man ansehen kann, ob das Komma VOR oder NACH einem Nebensatz fehlt (bzw. überflüssiger‐ weise steht) - zusätzlich zu dem ebenfalls häufig vorkommenden Fall, dass beide Kommata fehlen. In dem von mir vorgeschlagenen Kodierungssystem wird die Unterscheidung getroffen, ob das Zeichen drei eckige öffnende Klammern und eine schließende Klammer hat oder umgekehrt (eine eckige öffnende Klammer und drei schließende Klammern); daher [[[,] und [,]]]. Wenn nicht nur angegeben werden soll, wo im Text sich fehlende, überflüssige und korrekt vorhandene Kommata befinden, sondern wenn auch die genaue Art des jeweiligen Kommas gezeigt werden soll, bietet sich die im Folgenden vorgestellte Farbkodierung an, bei der trotz der Komplexität leicht an der Farbe (bzw. der Kombination aus Hintergrund und Schriftfarbe) zu erkennen ist, ob es sich bei den Komma-Normabweichungen um fehlende (Hintergrund grau oder Hintergrund pink) oder überflüssige (Türkis, Grün) oder korrekt gesetzte Kommata (Gelb mit Hellgrün) handelt. Anders ausgedrückt: Alle Kodierungen für vorhandene korrekte Kommata haben, damit sie auf den ersten Blick gut erkannt werden können, einen („erfreulichen“) gelben Hintergrund. Die Kodierung für ein fehlendes Komma ist ein ins Auge fallender pink-farbiger oder („trauriger“) grauer Hintergrund. 4.1 Komma-Kodierung 239 <?page no="241"?> Kommata (und andere Interpunktionszeichen), fehlend, überflüssig, ungewöhnlich Kf Fehlendes Komma Kf1v vor Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [[[,] Kf1n nach Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [,]]] Kf2v vor Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [[[,] Kf2n nach Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [,]]] Kf3v vor Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [[[,] Kf3n nach Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [,]]] Kf4v vor Relativsatz [[[,] Kf4n nach Relativsatz [,]]] Kf5v vor anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [[[,] Kf5n nach anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [,]]] Kf6 vor/ nach anderem Grund für das Komma (z.-B. Aufzählung) [[[,]]] Kv Vorhandenes Komma Kvü Überflüssiges bzw. falsches vorhandenes Komma Kvü1 statt Punkt [,] Kvü2 statt Doppelpunkt [,] Kvü3v weil der/ die Verfasser: in eine vermeintliche Apposition mit Kom‐ mata abtrennen möchte: davor [[[,] Kvü3n weil der/ die Verfasser: in eine vermeintliche Apposition mit Kom‐ mata abtrennen möchte: danach [,]]] Kvü4 kein Grund für ein Komma, z.-B. vor einer Adverbialphrase (z.-B. Präpositionalphrase am Anfang des Satzes) [.,.] Kvk Korrektes vorhandenes Komma Kvk1v vor Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [[[,] Kvk1n nach Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [,]]] Kvk2v vor Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [[[,] Kvk2n nach Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [,]]] Kvk3v vor Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [[[,] Kvk3n nach Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [,]]] Kvk4v vor Relativsatz [[[,] 240 4 Genaue Kodierung <?page no="242"?> Kvk4n nach Relativsatz [,]]] Kvk5v vor anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [[[,] Kvk5n nach anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [,]]] Kvk6v vor anderem Grund für das Komma, z.-B. Aufzählung [[[,]]] bzw. [[[,] Kvk6n nach anderem Grund für das Komma, z.-B. Aufzählung [[[,]]] bzw. [,]]] KS Sonderfälle: Kommata (und andere Interpunktionszeichen) KS1 Sonderfall: Komma-Ersatz durch Gedanken-Punkte oder Gedan‐ kenstrich(e) […/ -] KS2 Sonderfall: optionales Komma (z.-B. vor und, aber oder oder mit folgendem Hauptsatz) [[KommaOpt]] KS3 Sonderfall: vorhandenes, jedoch falsches oder ungewöhnliches In‐ terpunktionszeichen (z.-B. Komma statt Semikolon) ||| ||| KS4 Sonderfall: fehlendes anderes typografisches Zeichen wie Punkt, Semikolon, Doppelpunkt, Fragezeichen oder Gedankenstriche für Einschub („Parenthese“) [[.]] Tab. 41: Genaue Kommakodierung (ohne Beispielsätze) mit Beispielsätzen: Kommata (und andere Interpunktionszeichen), fehlend, überflüssig, ungewöhnlich Kf Fehlendes Komma Zur Erinnerung: Bei der weiter oben in diesem Buch eingeführten simplen Kodie‐ rung war das Zeichen für das fehlende Komma so: [[KommaFehlt]]. Nun werden die zahlreichen unterschiedlichen Arten des fehlenden Kommas mit jeweils separater Kodierung aufgeschlüsselt. Kf1 Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [[[,] [,]]] - Ich hoffe [[[,] dass Du alle 4 Seiten erhalten hast [,]]] damit wir morgen darüber sprechen können. Kf1v vor Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [[[,] - (Objekt-Satz eingebettet) Ich hoffe [[[,] dass Du alle 4 Seiten erhalten hast. (Objekt-Satz am Ende) Ich bin mir (dessen) sicher [[[,] dass er das nicht schafft. (Inhaltssatz nach implizitem Korrelat) Er wartet schon mehrere Wochen (darauf) [[[,] dass seine Anfrage bearbeitet wird. (Objekt-Satz Typ Präpositionalobjekt mit implizitem Korrelat) Ihn beeindruckt (es) sehr [[[,] dass sie so gut tanzen kann. (Subjekt-Satz mit Korrelat „es“) Es hatte ihn immer gestört [[[,] dass sie freitags mit ihren Freundinnen wegging. (Subjekt-Satz mit Korrelat „es“) 4.1 Komma-Kodierung 241 <?page no="243"?> Kf1n nach Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [,]]] - Dass dieser unlogische Einwand kommen würde [,]]] haben alle geahnt. Dass sie das Kindergeld für Alkohol und Fluppen und Drogen ausgeben würden [,]]] war klar. Kf2 Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [[[,] und [,]]] - Er grinste so blöd [[[,] wie ich es noch nie gesehen hatte. [,]]] und ging dann weiter. Kf2v vor Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [[[,] - Mach es bitte so [[[,] wie wir es bei der letzten Sitzung vereinbart haben. (Adverbial-Satz modal-komparativ). Sag mir [[[,] warum Du Tim dein Auto nicht geliehen hast. (Objekt-Satz) Er wusste schon lange [[[,] welchen Wagen er kaufen wollte. (Objekt-Satz) Du kannst das leicht herausfinden [[[,] indem du die Adresse in blockchain.com eingibst. (Adverbial-Satz modal) Kf2n nach Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [,]]] - Weil es bei dem Wetter nicht so schnell ging [,]]] brauchten wir mehr Leute. (Adverbial-Satz kausal) Kf3 Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“[[[,] und [,]]] Kf3 Er hatte vor [[[,] ein paar Tage dort zu bleiben [,]]] und hat deshalb den größeren Koffer genommen. Kf3v vor Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [[[,] - Er versucht [[[,] die Maschine zu reparieren. Kf3n nach Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [,]]] - Sauerkraut mit Rosinen zum Kasseler zu essen [,]]] liebten sie. Kf4 Nebensatz Typ Relativsatz [[[,] und [,]]] - Die Zeugin [[[,] die vorhin noch hier war [,]]] ist jetzt weg. Kf4v vor Relativsatz [[[,] - Die Polizei sucht den Mann [[[,] der den Unfall gesehen hat. Kf4n nach Relativsatz [,]]] - Der Passant, der den Unfall gesehen hat [,]]] hat sich gemeldet. Kf5 Nebensatz Typ andere Art von Nebensatz (einschl. Apposition) [[[,] und [,]]] - David Mack [[[,] unser Prokurist [,]]] kümmert sich darum. Kf5v vor anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [[[,] - Das ist David Mack [[[,] unser Prokurist. 242 4 Genaue Kodierung <?page no="244"?> Kf5n nach anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [,]]] - David Mack, unser Prokurist [,]]] kümmert sich um diese Sache. Kf6 vor/ nach anderem Grund für das Komma, z.-B. Aufzählung [[[,]]] - Tim [[[,]]] Jana und Lena haben zugesagt. (drei Subjekte) Wir müssen noch Tim [[[,]]] Lena [[[,]]] Jan und Lisa anrufen. Tim isst Fleisch [[[,]]] Kartoffeln und Bohnen. (drei Objekte) Tim geht dienstags [[[,]]] mittwochs und freitags ins Fitnessstudio. (drei Adverbiale [hier in Form von Adverbien]) Wir vertreiben herrlich duftende [[[,]]] reine Badeöle. (zwei Attribute zum Objekt) Kv Vorhandenes Komma Kvü Überflüssiges bzw. falsches vorhandenes Komma Kvü1 statt Punkt [,] - Es soll in der Vergangenheit jemand verstorben sein [,] Herrn Siebert wird fahrläs‐ sige Tötung vorgeworfen. Kvü2 statt Doppelpunkt [,] - Viele Dinge sind beängstigend [,] das eigenartige Wegbleiben von Leon, das komische Kichern von Sven und dieses Grinsen von Janas Bruder, das nichts gutes verheißt. Kvü3v weil der/ die Verfasser: in eine vermeintliche Apposition mit Kom‐ mata abtrennen möchte: davor [[[,] - Es ist jetzt [[[,] zum Glück, nur noch die eine Schramme da. Kvü3n weil der/ die Verfasser: in eine vermeintliche Apposition mit Kom‐ mata abtrennen möchte: danach [,]]] - Es ist jetzt, zum Glück [,]]]nur noch die eine Schramme da. Kvü3 Es wäre nur ein Saal in Betrieb [[[,] beim Landgericht [,]]] sagte er. Kvü4 kein Grund für ein Komma, z.-B. vor einer Adverbialphrase (z.-B. Präpositionalphrase am Anfang des Satzes) [[Komma Überfl]] - Wegen den falschen Verdächtigungen [[KommaÜberfl]] muss er nun endlich die Wahrheit sagen. Kvk vorhandenes korrektes Komma Kvk1v vor Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [[[,] - Ich hoffe [[[,] dass Du alle 4 Seiten erhalten hast. (Objekt-Satz am Ende) Ich bin mir (dessen) sicher [[[,] dass er das nicht schafft. (Inhaltssatz nach implizitem Korrelat) Er wartet schon mehrere Wochen (darauf) [[[,] daass seine Anfrage bearbeitet wird. (Objekt-Satz Typ Präpositionalobjekt mit implizitem Korrelat) Ihn beeindruckt (es) sehr [[[,] dass sie so gut tanzen kann. (Subjekt-Satz mit Korrelat „es“) Es hatte ihn immer gestört [[[,] dass sie freitags mit ihren Freundinnen wegging. 4.1 Komma-Kodierung 243 <?page no="245"?> (Subjekt-Satz mit Korrelat „es“) Kvk1n nach Nebensatz Typ Inhaltssatz mit „dass“ [,]]] - Dass dieser unlogische Einwand kommen würde [,]]] haben alle geahnt. Dass sie das Kindergeld für Alkohol und Fluppen und Drogen ausgeben würden [,]]] war klar. - Ich hoffe [,]]] dass Du alle 4 Seiten erhalten hast [,]]] damit wir morgen darüber sprechen können. (Objekt-Satz eingebettet) Kvk2v vor Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [[[,] - Mach es bitte so [[[,] wie wir es bei der letzten Sitzung vereinbart haben. (Adverbial-Satz modal-komparativ). Sag mir [[[,] warum Du Tim dein Auto nicht geliehen hast. (Objekt-Satz) Er wusste schon lange [[[,] welchen Wagen er kaufen wollte. (Objekt-Satz) Du kannst das leicht herausfinden [[[,] indem du die Adresse in blockchain.com eingibst. (Adverbial-Satz modal) Kvk2n nach Nebensatz Typ Adverbialsatz, Satzteilsatz (Subjekt oder Objekt) und Inhaltssatz ohne „dass“ [,]]] - Weil es bei dem Wetter nicht so schnell ging [,]]] brauchten wir mehr Leute. (Adverbial-Satz kausal) Kvk3v vor Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [[[,] - Er versucht [[[,] die Maschine zu reparieren. Kvk3n nach Nebensatz Typ „erweiterter Infinitiv“ [,]]] - Sauerkraut mit Rosinen zum Kasseler zu essen [,]]] liebten sie. Kvk4v vor Relativsatz [[[,] - Die Polizei sucht den Mann [[[,] der den Unfall gesehen hat. Kvk4n nach Relativsatz [,]]] - Er hat die Papiere [[[,] die unseren 50-Prozent-Anteil sichern [,]]] endlich unter‐ schrieben . Der Passant [[[,] der den Unfall gesehen hat [,]]] hat sich gemeldet. Kvk5v vor anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [[[,] - David Mack [[[,] unser Prokurist [,]]] kümmert sich dann um diese Sache. Kvk5n nach anderem Nebensatz (einschl. Apposition) [,]]] - David Mack [[[,] unser Prokurist [,]]] kümmert sich dann um diese Sache. Kvk6v/ n vor/ nach anderem Grund für das Komma, z.-B. Aufzählung [[[,]]] bzw. [[[,] - Tim [[[,]]] Jana und Lena haben zugesagt. (drei Subjekte) 244 4 Genaue Kodierung <?page no="246"?> Tim isst Fleisch [[[,]]] Kartoffeln und Bohnen. (drei Objekte) Wir müssen noch Tim [[[,]]] Lena [[[,]]] Jan und Lisa anrufen. (vier Objekte) Tim geht dienstags [[[,]]] mittwochs und freitags ins Fitnessstudio. (drei Adverbien) Tim isst gern zartes [[[,]]] gut abgehangenes Fleisch. (zwei Attribute zum Objekt) KS Sonderfälle: Kommata (und andere Interpunktionszeichen) KS1 Sonderfall: Komma-Ersatz durch Gedanken-Punkte oder Gedan‐ kenstrich(e) […/ -] - Von Herrn Sorge war ja doch der Schein da […/ -] hatte ich Dir ja geschickt […/ -] und der ist ja, wie ich […/ -] u.-a. von Imke und Iris […/ -] höre […/ -] sowieso ein ganz besonderer Fall. KS2 Sonderfall: optionales Komma (z.-B. vor und, aber oder oder mit folgendem Hauptsatz) [[KommaOpt]] - In den vorliegenden Mietverträgen bin ich Mieter [[KommaOpt]] und Vermieter ist das Studentenwerk Oberfranken als Anstalt des öffentlichen Rechts. KS3 Sonderfall: vorhandenes, jedoch falsches oder ungewöhnliches In‐ terpunktionszeichen (z.-B. Punkt statt Komma, Fragezeichen nach Nicht-Frage, Komma statt Semikolon) ||| ||| - Die Politiker machen ihre Arbeit nicht ||| ||| Aber deshalb müssen nicht gleich Bomben gelegt werden. Ich will wissen warum ||| ||| KS4 Sonderfall: fehlendes anderes typografisches Zeichen wie Punkt, Semikolon, Doppelpunkt, Fragezeichen oder Gedankenstriche für Einschub („Parenthese“) [[.]] - Wir brauchen noch [[.]] Holz, Säge, Hammer, Nägel. Tab. 42: Genaue Kommakodierung (mit Beispielsätzen) Bei der Authentizitätsfeststellung wird oft vergessen, auch die korrekten Kommata zu beachten. Auch sie sind für die Authentizitätsfeststellung interessant, und zwar das Komma zwischen Hauptsätzen und vor und nach Nebensätzen, und dort wiederum vor und nach dem Nebensatz-Typ Dass-Satz (und verwirrenderweise gibt es ja auch „Dass-Sätze“ ohne „dass“). So können zu vergleichende Texte aussehen, die mit der Komma-Kodierung versehen sind: 4.1 Komma-Kodierung 245 <?page no="247"?> Abb. 9: Textbeispiel: Kommakodierung 4.2 Hypotaxe und die „Thormann’schen Treppenstufen“ Für eine grafische Darstellung der Ergebnisse quantitativer Untersuchungsverfahren, die für die Leser: innen ansprechend und leicht verständlich sind, bietet die deskriptive Statistik viele Möglichkeiten. Es gibt Mosaikplots und Kreuztabellen bzw. Kontingenztafeln und viele verschiedene Diagramme (u. a. Achsen-, Spalten-, Balken-/ Säulen-, Kreis-/ Torten-, Flächen-, Ring-/ Doughnut-, Linien-, Bereichs-, Streu-/ Radar-Punkte, Fluss-, Blasen-, Netz-/ Spinnen-Diagramme). 246 4 Genaue Kodierung <?page no="248"?> 84 Zu der Bezeichnung „Thormann’sche Treppenstufen“ kam es, nachdem mehrere Gerichte Gutachten mit dieser Hypotaxe-Darstellung gesehen und für sehr sinnvoll erachtet hatten und ein Richter diese Bezeichnung zu verwenden begann. Abb. 10: Verschiedene Charts Damit auch die Ergebnisse qualitativer Verfahren, und zwar speziell die zur Hypotaxe im Satzbau, angenehmer und leichter zu verstehen sind, stelle ich das „Auf “ und „Ab“ bei der Hypotaxe so dar, dass es aussieht wie Treppenstufen 84 . Hier ein Beispiel mit auf 5 Sätze verkürzten Texten, das zeigt, wie der Vergleich von drei Texten (einem inkriminierten und zwei Vergleichstexten) aussehen kann: 4.2 Hypotaxe und die „Thormann’schen Treppenstufen“ 247 <?page no="249"?> Abb. 11: Beispiel Hypotaxe Treppenstufen Derart kurze Texte wären für eine belastbare Untersuchung in der Praxis viel zu kurz. Von Anfang an: Die kürzeste Variante eines vollständigen Satzes ist eine einzige Treppenstufe: 1 Ebene, 1 Treppenstufe Ein entsprechender Satz kann sehr unterschiedlich lang sein. Es ist immer ein Hauptsatz: ■ Tim lügt. ■ Wir haben alles aufgeschrieben. 248 4 Genaue Kodierung <?page no="250"?> ■ Für die von dem dem neuen Anwalt nicht bekannten Subunternehmer in Auftrag gegebenen Prüfgeräte ist die Messgenauigkeit nachzuweisen. ■ Der von dem in dem Bezirk eingesetzten Polizisten als Chevrolet identifizierte und offensichtlich im Ausland gekaufte und an dem Unfall beteiligte rote Wagen verließ nach sofort protokollierter Aussage aller trotz ihres Schocks noch vernehmungsfähigen Zeugen den wegen ausgelaufenen Benzins weiterhin gefährlichen Unfallort. Die Anzahl der Treppenstufen hat, wie man sieht, nichts mit der Länge es Satzes zu tun. Der kürzeste Satz der obigen Beispiele hat 2 Wörter, der längste 42. Hier ein Beispiel für zwei Treppenstufen, und zwar „abwärts“: 2 Ebenen, 2 Treppenstufen (abwärts) Ein entsprechender Satz kann so lauten (also erst ein Hauptsatz, dann ein Nebensatz): ■ Ich bin dafür, dass er Kassenwart wird. ■ Wir bringen Ihre Tochter sofort um, wenn Sie die Polizei einschalten. ■ Ihr wisst von der Konteneinsicht genau, welche Abbuchungen es dort gegeben hat und dass ich in keinem Monat mehr als zweitausend Euro abgehoben habe. Ein weiteres Beispiel für zwei Treppenstufen; jetzt „aufwärts“: 2 Ebenen, 2 Treppenstufen (aufwärts) Ein entsprechender Satz kann so lauten (also erst ein Nebensatz, dann ein Hauptsatz): ■ Wenn Sie die Polizei einschalten, machen wir sofort Ernst. ■ Nachdem er die Nachrichten gehört hatte, traf er sich mit Ali. ■ Um nicht aufzufallen, trug er immer einen recht anständigen Anzug mit Krawatte. 1 Ebene, 2 Stufen nebeneinander (Parataxe) Ein entsprechender Satz kann so lauten (also zwei Hauptsätze): ■ Ich habe ihn mit dem Messer bedroht, aber er machte einfach weiter. ■ Zuerst habe ich ihr immer geschrieben [[KommaOpt]] und dann habe ich sie besucht. ■ Die Szene war vor der Tat mindestens drei Jahre lang erkundet worden [[KommaOpt]] und die Täter hatten Testkäufe gemacht. 4.2 Hypotaxe und die „Thormann’schen Treppenstufen“ 249 <?page no="251"?> 2 Ebenen, 3 Stufen (runter und wieder rauf) Ein entsprechender Satz kann so lauten (also ein Hauptsatz, der einen eingebetteten Nebensatz enthält): ■ Das alte Haus, das neulich ausgebrannt ist, wird abgerissen ■ Ihr Plan, in der Nacht über die Elbe zu schwimmen, ist schiefgegangen. ■ Die Hoffnung, ihn bald wiederzusehen, gab ihr Kraft. 3 Ebenen, 3 Treppenstufen (abwärts) Ein entsprechender Satz kann so lauten (also ein Hauptsatz, dann ein Nebensatz, und dann noch ein Nebensatz, der von dem davor [Matrixsatz] abhängt): ■ Ich hoffe, dass Sie einsehen, dass das so nicht geht. ■ Der Polizist verfolgte den Mann, der den Unfall gesehen hat, bei dem ein Kind verletzt worden ist. ■ Ich muss dich auf diese Weise kontaktieren, weil ich mich von einer Sache befreien möchte, die mich belastet. 3 Ebenen, 3 Stufen (erst runter, dann steil rauf) Ein entsprechender Satz kann so lauten (also zunächst ein Nebensatz, dann ein davon abhängender weiterer Nebensatz, dann ein Hauptsatz): ■ Wenn du glaubst, dass wir das nicht merken, hast du dich geschnitten. ■ Ob er gelesen hat, dass sie gestorben ist, weiß ich nicht. ■ Kommt der Verdacht auf, dass es Probleme bei der Geheimhaltung gibt, müssen Personalfragen gestellt werden. 250 4 Genaue Kodierung <?page no="252"?> Etwas komplexer (runter, runter, runter; hier 6 Ebenen): ■ Ich bin davon überzeugt, dass es wenige Kollegen gibt, die diese schwierige Situation so gut durchgestanden hätten und dazu den Spagat hinbekommen hätten, das Quartalsergebnis zu verbessern, was eine große Herausforderung war, die uns von der Geschäftsleitung auferlegt wurde. Ein weiteres Beispiel mit diesem Muster (Treppenstufen abwärts; wie im obigen Beispiel), aber nicht 6, sondern 9 Ebenen bzw. Stufen: ■ Hier geht es darum, die Zukunft in die Gegenwart zu „zoomen“ und zu prüfen, was es zu tun gilt, um festzustellen, ob der letzte Misserfolg so gewirkt hat, dass Sie nun motiviert und bereit sind, die Zeit und Mühe zu investieren, die nötig sind, damit die nächsten Schritte erfolgreich sind. Nun 4 Ebenen, komplexe Treppenstufen (runter, runter, runter, dann rauf, rauf, rauf) ■ Dein Bruder, der unserem Freund Kevin, der die Bewerbungsfrist, die bis zum Ende des Monats lief, nicht eingehalten hatte, nichts gesagt hat, hat das Ganze jetzt geleugnet. 3 Ebenen, sehr komplexe Treppenstufen ■ Der von dem Polizisten, der in dem Bezirk eingesetzt war, als Chevrolet identifizierte rote Wagen, der offensichtlich im Ausland gekauft worden und an dem Unfall beteiligt war, verließ nach Aussage aller Zeugen, die noch vernehmungsfähig waren, obwohl sie einen Schock erlitten hatten, und deren Aussage sofort protokolliert wurde, den Unfallort, der weiterhin gefährlich war. 4.2 Hypotaxe und die „Thormann’schen Treppenstufen“ 251 <?page no="253"?> 4.3 Satzteil-Kodierung In diesem Buch verwende ich die Bezeichnung Satzteil (und zwar maskulin; DER Satzteil) für das, was in vielen anderen Theorien bzw. Nomenklaturen auch „Satzglied“ (auch „Satzelement“, „Satzbestandteil“ oder „Satzkonstituent“) genannt wird. Zunächst zur Erinnerung der Überblick über die (für die Zwecke dieses Buches - etwas vereinfacht - auf FÜNF reduzierten) „wichtigen“ Satzteile: 1. Subjekt („S“; simpel oder Subjektsatz, z. B. simpel Tim schläft. oder etwas länger z. B. Eine derartige Arroganz und Intoleranz gegenüber den Mitarbeitern hat es hier früher nicht gegeben. oder in Form eines Subjektsatzes, z.-B. Wer nicht fragt, bleibt dumm.) 2. Prädikat („P“; einteilig oder mehrteilig [dann typischerweise als Klammer], z. B. Tim wartet., Tim hat eine Stunde am Bahnhof gewartet.) 3. Adverbial („A“; Adverb, Adverbialphrase oder Adverbialsatz, z. B. Ich helfe Dir gerne., Damals vor der Wende war alles anders., Wir bauen nicht weiter, wenn es regnet.) 4. Objekt („O“; simpel oder Objektsatz, z. B. Ich habe mir die Nummer gemerkt., Dass der Zeuge am Montag dort gewesen sein will, hat der Richter nicht geglaubt.) 5. Prädikativ („Pk“; simpel als ein Wort oder komplex, z. B. Tim ist Lehrer., Tim ist müde., Tim ist ein sehr geschätztes Mitglied unseres Clubs.) Außerdem gibt es das Attribut („At“) als ● Einzelwort (Der neue Rasenmäher mäht gut.) ● Präpositionalphrase (Die Frau mit dem Audi hat gehupt.) ● Attribut-Nebensatz (Relativsatz oder Inhaltssatz [Dass-Satz, simpel und komplex, Infi‐ nitivsatz]), Das Budget, das Sie uns zugewiesen haben, reicht nicht., Seine Behauptung, dass er alles bezahlt hätte, ist falsch., Der Rauswurf führte zu der Vermutung, dass damit gezeigt werden soll, dass es jeden treffen kann, der nicht linientreu ist., Das Risiko, erwischt zu werden, war sehr groß.) Diese Einteilung und Kodierung, die ich hier zur Verdeutlichung verwende, empfehle ich auch für Textuntersuchungen und Gutachten. Es gibt - ebenfalls für die Zwecke dieses Buches etwas vereinfacht - die folgenden zehn Wortarten: 1. Substantiv (auch Nomen, z.-B. Haus, Schnee, Idiot, Telefon, Liebe) 2. Verb (sehen, lesen, kaufen, schicken, lernen, fahren, schlafen, einladen, …) 3. Artikel (der, die, das, dem, des, ein, eine, einem, einen, …) 252 4 Genaue Kodierung <?page no="254"?> 4. Pronomen (ich, sie, Sie, ihr, mein, sein, dieser, jener, alle, einige, manche, etwas, wer, was, sich, kein, nichts, …) 5. Adjektiv (gut, klein, teuer, müde, …) 6. Adverb (die auf Englisch auf -ly enden; gern, schnell, leider, hier, …) 7. Präposition (in, an, mit, gegen, wegen, über, nach, …) 8. Konjunktion (auch Junktor; weil, wenn, ob, dass, aber, …) 9. Partikel (ja, doch, aber, hat, nicht, nur, ziemlich, so, sehr, …) 10. Interjektion (tja, okay, schnipp, ach, hallo, huschhusch, meine Damen und Herren, Alter, ach Gottchen, Mann-oh-Mann, …) Es ist auch wichtig zu wissen, mit welchen Wortarten die jeweiligen Satzteile „realisiert“ werden; das ist jedoch relativ komplex. Nur beim Prädikat ist es einfach: Das wird von einem Verb realisiert. Oder andersherum: Die Wortart Verb realisiert die Satzteilart Prädikat. Ausführungen zu den anderen Realisierungsvarianten führen hier zu weit. Exkurs: Satzbaupläne Zur Untersuchung und Beschreibung des Satzbaus (Syntax) gehören zwei Aspekte, die getrennt betrachtet werden sollten: ● Das Vorhandensein und die Abfolge bzw. Position der Satzteile ● Die Konstruktion des Gesamtsatzes mit besonderem Augenmerk auf Hypotaxe bzw. Parataxe, also die Abfolge von Haupt und Nebensätzen („Treppenstufen“ →-Kap. 4.2), die bereits behandelt wurde. Anzahl von Satzteilen Wie viele und welche Satzteile in einem Satz vorhanden sind, hängt primär von dem vom Verfasser gewählten Prädikat (Verb des Hauptsatzes) ab, denn das Verb „regiert“ den Satz. Manche Verben (die intransitiven) benötigen nur ein Subjekt und kein Objekt (Tim schläft.), andere (die transitiven) verlangen ein Objekt (Tim kennt Jan.) oder zwei Objekte (Der Ober bringt dem Gast die Suppe.) oder drei (selten), andere Verben sind reflexiv (Er freut sich.). Manche Verben können ein Objekt bei sich haben oder auch nicht (Er bezahlt die Rechnung., Er bezahlt.). Die wichtigsten Satzbaupläne des Deutschen, also die am häufigsten vorkommenden Satzkonstruktionen sind: - Satzteile kurz Satzteile Satzbeispiel 1. S-P Subjekt + Prädikat Kai schläft. Jan wartet. 2. S-P-A Subjekt + Prädikat + Adverbial Tim wartet am Bahnhof. 3. S-P-O A Subjekt + Prädikat + Objekt (Akkus.) Tim isst Erdbeereis. Er hört Musik. 4.3 Satzteil-Kodierung 253 <?page no="255"?> Satzteile kurz Satzteile Satzbeispiel 4. S-P-O D Subjekt + Prädikat + Objekt (Dativ) Tim hilft dem Kind. Er antwortet dem Polizisten. 5. S-P-A-A Subjekt + Prädikat + Adverbial + Adverbial Tim isst montags in der Pizzeria Roma. Die Schmidts wohnen in Genf, seit sie die große Erbschaft gemacht haben. 6. S-P-A- A-A-A -A-A Subjekt + Prädikat + 6 x Ad‐ verbial Sie essen, wenn sie Zeit haben, sonn‐ tags immer mit ihren Kindern in der Pizzeria Roma, weil dort ihr Cousin arbeitet. 7. S-P-Pk S Subjekt + Prädikat + Prädika‐ tiv (zum Subjekt) Tim ist Krankenpfleger. 8. S-P-O A -A Subiekt + Prädikat + Objekt (Akkus.) + Adverbial Tim hängt den Mantel in den Schrank. 9. S-P-O D -O A Subjekt + Prädikat + Objekt (Dativ) + Objekt (Akkus.) Der Ober bringt dem Gast die Suppe 10. S-P-O P Subjekt + Prädikat + Objekt (Präp.) Tim wartet auf den Bus. 11. S-P-O D -O A Subjekt + Prädikat + Objekt (Akkus.) + Objekt (Akkus.) Das Erlebnis hat mich das Fürchten gelehrt. 12. S-P-O D -O P Subjekt + Prädikat + Objekt (Dativ) + Objekt (Präp.) Ich gratuliere Dir zum Geburtstag. 13. S-P-A-O P Subjekt + Prädikat + Adverbial + Objekt (Präp.) Tim geht wie ein Diktator mit seinen Angestellten um. 14. S-P-O P -O P Subjekt + Prädikat + Objekt Präp. ) + Objekt (Präp.) Tim streitet sich mit Jan um den Bonus. 15. S-P-O A -O P Subjekt + Prädikat + Objekt (Akkus.) + Objekt (Präp.) Diese Musik erinnert mich an den Som‐ mer 2010. 16. S-P-O A -O G Subjekt + Prädikat + Objekt (Akkus.) + Objekt (Genitiv) Die Polizei verdächtigt Herrn Müller des Diebstahls. 17. S-P-O A -\-Pk O Subjekt + Prädikat + Objekt (Akkus.) + Prädikativ (zum O) Tim nennt Herrn Schmidt einen Idio‐ ten. 18. S-P-O G Subjekt + Prädikat + Objekt (Genitiv) Wir gedenken der Verstorbenen. Tab. 43: Satzbaupläne (mit Satzanfang S) 254 4 Genaue Kodierung <?page no="256"?> Sätze, die nicht mit dem Subjekt beginnen: - vorne nicht S Satzteile Satzbeispiel 1. A-P-S Adverbial + Prädikat + Subjekt Gleich kommt der Zug 2. O A- P-S Objekt (Akkus.) + Prädikat + Subjekt Müsli mag ich nicht. Das habe ich kommen sehen. 3. A-P-S- A-A-A-A Adverbial + Prädikat + Subjekt + 4 x Adverbial Wenn sie Zeit haben, essen sie mit ihren Kindern sonntags in der Pizzeria Roma, weil dort ihr Cousin arbeitet. 4. O A -P-S Objekt (Akkus.)+ Prädikat + Subjekt Dass der Zeuge die Waffe gesehen haben will, hat der Richter nicht geglaubt. 5. A-P-S-O A Adverbial + Prädikat + Subjekt + Objekt (Akkus.) Wenn man früh bucht, bezahlt man 15-% weniger. 6. A-P-S-O A Adverbial + Prädikat + Subjekt + Objekt (Akkus.) Auf den blauen Tisch habe ich das Geld gelegt. 7. O A -P-S-A Objekt (Akkus.) + Prädikat + Subjekt + Adverbial Ikebana habe ich von Tim gelernt. Tim habe ich gestern in der Kneipe gesehen. 8. O D -P-S-O A Objekt (Dativ) + Prädikat + Subjekt + Objekt (Akkus.) Dem Gast mit der gelben Jacke hat der Ober die Tomatensuppe gebracht. 9. O P -P-S-A Objekt (Präpositionalobjekt) + Prädikat + Subjekt + Adverbial Auf die E-Mail habe ich fast eine Woche gewartet. Tab. 44: Satzbaupläne (mit Satzanfang nicht S) Der Einfachheit halber wurde in den obigen Beispielen in der Tabelle das jeweilige Prädikat nur simpel mit „P“ angegeben und nicht in P 1 und P 2 unterschieden, wenn es aus mehreren Elementen besteht (z.-B. […] hat […] gebracht.), denn es geht um das Vorkommen und die Reihenfolge von Satzteilen und nicht um Details innerhalb der Satzteile. Weitere Details zu Satzteilen und Wortarten finden sich auch in den jeweiligen Ausführun‐ gen zu den verschiedenen Auffälligkeiten wie z. B. der Häufigkeit bestimmter Wortarten. Hier ein Vorschlag für die Farbkodierungen: I Satzteil mit Funktion im Satz - a Adverbial (Adverb, Adverbialphrase oder Adverbialsatz, z. B. Ich helfe Dir gerne., Damals vor der Wende war alles anders., Wir bauen nicht weiter, wenn es regnet.) - b Subjekt (simpel oder Subjektsatz, z. B. Paul schläft., Wer nicht fragt, bleibt dumm.) oder Objekt (simpel oder Objektsatz, z. B. Ich habe mir die Nummer gemerkt., Dass der Zeuge am Montag dort war, hat der Richter nicht geglaubt.) oder Objekt Inhaltssatz (mit „dass“ oder erweiterter Infinitiv oder nach Kor‐ relat - c Prädikat (einstellig oder als Klammer, z.-B. Paul schläft., Paul hat nur drei Stunden geschlafen.) 4.3 Satzteil-Kodierung 255 <?page no="257"?> II Attribut - a Einzelwort (Der neue Rasenmäher mäht gut.) - b Präpositionalphrase (Die Frau mit dem Audi hat gehupt.) - c Nebensatz (Relativsatz, attributiver Dass-Satz (Inhaltssatz), attributiver Infini‐ tivsatz, Beispiele: Das Budget, das Sie uns zugewiesen haben, reicht nicht., Seine Behauptung, dass er alles bezahlt hätte, ist falsch., Das Risiko, erwischt zu werden, war sehr groß) Nebensätze: I Satzteil mit Funktion im Satz - a Adverbialsatz - b Inhaltssatz (mit „dass“ oder erweiterter Infinitiv oder nach Korrelat) bzw. Subjekt- oder Objektsatz II Attribut - a Relativsatz - b attributiver dass-Satz, attrib. Infinitivsatz (=Attribut zu einem Wort im Haupt‐ satz) - c Apposition Noch einmal: Es gibt (zumindest - etwas vereinfacht - für alle Ausführungen in diesem Buch) FÜNF (wichtige bzw. „funktional obligatorische“) Satzteile, und zwar Subjekt (S), Prädikat (P), Objekt (O), Adverbial (A), Prädikativ (Pk). Wenn man ein solches Element (das von dem Verb verlangt wird, das das Prädikat realisiert) aus dem Satz weglässt, „funktioniert“ der Satz nicht mehr, d. h., er ist ungrammatisch und/ oder unverständlich (→ Kap. 8.17). Der simpelste Satz hat zwei Elemente mit der Struktur S-P z.-B. ■ Tim wartet. Ein ebenfalls simpler Satz hat drei Elemente mit der Struktur S-P-A, z.-B. ■ Tim wartet im Marktcafé. Umgedreht geht das auch (ebenfalls drei Elemente), Struktur A-P-S, z.-B. ■ Im Marktcafé wartet Tim. Ein ebenfalls simpler Satz mit ebenfalls drei Elementen hat die Struktur S-P-O, z.-B. ■ Tim mag Falafel. Nun wird es etwas komplizierter. Viele grammatische Phänomene werden in diesem Buch vereinfacht dargestellt; an vielen Stellen ist das für die Zwecke dieses Buches sinnvoll. Hier jedoch - für die genaue Betrachtung der Satzteile - wird es komplex und sehr genau (so manchem Leser bzw. 256 4 Genaue Kodierung <?page no="258"?> mancher Leserin evtl. etwas zu genau), und dennoch gibt es auch hier Vereinfachungen, z.-B. ● Der freie Dativ (z.B. Die Sektgläser sind der Aushilfe umgefallen.) wird - kodie‐ rungs-technisch - wie ein Objekt behandelt. ● Ein Korrelat (z. B. ein Präpositionadverb, z. B. davon in ausgehen von etwas) in einem Satz wie Wir gehen davon aus, dass die Umsätze weiter sinken.) wird beim Prädikat - tiefgestellt - angegeben (S-P 1 -P 2Korr -P 3Präf -O PkSatz ). ● Reflexivpronomen werden beim Prädikat/ Verb mit kodiert (z. B. Da hast du dich geirrt., sich irren, A-P 1Temp -S-P 2Refl -P 3 ). ● Wenn ein Prädikat/ Verb aus zwei (oder mehr) Elementen besteht (z. B. wegen einer Tempusform oder eines Modalverbs), wird das so (mit tiefgestellten Zahlen) kodiert: P 1 […] P 2 (z.-B. Er hat gelogen., S-P 1Temp -P 2 ). ● Wenn zwei Prädikate mit „und“ verbunden“ ist, wird das so (mit nicht tiefgestellten Zahlen) kodiert: P1 und P2 (z.-B. Er lügt und betrügt., S-P1 und P2). ● Wenn das Subjekt das Wort es ist, wird dies notiert, weil alle Arten des Vorkommens von es (u.-a. in Es ist) für die Authentizitätsfeststellung besonders wertvoll sind. Es gibt viele Arten, Satzteile zu kodieren. Ich habe in meiner Praxis als Sachverständige in der forensischen Linguistik das im Folgenden vorgestellte System erarbeitet und für effizient befunden, aber es ist selbstverständlich nur ein Vorschlag. Wenn in einem zu untersuchenden Text Normverstöße wie z. B. fehlende oder überflüssige Kommata auffallend sind oder ein Wort im falschen Kasus steht, wird dies für die Darstellung des Satzbaus zunächst korrigiert, denn es geht bei dieser Art der syntaktischen Untersuchung um die Darstellung der Abfolge tatsächlicher Sinneinheiten. Welcher Art die vorgefundenen Normabweichungen sind und was man daraus bzgl. des Idiolekts, also zur Authentizitätsfeststellung, schließen kann, ist ebenfalls ein sehr interessantes Thema. Um diese Details geht es in anderen Kapiteln dieses Buches. Kodierung Element Beispielsatz Kodierung für den konkreten Beispielsatz S(XY) -etc. elliptischer Satz mit fehlendem Subjekt Hab ihn ausgelacht. S(Ich)-P 1temp -O- P 2 S Subjekt Er ist gestern angekommen. S-P 1Temp -A-P 2 S komplexInkl Relativsatz Subjekt komplex inklu‐ sive Relativsatz (Das Wort „komplex“ wird ausgeschrieben [und nicht etwa als „kompl“ ab‐ gekürzt], damit niemand denkt, es bedeute „kom‐ plementär“ o.-Ä.) Jeden Morgen mit einem Hund Gassi gehen zu müssen, der die ganze Zeit rumkläfft, ist nicht so pri‐ ckelnd. S komplInklRelativsatz - P ist -Pk 4.3 Satzteil-Kodierung 257 <?page no="259"?> Kodierung Element Beispielsatz Kodierung für den konkreten Beispielsatz S 1EsKorrelat . […] S 2 Subjekt mit zwei Elemen‐ ten; vorne Korrelat, später Inhaltssatz. Wenn das Subjekt das Wort „es“ ist, wird dies notiert. Es wurde über Monate ganz genau beobachtet, wer mit wem das Gebäude betreten und verlassen hat. -Es ist Tradition in unserem Land, dass - Rechtsextremismus verharmlost wird. S 1EsKorrelat -P 1Passiv - A-A-P 2 -S 2Komplex S 1EsKorrelat -P ist - Pk KomplexInklAttr P Prädikat Er schläft jetzt. S-P-A P einteiliges Prädikat Ich bin müde. Ich habe nichts. S-P-Pk S-P-O P 1 […] P 2 mehrteiliges Prädikat Ich bin gestern angekommen. S-P 1temp -A-P 2 P1 […] P2 zwei Prädikate Er trinkt viel Alkohol und isst wenig Gesundes. S-P1-O und P2-O P 1 […] P 2 und P 2 2 ein erster Prädikatsteil (temporales Hilfsverb), zwei Partizipien (finite Vollverben) Ich habe eine Lieferanten‐ liste erstellt und die Preise geprüft. S-P 1temp -O-P 2 und O-P 2 2 P1 1 […] P1 2 […] P2 1 […] P2 2 zwei mehrteilige Prädikate Er hat viel gegessen und will nun einen Schnaps haben. S-P1 1 -O-P1 2 und P2 1 -A-O- P2 2 P 1temp erstes Element des Prädi‐ kats, Tempus-Hilfsverb Er ist gestern angekommen. S-P 1temp -A-P 2 P kop Bei dem Prädikat han‐ delt es sich um ein Ko‐ pula-Verb (sein, werden, bleiben; [nur “ist” wird anders kodiert, siehe un‐ ten]) Er blieb hier. Ahmet wurde wütend. S-P kop -A S-P kop -Pk P ist Bei dem Prädikat handelt es sich um “ist“ (Form des Kopula-Verbs “sein”); hier nicht "Es ist" Er ist krank. Lena ist Schwedin. S-P ist -Pk S-P ist -Pk P1 UND P2 zweimal (Subjekt+) Prädi‐ kat (zwei Hauptsätze) mit „und“ dazwischen Er trinkt viel und er isst auch viel. S-P1-O UND S-P2-A-O P1 und P2 zwei Prädikate mit „und“ dazwischen Er lügt und betrügt. S-P1 und P2 P1 ABER P2 zweimal (Subjekt+) Prädi‐ kat (zwei Hauptsätze) mit „aber“ dazwischen Er säuft, aber er isst wenig. S-P1 ABER S-P2-O 258 4 Genaue Kodierung <?page no="260"?> Kodierung Element Beispielsatz Kodierung für den konkreten Beispielsatz P1 aber P2 zwei Prädikate mit „aber“ dazwischen Er trinkt viel, aber isst wenig. S-P1-O aber P2-O P 1mod -P 2 1, P 2 2 und P 2 3-P 3 drei Prädikatsteile (soll‐ ten X werden), P 2 gibt es 3x Die Abtrünnigen sollten identifiziert, befragt und belehrt werden. S-P 1mod -P 2 1, P 2 2 und P 2 3-P 3Passiv P1 III P2 zweimal (Subjekt+) Prä‐ dikat mit einem un‐ üblichen Interpunktions‐ zeichen dazwischen (z.-B. Komma statt Punkt). Er schwitzt leicht, er hat ho‐ hen Blutdruck. S-P1-A III S-P2-O P +neg Prädikat mit Vernei‐ nung/ Negation Wir wissen nicht, wer es war. S-P +neg -O Satz P neg Verneinung/ Negation zu einem vorher genannten Prädikat Das hat er sicherlich nicht mit Absicht gemacht. O-P 1temp -S- A-P 2neg -A-P 3 P MitKorrelat [PräposAdverb] Prädikat mit Präpositio‐ naladverb Wir gehen davon aus, dass Sie von der Kündigung wis‐ sen. S-P MitKorrelat[Präpos Adverb] -O Satz P 2Refl Verb mit Reflexivprono‐ men Da hast du dich geirrt. A-P 1Temp -S- P 2Refl -P 3Part O Objekt Ich sehe Dich. Ich helfe Dir. S-P-O O A Akkusativ-Objekt Ich sehe Dich. S-P-O A O AKomplex Akkusativ-Objekt in Form eines Nebensatzes Wir wissen nicht, ob Ihnen das bisher bekannt war. S-P-O AKomplex O D Dativ-Objekt Ich helfe Dir. S-P-O D O G Genitiv-Objekt Wir gedenken der Gestorbenen . S-P-O G O P Präpositional-Objekt Ich warte auf Dich. S-P-O P O PkKomplexInkl Relativsatz Objekt komplex inklusive Relativsatz Er ist ein Mafioso, der keine Skrupel kennt. S-P ist -O PkKomplex InklRelativsatz O 1A -aber-O 2A zwei Objekte (hier Akku‐ sativobjekte) mit „aber“ dazwischen Ich will keine Rosinen, aber Nüsse. S-P-O 1 aber O 2 oder genauer: S-P-O 1A aber O 2A 4.3 Satzteil-Kodierung 259 <?page no="261"?> Kodierung Element Beispielsatz Kodierung für den konkreten Beispielsatz O 1D -son‐ dern-O 2D zwei Objekte (hier Dativobjekte) mit „sondern“ da‐ zwischen Ich habe nicht Paul gehol‐ fen, sondern seinem Sohn. S-P 1temp -P neg -O 1 - P 2 sondern-O 2 oder genauer: S-P 1temp -P neg - O 1D -P 2 sondern-O 2D O Satz Objektsatz Wir wissen, dass Sie dort waren. S-P-O Satz A Adverbial Er ist gestern angekommen. S-P 1Temp -A-P 2 A SatzKaus Adverbial in Satzform Er ist mitgekommen, weil er helfen will. S-P 1Temp -P 2 - A SatzKaus A SatzKond Adverbial in Satzform Ich kaufe es, wenn es nicht über hundert Euro kostet. S-P-O A - A SatzKond A1-und-A2 zweimal (Subjekt+) Prädi‐ kat mit anderem Satzele‐ ment dazwischen Waldi säuft viel und hastig, weil er so schnell gelaufen ist. A-P-A1-und- A2-A SatzKaus A kompl Adverbial komplex Du hattest mir im persönlichen Gespräch bei Euch im Garten beim Grillen Krieg angedroht. S-P 1temp -O- A komplex -O-P 2 Pk Prädikativ Frau Meyer ist Floristin. Ich bin müde. S-P ist -Pk S-P kop -Pk Pk komplex InklRelativsatz Prädikativ komplex in‐ klusive Relativsatz Das ist nicht das, was ich wollte. S-P ist -P neg - Pk komplexInkl Relativsatz Tab. 45: Kodierung der Satzteile Weitere Hinweise: Wenn auf eine Konjunktion (wie typischerweise und) ein neuer Hauptsatz folgt, wird das und in der Kodierung großgeschrieben (UND)., z. B. Er erklärt wichtige Dinge, und Du hörst überhaupt nicht zu: S-P-O UND S-P Wenn die Konjunktion nur zwei Satzteile (meist Vollverben oder Objekte) verbindet, wird sie kleingeschrieben, z. B. Er hat uns Tee und Kaffee angeboten: S-P 1 -O D -O A1 und O A2 -P 2 (oder ohne genaue Bezeichnung der Objekte S-P 1 -O-O und O-P 2 ) oder Er hat uns die Geräte gezeigt und erklärt: S-P 1 -O-O-P1 2 .und P2 2 . Unterschiedliche Texte erfordern einen unterschiedlichen Grad an Genauigkeit. Es kann z. B. genügen, nur anzugeben, ob bzw. dass ein Satz Objekte enthält und ggf. außerdem, um welche Art von Objekten es sich handelt. Dann kann die Kodierung eines Satzes (z. B. Ich habe ihr immer zum Geburtstag einen Brief mit Geld geschickt.) so aussehen (ohne 260 4 Genaue Kodierung <?page no="262"?> Angabe der Objekt-Arten): S-P 1 -O-A-A-O-P 2 . Mit einer genaueren Angabe der Objektarten sieht die Kodierung so aus: S-P 1 -O D -A-A-O A -P 2 . Wenn nur wichtig ist, welche Satzteile vorhanden sind, kann die simple Angabe der Satzteile genügen, z. B. bei dem Satz Er ist mitgekommen, weil er helfen will. S-P-A. Hier wird das Prädikat ist mitgekommen ganz simpel mit P bezeichnet und das Adverbial ganz simpel mit A. Wenn die Angaben genauer sein sollen, wenn also angegeben werden soll, dass das Prädikat aus einem (temporalen) Hilfsverb und einem Vollverb besteht und dass das Adverbial in Form eines (Neben-)Satzes kausaler Art realisiert ist, sieht die Kodierung so aus: S-P 1Temp -P 2 -A SatzKaus . Didaktischer Hinweis für Lehrende: Bei einem Präpositionalobjekt wäre die normale bzw. konsistente Kodierung so, dass es in einem Satz wie andere Arten von Objekten) kodiert wird (und zwar mit einem tiefgestellten „P“ nach dem „O“, z. B. Dann fing der wieder mit dem Gejammer an. A-P 1 -S-A-O P -P 2 ). Aus didaktischen Gründen schreibe ich jedoch meist nicht dazu, um was für eine Art von Objekt es sich handelt, schreibe also kein tiefgestelltes „A“ (für Akkusativ) oder „D“ (für Dativ) oder „P“ (für Präpositional-), weil sich immer wieder gezeigt hat, dass Studierende, wenn sie kodierte Präpositionalob‐ jekte gesehen haben, danach ständig vermeintliche Präpositionalobjekte sehen, welche tatsächlich Präpositionalphrasen (mit adverbialer oder attributiver Funktion) sind (also z. B. wird dann Sie geht mit ihrer Schwester ins Kino - falsch - so kodiert: *S-P-O P -A. Das passiert selbstverständlich auch, wenn man die Präposition eines Präpositionalobjekts nicht kodiert, jedoch nicht ganz so häufig.). Das genaue Kodieren der Objekte ist meist nicht nötig, und Studierende haben normalerweise kein Problem, die häufigen Akkusativ- und Dativ-Objekte und auch die seltenen Genitiv-Objekte zu erkennen (auch wenn hinter dem O kein tiefgestelltes A, D oder G steht). Das genaue Kodieren der Objekte bzw. die genaue Unterscheidung der Arten der Objekte ist selbstverständlich dann nötig, wenn das häufige Auftreten einer Objekt-Art auffällt und das idiolektal sein könnte. Das ist jedoch nur selten der Fall. Weitere Details zur Kodierung: Wenn das Prädikat aus mehreren Elementen besteht, werden die Elemente, sofern zwischen ihnen andere Satzteile stehen oder wenn es um die genaue Betrachtung der Prä‐ dikatselemente geht, mit tiefgestellten Zahlen gezählt (1, 2, 3, …), z. B. Gestern hat Tim ge‐ soffen.: A-P 1 -S-P 2 , Du hättest die Wohnung nicht verkaufen sollen. S-P 1 -O-P 2Neg -P 3Vollv -P 4Mod . Bei Bedarf kann zu P 1 außerdem angegeben werden, ob es sich um ein Modalverb, Tempushilfsverb, um den Modus Konjunktiv (würde, hätte), um Passiv oder ein Präfix eines trennbaren Verbs handelt, z.-B. Tim hat ihn angerufen. S-P 1Temp -O-P 2 , Tim rief ihn an. S-P 1 -O-P 2Präf . Wenn ein weiteres Vollverb vorhanden ist, werden die Prädikate mit (normal geschriebe‐ nen, also nicht tiefgestellten) Zahlen gezählt, z.-B. Dieser Hund kläfft und knurrt. S-P1 und P2 Wenn ein weiteres Prädikatselement vorhanden ist, z. B. ein zweites Modalverb, wird es mit tiefgestellten Zahlen und der dazwischen befindlichen Konjunktion (meist und) angegeben, z.-B. Er kann und will aussagen. S-P 1Mod und P 2Mod -P Vollv .; 4.3 Satzteil-Kodierung 261 <?page no="263"?> ebenso bei komplexeren Prädikaten, z.-B. Er ist mitgekommen und hat ausgesagt. S-P 1a -P 1b und P 2a -P 2b . Wenn ein Satz also ein zweites Prädikat mit neuer, eigener Bedeutung enthält, werden die Prädikate mit nicht tiefgestellten Zahlen gezählt, wenn das Vollverb hingegen gleich ist und es nur mehrere Modifizierungen gibt (Tempus, Modus), werden diese Prädikatselementen mit tiefgestellten Zahlen aufgeführt. Wenn die Prädikatselemente nebeneinander stehen und es nicht um die genauere Betrach‐ tung der Hilfsverben geht, wird einfach nur ein P geschrieben: Er ist mitgekommen und hat gesungen. S-P1 und P2. Das und zwischen den Prädikaten wird dann klein geschrieben. Wenn ein weiteres Prädikat und außerdem ein neues Subjekt, also ein neuer Hauptsatz, vorhanden ist und dazwischen ein und steht, wird es großgeschrieben (UND), z.-B. Der Himmel zog sich zu und wir wollten schnell noch die Hütte erreichen. S-P UND S-P 1 -A-O-P 2 . Ebenso, falls statt und ein aber zwischen zwei Hauptsätzen steht: Tim kam mit, aber er hatte schlechte Laune. S-P ABER S-P-O. Wenn zwischen zwei Hauptsätzen etwas anderes steht, z. B. ein Komma, werden drei senk‐ rechte Striche gesetzt, z.-B. Er hat nichts kapiert, wir mussten tausend Euro zurückzahlen. S-P 1 -O-P 2 III S-P 1 -O-P 2 . Ob der/ die Verfasser: in zwischen den beiden Sinneinheiten einen kausalen Zusammenhang sieht (beispielsweise dass er nicht kapiert hat, dass wir noch tausend Euro zurückzahlen mussten), wird hier bei der Kodierung nicht dargestellt. In dem Satz steht kein dass (Der Satz heißt nicht Er hat nicht kapiert, dass wir tausend Euro zurückzahlen mussten). S-P 1 -P 2 -P 3 -O. Wenn es genauer sein soll: S-P 1Temp -P 2Neg -P 3Vollv -O Satz Bei dem obigen Satz wird der Objektsatz nur als O Satz angegeben. Falls es wichtig ist, auch die Binnenstruktur des Nebensatzes anzugeben, würde das so aussehen: O Satz : dass S-O-P 1Vollv -P 2Mod . Auch die Struktur von Nebensätzen anzugeben, kann in einem Gutachten sinnvoll sein, wenn bei der Textanalyse auffällt, dass die Binnenstruktur bestimmter Nebensätze idiolek‐ tal sein könnte. Wichtiger Hinweis: Für die Didaktik von forensischer Linguistik und speziell Authentizi‐ tätsfeststellung - wie auch für Syntax-Übungen unabhängig von forensischer Linguistik - mit dem Erkennen und Benennen von Satzteilen halte ich es für sehr wichtig, dass Studierende zunächst die Funktion und Rolle von Nebensätzen im Gesamtsatz zu erkennen lernen und üben. Wenn die Binnenstruktur von Nebensätzen zu früh einbezogen wird, ist die Gefahr sehr groß, dass viele Studierende den Blick für die Gesamtstruktur mit den Elementen des Gesamtsatzes verlieren. Die meisten Studierenden haben große Schwierig‐ keiten, in Sätzen wie diesem ■ Wer einmal versucht hat, mit einer sehr guten Idee aber wenig Startkapital ein Unternehmen zu gründen und sich am Markt zu etablieren, was schon mit viel Startkapital schwierig ist, wird mich verstehen. das Subjekt zu erkennen. Das heißt, sie haben Schwierigkeiten, zu erkennen, dass das Subjekt in diesem Satz in Form eines Nebensatzes (eines Satzteil-Nebensatzes) realisiert ist (Wer […] ist) und dass es innerhalb des Subjekts (in Form des Subjektsatzes bzw. 262 4 Genaue Kodierung <?page no="264"?> Subjekt-Nebensatzes) Nebensätze gibt (in diesem Fall in der Mitte [mit einer […] etablieren] in Form eines Inhaltssatzes mit Infinitivkonstruktion und am Ende [was […] schwierig ist] in Form eines weiterführenden Relativsatzes) und so zu kodieren wäre: S komplex -P 1temp -O-P 2 . Sehr viele Studierende wissen nicht, dass ein Satzteil-Nebensatz derart lang und komplex sein kann, und identifizieren ihn daher nicht als Satzteil. Der folgende Satz hat ein sehr langes und komplexes Objekt, das am Anfang des Gesamt‐ satzes steht: ■ Eine Entlassung in eine im achten Stock befindliche, sehr kleine Wohnung zu einer ebenfalls an Demenz erkrankten Ehefrau, die zudem bis zum letzten Freitag zur stationären Rehabilitation wegen eines Oberschenkelhalsbruches in Ihrem Haus war, kann ich nicht befürworten. (also Eine […] war), der so zu kodieren wäre: O Komplex -P 1mod -S-P 2neg -P 3 . Studierende haben in solchen Fällen meist große Schwierigkeiten, die Satzteile zu identifizieren, zumal bei diesem Beispielsatz erschwerend hinzukommt, dass das Substantiv am Anfang nicht gleich als Objekt zu erkennen ist, da der Akkusativ (Eine Entlassung) auch ein Nominativ (und dann Subjekt) sein könnte und der Satz somit eine Holzwegkonstruktion darstellt. Bevor man also in der Didaktik zusätzlich zum Identifizieren und Kodieren der Satzteile im Gesamtsatz außerdem die Elemente von Nebensätzen identifiziert und kodiert, sollte man sich ganz sicher sein, dass die Studierenden die Elemente des Gesamtsatzes und die von Nebensätzen unterscheiden können. Wenn Verfasser: innen in Beziehung zueinander stehende Sinneinheiten nicht so darstellen, dass der/ die Leser: in die Beziehung leicht erkennen kann, ist das für die Authentizitätsfeststellung sehr interessant (z. B. zwei kausal miteinander verbundene Sinneinheiten werden mit einem Semikolon getrennt, statt ein Komma zu setzen und sie mit der Konjunktion weil zu verbinden, also z. B. Die Rohre sind geplatzt; es hat letzte Nacht gefroren. statt Die Rohre sind geplatzt, weil es letzte Nacht gefroren hat.). Das ist unterlassene Verständlichkeitssicherung. Zum Objekt (O) kann - bei Bedarf - außerdem angegeben werden, um was für ein Objekt es sich handelt, z.-B. ● Akkusativobjekt: Tim hat ihn angerufen. (S-P 1 -O A -P 2 ) ● Dativobjekt: Tim hat ihm geholfen. (S-P 1 -O D -P 2 ) ● Genitivobjekt: Die ganze Gemeinde hat seiner gedacht. (S-P 1 -O G -P 2 ) ● Präpositionalobjekt: Ich habe von Dir geträumt. (S-P 1 -O P -P 2 ) ● Zum Prädikativ (Pk) werden alle zum Prädikat gehörigen Elemente wie Substantive und Adjektive nach einem Kopulaverb gezählt, z. B. Frau Meyer ist Floristin., Ich bin müde. (S-P Kop -Pk bzw., wenn die Angaben genauer sein müssen: S-P Kop -Pk Subst oder S-P Kop -Pk Adj. ) Wenn ein Satz zwei Kopulaverben enthält wie z. B. Er ist und bleibt ein Vollidiot. wird das mit dem (kleingeschriebenen) ausgeschriebenen Lexem und so kodiert: S-P Kop und P Kop -Pk. Funktionsverbgefüge sind zwar keine Prädikative, werden jedoch hier zur Vereinfachung zu den Prädikativen gezählt und als Pk gekennzeichnet (z. B. Ich bin auch ihrer Meinung. 4.3 Satzteil-Kodierung 263 <?page no="265"?> (S-P kop -Pk), Es besteht zwischen den Mitgliedern des Clubs und den Anwohnern Überein‐ stimmung, dass der Anbau notwendig ist. S Es -P-A-Pk). Wenn das Adverbial (kurz A) in Form eines Nebensatzes realisiert ist (also nicht als Einzelwort oder Präpositionalphrase), wird es als A Satz kodiert, z. B. in einem Satz wie Wir können seine Ansicht schwer einschätzen, da er sich verschiedenen Leuten gegenüber ganz unterschiedlich dazu geäußert hat., der so zu kodieren wäre: S-P 1 -O-P 2 -A Satz . Prädikative (z.-B. ein Arschloch in Du bist ein Arschloch.) werden mit Pk angegeben, also so: S-P-Pk (bzw. mit Angabe der Art des Prädikats so: S-P Kop -Pk). Weitere Vereinfachungen: In diesem Kapitel und im gesamten Buch verwende ich den Terminus Inhaltssatz für solche Nebensätze, die semantischen Inhalt zu einem zuvor genannten Wort liefern, z. B. zu einem Korrelat wie es oder zu einem Präpositionaladverb wie davon oder zu einem Substantiv, Adjektiv oder Adverb. Es gibt Inhaltssätze in Form von Dass-Sätzen (Ich habe das Gefühl, dass er lügt.) und in Form von Infinitivkonstruktionen (Ich hatte dauernd das Bedürfnis, dem Zeugen die Fresse zu polieren.). Besteht das Prädikat aus mehreren Elementen (z. B. Hilfsverb und Vollverb [z. B. Du bist […] gegangen] oder Modalverb und Vollverb [z. B. Ich kann […] glauben]), handelt es sich also um ein komplexes Prädikat (bzw. noch komplexer - mit 3 oder 4 Elementen, z. B. habe […] ich nicht lesen können), werden alle Elemente mit einer tiefgestellten Zahl (und ggf. Angabe der Art des Prädikat-Elements) durchnummeriert, z. B. Die kleine Schrift habe ich nicht lesen können.: O-P 1 -S-P 2neg -P 3 -P 4Mod . Eine großgeschriebene Konjunktion (z. B. UND, ABER) bedeutet, dass ein neuer Hauptsatz folgt. Wenn in einer Aufzählung ein Komma vorkommt, wird ein Komma in die Kodierung ge‐ setzt, und ein kleingeschriebenes und bedeutet, dass weitere Satzteile der vorangegangenen Art folgen (z. B. Subjekte, z. B. in Kim, Ada und Lea waren da. S, S und S-P-Pk, oder Prädikatsteile, z. B. Vollverben, z. B. in Sie hat ihn gemocht, ermutigt und unterstützt., S-P 1temp -O-P 12, P 22 und P 32 , oder Objekte, z. B. in Ich habe Brot, Butter und Käse mitgebracht., S-P 1 -O, O und O-P 2 ). Wenn es sich bei einem Satzteil um einen Nebensatz handelt, ist die Kurzbezeichnung so: S Satz bzw. O Satz bzw. A Satz , z. B. Jeden Morgen mit dem Kläffer Gassi gehen zu müssen, ist nicht so prickelnd., S Satz -P-Pk; Wir wissen, dass Sie dort waren., S-P-O Satz; Ich mache nur mit, wenn es nicht so viel kostet., S-P-A Satz . Freie Dative (z. B. Das wird Ihnen den Verdacht zerstreuen., Das war ihm peinlich.) werden in diesem Buch - der Einfachheit halber - zu den Objekten gezählt und als Objekte bezeichnet und simpel als „O“ kodiert. Wenn es um die genaue Kennzeichnung der verschiednen Objekte in einem Satz bzw. Text geht, was selten ist, wird der freie Dativ so gekennzeichnet: O fD . Es folgt ein Beispiel-Text, in dem die Sätze zum Zweck der Satzteil-Kodierung in Tabellen‐ form aufgeführt sind. Die Sätze enthalten - anders als die Beispielsätze in diesem Buch 264 4 Genaue Kodierung <?page no="266"?> 85 Die vielen in diesem Buch enthaltenen einzelnen Beispielsätze wurden für die Zwecke dieses Buches um solche Normverstöße bereinigt, um die es bei dem jeweiligen Thema nicht geht, damit das jeweils wichtige sprachliche Phänomen deutlich wird. 86 Aus didaktischen Gründen ist es sinnvoll, mit Studierenden zunächst die Struktur des Gesamtsatzes mit der Funktion der verschiedenen - teilweise komplexen - Nebensätze zu analysieren und die interne Struktur der Nebensätze auszuklammern. - alle Normverstöße des Originals 85 . Bei der Kodierung wird immer nur die Struktur des Gesamtsatzes angegeben. Die interne Satzteil-Struktur der jeweiligen Nebensätze wird nicht angegeben 86 . Die folgende Tabelle ist nur ein Beispiel. Im jeweiligen Fall entscheidet der/ die Linguist: in bzgl. des Komplexitätsgrads der Angaben; also z. B., ob alle Objekte nur mit „O“ oder auch mit der Kasusangabe und weiteren Detail-Informationen dargestellt werden (z. B. O SatzKompl ), ob das Subjekt nur mit „S“ oder mit weiteren Angaben (z. B. S Es ) angegeben wird, ob man zu einem „III“ (als Zeichen für einen folgenden Hauptsatz) angibt, ob es sich um ein Komma handelt oder nicht (III oder III Komm ), ob ein Prädikatselement, z. B. das erste, nur mit P 1 oder mit mehr Informationen (z. B. P 1Passiv ) angegeben wird und wie man mit einem „auch“ umgeht (z.-B. auch dies ist allgemein bekannt! ), das für die Zwecke einer groben Strukturierung meist ignoriert werden kann. 1. wir meinen es ist an der Zeit, dass Sie als Ehefrau und Mutter der gemeinsamen Kinder mal ein paar Fakten über ihren Mann erfahren, die Sie bis dato sicher nicht wussten, jedoch wissen sollten. S-P-O PSatzKompl 2. Ihr Mann ist ein boshafter, ans kriminelle gehende Geschäfts‐ mann. S-P kop -Pk Kompl 3. Weder Mitarbeiter noch Dienstleister sprechen positiv über ihn! S-P-A-O P 4. Es gibt unzähligen Ärger mit Ex Mitarbeitern, Handwerksbetrie‐ ben und natürlich vielen Mietern … mit denen ihr Mann nur zu gerne vor Gericht steht! S Es -P gibt -Pk AttrKompl 5. Seine Masche ist immer dieselbe kriminelle Art, er lügt und betrügt! S-P kop -A-Pk Kompl III Komma S-P1 und P2 6. Es gibt so viele Feinde, dass uns an seiner und auch ihrer Stelle, Angst werden würde! S Es- P gibt -Pk-A SatzKompl 7. Wir gehen davon aus, dass Sie von der Kündigung von Frau Garing, seiner ehemaligen Assistentin wissen. S-P-O PSatzKompl 8. Frau Garing war lange Zeit die sexuell Geliebte ihres Mannes und als Sie unbequem wurde, wurde Sie von ihm gekündigt. S-P kop -A-Pk Kompl UND A Satz -P 1Passiv -S-A-P 2 9. Es ist nicht die erste Geliebte die er als Mitarbeiterin hatte und sicher auch nicht die Letzte! S Es -P kop -Pk 1Kompl und Pk 2 10. Ihr Mann ist prinzipiell ein Fremdgeher und auch dem Rotlicht nicht abgeneigt, auch dies ist allgemein bekannt! S-P 1kop -A-Pk und A-O D -A-P 2 III S-P kop -Pk 11. Nachdem ihr Mann gerne viel trinkt und dies auch auf den Firmenveranstaltungen (Kirmes, Weihnachtsfeier etc) und dann gerne mit Frauen Themen prallt. A SatzKompl - elliptisch 4.3 Satzteil-Kodierung 265 <?page no="267"?> 12. Er ist auch schon bei unserer Anwesenheit aus einem Restaurant geflogen, da er eine Bedienung begrabscht hat und die sich das nicht gefallen lassen hat. S-P 1 -A-A-A-A-P 2 - A SatzKausal 13. Nur peinlich, wenn die Mitarbeiter dabei sind! elliptisch (Es ist) -Pk-A SatzKond/ Temp 14. Auch das Thema Schwarzarbeit werden wir nicht länger auf sich beruhen lassen und haben hierzu Schritte eingeleitet. O A -P 1 -S-A-P 2 und P 1- A-O A -P 2 15. Es wurde alles über einen längeren Zeitraum mitgeschrieben, was auch in den Privathäusern gearbeitet wurde! S EsKomplexSpäterFolgRel‐ Satz -P 1 -O-A-P 2 16. Wir wissen mehr, als Dirk glaubt! S-P-O AKompl 17. Wir wissen nicht, ob dies für Sie alles von Interesse ist, da sie als naiv bekannt sind und das Leben ohne Arbeit genießen! S-P 1 -P 2Neg -O A -A SatzKausal 18. Aber Ehefrau von einem Mann zu sein, der regelmäßig mit anderen Frauen ins Bett geht, ist sicherlich nicht dass was man will! S SatzKomplInklRelativ‐ satz- P ist -A-P Neg -Pk Kompl InklRelativsatz 19. Auch wenn das Leben so sehr bequem ist! elliptisch (inkl. A SatzKond) 20. Aber wer will einen Fremdgeher, der jedem Rock hinter her steigt! ABER+FRAGE: S-P-O KomplexInkl Relativsatz 21. Somit kennen Sie nun die Wahrheit und können daraus machen, was sie wollen. A-P1-S-A-O A und P2 1 -O PMitSpäterFolg Relativ‐ satz -P2 2 22. Dirk Bauer ist Abschaum und bei so vielen Feinden, würde ich mir Gedanken machen! S-P Kop -Pk UND A-P 1 -S-O A -P 2 Tab. 46: Beispiel für Satzteilkodierung in Tabelle mit 22 Sätzen 266 4 Genaue Kodierung <?page no="268"?> 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung Das Phänomen der unterlassenen Verständlichkeitssicherung ist in der forensischen Linguistik primär wichtig, ■ wenn es bei einem (Rechts-)Streit um die Bedeutung einer Äußerung und/ oder das Aufdecken von Missverständnissen geht und ■ wenn im Rahmen der Authentizitätsfeststellung der Idiolekt eines Verfassers in einem Text herauszuarbeiten ist. Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass jeder, der kommuniziert, sich bemühen soll, sich möglichst verständlich auszudrücken und Ambiguitäten zu vermeiden, was den Verfasser: innen unterschiedlich gut gelingt. Das verlangt auch Grice mit seinen vier Konversationsmaximen (Quantität, Qualität, Relevanz, Modalität; Grice, S.-45ff). ■ Die Wärmebrücke ist ein Bereich in einem Bauteil des Gebäudes, der Wärme besser leitet, und damit Wärme schneller nach außen transportiert als es die angrenzenden Bauteile leisten. Dieser Satz wird ab damit (in der Mitte) schwer verständlich, denn der/ die Leser: in weiß zunächst nicht, ob mit damit somit gemeint ist (was der Fall ist) oder ob ein Nebensatz der Art „finaler Adverbialsatz“ beginnt, der also einen Zweck angeben würde (z. B. damit Wärme schneller nach außen gelangen kann.). Zudem enthält der Satz zwei Kommafehler (ein überflüssiges und ein fehlendes Komma), die ebenfalls zur Verwirrung beitragen. Erst wenn man den Satz zu Ende gelesen hat, merkt man, dass der Relativsatz („der Wärme besser leitet […]“ zum Substantiv „Bauteil“) bis zum Ende des Satzes fortgesetzt wird (darum kein Komma nach „leitet“! ). So wäre der Satz wesentlich leichter zu verstehen: ■ Die Wärmebrücke ist ein Bereich in einem Bauteil des Gebäudes, der Wärme besser leitet und somit Wärme schneller nach außen transportiert, als es die angrenzenden Bauteile leisten. Außerdem sollte ein/ e Verfasser: in ggf. notwendiges (Vor-)Wissen aus dem Kontext (z. B. aus zuvor Gesagtem bzw. Geschriebenem) bzw. den Informationsstand des Kommunikati‐ onspartners einschätzen können. Ein auch in einem Satz wie ■ Das habe ich auch gemeint. kann bedeuten, dass die Ich-Person etwas, was eine andere Person meint, ebenfalls meint, oder dass sie eines meint und außerdem noch etwas anderes. Ein/ e Verfasser: in sollte eine solche Unklarheit vermeiden bzw. darauf achten, dass die notwendige Information für den/ die Leser: in vorhanden ist bzw. war. Ein Satz wie <?page no="269"?> 87 im Ggs. zur Semantik, bei der es um kontext-unabhängige Bedeutung geht. 88 Fähigkeit, sich vorzustellen, was ein anderer Mensch weiß bzw. wissen kann und denkt. Eigentlich ein Fachbegriff aus der Psychologie, jedoch wichtig für die forensische Linguistik, wenn es um die Verständlichkeitssicherung geht. 89 Die Serife (Plural „Serifen“): kleiner, abschließender Querstrich am oberen oder unteren Ende von Buchsta‐ ben (auch „Schnörkel“ oder „Füßchen“ genannt; es werden weitergehend unterschieden: Abschluss-, Dach-, Kopf-, Quer und Standserife). 90 Womöglich auf dünnem Papier - wie viele Lexika, Wörterbücher, die Bibel und die Thora, vorwie‐ gend zweispaltig (und mit Serifenschrift) gedruckt, weil eine Zeile für ein optimal erleichtertes Lesen nicht mehr als 9 Wörter haben sollte und weil Leser: innen nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern in Wort-Blöcken lesen. ■ Wir haben eine Tochter. kann bedeuten, dass ein Elternpaar insgesamt ein Kind hat, und zwar eine Tochter, etwa als Antwort auf die Frage Haben Sie Kinder? ; es kann aber auch sein, dass das Elternpaar eine Tochter und einen Sohn hat, dass es sich hier aber um die Antwort auf die Frage Haben Sie (auch) Töchter? handelt. Die Berücksichtigung des Kontextes für die Bedeutung einer Äußerung ist Gegenstand der Pragmalinguistik 87 , u. a. der Theory of Mind 88 . Wenn der/ die Verfasser: in annehmen muss, dass der Kontext und somit für das Verstehen notwendiges Wissen beim Leser nicht als vorhanden vorausgesetzt werden kann, sollte er/ sie Maßnahmen der Verständlichkeitssicherung ergreifen. 5.1 Lesbarkeit und Verständlichkeit Diese beiden Termini werden oft synonym vewendet bzw. verwechselt. Die Eigenschaft guter Lesbarkeit wird eher auf Texte als auf einzelne Sätze bezogen. Sie betrifft primär die gute Erkennbarkeit, das Erscheinungsbild, u. a. die Typografie, also die Gestaltung und Anordnung der Buchstaben und Sätze. die Schriftzeichen einschl. Schriftgröße (Text in Großbuchstaben ist schwer lesbar), Zeilenabstande, Textausrichtung, Absätze, Schriftfarben und Schriftarten, die die Ästhetik des Textes beeinflussen. Serifenschriftarten 89 (auch „Antiqua“ genannt, z. B. Times New Roman, Garamond, Georgia) gelten bei normaler Schriftgröße als besonders gut lesbar; bei kleineren Schriftgrößen gelten serifenlose Schriftarten (wie z.-B. Helvetica, Verdana, Arial, Open Sans) als besser lesbar. Ein Text mit guter Lesbarkeit (auch „Leserlichkeit“) hat „angenehm aufbereitete“ physische Eigenschaften des Textes und der Sätze, ansprechende visuelle Gestaltung, und er kann leicht aufgenommen werden. Bei der Verständlichkeit hingegen geht es darüber hinaus um die Inhalte eines Satzes und/ oder Textes; darum, die - wie man neu-deutsch sagt - „Message rüberzubringen“, und zwar ohne Missverständnisse. Idealerweise ist ein Text und somit jeder Satz sowohl leicht verständlich als auch gut lesbar. Selbstverständlich sind schwer verständlich und schwer lesbar: 1. sehr lange Sätze, große Textvolumen mit kleiner Schriftgröße 90 2. stark verschachtelte Sätze 3. Sätze mit viel Fachvokabular 4. Sätze mit vielen Attributen und/ oder langen Komposita 268 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="270"?> Dieses Buch enthält - dem Titel entsprechend - viele Beispiele für verschachtelte Sätze mit Inhalten, die syntaktisch auch einfacher realisiert werden können. Wie bereits festgestellt wurde, werden solche Sätze oft produziert, weil ein/ e Verfasser: in sehr bemüht ist, gebildet zu wirken. Die Bemühungen darum - mit den verschiedenen Strategien und Kunstgriffen und unterschiedlichen Graden des Gelingens - sind interessant für die Authentizitätsfest‐ stellung, also für das Identifizieren des Idiolekts. Um die Bedingungen für Verständlichkeit geht es in fast jedem Kapitel dieses Buches. In diesem Kapitel soll die Verständlichkeit in der Weise verständlich gemacht werden, indem beschrieben wird, was zu defektiver Verständlichkeit führt, wobei wieder - für die Zwecke dieses Buches - das Hauptinteresse auf der Beantwortung der Frage „Was ist idio‐ lektal? “ liegt bzw. hier speziell der Frage: Ist unterlassene Verständlichkeitssicherung idiolektal? ■ Die Bewerber müssen nachweisen, dass sie über die ab Seite 17 unserer Informationsbroschüre beschriebene erforderliche Sachkunde in dem Fachgebiet, die bereits im Antragsverfahren überprüft wird, und auch über Grundkenntnisse in den Datenschutzrichtlinien verfügen. Dieser Satz ist nicht leicht verständlich. Das liegt in diesem Fall daran, dass er drei Charakteristika schwer verständlicher Texte enthält, und zwar: 1. eine Linksattribution (ab Seite 17 unserer Informationsbroschüre beschriebene zwi‐ schen die erforderliche Sachkunde) 2. eine Satzklammer (dass Sie über […] verfügen) 3. einen Relativsatz mit einem Relativpronomen, dessen Bezugswort nicht direkt vor dem Relativsatz steht ([…] Sachkunde in dem Fachgebiet, die […]). 4. Die Bewerber müssen nachweisen, dass sie über die ab Seite-17 unserer Informations‐ broschüre beschriebene erforderliche Sachkunde in dem Fachgebiet, die bereits im Antragsverfahren überprüft wird, und auch über Grundkenntnisse in den Datenschutz‐ richtlinien verfügen. ■ Für die Witwe ermöglicht die aus einem Prozess gegen den Fahrstuhlhersteller zu erwartende hohe Entschädigung glänzende Studienchancen für die beiden gemeinsamen Söhne an der Harvard-Universität. Dieser Satz enthält zwei Schwierigkeiten: eine Linksattribution und eine Präpositional‐ phrase mit unklarem Bezug (Studieren die Söhne jetzt gerade an der Harvard-Universität, oder ist das „Zukunftsmusik“? ) ■ Für die Witwe ermöglicht die aus einem Prozess gegen den Fahrstuhlhersteller zu erwartende hohe Entschädigung glänzende Studienchancen für die beiden gemeinsamen Söhne an der Harvard-Universität. Besser wäre: ■ Die aus einem Prozess gegen den Fahrstuhlhersteller zu erwartende hohe Entschädigung ermöglicht für die Söhne der Witwe glänzende Studienchancen an der Harvard-Universität. 5.1 Lesbarkeit und Verständlichkeit 269 <?page no="271"?> 91 Achtung: „Lesbarkeit“ nicht mit „Leserlichkeit“ verwechseln. Das ist die Eigenschaft eines Textes, für die Schriftsetzer verantwortlich sind. Es geht bei diesen Ausführungen über Verständlichkeitssicherung nicht um den für Erpresserbriefe typischen Versuch der Sicherstellung, dass der Inhalt verstanden wird, indem der/ die Verfasser: in - oft in redundanter Weise - besonders deutlich formuliert, was zu tun und was zu unterlassen ist, weil er/ sie sicherstellen möchte, dass seine/ ihre Handlungsanweisungen verstanden werden, damit sie befolgt werden können (z. B. [fehlerbereinigt]: Nochmal: keine Polizei sonst stirbt Ihre Tochter. Das muss unbedingt von Ihnen ganz richtig verstanden sein. Bei der geringsten Einschaltung von Polizei ist Ihre Tochter tot. Wenn Sie den Fall der Polizei übergeben, werden wir das Geld nicht übernehmen und Sie werden Ihr Kind nicht lebend wiedersehen.) Zurück zur Anklage wegen unterlassener Verständlichkeitssicherung: Dass es Missver‐ ständnisse gibt und dass Menschen sich manchmal unklar ausdrücken, ist bekannt. Bekannt ist auch, dass es Wörter mit verschiedenen Bedeutungen gibt, was zu Missverständnissen führen kann. Vielen Verfasser: innen ist jedoch nicht klar, dass auch im deutschen Satzbau viele Fallen schlummern. Durch unklare Rollen und Bezüge in Sätzen und Texten entstehen oft Missverständnisse, die den Kommunizierenden nicht bewusst sind. Viele unklare Sätze könnten mittels anderer Formulierung verbessert werden. Manche Mängel sind darauf zurückzuführen, dass der/ die Verfasser: in die Rechtschreibung und Zeichensetzung und die Regeln des deutschen Satzbaus nicht beherrscht und sie auch bei Bemühung um ein Korrekturlesen des Textes vor der Verwendung nicht beseitigen kann. Es wurde bereits ausgeführt, dass einige Verstöße gegen die Regeln nicht zu einer Ein‐ schränkung der Verständlichkeit oder zu Missverständnissen führen, bei anderen ist dies aber der Fall. Auch wenn keine Gefahr besteht, dass es zu einem Missverständnis kommt, gibt es große Unterschiede bei der Verständlichkeit. Das Fachwort dafür ist „Intelligibilität“. Das Substantiv Intelligibilität und das Adjektiv intelligibel stammen von dem lateinischen Wort intelligere, das sich wiederum entwickelt hat aus inter (zwischen) und legere (lesen, auswählen, erkennen). Daraus wird ein Dazwischen-Lesen und Verstehen durch Erkennen und entspricht dem Konzept des Verstehens von Informa‐ tionen, die zwischen den Zeilen oder in der Tiefe einer Aussage verborgen sein können. Auf Englisch werden die Wörter intelligibility, also das Substantiv, und intelligible, also das Adjektiv, nicht nur (wie im Deutschen) in der Fachsprache verwendet. Die Lesbarkeit 91 ist eine Art „Vor-Stufe“ bzw. Vor-Bedingung für die Verständlichkeit, die Intelligibilität. Verfasser: innen unterscheiden sich u. a. dadurch, dass sie sich - meist abhängig von ihrer Intelligenz und ihrem Bildungsstand - unterschiedlich viel Mühe geben können, Ambiguitäten zu vermeiden und für eine gute Lesbarkeit und Verständlichkeit ihrer Sätze und Texte zu sorgen. Das ist idiolektal, es ist allerdings schwierig und mühsam festzustellen. 270 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="272"?> Es gibt Aufgabenstellungen in der forensischen Linguistik und Gutachtenaufträge, bei denen es - z. B. bei Verträgen und anderen Vereinbarungen aller Art - um die Frage geht, was gemeint war, wenn die Ausdrucksweise nicht klar ist. Beispielsweise schrieb jemand: ■ Bezüglich dieses Unfalls ist nicht zu beantworten, ob der Fahrer des roten Opel gezielt nach rechts fuhr oder ob der Richtungswechsel geschah, weil er abgelenkt war. Wie sich später herausstellte, war gemeint: ■ Bezüglich dieses Unfalls kann nicht beantwortet werden, ob der Fahrer […] war. Es war so verstanden worden ■ Bezüglich dieses Unfalls ist es nicht notwendig, dass die Frage beantwortet wird, ob der Fahrer […] war. Diese Frage wird gar nicht gestellt. Es sind andere Fragen, die hier beantwortet werden sollen. und es wurde dem Textverfasser vorgeworfen, er habe sich nicht bemüht, die Frage zu beantworten bzw. er habe die Frage nicht beantwortet. Die Formulierung ist nicht zu beantworten ist unklar (ambig). Wer ist schuld an dem Missverständnis? Beide, also der/ die Verfasser: in, weil er/ sie nicht genug Verständlichkeits‐ sicherung betrieben hat, und auch der/ die Leser: in, weil er/ sie nicht ausreichend bedacht hat, dass die Formulierung auch anders gemeint gewesen sein könnte. Es kann natürlich nicht nur durch Ignoranz bzw. Desinteresse und/ oder Nichtwissen, sondern auch aus anderen Gründen zu Mängeln und Einschränkungen der Verständlichkeit eines Textes kommen, z. B., weil der/ die Verfasser: in beim Verfassen des Textes nervös, in Eile, verliebt, wütend, betrunken, unter Drogen oder in anderer Weise emotional angespannt bzw. psychisch belastet war. Es gibt auch vorsätzlich erzeugte Schwerverständlichkeit. Beim folgenden Beispielsatz ist dies leicht vorstellbar: ■ Beabsichtigt wird die Vermeidung künftiger Abwicklungsverluste durch Prämienanpassungen. Wer beabsichtigt diese Vermeidung? Was ist ein Abwicklungsverlust? Was für Verluste entstehen bei der Abwicklung? Was wird abgewickelt? Was für Prämien werden angepasst? Gibt es Abwicklungsverluste durch Prämienanpassungen? Ist das eine Art von Abwick‐ lungsverlusten, die vermieden werden sollen? Ist also die Präpositionalphrase durch Prämi‐ enanpassungen ein Attribut zu Abwicklungsverluste? Was wäre das, Abwicklungsverluste durch Prämienanpassungen? Oder gehört die Präpositionalphrase durch Prämienanpas‐ sungen zu einem anderen Satzteil? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial und gehört dann zum Verb beabsichtigen? Wohl nicht, denn das würde bedeuten, dass etwas mittels Prämienanpassungen beabsichtigt wird. Es soll wohl zur Vermeidung gehören, also die Vermeidung soll durch Prämienanpassungen gelingen. Dann wäre die Präpositionalphrase durch Prämienanpassungen ein Adverb zu dem impliziten Verb vermeiden, das hier in substantivierter Form erscheint. Sind mit Prämienanpassungen Preiserhöhungen gemeint? Ist vielleicht gemeint 5.1 Lesbarkeit und Verständlichkeit 271 <?page no="273"?> ■ Sie (als Versicherte) müssen in Zukunft höhere Versicherungsprämien bezahlen, denn angesichts der hohen Kosten für Personal bzw. Verwaltung ist es für uns sonst schwierig, den angestrebten Gewinn zu erwirtschaften. Ich unterscheide zwei Arten der Unterlassung, und zwar die unterlassene Bemühung um ● Verständlichkeit im Sinne guter Lesbarkeit und ● Eindeutigkeit (bzw. Disambiguierung). Andersherum ausgedrückt: Die Unterlassung hat zur Folge: ● erschwerte Verständlichkeit und Lesbarkeit ● Ambiguität(en), und die kann (können) zu Missverständnissen führen Der folgende Beispielsatz ist etwas schwer zu verstehen, weil man sich über den Bezug der Präpositionalphrase auf das Konto […] klarwerden muss. Gehört sie zum vorangegangenen Substantiv (also Eingang auf das Konto […]), oder ist sie ein Adverbial zu dem Adjektiv zahlbar, wobei man sich den Anfang des Satzes für leichteres Verständnis umformuliert in Der Gesamtbetrag muss gezahlt werden […]; dann ist auch ein Adverbial besser verständlich, denn Adverbiale beschreiben die Art der Ausführung einer im Satz genannten (oder implizierten) Handlung (hier zahlen). ■ Der Gesamtbetrag ist zahlbar innerhalb von vier Wochen nach Eingang auf das Konto IBAN XXX bei der Sparkasse Hannover, BIC: XXX unter Angabe der Rechnungsnummer. Man fragt sich außerdem bei der Präpositionalphrase nach Eingang, was wo eingegangen sein soll, bis man versteht: Gemeint ist der Erhalt dieses Schreibens bzw. der Zahlungsauf‐ forderung (nicht eines Geldbetrages), in dem bzw. in der der obige Satz vorkommt. Hier hat sich der/ die Verfasser: in der unterlassenen Verständlichkeitssicherung schuldig gemacht. Dieses Kapitel heißt „Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung“. Das primäre Problem (und die „Anklage“) bei langen und verschachtelten Sätzen liegt darin, dass dem/ der Leser: in viel Gedächtnisleistung abverlangt wird. ■ Ich dachte, ich würde mir, als Sie, Herr Becker, mir den Namen des Dienstleisters, der Ihre Drainage repariert hat und mit dem Sie so zufrieden waren, sagten, merken, aber jetzt ist er mir doch entfallen. Wer oder was ist „er“ (das viert-letzte Wort in dem Satz […] ist er mir doch entfallen)? Der/ die Leser: in muss, wenn das Personalpronomen er kommt, noch wissen, dass es sich auf den Namen des Dienstleisters bezieht (der vergessen wurde). Die Struktur dieses Satzes sieht so aus: 272 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="274"?> Der Satz ist nicht nur wegen der so weit auseinander liegenden Referenzwörter schwierig, sondern auch wegen der komplexen Hypotaxe. Komplexer Satzbau ist in aller Profi- und Hobby-Linguisten Munde, und die Komplexität des Satzbaus muss oft herhalten als Buhmann für schwer verständliche Texte. Dabei wird unter „komplexem Satzbau“ meist primär Verschachtelung, also die Anzahl an (korrekt gesetzten) Kommata bzw. der Grad der Hypotaxe verstanden. Es gibt jedoch durchaus sehr schwer verständliche Sätze, die eine sehr simple formale Komplexität aufweisen, und Sätze, die eine hohe formale Komplexität aufweisen, jedoch nicht schwer verständlich sind. ■ In der Kommunikations- und Umgangsweise solcher Menschen findet man z. B. Formen der Kenntnisgabe, welche nicht innerhalb der Prinzipiengrenzen vereinbarter Rahmen zu verorten sind. Dieser Satz enthält nur ein Komma. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist die Annahme „Je weniger Kommata ein Satz hat, desto leichter verständlich ist er.“ bzw. - anders ausgedrückt, Sätze mit vielen Kommata seien schwer verständlich, und Sätze mit wenigen bzw. keinen Kommata seien leicht verständlich. Sehen wir uns zwei Beispiele an: ■ Der von dem in dem Bezirk eingesetzten Polizisten als Chevrolet identifizierte und offensichtlich im Ausland gekaufte und an dem Unfall beteiligte rote Wagen verließ nach sofort protokollierter Aussage aller trotz ihres Schocks noch vernehmungsfähigen Zeugen den wegen ausgelaufenen Benzins weiterhin gefährlichen Unfallort. Dieser Satz enthält kein einziges Komma. Ist er leicht verständlich? Zum Vergleich ein (der) Satz mit vielen Kommata: ■ Der von dem Polizisten, der in dem Bezirk eingesetzt war, als Chevrolet identifizierte rote Wagen, der offensichtlich im Ausland gekauft worden und an dem Unfall beteiligt war, verließ nach Aussage aller Zeugen, die noch vernehmungsfähig waren, obwohl sie einen Schock erlitten hatten, und deren Aussage sofort protokolliert wurde, den Unfallort, der weiterhin gefährlich war, weil Benzin ausgelaufen war. Beide Sätze sind schwer verständlich, nicht wahr? Es ist nicht so, dass der erste Satz (ganz ohne Kommata! ) leichter verständlich wäre als der zweite. Es ist nicht so simpel, die Verständlichkeit eines Satzes an der Anzahl der Kommata festzumachen oder auch die Anzahl der Kommata mit dem Grad der Verschachtelung zu verbinden. Es kann nicht einfach gesagt werden, stark verschachtelte Sätze enthielten viele Kommata. Es gibt noch eine andere Art der Verschachtelung, die Sätze schwer verständlich macht: die Linksattribution. 5.1 Lesbarkeit und Verständlichkeit 273 <?page no="275"?> 5.2 Übertriebene Linksattribution (statt Relativsatz) Typisch für Fachsprachen, speziell für die Rechtssprache, sind lange und/ oder komplexe Linksattributionen. Verfasser: innen, die viele von Jurist: innen verfasste Texte gelesen haben und bemüht sind, sich wie ein/ e Jurist: in auszudrücken, neigen zu solchen Konstruk‐ tionen (→-Kap. 3.10). Dies kann zu einer Verschachtelung nicht-hypotaktischer Art führen, die ich „Linksattri‐ butions-Verschachtelung ohne Kommata“ nenne und die zu sehr langen Sätzen (ganz ohne Kommata) führen. Es geht hier nicht um Konstruktionen mit diversen unter- und überge‐ ordneten Matrix- und Nebensätzen, sondern um eine andere Art der Verschachtelung - mit Partizipialkonstruktionen, aus denen Linksattributionen bestehen. ■ Für die von dem dem neuen Anwalt nicht bekannten Subunternehmer in Auftrag gegebenen Prüfgeräte ist die Messgenauigkeit nachzuweisen. So lautet der Satz mit - für die Umgangssprache typischen - Relativsätzen (→ Kap. 8.13.8): ■ Für die Prüfgeräte, die von dem Subunternehmer, der dem neuen Anwalt nicht bekannt ist, in Auftrag gegeben wurden, ist die Messgenauigkeit nachzuweisen. ----------------------- ■ Sie mussten wegen der sich aus den Folgen der zuvor genannten erfolgten Interaktion ergebenden und relevant gewordenen Verbindlichkeiten schnell handeln. ■ Sie mussten wegen der sich aus den Folgen der zuvor genannten erfolgten Interaktion ergebenden und relevant gewordenen Verbindlichkeiten schnell handeln. Es ist, wie man sieht, nicht unbedingt so, dass Sätze mit Relativsätzen viel leichter verständlich wären. ■ Die Unterseite der Hauptwebsite, wo die Töpferwaren-Produkte, die wir verkaufen wollen, beworben werden, liegt bei HotPots. Die Struktur dieses Satzes ist eine relativ komplexe Hypotaxe, die so aussieht (→-Kap. 4.2 zur Treppenstufen-Darstellung): Die Fortsetzung des Hauptsatzes (liegt bei HotPots) kommt spät. Besser wären zwei Sätze, z. B. Die Unterseite der Hauptwebsite liegt bei HotPots. Auf der Unterseite werden die Töpferware-Produkte beworben, die wir verkaufen wollen. Vergleich: 274 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="276"?> Satz mit Linksattribution(en) Satz mit Relativsatz(-sätzen) Für die von dem dem neuen Anwalt nicht bekannten Subunternehmer in Auftrag gegebenen Prüfgeräte ist die Messgenauig‐ keit nachzuweisen. Für die Prüfgeräte, die von dem Subunternehmer, der dem neuen Anwalt nicht bekannt gewesen ist, in Auftrag gegeben worden sind, ist die Messgenau‐ igkeit nachzuweisen. Das uns von Ihnen zugewiesene Budget reicht nicht. Das Budget, das Sie uns zugewiesen haben, reicht nicht. Vor vor dem drohenden Insolvenzverfahren durchgeführten etwaigen Rettungsmaßnah‐ men der Unternehmensberatung wird drin‐ gend gewarnt. Vor etwaigen Rettungsmaßnahmen der Unternehmensberatung, die vor dem drohenden Insolvenzverfahren durchgeführt werden, wird drin‐ gend gewarnt. Tab. 47: Satzbeispiele für Linksattribution und Relativsatz Die längeren Sätze unter den obigen Beispielen sind sowohl mit Linksattribution als auch mit Relativsätzen sehr schwer verständlich. Diese Beispiele sollen nur zeigen, wie schwer verständlich Sätze trotz korrekter Morphosyntax sein können. Wer Sätze mit derart kom‐ plexen Linksattributionen und/ oder Relativsätzen konstruiert, macht sich unterlassener Verständlichkeitssicherung schuldig, bzw. hier kann es sich evtl. sogar um Vorsatz handeln (also bewusst schwer verständlicher Formulierung). 5.3 „Holzweg“-Konstruktion Eine sog. Holzwegkonstruktion ist in der Linguistik ein Satz mit einer so unüblichen Abfolge von Satzteilen, dass der/ die Leser: in (oder Hörer: in) den Elementen zunächst leicht eine falsche Funktion bzw. Rolle im Satz bzw. einen falschen Bezug zuweist und deshalb die vom Verfasser intendierte Bedeutung zunächst nicht versteht. Der/ die Leser: in bemerkt seine/ ihre Falsch-Interpretation mitten im Satz oder - schlimmstenfalls - erst am Ende des Satzes und muss in Gedanken zurück an den Anfang springen und den Elementen die anderen - gemäß der deutschen Syntax auch möglichen - Rollen zuweisen, um den Gesamtsatz zu verstehen. Oft geht es um die Rolle von Objekt und Subjekt. Bei dem bereits erwähnten Beispielsatz zum Thema der unklaren Rolle eines Satzteils ist die „Verdrehung“ von Subjekt und Objekt nicht sehr hinderlich für das Verständnis, wenn der Satz - wie hier - sehr kurz ist, da der/ die Leser: in sich an den Anfang des Satzes erinnert: ■ Meine Mutter hat eine Wespe gestochen. Warum muss man sich an den Anfang des Satzes erinnern? Weil es eher üblich ist, dass zuerst das Subjekt bzw. das Agens genannt wird und danach das Objekt. Wenn das „verdreht“ wird, muss der/ die Leser: in „umdenken“, und das kostet (Lese-)Zeit. Der folgende Satz hingegen ist ziemlich lang. Er ist aus einem anderen Grund eine Holzwegkonstruktion. Er enthält eine Satzklammer: 5.3 „Holzweg“-Konstruktion 275 <?page no="277"?> 92 Abfolge der Nennung von bereits Erwähntem (Thema) und zusätzlich Wichtigem (Rhema) im Satz (bzw. Text); von altgr. rhēma, „Mitteilung“, „Äußerung“, „Gesagtes“; →-Kap. 3.18). ■ Der Club hat nur zwei Mitglieder, und zwar den bekannten Architekten Henner Pannewitz, der sich sehr um den Denkmalschutz verdient gemacht hatte, und den Geographen Hermann Lobersdorff, dessen Werk über Alexander von Humboldt später sehr bekannt wurde, verloren. Man vermutet zunächst, das Verb hat wäre ein Vollverb (im Sinne von besitzen). Erst am Ende erfährt man, dass es ein (temporales) Hilfsverb ist und dass der Club nicht insgesamt nur zwei Mitglieder hat, sondern dass er zwei Mitglieder verloren hat. Ein Holzweg ist ein Weg, der zur Holzgewinnung in den Wald geschlagen wurde und abrupt endet. Um wieder auf einen Weg zu kommen, der aus dem Wald hinausführt, muss man ihn ganz zurückgehen. Oft ist eine Holzwegkonstruktion dadurch bedingt, dass ein/ e Textverfasser: in einen Text abwechslungsreich gestalten möchte und/ oder weil die Thema-Rhema-Abfolge 92 durch den/ die Verfasser: in nachträglich geändert wurde. Auf Englisch nennt man solche Konstruktionen „garden-path construction“. Regel für die Verständlichkeit: Du sollst Deine Leser: innen nicht in eine falsche Denkrichtung schicken! Weitere Beispiele: ■ Dieser Mann ist Rainer von Holst, der vorgab, hohe Renditen zu erwirtschaften und investierte Beträge zu vervielfachen, auf den Leim gegangen. Man denkt zunächst, im weiteren Verlauf des Satzes erführe man noch mehr darüber, was Herr von Holst getan hat (er hat etwas vorgegeben und …). Man denkt zunächst, das Verb ist wäre ein Kopula-Vollverb und Rainer von Holst ein Prädikativ; Rainer von Holst ist aber, wie sich erst sehr spät im Satz herausstellt, ein Dativobjekt aus dem Prädikat jmdm. auf den Leim gehen, und ist ist ein (temporales) Hilfsverb des Prädikats ist gegangen im Tempus Perfekt. ■ Die Rechte für Geimpfte, die lange gewartet haben und sich mühsam immer wieder mit der On‐ line-Terminvergabe herumgeplagt haben, dann abgesagte Termine bzw. Terminverschiebungen hinnehmen mussten, sehen die Nicht-Geimpften als ungerecht an. Erst am Ende - genau beim viert-letzten Wort (Nicht-Geimpften) - stellt sich heraus, dass das das Subjekt dieses Satzes ist, dass also das Subjekt erst so spät genannt wird und dass es sich bei dem ersten Satzteil (die Rechte) um ein Akkusativobjekt handelt. ■ Jürgen Weber kennt das Ende der 70-er Jahre in Kiel gebaute U-Boot so gut wie wenige andere. Man denkt zunächst, Herr Weber kenne die späten 70er Jahre (in Kiel), aber dann kommt das Partizip (gebaute), und man merkt, dass es sich bei Ende der 70-er Jahre in Kiel gebaute um eine Linksattribution zu dem U-Boot handelt: ■ Jürgen Weber kennt das Ende der 70-er Jahre in Kiel gebaute U-Boot so gut wie wenige andere. 276 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="278"?> Das folgende Phänomen gibt es - bei unterlassener Verständlichkeitssicherung - auch bei der Verneinung wegen der Satzklammer oft. ■ Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Der Satz beginnt zwar mit einem klar erkennbaren Objekt (hier einem Dativobjekt), bei der Abfolge der Wortarten Substantiv-Verb-Personalpronomen-Substantiv (dann hier noch ein Präfix, weil das Verb ein trennbares Verb ist) vermutet der/ die Leser: in jedoch zunächst automatisch, dass das erste Substantiv das Subjekt und das spätere Substantiv ein Objekt ist (Argumente ziehe ich Bekenntnissen vor.). Die Rollen sind hier aber vertauscht, was zwar zulässig ist, es macht den Satz jedoch schwer verständlich, weil der/ die Leser: in am Ende des Satzes das Ganze noch einmal von Anfang an neu interpretieren muss. ■ Sie waren diejenigen, die die Krankenhauskeime fast das Leben gekostet hätten. Wer hat wen das Leben gekostet? Vermutlich handelt es sich um Menschen (sie), die wegen der Krankenhauskeime beinahe gestorben wären. Wesentlich leichter verständlich wäre eine Ausdrucksweise mit dem Subjekt am Anfang wie Die Krankenhauskeime hätten sie fast das Leben gekostet. oder Sie waren diejenigen, die wegen der Krankenhauskeime fast gestorben wären. ■ Die Namen der geschützten Personen enthält unsere Liste selbstverständlich nicht. Man erwartet, dass der Satz mit dem Subjekt beginnt, dass also Die Namen der geschützten Personen das Subjekt dieses Satzes wäre. Später stellt man fest, dass es sich um ein (Akkusativ-)Objekt zum Verb (enthält) handelt. ■ Unternehmen, welche nicht bereit sind, sich an dem Boykott zu beteiligen, und zwar sowohl Personenals auch Kapitalgesellschaften, dürfen auf keinen Fall Informationen über die in dem genannten vertraulichen Bericht aufgeführten Maßnahmen erhalten. Man nimmt zunächst an, das Unternehmen, das erste Element im Satz, sei ein Aktant. Erst am Ende, und zwar erst beim allerletzten Wort (erhalten) erfährt man, dass die Unternehmen nichts tun, sondern etwas (nicht) erhalten (dürfen). ■ Tim erwartet nun ein Verfahren wegen Trunkenheit im Verkehr. Man denkt zunächst leicht, Tim wäre das Subjekt, er ist aber das Objekt. Gemeint ist Den Mann erwartet nun ein Verfahren […]., nicht Er wartet nun auf ein Verfahren […]. oder gar, er erwarte das Verfahren wie ein bestelltes Paket, auf dessen Lieferung er sich freut. ■ Außerdem schien mir der neue Nachbar ein paar Rosenstecklinge aus seinem Garten entfernt zu haben. Man denkt, der Satz ginge vielleicht so weiter: Außerdem schien mir der neue Nachbar ein paar Rosenstecklinge aus seinem Garten abgeben zu wollen. Man erwartet (nach „Garten“) ein anderes Verb, und zwar eins, das eine Tätigkeit ausdrückt und transitiv ist, und dann wäre mir ein indirektes Objekt, also eine Art Empfänger. Der/ die Hörer: in/ Leser: in muss das sehr früh erwähnte mir interpretieren, und er/ sie interpretiert es eher als indirektes 5.3 „Holzweg“-Konstruktion 277 <?page no="279"?> Objekt. Am Ende des Satzes wird erst klar, dass es sich bei mir um einen freien Dativ handelt (Er/ Es scheint mir = Ich habe den Eindruck). ■ Der Genuss von Alkohol und Drogen und Müllablagerungen sind hier verboten. Sicherlich sind verboten a) der Genuss von Alkohol und Drogen und b) das Ablagern von Müll. Dieser etwas ungeschickt formulierte Satz erlaubt zunächst auch die Interpretation Genuss von Müllablagerungen, allerdings würde in dem Fall das Verb „ist“ lauten, denn es würde sich auf den Genuss, ein Singular-Substantiv, beziehen, aber wie das Verb lautet, erfährt der/ die Leser: in bzw. Hörer: in erst danach. Dieser Satz ist auch ein gutes Beispiel für engen Skopus. Die Präposition von bezieht sich nur auf Alkohol und Drogen und nicht auch auf Müllablagerungen (→-Kap. 7.3). ■ Die Polizei konnte die verletzte Frau bei dem Verkehrsunfall zunächst nicht erreichen, denn Passanten hatten das Martinshorn nicht gehört und standen im Weg. Es besteht zunächst die (Verständlichkeits-)Gefahr, dass ein/ eine Leser: in zunächst denkt, es handele sich um ein Erreichen per Telefon o. Ä. Es ist aber mit dem Verb erreichen ein physisches Erreichen, also ein Nahe-Heranfahren mit dem Wagen, gemeint. Erst wenn am Ende des Satzes gesagt wird, dass der Weg zu der verunglückten Frau versperrt war, wird das klar. ■ Laut „Welt“ hatte der Berliner CDU-Mann Laschet Ende März eine E-Mail mit Hinweis auf die Beschaffungsprobleme geschrieben. An wen wurde die E-Mail geschrieben? Wird der Empfänger nicht genannt? Oder wurde sie an Laschet geschrieben? Vermutlich ist Armin Laschet gemeint, der zwar auch in der CDU ist, jedoch kein Berliner (Er war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Das bedeutet, dass der Berliner CDU-Mann jemand anderes ist, dass das Subjekt kürzer ist, als man zunächst gedacht hatte (nur der Berliner CDU-Mann), und dass Laschet (Dativ-)Objekt sein muss (der Empfänger der E-Mail). ■ 1979 lernte der Erfurter Peter Frey und dessen Frau bei deren DDR-Aufenthalt kennen. Zunächst denkt man, es handele sich um einen Mann aus Erfurt namens Peter Frey, dann jedoch wird dessen Frau erwähnt, und nun bemerkt man die mangelnde Kongruenz mit dem Prädikat, das im Singular steht, und versteht nun erst, dass der Erfurter das Subjekt sein muss (und nicht lautet der Erfurter Peter Frey) und Peter Frey und dessen Frau ein (Akkusativ-)Objekt, was sich auch an dem Possessivpronomen deren mit anaphorischem Bezug auf die letztgenannten zwei Personen zeigt. ■ Der Text, den der Engel Moroni Josef zum Übersetzen gegeben haben soll, war wohl das Manuskript des „Buches Mormon“ auf einer Goldtafel bzw. auf Goldplatten. Die Wortfolge Engel Moroni Josef bereitet insofern Schwierigkeiten, als der/ die Leser: in erkennen muss, dass es sich um einen Engel namens Moroni handelt, der einem Mann namens Josef etwas gegeben haben soll. Es ist nicht so, dass der Engel Moroni Josef heißt oder dass ein Engel einem Mann namens Moroni Josef etwas gegeben hätte. 278 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="280"?> Für Fortgeschrittene Man sieht auch Sätze, die zeigen, dass jemand, der besonders gebildet wirken und/ oder - z. B. von einer Behörde - ernst genommen werden möchte, meint, ein bestimmtes Register bedienen und eine Art von Syntax verwenden zu müssen, die extrem verschachtelt ist. Dann kann es vorkommen, dass jemand es mit dem Verschachteln übertreibt und schreibt: ■ Die Beschuldigungen des Eigentümers wegen des angeblich starken Schimmelbefalls sind inakzeptabel, denn er arbeitet mit eine tatsächlich nicht vorhandene Genauigkeit vorspiegelnden Prozentangaben. Dieser Satz ist zwar nach den deutschen Syntaxregeln korrekt konstruiert, ist jedoch trotzdem inakzeptabel, weil er 1. dem/ der Leser: in zu viel Gedächtnisleistung abverlangt und 2. eine Holzwegkonstruktion enthält. Das Grundgerüst des Denn-Satzes ist […] er arbeitet mit […] Prozentangaben. Der Satz enthält zwei kausale Adverbiale (eines in Form einer Präpositionalphrase und eines in Form eines Nebensatzes), und innerhalb des Nebensatzes gibt es ineinander verschachtelte Linksattributionen, also eine Linksattribution innerhalb einer anderen Linksattribution (sog. komplexe Linksattribution), und zwar erstens: Genauigkeit vorspiegelnden zu Prozentangaben ([…] er arbeitet mit eine tatsächlich nicht vorhandene Genauigkeit vorspiegelnden Prozent‐ angaben.) in dem nun erweiterten Gerüst […] er arbeitet mit […] Genauigkeit vorspiegelnden Prozentangaben. und zweitens: tatsächlich nicht vorhandene zu Genauigkeit. ([…] er arbeitet mit eine tatsächlich nicht vorhandene Genauigkeit vorspiegelnden Prozent‐ angaben. Die Holzwegkonstruktion beginnt mit der Wortfolge mit eine. Hinter der Präposition mit erwartet der/ die Leser: in einen Dativ. Der dazugehörige Dativ Prozentangaben kommt jedoch erst wesentlich später. Noch einmal genauer: Es sind Prozentangaben, die Genauigkeit vorspiegeln, und die Genauigkeit ist nicht vorhanden. Es ist noch schlimmer: Wenn der/ die Leser: in sieht mit eine tatsächlich nicht vorhandene Genauigkeit und vermutet, dass es sich bei eine um einen Tippfehler handelt, nun für sich korrigiert und mit eine in mit einer abändert, wird er/ sie noch eine weitere Korrektur vornehmen und (durch Anhängen des n an vorhandene) aus vorhandene vorhandenen machen (also tatsächlich nicht vorhandenen), damit die Linksattribution zum vermeintli‐ chen Bezugswort Genauigkeit passt, das vermeintlich im Dativ steht. Wenn er/ sie dann weiterliest, bemerkt er/ sie, dass die Genauigkeit nicht im Dativ steht, weil sie nicht Teil der Präpositionalphrase ist, die mit der Präposition mit beginnt, sondern im Akkusativ, weil sie ein Objekt des Verbs vorspiegeln ist (Die Prozentangaben spiegeln Genauigkeit vor). Jetzt muss der/ die Leser: in den Satz noch einmal neu betrachten und neu verstehen, und er/ sie wird sich vermutlich fragen: Warum wurde dieser Satz nicht mit einem Relativsatz konstruiert, also 5.3 „Holzweg“-Konstruktion 279 <?page no="281"?> ■ […] er arbeitet mit Prozentangaben, die eine tatsächlich nicht vorhandene Genauigkeit vorspie‐ geln. statt […] er arbeitet mit eine tatsächlich nicht vorhandene Genauigkeit vorspiegelnden Prozent‐ angaben. Solche Sätze kommen bei Verfasser: innen, die auf ihre (tatsächlich vorhandenen) Fähigkei‐ ten im Satzbau stolz sind, häufig vor. Viele Leser: innen machen sich jedoch bei einem Satz wie dem obigen nicht die Mühe, ihn zu sezieren. Wenn es z. B. beim Sprachprofiling um die sprachlichen Kompetenzen und um psychologische Aspekte geht, sind solche Konstruktionen sehr interessant. 5.4 Falsche Wort-Sparsamkeit Manchmal wird die Verständlichkeit eines Satzes stark verbessert, wenn ein Wort wieder‐ holt wird. ■ Es war festzustellen, ob das Treppenhaus des Mehrfamilienhauses tatsächlich Materialien von nur einem der beiden anderen Lieferanten oder beiden enthält. Der zweite Teil des Satzes ist besser verständlich, wenn der/ die Verfasser: in noch einmal ein kurzes von spendiert: ■ Es war festzustellen, ob das Treppenhaus des Mehrfamilienhauses tatsächlich Materialien von nur einem der beiden anderen Lieferanten oder von beiden enthält. ■ Sei nicht so naiv wie die anderen und bring dich mit in Gefahr. Hier liegt eine sog. Skopus-Frage vor (→ Kap. 7.3.3): Wie weit reicht die Bedeutung der Negationspartikel nicht (und des Adjektivs naiv)? Ist das Sich-In-Gefahr-Bringen eingeschlossen? Ja, sicherlich, aber besser wäre die Wiederholung des nicht, also ■ Sei nicht so naiv wie die anderen und bring dich nicht mit in Gefahr. Denn: Was den Satz schwer verständlich macht, ist die große Dependenzdistanz (DD) zwischen dem nicht am Satzanfang und der Imperativ-Wortfolge bring dich mit in Gefahr, wobei die Dependenz, also sofern ein weiter Skopus anzunehmen ist. Die Entscheidung, ob der Skopus eng oder weit ist, die rein semantischer Art ist, ist nicht ganz leicht, denn es ist auch ein solcher Satz mit engem Skopus denkbar, bei dem sich die Verneinung nur auf das erste Verb (sei) bezieht: ■ Sei nicht so naiv wie die anderen und bring dich in Sicherheit. Der folgende Satz führt den/ die Hörer: in/ Leser: in zunächst in die Irre bzw. ist schwer verständlich: ■ Herr Siel sagte, er habe sehr viel gelernt durch die Gespräche mit den Psychologen und seinen Bewährungshelfer dann auch besser verstanden. Die Kodierung für diesen Satz wäre S-P-O. Der Satz bzw. der Nebensatz enthält verschiedene (belebte) Objekte, die ihren Kasus aus verschiedenen Gründen haben. Die Psychologen 280 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="282"?> stehen wegen der Präposition mit im Dativ. Darauf folgt gleich die Nennung einer weiteren Person, die nicht im Nominativ steht (seinem Bewährungshelfer), also nicht das Subjekt eines etwaigen neuen Hauptsatzes sein kann. Der/ die Leser: in denkt leicht, der Bewährungshelfer wäre ebenfalls von der Präposition mit abhängig, müsste dann - im Dativ - aber seinem Bewährungshelfer heißen. Der/ die Hörer: in/ Leser: in hört bzw. erfährt erst ganz am Ende des Satzes, dass der Bewährungshelfer ein Objekt zu einem Verb (verstehen) ist, das erst danach „geliefert“ wird. Der Satz ist wesentlich leichter zu verstehen, wenn der/ die Verfasser: in ein weiteres habe (oder außerdem ein weiteres er) spendiert und das ausgeklammerte Adverbial (die Präpositionalphrase durch die Gespräche mit den Psychologen) weiter vorne nennt: ■ Herr Siel sagte, er habe durch die Gespräche mit den Psychologen sehr viel gelernt und (er) habe seinen Bewährungshelfer dann auch besser verstanden. Am Rande bemerkt: Noch besser verständlich würde der Satz, wenn der/ die Verfasser: in ein Komma vor das und vor dem dann folgenden neuen Hauptsatz (mit einem außer‐ dem zusätzlich spendierten er) setzte (→ Kap. 5.8) Das bewirkt allerdings eine kleine Bedeutungsverschiebung, da der neue Hauptsatz nicht mehr von der Aussage des ersten Hauptsatzes (Herr Siel sagte) abhängig wäre. Die Grundstruktur des gesamten Satzes würde dann lauten: Herr Siel sagte […], und er habe […] besser verstanden: ■ Herr Siel sagte, er habe durch das Gespräch mit den Psychologen sehr viel gelernt, und er habe seinen Bewährungshelfer dann auch besser verstanden. Die Kodierung für diesen Satz wäre S-P-O UND S-P 1temp+mod -O-A-A-P 2 Es sei hier noch einmal betont: In diesem Buch geht es nicht darum, zu zeigen, wie sich jemand leichter verständlich ausdrücken kann oder sollte. Es handelt sich nicht um einen Ratgeber für verständlichere Ausdrucksweisen. Es geht darum, für die Zwecke der forensischen Linguistik die vielen Varianten der Schwer-Verständlichkeit aufzuzeigen. Beim folgenden Satz würde ein kleines zusätzliches mit die Verständlichkeit stark verbes‐ sern. ■ Verschiedene Fotos von den gestohlenen Werkzeugen wurden mit Angaben zu dem ungefähren Kaufdatum, den jeweiligen damaligen Preisen und auch Details wie Größe und Gewicht und durch Skizzen verdeutlichter Beschreibung von Gebrauchsspuren an die Polizeidienststelle geschickt. ■ Verschiedene Fotos […] wurden mit Angaben zu […] und mit […] Beschreibung von Gebrauchs‐ spuren an die Polizeidienststelle geschickt. Wenn der/ die Hörer: in bzw. Leser: in bei den detaillierten Angaben angekommen ist, weiß er/ sie evtl. nicht mehr, dass dafür die Präposition mit gilt und durch Skizzen verdeutlichter Beschreibung deshalb im Dativ steht und nicht eine Fortsetzung der Details ist, was bedeuten würde Details wie […] und durch Skizzen verdeutlichte Beschreibung […]. Der gesamte Satz kann insgesamt gekürzt werden, indem alle Angaben hintereinander aufgelistet werden: 5.4 Falsche Wort-Sparsamkeit 281 <?page no="283"?> ■ Verschiedene Fotos von den gestohlenen Werkzeugen wurden mit Angaben zu dem ungefähren Kaufdatum, den jeweiligen damaligen Preisen, Größe, Gewicht, Gebrauchsspuren (mit Skizzen) an die Polizeidienststelle geschickt. ■ Sollen die von Ihnen benötigten Materialien von den für den Karosserie-Schutz vorgesehenen weggenommen werden? ■ Sollen die von Ihnen benötigten Materialien von den für den Karosserie-Schutz vorgesehenen Materialien weggenommen werden? Der erste Satz ist extrem schwer zu verstehen. Beim zweiten Satz ist die Verständlichkeit durch das Wiederholen des Bezugssubstantivs Materialien etwas besser. Ähnlich ist es bei dem folgenden Satz. Ein zusätzliches dass verbessert die Lesbarkeit und Verständlichkeit: ■ Mir ist bekannt, dass die Programmkommission meinen Beitrag zeitlich entsprechend dem Gesamtinteresse der Konferenz in das Konferenzprogramm einplanen wird und besondere Terminierungswünsche meinerseits nicht berücksichtigt werden können. ■ Mir ist bekannt, dass die Programmkommission meinen Beitrag zeitlich entsprechend dem Gesamtinteresse der Konferenz in das Konferenzprogramm einplanen wird und dass besondere Terminierungswünsche meinerseits nicht berücksichtigt werden können. ----------------------- ■ Grundsätzlich sind Euphemismen nicht an die Gestalt des einzelnen Lexems gebunden, sondern haben ihre euphemistische Wirkung auch bei Wortsequenzen. Das eingesparte sie macht den Satz schwer verständlich. Einfacher wäre: ■ Grundsätzlich sind Euphemismen nicht an die Gestalt des einzelnen Lexems gebunden, sondern sie haben ihre euphemistische Wirkung auch bei Wortsequenzen. 5.5 Implizite Korrelate Ein Korrelat ist ein Wort, das später folgenden Inhalt ankündigt. Oft steht danach ein Nebensatz, z. B. Es ist schade, dass es zu Ende ist. Das Korrelat ist - wie in den folgenden Beispielsätzen - manchmal nur „gedacht“; dann handelt es sich um ein sog. „implizites Korrelat“. ■ Ich bin bereit (dazu), Euch bei der Suche zu helfen. ■ Er wurde (dazu) aufgefordert, seinen Ausweis zu zeigen. ■ Wir fanden (es) gut, dass er das bezahlt hat. Ein kurzer Ausflug in die Didaktik: Wenn ein Satz einen Kommafehler des Typs „fehlendes Komma vor Nebensatz“ aufweist und wenn außerdem das Korrelat, von dem der Nebensatz abhängt, implizit ist, fällt es angehenden Linguisten oft schwer, die Satzteile zu identifizie‐ ren. 282 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="284"?> ■ Wir sind entsetzt was bei unserer Genossenschaft gerade oder seit längerem geschieht. Was ist „was […] geschieht“? Es ist ein Inhaltssatz zu dem impliziten Korrelat darüber. Leichter wäre Wir sind entsetzt darüber, was […]. ■ Wir sind entsetzt [[[KommaFehlt] was bei unserer Genossenschaft gerade oder seit längerem geschieht. Die Satzstruktur ist hier: S-P (sein) -Pk-O Pkompl 5.6 Ungewöhnlicher Satzbau, unüblicher Satzanfang ■ Es darf nicht sein, dass Pflegeeinrichtungen, nur weil kein gutes Konzept vorliegt, Verwandten‐ besuche verbieten. Die Position des Kausalsatzes führt dazu, dass der Gesamt-Satz schwer verständlich ist. Er wäre wesentlich leichter verständlich, wenn die Abfolge Subjekt-Objekt-Prädikat innerhalb des Dass-Satzes (dass Einrichtungen Verwandtenbesuche verbieten, Inhaltssatz) nicht unterbrochen wird und die Begründung für das Verbieten, um das es in diesem Satz geht, direkt bei dem „Verbieten“ steht; also Es darf nicht sein, dass Einrichtungen Verwandtenbesuche verbieten, nur weil kein gutes Konzept vorliegt. ■ Ich kenne die Organisation schon länger als Herr Meyer. Man erwartet, dass Herr Meyer als Fortsetzung nach der Organisation ebenfalls ein Akkusativobjekt ist. Da er jedoch im Nominativ steht, wird dem/ der Leser: in klar, dass er ein weiteres Subjekt ist und dass der zweite Teil des Satzes elliptisch ist und bedeutet Ich kenne die Organisation schon länger, als Herr Meyer sie kennt. ■ Einher mit der grundlegenden Finanzreform müssen umfassende Streichungen steuerlicher Ausnahmetatbestände gehen. Unüblicher Satzanfang; unübliches Nach-Vorne-Holen (Topikalisierung, Platzierung im Satz-Vorfeld) des Prädikat-Elements einher, das zum Verb „gehen“ gehört und hier er‐ scheint, als sei es ein eigenständiges Adverb. ■ Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle falsch schwört, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. Dieser Satz (§ 154 StGB) ist typisch für das Strafgesetzbuch. Es wäre höchst ungewöhnlich, einen Satz mit einem solch langen Subjektsatz am Satzanfang in einem Text - inkriminier‐ ten oder Vergleichs-Text - zu finden. Falls das doch der Fall ist, liegt es nahe, dass der/ die Verfasser: in Gesetzestexte bzw. Schriftsätze mit zitierten Gesetzen gelesen hat. Was Sätze auch schwer lesbar und schwer verständlich macht, sind weit auseinanderste‐ hende Bezüge: 5.6 Ungewöhnlicher Satzbau, unüblicher Satzanfang 283 <?page no="285"?> ■ Die Zustimmung zu einer anderweitigen entgeltlichen Tätigkeit ist unverzüglich zu erteilen, wenn die Arbeitnehmerin der Arbeitgeberin in Textform die beabsichtigte Tätigkeit anzeigt (Art, Ort und Dauer) und ihrer Aufnahme keine sachlichen Gründe entgegenstehen. Der Bezug von ihrer (in ihrer Aufnahme) ist schwer zu verstehen, weil der Satz auch andere feminine Wörter enthält, die auf den ersten Blick rein grammatisch als Bezug in Frage kommen (die Zustimmung, die Arbeitnehmerin, die Arbeitgeberin). ■ Bitte beachten Sie dabei, dass ohne Bewilligung der Förderung der Differenzbetrag zur vollen Teilnahmegebühr Ihnen nachträglich in Rechnung gestellt wird. Das Ihnen, also das indirekte Objekt, steht ungewöhnlich weit hinten bzw. wird ungewöhn‐ lich spät genannt. Das macht den Satz schwer verständlich. Mit einem solchen Satzbau macht sich ein/ e Verfasser: in der unterlassenen Verständ‐ lichkeitssicherung schuldig. 5.7 Ein Komma, das die Bedeutung verändert Ein fehlendes Komma kann die Bedeutung eines Satzes verändern: ■ Der Film „Das Versprechen“ handelt von Jens Söring, dem Sohn eines deutschen Diplomaten und Elizabeth Roxanne Haysom, für die er einen brutalen Mord begangen haben soll. Der/ die Leser: in denkt leicht (falsch), die Eltern von Jens Söring seien ein deutscher Diplomat und dessen Ehefrau namens Elizabeth Roxanne Haysom. Mit einem Komma am Ende der Apposition (dem Sohn eines deutschen Diplomaten), also Der Film […] Söring, dem Sohn eines deutschen Diplomaten, und Elizabeth Roxanne Haysom, für die er einen brutalen Mord begangen haben soll. gibt es (in Form der Apposition) nur Zusatzinformation über den Vater (und nicht über die Mutter von Jens Söring), und der Film handelt nun von zwei Personen. Am Rande: Auch bei dem Personalpronomen die ist bei dem Satz mit dem fehlenden Komma unklar, ob es sich um die zuvor genannten zwei Personen, also die Eltern, handelt oder um nur die eine zuvor genannte weibliche Person (die vermeintliche Mutter). In den folgenden Beispielsätzen wird deutlich, wie stark sich die Bedeutung eines Satzes durch ein Komma oder durch die unterschiedliche Platzierung des Kommas ändert: ■ Er wanderte mit den gewonnenen Millionen [[,]] seiner Frau und seinen Kindern nach Australien aus. ■ Der Rechtsanwalt versprach [[,]] dem Vorsitzenden [[,]] einen Brief zu schreiben. ■ Trotz der Warnungen beschloss ich [[,]] mit zwei Freundinnen [[,]] das Risiko einzugehen. ■ Er behauptete [[,]] beim Stammtisch [[,]] reinen Tisch gemacht zu haben. ■ Nun ist es an uns [[,]] beiden [[,]] diesen Wunsch zu erfüllen. ----------------------- ■ Der Eigentümer [[,]] sagt [[,]] der Gutachter [[,]] liegt falsch. ■ Der Eigentümer sagt, der Gutachter liegt falsch. 284 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="286"?> ■ Der Eigentümer, sagt der Gutachter, liegt falsch. ----------------------- ■ Es lohnt sich, nicht mehr zu arbeiten. z. B. mit der Begründung, es sei sinnvoll, mit dem Arbeiten aufzuhören, zu Hause zu bleiben und Arbeitslosengeld zu kassieren. ■ Es lohnt sich nicht, mehr zu arbeiten. z.-B. mit der Begründung, dass Überstunden nicht bezahlt werden. ■ Es lohnt sich nicht mehr, zu arbeiten. z. B. mit der Begründung, das Finanzamt kassiere alles ein bzw. das Arbeitslosengeld sei fast genau so hoch; früher sei das anders gewesen. ■ Frau Hübners Vorgesetzter Thomas Weidner hat das angeordnet. ■ Frau Hübners Vorgesetzter, Thomas Weidner, hat das angeordnet. Im ersten Satz hat Frau Hübner mehrere Vorgesetzte, und einer davon heißt Thomas Weidner. Im zweiten Satz hat sie nur einen (und der heißt Thomas Weidner). Viele Verfasser: innen kennen diese Kommaregel nicht und verstoßen dagegen unwissent‐ lich. Folglich kann bei einer etwaigen Auslegung des Gemeinten in einer Arbeitsanweisung bei einer etwaigen arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung herangezogen werden. 5.7.1 Komma zwischen zwei Adjektiven Den meisten Verfasser: innen ist nicht bewusst, dass das Komma zwischen zwei Adjektiven die Bedeutung des Satzes verändern kann. Dieses Phänomen ist in der forensischen Linguistik besonders wichtig, wenn es um die Auslegung von Gemeintem geht. 1. Er ist ein hohes [[,]] finanzielles Risiko eingegangen. KEIN Komma (Das Risiko ist ja nicht finanziell und auch hoch.) 2. Der Kalender unseres Verlags bietet Ihnen jeden Tag einen nützlichen [[,]] wirtschaftlichen oder juristi‐ schen Tipp. KEIN Komma (Der Tipp ist ja nicht wirtschaftlich/ juristisch und auch nützlich, sondern alle Tipps sind nützlich.) 3. Wir wünschen Ihnen ein erfolgrei‐ ches [[,]] neues Jahr! KEIN Komma (Man wünscht ja nicht ein neues Jahr, sondern nur ein neues Jahr, das erfolgreich ist.) 4. Ich habe gerade andere [[,]] drin‐ gende Aufträge zu erledigen. Es kommt darauf an (wenn dieser Auftrag auch dringend ist: KEIN Komma) 5. Die allgemeine [[,]] wirtschaftliche Lage dieses Landes ist erfreulich. KEIN Komma (Die Lage ist ja nicht wirtschaftlich und auch allge‐ mein.) 5.7 Ein Komma, das die Bedeutung verändert 285 <?page no="287"?> 6. Wir vertreiben herrlich duftende [[,]] reine Badeöle. Komma (Die Badeöle sind duftend und auch rein.) 7. Dieser Preis gilt nicht, wenn zahl‐ reiche [[,]] zeitaufwändige Rückfra‐ gen notwendig werden. Es kommt darauf an (wenn der Preis dann nicht gilt, wenn die Rückfragen zahlreich UND zeitaufwändig sind, was wahrschein‐ lich gemeint ist: KEIN Komma; wenn der Preis dann nicht gilt, wenn die Rückfragen zahlreich ODER zeitaufwändig sind: Komma) 8. In den letzten [[,]] großen Ferien waren wir an der Ostsee. KEIN Komma (Die Ferien sind ja nicht groß und auch die letzten.) 9. Dies ist die zweite [[,]] überarbei‐ tete Auflage. Komma (Wenn kein Komma stünde, würde das implizieren, dass es auch eine erste überarbeitete Auflage gäbe. Die erste Auflage ist aber nie überarbeitet. Hier geht es um eine Auflage, die überarbeitet wurde und die zweite ist.) 10. Er hat Sorge, dass in den Seminar‐ unterlagen, die ihm versehentlich nicht geschickt wurden, noch etwas anderes [[,]] Wichtiges steht. Es kommt darauf an (wenn es NUR um andere Inhalte geht, die wichtig sind, was wahrscheinlich gemeint ist: KEIN Komma; wenn es um Inhalte geht, die anders UND wichtig sind: Komma) 11. Schon bei einer ersten [[,]] unge‐ nauen Untersuchung fällt auf, dass Asservate fehlen. Wenn hier kein Komma steht, wird impliziert, dass es auch eine zweite ungenaue Untersuchung gibt, was unwahrscheinlich ist. Tab. 48: Komma zwischen zwei Adjektiven (13 Beispiele) Komma zwischen zwei Adjektiven Die Regel lautet: Wenn man an der Komma-Stelle „und außerdem noch“ denken kann, dann ist das Komma zu setzen. Andersherum formuliert: Wenn man NICHT „und außerdem noch“ anstelle des Kommas setzen/ denken kann, dann ist das Komma NICHT zu setzen. Merkhilfe: und, komma her! Trick 1: Drehen Sie die beiden Adjektive um (z. B. Wir wünschen Ihnen ein neues, erfolgreiches Jahr! ) und sehen Sie, ob der Satz dann noch sinnvoll ist. → Wenn man sie NICHT umdrehen kann, KEIN Komma! Trick 2: Lassen Sie das erste Adjektiv weg (z. B. Wir wünschen Ihnen ein neues Jahr! ) und sehen Sie, ob der Satz dann noch sinnvoll ist. → Wenn man es NICHT weglassen kann, KEIN Komma! Für Fortgeschrittene Die Frage bzgl. des Kommas zwischen zwei Adjektiven ist besonders dann wichtig, wenn es in der forensischen Linguistik um die Auslegung der Bedeutung von Bedingungen geht. ■ Mehrere [[,]] nachweislich vom Verstorbenen stammende Abschiedsbriefe wurden als Beweise vorgelegt. 286 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="288"?> Hier darf kein Komma stehen, denn die Aussage bedeutet doch sicherlich, dass die mehreren Abschiedsbriefe alle nachweislich vom Verstorbenen stammten. Es waren nicht a) mehrere Abschiedsbriefe jeglicher Art und b) außerdem noch Abschiedsbriefe, die vom Verstorbenen stammten. Dieser Fehler, d. h. ein hier gesetztes Komma, ist in vergleichbaren Fällen häufig zu beobachten, weil die auf mehrere folgende Linksattribution (Partizipialkonstruktion mit enthaltener Präpositionalphrase nachweislich vom Verstorbenen stammende) nicht als Attribut zum Bezugssubstantiv Abschiedsbriefe erkannt wird, da sie relativ lang ist. Dieser Satz ist auch ein Beispiel für die häufig zu beobachtende falsche Annahme von Verfasser: innen, in einem Fall wie diesem sei das zweite Attribut (nachweislich vom Verstorbenen stammende) eine Apposition. Dann wird - falsch - auch nach „stammende“ noch ein Komma gesetzt: ■ Mehrere [[[KommaÜberfl] nachweislich vom Verstorbenen stammende [KommaÜberfl]]] Ab‐ schiedsbriefe wurden als Beweise vorgelegt. Wenn beim nächsten Satz ausgedrückt werden soll, dass der Zustand einwandfrei und außerdem befüllbar (und nicht in einwandfreier Weise befüllbar) sein muss, muss ein Komma stehen: ■ Kundeneigene Packmittel sind in einwandfreiem [[,]] befüllbarem Zustand bereitzustellen. Wenn es Unterschiede des befüllbaren Zustands gibt, also wenn auch eine irgendwie eingeschränkte Befüllbarkeit denkbar ist, beispielsweise nur zu 95 % des Volumens, und auch vollkommen uneingeschränkte Befüllbarkeit möglich - und erstrebenswert - ist, und wenn hier gefordert wird, dass die Befüllbarkeit in keiner Weise eingeschränkt sein darf, ist kein Komma zu setzen. ■ Geprüft wurden nur die im Folgenden aufgeführten [[,]] drei wesentlichen [[,]] nicht routine‐ mäßigen Transaktionen des Konzerns. Zum ersten Komma: Hier geht es sicherlich nur um die im Folgenden aufgeführten (drei) Transaktionen (nicht um andere Transaktionen, die nicht im Folgenden aufgeführt sind). Also steht kein Komma. Zum zweiten Komma: Wenn es nur um die wesentlichen (drei aufgeführten) nicht routinemäßigen (geprüften) Transaktionen geht (und nicht um die unwesentlichen), was sicherlich der Fall ist, dann steht auch hier kein Komma (also Geprüft wurden nur die […] wesentlichen nicht routinemäßigen Transaktionen […]). Die Frage bzgl. des Kommas zwischen zwei Adjektiven kann auch im Kontext von Aussagen wichtig sein - wie im folgenden Beispiel bei der Aussage eines Polizeibeamten, der über die Vernehmungsmethode eines Kollegen befragt wird. ■ Der Kollege hat keine Suggestivfragen gestellt, sondern nur Vorhaltsfragen, bei denen er dem Beschuldigten lediglich diverse [[,]] tatverdachtsrelevante Tatbestände vorgehalten hat. Hat er dem Beschuldigten diverse Tatbestände (tatverdachtsrelevante und nicht tatver‐ dachtsrelevante) vorgehalten? Dann sollte ein Komma stehen. Oder waren es nur solche Tatbestände, die auf (dringenden) Tatverdacht hindeuteten? Dann sollte kein Komma stehen. Das kann sehr wichtig sein, denn in bestimmten Fällen ist es bei einer Vernehmung 5.7 Ein Komma, das die Bedeutung verändert 287 <?page no="289"?> zulässig, bestimmte tatverdachtsrelevante Tatbestände zu nennen; „diverse“ Tatbestände zu nennen, ist hingegen nicht zulässig (vgl. Gundlach et al. 2023, S.-85ff.). 5.7.2 Ein fehlendes Komma, das anklagt ■ Als Beweis für die angeblich manipulierte Präsidentschaftswahl hatte Giuliani unter anderem wahrheitswidrig behauptet, die beiden Afro-Amerikanerinnen Ruby Freeman und ihre Toch‐ ter Shaye Moss hätten bei der Auszählung in Atlanta Wahlzettel für Trump weggeworfen [KommaFehlt]]] und ein Video vorgelegt, auf dem angeblich zu sehen war, wie die Mutter der Tochter gefälschte Stimmzettel gab. Wer hat das Video vorgelegt? Die beiden Frauen? Oder Giuliani? Giuliani hat das Video vorgelegt. Davor ist der Inhaltssatz (hier ein Objektsatz zum Prädikat hatte behauptet) mit weggeworfen zuende. Der Inhalt dieses Nebensatzes sind die Behauptungen Giulianis, und die enden an der Stelle. Auf das und folgt die Fortsetzung der Taten Giulianis (behaupten und vorlegen), und der dann folgende Nebensatz ist ebenfalls ein Inhaltssatz des Typs Attribut in Form eines Relativsatzes (auf dem angeblich […]). Dieser Satz würde ohne Komma so kodiert: A-P 1 -S-A-P 2 -O Satz ; mit Komma so: A-P 1 -S-A-P 2 - O Satz und O-P 2 . Ein solcher oder ein ähnlicher Fall kann in der forensischen Linguistik wichtig sein, wenn es um den Umfang dessen geht, was jemandem vorgeworfen wird. 5.7.3 Ein Komma, das beleidigt ■ Bei Ihrem Nachnamen, der nicht gerade häufig vorkommt, fällt mir ein anderer [[,]] gutausse‐ hender Herr mit dem Namen Jens-Sören Waldenheim ein, der im letzten August bei der Reise einer Abordnung des Landkreises Nordheim nach Schlochau (Polen) dabei war. Wenn zwischen den Attributen anderer und gutaussehender ein Komma steht, bedeutet das noch ein gutaussehender Herr bzw. Es gibt zwei gutaussehende Herren; den anderen und Sie. Wenn dort ein Komma steht, bedeutet das, dass (nur) der andere gutaussehend ist, was beleidigend wirken kann. 5.8 Zwischenübung zur Lesbarkeit: Komma vor „und“ mit folgendem Hauptsatz Im Kapitel „Die häufigsten Fehlannahmen über korrektes Deutsch“ (→ Kap. 3.1) ging es bereits darum, dass das Komma vor der Konjunktion und mit folgendem Hauptsatz nach den Duden-Regeln optional ist. Das Kapitel enthielt auch einige Beispiele. Ein Hauptsatz besteht aus mindestens einem Subjekt (Wer oder was? Substantiv, Pronomen oder Subjektsatz) und einem Prädikat (Verb). Entscheidend ist hier, dass nach dem und noch (einmal) ein Subjekt und noch (einmal) ein Prädikat genannt wird, also ein neuer Hauptsatz folgt. Das kann das Subjekt und das Verb vom Vor-Satz sein, das nur noch einmal genannt wird (z.-B. Morgens trinkt er Kefir [[,]] und abends trinkt er Ayran.), oder es ist ein neues Subjekt (z. B. Er hört gern House [[,]] und sie hört gern Psychedelic Rock.) oder beides 288 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="290"?> ist neu, also Subjekt und Prädikat, z. B. Wir warteten noch auf Euch [[,]] und die Kinder gingen schon voraus.). Urteilen Sie selbst. Würden Sie in den folgenden Sätzen Kommata setzen (und wenn, wo)? ■ Herr Meyer definiert einen Maßnahmenplan und berechnet die Kosten und die Rabatte entschei‐ det später Herr Schmidt. ■ In diesen Mietverträgen sind Sie Mieter und Vermieter ist die kommunale Sparkasse als Anstalt des öffentlichen Rechts. ■ Mit dieser Kombination ermöglicht das Internet Ihnen eine weltweite Vernetzung und Mobilität und die Integration Ihrer Computer und der Smartphones trägt auch entscheidend dazu bei. ■ Ich untersuchte die Knochenbrüche und meine Assistentin befasste sich mit der Versorgung der Wunden. ■ Lernen Sie bei uns in dem dreiwöchigen Kurs schießen und treffen Sie gute Freunde. ■ Die Scorecard definiert die Strategien und das Managementsystem verbindet die einzelnen Teile der Organisation. ■ Jan besuchte gestern nach dem Fussball Sven und Sören war mit dem Einrichten der neuen E-Mail-Adresse in Outlook beschäftigt. ■ Diese Koi-Art wird sich bei jedem Wetter in Ihrem Gartenteich wohlfühlen und Sie erfreuen und Sie werden nur die Notwendigkeit einer relativ konstanten Wassertemperatur nicht unter 10 Grad beachten müssen. Auch bei oder und bzw. gilt diese Regel. ■ Sie können auf den späteren Prüfungstermin wechseln oder Sie können eine Sondergenehmigung für den früheren Prüfungstermin beantragen. Die Struktur des Gesamtsatzes wird leichter verständlich, wenn als Kennzeichnung der Grenze zwischen den beiden Sinneinheiten ein Komma steht. 5.9 Lange einzelne Satzteile oder Attribute ■ Ein Gläubiger ist jemand, der von jemand anderem (dem „Schuldner“) Geld oder eine Sache oder eine Dienstleistung (man sagt insgesamt „eine Leistung“) fordern kann, z. B. weil der andere ihm etwas geliehen hat oder der Gläubiger eine Arbeit für den anderen erbracht hat oder der andere aufgrund eines Vertrages zu der Leistung verpflichtet ist. Der Satz enthält ein sehr langes kausales Adverbial in Form eines Nebensatzes. Besser wäre, die Konjunktion zweimal zu wiederholen: […] fordern kann, z. B., weil der andere ihm etwas geliehen hat oder WEIL der Gläubiger eine Arbeit für den anderen erbracht hat oder WEIL der andere aufgrund eines Vertrages zu der Leistung verpflichtet ist. Satzteile können bekanntermaßen eine sehr unterschiedliche Länge haben. Sie können auch als Satzteil-Nebensätze realisiert und dann sehr lang werden, z.-B. das Subjekt: 5.9 Lange einzelne Satzteile oder Attribute 289 <?page no="291"?> ■ Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (§ 263 StGB: Betrug) Solche Sätze, die einen mit „Wer“ beginnenden langen Subjektsatz am Anfang haben, sind typisch für das Strafgesetzbuch (oben § 295 StGB). Auch der folgende Satz beginnt mit einem sehr langen Subjekt in Form eines für Gesetzes‐ texte - speziell im Strafrecht - typischen Subjektsatzes (Wer […] unterhält): ■ Wer ein Beweismittel, das zur Verwendung in einem gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Verfahren oder in einem Ermittlungsverfahren nach der Strafprozessordnung bestimmt ist und über das er nicht oder nicht allein verfügen darf, vernichtet, beschädigt oder unterdrückt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu bestrafen, wenn die Tat nicht nach den §§ 229 oder 230 mit Strafe bedroht ist. ■ Eine Entlassung in eine im achten Stock befindliche, sehr kleine Wohnung zu einer ebenfalls an Demenz erkrankten Ehefrau, die zudem bis zum letzten Freitag wegen eines Oberschenkelhalsbruches zur stationären Rehabilitation in Ihrem Haus war, kann ich nicht befürworten. Hier handelt es sich bei dem langen Satzteil um ein Objekt (Frage zum Feststellen: Wen oder was halte ich für unverantwortlich? ) Es folgt ein Beispiel für ein sehr langes Adverbial, und zwar ein konditionales, das mit einem uneingeleiteten Nebensatz realisiert wird: ■ Werden wesentliche Unterschiede festgestellt, die nicht durch Kenntnisse, die von den Bewerbern im Rahmen ihrer Berufspraxis, unabhängig davon, in welchem Staat diese erworben wurde, ganz oder teilweise ausgeglichen werden können, haben die Bewerber in einem mindestens dreiwöchigen Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprüfung, die sich auf die festgestellten wesentlichen Unterschiede erstreckt, nachzuweisen, dass sie über die zur Ausübung des Berufs in Deutschland erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Hier ein Beispiel für ein langes instrumentales Adverbial, das komplex ist, weil es einen Relativsatz enthält: ■ Mit dem Beschluss der Regierungen des Bundes und der Länder zur Überprüfung von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue vom 28. Januar 1972, der auch „Radikalenerlass“ genannt wird, wurde beabsichtigt, die Beschäftigung von Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst zu verhindern. oder ein temporales: ■ Am frühen Abend des oben genannten Tattages gegen 17.50 Uhr nach dem Training hielt sich der Angeschuldigte auf dem Fußballplatz seines Sportvereins auf. 290 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="292"?> oder ein Attribut in Form eines Relativsatzes: ■ Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), umgangssprachlich auch Facebook-Gesetz ge‐ nannt, ist ein deutsches Gesetz, das bußgeldbewehrte Compliance-Regeln für Anbieter sozialer Netzwerke betreffend den Umgang mit Nutzer-Beschwerden über Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte im Netz sowie eine vierteljährliche Berichtspflicht der Anbieter einführt und Opfern von Persönlichkeitsverletzungen im Internet einen Anspruch auf Auskunft über Bestandsdaten des Verletzers aufgrund gerichtlicher Anordnung eröffnet. Dieser Satz ist für den/ die Leser: in deshalb unangenehm, weil er/ sie ab Beginn des Relativsatzes bis zum Ende nicht weiß, ob es sich bei dieser sehr langen Wortfolge „nur“ um einen sehr langen Relativsatz handelt oder ob noch ein anderer Satzteil folgt, was nicht der Fall ist. 5.10 Nominalstil vs. Verbalstil Der Nominalstil fordert vom Leser ein hohes Abstraktionsvermögen, kann Verantwortung und Verbindlichkeit reduzieren oder verwischen, und er bietet Raum für vage Aussagen mit Bedeutungslücken (siehe auch das Kapitel „Distancing, Evasivität, Hedging, Vagheit, Nicht-Faktizität“ (→-Kap. 3.23.6). Nominalstil Verbalstil Bei Vornahme der Beförderung der Geräte durch ein anderes Transportunternehmen ist die Entrichtung des dafür fälligen Leistungsentgeltes in voller Höhe obligatorisch, denn ansonsten ist die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen und pünktlichen Beförde‐ rung nicht möglich. Wenn die Geräte durch ein anderes Trans‐ portunternehmen befördert werden, muss das dafür fällige Leistungsentgelt in voller Höhe entrichtet werden, denn ansonsten kann eine ordnungsgemäße und pünktli‐ che Beförderung nicht gewährleistet wer‐ den. Er hat uns den Teppich trotz des Schmutzes und der Abnutzung gezeigt. Er hat uns den Teppich gezeigt, obwohl er schmutzig und abgenutzt war. Wir bleiben wegen des Regens zuhause. Wir bleiben zuhause, weil es regnet. Aufgrund der Erkrankung des Bauleiters kam es zur Verlegung des Termins für die Begehung der Örtlich‐ keit. Weil der Bauleiter erkrankte, wurde der Termin für die Ortsbegehung verlegt. Die Einigung der Geschäftspartner auf einen neuen Termin stellte gewisse Schwierigkeiten dar. Es war etwas schwierig für die Geschäfts‐ partner, sich auf einen neuen Termin zu einigen. Tab. 49: Vergleich von Nominalstil und Verbalstil Zu den obigen Sätzen in der Tabelle wurde die Verbalstil-Alternative aufgezeigt. Bei vielen im Nominalstil verfassten Sätzen ist es jedoch schwierig, sie in den Verbalstil umzuformulieren: 5.10 Nominalstil vs. Verbalstil 291 <?page no="293"?> ■ Eine nochmalige Zeugenvernehmung im Berufungsverfahren ist mit Blick auf den dort nicht durch ein Beweisantragsrecht der Verfahrensbeteiligten eingeschränkten Grundsatz der Mittel‐ barkeit der Beweisaufnahme nur unter besonderen Voraussetzungen geboten. ■ Eine Geltendmachung von Zurückbehaltungs- oder Leistungsverweigerungsrechten kann nicht ohne Vertragsabschlussbezug erfolgen. ■ Die Inkraftsetzung der Maßnahmen des Bundesamtes für Verkehrssicherung zur begleitenden Förderung des Ausschusses des Bundesrates zwecks Sicherstellung eines unfalltotenfreien Schulanfangs ließ auf sich warten. ■ Wir hoffen auf Gespräche zur Anbahnung einer Sondierung zur Herbeiführung von Koalitions‐ verhandlungen zur Ermöglichung einer Regierungsneubildung Der Nominalstil kann zu Bedeutungslücken führen: ■ EKD-Chef Bedford-Strohm ist trotz aller Anstrengungen mit der kirchlichen Missbrauchsaufar‐ beitung unzufrieden. Wer hat sich angestrengt? ■ Die Entkräftung der Argumente des Mitarbeiters des Lieferanten gelang erst nach der Entde‐ ckung der Tatwaffe des Komplizen. Wem gelang das? Nominalstil wird durch Substantivierung (auch Nominalisierung) erreicht; substanti‐ viert werden primär Verben. In vielen Fällen gibt es alternative Substantive (z. B. die Schaffung vs. das Schaffen von Arbeitsplätzen; die Beherrschung vs. das Beherrschen dieses Metiers, die Substantivierung vs. das Substantivieren von Verben, die Befüllung vs. das Befüllen des Kanisters, das Gewähren vs. die Gewährung). Es gibt Fälle, in denen die Wahl der Art der Substantivierung eine Maßnahme für bessere Lesbarkeit darstellt, z.-B. bei der Substantivierung des Verbs warten: ■ Das Warten der Maschine muss einmal pro Monat erfolgen. besser ■ Die Wartung der Maschine muss einmal pro Monat erfolgen. denn Das Warten der Maschine schickt den Leser kurz in eine falsche Denkrichtung, da das Verb warten normalerweise belebten Subjekten und Objekten zugeschrieben wird und der Leser anfangs denken könnte, es handele sich um eine wartende Maschine. Wesentlich einfacher und lesbarer ist der Satz jedoch im Verbalstil: ■ Die Maschine muss einmal pro Monat gewartet werden. oder ■ Die Maschine ist einmal pro Monat zu warten. Solche Entscheidungen von Verfasser: innen sind für die Authentizitätsfeststellung interes‐ sant; allerdings gibt es selten Texte, die so viele Substantivierungen enthalten, dass die Art der Substantivierung untersucht werden kann. 292 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="294"?> Nominalstil und Passiv Die Verständlichkeit eines Satzes wird besonders erschwert, wenn der Nominalstil mit dem Passiv kombiniert wird und dann typischerweise kein Aktant genannt wird - ebenfalls ein typischer Fall von unterlassener Verständlichkeitssicherung. ■ Die Festsetzung der Vorauszahlung kann durch Einspruch angefochten werden. Hier wird kein Aktant genannt, weil die im Satz genannte Möglichkeit allgemeingültig und abstrakt sein soll. Allerdings wäre der Satz mit einer „Sie“-Ansprache etwas besser verständlich: ■ Sie können die Festsetzung der Vorauszahlung durch Einspruch anfechten. Dieses Thema wird im Kapitel 3.9zu den Strategien und Kunstgriffen genauer erörtert, die Verfasser: innen anwenden, um sich möglichst gebildet auszudrücken. In diesem Kapitel geht es um das - vorsätzliche oder auch unabsichtliche - Unterlassen von Verständlichkeitssicherung. Passiv bedeutet, dass es möglich ist, keinen Aktanten zu nennen, also keine Person, die die im Verb genannte Handlung vollzieht. ■ Beabsichtigt wird die Vermeidung künftiger Abwicklungsverluste durch Prämienanpassungen. Wer beabsichtigt das? Dieser Satz wurde im einführenden Kapitel zu unterlassener Ver‐ ständlichkeitssicherung (→ Kap. 5.1) bereits ausführlich erläutert. Er ist übrigens ein sehr gutes Beispiel dafür, wie die syntaktischen Möglichkeiten der deutschen Sprache für vorsätzliche Unklarheit missbraucht werden können. Besonders schwer verständlich sind im Nominalstil verfasste Sätze, wenn sie obendrein das inhaltlose Verb „erfolgen“ enthalten, z.-B. ■ Die Bewertung der Rückstellungen für Jubiläumsverpflichtungen erfolgt auf der Grundlage der Richttafeln 2018 G von Dr. Klaus Heubeck nach versicherungsmathematischen Grundsätzen. Dieser Satz könnte - im Verbalstil und etwas leichter verständlich - lauten ■ Die Rückstellungen für Jubiläumsverpflichtungen werden auf der Grundlage der Richttafeln 2018 G […] bewertet. 5.11 Satzklammer und Dependenzdistanz Die Satzklammer gehört zu den typischen Charakteristika des deutschen Satzbaus. Sie entsteht, wenn zusammengehörige Satzelemente weit auseinander stehen. Das macht einen Satz schwer verständlich, denn es führt oft zu einer - für Lesbarkeit gering zu haltenden - Dependenzdistanz (kurz DD, auch „Dependenzlänge“ genannt). Das ist die Fach-Bezeichnung für das Maß der Belastung des Arbeitsgedächtnisses, wenn es einen Abstand innerhalb einer syntaktischen Dependenzbeziehung zu memorieren hat. Während des Satzverarbeitungsprozesses bleibt ein Wort so lange im Arbeitsgedächtnis, bis es eine Dependenzbeziehung mit seinem Regens (dem „regierenden“ Satzelement) oder Dependens (dem „regierten“ Satzelement) bildet, also bis der ausstehende „Partner-Teil“ 5.11 Satzklammer und Dependenzdistanz 293 <?page no="295"?> weiter hinten im Satz gefunden wurde. Die DD gilt als einer der Indikatoren für syntaktische Komplexität (vgl. Pang/ Liu 2023, S. 177ff.), und große DD ist folglich auch eine entschei‐ dende „Zutat“ für eine erschwerte Verständlichkeit von Sätzen. Das Interessante für die forensische Linguistik ist nicht, DASS es eine Klammer gibt, sondern WIE die Klammer gestaltet ist (mit kleiner oder großer DD). Wenn in einem Text mehrere Fälle großer DD auftreten, ist das idiolektal und folglich interessant für die Authentizitätsfeststellung. Aus dem Grund ist es hier sinnvoll, die DD als Oberbegriff für das Satzklammer-Problem zu verwenden. Besonders interessant für die Authentizitätsfeststellung sind die vermeidbaren Satzklam‐ mern, die die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. der Leserin über Gebühr herausfordern. Daher werden sie in diesem Buch eingehend behandelt. Es gibt acht Gründe für die Satzklammer: 1. Modalverb (dürfen, haben zu, können, mögen, müssen, sollen, wollen) → „Modalklam‐ mer“ ■ Sie können durch Herunterladen und Installieren des verfügbaren Browser-Plugins die Erfassung der durch das Cookie erzeugten Daten einschließlich Ihrer IP-Adresse verhindern. 2. Tempus-Hilfsverb (zur Bildung von Futur I u. II, Perfekt, Plusquamperfekt) → „Tem‐ pus-Klammer“ ■ Der Club hat nur zwei Mitglieder, und zwar den bekannten Architekten Henner Panne‐ witz, der sich sehr um den Denkmalschutz verdient gemacht hatte, und den Geographen Hermann Lobersdorff, dessen Werk über Alexander von Humboldt später sehr bekannt wurde, verloren. 3. Modus Konjunktiv → „Konjunktiv-Klammer“ ■ Wir würden, wenn Sie uns einmal ausreden ließen und uns eine Chance gäben, unsere Pläne, die wir bezüglich des Bauprojekts erarbeitet haben, zu erörtern, sicherlich viele im Dezernat überzeugen. 4. Passiv → „Passiv-Klammer“ ■ Es wurden von der Kommission mehrere geringfügige Gesetzesänderungen mit konkreten Maßnahmen einschließlich der Vereinfachung der Regeln für Fernabsatzgeschäfte, der erweiterten Umkehrung der Steuerschuldnerschaft bei bestimmten Umsätzen zwischen Unternehmen und der Einführung einer Anlaufstelle für nicht in dem betreffenden Land ansässige Steuerpflichtige vorgeschlagen. 5. Verneinung → „Negations-Klammer“ ■ Der Lieferant übernahm die Kosten für die Reparatur der Druckmaschine B301, die der Kunde im September 2009 als Ersatz für die B300 erworben hatte, nicht. 6. trennbares Verb (mit Präfix, das eine Verbklammer bildet, z. B. vorlegen, darstellen, anschließen, einkaufen, hergeben, aufmachen); Achtung: Bedeutungsunterschied bei 294 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="296"?> trennbar vs. nicht trennbar: „umfahren“ (trennbar: Er fährt das Schild um. vs. nicht trennbar: Er umfährt das Schild.), „umschreiben“ (trennbar: Sie schreibt das Grundstück auf den neuen Eigentümer um vs. nicht trennbar: Sie umschreibt den Sachverhalt.) → „Lexikalklammer“ ■ Er vertraute ihm trotz Warnung des Anwalts all seine Kundendaten und die Geschäfts‐ geheimnisse bezüglich der Patentanmeldungen von Flammenfiltern in den letzten fünf Jahren an. „müssen“-Ersatz über „haben zu“/ „sein zu“ ■ Im Fall von Fahrtkosten sind - bei Vorlage entsprechender Belege - die tatsächlich entstandenen Kosten für Zugtickets der 1. Klasse und für Flugtickets der Klasse Economy, jeweils inklusive der Kosten für eine etwaige Sitzplatzreservierung, sowie für Taxifahrten zu erstatten. 7. Trennung von Artikel + Substantiv (typischerweise durch eine Linksattribution), „Nominalklammer“ ■ Der Fahrer des von dem zuständigen Polizisten als Chevrolet identifizierte und offensicht‐ lich im Ausland gekauften Wagens hatte wahrscheinlich Unfallflucht begangen. Oft kann man eine Klammer enthaltende Sätze durch einfaches Umstellen von Elementen oder geringfügiges Umformulieren verständlicher machen: ■ Ich würde mich über die Gelegenheit, mich Ihnen in einem persönlichen Gespräch vorzustellen, freuen. Leichter verständlich ist der Satz, wenn man das Prädikat nicht über Gebühr spreizt und das letzte Element vor den Infinitivsatz setzt, der erklärt, um was für eine Gelegenheit es sich handelt. ■ Ich würde mich über die Gelegenheit freuen, mich Ihnen in einem persönlichen Gespräch vorzustellen. ----------------------- ■ Wenn Sie wesentliche Unterschiede feststellen, müssen Sie Maßnahmen, die dazu geeignet sind, den Schaden zu begrenzen, ergreifen. Hier ist die Konstruktion etwas komplizierter. Die gesamte Klammer (müssen […] be‐ greifen) beginnt erst später, weil der Gesamtsatz mit einem untergeordneten Element, hier einem Konditionalsatz, beginnt. Dem Beginn des Prädikats folgt ein zweigliedriger Relativsatz, also ein Relativsatz mit einem wiederum untergeordneten Element, hier einem Infinitiv. Der gesamte Satz ist also bereits durch die Hypotaxe schwer zu verstehen. Wenn nun das Prädikat noch gespreizt wird bzw. - in anderen Worten - eine verbale Satzklammer gebildet wird, wird die Verständlichkeit noch mehr erschwert. 5.11 Satzklammer und Dependenzdistanz 295 <?page no="297"?> ■ Wenn Sie wesentliche Unterschiede feststellen, müssen Sie Maßnahmen ergreifen, die […]. Mit solchen Konstruktionen macht sich der/ die Verfasser: in der unterlassenen Verständ‐ lichkeitssicherung schuldig. 5.11.1 Häufige bzw. extreme Satzklammern Ein Satzbau mit extremen Satzklammern nimmt die Aufmerksamkeit des Lesers über Gebühr in Anspruch. In der Authentizitätsfeststellung sind besonders die vermeidbaren Satzklammern interessant. Verfasser: innen, denen sehr daran gelegen ist, gebildet zu wirken, vermeiden solche Satzklammern gerade nicht, weil sie meinen, komplexer Satzbau (jeder Art) wirke gebildet. Wie in den folgenden Kapiteln mit Detail-Erläuterungen zu den Arten der Satzklammern noch zu zeigen sein wird, ist grob zwischen diesen beiden Formen zu unterscheiden: 1. verbale Satzklammer, auch „Verbklammer“ genannt, bei der die Elemente des Prädikats oder - weniger häufig - einer anderen Verbgruppe weit voneinander entfernt stehen 2. Satzklammer, die aus anderen Gründen entsteht, und zwar, wenn zwei andere Satzele‐ mente weit auseinander stehen, z. B. das Subjekt und das Prädikat oder ein Verb (meist das Prädikat) und ein dazugehöriges Objekt. 5.11.2 Satzklammer wegen Modalverb Die Modalverben sind: können, sollen, wollen, müssen, mögen, dürfen, haben zu. ■ Der vom aufnehmenden Anbieter übermittelte Portierungsauftrag muss mit dem vollständig ausgefüllten Angabenformular spätestens acht Werktage vor dem Datum der zuvor beauftragten Rufnummernübertragung auf den anderen Anbieter der Telekom zugehen. Es ist schwierig und mühsam zu erkennen, wer der Empfänger des Auftrags ist, also wer den Auftrag erhält bzw. wem der Auftrag zugeht. Erschwerend kommt hinzu, dass zugehen in anderen Kontexten sich nähern bedeuten kann (auf jmdn. zugehen), hier jedoch etwas zugestellt wird bzw. empfangen wird. Außerdem muss der/ die Leser: in erkennen, dass der Telekom (vor zugehen) ein Dativ ist und nicht ein evtl. Genitiv; man könnte vermuten, dass es sich um einen Anbieter der Telekom handelt. ■ Der Täter wollte, sofern sein Komplize unerkannt hätte ausreisen können, am Morgen des auf den Tattag folgenden Feiertags mit dem Audi seines Bruders über die A2 entkommen. ■ Sie mussten wegen der sich aus den Folgen der zuvor genannten erfolgten Interaktion ergebenden und relevant gewordenen Verbindlichkeiten schnell handeln. 5.11.3 Satzklammer wegen Tempus-Hilfsverb Viele Satzklammern entstehen wegen eines Hilfsverbs, das zur Bildung von Futur I u. II, Perfekt, Plusquamperfekt gebraucht wird, und das macht einen Satz sehr schwer verständlich. 296 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="298"?> Perfekt: ■ Der Club hat nur zwei Mitglieder, und zwar den bekannten Architekten Henner Pannewitz, der sich sehr um den Denkmalschutz verdient gemacht hatte, und den Geographen Hermann Lobersdorff, dessen Werk über Alexander von Humboldt später sehr bekannt wurde, verloren. Besser verständlich wäre der Satz so: Der Club hat nur zwei Mitglieder verloren, und zwar Henner Pannewitz […] und den Geographen Herrmann Lobersdorff […]. Oder so (Prädikat im Präteritum): Der Club verlor nur zwei Mitglieder, und zwar […]. ■ Der Fahrer des blauen Polo hat nach dem Unfall gemäß der sofort protokollierten Aussage aller trotz ihres Schocks noch vernehmungsfähigen Zeugen den wegen ausgelaufenen Benzins weiterhin gefährlichen Unfallort verlassen. Besser verständlich wäre der Satz so (Prädikat im Präteritum): Der Fahrer des blauen Polo verließ nach dem Unfall gemäß der sofort protokollierten Aussage aller trotz ihres Schocks noch vernehmungsfähigen Zeugen den wegen ausgelaufenen Benzins weiterhin gefährlichen Unfallort. Plusquamperfekt: ■ Die Täter hatten die Szene vor der Tat mindestens drei Jahre lang erkundet und Testkäufe getätigt. Tempusklammern entstehen natürlich auch mit dem Futur I und II (z. B. Wir werden Sie, wenn alles geklappt hat und wir Entwarnung geben können, anrufen., Bis zu dem Rennen wird er die gerissene Speiche am Laufrad repariert haben.), kommen aber in für die Authentizitätsfeststellung relevanten Texten selten vor. 5.11.4 Satzklammer wegen Konjunktiv Eine Satzklammer entsteht auch, wenn der Konjunktiv mit „würden“ (dem modalen Hilfsverb, das der Konjunktiv von „werden“ ist) verwendet wird. Der Satz wird nicht wegen des Konjunktivs schwer verständlich, sondern weil das Modalverb und das Vollverb so weit auseinander stehen. ■ Tim würde bei besserer Vorbereitung auf die Prüfung und weniger Stress in seinem Nebenjob, den er hat, weil er Geld verdienen muss, ein viel besseres Ergebnis erzielen. 5.11.5 Satzklammer wegen Passiv Eine Satzklammer entsteht auch, wenn vorne ein Hilfsverb für die Bildung des Passivs gebraucht wird, das Vollverb (bzw. „Bedeutungsverb“) bzw. das finite Verb jedoch am Ende steht. 5.11 Satzklammer und Dependenzdistanz 297 <?page no="299"?> ■ Es wurde erst nach sehr langer Diskussion über jeden einzelnen der im beigefügten Protokoll aufgeführten Punkte eine Einigung herbeigeführt. Der Satz könnte durch einen kleinen Umbau wesentlich leichter verständlich gemacht werden: Erst nach sehr langer Diskussion über jeden einzelnen der im beigefügten Protokoll aufgeführten Punkte wurde eine Einigung herbeigeführt. So sind die Prädikatselemente wesentlich dichter zusammen. 5.11.6 Satzklammer wegen Verneinung Satzklammern entstehen und machen einen Satz schwer verständlich, wenn ein für eine Verneinung gebrauchtes „nicht“ erst am Satzende „geliefert“ wird. ■ Der Vorsitzende glaubt ihm all die Geschichten, die er da letzte Woche vor dem Ausschuss erzählt hat, nicht. ■ Ich beneide die Männer, die eine neue Lebenspartnerin gefunden haben, nachdem sie sich aus einer Familie mit Kindern gelöst und sich haben scheiden lassen und denen dann vorgeworfen wird, damit zufrieden zu sein, wenn sie ihre Kinder nur an den wenigen vereinbarten Besuchs‐ tagen sehen können, nicht. 5.11.7 Satzklammer wegen trennbaren Verbs Bei Verwendung eines trennbaren Verbs (wie stattfinden, vorlegen, anschreiben) entsteht dann eine Satzklammer, wenn der Satz so ungünstig konstruiert wird, dass die Vorsilbe (das Präfix) erst am Ende genannt wird. In den folgenden Sätzen wäre die Satzklammer durch einen kleinen Umbau leicht zu vermeiden (Er ging […] ein, welche […]; Das Drama spielte sich […] ab, und zwar […]; Die Sitzung findet heute nicht hier statt, sondern […]) ■ Er ging in seiner Rede gar nicht auf die Probleme der gestiegenen Schraubenpreise, welche in den letzten zwei Besprechungen eine große Rolle spielten, ein. ■ Das Drama spielte sich unter dem Deckmäntelchen der Nächstenliebe auf zwei Ebenen, und zwar der der angeblichen Rücksichtnahme auf den Geschädigten und der des moralisch so wertvollen Vorzeige-Verhaltens von Personen in Führungspositionen, die ihre Macht nicht missbrauchen, ab. ■ Die Sitzung findet heute nicht hier, sondern im Nebengebäude in Raum B341 (neben dem Aufzug) statt. In den folgenden Sätzen wäre der Umbau nicht ganz so leicht: ■ Der Aufschwung hängt vom Grad der Einhaltung der Vorsorgemaßnahmen und vom Tempo der Impfungen ab. ■ Zum Beweis legte die Antragstellerin als Anlage B5 eine von dem ermächtigten Übersetzer Diet‐ rich Meyer beglaubigte Übersetzung des die beanstandete Äußerung beinhaltenden Schreibens von Clue Ltd. an die Lloyds-Bank vor. 298 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="300"?> 5.11.8 Verbale Satzklammer wegen „müssen-Ersatzes“ In der Fachsprache - speziell in der Rechtssprache - wird das Modalverb müssen vermieden. Stattdessen wird mit haben zu bzw. sein zu formuliert, was (wie auch die Formulierung mit dem Modalverb) eine Satzklammer erzeugt). ■ Sie haben 14 % Ihrer Einnahmen aus den von Ihnen über unsere Vermittlung für die Kunden erbrachten Leistungen immer pünktlich jeweils am Quartalsanfang an die Agentur abzugeben. ■ 14 % Ihrer Einnahmen aus den von Ihnen über unsere Vermittlung für die Kunden sind immer pünktlich jeweils am Quartalsanfang an die Agentur abzugeben. ■ An die überbetriebliche Unterstützungskasse sind zur Bedienung mittelbarer Pensionsverpflich‐ tungen der Seifert GmbH künftig unter Berücksichtigung einer Abzinsung in Höhe von 5,5 % und einer Überschussbeteiligung die im Folgenden aufgeführten Beiträge zu leisten. Um Verpflichtung und Notwendigkeit auszudrücken, gibt es verschiedene Optionen, z. B. Das muss getan werden., Man muss das tun., Du musst das tun. / Sie müssen das tun., Das ist zu tun., Du hast das zu tun., Es ist notwendig, dass das getan wird. und/ oder Hier ist Fachwissen nötig., Hier ist Fachwissen vonnöten., Es braucht einen Fachmann., Man braucht einen Fachmann., Da braucht man einen Fachmann. Die Verneinung einer Verpflichtung wird typischerweise auf folgende Weisen ausgedrückt: ■ a. Sie müssen das Paket nicht ausliefern. ■ b. Sie brauchen das Paket nicht auszuliefern. ■ c. Sie brauchen das Paket nicht ausliefern. also mit nicht müssen (a) oder mit nicht brauchen und zu (b) bzw. ohne das zu (c). Für die Verständlichkeit spielt die Wahl keine Rolle, aber für die Authentizitätsfeststellung ist sie interessant, auch weil die Wahl der Formulierung ohne zu (obiges Beispiel c) einen etwas niedrigeren Bildungsstand vermuten lässt. 5.11.9 Mehrfachgründe für verbale Satzklammer Selbstverständlich gibt es auch mehrere Satzklammer-Verursacher in einem Satz, z. B. Futur-Hilfsverb und Modalverb: ■ Sie werden sich an dieses alte Ritual mit den Waschungen im Tempel gewöhnen müssen. 5.11 Satzklammer und Dependenzdistanz 299 <?page no="301"?> 5.11.10 Satzklammer aus anderen Gründen 5.11.10.1 Satzklammer im Nebensatz ■ Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. Das gesamte Prädikat des Nebensatzes ist über diesen langen Dass-Satz verteilt, u. a. weil es zu dem temporalen Hilfsverb (werde) mehrere Vollverben (widmen, mehren, wahren und verteidigen, erfüllen, üben) gibt. Wichtig: Dass die Elemente so weit voneinander getrennt stehen, liegt nicht an dem temporalen Hilfsverb, sondern daran, dass das finite Verb (werde) im Nebensatz am Ende steht. Die Schwierigkeit für den/ die Leser: in ist außerdem, dass er von Anfang an weiß, dass der Inhalt des Schwurs folgen wird, dass dann jedoch - wegen der Nebensatz-Struktur - jeweils erst die Objekte genannt werden und danach erst die dazugehörigen Verben. ■ Das Phänomen der sogenannten Indies (Independent-Filme oder auch Indie-Filme), eigentlich Filmproduktionen, die außerhalb etablierter Strukturen, der Studios, umgesetzt werden und bei denen ein Großteil der Produktionskosten über den Vorverkauf ausländischer Verwertungsrechte abgedeckt wird, damit auch Filme mit kleinen Budgets realisiert werden können, hat es in letzter Zeit auch bei großen Produktionen - wie zum Beispiel der Herr-der-Ringe-Filmtrilogie - gegeben. Hier gibt es zwei große Distanz (sog. „Dependenzdistanzen“), und zwar a) zwischen dem Beginn des komplexen Subjekts (Das Phänomen […] können; komplex, weil es diverse Attribute beinhaltet) und dem ersten Element des Prädikats (hat) und b) zwischen den beiden Elementen des Prädikats (hat und gegeben). ■ Dass alle Konzernunternehmen i.S.v. §§ 294 bis 296 HGB einbezogen worden sind und die in dem Konzernabschluss einbezogenen Abschlüsse alle bilanzierungspflichtigen Vermögenswerte, Verpflichtungen, Wagnisse und Abgrenzungen im Jahresabschluss zum 31. Dezember 2020 berücksichtigt wurden, sämtliche Aufwendungen und Erträge enthalten sowie alle erforderlichen Angaben gemacht worden sind, hat uns die Geschäftsführung im Rahmen ihrer Vollständigkeits‐ erklarung schriftlich bestätigt. Dieser Satz beginnt mit einem Dass-Satz. Der/ die Leser: in muss sehr lange warten, bis der Hauptsatz beginnt und die semantische Abhängigkeit des Nebensatzes geklärt wird. ■ a. DnV steht im Arbeitsrecht für „Dienst nach Vorschrift“ und bedeutet, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung vorsätzlich auf das Minimum, bei dem sie ihre Arbeitspflicht nicht verletzen, reduzieren. ■ b. DnV steht im Arbeitsrecht für „Dienst nach Vorschrift“ und bedeutet, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung vorsätzlich auf das Minimum reduzieren, bei dem sie ihre Arbeitspflicht nicht verletzen. 300 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="302"?> Bei Satz a steht der Relativsatz (bei dem sie […]) direkt nach seinem Bezugswort, was eine Satzklammer verursacht. Dieses Bestreben, ein Bezugswort und seinen folgenden Relativ‐ satz (hier Minimum und bei dem […] verletzen) nicht durch ein Verb bzw. Verbelement zu stören, wird bei Textverfasser: innen oft beobachtet und kann als idiolektal gelten. ■ a. Bei dieser Tat sieht man, dass sie absichtlich, d. h. mit Vorsatz, also trotz der Kenntnis darüber, dass sie verboten bzw. rechtswidrig ist und dass auch jemand verletzt werden könnte, begangen wurde. ■ b. Bei dieser Tat sieht man, dass sie absichtlich begangen wurde, d. h. mit Vorsatz, also trotz der Kenntnis darüber, dass sie verboten bzw. rechtswidrig ist und dass auch jemand verletzt werden könnte. Bei dem ersten Satz möchte der/ die Verfasser: in die erklärende Apposition zum Adverb (d. h. […] könnte) direkt folgen lassen und möchte keine Unterbrechung durch die zwei Prädikatselemente (begangen und wurde). ■ Bitte geben Sie an, welche der Aussagen Ihrer Meinung nach akzeptabel und welche inakzeptabel sind. ■ Bitte geben Sie an, welche der Aussagen Ihrer Meinung nach akzeptabel sind und welche inakzeptabel. Bei der diesem Fragesatz zugrunde liegenden umformulierten direkten Frage Welche der Aussagen sind Ihrer Meinung nach aktzptabel und welche inakzeptabel? wird dem/ der Hörer: in/ Leser: in das - für das Verständnis wichtige - Kopulaverb (sind) früh geliefert, bei dem Fragesatz hingegen durch die in (den meisten) Nebensätzen übliche Endstellung des finiten Verbs - wie im obigen ersten Beispielsatz - erst sehr spät. Dies kann durch Umstellung bestimmter Elemente zum Vorziehen des finiten Verbs (hier sind) wie im zweiten Satz umgangen werden. 5.11.10.2 Satzklammer wegen Trennung von Artikel/ Präposition und Substantiv ■ Der Preis des über die Jahrhunderte immer wieder weiter verkauften - zwischenzeitlich sogar als verschollen erklärten bzw. vermuteten - Kunstwerks dieses Künstlers beträgt inzwischen eine Million Euro. ■ Von von mehreren Vorstandsmitgliedern genehmigten Fernabsatzgeschäftsstrategien wurde dann bei der Beschlussfassung doch abgesehen. 5.11.10.3 Satzklammer wegen Verb-Objekt-Distanz ■ Im westsächsischen Meerane übergab Bürgermeister Ungerer zum Beginn der Karnevalszeit vor dem alten Rathaus im Freien vor einem großen Publikum ganz corona-konform, und zwar abgeseilt durch das Fenster im ersten Stockwerk, das Zepter. Das Objekt zum Vollverb übergab wird erst am Ende des Satzes genannt. 5.11 Satzklammer und Dependenzdistanz 301 <?page no="303"?> ■ Der Bestellung der neuen Hauptgeschäftsführung und Ablösung des bisherigen Hauptgeschäftsführers Peter Jahns, der die Kammer aus Altersgründen verlassen wird, war nach Bildung einer speziellen Findungskommission ein am 11. März 2023 durch die Vollversammlung festgelegtes Auswahlverfahren vorausgegangen. Dieser Satz beginnt mit einem langen Dativobjekt. Das Verb, das die Bedeutung trägt, wird - auch bedingt durch die Verwendung des Tempus Plusquamperfekt - erst am Ende „geliefert“, so dass der/ die Leser: in sich bis zum Ende des Satzes viel merken muss, um die Mitteilung zu verstehen. 5.11.10.4 Satzklammer wegen Verb-Prädikativ-Distanz ■ Lieber Kunde, bitte seien Sie bei E-Mails, die Ihnen merkwürdig vorkommen, weil Ihnen der Absender nicht bekannt ist oder weil er von Ihnen möchte, dass Sie auf Ihnen unbekannte Links gehen sollen, die Sie zu Ihnen unbekannten Websites leiten, und Login-Daten angeben sollen, vorsichtig. Besser: ■ Lieber Kunde, bitte seien Sie vorsichtig bei E-Mails, die […]. Es sei hier noch einmal betont: Es geht hier nicht darum, aufzuzeigen, wie Sätze „besser“ formuliert werden können oder sollten, sondern darum, für die Zwecke der forensischen Linguistik zu zeigen, welche Varianten an Schwer-Verständlichkeit es gibt. 5.12 Unklare Bezüge ■ Beabsichtigt wird die Vermeidung künftiger Abwicklungsverluste durch Prämienanpassungen. Vermutlich soll die Vermeidung durch die Prämienanpassungen (also vermutlich Prämien‐ erhöhungen) gelingen. Dann wäre die Präpositionalphrase (durch Prämienanpassungen) ein Attribut zu dem Objekt Vermeidung, also eine „Vermeidung mittels Prämienanpassun‐ gen“. Rein theoretisch (syntax-bezogen) wäre auch denkbar, dass die Präpositionalphrase ein Adverbial zum Prädikat ist, also zum Verb beabsichtigen, es würde sich also um ein Beabsichtigen mittels Prämienanpassungen handeln (was semantisch Unsinn wäre). Rein syntaktisch könnte es sich auch um ein Attribut zu den Abwicklungsverlusten handeln. Dann sollen nur bestimmte Abwicklungsverluste vermieden werden, und zwar durch Prämienanpassungen bedingte Abwicklungsverluste (was ebenfalls Unsinn wäre). Dieser Satz ist trotz seiner Kürze schwer verständlich und unklar, und er verstößt gegen das Gebot, den Bezug von Präpositionalphrasen nicht offenzulassen. Außerdem enthält der Satz keinen Aktanten (Man weiß nicht, wer die Vermeidung beabsichtigt). Dieser Satz ist nicht nur ein Beispiel für unterlassene Verständlichkeitssicherung, sondern dafür, dass höchstwahrscheinlich vorsätzlich unklar formuliert wurde. 302 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="304"?> ■ Der Verkäufer kann über die Geschäftsanteile, ohne Rechte Dritter zu verletzen, frei verfügen. Ist es so, dass er nur dann über die Geschäftsanteile frei verfügen kann, wenn er keine Rechte Dritter verletzt? Dann wäre diese Formulierung besser: Der Verkäufer kann, sofern er nicht Rechte Dritter verletzt, über die Geschäftsanteile frei verfügen. (bzw. Der Verkäufer kann über die Geschäftsanteile frei verfügen, sofern er nicht Rechte Dritter verletzt.) Oder ist es so, dass er auf jeden Fall über die Geschäftsanteile frei verfügen kann, und es wird außerdem mitgeteilt, dass er, wenn er das tut, auch keine Rechte Dritter verletzt? Dann wäre diese Formulierung besser: Der Verkäufer kann über die Geschäftsanteile frei verfügen, ohne Rechte Dritter zu verletzen. ■ Ein Fahndungsmarathon begann, man fand Samuel Dienemann nicht, und jahrelang verdächtigte die Polizei einen Kollegen, bis er starb. Wer starb? Samuel Dienemann oder ein Polizist oder ein Kollege von Samuel Dienemann? Und: Wenn jemand stirbt, ist das ja kein Grund dafür, dass der Verdacht endet. ■ Die Tonnen sind vollständig gefüllt, in welchen sich schon seit Anfang der Woche tausende Maden befinden, bei deren Aufklappen viele sich im Deckel befindliche herausfallen. Vermutlich werden die Deckel der Mülltonnen aufgeklappt und nicht die Maden. 5.13 Unklare Bezüge durch Aufzählung Wenn auf ein Lexem - typischerweise eine Präposition oder die Konjunktion „und“ - eine Aufzählung folgt, passiert es leicht, dass die syntaktische Abhängigkeit unklar ist. ■ Es folgen die wichtigen Phasen des Korrekturlesens mit der Bearbeitung des Textes zur Beseiti‐ gung von Rechtschreibfehlern und der Druckfahne. Die wichtigen Phasen des Korrekturlesens sind a) das Korrekturlesen mit der Bearbeitung des Textes zur Beseitigung von Rechtschreibfehlern und b) (das Erstellen der) Druckfahne. In dem Satz klingt es, als gehöre der Druckfahne zu Beseitigung, also als würden die Druckfahne beseitigt, oder zu des Korrekturlesens (also des Korrekturlesens […] der Druckfahne). Die Probleme sind der Genitiv (hinter Phasen), die Präpositionen mit, zu und von. Hier stellt sich auch die Skopusfrage mehrfach (zum Thema Skopus →-Kap. 7.3). ■ „Textform“ ist - anders als „Schriftform“ - jede lesbare, dauerhafte Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt ist und erkennbar ist, dass die Erklärung abgegeben wurde. Das Relativpronomen mit der Präposition („in der“ wird nur einmal genannt, und zwar für „in der die Person […] genannt ist“ und „in der XY erkennbar ist“ (hier „dass die Erklärung abgegeben wurde“ in Form des nachfolgenden Inhaltssatzes); das geht nicht, weil die Fortsetzung des ersten „in der“ so lang ist, dass der/ die Leser: in bzw. Hörer: in sich nicht merken kann, dass er später (gedanklich) noch einmal „in der“ einsetzen muss, um den Relativsatz zu verstehen. 5.13 Unklare Bezüge durch Aufzählung 303 <?page no="305"?> 5.14 Viele Relativsätze Sehr ungünstig für die Verständlichkeit sind auch Sätze, die viele Relativsätze enthalten (→-Kap.-8.13.8 mit weiteren Details) wie z.-B.: ■ Der Bewerber, der der Mitbewerberin, die die Bewerbungsfrist, die bis zum Ende des Monats lief, nicht eingehalten hatte, das Formular zu geben vergessen hatte, hat es ihr nun per Post zugeschickt. ■ Der rote Wagen, der von dem Polizisten, der in dem Bezirk eingesetzt war, als Chevrolet identifiziert, offensichtlich im Ausland gekauft worden war und an dem Unfall beteiligt war, verließ nach der Aussage aller Zeugen, die noch vernehmungsfähig waren, obwohl sie einen Schock erlitten hatten, und deren Aussage sofort protokolliert wurde, den weiterhin gefährlichen Unfallort, weil Benzin ausgelaufen war. 5.15 Mischung von Aktiv und Passiv ■ Bis heute können sich die Verantwortlichen in der Institution der Kirche immer noch nicht darüber einigen, wie man den Betroffenen ehrlich gegenübertritt und auch die Täter einer gerechten Strafe zugeführt werden. Einmal aktiv (wie man […] gegenübertritt) und einmal passiv (zugeführt werden), und beides hängt an der Konjunktion wie. Das wird auch „Genus-Verbi-Perspektivwechsel“ (Wechsel der Sichtweise) genannt. Der/ die Verfasser: in sieht das Ganze einmal aus der Aktiv-Perspektive und (gleich) danach aus der Passiv-Perspektive. Man erwartet nach dem und auch eine weitere Fortsetzung von wie man, also nach dem einen Aktiv noch ein Aktiv (z.-B. zuführt), das jedoch nicht kommt. Besser wäre: ■ Bis heute […] einigen, wie man […] gegenübertritt und auch die Täter einer gerechten Strafe zuführt. Diese Mischung von Aktiv und Passiv macht den Satz schwer verständlich. ■ Es war mit dem Chef so abgesprochen, dass ich mein Haus umbaute und das Dach bzw. die Leistung von dem Dachdecker mit meinem Bonus verrechnet wurde. Das erste Sinn-Element im Nebensatz (dass ich mein Haus umbaute) steht im Genus Verbi Aktiv. Dabei ist mein Haus ein Objekt, und zwar zu dem Verb umbaute. Wenn man weiterliest und auf das Dach stößt, vermutet man zunächst, es handele sich um ein weiteres Objekt. Wenn man weiterliest, stellt man jedoch fest, dass das Dach das Subjekt einer dann folgenden anderen Sinn-Einheit ist, die im Passiv ausgedrückt wird. Besser verständlich wird der Satz, wenn der/ die Verfasser: in ein zweites dass spendiert, denn das zeigt dem/ der Leser: in, dass eine neue Sinn-Einheit folgt: ■ Es war mit dem Chef so abgesprochen, dass ich mein Haus umbaute und dass das Dach bzw. die Leistung von dem Dachdecker mit meinem Bonus verrechnet wurde. Siehe auch das Kapitel 5.4 „Falsche Wort-Sparsamkeit“. 304 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="306"?> ■ Mir ist bekannt, dass die Programmkommission meinen Beitrag zeitlich entsprechend dem Gesamtinteresse der Konferenz in das Konferenzprogramm einplanen wird und besondere Termin- und Zeitwünsche nicht berücksichtigt werden können. Die Struktur des Dass-Satzes enthält zunächst ein Subjekt (die Programmkommission), ein Prädikat (einplanen) und dazu ein Objekt (meinen Beitrag); nach dem und geht es von vorne los mit einem weiteren Subjekt (besondere Termin- und Zeitwünsche) und einem Prädikat (berücksichtigen [können]). Dass der Dass-Satz zwei verschiedene Subjekte hat, liegt nur daran, dass die erste Hälfte im Aktiv und die zweite im Passiv steht. Leichter verständlich wäre der Dass-Satz, wenn das Genus Verbi durchgängig Aktiv bliebe ([…], dass die Programmkommission meinen Beitrag […] in das Konferenzprogramm einplanen wird und b. Termin- und Zeitwünsche meinerseits nicht berücksichtigen kann (oder wird berücksichtigen können.), sofern es die Programmkommission ist, die die Termin- und Zeitwünsche nicht berücksichtigen kann. Noch leichter verständlich wird der Satz, wenn die Konjunktion „dass“ vor dem zweiten Verb wiederholt würde ([…], dass die Programmkommission meinen Beitrag […] in das Konferenzprogramm einplanen wird und dass b. Termin- und Zeitwünsche nicht berück‐ sichtigt werden können.). 5.16 Aneinanderreihung ungleicher Elemente, mangelnde Kongruenz ■ Er hatte voher eine aufwendige Recherche in der Kinderpsychiatrie und Kinderheimen durch‐ geführt. a) in der Kinderpsychiatrie und b) in Kinderheimen. Aufzählung in einer Präpositional‐ phrase mit zwei Elementen, die mit „in“ beginnen, aber das erste ist Singular, das zweite Plural. Die Einsparung des zweiten „in“ ist nicht zulässig (→-Kap. 5.4). ■ Sie sollten sich den Zugang zu unseren technischen Ressourcen und Infrastruktur für Ihr Web-Hosting sichern. Zu den Ressourcen und zu der Infrastruktur sind unterschiedlich; einmal Plural und einmal Singular, und das kann man nicht zusammenfassen; bzw. man kann nicht das zweite zu weglassen. Oder der Satz ist so gemeint, dass es sich (zusätzlich zu dem anaphorischen Bezug von sichern) um einen engen Skopus von zu handelt. Man soll sich zwei Dinge sichern: a) den Zugang zu […] und b) Infrastruktur. Die verschiedenen Auslegungsvarianten werden dem/ der Leser: in jedoch erst am Ende des Satzes deutlich, denn wegen der Modalklammer (Satzklammer wegen des Modalverbs sollen) steht das (bedeutung-tragende) Vollverb ganz am Ende. ■ Nach zwei Jahren wurde der Club neu gegründet sowie eine Satzung verabschiedet. Das Hilfsverb wurde gilt für zwei Partizipien (gegründet und verabschiedet), und beide Partizipien haben jeweils ein Objekt (Club und Satzung, das wegen der Passiv-Satzklammer jeweils vor dem Bezugsverb steht), und das erschwert die Verständlichkeit. Viel leichter verständlich ist der ganze Satz jedoch mit einem neuen Hauptsatz, der mit Komma und und 5.16 Aneinanderreihung ungleicher Elemente, mangelnde Kongruenz 305 <?page no="307"?> angeschlossen wird: Nach zwei Jahren wurde der Club neu gegründet, und eine Satzung wurde verabschiedet. (oder [mit es im zweiten Hauptsatz] Nach zwei Jahren wurde der Club neu gegründet, und es wurde eine Satzung verabschiedet.). Es sei hier noch einmal betont: Es geht hier nicht darum, zu zeigen, wie sich jemand besser bzw. leichter verständlich ausdrücken kann oder sollte. Es handelt sich nicht um einen Ratgeber für verständlichere Ausdrucksweisen. Es geht darum, für die Zwecke der forensischen Linguistik die vielen Varianten der Schwer-Verständlichkeit aufzuzeigen. 5.17 Frei herumschwebende Adverbiale ■ Der Gartenschlauch wurde ungefragt entfernt. Wer wurde nicht gefragt? Der Gartenschlauch? Vermutlich war es der/ die Eigentümer: in, der/ die nicht gefragt wurde. ■ Der Vermieter hat die Kaninchen ungefragt aus dem Freigehege in den Stall gebracht. Wer wurde nicht gefragt? Die Kaninchen? Wahrscheinlich war es so, dass der Vermieter den/ die Eigentümer: in der Kaninchen oder andere Beteiligte nicht gefragt hat. ■ Der Präsident des spanischen Fußballverbandes hat bei der Siegesfeier der spanischen Fuß‐ ball-Weltmeisterinnen „als Gratulation“ den Kopf der spanischen Spielerin Jennifer Hermoso festgehalten und sie ungefragt auf den Mund geküsst. Er hat sie ungefragt geküsst. Wer wurde nicht gefragt? Sicherlich die Fußballspielerin. Und das Festhalten des Kopfes? Geschah das „gefragt“? ■ Sie können gern auf unserer Website Informationsmaterial anfordern. ■ Sie können sich gern ein paar Bonbons nehmen. ■ Füllen Sie gerne schon einmal den Fragebogen aus. ■ Kommen Sie gerne einmal mit. ■ Tragen Sie gern einmal hier Ihre Daten ein. Was geschieht gern(e)? Wer tut was gern(e)? Gemeint ist Wir schicken Ihnen gern Informationsmaterial zu (wenn Sie es anfordern)., Ich biete Ihnen gern an, dass Sie sich ein paar Bonbons nehmen., Ich hätte es gern, wenn Sie jetzt den Fragebogen ausfüllen / mit mir mitkommen. und/ bzw. Es ist so gewollt bzw. Wir möchten, dass Sie Ihre Daten hier (und jetzt) eintragen. Das einmal ist ein Füllwort, das oft davon ablenken soll, dass es sich um eine Aufforderung handelt (wie Füllen Sie (bitte) den Fragebogen aus. und Kommen Sie (bitte) mit.), die weichgespült werden soll. Das gern und einmal, die meist gemeinsam auftreten, scheinen das bitte zu ersetzen, weil die Aufforderung damit wesentlich „weicher“ wirkt. Wenn Adverbiale in Form eines einzelnen Adverbs einfach in einen Satz hinein-„geworfen“ werden, ohne dass gesichert wird, dass der Bezug vom Leser verstanden wird, und dann - wie Partikeln in der Abgasanlage eines Dieselmotors - frei im Satz herumschweben, kann das zu Missverständnissen und gar zu Rechtsstreitigkeiten führen. Ein solches „unachtsames“ Platzieren eines Adverbs im Satz ist eine unterlassene Verständlich‐ 306 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="308"?> keitssicherung, und das wiederum kann idiolektal und folglich aufschlussreich für die Authentizitätsfeststellung sein. Siehe zum Thema „Adverbiale“ auch die Zusatzerklärungen in Kapitel 8.12.9 (Adverbiale und Attribute) und Kapitel 8.12.3 (Satzteile). 5.18 Gleiche syntaktische Struktur, jedoch unterschiedliche Aussagen ■ Das Verhalten des Hundes wird im Kontext der spielerischen Aufgabe begutachtet und festgelegt, inwiefern er für die vorgesehene Ausbildung geeignet ist. Der Satz ist zunächst so angelegt: Das Verhalten des Hundes wird begutachtet und festgelegt […], dann stellt sich jedoch heraus, dass die erste Sinneinheit mit begutachtet endet und das folgende Verb (festgelegt) sich nicht mehr zurück auf das Verhalten des Hundes bezieht, sondern auf das, was im folgenden Inhaltssatz genannt wird. Mit dem und im Hauptsatz folgt eine neue, unabhängige Sinneinheit, die für gute Verständlichkeit des Satzes besser neu begonnen bzw. mit einem erneuten es wird eingeleitet wird, und zwar so: Das Verhalten des Hundes wird im Kontext der spielerischen Aufgabe begutachtet, und es wird festgelegt, inwiefern er für die vorgesehene Ausbildung geeignet ist. ■ Das „Zero-Risk-Bias“ ist eine kognitive Verzerrung, bei der die Annahme herrscht „Je mehr Sicherheit, desto geringer die Chance, dass einem übel mitgespielt oder man verletzt wird.“ Beide Teile, die von dem Hilfsverb wird abhängen, sind passiv, aber der erste Teil des Dass-Satzes (einem übel mitgespielt wird) beginnt mit einem Dativobjekt (einem), also jmdm. wird übel mitgespielt. Die zwei Teile haben so unterschiedliche zugrundeliegende Strukturen, dass es nicht vorteilhaft ist, sie durch gemeinsame Abhängigkeit von dem für das Genus Verbi Passiv notwendigen Hilfsverb werden miteinander zu verknüpfen. Solche Beobachtungen in zu untersuchenden Texten sind, wenn sie gehäuft auftreten, was ich mehrfach erlebt habe, interessant, weil es sich um ein idiolektales Phänomen handelt. 5.19 Unklare Verneinung 5.19.1 Verneinungsarten Es kann bei der Untersuchung eines Textes bzgl. der Verneinungsarten - ganz simpel - zunächst sinnvoll sein, festzustellen, ob die enthaltenen Verneinungen mit nicht, kein (und/ oder - weniger häufig - ohne) bzw. wie oft in welcher Weise realisiert werden und ob eine Art als vorrangig auffällt. „nicht“ „kein“ Er mag Überraschungen nicht. Er mag keine Überraschungen. Ich wollte nicht einen Streit vom Zaune brechen. Ich wollte keinen Streit vom Zaune brechen. 5.18 Gleiche syntaktische Struktur, jedoch unterschiedliche Aussagen 307 <?page no="309"?> Man kann nicht eine von PDF konvertierte Word-Datei verwenden. Man kann keine von PDF konvertierte Word-Da‐ tei verwenden. Ich will nicht schlechte Laune bekommen. Ich will keine schlechte Laune bekommen. Tab. 50: Verneinung mit „nicht“ und „kein“ 5.19.2 Verneinung zerdehnt, verdoppelt/ vervielfacht ■ Sie dürfen die von uns erstellten Texte nicht auf Ihrer Website verwenden, bevor Sie sie nicht bezahlt haben. Dieser Satz kann vereinfacht werden zu Sie dürfen die von uns erstellten Texte erst dann auf Ihrer Website verwenden, wenn Sie sie bezahlt haben. Der folgende Satz enthält vier Verneinungen ■ Mit dem Ausbleiben eines nicht unbeträchtlichen Schadens kann wohl kaum gerechnet werden. (Ausbleiben, nicht, unbeträchtlich, kaum). Wenn man alle Verneinungen herausnimmt, entsteht dieser verneinungsfreie Satz: ■ Es ist mit einem beträchtlichen Schaden zu rechnen. Allerdings ist ein nicht unbeträchtlicher Schaden etwas anderes als ein erheblicher Schaden. Es lässt eine größere Spannweite der Beträchtlichkeit des Schadens und somit etwaiger Schadenersatzzahlungen zu. Also dann vereinfachen wir nur ein bisschen, und zwar so: ■ Es ist mit einem nicht unbeträchtlichen Schaden zu rechnen. Die verdoppelte Verneinung kann auch ein rhetorisches Stilmittel sein; oft etwas ironisch (nicht übel); dann nennt man sie Litotes. Die weiteren Beispielsätze erfordern eine gewisse Sorgfalt beim Lesen und Verstehen, sie enthalten jedoch gebräuchliche Formulierungen: ■ Da die Beklagte in der Vergangenheit mehrfach falsche Angaben gegenüber der Klägerin gemacht hat, besteht Grund zu der Annahme, dass die Auskunft andernfalls nicht mit der erforderlichen Sorgfalt erstellt wird. ■ Sie wollten gar nicht gegen die nicht genehmigten Verbote demonstrieren, sondern sie wollten dagegen demonstrieren, dass - nicht nur in dem einen speziellen Fall - die Erlaubnis zu Menschenansammlungen von bis zu 20 Personen nicht erteilt wurde. ■ Sollte eine einzelne Bestimmung dieses Vertrags unwirksam sein, bewirkt dies nicht, dass die Wirksamkeit der übrigen Bestimmungen hiervon nicht unberührt bleibt. Dieser Satz kann über den Zwischenschritt Sollte eine einzelne Bestimmung dieses Vertrags unwirksam sein, bewirkt dies, dass die Wirksamkeit der übrigen Bestimmungen hiervon unberührt bleibt. vereinfacht werden zu Sollte eine einzelne Bestimmung dieses Vertrags unwirksam sein, bleibt die Wirksamkeit der übrigen Bestimmungen hiervon unberührt. ■ In der Statistik sind solche Fälle nicht berücksichtigt, die nicht mit einer Durchsuchung oder einer Anklageerhebung verbunden waren. 308 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="310"?> Also nur Fälle, die mit einer Durchsuchung oder Anklageerhebung verbunden waren. Das kann man auch einfacher ausdrücken. 5.19.3 Unklare Platzierung des „nicht“ Für die Authentizitätsfeststellung sind viele Aspekte dieses Themas interessant, z. B. ob ein/ e Verfasser: in mittels nicht oder mittels kein verneint, was bereits erörtert wurde. Das Interessanteste ist jedoch die Frage bei einem Satz mit einem Haupt- und einem Nebensatz (und einem Verb des Denkens oder Hoffens oder Ratens im Hauptsatz) und einem „nicht“, ob der/ die Verfasser: in es im Hauptsatz oder im Nebensatz platziert. So lautet die Frage anders formuliert: Wo im Satz steht das nicht? Steht es bei dem Verb, das verneint wird, oder an anderer Stelle? ■ Ich rate Ihnen nicht, die Polizei einzuschalten. Vermutlich ist gemeint Ich rate Ihnen, die Polizei nicht einzuschalten. Auch im folgenden Satz geht es darum, ob das nicht vor oder nach dem Komma steht; in anderen Worten: ob das nicht im Hauptsatz oder im Nebensatz platziert wird ■ Es lohnt sich nicht, mehr zu arbeiten. ■ Es lohnt sich, nicht mehr zu arbeiten. oder ob weder vor noch nach dem nicht ein Komma steht (sondern vor dem Infinitiv mit „zu“): Es lohnt sich nicht mehr [[,]] zu arbeiten. ■ Die Experten gehen nicht davon aus, dass Putins Strategie aufgeht. Vermutlich ist gemeint Die Experten gehen davon aus, dass Putins Strategie nicht aufgeht. Es ist ein Unterschied, ob mitgeteilt wird, wovon die Experten nicht ausgehen, oder ob mitgeteilt wird, wovon die Experten ausgehen (und das ist in diesem Fall das Nicht-Erfolgreichsein einer Strategie). Vermutlich war es auch so, dass die Experten gefragt wurden, wovon sie ausgehen, was in näherer Zukunft geschieht, und nicht, wovon sie nicht ausgehen. Wenn man in einem zu untersuchenden Text diesen Satz vorfindet ■ Er versuchte nicht, zu lachen. stellt sich die Frage, ob der/ die Verfasser: in das Komma falsch gesetzt hat (also nicht der intendierten Aussage entsprechend) oder ob er/ sie tatsächlich so denkt und ob es tatsächlich um einen Nicht-Versuch geht. In anderen Worten: Zu lachen versuchte er nicht. Vermutlich ist gemeint Er versuchte, nicht zu lachen. (Nicht zu lachen versuchte er.), also eine Aussage darüber, dass eine Anstrengung gemacht wurde, das Lachen zu unterdrücken. 5.19 Unklare Verneinung 309 <?page no="311"?> ■ Ich bitte Sie nicht, hier Unruhe reinzubringen. Sicherlich ist gemeint Ich bitte Sie, hier nicht Unruhe reinzubringen. (bzw. Ich bitte Sie, hier keine Unruhe reinzubringen.). Verstöße gegen das intentionsgemäße Setzen eines Kommas bei „nicht“ bzw. das intentionsgemäße Positionieren des „nicht“ sind auch Verstöße gegen das Gebot der Verständ‐ lichkeitssicherung, und das ist, sofern es sich nicht um vereinzelte Performanzfehler handelt, idiolektal. Das Verb hoffen wird oft negiert, obwohl es der Inhalt der Hoffnung ist, die negiert werden müsste und nicht das Hoffen selbst, denn es ist ja nicht wichtig, dass man jmdm. mitteilt, was man alles nicht hofft, sondern das, was man hofft. ■ Wir hoffen nicht, dass wir erwischt werden. ■ Wir hoffen, dass wir nicht erwischt werden. ■ Wir hoffen [[,]] nicht [[,]] erwischt zu werden. ■ Ich hoffe nicht, dass es morgen regnet. ■ Ich hoffe, dass es morgen nicht regnet. Im ersten Fall bezieht sich die Negation auf das Verb hoffen, im zweiten Fall auf das Verb regnen. Die Umschreibungsprobe (Duden 2023, §§ 1429 bis 1435) zeigt für den ersten Satz Es ist nicht der Fall, dass ich hoffe, dass es morgen regnet.; für den zweiten Ich hoffe, dass es nicht der Fall ist, dass es morgen regnet. Die Positionierung des nicht und somit sein Bezug kann die Bedeutung des Satzes verändern. Sehen Sie selbst bei den folgenden Beispielsätzen: ■ Nancy Faeser hat nicht entschieden, an der kurzfristig anberaumten Sitzung des Innenausschus‐ ses des Bundestags zur Causa Schönbohm teilzunehmen. ■ Nancy Faeser hat entschieden, an der kurzfristig anberaumten Sitzung des Innenausschusses des Bundestags zur Causa Schönbohm nicht teilzunehmen. ■ Sie hat gestanden, dass sie nicht nur den Mord geplant, sondern auch durchgeführt hat. ■ Sie hat gestanden, dass sie den Mord nicht nur geplant, sondern auch durchgeführt hat. ■ Die 22-jährige Gabby Petito war im Sommer von einer gemeinsamen Reise durch die USA mit Ihrem Freund nicht zurückgekommen. So würde man bei einem solchen Sachverhalt die Platzierung des nicht in einer Mitteilung (z. B. in einer Zeitung) erwarten. Man erwartet das nicht neben dem finiten Vollverb (zurückgekommen), denn genau das wird verneint (Sie ist nicht zurückgekommen). Das nicht steht normalerweise nur dann an einer anderen Stelle (also nicht neben dem Prädikat), wenn ein bestimmter Satzteil verneint werden soll ( Sie ist nicht mit Jens ins Kino gegangen. impliziert z. B., dass sie mit einer anderen Person ins Kino gegangen ist. Hingegen impliziert Sie ist mit Jens nicht ins Kino gegangen, dass sie mit Jens zwar irgendwo hingegangen ist, aber nicht ins Kino.) 310 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="312"?> Was wird in der folgenden Mitteilung verneint? Sie war zwar zurückgekommen, aber nicht von der gemeinsamen Reise? Von einer anderen Reise? Oder: Sie war zwar zurückgekom‐ men, aber nicht im Sommer? ■ Die 22-jährige Gabby Petito war im Sommer nicht von einer gemeinsamen Reise durch die USA mit Ihrem Freund zurückgekommen. Es ist unklar, ob die Frau erst nach dem Sommer zurückkam oder niemals zurückkam. Am Rande bemerkt: Tatsächlich war es so, dass sie nie zurückkam; ihre Leiche wurde (im September 2021) gefunden. ■ Mein Geschäftspartner genehmigte mir die Ausgaben, die letzte Woche wegen der Reparaturen am Dach notwendig wurden, nicht. ■ Die Ergebnisse der Fallstudien Ihres Instituts helfen wegen des hohen Anteils der doppelverb‐ lindeten Studien aus dem letzten Jahr nicht. Wenn das nicht nicht ganz am Ende steht, entsteht ein spezieller Bezug und es wird nur ein Element des Satzes verneint, was von Verfasser: innen oft so nicht gewollt ist. Es passiert jedoch häufig. 5.19.4 Unklares „nicht zu“ Die Bedeutung von Ausdrucksweisen der Art „Etwas ist nicht zu tun (bzw. zu fassen, zu ersetzen, auszuhalten usw)“, und zwar primär können, müssen, sollen und dürfen erschließt sich meist aus dem Kontext. Manche Ausdrucksweisen (wie nicht zu verachten für gut und nicht zu fassen für unverschämt) sind idiolektal. ■ Auch ein so kurzer Schwächeanfall ist nicht zu vernachlässigen. ■ Es ist dem Mieter nicht zuzumuten, dass Fotos von seiner Wohnung Unbekannten zugänglich gemacht werden. ■ Das Drehmoment ist nicht zu verwechseln mit dem Antriebsmoment. ■ Es war nicht zu überhören, wie Du nach Hause gekommen bist. ■ Es war nicht zu erkennen, dass er bekifft war. ■ Der Täter war nicht zu ermitteln. ■ Da war nichts mehr zu machen. Wenn es dem/ der Verfasser: in sehr wichtig ist, dass die intendierte Bedeutung verstanden wird, ist ggf. umzuformulieren (z. B. von Da war nichts mehr zu machen. in Es gab keine weitere Arbeit. oder Es konnte nichts mehr getan werden.) Ansonsten liegt unterlassene Verständlichkeitssicherung vor. 5.19 Unklare Verneinung 311 <?page no="313"?> 5.20 Unklar: Wer tut was? ■ Nach einem Mord muss man dafür sorgen, dass man die Überreste nicht findet. Es gibt zwei verschiedene man-Personen. Die Person, die sorgen muss, ist nicht dieselbe Person, die finden könnte bzw. keine Überreste finden soll. Hier liegt eine Art des Perspektivwechsels und unterlassene Verständlichkeitssicherung vor. Besser wäre Nach einem Mord muss man dafür sorgen, dass niemand die Überreste findet. ■ Sie faszinierte seine Klugheit. Bei diesem Satz braucht der/ die Leser: in eine Weile, bis er/ sie geklärt hat, dass die Klugheit das Subjekt und Sie das Objekt ist. Wesentlich leichter zu verstehen wäre Sie war von seiner Klugheit fasziniert. oder Seine Klugheit faszinierte sie. 5.21 Inhaltssätze ohne „dass“ Wenn ein Nebensatz mit einer Konjunktion, z. B. dass eingeleitet wird, ist die Struktur des Gesamtsatzes und damit seine Bedeutung leichter zu erkennen, denn sie zeigt dem Leser, dass nun der gerade angekündigte „Inhalt“ folgt. ■ Sie behaupten, Herr Schmidt habe es versäumt, Sie über die erfolgte Reparatur in Kenntnis zu setzen. Mit dass würde der Satz lauten: ■ Sie behaupten, dass Herr Schmidt es versäumt habe, Sie über die erfolgte Reparatur in Kenntnis zu setzen. Bei der Version mit dass kann der/ die Leser: in leichter erkennen, was der Inhalt der Behauptung ist. ■ Auf die Bearbeitung seiner Anfrage wartet er schon mehrere Wochen. Mit dass würde der Satz lauten: Er wartet schon mehrere Wochen darauf, dass seine Anfrage bearbeitet wird. Bei der Version mit dass kann der/ die Leser: in leichter erkennen, worauf er wartet. 5.22 Verschachtelung trotz Parataxe (Linksattribution usw.) Die Linksattribution hat viele Vorteile wie z. B. die Möglichkeit eindeutiger Bezüge, aber sie kann Sätze auch schwer verständlich machen. Die folgenden Beispiele sind schwer verständlich, obwohl sie keine Nebensätze enthalten (sondern Linksattributionen): ■ Für die von dem dem neuen Anwalt nicht bekannten Subunternehmer in Auftrag gegebenen Prüfgeräte ist die Messgenauigkeit nachzuweisen. ■ Die sachliche und rechnerische Richtigkeit der für die Zahlung maßgebenden Angaben in der Kassenanordnung und in den die Rechnung begründenden Unterlagen war festzustellen und zu be-scheinigen. 312 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="314"?> 93 Diese Bezeichnung mit dem Adjektiv „uneingeleitet“ wird normalerweise für Nebensätze, speziell Konditionalsätze, verwendet. ■ Es soll über die von der Klägerin gemäß ihrem Schriftsatz vom 05.06.2024 gegen die Richtigkeit der von der Beklagten vorgelegten Zeugnisse erhobenen Einwendungen mittels eines von einem vom Gericht noch zu beauftragenden Gutachter zu erstellendes schriftliches Sachverständigen‐ gutachten Beweis erbracht werden. Siehe hierzu auch die Ausführungen über die Linksim Vergleich zur Rechtsattribution in Kapitel 8.12.9. Weitere Ausführungen und Übungen zu Links- und Rechtsattribution sind zu finden in Thormann/ Hausbrandt 2016, S.-24-31 und S.-380 ff. 5.23 Uneingeleitete Präpositionalphrasen Wenn einer Präpositionalphrase die Präposition fehlt, ist das so ähnlich wie der Fall, in dem einem Konditionalsatz das „wenn“ (oder „falls“ oder „sofern“) fehlt („uneingeleiteter Konditionalsatz). Ich nenne das „uneingeleitete Präpositionalphrase“. 93 . Beispiele: ■ Hoffentlich wird es diese Saison besser. Besser bzw. etwas leichter verständlich wäre Hoffentlich wird es in dieser Saison besser. ■ Diese Woche habe ich viel zu tun. statt In dieser Woche habe ich viel zu tun. ■ Nächstes Jahr spricht niemand mehr davon. Besser bzw. etwas leichter verständlich wäre Im nächsten Jahr spricht niemand mehr davon. Die Verständlichkeit ist kaum eingeschränkt. Die Frage, ob ein/ e Textverfasser: in diese „bequeme Verkürzung“, die im Mündlichen ganz üblich ist, auch im Schriftlichen verwen‐ det, kann jedoch für die Authentizitätsfeststellung dienlich sein. 5.24 Deppenleerzeichen und Striche Texte sind leichter verständlich, wenn der/ die Textverfasser: in bei Wörtern anzeigt, ob sie semantisch eine Einheit bilden, also ein Kompositum darstellen. Komposita Ein Kompositum besteht aus: Determinans (auch „Bestimmungswort“, das „bestim‐ mende“ Element, das erste/ linke Element) und Determinatum (auch „Grundwort“, auch „Basiswort“, zweites/ rechtes Element), z. B. Hauswand: Haus ist Determinans; es bestimmt die Art von Wand, um die es geht. Wand ist Determinatum; seine grammatischen Eigenschaften (z. B. das Genus; DIE Wand, gegenüber DAS Haus) gelten für das gesamte Kompositum. Die „Nahtstelle“ zwischen den Elementen heißt (Kompositions-)Fuge. 5.23 Uneingeleitete Präpositionalphrasen 313 <?page no="315"?> 94 Regel: Fugen-S, wenn das Substantiv auf -tum, -ing, -ling, -heit, -keit, -schaft, -ung, -ion, -tät, -at, -um endet (Ausnahme: Wörter, die auf -l enden [wie Nebelhorn, Paddelboot, Hebelgesetz]; Ausnahmen zur Ausnahme: Engelsgesicht, Teufelskreis). Es geht hier um die Getrennt-/ Zusammenschreibung (GZS) von Komposita, deren Ele‐ mente (gemäß der geltenden deutschen Rechtschreibung) zusammengeschrieben oder mit Bindestrichen gekoppelt werden. Verstöße dagegen, also ein Leerzeichen zwischen den Elementen bzw. die Getrennt-Schreibung zusammengehörender Komposita-Komponenten, werden abwertend auch als „Deppenleerzeichen“ bezeichnet, z. B. Instagram Kanal, Check Liste, Werbe Broschüre, Drogen Dealer, Geld Zurück Garantie. Normabweichende (fehler‐ hafte) Getrenntschreibung kommt selbstverständlich nicht bei solchen Komposita vor, die ein Fugen-s haben 94 , z.-B. Sterbenswörtchen, Ansichtskarte. Außerdem gibt es aus dem Englischen übernommene Komposita, die ohne Bindestrich geschrieben werden wie Art Director, Social Media, Fast Food, Joint Venture. Bindestriche zwischen den Elementen von Komposita sind oft hilfreich für das Verständnis. Wer sie nicht setzt, macht sich unterlassener Verständlichkeitssicherung schuldig. Beispiele: ■ Wir wollen keine Openenddiskussion. ■ Wir wollen keine Open-End-Diskussion. Komposita werden detailliert in Kapitel 8.11behandelt; außerdem in Kapitel 7.3.2 zum Klammerparadox bzw. der Hypallage. Striche, speziell Ergänzungsstrich Bei den Strichen gibt es: Bindestriche (kurzer Strich wie in S-Bahn, auch „Viertelge‐ viertstrich“) und Gedankenstriche (längerer Strich, auch „Halbgeviertstrich“ oder „Stre‐ cken-Strich“ und „Bis-Strich“). Auffällig ist vor allem, wenn ein/ e Textverfasser: in anstelle von Bindestrichen Gedankenstriche setzt oder umgekehrt, wenn er/ sie (längere) Komposita systematisch mit oder ohne Bindestrich oder ganz ohne Strich oder auseinander schreibt. Weiterhin gibt es den für die Authentizitätsfeststellung interessanten Ergänzungsstrich (auch „Ergänzungsbindestrich“ und „Bindestrich als Ergänzungszeichen“ genannt), Er steht als ein Platzhalter für ein ausgelassenes Wort, typischerweise für ein Element eines Kompositums, z.-B. ■ Außen- und Innenrenovierung ■ Farb- oder Laserdrucker ■ Sonntags- und Ausgehanzug ■ Geld- und andere Sorgen ■ Steuerreform-Befürworter und -Kritiker ■ Textilgroß- und -einzelhandel ■ Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz Wenn ein/ e Verfasser: in hier Fehler macht, kann die Ausdrucksweise evtl. schwerer zu ver‐ stehn sein. Primär interessant ist ein solcher Normverstoß, weil es sich um unterlassene 314 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="316"?> Verständlichkeitssicherung handelt, was für die Authentizitätsfeststellung ergiebig sein kann. 5.25 Fehler bei der Consecutio Temporum, speziell Plusquamperfekt Wer die „Consecutio Temporum“, auch „Zeitenfolge“, beherrscht bzw. deren Regeln an‐ wendet, hat damit die Möglichkeit, die zeitlichen Abläufe von Vorkommnissen oder Handlungen verständlich darzustellen, speziell wenn das, was zuerst geschah bzw. getan wurde, nicht zuerst genannt wird. Werden diese Regeln nicht befolgt, kann es leicht zu schwer verständlichen Sequenzen und auch zu Missverständnissen kommen. 5.25.1 Unterlassene Verwendung des Plusquamperfekts Viele Sätze wären leichter und schneller zu verstehen, wenn der/ die Verfasser: in eine Vorzeitigkeit mit dem Plusquamperfekt ausdrücken würde. Das Plusquamperfekt ist die „Vor-Zeitform“ für das Perfekt und das Präteritum. ■ Der Einkaufsleiter war in Österreich. zum Skilaufen gewesen und somit stand er nicht zur Verfügung, weil er dann wegen Coronaverdachts erstmal lange in Quarantäne war. Er war in Österreich gewesen! ■ Nachdem er die Strafe bezahlt hat, war er pleite. Er war pleite, nachdem - oder auch „weil“ - er die Strafe bezahlt hatte. ■ Er hat in der vorletzten Spielsaison kein Tor geschossen, aber in der letzten schoss er drei. In der vorletzten (! ) Saison hatte er kein Tor geschossen, in der letzten (also danach) schoss er jedoch Tore. Die vorletzte Saison lag VOR der letzten; daher sollte dafür das Plusquamperfekt verwendet werden, also Er hatte in der vorletzten Spielsaison kein Tor geschossen, aber in der letzten schoss er drei. Wann was geschah und in welcher Abfolge, ist im folgenden Satz nur anhand des Adverbials grade vorher erkennbar. ■ Als Tim sie um einen Kredit gebeten hat, hat sie grade vorher die Erbschaft von ihrer Oma ausbezahlt bekommen. Viel einfacher ist der Satz zu verstehen, wenn die Consecutio Temporum eingehalten wird: Als Tim sie um einen Kredit gebeten hat, hatte sie grade vorher die Erbschaft von ihrer Oma ausbezahlt bekommen. Oder mit dem Verb des Temporalsatzes im Präteritum: Als Tim sie um einen Kredit bat, hatte sie grade vorher die Erbschaft von ihrer Oma ausbezahlt bekommen. Das Plusquamperfekt ist die „Vor-Zeitform“ nicht nur für das Perfekt, sondern auch für das Präteritum. 5.25 Fehler bei der Consecutio Temporum, speziell Plusquamperfekt 315 <?page no="317"?> 95 Die Bedeutung des lateinischen Wortes „super“ ist „darüber hinaus“, „außerdem“, „über“. 5.25.2 Unbegründete Verwendung des Plusquamperfekts Typische Fehler sind hier der Gebrauch des Plusquamperfekts, wenn keine Vorzeitigkeit vorliegt, statt des Perfekts oder Präteritums, was meist auf eine „hilflose“ Bemühung um eine „gebildete“ Ausdrucksweise zurückzuführen ist. ■ Danke für das Essen; das war gut gewesen. statt […] das war gut. oder […] das ist gut gewesen. Dass ein/ e Verfasser: in nach einem vollständigen Satz wie Das war gut. noch ein gewesen hinzufügt, passiert ihm/ ihr dann leicht, wenn er/ sie einen Satz wie den obigen mit Das war zu formulieren begonnen hat (statt gleich das Perfekt mit Das ist […] zu „planen“). Noch in Beispiel mit dem Verb sein: ■ Ich war gestern im Club gewesen. statt Ich bin gestern im Club gewesen. (oder Ich war gestern im Club.). Ein Beispiel mit dem Verb haben: ■ Ich hatte keine Fluppen mehr gehabt. ohne dass eine Vorzeitigkeit ausgedrückt werden soll, etwa weil der darauffolgende Satz eine Folgehandlung ausdrückt, die dann im Präteritum oder Perfekt steht (wie z. B. Darum ging ich zur Tanke. oder Darum bin ich zur Tanke gegangen.) Zu den Tempusformen für Berichte über die Vergangenheit siehe auch Kapitel 8.16.1.2zu den Vergangenheitstempora. Dieses sprachliche Phänomen kommt jedoch eher im Münd‐ lichen als im Schriftlichen vor. 5.25.3 Doppel-Perfekt Besonders interessant für die Authentizitätsfeststellung ist es, wenn nicht die in der deutschen Grammatik vorgesehenen Tempusformen, sondern mehr Prädikatselemente verwendet werden als notwendig, sog. „superkomponierte Formen“ 95 wie das Doppel‐ perfekt (auch „Superperfekt“, „Ultra-Perfekt“, „Doppel-Präsensperfekt“). Das lässt Schlüsse zu auf a) die Region, aus der der/ die Verfasser: in stammt oder in der er/ sich aufhält oder aufgehalten hat, denn das Doppelperfekt „gehört zu“ manchen Regiolekten, und/ oder b) den Bildungsstand. 316 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="318"?> ■ Die haben das gar nicht verdient gehabt. ■ Er hat das bestimmt vergessen gehabt. ■ Als er endlich zurückkam, haben wir das Wichtigste schon besprochen gehabt. Dieses Phänomen gibt es auch mit dem Plusquamperfekt und mit dem Konjunktiv: ■ Als er endlich zurückkam, hatten wir das Wichtigste schon besprochen gehabt. ■ Jonas hatte die Bank vorher monatelang beobachtet gehabt. ■ Er sagte, der Chef hätte das so nicht befohlen gehabt. Bei allen obigen Beispielen beginnt das Partizip nicht mit ge- (wie es der Fall wäre in Ich habe ihm geschrieben gehabt., Er hat es ihm oft gesagt gehabt.). Dieses Phänomen (des Doppelperfekt) tritt häufiger auf, wenn das Partizip nicht mit gebeginnt, wobei es unerheblich ist, ob es sich um ein trennbares Verb handelt (das ein anderes Präfix hat und kein -gewie entschieden, verloren, verdient, besprochen) oder um ein untrennbares Verb (also mit einem ge nach dem Präfix wie in Er hatte ihn schon abgeholt gehabt). Vermutlich fällt es vielen Verfasser: innen leichter, die Form korrekt zu bilden, also das Doppelperfekt zu vermeiden, wenn das Partizip mit gebeginnt (gemacht gehabt). Bei allen obigen Beispielen enthalten die Sätze Verben, die das Perfekt (und Plusquamper‐ fekt) mit haben bilden. Das Phänomen (des Doppelperfekt) tritt eher selten auf, wenn das Verb des Satzes das Perfekt (und Plusquamperfekt) mit sein bildet (Das Zelt war gemietet gewesen. Maddie war plötzlich spurlos verschwunden gewesen.), und noch weniger häufig mit Verben, die ein zusätzliches Präfix haben (wie z. B. abin Der Bus ist schon abgefahren gewesen.), denn in diesen Fällen wird das Partizip wie ein Zustandspassiv angesehen (in den obigen Beispielsätzen der Zustand des Gemietet-Seins bzw. des Verschwunden-Seins bzw. Abgefahrenbzw. Weg-Seins). Wenn Fehler dieser eher selten auftretenden Art auffallen (Doppelperfekt bei einem mit ge beginnenden Partizip), ist dies ein Hinweis auf einen niedrigen Bildungsstand oder die Herkunft aus einer bestimmten Region und wahrscheinlich idiolektal. 5.26 Das oft bagatellisierte Honorifikum Ein Satz kann schwer verständlich werden, und es kann zu Missverständnissen kommen, wenn jemand die Unterschiede bei der Groß- und Klein-Schreibung (GKS) zur Unterschei‐ dung der „normalen“ Personalpronomen vom Honorifikum nicht beherrscht. ■ Ich bewundere S/ sie schon lange. ■ Es wurde zugesagt, S/ sie würden die Ware in dieser Woche liefern. 5.26 Das oft bagatellisierte Honorifikum 317 <?page no="319"?> Exkurs: Groß- und Kleinschreibung (GKS) allgemein Hier werden oft Fehler gemacht, denn viele Verfasser: innen scheinen nicht zu wissen, dass die GKS eines Wortes die Bedeutung des Satzes verändern kann. GKS-Regeln Großgeschrieben werden im Deutschen: • Satzanfänge, Überschriften, Titel • Substantive und Substantivierungen • Namen • Anredepronomen, insbesondere die Höflichkeitsformen (Honorifikum) Fehler können zu lustigen anderen Bedeutungen führen: Der Junge sieht dir ungeheuer ähnlich. Der Junge sieht dir Ungeheuer ähnlich. Wir haben liebe Genossen. Wir haben Liebe genossen. Ich sehe das objektiv. Ich sehe das Objektiv. Tab. 51: Groß-/ Klein-Schreibung und Bedeutungsunterschiede Und es gibt Wörter, die je nach Wortart groß- oder kleingeschrieben werden: Kleinschreibung Großschreibung Er ist risikoscheu. Es ist eine zunehmende Risikoscheu der Anleger zu beobachten. Der ist für mich verdächtiger. Der ist für mich Verdächtiger. Das ist mir am wichtigsten. Das ist mir das Wichtigste. Tab. 52: Groß-/ Klein-Schreibung je nach Wortart Zurück zum Honorifikum Beim großgeschriebenen Pronomen handelt es sich bei der Sie-Person um jmdn., der angesprochen und gesiezt wird (sog. Honorifikum). Beim kleingeschriebenen sie handelt es sich um eine weibliche Person oder - bei entsprechendem Plural-Verb - um mehrere Personen. Das kann z. B. bei einer Zeugenaussage sehr wichtig sein und zu Fehlern führen, wenn jemand nur einen Buchstaben falsch schreibt (also sie statt Sie oder Sie statt sie), und es führt bei maschineller Übersetzung zu einer unterschiedlichen Übersetzung bzw. bei Falsch-Schreibung zu einem Fehler, also bei dem Übersetzungsergebnis zu einem Satz mit einer nicht intendierten Bedeutung. ■ Frau Müller hat I/ ihr Kind entführt. Wessen Kind hat sie entführt? Ihr eigenes oder ein anderes? 318 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="320"?> ■ In vorbezeichneter Angelegenheit zeigen wir hiermit an, dass uns die Wasser- und Ver‐ kehrs-GmbH mit der Wahrnehmung I/ ihrer Interessen beauftragt hat. Wessen Interessen werden wahrgenommen? Vermutlich ist das Wort mit kleinem „i“ zu schreiben. Dies ist ein Standardsatz aus einem Schreiben eines Rechtsanwalts bzw. einer Kanzlei an die Gegenpartei, das auch das Gericht erhält. Der eine Buchstabe ist sehr wichtig. Er bezeichnet, wer vertreten wird: der Angesprochene oder das im Satz erwähnte Unternehmen. Dass die Wasser und Verkehr GmbH die Anwälte beauftragt hat, die Interessen der im Schreiben angesprochenen Person zu vertreten, ist extrem unwahrscheinlich. ■ Momentan haben Sie ja das Problem, dass potenzielle Kunden eher bei der Konkurrenz kaufen und S/ sie dadurch viel Geld verlieren. Wer verliert Geld? Die angesprochene Person? Dann muss das „S/ sie“ großgeschrieben werden. Oder die potenziellen Kunden? Dann ist ein kleines „s“ richtig. ■ Frau Busch hat mich gebeten, im Nachgang zu I/ ihrer E-Mail von gestern noch die Details mit den Grafiken zu schicken, die S/ sie im Attachment finden. Wenn die Personalbzw. Possessivpronomen falsch klein-bzw. groß-geschrieben werden, - kann das zu Missverständnissen führen und - braucht der Leser länger, bis er die intendierte Mitteilung korrekt versteht (z. B. im obigen Fall bzgl. der Frage, zu wessen E-Mail dies ein Nachtrag ist und wer etwas im Attachment findet. ■ Wir als Netzbetreiber garantieren, dass wir I/ ihre Kunden mit allem versorgen, was S/ sie brauchen. Wessen Kunden werden versorgt? Wer braucht etwas? ■ Es war sehr nett, dass S/ sie uns noch beim Aufräumen geholfen haben. Wer hat beim Aufräumen geholfen? ■ Sehr geehrte Besucher, aufgrund I/ ihres hohen Alters ist unsere Leopardin leider gestorben. Wer ist alt? Die Besucher? Vermutlich war die Leopardin alt. Dann müsste ihres mit kleinem i geschrieben werden. 5.27 Vorausgesetzte Kenntnisse ■ Auf nach FFM! FFM kann u. a. für Frankfurt am Main stehen (eigentlich FfM mit kleinem zweitem „f “), auch für Flugwissenschaftliche Forschungsanstalt München. Wenn Kontextwissen fehlt, ist das nicht feststellbar. In dem speziellen Fall wollte ein Unternehmen mitteilen, dass es an einer Marketing-Messe bzw. -Konferenz in Frankfurt am Main teilnehmen werde. 5.27 Vorausgesetzte Kenntnisse 319 <?page no="321"?> 96 Am Rande zum Verständnis die Geschichte zu dem Satz: Danaë war von ihrem Vater eingesperrt und von Männern ferngehalten worden, da gemäß einem Orakel ein etwaiger Sohn, den Danaë bekommen könnte, Danaës Vater (Akrisios) töten würde. Doch Zeus begehrte Danaë und kam in der Gestalt von goldenem Regen in ihr Gefängnis, und Danaë gebar Perseus, der tatsächlich später in seinem Leben seinen Großvater - versehentlich - tötet. ■ Dann erschien Zeus der Danaë als Goldregen. Wenn man nicht weiß, wer Danaë ist, und die Geschichte mit dem Goldregen nicht kennt 96 , versteht man nichts oder 1. interpretiert beim Verstehensversuch die Präpositionalphrase (als Goldregen) falsch. Der Satz wäre etwas besser verständlich, wenn er umformuliert würde in Dann erschien Zeus der Danaë in Gestalt eines Goldregens. oder Dann verwandelte sich Zeus in einen Goldregen und erschien Danaë in dieser Weise. ■ Er muss an einem Punkteabbauseminar teilnehmen. Der/ die Verfasser: in setzt voraus, dass der/ die Leser: in weiß, um welche Art von Punkten es sich handelt (sicherlich um Punkte im Fahreignungsregister FAER in Flensburg). Das ergibt sich sicherlich aus dem Kontext. Wenn der/ die Verfasser: in nicht darauf achtet, dass ein/ e Leser: in sich die Bedeutung eines Ausdrucks erschließen kann, handelt es sich um unterlassene Verständlichkeitssiche‐ rung. 320 5 Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung <?page no="322"?> 6 Verständlichkeits-Experiment Für einen der Zwecke der forensischen Linguistik, das Detektieren von Missverständnissen z. B. bei Vereinbarungen jeglicher Art, für das Auslegen von mangelhaften sprachlichen Äußerungen (etwa unklaren Formulierungen bei Aufnahmen von Gesprochenem beispiels‐ weise im Rahmen von Abhörmaßnahmen, bei beschädigten Schriftstücken, bei fehlerhaf‐ tem Deutsch von jmdm., dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, bei kriminalpsychologisch relevanten Texten in Verbindung mit Glaubhaftigkeits- und Glaubwürdigkeitsfragen) und beim Identifizieren eines Idiolekts bei der Authentizitätsfeststellung ist es u. a. wertvoll, zu wissen, welche Maßnahmen der Verständlichkeitssicherung ein/ e Verfasser: in unternimmt. Um das zu können, muss ihm/ ihr zunächst die Verständlichkeitsgefährdung bewusst sein, und dazu wiederum muss er/ sie die Fallen und die mehrdeutigen Ausdrucksweisen, Ambiguitäten, erkennen. Erst, wenn er/ sie die Ambiguitäten (er-)kennt, kann er/ sie sie im eigenen Text vermeiden. Um herauszufinden, welche Arten von Ambiguität leicht und welche weniger leicht bzw. nicht erkannt werden, habe ich über mehrere Jahre ein Experiment durchgeführt. 656 Leser: innen und auch ChatGPT (Plus-Version) wurden die folgenden 10 Sätze (mit unter‐ schiedlich schwierig zu erkennenden Ambiguitäten) vorgelegt, und sie wurden gefragt, ob ihnen die Bedeutung des Satzes jeweils klar ist. Alle Sätze haben mehr als eine Bedeutung, das wurde jedoch nicht dazugesagt. Es war sichergestellt, dass die Antworten nicht unter Zeitdruck gegeben wurden. Für die strengen Wissenschaftler: innen unter den Leser: innen sei am Rande bemerkt: Dieses Experiment fand nicht unter wissenschaftlichen Bedingungen statt, es wurde auch nicht gemäß den Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der Deutschen For‐ schungsgemeinschaft (DFG) durchgeführt, auch nicht gemäß den Daubert-Bedingungen (mehr zum Daubert-Standard in Kapitel 1.7.5 u. a. zur Fehlervermeidung in der Authenti‐ zitätsfeststellung). Zu Beginn des Experiments im Sommer 2019 zeichnete sich noch nicht ab, als wie sinnvoll es sich darstellen würde - auch im Hinblick auf den erst wesentlich später möglichen, sehr sinnvollen Vergleich mit ChatGPT. Ich habe dieses Experiment nicht als separates Forschungsprojekt betrieben, sondern als „Vehikel“ für meine weiteren Erkenntnisse zur Fähigkeit (von Leser: innen) des Erkennens von Verständlichkeitsmängeln (hier: Ambiguitäten) zur Einstufung der Schwierigkeitsstufen bei dieser Fähigkeit und für mögliche Schlüsse auf die Fähigkeit von Textverfasser: innen zur präventiven (aktiven) Verständlichkeitssicherung. Hier die Sätze: 1 Susi saß an der Leine. 2 Herr Meyer möchte Sie wegen eines Termins in der ersten Mai-Woche sprechen. 3 Er fragte mich, ob ich nach der Party in der Galerie noch etwas trinken wollte. 4 Er traf die Schwester seiner Freundin, die in Berlin gemeldet ist. 5 Die langfristige Therapie von Männern mit viel Testosteron ist hier nicht sinnvoll. <?page no="323"?> 6 Er hat die Verteidigung von Herrn Nickel übernommen. 7 Der Mann sah das Mädchen mit dem Fernglas. 8 Die Kosten können vom Darlehensgeber zurückverlangt werden. 9 Er sagte, Frau Meyer kenne er länger als Frau Schmidt. 10 Ich habe das von Deiner Mutter gehört. Tab. 53: Verständlichkeits-Experiment: die 10 Sätze Das Hauptinteresse liegt in der Frage, bei welchen Sätzen nur eine Bedeutung gesehen wird. Von untergeordnetem Interesse ist, wie die Befragten die verschiedenen Bedeutungen erklären. Anders ausgedrückt lauten die Fragen also: ● Bei welchen Sätzen wird am ehesten keine Ambiguität erkannt? ● Bei welchen Sätzen ist die Ambiguität also besonders schwer zu erkennen? ● Welche Reihenfolge der „Schwer-Erkennbarkeit der Ambiguitäten“ ergibt sich? ● Welcher Satz enthält die von den wenigsten ProbandInnen erkannte Ambiguität, also bei welchem Satz wird die Ambiguität am schwersten erkannt, und welcher Satz enthält die von den meisten ProbandInnen erkannte Ambiguität, also bei welchem Satz wird die Ambiguität am leichtesten erkannt? Ein interessantes Ergebnis am Rande: Es gab vier Teilnehmer: innen (also 0,61 %), die bei ALLEN Sätzen NUR EINE Bedeutung sahen, also in keinem Satz eine Ambiguität erkannten. Die Ergebnisse: Der Satz, bei dem die größte Anzahl der Teilnehmer: innen die Ambiguität nicht erkannte, war Satz 9 (541 Teilnehmer: innen, also 82 %), dicht gefolgt von Satz 8 (498 Teilnehmer: innen, also 76 %). Das waren folglich offensichtlich die schwierigsten Sätze. Dann kommt eine Gruppe, und zwar die Sätze 4 und 3, bei denen es vielen ProbandInnen offensichtlich schwerfiel, eine zweite Bedeutung zu sehen. Folgende Tabelle zeigt die Sätze in der Reihenfolge der Schwierigkeit (bezüglich des Erkennens der Ambiguität) mit Angabe des prozentualen Anteils der Proband: innen, die in dem jeweils angegebenen Satz keine Ambiguität erkannten: - Satz Anzahl von 656 % 9 Er sagte, Frau Meyer kenne er länger als Frau Schmidt. 541 82 8 Die Kosten können vom Darlehensgeber zurückverlangt werden. 498 76 4 Er traf die Schwester seiner Freundin, die in Berlin gemeldet ist. 381 58 3 Er fragte mich, ob ich nach der Party in der Galerie noch etwas trinken wollte. 369 56 322 6 Verständlichkeits-Experiment <?page no="324"?> Satz Anzahl von 656 % 6 Er hat die Verteidigung von Herrn Nickel übernommen. 290 44 1 Susi saß an der Leine. 111 17 7 Der Mann sah das Mädchen mit dem Fernglas. 106 16 2 Herr Meyer möchte Sie wegen eines Termins in der ersten Mai-Wo‐ che sprechen. 78 11 10 Ich habe das von Deiner Mutter gehört. 60 9 5 Die langfristige Therapie von Männern mit viel Testosteron ist hier nicht sinnvoll. 46 7 Tab. 54: Leistung von Menschen, Ambiguitäten zu erkennen Anders betrachtet, und zwar danach, bei welchen Sätzen die Ambiguität am leichtesten erkannt wurde: Bei Satz 5 war es für die meisten Teilnehmer: innen leicht, eine andere Bedeutung zu sehen, bei Satz 10 ebenfalls, bei Satz 2 war es auch relativ leicht, bei Satz 7 und 1 etwas weniger leicht. Dann gibt es einen „Sprung“ bzw. eine „Lücke“, denn bei Satz 6 sahen 44-% der Teilnehmer: innen keine zweite Bedeutung (also nur etwas über die Hälfte, nämlich 56-%, erkannten die Ambiguität). Die Reihenfolge der Schwierigkeit (absteigend, also abnehmende Schwierigkeit, die Ambi‐ guität zu erkennen) war also 9-8-4-3-6-1-7-2-10-5. ChatGPT (Plus-Version) erkannte in folgenden Sätzen keine Ambiguität: 9, 4, 6 und 1. Betrachten wir die zehn Sätze, die verschiedene Ambiguitäten und Schwierigkeiten enthal‐ ten, genauer: - Satz Verständlichkeitsproblem umgangssprachlich Formulierung des Problems linguistisch 1 Susi saß an der Leine. Saß eine Frau am Fluss in Hannover, oder ist Susi ein Hund mit einem Halsband? lexikal. Ambiguität (Susi + Leine) 2 Herr Meyer möchte Sie wegen eines Ter‐ mins nächste Woche sprechen. Soll der Termin in der nächsten Wo‐ che sein oder das Gespräch? Funktion einer Präpositional‐ phrase (nächste Woche): Ad‐ verbial oder Attribut (zu Ter‐ min)? 3 Er fragte mich, ob ich nach der Party in der Galerie noch etwas trinken wollte. Findet die Party in der Galerie statt? Oder wollen wir nach der Party (wo immer die ist) in der Galerie etwas trinken? Funktion einer Präpositional‐ phrase (in der Galerie): Adver‐ bial oder Attribut (zu Party)? 4 Er traf die Freundin seiner Schwester, die in Berlin wohnt. Wer wohnt in Berlin, die Freundin oder die Schwester? Bezug eines Relativsatzes 6 Verständlichkeits-Experiment 323 <?page no="325"?> Satz Verständlichkeitsproblem umgangssprachlich Formulierung des Problems linguistisch 5 Die langfristige The‐ rapie von Männern mit viel Testosteron ist hier nicht sinn‐ voll. Geht es um Männer, die viel Testo‐ steron haben, oder um eine Therapie mit Hilfe von Testosteron Funktion einer Präpositional‐ phrase (mit viel Testosteron): Adverbial oder Attribut (zu Männern)? 6 Er hat die Verteidi‐ gung von Herrn Ni‐ ckel übernommen. Wird er Herrn Nickel verteidigen (und Herr Nickel braucht einen RA)? Oder ist Herr Nickel auch RA und hat die Vertretung von einem Man‐ danten an „ihn“ abgetreten? Funktion einer Präpositional‐ phrase (von Herrn N.): Adver‐ bial oder Attribut (zu Verteidi‐ gung, von als Genitiv-Ersatz; „des Herrn N.“)? 7 Der Mann sah das Mädchen mit dem Fernglas. Diente das Fernglas zum Sehen? Oder hielt das Mädchen ein Fernglas in der Hand (wie manche Mädchen einen Perlohrring tragen)? Funktion einer Präpositional‐ phrase (mit dem Fernglas): Adverbial oder Attribut (zu Mädchen)? 8 Die Kosten können vom Darlehensgeber zurückverlangt wer‐ den. Verlangt der Darlehensgeber die Kosten zurück? Oder soll der Dar‐ lehensgeber die Kosten zurückzah‐ len? Funktion einer Präpositional‐ phrase (vom Darlehensgeber): Adverbial (zu „zurückverlan‐ gen“) oder Der Darl.g. ist das Subjekt des Aktivsatzes (Der Darl.geber kann die K. z.)? … typisches „von“-Problem 9 Er sagte, Frau Meyer kenne er länger als Frau Schmidt. Frau Meyer kennt er länger, als er Frau Schmidt kennt? Oder ist es so: Er kennt Frau Meyer länger, als Frau Schmidt Frau Meyer kennt? Funktion von „Frau Schmidt“: Objekt (des Inhaltssatzes, „Er kennt Frau Schmidt“) oder Subjekt (Frau Schmidt kennt Frau Meyer)? 10 Ich habe das von Dei‐ ner Mutter gehört. Hat die Mutter das erzählt? Oder gibt es neue Informationen ÜBER die Mutter? Funktion einer Präpositional‐ phrase (von Deiner Mutter): Adverbial (zu „hören“) oder Attribut zu „Mutter“? Für die genauere Betrachtung der Sätze beginnen wir mit dem Satz, bei dem die meisten ProbandInnen die Ambiguität sahen, von dem man wahrscheinlich sagen kann, dass die Ambigutiät am leichtesten zu erkennen ist (Satz 5): ■ [5] Die langfristige Therapie von Männern mit viel Testosteron ist hier nicht sinnvoll. Haben die zu therapierenden Männer viel Testosteron? Oder wird das Testosteron als Therapie-Mittel eingesetzt? Die Präpositionalphrase (mit viel Testosteron) ist ein Attribut, aber zu was? Zu den Männern oder zu der Therapie? Eindeutig (also nicht ambig, also mit nur einer der zwei Bedeutungen) wäre der Satz mit einem Relativsatz: Wenn es die Männer sind, die viel Testosteron haben: 324 6 Verständlichkeits-Experiment <?page no="326"?> ■ Die langfristige Therapie von Männern, die viel Testosteron haben, ist hier nicht sinnvoll. Wenn es die Therapie ist, die viel Testosteron beinhaltet: ■ Die langfristige Therapie von Männern durch Einsatz von viel Testosteron ist hier nicht sinnvoll. oder (ohne Relativsatz, und das Testosteron gehört zur Therapie): ■ Die Anwendung von viel Testosteron in der langfristigen Therapie von Männern ist hier nicht sinnvoll. ■ Die/ Eine langfristige, hochdosierte Testosteron-Therapie von Männern ist hier nicht sinnvoll. Es handelt sich um syntaktische Ambiguität. Auch das Wort hier ist zu beachten, denn es kann lokal (an diesem Ort) oder abstrakt (in diesem Fall) verstanden werden. ■ [10] Ich habe das von Deiner Mutter gehört. Hat die Mutter das erzählt? Oder gibt es neue Informationen ÜBER die Mutter? Was ist die Funktion der Präpositionalphrase (von Deiner Mutter)? Ist sie Adverbial (zum Prädikat hören) oder Attribut (zu dem Akkusativ-Objekt das)? Auch hier handelt es sich um syntaktische Ambiguität. Der „Übeltäter“ ist eine Präpositi‐ onalphrase mit der Präposition von, weil es viele mögliche verschiedene Bedeutungen und Funktionen hat. ■ [2] Herr Meyer möchte Sie wegen eines Termins in der ersten Mai-Woche sprechen. Was soll in der nächsten Woche geschehen? Möchte Herr Meyer in der nächsten Woche telefonieren? Oder möchte er einen Termin in der nächsten Woche? Ist die Präpositionalphrase (in der ersten Mai-Woche) ein Adverbial (zum Prädikat telefonieren) oder ein Attribut zum Termin? Es handelt sich auch hier um syntaktische Ambiguität. Man müsste Herrn Meyer fragen (und ggf. erfahren, was in der ersten Mai-Woche stattfinden soll: ein Telefonat oder der Termin). ■ [1] Susi saß an der Leine. Ist Susi ein Hund oder eine Frau? Ist die Leine ein Lederriemen oder der Fluss? Oder ist Susi eine Frau in einer Sado-Maso-Situation? Dieser Satz enthält zwei Homonyme bzw. Polyseme (Susi und Leine) Hier ist es lexikalische Ambiguität (Typ „Teekesselchen“). 6 Verständlichkeits-Experiment 325 <?page no="327"?> ■ [7] Der Mann sah das Mädchen mit dem Fernglas. Sah er das Mädchen mittels bzw. mithilfe eines Fernglases? Oder sah er ein Mädchen, das ein Fernglas in der Hand hielt? Ist die Präpositionalphrase (mit dem Fernglas) Adverbial (zum Prädikat sah) oder Attribut (zu dem Mädchen)? Hier handelt es sich wieder um syntaktische Ambiguität. ■ [6] Er hat die Verteidigung von Herrn Nickel übernommen. Wird Herr Nickel verteidigt? Oder ist Herr Nickel evtl. Rechtsanwalt und hat sein Mandat an einen anderen Rechtsanwalt (die „Er“-Person) übergeben? Geht es um eine strafrechtliche Verteidigung? Ist die Präpositionalphrase (von Herrn Nickel) Adverbial (zum Prädikat übernommen) oder Attribut (zur Verteidigung, also zum Akkusativ-Objekt)? Auch hier handelt es sich auch um syntaktische Ambiguität. Es ist nicht klar, um was für eine Art von Verteidigung es geht. Es könnte sich auch um die Aufstellung einer Fußballmannschaft handeln, in der zunächst Herr Nickel als Verteidiger vorgesehen war. Man braucht viele Informationen, um die Bedeutung dieses Satzes sicher zu verstehen. ■ [3] Er fragte mich, ob ich nach der Party in der Galerie noch etwas trinken wollte. Findet die Party in der Galerie statt? Oder wollen wir nach der Party (wo immer die ist) in der Galerie etwas trinken? Ist die Präpositionalphrase (in der Galerie) Adverbial (zum Prädikat trinken) oder Attribut (zur Party)? Wieder handelt es sich um syntaktische Ambiguität. Nur derjenige, der den Satz äußert, weiß, wie er ihn gemeint hat. ■ [4] Er traf die Schwester seiner Freundin, die in Berlin gemeldet ist. Wer ist in Berlin gemeldet? Die Schwester oder die Freundin? Worauf bezieht sich der Relativsatz (die in Berlin gemeldet ist)? Auf das direkt davor stehende Substantiv (Freundin, also das Genitivattribut zu dem weiter davor stehenden Substantiv (Schwester)? Oder auf die Schwester? Beide passen in Kasus, Numerus. und Genus. 326 6 Verständlichkeits-Experiment <?page no="328"?> Hier handelt es sich wieder um syntaktische Ambiguität. Man müsste die Er-Person fragen, wer in Berlin gemeldet ist. ■ [8] Die Kosten können vom Darlehensgeber zurückverlangt werden. Ist es so, dass der Darlehensgeber das Geld zurückverlangen kann? Oder ist es der Darlehensgeber, der zurückzahlen muss? Die Präpositionalphrase vom Darlehensgeber ist in jedem Fall ein Adverbial (zum Prädikat „zurückverlangen“). Fraglich ist, welche Funktion der Darlehensgeber im entsprechenden Aktivsatz hat. a. Der Darlehensgeber kann die Kosten zurückverlangen [von wem, das ist unbekannt]. b. Jemand [wer, das ist unbekannt] kann das Darlehen von ihm, dem Darlehensgeber, zurückverlangen. Es handelt sich hier wieder um syntaktische Ambiguität, die etwas anders geartet ist. Es liegt ein Passivsatz vor, in dem eine Person genannt wird, welche Teil einer Präpositional‐ phrase mit der Präposition von ist, welche wiederum in diesem Satz ein Adverbial ist. Präpositionalphrasen mit von sind sehr oft die „Übeltäter“ für mehrdeutige Sätze und somit Missverständnisse. Hier würde, um den Satz richtig zu verstehen, Information darüber helfen, wie der Satz im Aktiv mit dem Prädikat „zurückverlangen“ lautet. ■ [9] Er sagte, Frau Meyer kenne er länger als Frau Schmidt. Wer kennt wen länger als wen? Kennt er Frau Meyer länger, als er Frau Schmidt kennt? Oder kennt er Frau Meyer länger, als Frau Schmidt Frau Meyer kennt? Ist es also so, dass er Frau Meyer und auch Frau Schmidt kennt, aber Frau Meyer schon länger? Oder ist es so, dass er Frau Meyer kennt, und Frau Schmidt kennt Frau Meyer auch, aber er kennt sie schon länger, als Frau Schmidt Frau Meyer kennt? Was ist die Funktion von Frau Schmidt innerhalb des Adverbials als Frau Schmidt? Ist Frau Schmidt Nominativ oder Akkusativ? Wie lautet das nicht verkürzte Adverbial als Frau Schmidt: als er Frau Schmidt kennt oder als Frau Schmidt Frau Meyer kennt? Eine hilfreiche Umformulierung wäre - je nachdem, was der Fall ist: Frau Meyer kennt er länger, als er Frau Schmidt kennt. oder Frau Meyer kennt er länger, als Frau Schmidt Frau Meyer kennt. Hier liegt eine besonders komplizierte syntaktische Ambiguität vor. Die eine Bedeutung (dass er beide Damen kennt, und zwar die eine länger als die andere) drängt sich auf, und die andere Bedeutung ist nur bei einer elliptischen Formulierung möglich (als Frau Schmidt Frau Meyer kennt verkürzt zu als Frau Schmidt). Ich habe die 10 Sätze übrigens auch Google Bard gezeigt (das dann bald in Gemini umbenannt wurde) und gefragt, ob sie Ambiguitäten enthalten. Bard fand in KEINEM Satz eine Ambiguität. 6 Verständlichkeits-Experiment 327 <?page no="329"?> Sehen wir, was ChatGPT (die Plus-Version) sagt, wenn man fragt, ob die Sätze Ambiguitäten enthalten. Übrigens habe ich ChatGPT 3,5 und ChatGPT 4 bzw. „Plus“ verglichen. Es gab nur minimale Unterschiede, die ich als so unerheblich beurteile, dass ich sie hier unberücksichtigt lasse. Wir betrachten die Sätze auch hier in der Reihenfolge, die wir oben als „von leicht zu schwer“ festgestellt haben: Chat GPT: ■ Die langfristige Therapie von Männern mit viel Testosteron ist hier nicht sinnvoll. (Satz 5) - Ambiguität: Es ist unklar, ob die Therapie bei Männern mit einem hohen Testosteronspiegel nicht sinnvoll ist oder ob die Therapie darauf abzielt, den Testosteronspiegel bei Männern zu erhöhen. - Erklärung: Diese Ambiguität entsteht durch die syntaktische Struktur des Satzes. Es ist unklar, ob die Therapie bei Männern mit einem hohen Testosteronspiegel nicht sinnvoll ist oder ob die Therapie darauf abzielt, den Testosteronspiegel bei Männern zu erhöhen. - ERKANNT, aber nicht erklärt ■ Ich habe das von Deiner Mutter gehört. (Satz 10) - Ambiguität: Es ist unklar, was genau du von seiner Mutter gehört hast. Es könnte sich auf eine Information, eine Geschichte oder etwas anderes beziehen. - Erklärung: Die Ambiguität in diesem Satz resultiert aus der Unklarheit darüber, was genau von der Mutter gehört wurde. Es könnte sich auf verschiedene Informationen, Geschichten oder Äußerungen beziehen. - NICHT ERKANNT ■ Herr Meyer möchte Sie wegen eines Termins in der ersten Mai-Woche sprechen. (Satz 2) - Ambiguität: Es ist unklar, ob der Termin in der ersten Mai-Woche stattfindet oder das Gespräch in der ersten Mai-Woche stattfinden soll. - Erklärung: Diese Ambiguität entsteht durch die Platzierung der Präpositional‐ phrase „in der ersten Mai-Woche“. Es ist unklar, ob der Termin in dieser Woche stattfindet oder ob das Gespräch in dieser Woche stattfinden soll. - ERKANNT ■ Der Mann sah das Mädchen mit dem Fernglas. (Satz 7) - Ambiguität: Es ist unklar, ob der Mann das Mädchen mit Hilfe eines Fernglases sah oder das Mädchen das Fernglas in der Hand hielt. - Die Ambiguität entsteht durch die syntaktische Struktur des Satzes. Es ist unklar, ob der Mann das Mädchen mit einem Fernglas sah oder das Mädchen das Fernglas in der Hand hielt. - ERKANNT, aber nicht erklärt ■ Susi saß an der Leine. (Satz 1) - Ambiguität: Es ist unklar, ob Susi an der Leine saß oder die Leine an etwas anderem befestigt war. - Erklärung: Die Ambiguität in diesem Satz ergibt sich aus der Mehrdeutigkeit der Präposition „an“. Es ist unklar, ob Susi an der Leine saß oder die Leine an etwas anderem befestigt war. 328 6 Verständlichkeits-Experiment <?page no="330"?> - NICHT ERKANNT UND FEHLERHAFT, aber: Es fehlen geografische Kenntnisse ■ Er hat die Verteidigung von Herrn Nickel übernommen. (Satz 6) - Ambiguität: Es ist unklar, ob er die Verteidigung des Herrn Nickel übernommen hat, also ihn verteidigen wird, oder ob er die Verteidigung, die Herr Nickel übernommen hatte, weiterführt. - Erklärung: Hier entsteht Ambiguität durch die mehrdeutige Interpretation des Wortes „Verteidigung“. Es ist unklar, ob er die Verteidigung von Herrn Nickel übernimmt (rechtlich) oder die Verteidigung, die von Herrn Nickel übernommen wurde. - ERKANNT, aber falsch erklärt ■ Er fragte mich, ob ich nach der Party in der Galerie noch etwas trinken wollte. (Satz 3) - Ambiguität: Es ist unklar, ob er fragte, ob du nach der Party noch etwas trinken wolltest oder ob er fragte, ob er nach der Party noch etwas trinken wollte. - Erklärung: Diese Ambiguität resultiert aus der Platzierung des Nebensatzes „nach der Party in der Galerie“. Es ist unklar, ob gefragt wird, ob du nach der Party trinken möchtest, oder ob er nach der Party noch etwas trinken möchte. - NICHT ERKANNT UND FEHLERHAFT („nach der Party in der Galerie“) ist kein Nebensatz ■ Er traf die Schwester seiner Freundin, die in Berlin gemeldet ist. (Satz 4) - Ambiguität: Es ist unklar, ob die Freundin in Berlin gemeldet ist oder ob die Schwester in Berlin gemeldet ist. Die Formulierung lässt offen, welcher Bezug zu „in Berlin gemeldet ist“ gehört. - Erklärung: Die Ambiguität entsteht durch die unspezifische Verwendung des Relativpronomens „die“. Es ist unklar, ob sich „die“ auf die Freundin oder auf die Schwester bezieht, die in Berlin gemeldet ist. - ERKANNT, allerdings ist die Erklärung etwas mangelhaft ■ Die Kosten können vom Darlehensgeber zurückverlangt werden. (Satz 8) - Ambiguität: Es ist unklar, wer die Kosten zurückverlangen kann. Es könnte bedeuten, dass der Darlehensgeber die Kosten zurückverlangen kann oder dass jemand die Kosten vom Darlehensgeber zurückverlangen kann. - Erklärung: Die Ambiguität in diesem Satz ergibt sich aus der Platzierung des Adverbials „vom Darlehensgeber“. Es ist unklar, ob die Kosten von jemand anderem oder vom Darlehensgeber zurückverlangt werden können. - ERKANNT, aber nur halb erklärt ■ Er sagte, Frau Meyer kenne er länger als Frau Schmidt. (Satz 9) - Ambiguität: Es ist unklar, wer wen länger kennt. Es könnte bedeuten, dass er Frau Meyer länger kennt als Frau Schmidt, oder dass Frau Meyer ihn länger kennt als Frau Schmidt. - Erklärung: Diese Ambiguität entsteht durch die Reihenfolge der Satzglieder. Das Attribut „länger“ kann sich sowohl auf das Kennen von Frau Meyer als auch auf das Kennen von Frau Schmidt beziehen, je nachdem, welchem Namen es näher steht. - NICHT ERKANNT 6 Verständlichkeits-Experiment 329 <?page no="331"?> Die Schwierigkeiten der Ambiguitäten und die Leistung von ChatGPT im Überblick: - Satz Grund für die Ambiguität ChatGPT 9 Er sagte, Frau Meyer kenne er länger als Frau Schmidt. Ellipse nicht erkannt 8 Die Kosten können vom Darlehens‐ geber zurückverlangt werden. Attribut oder Adverb (die Präpo‐ sition ist „von“) erkannt 4 Er traf die Schwester seiner Freundin, die in Berlin gemeldet ist. Bezug eines Relativsatzes erkannt 3 Er fragte mich, ob ich nach der Party in der Galerie noch etwas trinken wollte. Attribut oder Adverb (die Präpo‐ sitionalphrase ist lokal) nicht erkannt 6 Er hat die Verteidigung von Herrn Nickel übernommen. Attribut oder Adverb (die Präpo‐ sition ist „von“) erkannt 1 Susi saß an der Leine. lexikalische Ambiguität („Leine“) nicht erkannt 7 Der Mann sah das Mädchen mit dem Fernglas. Attribut oder Adverb (die Präpo‐ sition ist „mit“) erkannt 2 Herr Meyer möchte Sie wegen eines Termins in der ersten Mai-Woche sprechen. Attribut oder Adverb (die Präpo‐ sitionalphrase ist temporal) erkannt 10 Ich habe das von Deiner Mutter ge‐ hört. Attribut oder Adverb (die Präpo‐ sition ist „von“) nicht erkannt 5 Die langfristige Therapie von Män‐ nern mit viel Testosteron ist hier nicht sinnvoll. Attribut zu welchem Wort (die Präposition ist „mit“) erkannt Tab. 55: Leistung von ChatGPT, Ambiguitäten zu erkennen Interessant ist außerdem, wenn auch zweitrangig, wie viel Prozent der ProbandInnen wie viele Sätze als „Ambiguität enthaltend“ eingestuft haben. Es geht hier nicht um die Anzahl der Ambiguitäten, die zu finden waren, sondern um die Anzahl der Sätze, die (mindestens) eine Ambiguität enthalten. Anzahl der als ambig erkannten Sätze in-% Anzahl der Proband: innen (von insgesamt 656) alle 10 14,6 96 9 (von 10) 16,3 107 8 (von 10) 18,0 118 7 (von 10) 18,8 123 6 (von 10) 14,8 97 330 6 Verständlichkeits-Experiment <?page no="332"?> Anzahl der als ambig erkannten Sätze in-% Anzahl der Proband: innen (von insgesamt 656) 5 (von 10) 9,8 64 4 (von 10) 4,3 28 3 (von 10) 1,4 9 2 (von 10) 0,9 6 1 (von 10) 0,6 4 keine 0,6 4 Tab. 56: Ergebnis des Verständlichkeits-Experiments Das Experiment hat gezeigt: ● ChatGPT (die Plus-Version) ist (am 18. August 2023) ziemlich schlecht darin gewesen, Ambiguitäten zu erkennen, und besonders schlecht - und wesentlich schlechter als die Menschen - darin, die Ambiguitäten zu erklären. Google Bard hat vollkommen versagt. ● Wenn ein Mensch erkannt hat, dass etwas unklar ist, ist er ziemlich gut darin, die Unklarheit zu benennen. Weder ChatGPT noch Bard können die Ambiguität linguistisch begründen. Sie können kaum mehr erklären als „Die Unklarheit liegt an der syntaktischen Struktur.“ ● Eine Ambiguität, die wegen einer unklaren Zuordnung eines Attributs besteht (z. B. mit viel Testosteron), wird (von Menschen und ChatGPT) leicht erkannt. ● Wenn es um den Bezug eines Relativsatzes geht, wird von Menschen nicht leicht gesehen, dass es unklar sein kann, auf welches Substantiv im Hauptbzw. Matrixsatz er sich bezieht (sofern mehrere in Kasus, Genus, Numerus und Bedeutung passende Bezugswörter vorhanden sind). ● Eine Ambiguität, die mit einer Ellipse begründet ist (z. B. als Frau Schmidt als Verkürzung von als Frau Schmidt sie kennt) ist schwer zu erkennen. ● Es wurde NICHT festgestellt, dass Präpositionalphrasen mit der Präposition von besonders leicht oder besonders schwer als „Übeltäter“ für eine Ambiguität erkannt werden. In einem Satz mit diesem Phänomen (Satz 10: Ich habe das von Deiner Mutter gehört.) wurde sie von vielen ProbandInnen erkannt (von ChatGPT allerdings nicht), in einem anderen (und zwar Satz 8 mit der Präpositionalphrase „vom Darlehensgeber“) hingegen wurde sie von sehr wenigen ProbandInnen (allerdings auch von ChatGPT) erkannt (von ChatGPT allerdings nicht korrekt erklärt). ● Bei Präpositionalphrasen, die der Grund für eine Ambiguität sind, ist zu unterscheiden, ob die Ambiguität daran liegt, dass die Präpositionalphrase ein Adverbial oder auch ein Attribut sein kann (Satz 10, 2, 7, 6, 3, 8), oder ob sie daran liegt, dass die Präpositionalphrase zwar in jedem Fall ein Attribut ist, es ist jedoch unklar ist, zu welchem Bezugswort (Satz 5, bei dem sich die Frage stellt, ob mit viel Testosteron zu Therapie oder zu Männern gehört). 6 Verständlichkeits-Experiment 331 <?page no="334"?> 7 Ambiguitäten Texte sind voller unklarer Ausdrucksweisen, die oft zu Missverständnissen führen, von denen die kommunizierenden Personen nichts ahnen. Es gibt sogar Sympathien und - schlimmer - Antipathien, die auf Missverständnissen beruhen und von denen die Betroffenen nichts ahnen. In Kapitel 5 mit dem Titel „Anklage: unterlassene Verständlichkeitssicherung“ ging es um schwer verständliche Ausdrucksweisen; der Titel für dieses Kapitel könnte auch lauten „Anklage: unterlassene Disambiguierung“, in anderen Worten: Der/ die Verfasser: in äußert etwas, das zwei- oder mehrdeutig ist, und zwar meist unwillentlich, also nicht vorsätzlich. Auch bei meinen Gutachten gibt es Fälle, bei denen eine Partei behauptet, sie habe etwas Bestimmtes geschrieben (bzw. gemeint), die andere Partei hat das aber ganz anders verstanden. Meist ist es so, dass der/ die Verfasser: in sich missverständlich ausgedrückt hat, er/ sie sich dessen aber nicht bewusst war. Und oft ist es - andersherum - so, dass der/ die Leser: in etwas auf eine bestimmte Weise verstanden hat, sich aber der Tatsache nicht bewusst war, dass die Äußerung eine andere (oder weitere) Auslegung zuließ. Das Phänomen der unterlassenen Verständlichkeitssicherung, um das es im gleichna‐ migen Kapitel ging, ist in der forensischen Linguistik überall dort wichtig, wo es um das Aufdecken von Missverständnissen geht. Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass Missverständnisse zu vermeiden sind. Das wird erreicht, wenn alle Textverfasser: innen sich möglichst unmissverständlich ausdrü‐ cken. Das wiederum wird erreicht, wenn jede/ r seine/ ihre Äußerungen daraufhin überprüft, ob sie evtl. anders verstanden werden könnten, als sie gemeint sind. Auch Grice verlangt das in seinen Konversationsmaximen (Quantität, Qualität, Rele‐ vanz, Modalität), bei denen er zur Maxime „manner“ (m. E. gut übersetzt mit „Modalität“) explizit „Avod ambiguity“ verlangt (Grice, S.-45ff). Ambiguität Bedeutet Unklarheit bzw. Mehrdeutigkeit. Ambiguität ist die Eigenschaft eines sprach‐ lichen Zeichens bzw. einer Ausdrucksweise, zwei (oder noch mehr) alternative Interpretationen zuzulassen. Wenn man ganz genau ist: Das lateinische Wort bedeutet Zwei-Deutigkeit (nicht Mehr-Deutigkeit, denn (das lateinische Wort bzw. Präfix) ambi bedeutet beide, auch um… herum). Der zweite Teil des Wortes stammt von dem lateinischen Verb agere, was tun bedeutet. Exkurs: Präsupposition und Wissens-Arten Die wichtige(n) Präsupposition(en) ist (sind) das Wissen, das ein/ e Leser: in bzw. Hörer: in benötigt, um eine Äußerung zu verstehen. Dieses notwendige Wissen bzw. Vor-Wissen kann im vorangehenden Kontext einer Äußerung vermittelt worden sein. Oft ist es nicht im Text selbst präsent, sondern es ergibt sich aus semantischen Beziehungen zu dem (von allen Kommunikationspartnern geteilten) Weltwissen oder aus der Kommunikationssituation. <?page no="335"?> ■ Die CDU-Spitze legte ihr Konzept vor. Zum Verständnis dieses Satzes ist lexikalisch-semantisches Wissen darüber erforderlich, dass die Konstruktion „ein Konzept vorlegen“ ein belebtes und menschliches Subjekt (für das Vorlegen) erfordert und dass es sich hier bei „Spitze“ um Menschen handelt. Das wird durch den CDU-Zusatz klar, wobei wiederum das Wissen vorausgesetzt wird, dass es sich um eine große politische Partei in Deutschland handelt und nicht um ein unbelebtes Objekt, z.-B. die Spitze eines Eisbergs. ■ Die Universitätsspitze tagte, und der Präsident legte Rechenschaft ab. Hier wird erwartet, dass der Präsident als der Universitätspräsident verstanden wird und nicht als ein anderer, z.-B. den der Bundesrepublik Deutschland Ambiguitäts-Arten In diesem Buch werden diese drei Arten von Ambiguität unterschieden: 1. Syntaktische Ambiguität 2. Lexikalische Ambiguität 3. Bezugs-, Skopus- und morphologische Ambiguität Zu 1: Syntaktische Ambiguität Die für die forensische Linguistik interessanteste Art der Ambiguität ist die syntaktische. Hier geht es um die Rolle, die bestimmte Wörter bzw. Wort-Gruppen im Satz spielen, bzw. um deren Funktion im Satz. ■ Er hat die Verteidigung von Herrn Nickel übernommen. Wird Herr Nickel verteidigt? Oder ist Herr Nickel Rechtsanwalt und hat von einem anderen Rechtsanwalt ein Mandat übernommen? Ist die Präpositionalphrase „von Herrn Nickel“ Adverbial oder Attribut zu Verteidigung (also zum Akkusativobjekt, abgekürzt O A )? Hier würde nur Faktenwissen helfen. Zu 2: Lexikalische Ambiguität Die vergleichsweise simpelste Art der Ambiguität ist die lexikalische. Hier geht es um Wörter, die wir als Kinder als „Teekesselchen-Wörter“ kennengelernt haben. Sie wird hier kurz der Vollständigkeit halber dargestellt; das Entdecken solcher Fälle in zu untersuchenden Texten erfordert keine linguistischen Fähigkeiten; dafür gibt es auch gute Software-Applikationen. 334 7 Ambiguitäten <?page no="336"?> Ein Beispiel: ■ Sie ging zu der Bank, wo sie verabredet waren. Zu was für einer Bank ging sie? Zu einer Sitzbank - vielleicht in einem Park? Oder zu einem Geldinstitut? Bank ist ein Homonym und Polysem; ohne weitere Informationen weiß man nicht, zu welcher Art von Bank sie ging. Was für eine Bank war in der Situation bzw. in dem Text gemeint, in der/ dem dieser Satz vorkommt? Das festzustellen, würde die Kenntnis des Kontextes erfordern. homonym Bedeutet gleichnamig (homokennt man auch aus homosexuell, gleichgeschlechtlich). polysem Bedeutet (hat) viele Bedeutungen, also gleiches Zeichen bzw. dasselbe Wort, aber mehrere Bedeutungen Zu 3: Bezugs-, Skopus- und morphologische Ambiguität (oder kurz Skopus-Ambi‐ guität) Die dritte Art der Ambiguität ist eine Art Sammelbecken mit verschiedenen Unterarten, auch logisch-semantischen Aspekten, welche hier der Einfachheit halber „Bezugs-, Skopus- und morphologische Ambiguität“, kurz „SkopusEtc“ genannt wird. Ein Beispiel: ■ Nach Übersendung der Originalbescheinigung kann das Stipendium gewährt werden. Ist die Originalbescheinigung schon dort, oder muss sie noch zugesendet werden? Wird das Stipendium gewährt oder nicht? Wenn ja, wann? Gibt es Bedingungen, die zu diesem Zeitpunkt unerfüllt sind? Wann findet oder fand die Übersendung statt? Wegen des Nominalstils ist unklar, ob die Originalbescheinigung bereits übersendet wurde oder ob es so ist, dass sie noch zu übersenden ist, um die Bedingung(en) für das Stipendium zu erfüllen. 7 Ambiguitäten 335 <?page no="337"?> Klar wäre: ■ Nachdem Sie nun (auch) die Originalbescheinigung übersendet haben, gewähren wir das Stipendium. oder ■ Übersenden Sie erst einmal die Originalbescheinigung; dann können wir Ihnen das Stipendium gewähren. Hier würden Faktenwissen und Kontextwissen helfen. Es sei hier noch einmal betont: Es geht hier nicht darum, zu zeigen, wie sich jemand besser bzw. leichter verständlich ausdrücken kann oder sollte. Es handelt sich nicht um einen Ratgeber für verständlichere Ausdrucksweisen. Es geht darum, für die Zwecke der forensischen Linguistik die vielen Varianten der Schwer-Verständlichkeit aufzuzeigen. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass es noch zwei weitere Arten der Ambiguität gibt, von denen die eine in diesem Buch keine Rolle spielt und die andere in anderen Zusammenhängen behandelt wird. Die pragmatische Ambiguität liegt vor, wenn einer Äußerung verschiedene Sprechabsichten zugrunde liegen können. Beispielsweise möchte ein/ e Verfasser: in mit einer Äußerung wie Es ist kalt hier. evtl. bewirken, dass jemand das Fenster schließt oder die Heizung höher dreht oder dass man bald aufbricht und den Ort verlässt. Es kann auch ein Vorwurf sein, jemand sei ein/ e schlechte/ r Gastgeber: in; es kann sich auch um eine sachliche, wertfreie Feststellung handeln. Bei der orthografischen Ambiguität bilden bestimmte Buchstabenfolgen semantische Einheiten, z. B. Druckerzeugnis: Druck-Erzeugnis oder Drucker-Zeugnis, Wachstube: Wach-Stube (z. B. bei der Polizei) oder Wachs-Tube (eine Tube, in der sich Wachs befindet). Diese Art der Ambiguität wird in diesem Buch in den Erörterungen zu Komposita und zur Disambiguierung behandelt. Siehe zu Komposita auch Kapitel 8.11 und Kapitel 7.3.2 zum Klammerparadox. Und es gibt Sätze, die mehrere Ambiguitäten enthalten. Der folgende Satz enthält lexikalische UND morphologische Ambiguität (1. und 3. Art): ■ Bei der Tat handelt es sich um den Diebstahl von Kaviargläsern in einem Feinkostgeschäft, die der Angeklagte eingeräumt hat. Hier gibt es Unklarheit a) wegen der lexikalischen Ambiguität des Verbs einräumen und b) wegen des unklaren Bezugs des Relativpronomens (die): Es gibt zwei Möglichkeiten der Auslegung: 1. Der Angeklagte hat die Kaviargläser in die Regale des Feinkostgeschäftes eingeräumt, 2. Der Angeklagte gibt zu, dass er die Kaviargläser (aus einem Regal eines Feinkostgeschäftes) gestohlen hat. Das Verb einräumen ist unklar, und das Relativpronomen bzw. folglich der gesamte Relativsatz kann sich beziehen auf a) Kaviargläser (Kaviargläser, die er eingeräumt hat) oder auf b) Tat (eine Tat, die er eingeräumt [zugegeben] hat). Solche Mischformen sind (erfreulicherweise) selten. 336 7 Ambiguitäten <?page no="338"?> 97 Synkretismus (von altgr. „syn“, „gemeinsam“, und „krethi“, die Kreter, die Bewohne der Insel Kreta; Vereinigung sonst miteinander zerstrittener Kreter gegen einen Dritten) gibt es auch in anderen Fachgebieten, z. B. in der Religions-, Literatur-, Sozial- und Kulturwissenschaft („Inkulturation“), in der Philosophie und in der Psychotherapie. Besonderes Problem: Synkretismus Ambiguitäten können auch darauf zurückzuführen sein, dass zwei unterschiedliche Bedeu‐ tungen gleich klingen, weil die deutsche Sprache dafür nur eine Form zur Verfügung stellt. Dieses Problem nennt man Synkretismus 97 (auch „Homomorphismus“: zwei Wörter haben die gleiche Form). Synkretismus kann Probleme bereiten, und zwar: ● schlechte Lesbarkeit ● Einschränkung der Verständlichkeit ● Missverständnisse Zu Schwierigkeiten kommt es hauptsächlich bei Synkretismus in Form des ● Modussynkretismus: Wenn z. B. ein gewollter Konjunktiv I für wiedergegebene Rede dem Indikativ gleicht (mit ihm synkretisch ist), kann man nicht sehen, ob es sich um eine Behauptung oder ein Zitat handelt, z. B. Sie sagten, sie hätten das noch nie gehört. Hier ist unklar: Wurde von Konjunktiv I auf Konjunktiv II ausgewichen, weil der Indikativ und der Konjunktiv I gleich lauten (Synkretismus von haben gehört)? Oder ist der Konjunktiv II gewollt, weil der/ die Verfasser: in ausdrücken möchte, dass er/ sie das Wiedergegebene anzweifelt? ● Kasussynkretismus (Zusammenfall von Flexionsmorphemen): Einem Satzteil (oder zwei Satzteilen) sieht man nicht an, ob es Nominativ oder Akkusativ ist, z. B. Die UN fand Trump ineffektiv. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Synkretismus nicht immer zu Problemen führt. Ein Beispiel: Das Substantiv Patienten hat in den folgenden Sätzen dieselbe Form für Singular Genitiv, Dativ und Akkusativ und auch alle Plural-Formen: ■ Wir wissen die Anschrift des Patienten nicht. ■ Ich habe dem Patienten Blut abgenommen. ■ Bitte bring den Patienten in Zimmer 19. ■ Wir haben fünf neue Patienten. ■ Wir können nicht auf alle Wünsche der Patienten eingehen. ■ Ich habe versucht, den Patienten die durch den Personalmangel bedingten Probleme zu erklären. ■ Wir haben mit der Therapieplanung für die Patienten aus der Kardiologie begonnen. Fast genauso verhält es sich mit dem Wort Träger (hier ist allerdings der Dativ Plural nicht eingeschlossen; der lautet Trägern). 7 Ambiguitäten 337 <?page no="339"?> 98 Siehe hierzu meinen Artikel Was MÜ/ KI beim Übersetzen ins Englische nicht kann. Syntaktische Ambiguitäten: https: / / zieltexter.de/ 7.1 Syntaktische Ambiguität Hier geht es um die fragliche Rolle oder den Bezug eines Satzteils im Satz. Sehr oft ist unklar, ob eine Präpositionalphrase ein Adverbial ist (also ob sie eine Frage zu dem Prädikat beantwortet, z. B. wann das war, wie das war, unter welcher Bedingung oder aus welchem Grund das Genannte geschah usw.) oder ein Attribut (also ein „Deko“-Satzelement ohne Funktion im Satz, das nur Zusatzinformationen zu einem anderen Wort im Satz bietet). Das Wort, das Zusatzinformationen erhält, muss kein Satzteil mit Funktion sein. Es kann selbst Teil eines Attributs, also eines unwichtigen „Deko“-Elements, sein. ■ Der Antragsgegner erhält per Post den Beschluss auf endgültige, rechtskräftige Scheidung von der Antragstellerin. Erhält er die Post von der Antragstellerin? Oder wird er von der Antragstellerin geschieden? Ist die Präpositionalphrase von der Antragstellerin ein Adverbial zum Prädikat (erhal‐ ten) oder ein Attribut zu dem Substantiv Scheidung, das selbst Teil eines Attributs (zu Beschluss) ist? Die syntaktische Ambiguität nennt man auch „strukturelle“ Ambiguität. Sie ist auch ein sehr wichtiges Thema für die Maschinenübersetzung mit KI-Einsatz. Hier gibt es - auch beim Einsatz von KI - speziell bei der Übersetzung vom Deutschen ins Englische (noch) große Probleme 98 7.1.1 Unklare Funktion einer Präpositionalphrase: Adverbial oder Attribut? Eine Präpositionalphrase (auch „„Präpositionalgefüge“, „Präpositionalgruppe“) heißt, wie man sich denken kann, so, weil sie mit einer Präposition beginnt. Die meisten Präpositio‐ nalphrasen bestehen aus drei Wörtern (z. B. wegen des Regens, nach drei Tagen, bei ihm zuhause, trotz vieler Proteste, mit meinem Bruder, mit letzter Kraft, mit einem Brecheisen, zu diesem Zweck, wie eine Furie). Es gibt natürlich auch kürzere (Mittwoch, für Tim, wegen dir, nächste Woche, mit ihm) und wesentlich längere (für den Fall, dass es in diesem Frühjahr wider Erwarten doch noch einmal Frost gibt, [Sie sind auf der Suche] nach dem einen Typen mit der dunkelblauen Wollmütze, der geschossen hat und dann durch den Hinterausgang geflüchtet ist.). Es gibt - grob unterteilt - drei mögliche Funktionen: Adverbial, Präpostionalobjekt, Attribut. Man sagt auch „Die Präpositionalphrase realisiert entweder ein Adverbial, ein Präpostionalobjekt oder ein Attribut.“ Beispiele: Adverbial 338 7 Ambiguitäten <?page no="340"?> ■ Er hatte das alles mit dem Fernglas genau beobachtet. ■ Der rote Opel war aus dem Waldweg gekommen. ■ Sie arbeitet bei der Bank. ■ Wir werden in Zukunft besser vorbereitet sein. ■ Statt eines Fußballs bekam sein Sohn zu Weihnachten einen Tennisschläger. ■ Zwecks besserer Sicht setzte ich eine Sonnenbrille auf. ■ Mit einer Schere hat er die Kiste aufgemacht. ■ Viele Flüsse haben wegen des mangelnden Regens einen zu geringen Wasserstand. ■ Infolge der großen Kälte gingen viele Pflanzen ein. ■ Das ist alles nur wegen Dir. ■ Trotz aller Schwierigkeiten erreichte der Läufer das Ziel. ■ Ich erreichte das Ziel mit letzter Kraft. ■ Nach dem Krieg zog er nach Hamburg. ■ Er hatte nach drei Tagen die Schnauze voll. ■ Damals kurz vor der Wende wurde bei uns extrem wenig produziert. ■ Die Fassade wurde mit großem Aufwand restauriert. Präpositionalobjekt: ■ Ich denke oft an unser Versöhnungsgespräch. ■ Er machte sich über sich selbst lustig. ■ Von der Notwendigkeit, dringend die Kommission zu informieren, bin ich überzeugt. ■ Er besteht auf seinem freien Tag. ■ Er ist befähigt zu einer solchen Endoskopie-Methode. ■ Wir glauben an den baldigen Aufstieg von Eintracht Braunschweig. ■ Ich habe Angst vor diesen Typen. Attribut: ■ Die Vorgespräche wurden mit Behörden und den städtischen Vertretern der gemeinnützigen Bauträger geführt. ■ Die Hütte im Wald gehört der Gemeinde. ■ Draufgänger wie er sind hier nicht gern gesehen. ■ Die Frau mit dem Audi hat gehupt. ■ Ihre Auslagen wie z.-B. Eintrittsgelder und Flugkosten erstatten wir Ihnen. ■ Dieses tägliche Aufstehen vor sechs gefällt ihm gar nicht. ■ Sein Handeln wider alle Vernunft hatte Folgen. ■ Sie ist immer auf der Suche nach dem Guten im Menschen. ■ Wir haben das Mädchen mit dem Perlohrring gesehen. Präpositionalphrasen können die folgenden drei verschiedenen morphologischen Funktio‐ nen haben (also gemäß dem, was nach der Präposition steht): 1. Nominalphrase: auf dem Lande, unter der Brücke 2. Pronominalphrase: für uns alle, von manchem aus Mannheim 3. Adverbphrase mit einem Adverb als Kopf: von hinten, leider oft, überall dort, hier unten 7.1 Syntaktische Ambiguität 339 <?page no="341"?> Das Schwierige in der Syntax ist, dass Präpositionalphrasen (wie auch Nebensätze) als Attribut (also als Zusatzinformation zu einem Substantiv) oder als Adverbial (also als Zusatzinformation zu einem Verb) vorkommen können. Wenn man das beim Formulieren eines Satzes nicht beachtet, also keine Verständlichkeitssicherung betreibt, führt das zu syntaktischer Ambiguität, wie die folgenden Ausführungen und Beispiele zeigen. 7.1.1.1 Die böse Präposition „von“ ■ „Wie kann man nur so doof sein“, müssen sich Opfer von Romance-Scammern oft anhören. Wissen wir, wer das sagt? Wird das zu den Opfern der Romance-Scammer gesagt, und wir wissen nicht, wer es sagt? Oder sagen das die Romance-Scammer zu den (ihren) Opfern? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut (zu den Opfern) oder ein Adverbial (zum Prädikat anhören)? Auch hier hilft Faktenwissen (u.-a., was Romance-Scammer sind). ■ Es wurden 800 Angestellte von Tönnies getestet. Handelt es sich um Angestellte des Unternehmens Tönnies? Oder hat Tönnies die Tests durchgeführt? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial zum Prädikat testen oder ein Attribut zu Angestellte? ■ Güler meinte die Mörder von der Hamas. Sind die Mörder Hamas-Angehörige? Oder sind das Menschen, die Hamas-Angehörige (oder die gesamte Hamas) ermordet haben bzw. ermorden bzw. zu ermorden beabsich‐ tigen? Es handelt sich bei der Präpositionalphrase (von der Hamas) in jedem Fall um ein Attribut (zu Mörder). Das Unklare ist die Bedeutung der Präposition von. Wird Zugehörigkeit ausgedrückt? Oder handelt es sich um die „von“-Variante eines Genitivus obiectivus (wie auch das Fällen der Bäume bzw. das Fällen von den Bäumen)? ■ Dr. Groß berichtet, dass bereits ein Facharzt von der MHH angeworben wurde. Hat die MHH den Facharzt angeworben? Oder hat jemand den Facharzt bei der MHH gefunden? 340 7 Ambiguitäten <?page no="342"?> Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial zum Verb (anwerben) oder ein Attribut zu Facharzt? ■ Am 9. Juni 2018 erwarb der Beklagte ein Zertifikat von Xenon Capital, Inc. Ist XCI Verkäufer oder Bezeichnung des Zertifikats? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial zum Prädikat (erwerben) oder ein Attribut zum Akkusativobjekt Zertifikat? ■ Das Buch gibt Einblicke in eine Lebenswelt, in der Hexenverfolgungen und auch Verbrennungen von Inquisitoren zum Alltag gehörten. Was ist die Rolle der Inquisitoren? Wurden sie verbrannt? Oder geht es um den Alltag der Inquisitoren, in dem sie Verbrennungen vornahmen? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial zum (nominalisierten) impliziten Prädikat verbrennen (also ein Subjekt im impliziten Satz Die Inquisitoren verbrennen […]) oder nennt die Präpositionalphrase ein Agens bzw. einen Aktanten (mit der Bedeutung von Inquisitoren vorgenommene Verbrennungen? Hier hilft Weltwissen bzw. die Kenntnis des Wortes „Inquisitor“ und die Kenntnis darüber, was Inquisitoren taten. ■ In dem Artikel wird die Richtigkeit der Prüfungsergebnisse von Dr. Hahne bezweifelt. Bezweifelt Dr. Hahne die Richtigkeit? Oder bezweifelt jemand die Prüfungsergebnisse des/ der Dr. Hahne? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial (zum Prädikat bezweifeln) oder ein Attribut zu den Prüfungsergebnissen? UND: Falls es so ist, dass jemand die Prüfungsergebnisse des/ der Dr. Hahne bezweifelt, was bedeutet die Prüfungsergebnisse von Dr. Hahne? Hat Dr. Hahne eine Prüfung abgelegt oder abgenommen? War er/ sie der Prüfling oder der/ die Prüfer: in? Die Präposition von ist hier der Art Ausdruck der Zugehörigkeit als Ersatz des Genitivs, aber die Frage Prüfling oder Prüfer: in? wird dadurch nicht beantwortet; auch nicht bei der Genitiv-Variante (Prüfungsergebnisse des/ der Dr. Hahne). 7.1 Syntaktische Ambiguität 341 <?page no="343"?> UND: Um was für eine Art von Prüfung handelt es sich? War es vielleicht so, dass nicht ein Mensch geprüft wurde, sondern dass z.-B. in einem Labor Produkte auf umweltschädliche Bestandteile geprüft wurden? ■ Im Berichtsjahr wurde ein Betrugsvorgang von Angestellten der Hillfelder Stahl AG aufgedeckt. Haben die Angestellten den Betrug begangen? Oder waren es die Angestellten, die den Betrugsfall aufgedeckt haben? Ist die Präpositionalphrase von Angestellten ein Adverbial (zum Prädikat wurde aufgedeckt) oder ein Attribut zu dem Unternehmen? ■ Das Foto, das um die Welt ging, machte Hauptmann Alexander Vorontsov von der sowjetischen Armee, die am 27. Januar 1945 die Menschen aus dem Konzentrationslager Auschwitz befreite. Ist es so, dass der Hauptmann die sowjetische Armee fotografierte? Oder ist es so, dass der Hauptmann zur sowjetischen (und nicht zu einer anderen) Armee gehört? Ist die Präpositionalphrase von der sowjetischen Armee ein Adverbial (zum Prädikat machte) oder ein Attribut zu dem Namen (Alexander Vorontsov)? ■ Rechnungsbegründende Unterlagen zur Ermittlung des Einkaufswertes sind auf Verlangen von DHL zur Verfügung zu stellen. Sind die Unterlagen zur Verfügung zu stellen, wenn DHL das verlangt? Oder muss DHL sie zur Verfügung stellen, wenn jemand das verlangt? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial (zum Prädikat zur Verfügung stellen) oder ein Attribut zu dem Substantiv Verlangen (…, welches Teil des Adverbials in Form der Präpositionalphrase auf Verlangen ist)? ■ Der Vortrag ist dem Sekretär von Dr. Schmeinke geschickt worden. Hat Dr. Schmeinke den Vortrag geschickt? Oder ist Dr. Schmeinke der/ die ChefIn von dem Sekretär, der den Vortrag erhielt? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial (zum Prädikat schicken) oder ein Attribut zu dem Sekretär? ■ Diese Regelung soll gelten, wenn eines der Kinder aus dem Nachlass des Erstverstorbenen von uns den Pflichtteil fordern sollte. 342 7 Ambiguitäten <?page no="344"?> Handelt es sich um den Ehepartner, der zuerst verstirbt? Oder geht es darum, von wem der Pflichtteil gefordert wird (von dem Ehepaar)? Aber das Kind kann nicht „von uns“ fordern, wenn ein Elternteil gestorben ist; dann kann das Kind nur „von dem überlebenden Ehepartner“ fordern. Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial (zum Prädikat fordern) oder ein Attribut zu dem Erstverstorbenen? Es handelt sich offensichtlich um einen Satz aus einem Testament eines Ehepaares, das mindestens zwei Kinder hat und seinen Nachlass zu Lebzeiten regelt. Es kann passiert sein, wenn dies auch unwahrscheinlich ist, dass der/ die Verfasser: in dieses Satzes, der/ die zum Zeitpunkt der Formulierung des Testaments und dieses Satzes lebte, versehentlich meinte „das Kind fordert von uns den Pflichtteil“. Wahrscheinlich ist es jedoch so: Hier geht es um den Zeitpunkt, zu dem einer der Ehepartner verstorben ist und dass „einer von uns beiden“ gemeint ist. 7.1.1.2 Die böse Präposition „mit“ ■ Der Mann sah das Mädchen mit dem Fernglas. Sah er das Mädchen mittels bzw. mithilfe eines Fernglases? Oder sah er ein Mädchen, das ein Fernglas in der Hand hielt? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu dem Mädchen oder ein Adverbial (zum Prädikat sah)? ■ Die Weibchen wollen die Männchen mit dem bunten Federkleid beeindrucken. Wer hat das bunte Federkleid? Die Weibchen oder die Männchen? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu dem davor stehenden Substantiv (Männchen) oder ein Adverbial (zum Prädikat wollen beeindrucken)? ■ Die Fahrerin fuhr nach dem Unfall mit dem Schüler weg. Welche Rolle spielte der Schüler? War er einer der Unfallbeteiligten? Oder fuhr er mit der Fahrerin weg? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu dem davor stehenden Substantiv (Unfall) oder ein Adverbial (zum Prädikat fuhr weg)? 7.1 Syntaktische Ambiguität 343 <?page no="345"?> ■ Polizei sucht Verdächtigen mit Plakaten. Abb. 12: Verdächtiger mit Plakaten Helfen die Plakate bei der Suche? Oder handelt es sich um einen Verdächtigen mit Plakaten, also sind die Plakate im Besitz des Verdächtigen? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut (zu dem Verdächtigen) oder ein Adverbial (zum Prädikat suchen)? ■ Autofahrer fuhr nach Kollision mit E-Bike davon. Gab es eine Kollision mit einem E-Bike? Oder stieg der Autofahrer auf das E-Bike um und fuhr damit weg? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu der Kollision? Oder ist sie ein Adverbial (zum Prädikat davonfahren)? ■ Der Stoff wurde für Untersuchungen mit chemischem Lösungsmittel vorbereitet. Wozu wurde das chemische Lösungsmittel verwendet? Für die Vorbereitung? Oder für die Untersuchungen? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial (zum Prädikat vorbereitet)? Oder ein Attribut zu den Untersuchungen? 344 7 Ambiguitäten <?page no="346"?> ■ Bei der „forensischen Ballistik“ werden Straftaten mit Schusswaffen aufgeklärt. Wozu gehört mit Schusswaffen? Wird die Aufklärung mit Schusswaffen betrieben? Oder handelt es sich um Straftaten, die mit Schusswaffen begangen wurden? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu den Straftaten oder ein Adverbial (zum Prädikat aufklären bzw. werden aufgeklärt)? Man denkt schnell, dass Weltwissen hier helfe und klar sei, dass es sich um mit Schusswaffen begangene Straftaten handelt, die aufgeklärt werden. Aber es werden durchaus Schusswaf‐ fen beispielsweise für Probeschüsse und das Klären der Entwicklung von Schmauchspuren usw. bei der Aufklärung von mit Schusswaffen begangenen Straftaten eingesetzt. Klar wird es bei Umwandlung in eine Linksattribution: Bei der „forensischen Ballistik“ werden mit Schusswaffen begangene Straftaten aufgeklärt. oder Bei der „forensischen Ballistik“ werden mit Schusswaffen Straftaten aufgeklärt. oder auch Bei der „forensischen Ballistik“ werden mithilfe von Schusswaffen mit Schusswaffen begangene Straftaten aufgeklärt. oder Bei der „forensischen Ballistik“ werden Schusswaffen verwendet, um mit Schusswaffen begangene Straftaten aufzuklären. ■ Wegen tief stehender, blendender Abendsonne kam es in der Maßbornstraße zu einem Unfall mit einem Schwerverletzten, da ein Opelfahrer den den Zebrastreifen überquerenden Fußgänger nicht gesehen hatte. War der Mann schon schwer verletzt, als es zu dem Unfall kam? Oder wurde er durch den Unfall schwer verletzt? Ist die Präpositionalphrase ein Adverbial zu zu einem Unfall kommen, das also die Art des Unfalls beschreiben soll? Oder ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu dem Substantiv Unfall der Art, bei der die Unfallbeteiligten (zu Beginn des Unfallgeschehens) genannt werden? 7.1.1.3 Andere böse Präpositionen ■ Kann ich das rote Kleid im Schaufenster anprobieren? Soll das Anprobieren im Schaufenster stattfinden? Oder soll ein Kleid anprobiert werden, das sich im Schaufenster befindet? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut (zum Kleid) oder ein Adverbial (zum Prädikat anprobieren)? Hier hilft Weltwissen. 7.1 Syntaktische Ambiguität 345 <?page no="347"?> ■ Auch bei dieser Demonstration wurde der Ruf nach dem Erhalt der Demokratie auf der Straße laut. Was war auf der Straße? Wurde der Ruf auf der Straße laut? Oder ist die (erhaltenswerte) Demokratie auf der Straße? Soll Demokratie auf der Straße erhalten werden? Handelt es sich bei der Präpositionalphrase um ein Adverbial (zum Verb laut werden)? Oder handelt es sich um ein Attribut zu der Straße? Auch hier hilft Weltwissen. Demonstrationen finden typischerweise auf der Straße statt, und bei der Demonstration (auf der Straße) wurde der Grund für die Demonstration (Erhalt der Demokratie) laut genannt. ■ Sie können, wenn Sie wollen, meine E-Mails an Herrn Fricke weiterleiten, falls die Inhalte verwendet werden sollen. Geht es um E-Mails, die an Herrn Fricke geschickt wurden? Oder sollen E-Mails (an jmd. anderen) dem Herrn Fricke zugeschickt bzw. an ihn weitergeleitet werden? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu den E-Mails? Oder ist sie ein Adverbial (zum Prädikat weiterleiten)? ■ Dies zeigt, wie Erpresser immer wieder mittels angeblich erstellter Videos beim Masturbieren Bitcoins erpressen. Findet das Erpressen beim Masturbieren statt? Oder handelt es sich um Videos, die jmdn. beim Masturbieren zeigen? Handelt es sich bei der Präpositionalphrase um ein Adverbial (zum Verb erpressen)? Oder handelt es sich um ein Attribut zu den Videos? ■ Er schreibt, dass Herrn Müller die Informationen über den Newsletter nicht erreicht hätten. Handelt es sich um Informationen bzgl. des Newsletters? Oder handelt es sich um Informationen, die Herr Müller mittels eines Newsletters hätte erhalten sollen, jedoch nicht erhalten (oder nicht gesehen) hat? Handelt es sich bei der Präpositionalphrase um ein Attribut zu dem davor stehenden Substantiv (Informationen)? Oder handelt es sich um ein Adverbial (zum Verb errei‐ chen)? Hier hilft nur Kontextwissen. 346 7 Ambiguitäten <?page no="348"?> ■ Sie können entsprechende Fakten über die Polizei erfahren. Sind das Fakten, die die Polizei betreffen? Oder wird die Polizei die Fakten zur Verfügung stellen? Handelt es sich bei der Präpositionalphrase um ein Attribut zu den Fakten? Oder handelt es sich um ein Adverbial (zum Verb erfahren)? ■ Damals ermittelte die Polizei in Hamburg. War es die Polizei von Hamburg, also die Hamburger Polizei bzw. die Polizei von Hamburg, die (sonstwo) ermittelte? Oder war der Ort, in dem (von der Polizei) ermittelt wurde, Hamburg? Ist die Präpositionalphrase in Hamburg ein Attribut zu dem Substantiv davor (Polizei), oder ist sie ein Adverbial und bezieht sich auf das Verb (ermitteln)? ■ Philipp Max, wichtiger Verteidiger des FC Augsburg, fehlt wegen einer Verletzung auf der linken Seite. Ist die Verletzung auf der linken Seite seines Körpers? Oder fehlt er auf dem Fußballfeld auf der linken Seite? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut zu dem Substantiv davor (Verletzung), oder ist sie ein Adverbial und bezieht sich auf das Verb (auf der linken Seite fehlen)? ■ Unberührt bleiben auch die Rechte des Käufers, sich bei einer vom Verkäufer zu vertretenden und nicht in einem Mangel der Kaufsache bestehenden Pflichtverletzung nach Maßgabe des § 11 dieses Vertrages vom Vertrag zu lösen. Was steht in der Maßgabe des § 11 des Vertrags? Dass die Rechte unberührt bleiben? Oder ist dort die Art der Pflichtverletzung beschrieben? Handelt es sich bei der Präpositionalphrase um ein Attribut zum davorstehenden Substantiv (Pflichtverletzung)? Oder ist sie ein Adverbial und bezieht sich auf das Verb (lösen)? 7.1 Syntaktische Ambiguität 347 <?page no="349"?> ■ Der Vortragende verlangte, dass die Grenzen des Akzeptablen in diesem Club neu verhandelt werden. Geht es um das, was in diesem Club akzeptabel ist, also um die Grenzen (des Akzep‐ tablen) in diesem Club? Oder geht es darum, wo und von wem (die Grenzen des Akzeptablen) neu verhandelt werden (in/ von diesem Club)? Handelt es sich bei der Präpositionalphrase um ein Attribut zu der davorstehenden Nominalphrase (die Grenzen des Akzeptablen)? Oder ist sie ein Adverbial und bezieht sich auf das Verb (verhandelt werden)? ■ Er meint, so könne man die Demokratie vor ihren Feinden in den Parlamenten schützen. Sind die Feinde in den Parlamenten? Oder soll der Schutz in den Parlamenten (und andernorts nicht) stattfinden? Gehört die Präpositionalphrase (in den Parlamenten) zu den Feinden (als Attribut)? Oder gehört sie zum Verb schützen (als Adverbial)? ■ Das Fort wurde nach der Zerstörung durch die britischen Streitkräfte wieder aufgebaut. Was haben die britischen Streitkräfte getan? Haben Sie das Fort zerstört oder wieder aufgebaut? Handelt es sich bei der Präpositionalphrase (durch die britischen Streitkräfte) um ein Attribut zum davorstehenden Substantiv (Zerstörung)? Oder ist sie ein Adverbial und bezieht sich auf das Verb (aufgebaut)? 7.1.2 Attribut, aber zu was? ■ Ihr Schreiben zu Ihrer korrigierten Rechnung vom 23.05.2024 ist bei uns gestern eingegangen. Hatte die korrigierte Rechnung oder das Schreiben das Datum 23.05.2024? Die Präpositionalphrase vom 23.05.2024 ist in jedem Fall ein Attribut. Gehört sie zum Haupt-Substantiv des Subjekts (Schreiben) oder zu einem Element des Attributs innerhalb des Subjekts (Rechnung als Teil der Präpositionalphrase zu Ihrer korrigierten Rechnung)? ■ Außenminister Mike Pompeo, der sonst einer der größten Fans Trumps ist, soll während des substanzlos ausgegangenen Gipfels mit Kim Jong-un sehr unzufrieden gewesen sein. 348 7 Ambiguitäten <?page no="350"?> Handelte es sich um einen Gipfel mit Kim Jon-un? Oder war Mike Pompeo mit Kim Jong-un unzufrieden? Ist die Präpositionalphrase ein Attribut (zum Gipfel) oder ein Attribut (zum Adjektiv unzufrieden)? ■ Er hat immer noch nicht verstanden, welche Konsequenzen seine Straftaten im Münsterland hatten. Welche Rolle spielt das Münsterland? Hatte er dort die Straftaten begangen? Oder gab es dort die Konsequenzen? Worauf bezieht sich die Präpositionalphrase im Münsterland? Auf die Straftaten? Oder auf die Konsequenzen? Klar - also mit nur einer der zwei Bedeutungen - wäre ein Satz mit Relativsatz: ■ Er hat immer noch nicht verstanden, welche Konsequenzen seine Straftaten hatten, die er im Münsterland begangen hatte. oder ■ Er hat immer noch nicht verstanden, welche Konsequenzen seiner Straftaten es im Münsterland gab. ■ Er hat immer noch nicht verstanden, welche Konsequenzen es im Münsterland wegen seiner Straftaten gab. ■ Wir hoffen, Sie hatten noch schöne Herbsttage und eine angenehme Erholung von der Arbeit mit dem Hund. Welche Rolle spielt der Hund? War das Arbeit mit einem Hund? Ist die Person evtl. Hundeführer? Oder war es eine gemeinsam mit einem Hund verbrachte Erholungszeit (Erholung von der Arbeit)? Bezieht sich die Präpositionalphrase mit dem Hund auf das direkt davor befindliche Substantiv Arbeit oder auf die Erholung? ■ Viele Menschen haben gestern die TV-Ansprache zum Tag der Befreiung von Scholz gesehen. Geht es um die Befreiung von Scholz? Wurde Scholz befreit? Oder wurde jemand von Scholz befreit? Oder geht es um die Ansprache von Scholz, die er im Fernsehen zum Tag der Befreiung (also dem Ende des Zweiten Weltkriegs) gehalten hat? 7.1 Syntaktische Ambiguität 349 <?page no="351"?> Ist die Präpositionalphrase von Scholz ein Attribut zur Befreiung oder zur Ansprache? 7.1.3 Präpositionalphrase: Adverbial oder Präpositionalobjekt ■ Die Leihgaben können vom Museum zurückgefordert werden. Ist es so, dass das Museum die Leihgaben zurückfordern kann? Oder ist es das Museum, das die Leihgaben zurückgeben muss? Die Präpositionalphrase vom Museum ist in jedem Fall ein Adverbial (zum Prädikat zurückfordern). Fraglich ist, welche Funktion das Museum im entsprechenden Aktiv‐ satz hätte: das Subjekt (Das Museum kann die Leihgaben zurückverlangen [von wem, das ist unbekannt]) oder ein Adverbial ( Jemand [wer, das ist unbekannt] kann die Leihgaben vom Museum zurückfordern)? ■ Der Ostteil Mossuls wurde vom IS befreit. Bedeutet das, dass jetzt der IS weg ist? Oder bedeutet das, dass der IS der Befreier war? Die Präpositionalphrase (vom IS) ist in jedem Fall ein Adverbial (zum Prädikat befreien). Die Frage ist, welche Funktion der IS im entsprechenden Aktivsatz hätte: Wäre er Subjekt (Der IS hat den Ostteil Mossuls befreit [wovon, das ist unbekannt]) oder Adverbial ( Jemand [wer, das ist unbekannt] hat den IS vertrieben und so den Ostteil Mossuls befreit; vorher hatte der IS ihn besetzt; jetzt ist der IS weg)? ■ Ich habe das von Herrn Meier gehört. Handelt es sich um Informationen, die von Herrn Meier stammen, oder um Informa‐ tionen über Herrn Meier? Ist die Präpositionalphrase von Herrn Meier ein Adverbial (zum Prädikat hören) oder ein Präpositionalobjekt im Sinne von „etwas hören über jmdn./ von jmdm.“, also ein Attribut zu das? ■ Ich weiß von meinem Kollegen, dass ihm gekündigt wurde. Ist dem Kollegen gekündigt worden oder jemand anderem, und der Kollege hat es gesagt? 350 7 Ambiguitäten <?page no="352"?> 99 Kommt speziell im Rheinland vor. Ist die Präpositionalphrase von meinem Kollegen ein Adverbial (zum Prädikat wissen) oder ein Präpositionalobjekt im Sinne von „etwas wissen über jmdn./ von jmdm.“? 7.1.4 Zugehörigkeit oder freier Dativ? Handelt es sich bei den in den folgenden Beispielsätzen enthaltenen Dativen um einen Teil einer Zugehörigkeit ausdrückenden Phrase (der Frau ihre und dem Tim sein und denen ihre Arbeit), also um einen sog. possessiven Dativ (bzw. Dativus possessivus) 99 oder um einen freien Dativ? ■ Er hat der Frau ihre Wände gestrichen. Hat er die Wände gestrichen, die der Frau gehören? Oder hat er die Wände gestrichen, und das hat er für die Frau bzw. im Auftrag der Frau getan? Ist der Frau ein possessiver Dativ oder ein freier Dativ (Dativus commodi bzw. Benefizientendativ)? ■ Er hat meinem Freund Fritz sein Fahrrad geklaut. Soll nur ausgedrückt werden, dass Fritz’ Fahrrad geklaut wurde? Oder soll ausgedrückt werden, dass das dem armen Fritz angetan wurde? Ist Fritz ein possessiver Dativ oder ein freier Dativ (hier Dativus incommodi bzw. Malfaktiv-Dativ)? ■ Ich habe denen ihre Arbeit gemacht. Hat die Person die Arbeit gemacht, die eigentlich die anderen hätten machen sollen? Oder hat er die Arbeit „für die“ (als eine Art Freundschaftsdienst) gemacht? Ist denen ein possessiver Dativ oder ein freier Dativ (Dativus commodi bzw. Benefizi‐ entendativ)? ■ Die Zeche hat dem Tim sein Freund bezahlt. Hat Tims Freund die Zeche bezahlt? Oder hat er die Zeche gezahlt, und das hat er für seinen Freund Tim getan? 7.1 Syntaktische Ambiguität 351 <?page no="353"?> 100 Wir nehmen an, die Mutter ist nicht Entomologin (Insektenkundlerin), die getrocknete Insekten aufbewahren will. Ist dem Tim ein possessiver Dativ oder ein freier Dativ (Dativus commodi bzw. Benefizientendativ)? Siehe auch die Ausführungen zum Ausdruck der Zugehörigkeit in Kapitel 8.7 und 8.12.9u. a. über das Attribut. 7.1.5 Unklare Funktion eines Satzteils 7.1.5.1 Subjekt oder Objekt? Der bereits erwähnte Satz Meine Mutter hat eine Wespe gestochen. ist zwar insofern etwas schwer verständlich, weil der/ die Leser: in bzw. Hörer: in zunächst für sich klären muss, wer hier Aktant ist, und verstehen muss, dass hier nicht die übliche Satzgliedfolge eingehalten wurde, in der das Subjekt (Aktant) vor dem Objekt („Opfer“ einer Handlung) genannt wird (wie es der Fall wäre in dem Satz Eine Wespe hat meine Mutter gestochen.), und es wurde auch nicht die leichter verständliche Passiv-Formulierung (Meine Mutter wurde von einer Wespe gestochen.) gewählt. Der/ die Leser: in wird jedoch sicherlich nicht lange herumrätseln, wer wen gestochen hat, denn in diesem Fall hilft Weltwissen: Es ist sehr schwer für einen Menschen, eine (lebende) Wespe zu stechen. 100 Hier ist wohl das Subjekt und somit der/ die AktantIn die Wespe und nicht die Mutter. Außerdem ist der Satz sehr kurz. Bei dem Satz Eine Autodiebin hat die Polizei gestern auf der A2 dingfest gemacht. ist es ein bisschen schwieriger. Wer hat wen dingfest gemacht? Die Handlung „dingfest machen“ ist eine typische Handlung der Polizei, und ein typisches Objekt ist ein Dieb bzw. eine Diebin. Als Leser: in/ Hörer: in braucht man einen Moment, um die Rollenverteilung zu verstehen. Wenn die Zeitung, die diesen Satz schrieb, mehr um Verständlichkeit bemüht gewesen wäre, hätte sie den Aktanten zuerst genannt (Die Polizei hat gestern auf der A2 eine Autodiebin dingfest gemacht.) Um bei dem Satz Abel erschlug Kain. zu verstehen, wer wen erschlagen hat, muss man Wissen über die Bibel (Gen 4,8) haben. Nur dann weiß man, dass es Kain war, der seinen jüngeren Bruder Abel erschlug. Der Satz mit der obigen Satzgliedfolge mit der Nennung des Objekts vor dem Subjekt ist syntaktisch zulässig (wie der Satz Meine Mutter hat eine Wespe gestochen.), aber jemand ohne die Kenntnis der Bibelstelle kann nicht beurteilen, welche Person das Subjekt und welche das Objekt ist. Jemand ohne das Zusatzwissen würde annehmen, dass das Subjekt vor dem Objekt genannt wird und folglich annehmen, es sei Abel gewesen, der Kain erschlug. 352 7 Ambiguitäten <?page no="354"?> Bei dem Satz ■ Tim hat Jan nicht beleidigt, sondern Sven. ist wegen der Möglichkeit im deutschen Satzbau, das Objekt an die erste Stelle zu setzen, ganz unklar, wer wen (nicht) beleidigt hat (Tim Jan? Oder Jan Tim? Sven Jan? Oder Jan Sven? Oder Tim Sven? ) ■ Die UN fand Trump ineffektiv. Wer fand wen ineffektiv? Ist die Folge der Satzteile S-P-O A oder O A -P-S? Die Abkürzungen für die Satzteile sind die üblichen; sie sind in Kapitel 4.3 genauer erläutert. Hier würden Faktenwissen (und Kontextwissen) und eine Umformulierung in entweder Die UN fand, dass Trump ineffektiv ist/ war. oder Trump fand, dass die UN ineffektiv ist/ war. helfen. ■ Maria ist die einzige, die Elisabeth noch vom Thron hätte stoßen können. Wer hätte von wem vom Thron gestoßen werden können? Elisabeth von Maria? Oder Maria von Elisabeth? Ist die Folge der Satzteile S-P-O A oder O A -P-S? Ist Elisabeth das Subjekt, also Nominativ, und Maria das Objekt, also Akkusativ? Oder ist Elisabeth das Objekt? Hier hilft Faktenwissen. Maria wurde vorgeworfen, an der Planung eines Attentats auf die englische Königin beteiligt gewesen zu sein, und sie wurde 1587 wegen Hochverrats hingerichtet. ■ Die jungen Frauen waren die ersten, die gegen Kopftuchzwang und Polizeigewalt demonstrier‐ ten, aber inzwischen unterstützen sie auch die Männer und alle Generationen. Wer unterstützt wen? Sicherlich sind es die Männer und alle Generationen, die die jungen Frauen unterstüt‐ zen, aber bei dem Pronomen sie, das das Subjekt des zweiten Hauptsatzes nach aber ist, denkt man zunächst, das sei sicherlich dasselbe wie das des vorangegangenen Hauptsatzes. Es gab jedoch einen Perspektivwechsel: Das Pronomen sie ist Objekt (ein Akkusativobjekt), und das dazugehörige Subjekt sind die Männer und alle Generatio‐ nen. Ohne Semantik und Weltwissen wäre das aber - rein syntaktisch - nicht klar. 7.1 Syntaktische Ambiguität 353 <?page no="355"?> ■ Zu viele der palästinensischen Bauern haben die israelischen Siedler erschossen. Wer hat wen erschossen? Wer ist Subjekt, wer Objekt? Sind die Bauern Subjekt und haben die Siedler erschossen? Oder sind sie Objekt und sind erschossen worden? Hier ist Faktenwissen nötig, um zu wissen, dass israelische Siedler palästinenische Bauern erschossen haben. ■ Nicht nur Google und Microsoft, sondern auch VW unterstützen die Software-Entwickler in unseren Abteilungen. Wer unterstützt wen? Wer ist Subjekt, wer Objekt? Sind die Software-Entwickler Subjekt und unterstützen Google, Microsoft und VW? Oder sind sie Objekt und werden unterstützt? Hier würde sicherlich der Kontext und folglich Kontextwissen helfen, wenn man beispiels‐ weise erführe, um was für Abteilungen es sich handelt. ■ Helena kommt auch zur Feier, denn die mag Albert besonders gern. Soll hier gesagt werden, dass Helena Albert besonders gern mag oder Albert Helena? Ist das Demonstrativpronomen (die) das Subjekt und Albert das Objekt? Oder umge‐ kehrt? ■ Das hat die Hypothese begründet. War das eine Art Anfangsverdacht, der zu der Hypothese geführt hat? Oder ist gemeint, dass das eine Begründung für die Sinnhaftigkeit der Hypothese war, oder ist das Partizip begründet falsch gewählt, und es ist gemeint bestätigt? Ist die Hypothese ein Subjekt? Oder ein Objekt (und Das ist das Subjekt)? ■ Die operative Einheit sah Bin Laden als nicht mehr verlässlich an. Wer sah wen als nicht mehr verlässlich an? Ist die Folge der Satzteile S-P-O A oder O A -P-S? 354 7 Ambiguitäten <?page no="356"?> ■ Die Teilnehmerin aus Berlin kann die Dozentin nicht leiden. Wer kann wen nicht leiden? Ist die Dame aus Berlin Subjekt oder Objekt? Ist das Satzbaumuster S-P 1- O-P 2 oder O-P 1 -S-P 2 ? ■ Auch die Mutter hatte die Polizei tot in der Wohnung vorgefunden. Wer fand wen? Wer war tot? Ist die Mutter diejenige, die die Polizei gefunden hat? Oder wurde sie von der Polizei gefunden? Ist die Folge der Satzteile S-P-O A oder O A -P-S? Helfen würden Weltwissen und Faktenwissen und eine Formulierung im Passiv wie Auch die Mutter war von der Polizei tot in der Wohnung vorgefunden worden. ■ Viele Haushaltsgeräte haben Frauen erfunden. Es waren die Frauen, die die Erfindungen gemacht haben, nicht die Haushaltsgeräte. Der Satz beginnt mit einem Akkusativobjekt. Das Subjekt steht nach dem Prädikat. In Kasus (Akkusativ gleich Nominativ), Genus (irrelevant, weil Plural) und Numerus (Plural) könnte Viele Haushaltsgeräte das Subjekt sein. Weltwissen hilft hier, denn Haushaltsgeräte erfinden nichts. ■ Auch die EU-Polizeibehörde Europol schaltete die mit mehreren Millionen und mit der Dienst‐ aufsichtsbefugnis ausgestattete Fahndungsstelle in diesem Sonderfall ein. Wer wurde von wem eingeschaltet? Ist die EU-Polizeibehörde Europol das Subjekt oder das Objekt? Hier ist die mit mehreren Millionen und mit der Dienstaufsichtsbefugnis ausgestattete Fahndungsstelle ein komplexes Subjekt (die Fahndungsstelle mit einer Linksattribution). Ist das Satzbaumuster S-P 1 -O-A-P 2 oder O-P 1 -S-A-P 2 ? 7.1 Syntaktische Ambiguität 355 <?page no="357"?> ■ Zwei Marketing- und Promotion-Experten stellten die Start-Up-Unternehmer zunächst ein. Wer stellte wen ein? Ist die Folge der Satzteile S-P-O A -A oder O A -P-S-A? Hier hilft Welt- und Faktenwissen. Start-Up-Unternehmer werden nicht eingestellt, son‐ dern sie stellen ein. ■ Ganze Häuser rissen die Wassermassen fort und hinterließen bisher nie gekannte Verwüstungen. Kurz denkt der/ die Leser: in, die ganzen Häuser hätten etwas getan, versteht dann aber, dass es die Wassermassen waren. Der Satz beginnt mit einem Akkusativobjekt. Das Subjekt steht nach dem Prädikat. In Kasus (Akkusativ gleich Nominativ), Genus (irrelevant, weil Plural) und Numerus (Plural) könnte ganze Häuser das Subjekt sein. Weltwissen hilft hier. Häuser reißen nicht Wassermassen fort, sondern umgekehrt. ■ Was bewirkt die Erderwärmung? Geht es darum, was die Folgen der Erderwärmung sind? Oder geht es darum, wie es zur Erderwärmung kommt? Ist die Erderwärmung Subjekt oder Objekt? ■ Engagierte Leute brauchen nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die deutschen Arbeitslosen. Wer braucht wen? Die Leute die Flüchtlinge und die Arbeitslosen? Oder die Flüchtlinge und die Arbeitslosen die Leute? Sind die Leute das Subjekt oder das Objekt? Und sind die Arbeitslosen noch ein Subjekt oder noch ein Objekt? ■ Deutschland bat Assad, seinem Land mehr zu helfen. Wer bat wen? Und um wessen Land geht es? Ist Deutschland das Subjekt oder das Objekt? Und welches Wort ist das Bezugssubstan‐ tiv des Possessivpronomens? 356 7 Ambiguitäten <?page no="358"?> ■ Diese branchenspezifische Absatzverschlechterung verschärfte die weltweite Konjunkturentwicklung. Was verschäfte was? Ist die Absatzverschlechterung das Subjekt oder das Objekt? Hier hilft Faktenwissen und/ oder Kontextwissen. ■ Gretchen ist die Frau, die Faust schwängert. Wer schwängerte wen? Ist Gretchen das Subjekt oder das Objekt? Hier hilft Weltwissen (…, sofern klar ist, dass Gretchen eine Frau und Faust ein Mann ist). ■ Die Mutter hat Tim nie fallenlassen, und die Geschwister auch nicht. Welche Rolle spielen die Geschwister? Wurden sie - wie Tim - nie fallen gelassen? Oder haben sie Tim - wie die Mutter - nie fallenlassen? Sind die Geschwister ein weiteres Subjekt oder ein weiteres Objekt? ■ Zwei Mitarbeiterinnen hielten die Einbrecher brutal in Schach, indem sie sie an Heizkörpern festbanden. Wer hielt wen in Schach? Sind die Mitarbeiterinnen Subjekt oder Objekt? ■ Manche Mitarbeiter von der Zeitarbeitsfirma sehen die alten Kollegen als Konkurrenz. Wer sieht wen als Konkurrenz? Wer fürchtet wen? Wer befürchtet, dass die anderen Konkurrenz sind? Die Mitarbeiter oder die alten Kollegen? Sind die Mitarbeiter Subjekt oder Objekt? Hier hilft Kontextwissen (und Weltwissen, denn es werden eher neu hinzukommende Mitarbeiter von älteren als Konkurrenz gesehen; nicht umgekehrt). 7.1 Syntaktische Ambiguität 357 <?page no="359"?> 101 Thomas Mann ist das Subjekt; er schätzte Maria Lazar (bzw. deren Roman „Vergiftung“) nicht sehr. Robert Musil hingegen lobte Maria Lazars Talent. ■ Diese Investorin verunsichert die Ambiguität bezüglich der rechtlichen Parameter und der Hauptfaktoren und Idealklassen bei dieser Anlage. Wer oder was verunsichert wen? Ist es die Ambiguität, die die Investorin verunsichert? Ist die Investorin Subjekt oder Objekt? Dieser Satz ist auch eine Holzwegkonstruktion. Es wird ein belebtes Subjekt genannt, es folgt ein Prädikat, das semantisch zum Subjekt passen könnte. ■ Diese Schule besuchte sie zwei Jahre lang. Wer besuchte wen? Ist die Schule Subjekt oder Objekt? Hier hilft Weltwissen. Man weiß, dass Schulen nicht besuchen. ■ Thomas Mann schätzte Maria Lazar nicht besonders, Robert Musil schon. Wer schätzt wen (nicht)? Und welche Rolle spielt hier Robert Musil? Wird er von Thomas Mann geschätzt? Oder von Maria Lazar? Oder ist es so, dass Robert Musil Maria Lazar schätzte? Ist Thomas Mann Subjekt oder Objekt? Und ist Robert Musil Objekt oder Subjekt? Wäre der Satz Thomas Mann schätzte Rober Musil (mit Robert Musil als Objekt) oder Robert Musil schätzte Maria Lazar? (mit Robert Musil als Subjekt)? Hier hilft Faktenwissen 101 . Syntaktisch ist nicht klar, wer wen (nicht) schätzt. ■ Das Kind musste die Familie der Frau großziehen. Wer musste wen großziehen? Sicherlich musste die Familie (der Frau) das Kind großziehen. Das Kind (an Position 1, wo man im Zweifelsfall zunächst das Subjekt vermutet) ist ein Akkusativobjekt und nicht das Subjekt des Satzes. 358 7 Ambiguitäten <?page no="360"?> ■ Es ist kein Wunder, dass Sie die Patienten in Scharen verlassen. Wer verlässt wen? Das Subjekt des Nebensatzes, hier derjenige bzw. diejenigen, der/ die etwas tut/ tun (verlassen), lautet die Patienten. Hier steht das Objekt (Sie) vor dem Subjekt. Diese Positionierung von Objekt und Subjekt ist zwar im deutschen Satzbau erlaubt, jedoch der Verständlichkeit nicht zuträglich. 7.1.5.2 Unklarer Kasus, folglich unklare Funktion eines Satzteils ■ Das haben die Ärzte ihrer Schwester so gesagt. War die Schwester die Zuhörerin? Oder handelt es sich um die Ärzte der Schwester (wobei diese wiederum sein kann: a. die weibliche Verwandte von mehreren Personen oder b. die weibliche Verwandte von einer weiblichen Person oder c. eine Kranken‐ schwester, die mit den Ärzten Dienst auf derselben Station und/ oder zu derselben Zeit hat und ihnen dienstmäßig zugeordnet ist, oder d. eine weibliche Person, die mit den Ärzten über eine andere Zugehörigkeit (ggf. Verwandtschaft) verbunden ist)? Ist ihrer Schwester ein Dativ und somit indirektes (Dativ-)Objekt? Oder ist ihrer Schwester ein Genitiv und somit ein Attribut (zu den Ärzten)? Hinzu kommt hier die lexikalische Ambiguität des Wortes Schwester, die ja eine Krankenschwester oder die weibliche Verwandte sein kann. Am Rande bemerkt: Wenn hinzu kommt, dass das Possessivpronomen tatsächlich als Honorifikum, also als großzuschreibende höfliche Anrede (hier besitzanzeigend) gemeint ist, der Satz also einen kleinen Fehler enthält, gibt es noch mehr Bedeutungsvarianten. ■ Ich weiß nicht, wie die Tante der Kleinen dort helfen wollte. Wollte die Tante einem kleinen Mädchen helfen? Oder ist es die Tante von einem kleinen Mädchen, und diese Tante wollte irgendjmdm. helfen? Ist die Nominalphrase der Kleinen ein Dativ und somit ein Objekt? Oder ist es ein Genitiv und somit ein Attribut (zu der Tante)? ■ Sie präsentierten die Produkte der Branche. War es die Branche, die die Produkte zu sehen bekam? Oder handelt es sich um die Produkte von der Branche, die präsentiert wurden? 7.1 Syntaktische Ambiguität 359 <?page no="361"?> Ist der Branche ein Dativ und somit indirektes (Dativ-)Objekt? Oder ist der Branche ein Genitiv und somit ein Attribut (zu den Produkten)? ■ Er wollte die Brosche seiner Schwester zeigen. Sollte die Schwester die Brosche gezeigt bekommen? Oder gehört die Brosche der Schwester? Ist seiner Schwester ein Dativ und somit indirektes (Dativ-)Objekt? Oder ist seiner Schwester ein Genitiv und somit ein Attribut (zu der Brosche)? ■ Die Parteien sind sich dessen bewusst, dass unangemessene Verwendung der gemäß diesem Vertrag weitergeleiteten Informationen der anderen Partei irreparablen Schaden zufügen kann. Wird der Schaden der anderen Partei zugefügt? Oder ist die andere Partei die Besitzerin der Informationen? Ist die Nominalphrase der anderen Partei ein Dativobjekt? Oder ist sie ein Genitiv und somit ein Attribut (zu den Informationen)? ■ Möge der Schamane der Dame die Hand auf die Stirn legen. Soll der Schamane seine Hand auf die Stirn der Dame legen? Oder ist es der Schamane von der Dame (eine Art Angestellter oder der Dame Zugehöriger), der seine Hand auf die Stirn von jmdm. legen soll? Ist der Dame ein freier Dativ oder ein Genitiv (also Attribut zum Schamanen)? ■ Es wurden wenige Tage nach dem Angriff Russlands Sanktionen verhängt. Hat Russland angegriffen? Oder geht es um Sanktionen, die Russland verhängt hat (Sanktionen von Seiten Russlands)? Hier geht es um die Frage, ob der Genitiv zum vor ihm oder zum nach ihm stehenden Substantiv gehört. Hier hilft Weltwissen. Wenn man weiß, aus welcher Zeit dieser Satz stammt, weiß man auch, wer wen angegriffen hat und wer gegen wen Sanktionen verhängt hat, aber ohne dieses Wissen könnte der Genitiv Russlands auch zu den Sanktionen gehören, dann wären es Russlands Sanktionen, also Sanktionen, die von Russland verhängt wurden. 360 7 Ambiguitäten <?page no="362"?> 7.1.5.3 Ambiguität wegen des Verbs „lassen“ Das böse Verb lassen kann zu Ambiguitäten führen: ■ Die Regierung will nun Kinder impfen lassen. Werden die Kinder geimpft? Oder sollen die Kinder jmdn. impfen? Sind die Kinder Objekte oder Aktanten? Wird das Verb lassen hier mit der Bedeutung veranlassen (bzw zulassesn, gewähren lassen) verwendet? Oder ist es der passivische Gebrauch von lassen (Die Regierung will nun, dass Kinder geimpft werden.)? Bei dem Satz Die Geschäftsleitung will morgen die Autos waschen lassen. ist klar, dass die Rolle der Autos hier Objekt ist und dass es sich um den passivischen Gebrauch von lassen handelt (also dass die Autos gewaschen werden und nicht waschen). Es ist uns jedoch nur wegen unseres (Welt-)Wissens klar, dass Autos nicht waschen (können). Das Problem besteht auch, weil impfen ein transitives Verb ist. Wäre es ein intransitives Verb (z. B. aussagen), wäre die Rolle klar, z. B. Die Regierung will nun Kinder aussagen lassen. 7.1.6 Unklarer Bezug und unklare Rolle eines Nebensatzes 7.1.6.1 Unklarer Bezug eines Adverbialsatzes ■ Er hat zugegeben, dass er einige Zahlungen für seinen Sohn ausgesetzt hat, um zu bewirken, dass sich das Verhältnis normalisiert. Worauf bezieht sich die Erklärung Um zu bewirken […]? Dass er die Zahlungen ausgesetzt hat? Oder dass er es zugegeben hat? In dem Fall, aus dem dieser Satz stammt, war es so, dass das Zugeben (des Aussetzens der Zahlungen) bewirken sollte, dass sich das Verhältnis normalisiert. Der Satz kann jedoch auch anders verstanden werden (was zunächst der Fall war), und zwar so, dass das Aussetzen der Zahlungen dazu führen sollte, dass sich das Verhältnis normalisiert, und die hinter dieser Art der Auslegung zu vermutende Denkweise mutet realitätsfremd an und würde sicherlich von dem Urteil eines durchschnittlich gebildeten vernünftigen objektiven Dritten verworfen werden. 7.1.6.2 Unklarer Bezug eines Relativsatzes Ob der Bezug eines Relativpronomens - und damit des Relativsatzes - klar oder unklar ist, also welches Wort vor dem Relativsatz das Bezugswort ist, hängt davon ab, ob das im Relativsatz Ausgedrückte auf verschiedene mögliche Bezugswörter zutreffen kann. Es gibt zwar für Relativsätze und ihren Bezug die Regel, die besagt, dass das Bezugswort dasjenige ist, das man bei der Rückwärtssuche zuerst findet, das in Kasus und Numerus und Genus passt (sog. „KNG-Kongruenz“). Diese Regel kennt - und befolgt folglich - jedoch kaum jemand. Bei Auslegungsfragen geht es dann um den sog. „objektiven 7.1 Syntaktische Ambiguität 361 <?page no="363"?> Empfängerhorizont“, und es wird die Frage gestellt (und beantwortet): Wie würde der durchschnittlich gebildete vernünftige objektive Dritte den Satz verstehen? , oder es wird ein linguistisches Gutachten angefordert. Und bei diesem Satz ■ Es ist der Wagen des Verdächtigen, den wir suchen. stellt sich die Frage: Wer oder was wird gesucht? Der Verdächtige oder dessen Wagen? Achtung: Es wird vom Verfasser oft falsch vermutet, Leser: innen würden sich einen solchen Satz mit einer bestimmten Betonung vorstellen (im obigen Beispielsatz entweder auf Wagen oder Verdächtigen). Ein/ e Leser: in kann jedoch nicht wissen, mit welcher Betonung die Person, die den Satz formuliert hat, ihn sprechen würde! ■ Wir benötigen beim Notar unseres Mandanten, der ja bis nächsten Dienstag im Urlaub ist, einen Termin in der nächsten Woche. Wer ist im Urlaub? Der Notar oder der Mandant? ■ Ich habe mit der Tochter einer Freundin telefoniert, die Liebeskummer hat. Wer hat Liebeskummer? Die Tochter oder die Freundin? ■ Sie war die adoptierte Tochter einer Mormonen-Familie, die stets behauptete, von Indianern abzustammen. Wer behauptete, von Mormonen abzustammen? Die adoptierte Tochter oder die Familie? ■ Bei dem Mann mit dem Koffer handelt es sich um den Bruder des Unternehmers J.G. Erlemann, der wenige Tage zuvor entführt worden war. Wer war entführt worden? Der Unternehmer? Oder der Bruder des Unternehmers? Die Syntax verrät nicht, worauf sich der Relativsatz bezieht. ■ Hier sind die Arbeitsberichte der Schüler, über die du dich immer ärgerst. Über wen oder was ärgert er/ sie sich immer? Über die Schüler oder die Arbeitsberichte? Bezieht sich der Relativsatz auf das direkt vor ihm stehende (und in Kasus, Numerus und Genus „passende“) Substantiv (also Schüler)? Oder bezieht er sich auf die Arbeits‐ berichte, und der Schüler ist ein (Genitiv-)Attribut zu den Berichten und ist mit dem Relativsatz nicht gemeint? 362 7 Ambiguitäten <?page no="364"?> ■ Montagues semantische Universalgrammatik ist ein kritisches Gegenstück zur Grammatiktheo‐ rie von Noam Chomsky, in der die Semantik als von der Syntax unabhängig angesehen wird. In welcher Grammatik wird die Semantik als von der Syntax unabhängig angesehen? In der von Montague oder in der von Chomsky? Bezieht sich der Relativsatz auf das (fast) direkt vor ihm stehende (und in Kasus, Nu‐ merus und Genus „passende“) Substantiv (also Grammatiktheorie) mit dem daran“hän‐ genden“ Attribut von Noam Chomsky? Oder bezieht er sich auf die semantische Universalgrammatik von Montague? ■ Bitte schicken Sie uns die Wasserproben zurück, die Sie für die entomologischen Gutachten gebraucht haben, die Sie dafür angefordert hatten. Was war angefordert worden? Die Gutachten? Oder die Wasserproben? Gehört der zweite Relativsatz zu den in dem vorangehenden Relativsatz erwähnten Gutachten oder zu den im Hauptsatz erwähnten Proben? Wenn er zu den Proben gehört, wäre es besser, deutlich zu machen, dass die Proben zwei Attribute haben (a. sie gehörten zu den Gutachten und b. sie waren angefordert worden). Dann würde der Satz lauten: Bitte schicken Sie uns die Wasserproben zurück, die Sie für die entomologischen Gutachten gebraucht haben und dafür angefordert hatten. ■ Regisseurin Maria Schrader spricht über ihr Hollywood-Debüt „She Said“ - den Film über den Weinstein-Skandal, der #MeToo auslöste. Was löste #MeToo aus? Der Film oder der Weinstein-Skandal? Bezieht sich der Relativsatz auf das direkt vor ihm stehende (und in Kasus, Numerus und Genus „passende“) Substantiv (also Skandal)? Oder bezieht er sich auf den Film, und der Skandal ist ein (Genitiv-)Attribut zu dem Film und ist mit dem Relativsatz nicht gemeint? ■ Ich sollte die Zettel mit dem Umsatzbericht an dem Tag auf den Konferenztisch legen, an dem der zweite Vorsitzende den ersten Vorsitzenden vertreten sollte. Der Relativsatz soll sich sicherlich auf den Tag beziehen und nicht auf den Konferenztisch. Der/ die Leser: in ist ein wenig gefordert, denn üblich ist, dass sich ein Relativsatz auf das Wort bezieht, das ihm am nächsten steht und in Kasus, Numerus und Genus passt, und das wäre hier der Konferenztisch. Nur der Bedeutung nach (also semantisch) wird klar, worauf sich der Relativsatz höchstwahrscheinlich beziehen soll. 7.1 Syntaktische Ambiguität 363 <?page no="365"?> ■ „Sakrosankt“ ist ein Adjektiv, das in der Zeit der römischen Republik die Unverletzlichkeit einer Person bezeichnete, die durch einen Eid gesichert werden sollte. Was sollte durch einen Eid gesichert werden? Die Person oder die Unverletzlichkeit? Oder die Republik? Oder die Zeit? Bezieht sich der Relativsatz auf das Substantiv des Genitiv-Attributs (zu Unverletzlichkeit; also einer Person)? Oder auf das Akkusativobjekt zum Verb bezeichnete (also auf Unverletzlichkeit)? Dieser Satz ist vergleichbar mit dem bereits erwähnten Beispielsatz Er traf die Schwester seiner Freundin, die in Berlin gemeldet ist. Auch da findet man, wenn man vom Relativsatz aus rückwärts nach einem (in Kasus, Numerus und Genus) passenden Bezugssubstantiv sucht, zunächst einen Genitiv (seiner Freundin), der zu einem Substantiv gehört, das ebenfalls passt. ■ Wir bieten ausschließlich Leistungen im Rahmen der forensischen Phonetik für Beschuldigte an, die von diesen im Rahmen von Straf- und Ermittlungsverfahren benötigt werden. Was wird benötigt? Sicherlich die Leistungen (nicht die Phonetik oder die Beschuldig‐ ten). Der Relativsatz bezieht sich (hier semantisch) auf das Substantiv, das man, wenn man (syntaktisch) rückwärts nach einem Wort sucht, das in Kasus, Numerus und Genus zum Relativsatz passt, das dritte ist, das diese Bedingung erfüllt (Leistungen). Der Satz ist schwer verständlich. Der/ die Verfasser: in hat sich der unterlassenen Verständ‐ lichkeitssicherung schuldig gemacht. ■ Ich füge diesem Schreiben einen Auszug bei, der Teil des demnächst erscheinenden Berichts zum Thema „Entwicklung von Corporate Governance und Corporate Management in Großun‐ ternehmen in der EU“ zu der Frage des eventuell zu überarbeitenden rechtlichen und faktischen Ordnungsgrundsatzes ist, den ich wegen Ihrer wertvollen Anregung nun etwas modifiziert habe. Was wurde modifiziert? Der Auszug? Der Teil? Der Bericht? Der Ordnungsgrundsatz? Wir suchen vom Relativsatz aus rückwärts ein Wort, das in Kasus, Numerus und Genus zu dem Relativpronomen passt, also kongruent ist, und stellen fest, dass die Substantive Teil, Auszug, Berichts und Ordnungsgrundsatzes in Frage kommen. Semantisch passen drei der Lexeme, und zwar Teil, Auszug, Berichts. Das Problem ist, dass dem Leser eine enorme Gedächtnisleistung abverlangt wird, wenn er, wenn er beim Relativsatz ankommt, noch wissen soll, welche Worte als Bezugswort des Relativsatzes in Frage kommen. 364 7 Ambiguitäten <?page no="366"?> Wenn sich der Relativsatz auf den Auszug beziehen soll: Warum lautet der Satz nicht Ich füge […] bei, der […] ist und den ich […]? Der Satz ist eine Unverschämtheit. Dem/ Der Verfasser: in ist der Bezug klar, aber der/ die Leser: in muss mühsam rätseln und kann nur mutmaßen. Das Problem des Bezuges gibt es in erweiterter Form, wenn sich die Frage stellt, wie weit die Bedeutung des Relativsatzes zurückreicht und was sie alles beinhaltet (sog. Skopusfrage, zur Frage nach engem oder weitem Skopus →-Kap. 7.3.3). Betrifft der Relativsatz nur den letzten Satzteil oder ein Satzelement (Lexem/ Wort) vor dem Relativsatz oder noch mehr - also weiter vorne Genanntes auch? ■ Anbei die neue und die alte Rechnung, die ich Ihnen auch per Post schicken werde. Was wird außerdem per Post geschickt? Die alte Rechnung? Oder auch die neue Rechnung, also beide? ■ Er hat gesagt „Wir werden in diesem Leben keine Freunde mehr“, was ich nicht schlimm finde. Was ist nicht schlimm? Dass er das gesagt hat? Oder dass sie keine Freunde werden? Bezieht sich der Relativsatz nur auf den Sinnabschnitt direkt davor oder auf alles, was davor steht? Bei dem obigen Relativsatz (mit dem unklaren Bezug) handelt es sich - unabhängig von den beiden Bezugsoptionen - um einen sog. weiterführenden Relativsatz, der bzgl. seines Wertes im Satz oft einem neuen, separaten Hauptsatz ähnelt. ■ Sie haben sich sehr bald um ein europäisches Patent bemüht, was vermutlich klug war. Die Variante der Realisierung des obigen Satzes mit einem mit und angeschlossenen neuen Hauptsatz wäre: […], und das war vermutlich klug. ■ Er isst immer sehr schnell, was ungesund ist. Die Realisierung mit einem mit und angeschlossenen Hauptsatz wäre hier: […], und das ist ungesund. Achtung: Es gibt Relativsätze, die „Satzteil-Nebensätze“ sind, also die Funktion eines Satzteils haben: ■ Sie hat mir gegeben, was ich brauchte. Das ist ein Objekt-Satz. ■ Wer aufmuckt, kriegt eins in die Fresse. Das ist ein Subjekt-Satz. ■ Wer durch die Leistung eines anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm zur Herausgabe verpflichtet. Das ist auch ein Subjekt-Satz. 7.1 Syntaktische Ambiguität 365 <?page no="367"?> Für Fortgeschrittene Aus einem Fall, bei dem es darum ging, wie der in einem Gutachten enthaltene folgende Satz auszulegen ist: ■ Nach allen Untersuchungen der Bodenproben von Herrn Drüser und Frau Richling stellten wir fest, dass das nachweislich enthaltene Kupfer das ausschlaggebende Merkmal ist, was belegt, dass unsere Theorie zutreffend ist. Soll er besagen, dass das Merkmal (also das nachweislich enthaltene Kupfer) die Theorie belegt oder dass die Feststellung (also dass das Kupfer das ausschlaggebende Merkmal ist) die Theorie belegt? Es ist also zu fragen, ob es sich bei dem Relativsatz um einen gebundenen oder wei‐ terführenden handelt. Die Verwendung eines Interrogativpronomens (z. B. was) als Relativpronomen ist normalerweise ein Merkmal für einen weiterführenden Relativsatz. In dem tatsächlichen Fall wurde behauptet, der Relativsatz bezöge sich auf das Merkmal und nicht auf die Gesamt-Feststellung (also dass der Beleg für die Korrektheit der Theorie die Tatsache ist, dass das Kupfer das ausschlaggebende Merkmal ist und nicht, dass nach‐ weislich Kupfer enthalten ist und auch nicht, dass die Untersuchungen der Bodenproben ergaben, dass Kupfer im Boden enthalten ist). Es wurde die Frage gestellt: Was würde „der/ die durchschnittlich gebildete vernünftige objektive Dritte“ verstehen? Wie würde er/ sie den Satz auslegen, und welche Kenntnisse über Relativpronomen, die er/ sie bei seiner Auslegung anwenden würde, könnte man ihm/ ihr unterstellen? Es gibt den juristischen Grundsatz „Falsa demonstratio non nocet“ (auch kurz „falsa demonstratio“ oder „non nocet“, deutsch „Eine falsche Bezeichnung schadet nicht“), was eigentlich für Willenserklärungen bei zweiseitigen Rechtsgeschäften gilt . Dem ent‐ sprechend wurde in diesem Fall zugunsten der hier betroffenen Wissenschaftler: innen angenommen, dass eine grammatische Regel (aus Unkenntnis) missachtet wurde und eine andere Bedeutung intendiert war, als der Satz tatsächlich zeigt. Es wurde gesehen, dass sich der Relativsatz auf das Merkmal (und nicht auf die Gesamt-Feststellung beziehen soll, obwohl hier in der Behauptung (Nach allen […] zutreffend ist.) ein Relativpronomen (genau genommen ein Interrogativpronomen mit der Funktion eines Relativpronomens) verwendet wurde, das für den/ die Leser: in (und eine/ n objektive/ n Dritte/ n) normalerweise anzeigt, dass ein weiterführender Relativsatz folgt (also ein Relativsatz, dessen Inhalt ein Attribut zu dem gesamten vorangegangenen Inhalt darstellt und nicht nur zu einem Element des Matrixsatzes). Ein weiteres Beispiel: ■ Der Nitratwert im Boden war regelmäßig zu überprüfen, um eine Überdüngung zu erkennen, was u.-a. zu einer Verschlechterung der Wasserqualität führte. Dieser Satz besagt, dass das Überprüfen (des Nitratwerts) oder das Erkennen (der Überdün‐ gung) zu einer Verschlechterung der Wasserqualität führte, was sicherlich nicht der Fall war. Sicherlich war es die Überdüngung, die zu der Verschlechterung der Wasserqualität führte, und deshalb muss das Relativpronomen die lauten, damit sich der Relativsatz auf die Überdüngung bezieht und nicht ein weiterführender Relativsatz ist. 366 7 Ambiguitäten <?page no="368"?> 7.1.6.3 Relativsätze mit einschränkender oder nicht-einschränkender Bedeutung Im Englischen wird mittels Kommasetzung zwischen den „einschränkenden“ bzw. „restrik‐ tiven“ („restrictive“, auch „defining“) und den „nicht-restriktiven“ („non-restrictive“, auch „non-defining“) Relativsätzen unterschieden, was sehr praktisch ist. Wenn der Relativsatz „nicht-restriktiv“, also für das Verständnis des Satzes nicht nötig, ist und nur Zusatz-Infor‐ mation darstellt, wird er mit Komma(ta) abgetrennt, sonst nicht. Allerdings beherrschen viele Englisch-Sprechende bzw. -Schreibende (auch die Muttersprachler) diese Regel nicht, und folglich befolgen sie sie nicht. Beispiel: The colleagues who raised the turnover will get a bonus. ([Nur] die[-jenigen] Kollegen, die den Umsatz gesteigert haben, bekommen einen Bonus.) Es haben also nicht alle Kollegen den Umsatz gesteigert, und folglich bekommen auch nicht alle Kollegen einen Bonus. Wenn man den Relativsatz weglässt, bleibt The colleagues will get a bonus. Stimmt der Satz so? Vermutlich nicht, denn das würde implizieren, dass alle Kollegen einen Bonus erhalten; es haben aber vielleicht nicht alle den Umsatz gesteigert. Wenn es so wäre, dass alle den Umsatz gesteigert haben und den Bonus bekommen, sind hier im Englischen Kommata zu setzen. Wenn es nur einige sind, stehen keine Kommata, denn an dem Relativsatz kann man die Einschränkung (deshalb „restriktiv“) sehen, also die Einschränkung bzw. Definition der Kollegen, auf welche das im Hauptsatz genannte („einen Bonus erhalten“) zutrifft. Im Deutschen hingegen, wo es diese Unterscheidung und folglich Regel nicht gibt, werden alle Relativsätze mit Komma(ta) abgetrennt: In dem Satz ■ Ich habe alle Texte, die fertig korrigiert waren, an den Kunden geschickt. ist unklar, ob alle Texte fertig waren oder ob einige fertig korrigiert waren und andere nicht, und folglich, ob alle Texte an den Kunden geschickt wurden oder nur manche. ■ Aus der Ehe der Parteien sind zwei Kinder hervorgegangen, die zum Zeitpunkt der Scheidung minderjährig waren. Gibt es noch mehr Kinder? Oder nur die beiden minderjährigen? Besser wäre Aus der Ehe der Parteien sind zwei zum Zeitpunkt der Scheidung minder‐ jährige Kinder hervorgegangen. oder Aus der Ehe der Parteien sind u. a. zwei Kinder hervorgegangen, die zum Zeitpunkt der Scheidung minderjährig waren. oder Aus der Ehe der Parteien sind mehrere Kinder hervorgegangen, von denen zwei zum Zeitpunkt der Scheidung minderjährig waren. ■ In einem Beschlussverfahren, das nicht streitig ist, heißen die Parteien „Antragsteller“ und „Antragsgegner“. Ohne Faktenwissen weiß man nicht, ob es auch Beschlussverfahren gibt, die streitig sind. Gäbe es eine Regelung wie im Englischen, bei der zwischen restriktivem und nicht-restriktivem Relativsatz unterschieden wird, könnte man diese Frage beantworten. Im Deutschen muss man umformulieren und - umständlich - zwei Sätze bilden, z. B. In einem Beschlussverfahren heißen die Parteien „Antragsteller“ und „Antragsgegner“. Beschlussverfahren sind immer nicht-streitig. 7.1 Syntaktische Ambiguität 367 <?page no="369"?> ■ Ich habe die Tabletten den Patienten gegeben, die Pusteln hatten. Hatten nur einige Patienten Pusteln? Oder alle (zwar unwahrscheinlich, aber möglich)? Folglich: Haben alle Patienten die Tabletten bekommen? Oder nur einige, und zwar die, die Pusteln hatten? Besser wäre (wenn es nicht alle Patienten waren): Ich habe die Tabletten nur den Patienten gegeben, die Pusteln hatten. Da es im Deutschen die Unterscheidung über die Kommasetzung nicht gibt, ist es in Fällen von Relativsätzen mit einschränkender, restriktiver bzw. definierender Bedeutung - wie beim obigen Beispiel - für die Verständlichkeitssicherung oft sinnvoll, ein nur einzufügen bzw. eine Formulierung wie nur diejenigen zu wählen. 7.1.7 Unklare Rolle eines Artikels ■ Dann wurde die Wahl der Vorsitzenden angekündigt. Wer sollte gewählt werden? Mehrere Vorsitzende (evtl. von mehreren Ausschüssen oder Verbänden oder Vorständen)? Oder eine weibliche Vorsitzende? Ist das Genitiv-der Plural oder Singular feminin? 7.1.8 Unklare Rolle eines Personalpronomens ■ Sie hätten ihr Leben retten können, wenn sie sie angerufen hätte. Wer hätte wessen Leben retten können, wenn wer wen angerufen hätte? Wie viele Bedeutungen hat dieser Satz? Wir nehmen Englisch zu Hilfe: 1. You could have saved her life if she had called her. 2. They could have saved her life if she had called her. (wie1, aber They) 3. You could have saved their lives if she had called her. (wie 1, aber their lives) 4. They could have saved their lives if she had called her. (wie 3, aber They) 5. You could have saved her life if she had called them. (wie 1, aber them) 6. They could have saved her life if she had called them. (wie 2, aber them) 7. You could have saved their lives if she had called them. (wie 3, aber them) Eines der Probleme bei der richtigen Interpretation und Zuordnung der Personen ist hier, dass man bei dem ersten Wort (Sie) nicht weiß, ob es sich um ein „normales“ Personalpronomen, hier (wegen des Plural-Verbs) also die Bezeichnung mehrerer Personen, handelt oder um ein sog. „Honorifikum“, also die großzuschreibende Höflichkeitsform (→-Kap. 5.27 zur Groß- und Kleinschreibung und zum Honorifikum. 368 7 Ambiguitäten <?page no="370"?> ■ Lea kündigte Anne die Freundschaft, nachdem sie sie bei Tim schlechtgemacht hatte. Wer hat wen bei Tim schlechtgemacht? Und wer hat wem die Freundschaft gekündigt? Ist Lea Subjekt oder Objekt? Ist Anne Subjekt oder Objekt? Ist das erste sie im Nebensatz Lea oder Anne? Bezieht sich das erste sie im Nebensatz auf das Subjekt oder auf das Objekt des Hauptsatzes? Wir nehmen wieder Englisch zu Hilfe: 1. Lea terminated her friendship with Anne after she (Anne) had badmouthed her (Lea) to Tim. 2. Lea terminated her friendship with Anne after she (Lea) had badmouthed her (Anne) to Tim. 3. Anne terminated her friendship with Lea after she (Lea) had badmouthed her (Anne) to Tim. 4. Anne terminated her friendship with Lea after she (Anne) had badmouthed her (Lea) to Tim. 1. Lea kündigte (der) Anne die Freundschaft, nachdem sie (Anne) sie (Lea) bei Tim schlechtgemacht hatte. 2. Lea kündigte (der) Anne die Freundschaft, nachdem sie (Lea) sie (Anne) bei Tim schlechtgemacht hatte. 3. (Der) Lea kündigte (die) Anne die Freundschaft, nachdem sie (Lea) sie (Anne) bei Tim schlechtgemacht hatte. 4. (Der) Lea kündigte (die) Anne die Freundschaft, nachdem sie (Anne) sie (Lea) bei Tim schlechtgemacht hatte. Hier hat sich der/ die Verfasser: in der unterlassenen Verständlichkeitssicherung schuldig gemacht. ■ Er hat gesagt, dass der Techniker, der ihre Wallbox für das Laden des E-Autos reparieren soll, über Wochen ausgebucht ist. Wessen Walbox? Handelt sich um die Wallbox einer Gruppe, zu der die „Er“-Person evtl. gehört (Ehepaar, Familie)? Oder gehört die Wallbox einer einzelnen Frau? Das Possessivpronomen bezieht sich nicht auf die „Er“-Person (auch nicht auf den Techniker, was jedoch auch semantisch unsinnig wäre); das würde seine lauten. Es kann sich - neben dem möglichen Bezug auf eine einzelne Frau - auch auf eine Gruppe beziehen. Es bleibt unklar, ob die „Er“-Person zu dieser Gruppe (Ehepaar, Familie) gehört. 7.1 Syntaktische Ambiguität 369 <?page no="371"?> Bei dem folgenden Beispiel wird deutlich, wie wichtig es für das Verständnis des Satzes ist, das Honorifikum (Sie) großzuschreiben bzw. die Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinschreibung bei den Personalpronomen zu beherrschen: ■ Wir garantieren I/ ihnen, den Netzbetreibern, dass wir I/ ihre Kunden mit allem versorgen, was S/ sie brauchen. Siehe auch das Kapitel zur Groß- und Kleinschreibung (GKS) und zum Honorifikum (→-Kap. 5.27). Für Fortgeschrittene ■ Der Erschienene zu 2., Matthias Streiter, Bruder von Thomas Streiter, erklärt für seinen Bruder und dessen Abkömmlinge den Verzicht auf das gesetzliche Erbrecht nach den Erschienenen zu 1.1 und 1.2, und die Erschienenen zu 1.1 und 1.2 nehmen den Pflichtteilsverzicht an. ■ Der Erschienene zu 2., Matthias Streiter, Bruder von Thomas Streiter, erklärt für seinen Bruder und seine Abkömmlinge den Verzicht auf das gesetzliche Erbrecht nach den Erschienenen zu 1.1 und 1.2, und die Erschienenen zu 1.1 und 1.2 nehmen den Pflichtteilsverzicht an. Es ist ein Unterschied, ob die Kinder von Matthias Streiter oder die von seinem Bruder vom gesetzlichen Erbrecht ausgeschlossen werden. Beim zweiten Satz würde man allerdings bemerken, dass der Notar bzw. die Notarin in dem Testamentstext wahrscheinlich einen kleinen Fehler gemacht hat, denn Matthias Streiter hat sicherlich nicht gesagt Ich erkläre für meinen Bruder und meine Abkömmlinge den Verzicht auf das gesetzliche Erbrecht. Wenn zunächst ein Elternteil genannt wird und gleich danach Abkömmlinge, sind das üblicherweise dessen Abkömmlinge und nicht die Abkömmlinge einer anderen Person. ■ Frau Klaas wollte mit Frau Kurz vor ihrem Rücktritt noch einmal telefonieren. ■ Frau Klaas wollte mit Frau Kurz vor deren Rücktritt noch einmal telefonieren. Wer ist zurückgetreten? Frau Klaas oder Frau Kurz? Das Possessivpronomen ihrem bezieht sich auf das Subjekt (dann wäre also Frau Klaas zurückgetreten), deren auf das Objekt (dann wäre also Frau Kurz zurückgetreten). Der folgende Satz (aus dem Strafgesetzbuch) ist ein gutes Beispiel für präzise, korrekte Wortwahl: ■ Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat. (§-26 StGB) Wessen Tat? Anders gefragt: Wer hat eine rechtswidrige Tat vorsätzlich begangen? Die „wer“-Person? Der Anstifter? Der Täter? Der andere? Die „wer“-Person. Und um wessen Tat geht es? Um die Tat des anderen. Das sieht man daran, dass dort (der Artikel im Genitiv) dessen und nicht (das Possessivpronomen) seiner steht. Die Person zu „dessen“ ist die später im Satz genannte Person. Wäre es die erstgenannte Person, müsste es seiner heißen. Dieser Satz enthält auch ein gutes Beispiel für einen Subjektsatz: „Wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat.“ 370 7 Ambiguitäten <?page no="372"?> 7.1.9 Ambiguität durch Nominalstil Sätze im Nominalstil sind speziell dann ambig, wenn sie entstehen, 1. weil eine mit der Präposition wegen beginnende Präpositionalphrase in der Funktion eines Adverbials verwendet wird, 2. weil die Bedeutung eines Genitivs unklar ist. 7.1.9.1 Nominalstil mit Adverbial in Form einer Präpositionalphrase mit wegen ■ Wegen Deiner Eltern darfst Du nie aufgeben. Warum darf er nie aufgeben? Seinen Eltern zuliebe? Oder ist es so, dass die Eltern nicht der Grund für ein Aufgeben sein dürfen (z. B., weil sie ihm das Durchhalten schwer machen)? In jedem Fall handelt es sich um eine adverbiale Präpositionalphrase. Unklar ist die Art des Adverbials - abhängig von der Aussageintention: final oder kausal? Wegen des Nominalstils ist dies unklar. Im Verbalstil könnte der Satz - ohne Ambiguität - so lauten: Du darfst nie aufgeben - Deinen Eltern zuliebe. Oder Es darf nicht sein, dass Deine Eltern der Grund dafür sind, dass Du aufgibst. ■ Bundespräsident Köhler trat wegen mangelnden Respekts vor seinem Amt zurück. Wer hatte mangelnden Respekt? Der Bundespräsident selbst oder andere? In jedem Fall handelt es sich um eine kausale adverbiale Präpositionalphrase. Wegen des Nominalstils ist unklar, um wessen mangelnden Respekt es sich handelt. Im Verbalstil formuliert könnte der Satz so lauten: Bundespräsident Köhler trat zurück, weil diverse Journalisten mangelnden Respekt vor seinem Amt gezeigt hatten. Bzw. Bundespräsident Köhler trat zurück, weil er mangelnden Respekt vor seinem Amt hatte bzw. weil ihm mangelnder Respekt vor seinem Amt vorgeworfen worden war. ■ Wegen eines komplizierten Knöchelbruchs musste der Nationaltrainer am Anfang täglich ins Krankenhaus fahren und seinen besten Stürmer besuchen. Wer hatte den Knöchelbruch? Der Nationaltrainer oder der Stürmer? Es war sicherlich der Spieler, der den Bruch hatte, und nicht der Trainer, wie man zunächst denkt. Die Präpositionalphrase wegen eines komplizierten Knöchelbruchs ist in jedem Fall adverbial. Wegen des Nominalstils ist unklar, wer den Knöchelbruch hatte. 7.1 Syntaktische Ambiguität 371 <?page no="373"?> Im Verbalstil würde der Satz lauten: Weil er einen komplizierten Knöchelbruch hatte, musste der Nationaltrainer am Anfang täglich ins Krankenhaus fahren und seinen besten Stürmer besuchen. In dem Fall wäre es ganz klar der Nationaltrainer (das Subjekt des Satzes), was aber nicht gemeint ist. Also besser: Weil der beste Stürmer einen komplizierten Knöchelbruch hatte, musste der Nationaltrainer am Anfang täglich ins Krankenhaus fahren, um ihn zu besuchen. Hier hilft Weltwissen bei der richtigen Zuordnung des kausalen Adverbials. Man weiß, dass jemand, der einen komplizierten Knöchelbruch hatte, sich möglichst nicht viel bewegen sollte. 7.1.9.2 Nominalstil mit unklarem Genitiv ■ Es lag alles an dem Hass der Schwarzen. Wer hasst wen bzw. wer hat wen gehasst? Was war die Rolle der Schwarzen? Werden die Schwarzen gehasst? Oder hassen die Schwarzen? In jedem Fall ist der Schwarzen ein Genitiv und Attribut zu Hass, aber durch den Nominalstil ist die Beziehung von Hass und Schwarzen unklar. Man nennt die Frage nach einem solchen unklaren Genitiv auch „Ist das ein Genitivus subiectivus (d. h. in dem obigen Beispiel „die Schwarzen hassen“) oder ein Genitivus obiectivus (d. h. in dem obigen Beispiel „die Schwarzen werden gehasst“)? “ Klar wird die Bedeutung nur durch Verbalstil, z. B. a) Es lag alles daran, dass die Schwarzen gehasst werden. bzw. Es lag alles an dem Hass gegen die Schwarzen. oder b) Es lag alles daran, dass die Schwarzen XY hassen. oder Es lag alles daran, dass die Schwarzen hassen (von Hass erfüllt sind). Falls die (letztere) Bedeutung gemeint ist, dass die Schwarzen hassen, ist es möglich, dass diese unklare Formulierung vom bzw. von der Sprecher: in bzw. Textverfasser: in absichtlich gewählt wird, weil er/ sie nicht nennen möchte, wen die Schwarzen hassen. Die Frage nach einem solchen unklaren Genitiv lautet: „Ist das ein Genitivus subiectivus oder ein Genitivus obiectivus? “ ■ Die Beschreibung des Hausmeisters war sehr ungenau. Hat der Hausmeister (etwas oder jmdn.) ungenau beschrieben? Oder wurde der Hausmeister (von jmdm.) ungenau beschrieben? In jedem Fall ist des Hausmeisters ein Genitiv und Attribut zu Beschreibung, aber durch den Nominalstil ist die Beziehung von Beschreibung und Hausmeister unklar. Auch hier geht es um die Frage, ob es sich um einen Genitivus subiectivus oder um einen Genitivus obiectivus handelt. 372 7 Ambiguitäten <?page no="374"?> Die Bedeutung wird nur durch Verbalstil klar, z. B. Der Hausmeister hat XY ungenau beschrieben. bzw. Der Hausmeister wurde (von XY) ungenau beschrieben. ■ Er hat das Foto seines Sohnes bestimmt nicht weggeworfen. Ist es ein Foto, das den Sohn zeigt? Oder ist es ein Foto, das der Sohn gemacht hat? In jedem Fall ist seines Sohnes ein Genitiv und Attribut zu Foto, aber durch den Nominalstil ist die Beziehung von Foto und Sohn unklar. Auch hier geht es um die Frage, um was für einen Genitiv es sich handelt: um einen Genitivus subiectivus oder um einen Genitivus auctoris (mit Nennung eines Schaffenden, eines Urhebers wie z. B. Verdis Opern). Klar wird die Bedeutung nur durch Verbalstil mit Relativsatz, z. B. Er hat das Foto, das seinen Sohn zeigt, bestimmt nicht weggeworfen. bzw. Er hat das Foto, das sein Sohn gemacht hat, bestimmt nicht weggeworfen. ■ Der Bericht handelt von den ethnischen Säuberungen der Palästinenser. Führen die Palästinenser ethnische Säuberungen durch? Oder sind die Palästinenser Opfer der ethnischen Säuberungen (durch jmdn., z.-B. durch Israelis)? In beiden Fällen ist der Palästinenser ein Genitiv und Attribut zu den Säuberungen, aber durch den Nominalstil ist die Beziehung der Säuberungen und der Palästinenser unklar. Hier geht es - wie bereits oben - um die Frage, ob es sich um einen Genitivus subiectivus oder um einen Genitivus obiectivus handelt. Klar wird die Bedeutung nur durch Verbalstil mit einem Inhaltssatz (und einem Korrelat im Hauptsatz), z. B. Der Bericht handelt davon, dass/ wie die Palästinenser ethnische Säuberungen vornehmen/ vorgenommen haben/ vornahmen. bzw. (sicherlich so gemeint) Der Bericht handelt davon, dass/ wie ethnische Säuberungen an/ mit den Palästinensern vorgenommen/ durchgeführt werden/ wurden oder dass/ wie die Palästinenser Opfer ethni‐ scher Säuberungen wurden. 7.1 Syntaktische Ambiguität 373 <?page no="375"?> 102 Es gibt allerdings einen kleinen Unterschied: Die Polyseme entwickeln sich aus einem gemeinsamen Ursprung, sind also etymologisch miteinander verwandt; Homonyme nicht. 7.2 Lexikalische Ambiguität 7.2.1 Homonyme/ Polyseme Gleich geschriebene (und gleichlautende) Wörter mit verschiedenen Bedeutungen nennt man Homonyme (bzw. Polyseme 102 ), auch bekannt als „Teekessel-Wörter“ wie Bank, Absatz, Eingang, verabschieden, erhalten, einstellen, aufheben Beispielsätze: ■ Der Absatz und die Erklärung dazu sind unklar und die Zahlen unrealistisch. Um was für einen Absatz geht es? Um a) einen Paragrafen in einem Text oder um b) Umsatz oder (unwahrscheinlich) um c) einen Schuh-Absatz oder (auch unwahrscheinlich) um d) eine Stufe? Was helfen würde: Kontextwissen. ■ Wir legen großen Wert auf genaue Eingangskontrolle. Eingang ist ein Homonym (bzw. Polysem). Ist Eingang eine Tür für Menschen, evtl. mit einem Türsteher? Oder handelt es sich um die Überprüfung eingegangener Waren (ob alles unbeschädigt und vollständig ist)? Helfen würde hier Kontextwissen. ■ Das passt mir gut. Handelt es sich (bei dem das) um einen Termin oder ein Kleidungsstück oder um noch etwas anderes? Hier hilft nur Kontextwissen. ■ Zwei Jäger trafen sich im Wald. War das ein Zusammenkommen, und sie unterhielten sich vielleicht? Oder wurde geschos‐ sen, und sie trafen sich - vermutlich aus Versehen, und dann waren sie verletzt oder tot? treffen ist ein Homonym bzw. Polysem. ■ Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass wir am 22. Mai eine Reihe deutscher Einwahlnummern einstellen werden, was für einige Tutorial-Benutzer zu wissen wichtig ist, die mittels der Nummern an Sitzungen teilnehmen. Werden die Nummern beendet oder neu dazu angeboten? ■ Sie ging zu der Bank, wo sie verabredet waren. Zu was für einer Bank ging sie? Zu einer Sitzbank im Park? Oder zu einem Geldinstitut? Ist die Ausdrucksweise „auf dem Holzweg sein“ im folgenden Beispielsatz konkret gemeint, oder wird sie als Redensart verwendet? ■ Deine Schwester ist auf dem Holzweg. 374 7 Ambiguitäten <?page no="376"?> 103 Er wurde zum 01.01.2021 abgeschafft, aber man weiß ja nicht, aus welcher Zeit dieser Satz stammt. Befindet sich die Schwester auf einem Weg im Wald, der zum Beschaffen von Holz eingerichtet wurde und sonst nirgends hin führt? Oder befindet sich die Schwester auf einem Weg, dessen Untergrund eine Holzkonstruktion ist? Oder ist es so, dass die Schwester sich irrt, etwas nicht versteht, etwas falsch auffasst bzw. etwas gedanklich verfolgt, das zu keinem Ziel führt? ■ Die heute-show erklärt Trump den Krieg. Welche Art des „Erklärens“ ist hier gemeint? Ist es so, dass Trump nicht richtig verstanden hat, was „Krieg“ ist und eine Erläuterung bekommt? Oder ist es so, dass die heute-show gegen Trump in den Krieg ziehen wird? ■ Der Soli ist verabschiedet worden. Wurde er beschlossen oder abgeschafft 103 ? ■ Ich will mich nicht anstellen. Will die Ich-Person sich nicht in eine Warteschlange einreihen? Oder will sie nicht übervorsichtig oder wehleidig oder kompliziert sein bzw. wirken? 7.2.2 Unklare Präposition ■ Viele ukrainische Frauen, die vor dem Krieg geflohen sind, sind gut ausgebildete Fachkräfte. Sind die Frauen wegen des Krieges geflohen, oder sind sie geflohen, bevor der Krieg begann? Ist dem Krieg ein Präpositionalobjekt im Sinne von „fliehen vor“ (als Teil der Präpo‐ sitionalphrase vor dem Krieg), oder ist die Präpositionalphrase (vor dem Krieg) ein (temporales) Adverbial zum Prädikat (fliehen)? ■ Das hat er vor der Betriebsratssitzung gesagt. Hat er das gesagt, bevor die Betriebsratssitzung stattfand? Oder hat er das zu den Betriebsräten gesagt (Er hat vor dem Betriebsrat gesprochen.)? 7.2.3 Unklares Pronomen ■ Der Angeklagte traf seine jüngere Schwester. Hat er nur eine Schwester (bzw. nur eine, die bekannt oder relevant ist), und die ist jünger als er, und die traf er? Oder hat er zwei (oder mehrere) Schwestern, und gemeint ist die jüngere von ihnen? 7.2 Lexikalische Ambiguität 375 <?page no="377"?> 104 dürfen, haben zu, können, mögen, müssen, sollen, wollen. 7.2.4 Unklarer Numerus ■ Nach dem Anschlag von Stockholm wird Usbeken Terror und Mord vorgeworfen. Wie vielen Usbeken wurde das vorgeworfen? Einem oder mehreren? Ist das ein maskulines Substantiv im Singular? Oder ein Dativobjekt im Plural? ■ Im Rewe-Markt war ein Freund der Angeklagten von der Gegenseite krankenhausreif geschlagen worden. Handelt es sich um eine weibliche Angeklagte oder um mehrere Angeklagte (die männlich und/ oder weiblich sein können)? ■ Wir kamen den Verdächtigen und Lisa und deren Lebensabschnittsgefährten langsam auf die Schliche. Handelt es sich hier um eine/ n oder mehrere LebensabschnittsgefährtInnen von Lisa? Und gehört (gehören) der (die) LebensabschnittsgefährtInnen zu Lisa und/ oder auch zu den Verdächtigen? ■ Der Schutz der Begünstigten war ihm sehr wichtig. Handelt es sich um mehrere Begünstigte oder um eine weibliche Begünstigte? Ist es Plural oder Femininum? 7.2.5 Unklares Modalverb Bei den Modalverben 104 sind es speziell sollen und müssen, die bei unklarem Kontext leicht zu Missverständnissen führen. ■ Ex-Verfassungschef Maaßen soll eine Kandidatur zur Landtagswahl in Thüringen erwägen. Ist das eine Vermutung? Oder ist Maaßen gebeten worden, eine Kandidatur zu erwägen? ■ Ein „deep state“, also ein Staat im Staat, soll gegen Präsident Donald Trump arbeiten. Ist das eine Vermutung? Oder ist ein „deep state“ dazu beauftragt/ gebeten/ eingesetzt/ ge‐ schaffen worden? ■ Er muss Marketingerfahrung haben. Bedeutet das, dass er die Erfahrung für einen betimmten Job braucht? Oder ist das eine Vermutung (z.-B. weil er anscheinend Ahnung von Marketing hat.)? 376 7 Ambiguitäten <?page no="378"?> 7.2.6 Unklare Konjunktion Manche Konjunktionen (auch „Bindewörter“ und bei Neef 2023 „Fügewörter“) sind nicht eindeutig. ■ Während die Eltern es sich gut gehen ließen und dauernd bekifft waren, hatten die Kinder kaum genug zu essen. Geschah das gleichzeitig? Oder ist das eine Gegenüberstellung bzw. ein Vergleich? Ist der adverbiale Nebensatz temporal oder adversativ (wie „wohingegen“)? ■ Wenn er nach Hause kommt, mache ich ihm sein Lieblingsessen. Heißt das, dass mit dem Lieblingsessen nur noch bis zu seinem erwarteten Eintreffen gewartet wird? Oder heißt das, dass nur dann das Lieblingsessen gekocht wird, falls er nach Hause kommt, aber evtl. kommt er nicht? Meint der/ die Verfasser: in das wenn temporal oder konditional? Die schwierige Konjunktion „oder“: ■ Ich fragte ihn, ob er Tee oder Kaffee wollte. Wurde er gebeten, sich zwischen Tee und Kaffee zu entscheiden? Oder wurde er gefragt, ob er etwas trinken wollte, und es wurde dazu gesagt, dass Tee und Kaffee zur Verfügung stehen? Handelt es sich um ein exklusives um ein inklusives oder? 7.2.7 Unklares Adverb ■ Es stimmt zwar, dass der Beklagte ein solches Profil bei „sexy und versaut 2.0“ erstellt hatte, er hat es jedoch kurzfristig gelöscht. Die Bedeutung des Adverbs kurzfristig ist nicht klar. Es kann heißen schnell erfolgend, bald, was hier sicherlich gemeint ist, aber auch nur kurze Zeit dauernd. Am Rande bemerkt: Kurzfristig kann außerdem bedeuten „ohne vorherige Ankündigung“ (z. B. in Er reiste kurzfristig ab.) und „dringend notwendig“ (z. B. in Es muss jemand kurzfristig die erkrankte Frau Meyer an der Rezeption vertreten.) 7.2 Lexikalische Ambiguität 377 <?page no="379"?> 105 Primär werden diese Begriffe (quantitative Vagheit bzw. Unschärfe) - neben der Linguistik - bezüglich der Interpretation von Daten aller Art und bei Erhebungen bzw. Messungen aller Art verwendet. 7.2.8 Unklares Genus ■ Zu der Besprechung kamen zwei Russen, zwei Griechinnen, zwei Chinesen und zwei Deutsche. Welches Geschlecht hatten die Deutschen? Waren es Männer oder Frauen? Kamen zu der Besprechung zwei deutsche Frauen oder zwei deutsche Männer oder eine Deutsche und ein Deutscher? Das Genus von „Deutsche“ (im Plural! ) ist unklar. 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität Betrachten wir nun die dritte Art der Ambiguität, die einige verschiedene Arten der Am‐ biguität in sich versammelt und die ich „Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität“ nenne. Man könnte sie auch Skopusambiguität und Vagheit bzw. Unschärfe 105 oder auch Bereichsmehrdeutigkeit und semantische Unklarheit nennen. Es geht hier um die Frage, auf welchen Bereich sich ein Wort oder eine Wortfolge bzw. Phrase bezieht; außerdem um die Funktion von und (additiv oder erklärend? ), um unklare Aufzählung (Was gehört zusammen? ) und um die Reichweite bestimmter Satzelemente (z. B. eines Genitivs). Wenn die drei Arten der Ambiguität nur knapp mit einer Bezeichnung genannt werden sollen, nenne ich die dritte (neben der ersten, der syntaktischen, und der zweiten, der lexikalischen) Skopus-Ambiguität, weil die Skopus-Frage in für die forensische Linguistik relevanten Texten die wichtigste ist und am häufigsten vorkommt. 7.3.1 Unklarer Skopus Skopus ist ursprünglich griechisch und bedeutet Reichweite, Sichtweite, Ziel, Aus‐ sicht. In der Linguistik geht es in diesem Kontext um die Frage, wie weit (vorwärts oder auch rückwärts) im Satz der Bezug eines Worts reicht und wie viele andere Elemente im Satz davon betroffen sind. Dementsprechend spricht man vom engen und weiten Skopus (engl. „narrow or wide scope“). Am Rande bemerkt: In der Translatologie wird das Wort mit einer anderen Bedeutung verwendet. Dort geht es um die Zielgruppe, den Zweck und die Funktionskonstanz eines übersetzten Textes (Nord, Reiß/ Vermeer, Siever). Oft denkt ein Textverfasser, die Reichweite der Geltung eines Wortes (dessen Skopus) sei klar. Das ist aber sehr oft nicht der Fall. Der Gesetzgeber hat beispielsweise eine wichtige, in Protokollen häufig verwendete Angabe (zu Zeugen) so formuliert: „mit den Parteien nicht verwandt und nicht verschwägert“ (abgekürzt m. d. P. n. v. u. n. v.) und NICHT formuliert 378 7 Ambiguitäten <?page no="380"?> mit den Parteien nicht verwandt und verschwägert, denn das könnte auch bedeuten, der Zeuge sei mit den Parteien a) nicht verwandt, aber b) verschwägert. Es wäre dann nicht klar, ob sich das „nicht“ nur auf das „verwandt“ bezieht oder auch auf das „verschwägert“. Die US-amerikanische Linguistin Janet Randall hat gemeinsam mit dem US-amerikanischen Juristen Lawrence M. Solan u. a. im Jahr 2023 über Legal Ambiguities, also Ambiguitäten in der Rechtssprache, und psycholinguistische Einflüsse auf die Vermutung von Leser: innen über engen bzw. weiten Skopus geforscht. Die beiden Forschenden werden ihre Ergebnisse bald im Cambridge Handbook of Experimental Jurisprudence veröffentlichen. Sätze wie ■ Sei nicht so naiv wie die anderen und bring dich mit in Gefahr. ■ Sei nicht so naiv wie die anderen und bring dich in Sicherheit. (hier: Frage nach dem Skopus der Verneinungspartikel nicht) zeigen, dass die Frage nach dem Skopus eine rein semantische ist. Im obigen ersten Satz ist der Skopus des nicht weit (also auf den gesamten Rest des Satzes bezogen), beim zweiten eng. Dieser Satz wurde auch in einem Unterkapitel zu dem umfangreichen Kapitel 5 zur unterlassenen Verständlichkeitssicherung erörtert. Dort wird vorgeschlagen, dass der/ die Verfasser: in, um die Unklarheit im ersten Satz zu beheben, ein weiteres nicht „spendiert“ (→ Kap. 5.4) (also Sei nicht so naiv wie die anderen und bring dich nicht mit in Gefahr.). Noch ein Beispiel: ■ Wieso sind Sie nicht zu der Verhandlung erschienen und haben den Antrag zurückgezogen? Auch hier ist unklar, ob sich das nicht auch auf den zweiten Teil bezieht, also klar ist: Die Person ist nicht zu der Verhandlung erschienen. Hat sie auch nicht den Antrag zurückgezogen (z. B. in der Verhandlung)? Oder ist die Frage so gemeint: 1. Warum sind Sie nicht zu der Verhandlung erschienen? Warum haben Sie den Antrag zurückgezogen? Das ist ein typischer Fall von unterlassener Verständlichkeitssicherung. Exkurs: Phorik (Verweis, Referenz) und Bridging Es ist nicht nur wichtig und für die Authentizitätsfeststellung interessant, wie weit ein Bezug reicht, sondern auch, ob der Bezug nach hinten oder nach vorne im Satz reicht. Man spricht in diesem Zusammenhang von anaphorischem und kataphorischem Bezug bzw. Verweis bzw. Anapher und Katapher. Anapher/ Katapher: Vorbzw. Rück-Verweis in Sätzen. Eine Anapher verweist zurück auf einen bereits erwähnten Sachverhalt (anapho‐ rischer Bezug, z. B. Die Frau sah den kleinen Jungen und lächelte ihn an.), eine Katapher verweist auf einen bisher noch nicht erwähnten Sachverhalt (kataphori‐ scher Bezug, z.-B. Gleich kommt der, der vorhin angerufen hat.). Stehen Antezedens und Anapher (bzw. Konsequens und Katapher) im selben Satz, so spricht man von intrasententialem Bezug (bzw. Verweis); stehen sie in verschiedenen Sätzen, von intersententialem (auch „transphrastischem“) Bezug (bzw. Verweis). 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 379 <?page no="381"?> Einen Verweis auf etwas außerhalb des Textes nennt man einen exophorischen Verweis. Weiterhin wird unterschieden zwischen dem direkten Verweis, bei dem die Verbin‐ dung aufgrund syntaktischer Strukturen leicht erkennbar ist, und dem indirekten Verweis (beim anaphorischen Bezug), der auch Bridging genannt wird, z. B. Das Essen schmeckt nicht. Es ist versalzen. (mit der Bedeutung Es schmeckt nicht, weil es versalzen ist.). Beispiele: ■ Das Buch war total spannend. Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Es wurde nicht formuliert Ich konnte nicht aufhören, das Buch zu lesen, weil es total spannend war. auch nicht Das Buch war total spannend. Deshalb konnte ich nicht aufhören zu lesen. Weitere Beispiele: ■ Und dann sah ich den Komplizen. Sein Gesicht war blutüberströmt. statt Und dann sah ich den Komplizen, dessen Gesicht blutüberströmt war. ■ Tim konnte Jan nicht fangen. Er war unheimlich schnell. statt Tim konnte Jan nicht fangen, weil er unheimlich schnell war. ■ Die Tafel hat viel Zulauf. Vielen Menschen geht schon vor dem zwanzigsten das Geld für den Monat aus. statt Die Tafel hat viel Zulauf speziell von den (vielen) Menschen, denen schon vor dem zwanzigsten Tag im Monat das Geld ausgeht, das eigentlich für den ganzen Monat reichen soll (und bei der Tafel bekommen sie Lebensmittel kostenlos). Beim Bridging machen Verfasser: innen oft syntaktische Fehler, die für die Authentizitäts‐ feststellung interessant sind. Wenn - wie im nächsten Beispiel - der Bezug eines adverbialen Nebensatzes (hier anapho‐ risch) unklar ist, eignet sich die Darstellung mit den Thormann'schen Treppenstufen, die in dem Kapitel zur Darstellung der Hypotaxe vorgestellt wurde (→-Kap.4.2). ■ Sie haben uns doch deutlich gesagt, dass das Abdichten nicht möglich war, als wir persönlich vor Ort waren. Was geschah, als wir persönlich vor Ort waren? Wurde das zu dem Zeitpunkt gesagt? Oder war das Abdichten nicht möglich (als wir vor Ort waren)? Bezieht sich der temporale Adverbialsatz auf den Dass-Satz? Dann sähe die Struktur des Satzes so aus: 380 7 Ambiguitäten <?page no="382"?> Sie haben uns doch deutlich gesagt, als wir persönlich vor Ort wa‐ ren. - dass das Abdichten nicht mög‐ lich war, - Tab. 57: Satz mit Thormann’schen Treppenstufen_1 Bei dieser Interpretation würde sich der temporale Adverbialsatz auf den Hauptsatz (mit dem Verb gesagt) beziehen. - - - - - - Tab. 58: Satz mit Thormann’schen Treppenstufen_1_ohne Text Oder bezieht sich der temporale Adverbialsatz (als wir persönlich vor Ort waren) auf den Objektsatz (dass das Abdichten nicht möglich war)? Dann sähe die Struktur des Satzes so aus: Sie haben uns doch deutlich gesagt, - - - dass das Abdichten nicht mög‐ lich war, - - - als wir persönlich vor Ort wa‐ ren. Tab. 59: Satz mit Thormann’schen Treppenstufen_2 - - - - - - - - - Tab. 60: Satz mit Thormann’schen Treppenstufen_2_ohne Text Vermutlich ist gemeint (die erste Variante): ■ Als wir persönlich vor Ort waren, haben Sie/ sie uns doch deutlich gesagt, dass das Abdichten nicht möglich war. Falls die zweite Variante gemeint ist, wäre diese Formulierung so: ■ Sie haben uns doch deutlich gesagt, dass das Abdichten zu dem Zeitpunkt, als wir persönlich vor Ort waren, nicht möglich war. 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 381 <?page no="383"?> 106 Formuliert von dem dt. Logiker, Mathematiker und Philosoph Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848-1925); Prinzip, dem zufolge die Bedeutung eines komplexen, d. h. aus Teilausdrücken zusam‐ mengesetzten, Ausdrucks (etwa eines Satzes) durch die Bedeutungen seiner Teile sowie die Art ihrer Zusammenfügung bestimmt ist. 107 Das ist eigentlich ursprünglich ein Begriff aus der formalen Logik und der Mengenlehre. Die Frage nach den Bezügen der einzelnen Elemente wird auch bei dem „Kompositionalitätsprinzip“ gestellt. Das Prinzip besagt, dass die Bedeutung eines komplexen sprachlichen Ausdrucks (z. B. eines Adjektivs mit einem Kompositum) aus der Bedeutung seiner Bestandteile und der Art und Weise, wie diese Bestandteile miteinander kombiniert werden, abgeleitet werden kann. 7.3.2 Klammerparadox Das Phänomen einer widersprüchlichen („paradoxen“) Strukturzuordnung bzw. einer Fehlattribuierung bzw. dem „Verstoß gegen das Kompositionalitätsprinzip 106 inner‐ halb einer Phrase oder eines Satzes nennt man Klammerparadox 107 (engl. „bracketing paradox“), auch Hypallage (Verwechslung) bzw. deren Unterart Enallage (Vertauschung der Zugehörigkeit bzw. Verschiebung der Beziehung von Wörtern zueinander), weil es um die Frage geht, wo eine gedachte Klammer um zwei Wörter oder um eine Phrase bzw. mehrere Satzelemente platziert werden sollte bzw. welche Kohäsion (bei verschiedenen Möglichkeiten) gilt. Das Paradox wird in der Linguistik besonders stark in Bezug auf die Zuordnung eines Adjektivs auf das erste Element in einem nominalen Kompositum betrachtet, es gibt es allerdings auch in Bezug auf Satzelemente. Verstöße gegen das Kompositionalitätsprinzip sind auch Verstöße gegen das Gebot der Verständlichkeitssicherung, und sind, sofern es sich nicht um Performanzfehler handelt, idiolektal. 7.3.2.1 Klammerparadox bei Adjektiv mit Kompositum Bei den folgenden Beispielen geht es um den Bezug eines Adjektivs, der, wenn er falsch ist, ein Problem für die Verständlichkeit darstellen oder gar zu Missverständnissen führen kann, also dann, wenn sich das Adjektiv nicht auf das gesamte Kompositum, sondern nur auf das erste Element bezieht. ■ Sie ist eine höhere Beamtenwitwe. ■ Er ist militärischer Truppenbetreuer. ■ Die trockene Hautcreme wirkt Wunder. ■ Er ist ein kluger, strategischer Transportplaner. ■ Heute gab es in der Kantine junge Bohnensuppe. ■ Das russische Sprachseminar wird wie angekündigt stattfinden. ■ Das ist eine landwirtschaftliche Maschinenfabrik. ■ Wir brauchen mehr fossile Energieimporte. ■ Wir bekamen eine unterlassene Wartungsanzeige. ■ Frau Reichert ist forensische Linguistin. ■ Er ist plastischer Chirurg. ■ Dies ist ein gutes Buch über deutsche Literaturgeschichte. 382 7 Ambiguitäten <?page no="384"?> Es geht in dem ersten Beispielsatz nicht um eine höhere Witwe, sondern um die Witwe eines höheren Beamten. Nicht der Betreuer ist militärisch, sondern die Truppe; nicht die Creme ist trocken, sondern die Haut. Es ist nicht der Planer, der strategisch ist, sondern der Transport. Die Suppe ist nicht jung, sondern die Bohnen sind es. Nicht das Seminar ist russisch, sondern die Sprache. Nicht die Fabrik ist landwirtschaftlich, sondern die Maschinen (bzw. die für die Landwirtschaft einzusetzenden Maschinen). Nicht die Importe sind fossil, sondern die Energie. Und es ist nicht die Anzeige, die unterlassen wurde, sondern die Wartung. Es ist nicht die Linguistin, die forensisch ist, sondern die Linguistik, die sie betreibt, und der Chirurg ist nicht plastisch, sondern er ist Experte für plastische Chirurgie; und das Buch handelt nicht von deutscher Geschichte, sondern von der Geschichte der deutschen Literatur. Zum Vergleich einige Adjektive mit Komposita, bei denen der Bezug korrekt ist: Ein kleines Gästezimmer ist ein kleines Zimmer, ein schneller Sportwagen ist ein schneller Wagen, eine teure Gummipuppe ist eine teure Puppe, ein leckeres Jägerschnitzel ist ein leckeres Schnitzel. Außerdem gibt es Fälle, bei denen sich der/ die Leser: in aus dem Kontext erschließen muss, wie die Zuordnung sein soll, also ob es sich um ein Klammerparadox bzw. eine Hypallage handelt, im folgenden Beispiel, ob die Strümpfe halbseiden sind oder der Mann: ■ Ich glaube, Julius Kahnert ist ein halbseidener Strumpffabrikant. Klammerparadox bei Adjektiv und Substantiv Eben dieses Phänomen bzw. Problem des Bezugs liegt auch vor, wenn nach dem Adjektiv ein „simples“ Substantiv und nicht ein Kompositum folgt, wenn sich die Frage stellt, ob mit mexikanischen Hoffungen die Hoffnungen der Mexikaner gemeint sind (oder Hoffnungen mexikanischer Art, etwa - nach Trumps Auffassung, in ein anderes Land zu gehen und dort auf unlautere Art und Weise zu Geld zu kommen) oder ob mit preußischen Misserfolgen die Misserfolge der Preußen (oder Misserfolge nach preußischer Art) oder ob mit griechischer Wirtschaft die Wirtschaft Griechenlands (oder die Wirtschaft eines anderes Landes nach griechischer Art) oder ob mit einer ungarischen Regierung die Regierung Ungarns (oder die z.-B. sehr korrupte Regierung eines anderes Landes nach ungarischer Art) gemeint ist. 7.3.2.2 Klammerparadox bei Satzelementen ■ Der gefälschte Brief des Bürgermeisters führte zur vorzeitigen Absage des Karnevalsumzuges. Hat jemand den Brief so gefälscht, dass es aussah, als stamme er vom Bürgermeister? Oder hat der Bürgermeister den Brief gefälscht? Die Frage ist, ob der Genitiv des Bürgermeisters ein Attribut zum Brief ist (sozusagen der „Bürgermeister-Brief “). Oder ist er Ersatz für die „von“-Formulierung (der Brief von dem Bürgermeister)? Bezieht er sich auf das implizite Substantiv „Fälschung“ (wie 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 383 <?page no="385"?> etwa eine vom Bürgermeister vorgenommene Fälschung, vergleichbar mit einer vom Bürgermeister gehaltenen Rede)? Der folgende Satz ist schwer verständlich, weil der Bezug des Adverbs (hier in Form einer Adverbialphrase, die aus einer Präpositionalphrase mit einem darauf folgenden temporalen Adverb besteht; mit Zugang der Erklärung sofort) unklar ist: ■ Die Einziehung der Aktien wird unabhängig von der Zahlung der Abfindung mit Zugang der Erklärung sofort wirksam. Wann wird die Einziehung der Aktien (sofort) wirksam? Wann ist dieser Sofort-Zeitpunkt? Mit Zugang der Erklärung? Oder ist sofort unverzüglich, und der Zeitpunkt des Zugangs der Erklärung ist für die Zahlung der Abfindung wichtig? Auch der folgende Satz ist wegen des unklaren Bezugs eines Elements schwer verständlich: ■ Sie finden auf unserer Website eine Vorlage für eine Beschwerde gegen die Studie. Diese können Sie gerne verwenden und an die entsprechende verantwortliche Stelle in Ihrem Bundesland schicken. Was kann man verwenden? Die Studie, die Website, die Beschwerde oder die Vorlage? Worauf bezieht sich das Pronomen diese? Auf das davor genannte Substantiv, das in Genus, Kasus und Numerus passt, oder auf ein weiter vorne erwähntes Substantiv? ■ Die Tochter unserer Nachbarn, die momentan allein zu Hause ist, hat Liebeskummer, und ich werde mich jetzt zunächst erst einmal darum kümmern. Worauf bezieht sich das das (verkürzt als da in darum bzw. um das)? Um den Liebeskummer (der Tochter der Nachbarn)? Oder darum, dass sie allein zu Hause ist? Oder um das gesamte Problem (Liebeskummer und Allein-Sein)? ■ Es handelt sich um Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermö‐ gens und Sachanlagen. Was geschieht mit den Sachanlagen? Werden sie abgeschrieben? Oder gehören sie zu den immateriellen Vermögensgegenständen, also sind sie eine Art von immateriellen Vermögensgegenständen? Ist das mit dem Konnektor und angeschlossene Substantiv Sachanlagen eine Fortset‐ zung der Präpositionalphrase um Abschreibungen, also es gibt Abschreibungen auf a) immaterielle […] Anlagevermögens und b) Sachanlagen? Oder handelt es sich um a) Abschreibungen auf […] Anlagevermögens und b) Sachanlagen? Oder geht es um Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände von a) Anlagevermögen und von b) Sachanlagen? 384 7 Ambiguitäten <?page no="386"?> 108 Es handelt sich um einen Standardsatz aus der Gewinn- und Verlustrechnung; gemeint sind (gemäß § 275 Abs. 2 Nr.-7a HGB) Abschreibungen auf a) i.V. d. A. und b) Sachanlagen. Fachwissen im Bereich der Finanzbuchhaltung und des Steuerrechts hilft hier 108 . 7.3.3 Enger oder weiter Skopus Oft ist die Verständlichkeit eingeschränkt, weil unklar ist, ob der Skopus, also die Bezugs‐ weite, eines Wortes oder einer Phrase eng oder weit ist. ■ Er trug grüne Socken und Unterwäsche. Was war grün? Nur die Socken? Oder auch die Unterwäsche? Ist der Skopus von grün weit oder eng? ■ Der Görlitzer Park ist weiterhin der attraktivste Ort für Drogenhandel mit Jugendlichen Berlins. Welche (syntaktische) Rolle spielt Berlin im obigen Satz? Wie weit zurück reicht bzw. auf welches Wort bezieht sich die Bedeutung des Genitivs Berlins? Wie ist der (anaphorische) Bezug des Genitivs Berlins? Gehört der Genitiv Berlins zu Ort oder zu Jugendlichen? Ist der Görlitzer Park der attraktivste Ort (für Drogenhandel) Berlins? Oder werden die Drogen an die Jugendlichen Berlins vertickt? ■ Herr Dr. Wolkenstein ist vertretungsberechtigt gemeinsam mit einem anderen Geschäftsführer oder einem Prokuristen mit der Befugnis, im Namen der Gesellschaft mit sich als Vertreter eines Dritten Rechtsgeschäfte abzuschließen. Wer hat die Befugnis? Der Prokurist? Oder der andere Geschäftsführer? Oder Dr. Wolken‐ stein? ■ Der Betrag wird von der depotführenden Stelle errechnet und dann abgeführt. Was macht die depotführende Stelle? Errechnet sie den Betrag nur? Oder führt sie ihn auch ab? ■ Vorstehender Erbschein wird hiermit zum zweiten Male ausgefertigt und Frau Susanne Ehbrecht, Heimstättenweg 33, 58579 Schalksmühle erteilt. Wird der Erbschein Frau Ehbrecht zum zweiten Male (oder zum ersten Male) erteilt? ■ Das war ein schöner Abend mit sehr netten Leuten und gutem Essen. War das Essen sehr gut oder gut? ■ Die noch offenen Punkte haben sich - wie gestern am Telefon erwähnt - teilweise erledigt, und teilweise werden sie nun vom Controlling abgearbeitet. Wurden in dem Telefongespräch nur darüber gesprochen, dass sich die Punkte teilweise erledigt haben, oder auch darüber, dass einige davon nun vom Controlling abgearbeitet 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 385 <?page no="387"?> werden? Wir weit gilt die Parenthese (das wie […] erwähnt)? Ist das enger oder weiter Skopus? ■ Wieso sind Sie nicht zu der Verhandlung erschienen und haben den Antrag zurückgezogen? Hat die Person den Antrag zurückgezogen oder nicht? Gilt das nicht nur für das Zur-Ver‐ handlung-Erscheinen? Oder auch für das Zurückziehen des Antrags? Oder hätte der Antrag bei der Verhandlung zurückgezogen werden sollen, was nicht geschehen ist, da die Person ja nicht zur Verhandlung erschienen ist? ■ Wir sind ein Luxusresort mit einem 7000 Quadratmeter großen Spa-Bereich mit Saunen, Indoor-Aquapark, zwei Außenpools, verschiedenen Bars und Restaurants. Gehören die Bars und Restaurants mit zu dem großen Spa-Bereich? Wie ist die Reichweite der zweiten Präposition mit? Basierend auf Weltwissen bzw. Erfahrung denkt man sich, dass zum Spa-Bereich sicherlich auch die Saunen, der Aquapark und die Pools gehören, aber nicht die Bars und Restaurants. Bei den Bars kann es allerdings so sein, dass es im Spa-Bereich eine Bar gibt. Außerdem gibt es ja - laut Beschreibung - noch mindestens eine andere Bar. ■ Von den vorstehenden Regelungen unberührt bleiben Ansprüche und Rechte des Käufers wegen Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit, die auf einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Pflichtverletzung des Verkäufers oder seines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen beruhen. Gilt seines auch für Erfüllungsgehilfen? Wenn ja, handelt es sich um weiten (kataphori‐ schen) Skopus, und es geht um einen Erfüllungsgehilfen. Wenn nein, handelt es sich um engen Skopus und um mehr als einen Erfüllungsgehilfen. ■ Das Buch heißt „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett.“ Wie viele Personen sind unter dem Bett? ■ Sie können gegen eine geringe Gebühr an einzelnen Webinarmodulen teilnehmen oder auch einzelne Lehrvideos bestellen. Was ist gegen eine geringe Gebühr möglich? Nur die Teilnahme an einzelnen Webinarmo‐ dulen? Oder auch das Bestellen von Lehrvideos? Wenn das Letztere der Fall ist, wäre die Ausdrucksweise auch insofern unklar, weil ja sicherlich nicht das Bestellen eine Gebühr kostet, sondern das Zuschicken bzw. das Produkt, also die Lehrvideos selbst. ■ Anbei übersenden wir Ihnen unser Angebot für die Werbeanzeigen und die Plakatentwürfe. Erstens: Was wird übersendet? Ein Angebot (für die Werbeanzeigen und die Plakatent‐ würfe)? Oder ein Angebot (für die Werbeanzeigen) UND außerdem die Plakatentwürfe? Zweitens: Was deckt das Angebot ab? Nur die Werbeanzeigen? Oder auch die Plaka‐ tentwürfe? 386 7 Ambiguitäten <?page no="388"?> Erstens: Wie weit reicht der Vorwärts-Bezug (kataphorisch) des Verbs übersenden? Ist der Skopus eng oder weit? Zweitens: Wie weit reicht der Vorwärts-Bezug (kataphorisch) der Präposition für? Ist der Skopus eng oder weit? Bei engem Skopus bezieht sich die Präposition für nur auf die Werbeanzeigen, bei weitem Skopus auf die Werbeanzeigen und die Plakatentwürfe. Bei engem Skopus der Präposition für hat das Verb übersenden (kataphorisch, also vorwärts-gerichtet) zwei Objekte, und zwar Angebot und Plakatentwürfe, und das Verb übersenden hat einen (kataphorischen) weiten Skopus. 7.3.4 Vor- und Rückbezug Der Bezug eines Wortes oder einer Phrase kann sich, wie wir gesehen haben, auf ein Wort oder einen Satzteil beziehen, das vor ihm oder nach ihm steht. Wenn es sich auf etwas davor im Satz Vorkommendes bezieht, nennt man das anaphorisch, wenn es sich auf etwas später im Satz Vorkommendes bezieht, nennt man das kataphorisch. Ich verwende weiterhin den Terminus Skopus als Reichweite des Bezugs. 7.3.4.1 Anaphorischer Skopus ■ Ich bitte um Bearbeitung der Bestellung und Bestätigung bis spätestens 23.5.2024. Was soll bis zum 24.5.2024 geschehen? Die Bearbeitung UND die Bestätigung? Oder nur die Bestätigung? Wie weit reicht der Rückwärts-Bezug der (attributiven) Präpositionalphrase (bis spä‐ testens 23.5.2024)? Ist dieser anaphorische Skopus eng oder weit? ■ Dies ist ein Parkplatz für Pkw und Wohnmobile mit Dauerparkschein. Brauchen Pkw einen Dauerparkschein? Bezieht sich das Attribut mit Dauerparkschein nur auf die Wohnmobile oder auch auf die Pkw? Wie weit reicht der Rückwärtsbezug (anaphorisch) des Attributs mit Dauerparkschein zurück? Schließt er nur das direkt vor ihm stehende Substantiv (Wohnmobile) ein (enger Skopus), oder erstreckt er sich auch auf die Pkw (weiter Skopus)? 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 387 <?page no="389"?> ■ Wir haben einen relativ großen Bildschirm und eine Kiste Bier und zwei Pullen Schnaps von Uwe. Was ist von Uwe? Nur der Schnaps? Oder auch die Kiste Bier? Oder auch der Bildschirm? Wie weit reicht der Rückwärts-Bezug der Präpositionalphrase (von Uwe)? Bei ‚engem Skopus‘ bezieht sich das Attribut von Uwe nur auf den Schnaps, bei ‚weitem‘ auch auf die Kiste Bier oder auch auf den Bildschirm. ■ Wichtig sind die Darmspiegelung und die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung für Männer. Ist die Darmspiegelung (in diesem Satz) nur für Männer wichtig? Oder für Frauen und Männer? Wie weit reicht der „Rückwärts-Bezug“ der Präpositionalphrase (für Männer) am Ende des Satzes? Bei engem Skopus bezieht sich das Attribut nur auf die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersu‐ chung, bei weitem Skopus auch auf die Darmspiegelung; dann wäre (in diesem Satz) die Darmspiegelung für Männer wichtig. ■ Das Bild zeigt unsere neueste Stretchhose mit Viskose von Lenzing. Was ist von Lenzing? Die Viskose? Oder die ganze Hose? Ist die Präpositionalphrase von Lenzing ein Attribut zur Viskose? Dann hätte die Präpositionalphrase einen engen Skopus. Oder ist sie ein Attribut zur gesamten Hose? Dann wäre es ein weiter Skopus. ■ Beide rauchen und trinken nicht. Worauf bezieht sich die Verneinung? Nur auf das Verb trinken? Oder auch auf das Verb rauchen? Ist es so, dass beide nicht rauchen und nicht trinken? Oder ist es so, dass beide rauchen, aber nicht trinken? 7.3.4.2 Kataphorischer Skopus Hier geht es um den Vorwärts-Bezug im Satz. ■ Ich danke meinen Brüdern Tim und Jan und Ludger Roloff. Heißen Tim und Jan mit Nachnamen Roloff ? Ist Ludger Roloff auch der Bruder der Ich-Person? 388 7 Ambiguitäten <?page no="390"?> Im ersten Fall handelt es sich um einen weiten Skopus von Brüdern, im zweiten Fall um einen engen Skopus von Brüdern. ■ Ich bin examinierte Krankenschwester und Heilpraktikerin. Hat sie ein Examen als Heilpraktikerin oder nur als Krankenschwester? Reicht der Vorwärts-Bezug (kataphorisch) des Adjektivs examiniert nur bis zur Krankenschwester (enger Skopus), oder bezieht sich das Adjektiv auch auf die Heilpraktikerin (weiter Skopus)? ■ Die Suppe war sehr heiß und salzig. War die Suppe sehr salzig? Reicht der Vorwärts-Bezug (kataphorisch) des Adverbs sehr nur bis zum Adjektiv heiß (enger Skopus) oder auch bis zum Adjektiv salzig (weiter Skopus)? ■ In dem Buch geht es um die Abkehr vom traditionellen Familienleben und Feminismus. Geht es (u. a.) um die Abkehr vom Feminismus? Oder geht es in dem Buch um a) die Abkehr vom traditionellen Familienleben UND b) Feminismus? Wie weit reicht der Vorwärts-Bezug (kataphorisch) der Präposition vom? Betrifft sie nur das traditionelle Familienleben (enger Skopus) oder auch den Feminismus (weiter Skopus)? Und wie weit reicht der Vorwärts-Bezug (kataphorisch) der Präposition um? Betrifft sie nur die Abkehr (enger Skopus) oder auch den Feminismus (weiter Skopus)? Wenn es in dem Buch u. a. um Feminismus geht, wenn also der Skopus der Präposition vom eng ist, könnte man die Unklarheit mit einem zusätzlichen um beheben: In dem Buch geht es um die Abkehr vom traditionellen Familienleben und um Feminismus. So ist klar, dass es in dem Buch (auch) um Feminismus geht und dass es sich nicht um eine Abkehr vom Feminismus handelt. Noch besser wäre ein Vertauschen der Präpositionalobjekte, sodass der Feminismus zuerst genannt wird: In dem Buch geht es um Feminismus und um die Abkehr vom traditionellen Familienleben. So ist klar, dass es in dem Buch um zwei Dinge geht, und zwar um a) Feminismus UND b) die Abkehr (mit dem einen Attribut vom traditionellen Familienleben). Wenn es, was nicht anzunehmen ist, in dem Buch um die Abkehr vom traditionellen Familienleben und (Abkehr) vom Feminismus geht, wenn also der Skopus der Präposition vom weit ist, könnte man die Unklarheit mit einem zusätzlichen vom beheben: In dem Buch geht es um die Abkehr vom traditionellen Familienleben und vom Feminismus. 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 389 <?page no="391"?> 7.3.4.3 Anaphorischer und kataphorischer Skopus Auch der folgende Satz enthält zwei unklare Bezugsweiten, bzw. es gibt zweimal Unklarheit bzgl. des Skopus, und zwar einmal der einer Präposition und zweitens der eines Verbs und der unklaren Anzahl der von dem Verb regierten Objekte. Außerdem ist die eine Art des Skopus vorwärtsgerichtet, die andere rückwärts. Das Ganze ist besonders knifflig: ■ Wir werden Ihnen morgen per E-Mail eine Rechnung über den Vorbereitungsaufwand und den Bericht über die angefangene Leistung schicken. Erstens: Was deckt die Rechnung ab? Nur den Aufwand? Oder auch den Bericht über die angefangene Leistung? Und: Was wird geschickt? Nur eine Rechnung? Oder eine Rechnung UND ein Bericht? Erstens: Wie weit reicht der Vorwärts-Bezug (kataphorisch) der Präposition über? Ist der Skopus eng oder weit? Und: Wie weit reicht der Rückwärts-Bezug (anaphorisch) des Verbs schicken? Ist der Skopus eng oder weit? Bei engem Skopus bezieht sich die Präposition über nur auf den Aufwand, bei weitem Skopus auf den Aufwand und den Bericht. Bei engem Skopus der Präposition über hat das Verb schicken (mit anaphorischem Skopus, also rückwärts-gerichtetem Bezug [weil der Satz wegen des Tempus-Hilfsverbs werden für das Futur I eine Klammer hat]) zwei Objekte, und zwar Bericht und Rechnung, und das Verb schicken hat einen (anaphorischen) weiten Skopus. Wie lang ist das Attribut zu Rechnung? Lautet das Attribut über den Vorbereitungsaufwand und den Bericht über die angefangene Leistung (weiter Skopus)? Oder lautet das Attribut (nur) über den Vorbereitungsaufwand (enger Skopus)? Anders ausgedrückt: Die Phrase und den Bericht über die angefangene Leistung, also die Konjunktion und mit einem Substantiv im Akkusativ mit einem Attribut folgt entweder auf die Präposition über (aus dem Attribut zu Rechnung), oder es ist ein Objekt zum Verb schicken. 7.3.5 Unklarer Bezug und/ oder Skopus eines Relativsatzes Der folgende Satz kam bereits vor. Er ist ein gutes Beispiel für Unklarheit: ■ Er traf die Schwester seiner Freundin, die in Berlin gemeldet ist. Wer ist in Berlin gemeldet? Die Schwester oder die Freundin? Worauf bezieht sich der Relativsatz (die in Berlin gemeldet ist)? Auf das direkt davor stehende Substantiv (Freundin, also das Genitivattribut zu dem weiter davor stehenden Substantiv (Schwester)? Oder auf die Schwester? Beide passen in Kasus, Numerus und Genus. 390 7 Ambiguitäten <?page no="392"?> Am Rande bemerkt: Das Verb treffen ist auch ambig, und zwar lexikalisch. Es muss nicht eine Verabredung oder zufällige Begegnung gewesen sein. Er kann sie auch mit einem Faustschlag, Baseball-Schläger, Stein, Pfeil, Tennisball oder einem Schuss aus einer Waffe getroffen haben. Oder es kann bedeuten, dass er ihre Gefühle verletzt hat. ■ Für dieses Laborexperiment liegt die Gehirnscheibe einer Maus in einer Flüssigkeit, die sie am Leben erhält. Wer wird am Leben erhalten? Die Gehirnscheibe oder die ganze Maus? Bezieht sich der Relativsatz auf das erste Wort, das man bei der Rückwärtssuche findet, das in Genus und Numerus passt (also Maus, enger Skopus des Relativsatzes)? Oder bezieht er sich auf ein weiter zurückliegendes Wort (also Gehirnscheibe, weiter Skopus des Relativsatzes)? Es gibt auch Fälle, bei denen die Unklarheit nicht die Frage nach dem Bezugswort ist, sondern die nach der Weite des Bezugs: ■ Anbei die Listen und die zwei Tabellen, die ich Ihnen vorhin in meinem Büro gezeigt hatte. Was wurde im Büro gezeigt? Nur die zwei Tabellen? Oder auch die Listen? Ist der Skopus, also die Reichweite, des Relativsatzes so weit, dass er sich auf die Tabellen und die Listen bezieht? Oder bezieht sich der Relativsatz nur auf das letzte Substantiv davor (also nur auf die Tabellen)? ■ Hier sind die Arbeitsberichte der Auszubildenden, über die du dich immer ärgerst. Worüber ärgert die du-Person sich immer? Über die Arbeitsberichte oder über die Auszubildenden? Oder über beide(s)? Ist der Skopus, also die Reichweite, des Relativsatzes so weit, dass er sich auch (oder nur) auf die Arbeitsberichte bezieht? Oder bezieht sich der Relativsatz nur auf das letzte Substantiv davor, also auf die Auszubildenden)? 7.3.6 Unklarer Bezug und/ oder Skopus eines Personalpronomens ■ Von diesen Regelungen unberührt bleiben Ansprüche und Rechte des Käufers wegen Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit, die auf einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Pflichtverletzung des Verkäufers oder seines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen beruhen. Gilt seines auch für Erfüllungsgehilfen? Wenn ja, handelt es sich um einen Erfüllungsge‐ hilfen. Wenn nein, handelt es sich um mehr als einen Erfüllungsgehilfen. 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 391 <?page no="393"?> 7.3.7 Unklarer Bezug und/ oder Skopus einer Präposition (u.-a. bei Aufzählung) ■ Oskar Lafontaine war bekannt für seine harte Hand gegen Steuerhinterzieher und die Aufrecht‐ erhaltung von Steueroasen. War er bekannt FÜR a) seine harte Hand gegen Steuerhinterzieher und b) AUCH FÜR die Aufrechterhaltung von Steueroasen? Oder war er bekannt für seine harte Hand GEGEN Steuerhinterzieher und AUCH GEGEN die Aufrechterhaltung von Steueroasen? Welche Präposition (für oder gegen) gilt für die Nominalphrase nach dem und? Hier würde Faktenwissen und Kontextwissen helfen. ■ Im Rahmen der Datenerhebung liegen nun Informationen über die immunsuppressive Therapie, die Listen mit Spendern und Empfängern und wichtige Diagnosen vor. Was liegt vor? Drei Dinge, und zwar a) Informationen (über die Therapie), b) Spender- und Empfänger-Listen und c) wichtige Diagnosen? Oder liegen drei Arten von Informationen vor, und zwar a) über die Therapie, b) über die Spenderu. Empfänger-Listen und c) über wichtige Diagnosen? ■ Anbei übersenden wir Ihnen die Rechnung für die Werbeanzeigen und die Zeichnungen. Was wird übersendet? Eine Rechnung und Zeichnungen? Oder nur eine Rechnung (für a. die Werbeanzeigen und b. die Zeichnungen)? 7.3.8 Unklarer Bezug und/ oder Skopus von „nicht“ Wie weit reicht der Bezug der Negationspartikel nicht in einem Satz? Handelt es sich um eine enge oder weite Bezugsreichweite? Um die Bedeutung eindeutig zu machen, hilft oft ggf. ein zweites nicht oder eine Umformulierung. ■ Er sagt, dass er sich nicht respektiert und benachteiligt gefühlt hat. Hat er sich nicht benachteiligt gefühlt? Es soll sicherlich ein enger Skopus sein. Das nicht soll sich sicherlich nur auf das direkt folgende Partizip (respektiert) beziehen. Klarer wäre der Satz, wenn die beiden Partizipien vertauscht wären: Er sagt, dass er sich benachteiligt und nicht respektiert gefühlt hat. 392 7 Ambiguitäten <?page no="394"?> ■ Das Leihgerät ist nicht offen sichtbar und sicher aufzubewahren, um einen Zugriff unbefugter Dritter zu verhindern. Man soll das Gerät nicht offen sichtbar aufbewahren; sicher auch nicht? Wie weit reicht der „Vorwärts-Bezug“ (kataphorisch) der Negationspartikel „nicht“? Besser wäre: Das Leihgerät ist sicher und nicht offen sichtbar aufzubewahren, […]. ■ Das Dokument ist nicht abgestempelt und unterschrieben. Ist das Dokument unterschrieben oder nicht? Wie weit reicht der „Vorwärts-Bezug“ (kataphorisch) der Negationspartikel nicht? Hier ein Beispiel mit weder … noch und einem später folgenden und, und es ist fraglich, ob das weder … noch auch für das auf das und Folgende gilt. ■ Die Parteien verpflichten sich, vertrauliche Daten ohne ausdrückliche schriftliche Einwilligung der anderen Partei weder selbst noch durch Dritte zu verwerten und diese in Schutzrechtsan‐ meldungen zu offenbaren. Ist es so, dass sich die Parteien verpflichten, vertrauliche Daten a) weder selbst noch durch Dritte zu verwerten UND b) sie auch nicht in Schutzrechtsanmeldungen zu verwerten? Oder verpflichten sie sich, die vertraulichen Daten a) nicht zu verwerten (und zwar weder selbst noch durch Dritte) UND sie b) in Schutzrechtsanmeldungen zu offenbaren? Das weder selbst noch durch Dritte bedeutet nicht. Wie weit reicht der Bezug des nicht? Bis einschließlich verwerten? Oder bis einschließlich offenbaren? Klarer wäre der Satz so: ■ Die Parteien verpflichten sich, […] weder selbst noch durch Dritte zu verwerten und diese auch nicht in Schutzrechtsanmeldungen zu offenbaren. Es sei hier noch einmal betont: Hier - wie in dem gesamten Buch - geht es nicht darum, zu zeigen, wie sich jemand leichter verständlich ausdrücken kann oder sollte. Es handelt sich nicht um einen Ratgeber für verständlichere Ausdrucksweisen. Es geht darum, für die Zwecke der forensischen Linguistik die vielen Varianten der Schwer-Verständlichkeit aufzuzeigen. Siehe auch die allgemeinen Ausführungen zum Thema Verneinung in Kapitel 5.19. 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 393 <?page no="395"?> 7.3.9 Unklarer Bezug und/ oder Skopus von „sich“ ■ Tim und Sven rasieren sich. Rasiert sich jeder selbst (dann ist das sich ein Reflexivpronomen)? Oder rasieren sie sich gegenseitig (dann ist das sich ein sog. „Reziprokpronomen „, ein „wechselbezügliches Fürwort“)? Im obigen Satz ist der Bezug eine Gruppe (eine kleine Gruppe, hier bestehend aus den zwei Subjekten Tim und Sven). Das Pronomen sich ist immer dann reziprok, wenn man es durch sich gegenseitig oder einander ersetzen könnte. Reziprokpronomen haben entweder mehr als ein (meist zwei) Bezugswörter oder ein Bezugswort, das semantisch eine Gruppe darstellt (z.-B. Die Gäste begrüßten sich). In den Sätzen Tim und Sven freuen sich. und Tim uns Sven amüsieren sich. ist das sich eindeutig reflexiv, in den Sätzen Tim und Sven erwarten sich. und Tim und Sven kümmern sich umeinander. ist es eindeutig reziprok, so auch in dem Satz Die Frauen kratzten sich bei ihrem Zickenkrieg die Augen aus. 7.3.10 Unklarer Bezug, Skopus und/ oder Funktion von „und“ ■ Es handelte sich bei dem Thema des Vortrags um Rechte zum Erwerb von Aktien und Schuld‐ verschreibungen. Ist es so, dass es bei dem Vortrag a) um Rechte (zum Erwerb von Aktien) und b) um Schuldverschreibungen ging? Oder handelte es sich um Rechte zum Erwerb von a) Aktien und b) Schuldverschreibungen? Endet die Bezugsreichweite bzw. der Skopus der Präposition von hinter Aktien? Oder gehören die Schuldverschreibungen auch dazu? ■ Die Probleme in dem Gefängnis beruhen auf Mangel an Aufsichtspersonal und Gewalt. Gibt es auch einen Mangel an Gewalt? Es gab sicherlich nur Mangel an Aufsichtspersonal. Der Skopus von Mangel an gilt nur für das direkt folgende Lexem. ■ Die nordkoreanische Regierung nahm angebotene Vakzine der internationalen Gemeinschaft nicht an, denn im Land fehlen Kühlkapazitäten für Impfstoffe und geschultes Personal. Sicherlich werden die Kühlkapazitäten nur für die Impfstoffe gebraucht und nicht für das geschulte Personal. Es fehlen also a) Kühlkapazitäten für Impfstoffe und b) geschultes Personal. 394 7 Ambiguitäten <?page no="396"?> Besser wäre […], denn im Land fehlen geschultes Personal und Kühlkapazitäten für Impfstoffe. ■ An der Angabe eines Teils Ihrer Anschrift und Ihres Kundenkontos können Sie unsere E-Mail besser von eventuell gefälschten E-Mails unterscheiden. Wird das gesamte Kundenkonto angegeben oder nur ein Teil? Bei und stellt sich auch oft die Frage, ob die Funktion additiv oder erklärend ist: ■ Ich habe mir erlaubt, die Einladung etwas abzuändern und ein Bild einzufügen. Ist das Einfügen des Bildes die Erklärung zur Abänderung (Bedeutung und somit)? Oder bedeutet das und und außerdem? 7.3.11 Unklarer Bezug von „auch“ ■ Die Neubau GmbH wollte den Lindenring attraktiver machen und die Terra AG auch. Was ist die Rolle der Terra AG? Wollte auch die Terra AG den Lindenring attraktiver machen? Oder sollte die Terra AG (von der Neubau GmbH) attraktiver gemacht werden? Macht das auch die Terra AG zu einem zweiten Subjekt (neben der Neubau GmbH)? Oder macht es die Terra AG zu einem zweiten Objekt (neben dem Lindenring)? 7.3.12 Unklares Tempus ■ Der Ausschuss arbeitet von Tag 1 an für diese Ziele. Wann ist die Zeit, die von Tag 1 an beginnt? In der Vergangenheit? Oder in der Zukunft? Liegt der genannte Tag 1 in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Die Tempusform ist Präsens, aber das temporale Adverbial ist unklar. Würde das Adverbial seit Tag 1 (statt von Tag 1 an) lauten, wäre klar, dass die Zeit bzw. der Beginn des Zeitraums in der Vergangenheit liegt. ■ Der Ausschuss arbeitet von kommendem Montag an für diese Ziele. Die Tempusform ist auch hier Präsens, aber das Adverbial (von kommendem Montag an) ist klar. Die Arbeit liegt in der Zukunft. ■ Der Ausschuss arbeitet seit letztem Montag für diese Ziele. Die Tempusform ist auch hier Präsens, aber das Adverbial (von letztem Montag an) ist klar. Die Arbeit begann am letzten Montag. Wir erinnern uns an den Beispielsatz, der am Anfang des Ambiguitäten-Kapitels stand: ■ Nach Übersendung der Originalbescheinigung kann das Stipendium gewährt werden. Auch hier ist die Tempusform Präsens, und das temporale Adverbial (nach Übersendung der Originalbescheinigung) klärt (wegen des Nominalstils) nicht auf, ob das genannte 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 395 <?page no="397"?> Gewährt-werden-Können in der Gegenwart oder in der Zukunft liegt; und - schlimmer - es wird auch nicht geklärt, ob die in dem temporalen Adverbial enthaltene implizite Bedingung (Übersendung der Originalbescheinigung) bereits erfüllt worden ist oder ob die Erfüllung noch aussteht. 7.3.13 Unklarer Konjunktiv II Wenn der Konjunktiv I, der für wiedergegebene Rede verwendet wird, zufällig genauso lautet wie der Indikativ, wird der Konjunktiv II verwendet, der sonst auch für den Ausdruck des Anzweifelns und für Irreales verwendet wird. Dann ist also nicht mehr klar, ob es sich um ein Anzweifeln bzw. Irreales handelt. ■ Ihre Sprechstundenhilfe sagte mir, Sie hätten noch eine Patientin mit dem Namen Charlotte Westphal. Soll mit dem „hätte“ lediglich wiedergegeben bzw. eingeleitet werden, was die Sprech‐ stundenhilfe gesagt hat? Oder soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass das nicht der Wahrheit entspreche? Ist die Funktion des Konjunktiv II (hätten) die des Ersatzes für den Konjunktiv I für die wiedergegebene Rede, der gleichlautend mit dem Indikativ wäre (haben)? Oder ist die Funktion des Konjunktiv II (hätten) das Kennzeichnen des Anzweifelns des Gesagten bzw. ist es Irrealis? Hinweis: Wenn der Konjunktiv I zufällig genauso lautet wie der Indikativ, wird der Konjunktiv II verwendet. Das ist so bei der 1. Person Singular (ich) und der 1. und 3. Person Plural (wir/ sie) aller regelmäßigen Verben; dann heißt es z. B. statt „ich habe“ „ich hätte“ und statt „sie kommen“ „sie kämen“. wenn Indikativ = Konjunktiv I > Konjunktiv II ich komme wir kommen sie/ Sie kommen ich käme wir kämen sie/ Sie kämen ich habe wir haben sie/ Sie haben ich hätte wir hätten sie/ Sie hätten ich habe gemacht wir haben gemacht sie/ Sie haben gemacht ich hätte gemacht wir hätten gemacht sie/ Sie hätten gemacht Tab. 61: Indikativ gleich Konjunktiv I; dann Konjunktiv II 396 7 Ambiguitäten <?page no="398"?> ■ In dem Bericht heißt es, dass in Sacramento die letzten Leichen hätten geborgen werden können. Wurden die Leichen geborgen oder nicht? 3. Wenn die Leichen geborgen wurden, ist das wiedergegebene Rede, aber es wurde nicht Konj. I verwendet (der lauten würde haben geborgen werden können); das wäre aber gleichlautend mit dem Indikativ. Ist der/ die Berichtende auf Konjunktiv II ausgewichen, weil hier ein Anzweifeln ausgedrückt werden soll? Oder 4. Wenn die Leichen nicht geborgen wurden, heißt das, dass man sie aber hätte bergen können, wenn irgendwelche Bedingungen erfüllt gewesen wären (wenn man sich mehr angestrengt hätte, wenn es nicht überall weiter gebrannt hätte, wenn nicht die Flut gekommen wäre, wenn die Suche nicht verboten worden wäre, ….). Oder soll das evtl. ein Vorwurf sein? Das Problem ist, dass man an dem Konjunktiv II nicht erkennen kann, ob ● direkte Rede wiedergegeben und die Aussage angezweifelt wird ODER ● die gesamte Aussage irreal, also nicht zutreffend ist. WAS TUN, um diese Unklarheit zu beseitigen? Man könnte den Satz umformulieren, ggf. in einem Passivsatz mit „man“, oder man könnte das modale Hilfsverb „sollen“ verwenden, ggf. gegen die Regel verstoßen und Indikativ verwenden. Dann wäre statt In dem Bericht heißt es, dass in Sacramento die letzten Leichen hätten geborgen werden können.- je nachdem, was der Fall ist - zu sagen/ schreiben ■ In dem Bericht heißt es, dass, wenn die [hoffentlich im Kontext genannten] Umstände anders gewesen wären, in S. die letzten Leichen hätten geborgen werden können, was jedoch leider nicht möglich war. ■ In dem Bericht heißt es, es wäre besser gewesen, wenn in S. die letzten Leichen geborgen worden wären, was jedoch nicht geschehen ist. ■ In dem Bericht heißt es, dass es in S. gelang, die letzten Leichen zu bergen. bzw. ■ In dem Bericht heißt es, dass man in S. die letzten Leichen bergen konnte. bzw. ■ In dem Bericht heißt es, man habe in S. die letzten Leichen bergen können. ■ In dem Bericht heißt es, dass in S. die letzten Leichen haben geborgen werden können. (Das widerspricht zwar der Regel, die besagt, dass man in der wiedergegebenen Rede den Konjunktiv verwenden soll, aber dagegen kann man hier verstoßen, denn es wird explizit gesagt, dass es sich um wiedergegebene Rede handelt, es kann also nicht zu Missverständnissen führen). 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 397 <?page no="399"?> Ein ähnliches Problem liegt bei diesem Satz vor: ■ Im Februar 2020 wurde über den Syrien-Konflikt berichtet, die türkischen Truppen hätten als Vergeltungsschlag über 30 syrische Soldaten getötet. Gemeint ist vermutlich Die türkischen Truppen sollen laut einem Bericht über den Syrien-Konflikt aus dem Februar 2020 als Vergeltungsschlag über 30 syrische Soldaten getötet haben. ■ In dem Vortrag wurde gesagt, dass die meisten dazu tendierten, solche Zeichen falsch zu interpretieren. Gemeint ist entweder […] wurde gesagt, dass die meisten dazu tendieren, […] oder […] wurde gesagt, die meisten würden dazu tendieren, […] oder […] wurde gesagt, dass die meisten dazu tendiert haben, […]. Entweder ist der Indikativ gemeint (und es wurde Konjunktiv II gewählt, weil es sich um wiedergegebene Rede handelt und der Konjunktiv I mit dem Indikativ gleichlautend ist, also Synkretismus vorliegt), ODER es ist der Irrealis gemeint (sie tendieren tatsächlich derzeit nicht), ODER es ist die Vergangenheit gemeint, wobei es aber einen Synkretismus zwischen Konjunktiv II und Präteritum gibt. 7.3.14 Kleiner Unterschied, große Auswirkung auf die Bedeutung 7.3.14.1 Bedeutungsveränderung bei Getrenntbzw. Zusammenschreibung (GZS) Bei der GZS gibt es typische Fehler, die zeigen, dass der/ die Verfasser: in die Funktion eines Wortes nicht versteht, beispielsweise, wenn bei den beiden folgenden (korrekt geschriebenen) Sätzen die GZS falsch wäre: ■ Er war weit weg und nicht zu hören, aber er zeigte seine Zustimmung, indem er nickte. ■ Das ist der Schuppen, in dem er seine Gartengeräte lagert. Die GZS kann anzeigen, ob die Bedeutung abstrakt oder konkret ist: ■ Sie haben den Obdachlosen zusammen geschlagen. ■ Sie haben den Obdachlosen zusammengeschlagen. Getrenntbzw. Zusammenschreibung kann also unterschiedliche Bedeutung zeigen oder auch anzeigen, ob die Bedeutung abstrakt oder konkret ist: ■ Wir müssen (gute Schuhe haben, denn wir müssen bei dem Glatteis) sicher gehen. ■ Bei der Übergabe mussten wir sichergehen, dass uns niemand beobachtete. ■ Kann ich hier frei sprechen? ■ Glaubst Du, das Gericht wird ihn freisprechen? ■ Sie können diese Beträge nicht gleich setzen. ■ Sie können diese Beträge nicht gleichsetzen. 398 7 Ambiguitäten <?page no="400"?> Kann man bestimmte Beträge - vielleicht in einem Glücksspiel - nicht sofort, sondern erst später (ein-)setzen? Oder ist gemeint, dass Sie diese Beträge nicht gleichsetzen können, weil man bestimmte Beträge - z. B. einerseits bereits versteuerte und andererseits noch nicht versteuerte - oder die Beträge einer Währung und die einer anderen Währung - nicht miteinander vergleichen bzw. als gleichwertig ansehen oder behandeln kann? Handelt es sich um das Verb setzen (wie z. B. einsetzen) und außerdem um das temporale Adverb gleich (ähnlich wie jetzt oder sofort oder bald)? Oder handelt es sich um das Verb gleichsetzen - im Sinne von als ähnlich bzw. vergleichbar betrachten? Das Verb stehen wird in Verbindung mit bleiben und lassen getrennt davon geschrieben, wenn die Bedeutung konkret (also nicht abstrakt) ist: ■ Ich musste stehen bleiben. ■ Die Prüfer haben die Prüflinge stehen lassen; niemand durfte sich hinsetzen. Wenn die Bedeutung abstrakt ist, ist die GZS optional; es wird Zusammenschreibung empfohlen, z.-B. ■ Hoffentlich wird meine Uhr nicht stehenbleiben. ■ Die haben das Paket einfach am Straßenrand stehenlassen. Wer gegen die GZS-Regeln verstößt, riskiert, dass er missverstanden wird und evtl. auch, dass es ihm/ ihr nicht gelingt, als Verfasser: in anonym zu bleiben, weil sein/ ihr Idiolekt erkannt wird. 7.3.14.2 Ein Buchstabe anders oder mehr Ein einziger Buchstabe kann die Gesamtbedeutung einer Aussage verändern (→ Kap. 3.20.5). Der hat sie nicht vergessen. Den hat sie nicht vergessen. DeSantis ist derjenige, der Trump bei der Iowa State Fair die Show gestohlen hat. DeSantis ist derjenige, dem Trump bei der Iowa State Fair die Show gestohlen hat. Ich kriege dich noch wegen dem Thema Biotannen ran. Ich kriege dich noch wegen dem Thema Biotonnen ran. Die Folge dieses Verhaltens in den Verhandlun‐ gen waren Depressionen. Die Folge dieses Verhaltens in den Verhandlun‐ gen waren Repressionen. Ich dachte, Mediation würde in dem Fall helfen. Ich dachte, Meditation würde in dem Fall helfen. Es handelt sich hier um sexuelle Belustigung. Es handelt sich hier um sexuelle Belästigung. Es wurden neun gefälschte Bescheinigungen gedruckt. Es wurden neue gefälschte Bescheinigungen ge‐ druckt. Ich möchte mich mit Dir einigen. Ich möchte mich mit Dir einigeln. Sie übermittelte ihre herrlichen Glückwünsche. Sie übermittelte ihre herzlichen Glückwünsche. 7.3 Skopus-, Bezugs- und morphologische Ambiguität 399 <?page no="401"?> Sie war immer total billig. Sie war immer total willig. Die Änderung der Satzung werden wir nächstes Mal besprechen. Die Änderung der Sitzung werden wir nächstes Mal besprechen. Der ist nicht aufzuhalten. Der ist nicht auszuhalten. Ziel der geplanten Verfassungsbeschwerde ist es, das Gesetz insgesamt für nichtig erklären zu lassen. Ziel der geplanten Verfassungsbeschwerde ist es, das Gesetz insgesamt für richtig erklären zu lassen. Das hat er gewittert. Das hat er getwittert. Tab. 62: Ein Buchstabe verändert die Bedeutung 400 7 Ambiguitäten <?page no="402"?> 8 Zusatzwissen 8.1 Geschlechtergerechte Sprache, Gendern Im Vorwort zu diesem Buch wurde erläutert, wie das Gendern in diesem Buch gehandhabt wird: Es wird zwar „gegendert“, bzw. es wird geschlechtergerechte Sprache verwendet, jedoch soll die Lesbarkeit nicht eingeschränkt werden. Daher werden vermieden: ● lange umständliche Formulierungen ● häufige Wiederholungen Auch in Kapitel 3.8 zum unterschiedlichen sprachlichen Verhalten bestimmter Verfasser: in‐ nen gab es Ausführungen zu diesem Thema. Hier folgt nun eine genauere Betrachtung der Problematik bzw. des derzeitigen Standes, also der Optionen und Varianten des Genderns, der Vor- und Nachteile und außerdem eine genauere Darstellung, wie „das Gendern“ in diesem Buch gehandhabt wird. Zunächst zur Bedeutung bzw. Verwendung der Wörter Genus und Geschlecht: Es gibt das linguistische Genus von Lexemen (wie auch Tempus, Modus usw., es wird auch grammatisches Geschlecht genannt), ein grammatisches Konzept in der Sprachwissenschaft (ohne Bezug auf das biologische Geschlecht und oft ohne erkennbaren Grund [Warum ist der Mond Maskulinum und die Sonne Femininum? Und das Mädchen ist ein Neutrum]), welches Maskulinum, Femininum und Neutrum unterscheidet, und es gibt das biologische Geschlecht des Menschen und der Dinge (männlich, weiblich, divers, sächlich). Genus ist also das, was Wörter in maskulin, feminin oder neutral kategorisiert. Bevor ich die verschiedenen Optionen bzw. Varianten aufzeige, möchte ich versuchen, ei‐ nen wichtigen Aspekt der gesamten grundlegenden Problematik am Beispiel Bewerb-er-in zu erklären: Das Substantiv Bewerberin wird üblicherweise verwendet, um eine Person zu bezeichnen, die sich bewirbt bzw. beworben hat, die also die Tätigkeit des Bewerbens ausführt (bzw. ausgeführt hat) UND eine Frau ist. Der für die Wortbildung benötigte Stamm des Verbs, um dann mit einem Suffix einen Menschen zu bezeichnen, ist also „bewerb“ (Das ist auch der Stamm für das Substantiv Bewerb-ung). Das Lexem „Bewerb-er“ wäre dann ein Teil von Bewerb-er-in (also Bewerberin ohne das -in). Bewerber bezeichnet also die Tätigkeit des Bewerbens, UND das Suffix -er zeigt, dass es sich um eine männliche Person handelt, UND das Suffix -in zeigt (zusätzlich) an, dass es sich um eine weibliche Person handelt. ABER dann ist eine „Bewerberin“ eine Person, die sich bewirbt und (angezeigt durch das Suffix bzw. nun Binnen-Affix -er) männlich ist UND (angezeigt durch das Suffix -in) weiblich ist. Das ist unstrittig, nicht wahr? <?page no="403"?> Betrachten wir nun a) die Optionen und b) wie ich es in diesem Buch handhabe. Vorab: Es gibt der Mensch, die Person, das Individuum. Das zumindest ist doch ausgewogen. Dies sind die hauptsächlich vorkommenden Wortformen und die jeweiligen Möglichkeiten des Genderns: Maskuline Form mit Endung -er oder -or oder -ent; die feminine Form erhält die zusätzliche Endung -in; hauptsächlich Bezeichnung von Berufen, Funktionen, Befugnissen, Tätigkeiten: Täter, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Fahrer, Mieter, Bewerber, Reporter, Einwohner, Lehrer, Profiler, Interviewer, Professor, Direktor, Präsident Es ist kein feminines Lexem vorgesehen; die Lexeme sind maskulin. Achtung: Der Vamp ist eine Frau: Vater (unproblematisch) Mensch, Typ, Freier, Lockvogel, Lehrling, Prüfling, Flüchtling Es ist kein maskulines Lexem vorgesehen; die Lexeme sind feminin. Achtung: Die Schwuchtel ist ein Mann: Mutter (unproblematisch), Person, Bedienung, Geisel, Isetta (andere Autos sind maskulin), Wache, Katze, Taube, Ratte, Lehrkraft, Krankenschwester, Hebamme Es ist kein maskulines und/ oder feminines Lexem vorgesehen; die Lexeme sind neutral: Mitglied, Opfer, Staatsoberhaupt, Erstsemester (wird primär im Plural verwendet), Die männliche Bezeichnung endet auf -e, die weibliche Bezeichnung ist anders: Kollege/ Kollegin, Beamte/ Beamtin, Zeuge/ Zeugin, Kunde/ Kundin, Geologe/ Geologin, Gatte/ Gat‐ tin, Pole/ Polin, Türke/ Türkin, Franzose/ Französin, Geselle/ Gesellin, Hase/ Häsin die feminine Bezeichnung ist anders und enthält einen Umlaut: Arzt/ Ärztin, Jude/ Jüdin, Koch/ Köchin, Anwalt/ Anwältin, Abt/ Äbtissin, Fuchs/ Füchsin die maskuline Bezeichnung ist länger (und anders): Witwer/ Witwe, Bräutigam/ Braut Das maskuline und feminine Lexem mit dem bestimmten Artikel (der/ die) ist gleich. Ein Unter‐ schied zeigt sich erst beim unbestimmten Artikel (ein/ eine); der Plural ist wie der Singular und „uni-sex“, „wirkt“ jedoch männlich/ maskulin: Verdächtige, Angestellte, Verwandte, Vorsitzende, Angeschuldigte/ Beklagte/ Angeklagte, Kranke, Erziehungsberechtigte, Anwesende, Außenstehende Der Plural ist unterschiedlich und nicht mit Binnen-I realisierbar; der Singular ist angehängtes -in: Notar (Notare sind nicht in „NotarInnen“ enthalten) Es gibt zwei verschiedene feminine Formen (Movierungssuffixe): Masseur (a. Masseurin, b. Masseuse), Friseur (a. Friseurin, b. Friseuse) Komposita mit maskulinem Erst-Element oder mehreren Elementen: Was ist mit den Mieterinnen, Arbeitgeberinnen, Wählerinnen, 402 8 Zusatzwissen <?page no="404"?> Pendlerinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Inhaberinnen, Tischlerinnen, Bürgerinnen, Gesellinnen, Meisterinnen, Stellvertreterinnen, Kandidatinnen? Täterprofil, Mieterinitiative, Arbeitgeberverband, Wählerverzeichnis, Wählergunst, Pendlerpau‐ schale, Lehrerkollegium, Lehrerzimmer, Lehrerberuf, Bürgersteig, Arztpraxis, Ärzteschaft, inha‐ bergeführt, Tischlergeselle, Bürgermeisterstellvertreter, Bürgermeisterkandidat Komposita mit Letzt-Element „Mann“ oder „Herr“: Kameramann, Feuerwehrmann, Landsmann/ Landsmännin, Bauherr (Bauherrin), aber Ratsherr/ Ratsfrau Tab. 63: Gender-Probleme Kuriositäten zum Thema Gendern: 1. Zu was das Gendern führen kann: Im letzten Monat gab es wieder drei tote Radfahrende durch unvorsichtig rechtsabbiegende Lastkraftwagen. 2. Was juristisch kritisch sein könnte: Es ist dem Mieter nicht zuzumuten, dass Fotos von seiner Wohnung Unbekannten zugänglich gemacht werden. Kann man es der Mieterin zumuten? 3. Zum Glück heißt es Mietshaus (nicht Mieterhaus) und Mietvertrag (nicht Mieterver‐ trag). 4. Es ist üblich, Bauherrin und nicht Baudame zu sagen; vermutlich wird es trotz einzelner anderslautender Wünsche dabei bleiben. Es gibt auch schon lange die Haus-/ Schlossherrin. 5. Angst ist ein schlechter Berater oder Angst ist eine schlechte Berater: in? Es ist die Angst. 6. Was wird aus: Der Gast ist König? Der männliche bzw. weibliche Gast ist König: in? Oder - beschränkt auf die weibliche Person Die Gästin ist Königin? Der Duden führt (am 01. September 2023) „die Gästin“ auf. 7. Aus Wer geht morgen zum Bäcker? wird Wer geht morgen zum Bäcker bzw. zur Bäckerin? bzw. besser Wer holt morgen die Brötchen? 8. Konsequentes Nennen beider Geschlechter führt zu langen, umständlichen Formulie‐ rungen wie Ein Muttersprachler bzw. eine Muttersprachlerin würde einen solchen Satzbau-Fehler nie machen. und Der gewählte Spielpartner bzw. die gewählte Spiel‐ partnerin sitzt jeweils gegenüber. Was wird aus Da braucht man einen Profi.? Das kann man nicht ersetzen durch Da braucht man jemanden, der das richtig gelernt hat., denn das wäre ja wieder maskulin. Also so: Da braucht man eine Person, die das richtig gelernt hat.? Und wie gendert man diesen Satz: Hier sieht man, wie jemand, der sonst eigentlich ganz souverän ist, wenn er so derart beleidigt wird, Fehler macht, die er sonst nicht macht.? (so: Hier sieht man, wie eine Person, die sonst eigentlich ganz souverän ist, wenn sie so derart beleidigt wird, Fehler macht, die sie sonst nicht macht.? ) und Jemand/ Jeder, der einen ganzen Tag diese Arbeit gemacht hat, wird am nächsten Tag seine Muskeln in Form eines heftigen Muskelkaters spüren. (so: Eine/ Jede Person, die einen ganzen Tag diese Arbeit 8.1 Geschlechtergerechte Sprache, Gendern 403 <?page no="405"?> 109 Der Glottisschlag ist ein hörbarer Laut, der durch das abrupte Öffnen der Stimmritze (Glottis) erzeugt wird. Dieser Laut tritt auf, wenn man Wörter oder Laute ausspricht, bei denen ein „Knacken“ oder ein leichtes „Husten“ zu hören ist, da die Glottis schnell öffnet und schließt. gemacht hat, wird am nächsten Tag ihre Muskeln in Form eines heftigen Muskelkaters spüren.)? 9. Ist ein Satz wie Ich kann es nicht leiden, wenn jemand es nicht zugibt, dass er eine Grenze überschritten hat. umzuformulieren in Ich kann es nicht leiden, wenn eine Person (ein Mensch) es nicht zugibt, dass sie (er) eine Grenze überschritten hat.? 10. Wie geht man mit einem solchen - nicht „gegenderten“ Satz um: Manchmal möchte man in einem Gespräch nur feststellen, ob man mit seiner Meinung allein auf weiter Flur steht oder ob andere auch so denken.? Das Possessivpronomen seiner ist maskulin. 11. Wie nennt man die weibliche Variante von Komposita, die zwei oder mehr maskuline Elemente haben? TischlerinnenGesellin? Bürger: innenMeister: innenStellvertreter: in? 12. Historisch rückwärts gerichtetes Gendern führt zu Sätzen wie Im ersten Weltkrieg sind viele SoldatInnen gefallen. Und wenn jemand sagt Der König ließ am Tor eine weitere Wache aufstellen.: Ist (war) diese Wache männlich oder weiblich? 13. Es gibt (sprachliche) Probleme bei männlich bzw. weiblich dominierten Berufen Unter den Mechatroniker: innen gibt es zu wenig Frauen., Es gibt wesentlich mehr Kosmetikerinnen als Kosmetiker. 14. Was tun bei festen Redewendungen in Sätzen wie Er war nicht mehr Herr seiner Sinne.? 15. Es gibt Ausnahmen zu der Regel, die feminine Variante einer männlichen Person mit einer Funktion wie einem Beruf o. Ä., mit Anhängen von „in“ funktioniert nicht immer. Eine „Oberin“ ist nicht ein weiblicher „Ober“. Wenn in einem Text auffällt, dass jemand offensichtlich Wert auf das Gendern legt, indem er beispielsweise auffällig oft Person statt jemand oder Mensch verwendet oder gender-bedingt auffällig lange, „umständliche“ Formulierungen verwendet, kann das für die Authentizitätsfeststellung hilfreich sein. Exkurs zur Geschichte des Genderns Das „Gendern“ ist schon lange ein viel diskutiertes Thema, das die Gemüter erregt. Die Debatte begann in den 1980er Jahren, als die männlich dominierte Sprache hinterfragt wurde. Die Diskussion wurde in den 1990er Jahren intensiver, als erste Vorschläge für alternative Ausdrucksweisen gemacht wurden. Die ersten Regeln zur geschlechtergerechten Sprache gab es (jedoch nicht verbindlich) 1989 vom Rat für deutsche Rechtschreibung, der in dem Jahr gegründet worden war und die Aufgabe hat, die deutsche Rechtschreibung zu regeln. Er legte in seinem ersten Bericht fest, dass in allen Veröffentlichungen geschlechtergerechte Sprache zu verwenden sei. In den 2010er Jahren bekam das Thema weitere Aufmerksamkeit, insbesondere in Bildungseinrichtungen, Behörden und Medien. Die Diskussionen drehten sich um verschiedene Ansätze wie den Unterstrich (Student_innen), Schrägstrich (Student/ in‐ nen), das Binnen-I (StudentInnen), Gendersternchen (Student*innen), zu sprechen mit einer Gender-Pause bzw. einem Glottisschlag 109 , also Student-Innen und Bäcker-Innen wie in Bäcker-Innung, und andere kreative Varianten. Wie wir alle wissen, wurde für 404 8 Zusatzwissen <?page no="406"?> 110 Der Sprachdienst 4-5/ 23. viele Fälle die Variante des Partizip Präsens für die Bezeichnung beider Geschlechter gewählt (Studierende). Ab 2018 begannen verschiedene offizielle Stellen wie z. B. das Auswärtige Amt und einige Städte, ihre offiziellen Dokumente in geschlechter‐ gerechter Sprache zu verfassen, und viele Hochschulen und andere Institutionen, Bundesländer und Städte haben seither Richtlinien zur geschlechtergerechten Sprache veröffentlicht. Der von mir sehr geschätzte Kolumnist Harald Mertenstein (auch Preisträger des Medien‐ preises für Sprachkritik) schreibt 110 , dass er das Gendern bzw. den Versuch, das Gendern durchzusetzen, für ein zum Scheitern verurteiltes Projekt hält, denn Sprache tendiert dazu, einfach und unkompliziert zu sein, vergleichbar mit dem Wasser, das, wenn man es fließen lässt, wie es will, immer bergab und niemals bergauf fließt. Und Menschen tendieren dazu, ihre Sprache nicht allzu kompliziert werden zu lassen. Das Gendern zu verordnen, also eine Verkomplizierung einzuführen, wäre, als würde man das Wasser zwingen wollen, bergauf zu fließen. Und er schreibt „Ich glaube, das Thema wird sich erledigen.“ Ich bin ebenfalls dieser Meinung, habe für dieses Buch die m. E. derzeit am ehesten noch erträgliche Variante des Genderns gewählt, mit der ich jedoch keinesfalls zufrieden bin, und ich bin sehr gespannt auf die weitere Entwicklung und darauf, wie und ob das Problem gelöst wird. Hier zwei Beispiele, von denen das eine den Lesenden zugemutet werden kann, das andere jedoch zu kompliziert ist und daher vermieden werden sollte: Beispiel 1: der/ die Verfasser: in (so auch ein/ e Verfasser: in) (in einem Satz wie Der/ die Verfasser: in hat hier ein Fremdwort verwendet.) Bei der/ die Verfasser: in liest der/ die Leser: in für die eine Variante beim Artikel und beim Substantiv das Vordere, für die andere Variante das Hintere. Genauer: Man liest für die maskuline Variante beim Artikel das Wort, das vor dem Schrägstrich steht, und beim Substantiv das, das vor der mit großgeschriebenem „I“ gekennzeichneten (für die maskuline Variante wegzulassende) Endung steht. Für die feminine Variante liest man beim Artikel das Wort, das nach dem Schrägstrich steht, und beim Substantiv alles, also auch die Endung. Das ist meiner Meinung nach zumutbar, hindert den Lesefluss nicht allzu sehr, sieht allerdings nicht schön aus. Beispiel 2: eine/ n ältere/ n Verfasser: in (in einem Satz wie Diese Wortwahl lässt auf eine/ n ältere/ n Verfasser: in schließen.) Der/ die Leser: in liest bei eine/ n ältere/ n Verfasser: in also für die feminine Variante zunächst das, was jeweils vor dem Schrägstrich steht, also eine ältere, aber dann kommt das Wort Verfasser: in, und hier muss der/ die Leser: in die zweite Variante wählen, nämlich die mit der Endung (nicht die Variante ohne die Endung, die Verfasser lauten würde). Bei der maskulinen Variante soll der/ die Leser: in jeweils das, was nach dem Schrägstrich steht, lesen, sich dann jedoch bei Verfasser: in die Endung „wegdenken“ und Verfasser lesen. Das ist meiner Meinung nach zu viel verlangt, hindert den Lesefluss, sieht nicht schön aus und ist unzumutbar. 8.1 Geschlechtergerechte Sprache, Gendern 405 <?page no="407"?> 111 Vom mittelhochdeutschen „pryme“, „das Vorherige“, dann „Vorbereitung“. Die Regeln zu der Frage, wann „gegendert“ wird und wann nicht, lauten für dieses Buch - und als meine generelle Empfehlung also (bevor eines Tages eine bessere Lösung gefunden wird): Wenn das Gendern für die Lesenden wie im obigen ersten Beispiel zumutbar ist, wird gegendert; wenn das Gendern wie im obigen zweiten Beispiel den Leser: innen ein kompliziertes „Hin- und Her-Denken“ abverlangt, wird nicht gegendert, sondern die Handhabungs-Varianten sind: 1. Es wird nur die maskuline Form genannt 2. In Fällen, in denen es aus semantischen Gründen wichtig ist, dass die weiblichen Personen nicht nicht genannt werden: Beid-Nennung. Die Regel zur Handhabung des Schrägstrichs lautet (für dieses Buch und meine Empfeh‐ lung): Es werden niemals zwei (oder mehr) Wörter vor (und nach) dem Schrägstrich genannt (also nicht des Verfassers/ der Verfasserin); sondern in solchen Fällen wird nur die maskuline Form genannt oder die (umständliche und lange) Beid-Nennung gewählt, also z.-B. des Verfassers bzw. der Verfasserin. Folglich kann es auch keine Fälle geben, in denen vor dem Schrägstrich die Kontraktion einer Präposition und eines Artikels steht, z. B. vom (aus von dem), und nach dem Schrägstrich die Aufeinanderfolge einer Präposition und eines Artikels in Form von zwei Wörtern (z.-B. von der) wie vom/ von der Verfasser: in. In einem solchen Fall wird ebenfalls entweder nur die maskuline Form genannt (vom Verfasser) oder die (umständliche und lange) Beid-Nennung gewählt (vom Verfasser bzw. von der Verfasserin). Nach allen Ausführungen über die Bemühungen um geschlechtergerechte Sprache sei der Vollständigkeit halber außerdem das Misgendern zu erwähnen, die versehentliche oder auch beabsichtigte Ansprache oder Erwähnung einer Person in einer Weise, die nicht zu ihrer Geschlechtsidentität passt (z. B. mit Personalpronomen der 3. Person [er/ sie/ es]). Dazu gehört auch das Phänomen des Deadnaming, der Verwendung eines von der betroffenen Transgender- oder nichtbinären Person abgelegten Vornamens. 8.2 Priming In der forensischen Linguistik ist bei bestimmten sprachlichen Phänomenen oft zu beden‐ ken, dass es sog. Priming-Effekte gegeben haben kann. Das Wort Priming 111 ist primär aus der Psychologie bekannt, wo es - hier sehr vereinfacht dargestellt - das gezielte Setzen von Reizen zur Manipulation von Menschen und deren Denken und Handeln (oft Kaufverhalten) geht. In der Linguistik bezeichnet Priming einen Prozess, der nach einer „Begegnung“ mit einem Wort oder einer Ausdrucksweise die spätere Verarbeitung oder Interpretation ähn‐ licher Wörter oder Ausdrucksweisen eines Sprechers und Textverfassers beeinflusst. Man unterscheidet zwischen lexikalischem, semantischem, syntaktischem und textualem Priming. 406 8 Zusatzwissen <?page no="408"?> Dieses Buch heißt ja „Tatort Syntax“, und folglich ist hier das syntaktische Priming von besonderem Interesse, bei dem das, was jemand zuvor gelesen und/ oder gehört hat, sein eigenes (auch schriftliches) Sprachverhalten beeinflusst. Wenn also jemand viele von Jurist: innen verfasste Texte gelesen hat (etwa weil er selbst in Konflikt mit dem Gesetz geraten ist und die Schriftsätzes seines Anwalts bzw. seiner Anwältin besonders aufmerksam gelesen hat), kann das zur Folge haben, dass er in seinen eigenen Texten viele Linksattributionen verwendet (bzw. sie zu verwenden anstrebt). Syntaktisches Priming kann auch in Vernehmungssituationen stattfinden. Wenn eine Person, die vernommen wird, gefragt wird Wurde die Haustür von Ihrem Bruder aufgebrochen? , ist es sehr wahrscheinlich, dass die Antwort ebenfalls im Passiv ausfällt (Nein, die Haustür wurde nicht von meinem Bruder aufgebrochen.). Wenn die Frage lautet Hat Ihr Bruder die Haustür aufgebrochen? , ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort ebenfalls das Genus Verbi Aktiv aufweist (z.-B. Nein, mein Bruder hat die Haustür nicht aufgebrochen. oder Nein, es war nicht mein Bruder, der die Haustür aufgebrochen hat.) relativ hoch. Priming, ein wichtiger Aspekt der kognitiven Linguistik, kann speziell bei Sprecher: innen und Textverfasser: innen, die wenig über Sprachliches reflektieren, deren Verständnis und die Verarbeitung von Ausdrucksweisen erheblich beeinflussen, weil es die Aufmerksamkeit auf bestimmte Formulierungen lenkt und die Verarbeitung und spätere Verwendung bestimmter Ausdrucksweisen vorbereitet und begünstigt. Hier sind drei Parameter wichtig; vereinfacht dargestellt werden also solche Ausdrucksweisen präferiert, die ● für die Person wichtig sind (Vorrang, engl. „primacy“) ● oft vorkommen (Häufigkeit, engl, „frequency“) ● in allerletzter Zeit, also in der jüngsten Vergangenheit vorgekommen sind (Aktualität, engl. „recency“) Spezielle sprachliche Phänomene, die bei einem untersuchten Text auffallen, sollten also ggf. auch auf einen etwaigen Priming-Effekt hin betrachtet werden, was allerdings schwierig ist, denn dazu wäre es notwendig, die Einflüsse auf die Person und den Umgang der Person, die den Text verfasst hat, zu kennen. 8.3 Code-Switching Wenn innerhalb eines Textes Wechsel zwischen verschiedenen Varietäten (Stilen, Regis‐ tern, Soziolekten, Funktiolekten, Dialekten) auffallen, kann das daran liegen, dass ● der/ die Verfasser: in sich an verschiedene Zielgruppen wendet, ● der/ die Verfasser: in verschiedene soziale, kulturelle und/ oder kommunikative Zwecke zu erfüllen und Präferenzen zu bedienen bemüht ist, ● der Text von mehreren Verfasser: innen geschrieben wurde. Phänomene, die als Code-Switching erscheinen, können auch mit interlingualer Interferenz begründet sein. Bei bilingualen (bzw. nahezu bilingualen) Sprecher: innen (und insbeson‐ dere bei in Deutschland lebenden Sprecher: innen, die in ihren Familien die Muttersprache sprechen), ist Code-Switching zu beobachten (→-Kap. 3.5 zum Thema Deutsch als Fremd‐ sprache). 8.3 Code-Switching 407 <?page no="409"?> 112 Achtung: Nicht verwechseln mit „Hilfsverben“! 113 In der englischen Fachliteratur bezeichnet als „lexical chunks“ und „prefabricated phrases.“ 8.4 Funktionswörter Wörter können grob in diejenigen unterschieden werden, die Bedeutung tragen (Inhalts‐ wörter, Bedeutungswörter, engl. „content words“), und diejenigen, die Funktionen erfül‐ len (Funktionswörter; auch „Grammatikwörter“, „Hilfswörter“ 112 , „Synsemantika“, engl. „function words“; Artikel, Pronomen, Präpositionen, Konjunktionen, manche Adverbien und Hilfsverben, also der, ihn, von, und, deshalb, soll). Sie stellen Beziehungen zwischen Wörtern her, sie kennzeichnen die Zeitform bzw. das Tempus, die Satzart und andere grammatische Merkmale. Sie sind wenig informativ, jedoch unverzichtbar. Es gibt in der forensischen Linguistik - speziell in der Authentizitätsfeststellung - viele Theorien zu der Frage, ob eine bestimmte Inzidenzhäufigkeit bzw. eine Häufigkeit bestimmter Funktionswörter idiolektal ist. Diese Frage wird in vielen Kapiteln dieses Buches behandelt. Die Bezeichnung „Funktionswort“ (als Pendant zum „Inhaltsbzw. Bedeutungswort“) ist allerdings sehr ungenau. Es bedarf einer Binnendifferenzierung. Es gibt - im Rahmen der Stilistik - auch viele Versuche, die Authentizitätsfeststellung mithilfe von Software über das Zählen von Funktionswörtern und Feststellen bestimmter Häufigkeiten in bestimmten Texten zu bewerkstelligen. Dazu sind gute linguistische Kenntnisse notwendig (die teilweise mithilfe dieses Buches erworben werden können). Dieses Buch enthält viele Ausführungen zu den verschiedenen Arten der Funktionswörter. 8.5 Mentale AutoText-Bausteine Viele Ausdrucksweisen werden vom Verfasser nicht konstruiert, sondern stehen ihm - wie die AutoText-Bausteine in der Textverarbeitung - vorgefertigt abrufbereit zur Verfügung 113 . Das ist speziell dann der Fall, wenn eine bestimmte Äußerung bzw. Ausdrucksweise - etwa aus beruflichen Gründen - häufig gebraucht wird (Mit Karte? Darf es noch etwas sein? Mit Sahne? Gern. Das entzieht sich meiner Kenntnis. Das muss ins Labor.) und der Person, die sie äußert bzw. schreibt, „in Fleisch und Blut“ übergegangen ist; so auch bestimmte Phraseologismen und Redewendungen (wie Nägel mit Köpfen machen, nichts für ungut, ein Auge zudrücken, Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, schlafen wie ein Murmeltier, den Stier bei den Hörnern packen), Idiome (wie Hab und Gut, jemandem reinen Wein einschenken), Floskeln (wie von daher gesehen, wie gesagt usw). Dies ähnelt den Kookkurrenzen und Kollokationen, dem - vereinfacht gesagt - gemeinsamen Auftreten von Wörtern (in Sätzen), was primär semantisch begründet ist und auf der Regelhaftigkeit gegenseitiger Erwartbarkeit beruht (z. B. gute Idee, heikles Thema, starker Kaffee, in Betracht ziehen, bestehend aus, zu vorgerückter Stunde). Außerdem gibt es idiolektale mentale AutoText-Bausteine, die - speziell begünstigt durch die im obigen Kapitel zum Thema „Priming“ bereits erwähnten drei Parameter „pri‐ macy“, „frequency“, „recency“ (auf Deutsch meist „Vorrang“, Häufigkeit“ und „Aktualität“ genannt) - in einem Text auffallen könnten. Wenn ein/ e Verfasser: in sich nämlich bereits auf das Formulieren des Folgetextes konzentriert, unterläuft es ihm/ ihr leicht, dass er/ sie sie 408 8 Zusatzwissen <?page no="410"?> 114 Wenn eine mentale Repräsentation der Wirklichkeit entspricht, nennt man sie „homomorph“ (von altgr. ὁμός, homós, „gleich“, und μορφή, morphé, „Form“, „Gestalt“). 115 US-amerikanischer Kognitionswissenschaftler, Linguist und Philosoph, 1935-2017. 116 US-amerikanisch-kanadischer Kognitionswissenschaftler, Linguist, Experimentalpsychologe, Nati‐ vist, Harvard-Professor, Bestsellerautor, geb. 1954. 117 Engl. Endung „-ese“ in Anlehnung an Chinese, Japanese, Legalese. fehlerhaft realisiert, denn diese Äußerungen werden nicht in die sonst oft (eher unbewusst) angewendete schnelle Korrektur-Schleife einbezogen. Ein typischer Fehler ist dann, dass jemand sagt, er wolle Köpfe mit Nägeln machen, obwohl er die korrekte Redewendung natürlich „im Kopf “ hat. In der Kognitionspsychologie gibt es das Konzept des mentalen Modells, der Konstrukte des Wissens und Verstehens. Die Beantwortung der Frage, wie (und wie wirklichkeitsge‐ recht) Gegenstände, Prozesse und abstrakte Sachverhalte im Bewusstsein eines jeweiligen Textverfassers repräsentiert sind 114 , ist in der forensischen Linguistik im jeweiligen zu un‐ tersuchenden Fall wichtig, allerdings kaum zu leisten. Außerdem sind hier psychologische Kompetenzen gefragt. So ist auch Wissen über die kognitive Struktur eines Menschen, mit der er Wörter und Ausdrucksweisen versteht und anwendet (eine Art privates Lexikon mit Repräsentationen von sprachlichen Korrelationen, Über- und Unterordnungen usw.), genannt mentales Lexikon (auch Mentallexikon), sehr interessant für einzelne zu untersuchende Fälle, also für weitere Erkenntnisse über den/ die Verfasser: in eines inkriminierten Textes. Dies ist jedoch schwierig und erfordert psycholinguistische Kompetenzen. Nach dem Konzept LOTH, Language Of THought, Sprache des Denkens, mit der sich (nach Augustinus, Boethius, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham) u. a. Jerry Fodor 115 und Steven Pinker 116 intensiv befasst haben, gibt es das (englische) Mentalese 117 (im Deutschen üblicherweise Mentalesisch genannt, von mir Denksprache genannt), eine hypothetische nonverbale Sprache (traditionell die Vorstellung, „repraesen‐ tatio“), ein angeborenes, der Sprache ähnliches Repräsentationssystem, das neben der Basis für die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen und zu verwenden, die mentale Sprache ist, die sich von der in Texten verwendeten Sprache (unterschiedlich stark) unterscheidet. Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen, Logiker und Linguisten, u. a. Augustinus (354 bis 430), Boethius (ca. 480-ca. 524), Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), Johannes Duns Scotus (ca. 1266-1308), Wilhelm von Ockham (ca. 1287-ca. 1347), Samuel Johnson (1709- 1784), W. v. Humboldt (1767-1835), Peirce (1839-1914), Saussure (1857-1913), Frege (1848- 1925), Sapir (1884-1939), Whorf (1897-1941), Wittgenstein (1889-1951), Katz (1932-2002), Fodor (1935-2017), Chomsky (geb. 1928), Pinker (geb. 1954), die Frage zu beantworten, wie stark die Sprache das Denken beeinflusst bzw. ob (und ggf. wie weit) - abhängig von der Definiton des Denkens - Denken ohne Sprache möglich ist bzw. wie stark unterschiedlich und ob Sprecher: innen verschiedener Sprachen entsprechend unterschied‐ lich denken, wie grammatische Strukturen einer Sprache bestimmte Denkmuster fördern oder einschränken und wie weitgehend interlinguale Interferenz das Denken beeinflusst. Vereinfacht gesagt haben sich zwei Lager gebildet: die Relativisten (spez. Sapir und Whorf) und die Universalisten (bzw. Nativisten, spez. Chomsky und Pinker). Für die Zwecke der forensischen Linguistik interessiert nicht so sehr das für die Nativisten wichtige Thema 8.5 Mentale AutoText-Bausteine 409 <?page no="411"?> des Spracherwerbs (und die Frage danach, ob Menschen mit einer „Universalgrammatik“ geboren werden), sondern die Frage danach, 1. ob das, was jemand (beispielsweise in einem inkriminierten Text) äußert, genau das ist, was er/ sie gedacht/ gemeint hat, ob die Sprache selbst das Vehikel des Denkens ist (Wittgenstein) und ob der Mensch in der Sprache denkt, fühlt und lebt (Wilhelm von Humboldt), ob also bereits das vor einer Äußerung stattgefundene Denken in eben dieser Sprache stattgefunden hat und nun nur „ausgespuckt“ wird oder 2. ob die Sprache eine Art „Verpackung“ für die Gedanken ist (für das Mentalesisch, wie Steven Pinker es nennt, was ich „Denksprache“ nenne), wobei Verfasser: innen beim Verpacken mehr oder weniger kompetent und geschickt sind; auch darin, zu antizipieren, ob die Leser: innen so „auspacken“ können, dass die intendierte Bedeutung bei ihnen „ankommt“ und dass keine Missverständnisse entstehen (was ich „Verständ‐ nissicherung“ nenne). Was ist davon zu halten, wenn ein/ e Verfasser: in auf Befragung erklärt, er/ sie hätte das ganz anders gemeint (und der/ die Leser: in habe es „falsch verstanden“)? Hatte der/ die Verfasser: in bereits „unklar“ gedacht und „das Unklare“ geäußert? Oder lag es am „Auspa‐ cken“? In dem Fall wäre also das Auspacken fehlerhaft erfolgt. Dann hätte der/ die Leser: in dieses oder jenes nicht beachtet und/ oder in der Äußerung enthaltene Hinweise bzw. Andeutungen (Innuendos) nicht erkannt bzw. nicht beachtet. Oder ist bei einer (teilweise) falsch verstandenen Äußerung oder bei einem Missverständnis der/ die Empfänger: in schuld? Oder lag es an mangelnder Kompetenz auf beiden Seiten? Gibt es eine relativ große Anforderung an den/ die Verfasser: in, seine/ ihre Äußerungen der Zielgruppe, der Situation, den Gegebenheiten anzupassen, also das bereits Gedachte den jeweiligen Anforderungen entsprechend zu modifizieren? Das tun Verfasser: innen selbstverständlich. Sie gestalten ihre Äußerungen für ein Kind anders als ihrem/ ihrer ChefIn gegenüber. Und wie ist es beim Empfänger? Kommt es bei der Frage, wie gut er versteht, auf dessen Disposition an (Bildungsstand, Interesse, Aufgeschlossenheit, Zugewandtheit, etwaige Unkonzentriertheit, Müdigkeit, Eile u.Ä. und weitere Voraussetzungen wie Persönlichkeits‐ typ, Intelligenz, Sozialisation, Alter, Geschlecht, Schul- und Ausbildung, Fachkenntnisse und Beruf, Bildungsstand, Geschlecht, Gesinnung, Lebensführung, ggf. Muttersprache, ggf. politischer Orientierung, regionale/ geografische Herkunft)? Die Disposition verschiedener Leser: innen ist denkbar unterschiedlich. Darum ist es in der Authentizitätsfeststellung bei der für den Vergleich vorzunehmenden Auswahl von Texten und deren Analyse wichtig, möglichst genau zu erkennen, wie stark die Kompetenzen des jeweiligen Verfassers und des Lesers differieren. Zurück zur Frage, ob und wie sich die für das Denken zur Verfügung stehende Sprache von der in den Äußerungen faktisch verwendeten Sprache unterscheidet. Ich persönlich glaube an eine Art von Mentalesisch und nenne es Denksprache. Ich habe sehr oft erlebt, dass Verfasser: innen - auf die Aufforderung hin, mir die eine oder andere Passage in ihren Texten mit anderen Worten zu erläutern - die intendierte Bedeutung in vom vorliegenden 410 8 Zusatzwissen <?page no="412"?> Text maßgeblich abweichender Weise erklärten, sodass sich rasch herausstellte, dass ihr „Verpacken“ der intendierten Mitteilung mangelhaft ausgefallen war. Verfasser: innen haben mir gegenüber oft zugegeben, dass sie sich wohl unklar oder miss‐ verständlich ausgedrückt hatten, und sagten, sie hätten leider (manchmal durch Zeitmangel bedingt) nicht die richtigen Worte gefunden und gehofft, dass ihre sprachliche Äußerung dennoch richtig verstanden würde. Hier liegt oft mangelnde sprachliche Kompetenz eines Verfassers vor, also die Fähigkeit, sich vorzustellen, dass und ggf. wie der/ die Leser: in die Äußerungen - aus den verschiedensten Gründen - auch anders verstehen könnte, woraufhin er/ sie dann wünschenswerterweise bzw. hoffentlich das betreibt, was ich „Verständlichkeitssicherung“ nenne. Die in diesem Kapitel anfangs erwähnten und für die Authentizitätsfeststellung wichtigen mentalen AutoText-Bausteine sind Teile des Mentalesisch bzw. der Denksprache. Sie sind immer abrufbereit, sofern sie wichtig und aktuell sind und häufig vorkommen (engl. prime/ important, frequent, recent). Diese idiolektal vorgefertigten („vorgedachten“) Phrasen unterscheiden sich von Mensch zu Mensch, und der/ die Einzelne kann bei Bedarf ohne Anstrengung auf sie zugreifen - das Hauptcharakteristikum des Idiolekts (→ Kap. 1.8.6). 8.6 Ausdruck von Vermutung Es gibt verschiedene Möglichkeiten, auszudrücken, dass es sich bei einer Aussage um eine Vermutung handelt: ● explizit mit einem Verb wie vermuten, annehmen, z. B. Ich vermute, dass er das wusste. ● explizit mit einem vor die Aussage geschalteten Hauptsatz mit dem Korrelat es und einem Adjektiv wie möglich oder denkbar (als Prädikativ), z. B. Es ist möglich, dass er das wusste. ● mit einem Modalverb, z.-B. könnte, müsste z.-B. Er könnte das vorher gewusst haben. ● mit einem Adverb, z. B. vermutlich, wohl, vielleicht, möglicherweise, z. B. Er hat das vermutlich gewusst. ● mit einem Adjektiv, z. B. mutmaßlich, hypothetisch, z. B. Der mutmaßliche Dieb ist fast zwei Meter groß., Das ist eine rein hypothetische Aussage. ● mit den Tempusformen Futur I oder II, z. B. Er wird das anders sehen., Er wird das geplant haben. Für die Authentizitätsfeststellung ist es interessant, wenn es in einem Text mehrfachen Ausdruck der Vermutung und evtl. außerdem Redundanzen gibt, z. B. Er könnte das wohl schon vorher gewusst haben., da das, sofern es sich nicht um fehlerhafte Ausdrucksweisen handelt, zeigt, dass der/ die Verfasser: in sicherstellen möchte, dass verstanden wird, dass er/ sie nicht eine Behauptung aufstellt (und nicht etwa später für eine Behauptung zur Rechenschaft gezogen wird). Siehe dazu auch das Kapitel 3.23.6 „Distancing, Evasivität, Hedging, Vagheit, Nicht-Fakti‐ zität“. 8.6 Ausdruck von Vermutung 411 <?page no="413"?> 8.7 Ausdruck von Möglichkeit Es gibt viele Möglichkeiten, Möglichkeit auszudrücken; z.-B.: ■ Wir können Ihnen die Belege gesondert schicken. ■ Es ist möglich, dass wir Ihnen die Belege gesondert schicken. ■ Es ist (uns) möglich, Ihnen die Belege gesondert zu schicken. ■ Dass wir Ihnen die Belege gesondert schicken, ist möglich. ■ Wir sind in der Lage, alle Eingänge genau zurückzuverfolgen. ■ Wir können alle Eingänge genau zurückverfolgen. ■ Das wäre organisatorisch sicherlich machbar. ■ Auf dem Bahnhof finden Sie eine Möglichkeit, Ihr Gepäck zu verstauen. ■ Sie haben ab 9.45 Uhr die Möglichkeit, sich einzuloggen und teilzunehmen. ■ Es besteht die Möglichkeit, das Gerät vor Ort zu testen. ■ Auf Wunsch pürieren wir das Gemüse. Es kann in der Authentizitätsfeststellung hilfreich sein, wenn in einem Text mehrfach eine bestimmte Art des Ausdrucks von Möglichkeit vorkommt. 8.8 Ausdruck von Zugehörigkeit Zugehörigkeit wird mit Attributen ausgedrückt. Die Optionen sind: 1. Possessivpronomen, z.-B. Das ist meine Schwester. 2. Genitiv, z.-B. Das ist Tims Schwester. 3. „von“, z.-B. Das ist die Schwester von Tim. 4. possessiver Dativ mit folgendem Possessivpronomen, z. B. Das ist dem Nachbarn seine Schwester. Wenn in einem Text viele Zugehörigkeitsangaben vorkommen, kann eine solche Tabelle für die Darstellung der Inzidenzen sinnvoll sein: Ausdruck von Zugehörigkeit INKR VGL 1 rechts mit „von“ (die Schwester von Sabine, das Auto von meinem Bruder) 9 7 2 mit Genitiv 5 2 2a - Genitiv links: reiner Genitiv (Sabines Schwester) 2 5 2b - Genitiv rechts (die Straßen Italiens) 0 0 3 links mit Dativ und Possessivpronomen, typisch für bestimmte Regionen (dem sein Nachbar, Sabine ihre Schwester) 2 0 Tab. 64: Ausdruck von Zugehörigkeit In Dialekt-Sätzen wird fast nie Genitiv verwendet, speziell nicht in der Schweiz und in Österreich. Der Dativus possessivus ist typisch für das Rheinland. 412 8 Zusatzwissen <?page no="414"?> 118 Es gibt die (unbestätigte) Theorie, dass das englische Genitiv-“s“ aus „his“ entstanden sei, also aus Tim his sister wurde Tim’s sister (und die feminine Form wurde angeglichen, also aus Susan her sister wurde auch Susan’s sister). Der Apostroph beim Genitiv ist für die Authentizitätsfeststellung von besonderem Interesse. Wenn auffällig oft der umgangssprachlich auch „Deppenapostroph“ genannte Apostroph, der seinen Ursprung im Englischen hat, für eine Zugehörigkeitskennzeichnung wie in Susi’s Nagelstudio verwendet wird, kann das idiolektal sein. 118 ■ In Tony’s Club’s gibt’s stet’s heiße Girl’s. ■ Heute gibt es ein Special für Single’s. ■ Das ist ein Parkplatz für Pkw’s. ■ Wir kaufen Ihre alten LP’s. ■ Ich mag Ringelnatz’s Gedichte. ■ Wir empfehlen Susi’s Haarstudio. 8.9 Ausdruck von Verpflichtung und Notwendigkeit, Aufforderung Bei den Ausführungen zum sog. „müssen-Ersatz“ (mit „sein zu“ und „haben zu“, z. B. Dieser Betrag ist zu überweisen., Sie haben diesen Betrag zu überweisen.) im Zusammenhang mit dem syntaktischen Phänomen der Satzklammer (→ Kap. 5.11) wurden bereits verschiedene Arten des Ausdrucks von Verpflichtung und Notwendigkeit erwähnt und Beispiele genannt wie Das muss getan werden., Man muss das tun., Du musst das tun. / Sie müssen das tun., Das ist zu tun., Du hast das zu tun., Es ist notwendig/ erforderlich, dass das getan wird. und/ oder Hier ist Fachwissen nötig., Hier ist Fachwissen erforderlich., Hier ist Fachwissen vonnöten., Es braucht einen Fachmann., Man braucht einen Fachmann., Da braucht man einen Fachmann. Die Verneinung einer Verpflichtung wird typischerweise ausgedrückt mit nicht müssen und nicht brauchen wie in den Sätzen a. Sie müssen das Paket nicht ausliefern. oder b. Sie brauchen das Paket nicht auszuliefern (bzw. ohne das zu: Sie brauchen das Paket nicht ausliefern.). Für die Authentizitätsfeststellung ist interessant, wie die (verneinte) Verpflichtung bzw. Notwendigkeit ausgedrückt wird, auch weil die Wahl der Formulierung ohne zu auf einen etwas niedrigeren Bildungsstand schließen lässt. Andersherum ausgedrückt: Das Verb brauchen gibt es (im Kontext des Ausdrucks von Verpflichtung und Notwendigkeit) als Vollverb mit der Bedeutung benötigen und außerdem als Modalverb, dann aber nur mit Verneinung oder mit zu. Besonderheit: Besonders freundlicher Ausdruck von Verpflichtung Neben konventionellen Mitteln, eine Aufforderung oder Verpflichtung freundlich zu äußern wie ein Hinzufügen von bitte zum Imperativ (Bitte nennen Sie mir Ihre Anschrift., Kommen Sie bitte mit.) oder dem Formulieren der Bitte als Frage mit dem Konjunktiv 8.9 Ausdruck von Verpflichtung und Notwendigkeit, Aufforderung 413 <?page no="415"?> (Würden Sie mir bitte Ihre Anschrift nennen? Würden Sie bitte mitkommen? ), ist es - allerdings eher im Mündlichen (daher im Schriftlichen weniger häufig beobachtbar) - üblich geworden, einem Imperativ die Adverbien (ein-)mal und gern und die Partikel doch hinzuzufügen wie in Sehen Sie sich doch gerne einmal unsere Angbote auf unserer Website an. oder Füllen Sie gerne vorab das Anmeldeformular aus. Wenn diese Ausdrucksweisen in untersuchten Texten auffallen, ist das für die Authentizi‐ tätsfeststellung wertvoll. 8.10 Textlinguistik Was ist ein Text? Für die Zwecke dieses Buches wird jede Art der Abfolge von Sätzen, auch elliptischen Sätzen bzw. Aussagen, als Text bezeichnet. Da es speziell in der Authentizitäts‐ feststellung beim Vergleich von Texten wichtig ist, dass nur gleiche oder zumindest ähnliche Texte miteinander verglichen werden, wird die Frage danach gestellt, um was für eine Art von Text es sich handelt (→ Kap. 1.7.1 mit den Ausführungen zu Textsorten). Weitere Fragen zur Textualität wie zur Isotopie des Textes, also der semantischen Verknüpfung der Sätze, wie auch Kohärenz, Kohäsion, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität, Intertextualität, Textthema usw. werden hier nicht genauer betrachtet, weil die Frage danach, wie ein/ e Verfasser: in seine/ ihre Texte - zusätzlich zur sichtbaren Struktur und zur Typografie - aufbaut, für das Feststellen eines Idiolekts sehr vage und unpräzise sind. Für die Aufgabe, einen Text - etwa bzgl. seiner Verständlichkeit - zu beurteilen, finden sich in Kapitel 7.3.4 zum Vor- und Rückbezug Ausführungen zur Phorik, d. h. zu Bezügen und Verweisen (anaphorisch und kataphorisch) innerhalb von Sätzen und Texten. Details und weitergehende ausgezeichnete Ausführungen zu diesem interessanten Gebiet der Textlinguistik finden sich in der entsprechenden Literatur u. a. von Brinker und Weinrich. 8.11 Textstruktur und weitere typografische Eigenschaften Das Erscheinungsbild eines Textes kann für die Authentizitätsfeststellung aufschlussreich sein. Wichtig für eine gute Arbeit in der forensischen Linguistik ist hier, keine Komponente und keinen Aspekt zu betrachten zu vergessen oder zu übersehen. Es gibt sehr viele Varianten. Wo für grammatische Zwecke die Dudenregeln als Vergleichs-Standard dienen, ist es hier die DIN 5008 (Schreib- und Gestaltungsregeln für die Text- und Informationsverarbeitung). Hier sei noch einmal betont: Solche Regelwerke werden lediglich als Tertium Comparatio‐ nis herangezogen. Es geht in diesem Buch nicht darum, aufzuzeigen, dass ein/ e Verfasser: in Regeln nicht eingehalten hätte. Aber: Ein/ e Verfasser: in entspricht (evtl. unbewusst) den Vorgaben, ein anderer nicht; und darin unterscheiden sie sich, was zu einer Vermutung führen kann, dass zwei insofern unterschiedliche Texte nicht von derselben Person verfasst wurden. 414 8 Zusatzwissen <?page no="416"?> Grafische Gestaltungselemente für Texte wie Tabellen, Diagramme, Schaubilder, Aufzäh‐ lungen/ Listen, Linien, Kästen, Marginalien, Hyperlinks werden in diesem Buch nicht genauer betrachtet. Sie sind zwar hilfreich, einen Text leichter verständlich zu machen, und werden unterschiedlich gehandhabt, aber das zentrale Thema dieses Buches ist das Sprachliche, und in forensisch relevanten Texten kommen grafische Gestaltungselemente selten vor. Auch textstrukturierende Elemente wie Überschriften, Zwischenüberschriften, Titel kom‐ men in forensisch relevanten Texten fast nie vor und können daher hier vernachlässigt werden. Es gibt jedoch viele andere Textgestaltungs-Elemente, die a) einen Text leichter verständlich machen und b) Auskunft über bestimmte Gewohnheiten bestimmter Verfasser: innen geben können. Es gilt, alle Komponenten zu betrachten; hier eine Checkliste: 1. Seitenformat (z.-B. DIN A4) 2. Seitenausrichtung (Hoch oder Querformat) 3. Ränder (breit, schmal; evtl. nicht durchgängig gleiche Randbreite, sondern unterschied‐ lich breit) 4. Zeilenanzahl 5. Satz und Textausrichtung (Blocksatz, Flattersatz, linksbündig, rechtsbündig, Mittelach‐ sensatz/ zentriert; die meisten Texte sind linksbündig; rechtsbündige Texte sind selten) 6. Durchschuss (Zeilenbreite und -abstand) Der Zeilenabstand ergibt sich aus der Zeilenhöhe (auch „Kegelhöhe“ genannt) bzw. der Schriftgröße (auch „Schriftgrad“ genannt) plus Zeilendurchschuss. Der übliche Zeilenabstand bei Fließtext beträgt 120 % der Schriftgröße, woraus sich bei einer 10-Punkt-Schrift ein Zeilenabstand von 12 Pt. („Punkt“) ergibt. 7. Textvolumen und Satzanzahl (Gesamtzeichenanzahl [bzw. genauer: Anzahl der sicht‐ baren Zeichen und auch Tastatur-Anschläge, d. h. inklusive Leerzeichen], Anzahl der Sätze); das Verhältnis der Anzahl der Sätze (und deren Länge bzw. deren Zeichenanzahl) zum gesamten Textvolumen (also der Gesamtzeichenanzahl) ist interessant für die Authentizitätsfeststellung. 8. Satzlängen (Wort- und Zeichenanzahl; Maximum der Wortanzahl pro Satz, sodass ein/ e durchschnittlich begabte/ r Leser: in ihn verstehen kann, ist 20. Die deutsche Presseagentur [dpa] gibt für Journalisten 9 Wörter pro Satz als Obergrenze für die optimale Verständlichkeit an.). Sätze in wissenschaftlichen Texten dürfen bis 30 Wörter lang sein, sofern die Kriterien für gute Lesbarkeit erfüllt sind. 9. Absätze (Anzahl, Einrückungen) 10. Leerzeilen (nicht vorhanden oder vorhanden, manuell eingefügte Leerzeilen oder mit Textverarbeitungsprogramm vordefinierter Abstand) 11. Worttrennung (Silbentrennung am Zeilenende, evtl. vorhandene bedingte Trennstri‐ che für Zeilenumbruch [bei PDF nicht feststellbar]) 12. Zeilenumbruch (evtl. harter [erzwungener] Zeilenumbruch, jedoch bei PDF nicht feststellbar) 13. Schriftart (z.-B. Versalien, Minuskeln, Kapitälchen), Fonts 8.11 Textstruktur und weitere typografische Eigenschaften 415 <?page no="417"?> 14. Schriftgröße (evtl. unterschiedliche Schriftgrößen in einem Text, evtl. zum Zweck der Hervorhebung) 15. Gestaltungsraster, Satzspiegel (für Text genutzte Fläche, z. B. Spaltensatz), Spaltenan‐ zahl 16. Spationierung/ Laufweite, d.-h. Buchstabenabstände, Zeichenabstände, Wortabstände 17. Zeichen (speziell in E-Mails: Emojis, Emoticons, Smileys) 18. Prozentzeichen: mit oder ohne Leerzeichen nach der Zahl 19. Striche: Bindestrich, Gedankenstrich/ Geviertstrich, Apostroph, Schrägstrich (/ ) 20. Klammern: (, ), [, ], <, >, {, }, Gedanken- und Auslassungspunkte (…), Leerzeichen (→-Kap.-1.8.2) 21. Zahlen: als Zahlen (7) oder als Wort geschrieben (sieben); hohe Zahlen mit Tausender‐ trennzeichen und/ oder Zifferngruppierung oder ohne (z.-B. 25.000 oder 25000 oder 25 000) 22. Konsistenz bei Schreibung, z.-B. E-Mail, eMail, E-mail, Email, Mail; Artikel/ grammati‐ sches Genus: die E-Mail oder das E-Mail 8.11.1 Textformatierung, Verwendung von EDV-Hilfen Es ist für die Authentizitätsfeststellung interessant, ob ein/ e Verfasser: in die Hilfen der Textverarbeitung und die textorientierten Anwendungen der Datenverarbeitung nutzt, und es ist auch interessant, wenn ein/ e Verfasser: in eine ausgefallene Schriftart bzw. einen Font verwendet, der nicht im „normalen“ Textverarbeitungsprogramm zur Verfügung steht. In diesem Buch geht es jedoch mehr um das, WAS mit der Schrift ausgedrückt wird bzw. werden soll, und weniger darum, mit welcher Schriftart die Mitteilung realisiert wird. Daher werden diese Themen ohne Detailtiefe behandelt. 8.11.2 Gruß: Anrede und Abschluss Es gibt viele verschiedene Anrede- und Abschluss-Grußformel-Varianten; man kann sowohl beim Anrede-Gruß als auch beim Abschluss-Gruß ein Komma danach setzen oder auch nicht. Gemäß DIN 5008 steht die Anrede mit zwei Leerzeilen Abstand nach dem Betreff und schließt mit einem Komma. Am Rande bemerkt: In der Schweiz setzt man nach der Anrede kein Komma. Nach dem Anrede-Gruß soll ein Komma stehen, und dann soll der Text klein beginnen (mit Ausnahme des Falls, dass das erste Wort ein Substantiv ist). Nach der Abschluss-Grußformel (z. B. Mit freundlichen Grüßen) soll kein Satzzeichen stehen. Solche Regeln sind jedoch für die Authentizitätsfeststellung und Verständlichkeit unerheb‐ lich. Sie werden nur als Tertium Comparationis herangezogen. Interessant ist, ob ein/ e Verfasser: in: ● ein Komma (oder ein Ausrufezeichen) setzt ● eine unübliche Grußformel verwendet (z. B. mit den allerbesten Grüßen), evtl. mit einer Abweichung vom Standard (z.-B. mit den aller besten Grüßen) 416 8 Zusatzwissen <?page no="418"?> 119 bei vielen Verfasser: innen eine Art „Notlösung“, da ihnen Sehr geehrt zu förmlich, Lieber zu persönlich und Hallo zu informell ist ● eine Abkürzung für den Gruß verwendet (z. B. mfG) und das evtl. mit einer Abweichung vom Standard (z.-B. mFG) Was den Anrede-Gruß betrifft, gibt es - bei Menschen, die sich siezen - primär die folgenden Stile: Sehr geehrter Herr Hauser Sehr geehrter Herr Hauser, Sehr geehrter Herr Hauser! Lieber Herr Hauser Lieber Herr Hauser, Lieber Herr Hauser! Hallo Herr Hauser Hallo Herr Hauser, Hallo Herr Hauser! Guten Morgen 119 , Herr Hauser Guten Morgen, Herr Hauser, Guten Morgen, Herr Hauser! Tab. 65: Beispiele für Anrede-Grußformen Hier zeigen die meisten Verfasser: innen eine deutliche Präferenz. Ein/ e bestimmte/ r Verfasser: in wird eine bestimmte Gruß-Variante immer wieder verwenden. Ich selbst z. B. verwende den Gruß Lieber Herr XY bzw. Liebe Frau XY sehr sparsam und bevorzuge die Hallo-Variante, wenn mir Sehr geehrt zu förmlich erscheint, was häufig der Fall ist, wenn es sich nicht um eine mir völlig unbekannte Person handelt. Außerdem genügt es mir, einmal lieb zu schreiben, also entweder im Anrede-Gruß oder im Abschluss-Gruß, und zwar speziell, wenn es sich um eine eher kurze Mitteilung handelt. In diesem Fall entscheide ich fast immer, das Lexem lieb im Abschluss-Gruß zu verwenden, denn ich persönlich schätze es nicht, von anderen Menschen, die mich kaum kennen, als lieb bezeichnet zu werden, was der Fall ist bei einem Anrede-Gruß wie Liebe Frau Dr. Thormann, und ich tue das auch selbst nicht. Über meine eigenen Grüße im Abschluss-Gruß hingegen habe ich die Hoheit und kann entscheiden, ob meine Grüße lieb sind oder nicht. Da sie meist lieb gemeint sind, entscheide ich mich dann für liebe Grüße. Was den Abschluss-Gruß betrifft, gibt es viele Varianten; die am häufigsten verwendeten und üblichen Abschluss-Grußformeln sind: Mit freundlichen Grüßen, Freundliche Grüße, Mit freundlichem Gruß Weitere, teilweise weniger übliche Varianten: ■ Alles Gute ■ Alles Liebe ■ Beste Grüße ■ Bis bald ■ Freundliche Grüße ■ Ganz liebe Grüße ■ Hav/ hav (Hochachtungsvoll) ■ Herzliche Grüße ■ Hochachtungsvoll ■ In Verbundenheit 8.11 Textstruktur und weitere typografische Eigenschaften 417 <?page no="419"?> ■ LG/ lg (Liebe Grüße) ■ Liebe Grüße ■ MfG/ mfg (Mit freundlichen Grüßen) ■ Mit besten Empfehlungen ■ Mit besten Grüßen ■ Mit besten Wünschen ■ Mit bester Empfehlung ■ Mit den allerbesten Grüßen ■ Mit den allerbesten Wünschen ■ Mit herzlichen Grüßen ■ Mit verbindlichen Grüßen ■ Mit vorzüglicher Hochachtung ■ MlG/ mlg (Mit lieben/ liberalen Grüßen) ■ Schöne Grüße ■ Servus ■ SG/ sg (Schöne Grüße) ■ Tschüs(s) ■ VG/ vg (Viele Grüße) ■ Viele Grüße ■ Viele liebe Grüße All diese Varianten gibt es außerdem mit Komma oder Ausrufezeichen danach. So können die Ergebnisse des Vergleichs der typografischen Eckdaten zweier Texte aussehen: - INKR VGL Schrift (getippt/ gedruckt, handschriftlich? ) PC PC Schriftart (Font) Times New Ro‐ man Arial Schriftgrad, -größe ca. 11 ca. 10 Ausrichtung Blocksatz linksbündig Zeilenabstand ca. 1,5 ca. „einfach“ Silbentrennung ja nein Absätze - nein/ ja (wie viele? ) ja (4) ja (5) Absätze - wie mit Leerzeile mit per Textverarbeitungspro‐ gramm voreingestelltem Ab‐ stand Anfangs-Grußformel - nein/ ja ja ja Anfangs-Grußformel - wie? „Sehr geehrte Frau Richterin,“ „Lieber Tim,“ 418 8 Zusatzwissen <?page no="420"?> INKR VGL End-Grußformel - nein/ ja ja ja End-Grußformel - wie? „Mit freundli‐ chen Grüßen,“ „hau rein“ Wortanzahl 264 293 Zeichenanzahl 1716 1415 > durchschnittl. Länge der Wörter (48) 6,5 4,8 Satzanzahl 21 19 > durchschnittl. Länge der Sätze/ Wortanzahl (560) 12,6 15,4 kürzester Satz (Anzahl Wörter) 7 9 längster Satz (Anzahl Wörter) 17 21 Datumsangabe? Wie (z.-B. mit Buchstaben oder nur Zahlen? Jahr zwei oder vierstellig? ) ja (TT.MM.JJJJ) nein Enthält der Text Nicht-Text-Elemente (Tabel‐ len, Grafiken usw.)? ja, eine Tabelle nein Besonderheiten, z.-B. größerer Zeichen‐ abstand/ “erweitert“/ Spationierung, farbige Schrift, KursivSchrift, Großbuchstaben, Un‐ terstreichungen, Fettdruck, Ausrufezeichen, enthaltene Aufzählung(en), (Gedanken)Stri‐ che, Gedanken-Punkte ja, drei Ausrufe‐ zeichen ja, ein Ausrufezeichen, ein Wort in KursivSchrift Tab. 66: Textvergleich bzgl. Typografie Wenn ein Text diverse Hervorhebungen enthält, kann es sinnvoll sein, die Beobachtungen in einer Tabelle wie dieser darzustellen: Hervorhebungen INKR VGL gesamt 8 7 Ausrufezeichen 2 5 Fettdruck 3 0 Großbuchstaben 3 0 Unterstreichungen 0 0 Gedanken-/ Auslassungs-Punkte 0 2 Kursiv-Schrift 0 0 Tab. 67: Textvergleich bzgl. Hervorhebungen (Typografie) 8.11 Textstruktur und weitere typografische Eigenschaften 419 <?page no="421"?> Wenn ein Text auffällig viele Ausrufezeichen, evtl. auch Mehrfach-Ausrufezeichen enthält, ist eine Vor-Untersuchung mit einer Konkordanz-Software sinnvoll, deren Ergebnis so aussehen kann: 8.11.3 Interpunktionszeichen, Satzzeichen Das Wort Interpunktionszeichen bedeutet „dazwischen gesetztes Zeichen“. Es handelt sich also um Zeichen, die zwischen Sätzen und/ oder Wörtern stehen. Dem Komma kommt eine besondere Bedeutung zu; daher wird es in diesem Buch in anderen Kapiteln zusätzlich gesondert behandelt. Die anderen Zeichen können danach unterteilt werden, welche Funktion sie haben bzw. was sie anzeigen: ● ein Ende einer Sinneinheit (typisch der Satz-End-Punkt, das Fragezeichen, das Ausru‐ fezeichen) ● eine Grenze zwischen Sinneinheiten (typisch das Komma und das Semikolon), die gleichrangig oder auch untergeordnet sein können ● eine Art „Heraushebung“ aus dem umgebenden Text (typisch Klammern, Gedanken‐ striche und Gedanken-/ Auslassungs-Punkte) ● eine Ankündigung (typisch der Doppelpunkt) 420 8 Zusatzwissen <?page no="422"?> Satz-End-Punkte werden sinnvollerweise nicht gezählt, da sie meist vorhanden sind. Nur wenn an Textstellen, an denen zur semantischen Gliederung von Sinneinheiten sinnvollerweise ein Punkt stehen sollte, kein Punkt steht (sondern gar kein Zeichen oder ein anderes Zeichen), ist es sinnvoll, dies gesondert zu vermerken. Fragezeichen und Ausrufezeichen brauchen auch nur dann gesondert erwähnt zu werden, wenn die Zeichensetzung von der sinnvollen Kennzeichnung einer Frage bzw. eines Ausrufes (Aufforderung usw.) abweicht oder wenn eine außergewöhnliche Verwendung auftritt, beispielsweise ein in Klammern gesetztes Frage- oder Ausrufezeichen wie ■ Ich habe geschlagene 40 (! ) Minuten da an der Ecke gestanden und auf ihn gewartet. oder wenn ein Fragezeichen hinter einem Satz steht, der gar keine Frage darstellt, sondern der „etwas Fragliches“ enthält oder den Bericht darüber enthält, dass eine Frage gestellt wurde: ■ *Es ist nicht zu fassen, wie viele Briefe der ungeöffnet auf den Haufen geschmissen hat? ■ *Ich habe ihn gefragt, wo er wohnt? Bestimmte typografische Zeichen sollen den Satzbau strukturieren, sie sollen dem/ der Leser: in eines Textes zeigen, wo er/ sie - zwischen Sinneinheiten - Sprech- oder Atempau‐ sen machen soll. Es gibt ● Komma ● Semikolon (auch „Strichpunkt“ genannt) ● Apostroph ● Klammer (rechts und links) ● Ausrufezeichen ● Fragezeichen ● Doppelpunkt ● Anführungszeichen und -striche („Gänsefüßchen“ genannt, einfach, doppelt) ● Punkt. - Zeichen 1. Ende einer Sinneinheit - - Satz-End-Punkt - - Fragezeichen - - Ausrufezeichen 2. Grenze zwischen Sinneinheiten (können gleichrangig oder auch untergeordnet sein) - - Komma - - Semikolon 3. Art „Heraushebung“ aus dem umgebenden Text - - Klammern 8.11 Textstruktur und weitere typografische Eigenschaften 421 <?page no="423"?> Zeichen - - -dabei Auffälligkeiten (z.-B. mit oder ohne Leerzeichen. Art einfach oder geschwun‐ gen) - - Gedankenstriche - - Gedanken-/ Auslassungs-Punkte 4. Ankündigung: Doppelpunkt Tab. 68: Textuntersuchung bzgl. Interpunktion (ohne Komma) Wenn ein Text auffällig viele Ausrufezeichen, evtl. auch Mehrfach-Ausrufezeichen enthält, ist eine Untersuchung mit einer Konkordanz-Software sinnvoll, deren Ergebnis so aussehen kann: Außerdem gibt es Zeichen, die nicht zwischen Sätzen und/ oder Wörtern stehen, sondern wie beispielsweise die Anführungszeichen bzw. -striche („Gänsefüßchen“ genannt, einfach, doppelt), die um ein oder mehrere Wörter herum bzw. davor und danach gesetzt werden. Für die Zwecke der Authentizitätsfeststellung, dem großen Gebiet der forensischen Lingu‐ istik, in dem der Idiolekt gesucht wird, wird ja, wie wir in vielen Kapiteln dieses Buches gesehen haben, immer gefragt: „Warum hat der/ die Verfasser: in das so und nicht anders gehandhabt? “ Das trifft auch auf Typographisches zu. Es ist z. B. interessant, wenn ein/ e Verfasser: in Relativsätze, die eigentlich durch Kommata vom restlichen Satz abzutrennen sind bzw. von den meisten Verfasser: innen durch Kommata abgetrennt werden, mittels Klammern vom Restsatz abtrennt, z. B. Er hat gewonnen (was mich überrascht hat), hier ein sog. „weiterführender“ Relativsatz, eine Art, bei der es am häufigsten vorkommt, dass sie in Klammern statt in Kommata gesetzt wird, und zwar sehr wahrscheinlich, weil diese Art des Relativsatzes von vielen Verfasser: innen nicht als Relativsatz erkannt wird. Weiterhin gibt es die diakritischen Zeichen, die für die Zwecke dieses Buches nur interes‐ sant sind bei im Deutschen gebrauchten französischen Akzenten wie z. B. in à la carte oder 422 8 Zusatzwissen <?page no="424"?> zehn Marken à 80 Cent, weiterhin - selten - bei bestimmten Namen (z. B. André) und bei mittels EDV erzeugten Zeichen. Diakritische Zeichen Sind kleine Zeichen wie Punkte, Striche, Häkchen, Bögen oder Kreise an Buchstaben, die eine vom unmarkierten Buchstaben abweichende Aussprache oder Betonung anzeigen. Sie können über oder unter einem Buchstaben stehen, durch den Buchstaben hindurch gehen oder davor oder danach stehen. Das Komma wird in diesem Buch in einem eigenen Kapitel im Zusammenhang mit dem Satzbau behandelt. Zu den anderen Satzzeichen: 8.11.3.1 Semikolon Ein Beispiel einer normabweichenden Verwendung des Semikolons: ■ Ich will mit dem nichts mehr zu tun haben; wenn er das noch einmal macht, zeige ich ihn an. Wenn statt des Semikolons ein Punkt stünde, wäre der Satz wesentlich leichter zu verstehen, denn mit dem wenn beginnt eine ganz neue - zweigliedrige - Gedankeneinheit, die mit einem untergeordneten Satzteil, einem Konditionalsatz, beginnt. Mit dem Semikolon liest der/ die Leser: in den Satz leicht so, als stünde dort ein Komma, und dann besteht das Problem einer Holzwegkonstruktion (und der/ die Leser: in merkt erst am Ende des Satzes, wie die Organisation der Satzteile vom Verfasser intendiert war). Jede normabweichende bzw. ungewöhnliche Verwendung des Semikolons, auch vor der Konjunktion und, ist interessant für die Authentizitätsfeststellung, weil sie idiolektal ist. 8.11.3.2 Anführungszeichen Diese Zeichen sind dafür gedacht, einen hervorgehobenen Begriff bzw. eine Bezeichnung, ein Zitat und direkte Rede zu kennzeichnen. Es ist interessant für die Authentizitätsfest‐ stellung, wie ein/ e Verfasser: in sie einsetzt. Bei der forensischen Linguistik geht es nicht darum, ob ein/ e Verfasser: in Regeln befolgt, sondern darum, ob er/ sie etwas so oder anders handhabt. Es gibt die einfachen und die doppelten Anführungszeichen ■ Die Abkürzung MPK steht für Ministerpräsidentenkonferenz. ■ Die Abkürzung MPK steht für ‘Ministerpräsidentenkonferenz‘. ■ Die Abkürzung MPK steht für „Ministerpräsidentenkonferenz“. ■ Die Abkürzung ‘MPK‘ steht für ‘Ministerpräsidentenkonferenz‘. ■ Die Abkürzung ‘MPK‘ steht für „Ministerpräsidentenkonferenz“. ■ Die Abkürzung „MPK“ steht für „Ministerpräsidentenkonferenz“. ■ Die Abkürzung ‘MPK‘ steht für „Ministerpräsidentenkonferenz“. ■ Die Abkürzung ‘MPK‘ steht für ‘Ministerpräsidentenkonferenz‘. ■ Die Abkürzung „MPK“ steht für ‘Ministerpräsidentenkonferenz‘. 8.11 Textstruktur und weitere typografische Eigenschaften 423 <?page no="425"?> Die doppelten Anführungszeichen können auch vorne oben stehen (“MPK”). Neben den typografischen (geschwungenen) gibt es die geraden Anführungszeichen („MPK“ vs. "MPK"). Anführungszeichen Die doppelten Anführungszeichen sollen gemäß DIN 5008 - vorne unten, hinten oben - für die Kennzeichnung von direkter Rede, Zitaten und Werktiteln (Bücher, Filme usw.) verwendet werden. Die einfachen (auch genannt „halbe“) Anführungszeichen [‚…‘] werden genutzt für Zitate in Zitaten, für die Hervorhebung von Begriffen bzw. Termini und für wissenschaftlich unübliche Bezeichnungen. Es gibt Verfasser, die die französischen Anführungszeichen („Guillemets“, auch „Spitzzei‐ chen“) den deutschen vorziehen, und zwar manc